Zur Funktion von Musik in Texten Sibylla Schwarz'
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„die Stüle hüpften mir vohr Augen auff und nieder“
Überlegungen zur Funktion von Musik in Texten von Sibylla Schwarz
Dr. des. Elisabeth Böhm, Universität Bayreuth
Überschreitungen/ Überschreibungen Zum Werk von Sibylla Schwarz
Greifswald, 11. Oktober 2013
Auß einem Lob der Music. (S. II L v, V. 1-10)
WAn wir essen / wan wir trinken / geht eß nimmer besser ein /
ja das Saft der süssen Trauben / was wir bey uns nennen: Wein /
geht durch Orpheus nachgelassne allzeit lieblich ein mit Lust
daß man trincket ohne willen / ja wohl offtmals ohne Durst.
Wan das Seitenspiel erklinget / mag uns nichtes liebers seyn /
wan wir wachen / wan wir schaffen / als dasselbe nur allein. ec.
Ja die Sinnreiche Poeten werden durch Music und Wein /
auch bezwungen / daß sie sprechen: Last uns immer lustig seyn.
Last uns schreiben solche Versche / daß vohn ihrem Lob man singt /
und dadurch auch unsre Leyer in dem Himmel selbst erklingt.
Funktion von Musik bei Sibylla Schwarz - E.Böhm
Textbeobachtung
• anregende bis berauschende Wirkung der Musik
• Motivation und Inspiration der Dichter
• Stimulation jenseits bzw. vor Reflexion
• Topische Anbindung: „Orpheus“ (V. 3, 24) „der Musen Kunst“
(V. 21)
• Intensivierende Wirkung christlicher Botschaft:
Doch dis sey nicht außgelassen / weil eß auch das höchste ist
und gahr nicht bey andern Künsten / die die Zeit / wie Menschen frisst /
daß das Saitenspiel und Singen macht / und so weit dringt hinein /
daß uns Gottes Wort vohr allen desto lieber gehet ein.
Funktion von Musik bei Sibylla Schwarz - E.Böhm
Liebe wird durch eine Musike angesponnen im
Nahmen eines guhten Freunds. (S. II D iiii v, V. 10-20 )
Cupido / kleiner Dieb / du lohnst den Dienern selten
nach Würden und Verdienst. O durch der Music Klang /
dabey die Freude wohnt / durch lieblichen Gesang /
bin ich so sehr entzindt, O / O / ihr Musen-Söhne /
durch euer angenehm und liebliches Getöhne
ist mir mein Herze wegk / ich weis nicht / was Gestalt
eß mir genommen sey / vielleichte durch Gewalt?
Wohrum dan hab ich nicht den Degen außgerücket /
und wieder einen hieb der Cloris zu geschicket?
Ach nein! ach nein! ach nein! / eß schickt sich alles fein /
das macht / daß Venus jezt und Mars auch Freunde seyn.
Funktion von Musik bei Sibylla Schwarz - E.Böhm
Textbeobachtung
• Musik löst Freude aus und betört die Sinne, so dass Liebe entstehen
kann, die als Passion erfahren wird
• Wiederum mythologische Einbettung: „Cupido“ (V. 10), „Venus und
Mars“ (V. 20), „Musen“ (V. 21, 25)
• Distanzmarkierungen: „im Nahmen eines guhten Freundes“ (Titel),
„Cloris“ (V. 18) als Name der Geliebten
Funktion von Musik bei Sibylla Schwarz - E.Böhm
Auß dem Lob einer Nachtmusic. (S. II L v, V. 9-19 )
Und dieses hab ich selbst zuhm offtern so befunden/
ja erst noch diese Nacht in mitnächtlicher Stunden/
da mich die Gans im Bett auch kaum gehalten hat/
weil dieses ganze Hauß mir vorkam als ein Stadt;
die Stüle hüpften mir vohr Augen auff und nieder/
die Tisch und Bäncke gleich sich regten hin und wieder;
so starck ist die Music gewesen diese Nacht/
als recht in deren mitt´ ich war vohm Schlaff erwacht/
und was zuhm offtern mir ein Fabel war gewesen/
wan ich vohn Orpheus hatt und seiner Kunst gelesen/
das fieng mir gänzlich an für Wahrheit einzugehn etc.
Funktion von Musik bei Sibylla Schwarz - E.Böhm
Textbeobachtungen
• „Fabel“ (V. 17) von der Wirkmächtigkeit der Musik (Orpheus!) wird
selbst erfahren und in der poetischen Mitteilung bestätigt
• Sinneseindrücke sind optisch und haptisch aber auch affektiv (V. 1-6)
• Bildliches Sprechen: während die eigenen Eindrücke deutlich
amimetisch in verständliche, nicht codierte Bilder gefasst werden,
bestätigt das Gedicht die längst codierte Wirkmächtigkeit der Musik
aufs Neue, indem die Bilder gerade durch die affektive Wirkung der
Musik legitimiert werden
Funktion von Musik bei Sibylla Schwarz - E.Böhm
Zwischenfazit
Funktion von Musik in den Texten:
• Stimulation und Anregung sowohl der Affekte als auch des
(poetischen) Schaffens
• Ratio und Selbstbeherrschung werden außer Kraft gesetzt (Liebe!)
• Symbolische Ordnungen werden als explizite Vorbilder und implizite
Legitimation nutzbar
• Wandlung der Wahrnehmungs- und Darstellungsweise wird
beobachtbar
Funktion von Musik bei Sibylla Schwarz - E.Böhm
Sybille Krämer: Über die Rationalisierung der
Visualität und die Visualisierung der Ratio
Krämer konstatiert für die Frühe Neuzeit eine „Aufwertung des leiblichen Blicks“ (S. 51):
• Noch für Descartes gilt: „Es gilt also ein richtiges von einem falschen Sehen, eine epistemisch nobilitierte Visualität von einer bloß sinnlichen und damit zu degradierenden Visualität zu unterscheiden.“ (S. 50)
• Malerei und bildliche Darstellung versteht Krämer als „Kulturtechnik“: „Durch Kulturtechniken erzeugen und operationalisieren wir symbolische Welten, so daß sich uns neue Spielräume der Kommunikation und Kognition eröffnen.“ (S. 56)
• Für die Malerei der Frühen Neuzeit konstatiert Krämer: „Eine entscheidende Aufwertung des ‚leiblichen Blicks‘ […] bewirkt die Erfindung der Zentralperspektive. Die fiktiven Welten werden mit Hilfe von Illusionstechniken so inszeniert, als ob sie real wären.“ (S. 56)
Funktion von Musik bei Sibylla Schwarz - E.Böhm
Sybille Krämer: Über die Rationalisierung der
Visualität und die Visualisierung der Ratio
Krämer kommt zu dem Schluss:
• „Die Perspektive führt visuelle Objekte […] dem Register der
Berechenbarkeit zu“, es handle sich dabei um eine „semiotische
Prozedur“. (S. 60)
• „Im Horizont dieser visuellen Syntax zeigt sich ein neues Bild vom
Körper und der Körperlichkeit.“ (S. 60f.)
• Übertragbarkeit auf den Phänomenbereich Musik? Ist in der
Musikästhetik ein ähnlicher Wandel feststellbar, der dann auf die
Darstellung von Musik und ihre Funktionalisierung in den Texten von
Sibylla Schwarz zu projizieren wäre?
Funktion von Musik bei Sibylla Schwarz - E.Böhm
Entwicklungen in der Musikästhetik
Luther – Zarlino – Descates
Martin Luther, Encomion musices / Lob der Musik (1538/64):
• „Denn nichts auff Erden krefftiger ist, die Trawrigen frölich, die
Frölichen traurig, die Verzagten hertzenhaftig zu machen, die
Hoffertigen zur demut zu reitzen, die hitzige und übermässige Liebe
zu stillen und zu dempffen, den Neid und den Hass zu mindern, und
wer kann alle bewegung des Menschlichen hertzens, welche die Leute
regieren und entweder zu tugend oder zu laster reitzen und treiben,
erzelen, dieselbige bewegung des gemüts in zaum zu halten und zu
regieren, sage ich, ist nichts krefftiger denn die Musica.“
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Entwicklungen in der Musikästhetik
Luther – Zarlino – Descates
Gioseffo Zarlino, Institutioni armoniche (Venedig 1558):
• „Daher zählten die Alten mit Recht die Musik unter jene Klasse von Beschäftigungen, die den freien Männern zu Gebote stehen. Sie rechneten die Musik unter die lobenswerten, nicht die notwendigen Wissenschaften, zu denen etwa die Arithmetik gehört. […] Auf welche Weise aber die Musik die Macht besitzt, Sitten zu verändern und im Geist verschiedene Affekte zu erregen, davon werde ich an anderer Stelle handeln.“
• „Denn es ist der besondere Dienst der Musik, Freude zu bereiten. Ihr Gebrauch muß ehrenhaft sein, damit es uns nicht wie denjenigen ergeht, die beim Weintrinken kein Maß halten können. Diese Leute geraten in Hitze und schaden sich selbst; sie machen tausend Dummheiten, und jeder muß lachen, der sie sieht.“
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E.Böhm
Entwicklungen in der Musikästhetik
Luther – Zarlino – Descates
René Descartes: Musicae Compendium/ Leitfaden der Musik (Breda 1618/1650):
• „Der Zweck des Tones ist letzten Endes, zu erfreuen und in uns verschiedene
Gemütsbewegungen hervorzurufen. Die Gesänge können aber zugleich
traurig und ergötzlich sein. Und es ist nicht verwunderlich, da sie so
verschieden sind.“
• „Alle Sinne sind zu irgendeinem Vergnügen fähig. Dieses Vergnügen erfordert
eine gewisse Beziehung des Gegenstandes zum Sinne selbst.“
• „Und nun müßte allerdings folgen, daß ich besonders von den einzelnen
Gemütsbewegungen handle, die durch die Musik hervorgerufen werden
können, und ich müßte zeigen, durch welche Stufen, Konsonanten, Zeitmaße
und Ähnlichem jene erregt würden, aber damit würde ich das Vorhaben des
Leitfadens überschreiten.“
Funktion von Musik bei Sibylla Schwarz -
E.Böhm
Entwicklungen in der Musikästhetik
Luther – Zarlino – Descates
Zusammenfassung:
• Luther sieht die Musik als von Gott gegebene Kraft, die Sinne bewegen und damit die Menschen lenken kann. Er bindet sie entsprechend in den Gottesdienst ein (ev. Kirchenlieder!).
• Zarlino fasst die Musik einerseits in ihrer philosophischen Traditionslinie und entwickelt ihre Kraft aus den mythologischen Geschichten, Andererseits bestimmt er sie als zu lernende Kunst, die bestimmten Gesetzen und Mustern zu folgen hat (Dur-Moll, reines diatonisches System)
• Descartes geht von der sinnlichen Wirkung der Musik aus, diskutiert dann aber Intervalverhältnisse und Fortschreitungen. Die eigentliche Wirkung erörtert er nicht mehr, geht aber von differenzierten Zusammenhängen zwischen musikalischer Figur und spezifischer Affekterregung aus.
• FAZIT: Mathematisierung und Rhetorisierung (Affekten- und Figurenlehre im weiteren Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts)
Funktion von Musik bei Sibylla Schwarz - E.Böhm
Symbolische Ordnung der Gedichte
Gegenstandsebene/ Darstellungsebene:
• Musik als Kunst in topischer Weise gefasst: Orpheus, Musen
• Es werden konkrete Aufführungssituationen bzw. Rezeptionsweisen
aufgerufen, wobei die Musik als Klangphänomen oder ausgeübte
Handlung kaum erkennbar wird (Saitenspiel und Singen)
• Wirkung der Musik im Vordergrund:
körperlich verbürgt und poetisch vermittelt
• Rhetorische Ordnung/ Affektdarstellung gemäß des poetischen
Diskurses (Diskurs der Musikästhetik nicht im Fokus)
Funktion von Musik bei Sibylla Schwarz - E.Böhm
Symbolische Ordnung der Gedichte
Poetologische Ebene/ Makrostruktur:
• Musik als Kunst nicht semantisch gebunden, damit gerade nicht
rhetorisch (keine Übernahme rationalistisch-mathematischer
Tendenzen)
• Wirkung nicht an Figuren gebunden, nicht kontrollierbar
• Neben traditioneller Codierung der Affekte ermöglicht die Musik als
‚gedichtete Kunst‘ (auf der Gegenstandsebene) eine Artikulation von
Wahrnehmung und Affizierung.
• Rhetorische Ordnung wird performativ gefasst: indem sich das Haus
dreht und die Stühle hüpfen, wird die Wahrheit/ Gültigkeit der
Tradition/ Symbolordnung erfahrbar und artikuliert.
Funktion von Musik bei Sibylla Schwarz - E.Böhm
Funktion der Musik in den Texten
• Anlass zur Formulierung von Wahrnehmung und Affizierung
• Etablierung eines zweiten ästhetischen Diskurses im Gedicht
• Erprobung affizierter Sprecherpositionen jenseits von ‚Erlebnislyrik‘
Funktion von Musik bei Sibylla Schwarz - E.Böhm
Vorschlag eines Zugriffs
Aby Warburgs Konzept der Pathosformel
• Affektion, Faszination (Wirkung)
• Zeichen der gleichzeitigen Dynamisierung und Distanzierung
„Hier werden weder bloße Leerformeln transportiert noch Leidenschaften unmittelbar erregt, vielmehr wird dem Affektpotential ein Medium zur Artikulation bereitgestellt, das dieses zugleich in einer Form bändigt.“ (Port 1999, S. 10)
„Neben dem genannten Ensemble von Ausdrucksmustern für Leiden und leidenschaftliche Erregung, auf das verschiedenen Bildprogramme und Künstler immer wieder zurückgegriffen haben, bezeichnet der Begriff dann auch als operativer Terminus post rem einen eigentümlichen Klassifizierungsversuch des Historikers Warburg, um sich eben diese Tradition in ihrem Funktionieren begreifbar zu machen.“ (Port 1999, S. 7, Hervorhebung E.B.)
Funktion von Musik bei Sibylla Schwarz - E.Böhm
Vorschlag eines Zugriffs
• Musik bietet innerhalb der Texte eine „Pathosformel“, eine durchaus
gesetzte Kategorie, die aber Offenheit insofern ermöglicht, als neue
Sprachmuster angeknüpft bzw. ausprobiert werden können.
• Übergansmoment/ Modernisierung: Sobald die Affekt-Rhetorik
wieder gefestigt ist (musikalische Figuren, Affektdarstellung in der
Dramatik), kann Musik diese Funktion in Gedichten nicht mehr
übernehmen und erfüllt andere.
Funktion von Musik bei Sibylla Schwarz - E.Böhm