Verunsicherung und Privatheit im Film Caché (2005, Michael Haneke)
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Verunsicherung und Privatheit im Film Caché (2005, Michael Haneke) Dennis Lorenz Johnen, 2011 Bitte bei Zitieren eine kurze Email an: [email protected]
1
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung. Georges und die Medien 2
2. Rätselhafte Videoaufnahmen 4
2.1 Die Agonie des Realen im Film im Film 4
2.2 Verfremdung und “Interrupted Pleasure Drive” 7
2.3 Schock und Selbsterkenntnis 13
3. Bedrohliche Nähe, geschlossene Räume: 17
Angriff auf die Privatsphäre
4. Schluss. Unentscheidbare Fragen 21
Literatur 24
2
Wir sind dauernd von Bildern umgeben, die uns vorgaukeln, Wirklichkeit abzubilden. In Wahrheit sehen wir aber nur Bildhüllen, die mit einer Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun haben. Denn die Wirklichkeit wird nur dann empfunden, wenn sie mit Erfahrung verbunden ist. Die haben wir nicht, aber wir bilden uns ein, alles über die Welt zu wissen. In Wahrheit wissen wir weniger als in der Zeit vor der Diktatur der Medien, weil man da zumindest nicht geglaubt hat, irgendetwas zu wissen.1
1. Einleitung. Georges und die Medien
Eine Videokassette anonymer Herkunft trifft ein und keiner weiß, was die Aufnahmen
der Kassette zu bedeuten haben. Sie zeigen das Haus von Georges Laurent und
seiner Familie. Georges ist Moderator einer Prime-Time-Literatursendung im
Fernsehen und lebt mit seiner Frau Anne und Sohn Pierrot in einer beruhigten
Straße von Paris. Als sie regelmäßig Videokassetten mit rätselhaften Aufnahmen
erst ihres Hauses, dann des Elternhauses von Georges und schließlich eines
Appartements erhalten, bekommt vor allem Georges es mit der Angst zu tun. Er fühlt
sich bedroht von den Bildern, die wie aus dem nichts auftauchen und die, wie erst
nach und nach klar wird, auf seine Kindheit verweisen. In dem gezeigten
Appartement trifft er auf Majid, dessen algerische Eltern auf dem Hof von Georges
Eltern gearbeitet haben, bis sie beim Massaker von Paris 1961 von der Polizei
getötet werden. Was Georges lange verschweigt, ist dass er Majid als Kind bei den
Eltern angeschwärzt hat und so dessen Adoption verhindert und ihm die Chance auf
ein privilegiertes Leben verwehrt hat. Doch weder Majid, noch dessen Sohn sind
Urheber der Videos. Die Herkunft der Kassetten bleibt bis zum Schluss ungeklärt.
1 Michael Haneke im Interview mit Wolfgang Kabisch für die Sendung „Im Gespräch mit ...“: „Michael Haneke, Regisseur des Films ‚Caché’“. 2005 (online abrufbar unter http://www.arte.tv/de/857508,CmC=876864.html).
3
Die Themen Gewalt und Medien, die immer wieder Gegenstand der Filme von
Michael Haneke sind, kommen auch in Caché zur Entfaltung. Als Moderator einer
Literatursendung bewegt sich Georges in der Welt der Medien souverän. Er
bestimmt in der Post-Produktion über den Schnitt und somit auch über Auslassungen
und den Inhalt seiner Sendung. 2 Für ihn bedeutet der Umgang mit Medien
alltäglicher Broterwerb und sein Beruf bestimmt sein soziales Umfeld. Der Umgang
und der Gebrauch von Medien sind omnipräsent. So schaltet Georges die
Fernsehnachrichten an, während sich Anne mit ihm über die Herkunft der
Videokassetten unterhalten möchte.3 Auf gleicher Lautstärke wie die Stimmen der
Figuren, drängt sich die Akustik des Fernsehers als Störfaktor zwischen das
Gespräch.4 Die Nachrichten über den Irak-Krieg laufen, sie sind überpräsent und
doch schenkt ihnen keiner der Figuren wirkliche Aufmerksamkeit.5 Die Darstellung
von Gewalt, die in den Medien allzeit präsent ist und als Normalität hingenommen
wird, erzeugt in Caché die Erfahrung eines Schreckens und bleibendem Unbehagen.
Meine These ist, dass der Film Caché in der Erfahrung des Schocks zusammen mit
filmischen Mitteln einer selbstreflexiven Ästhetik das Gefühl der Verunsicherung und
dem Eindringen in die Privatsphäre auf besonders wirkungsvolle Weise evoziert.
Über eine Betrachtung der narrativen und ästhetischen Struktur des Films beschäftigt
sich die Arbeit mit der Funktion des Videoaufnahme-Device. 6 Es soll die
Verunsicherung des Zuschauers maßgeblich erzeugen. Das Unbehagen, das der
Film beim Zuschauer hinterlässt, soll auch untersucht werden.
2 [01:24:10]. [hh:mm:ss] nach dem Timecode der käuflichen DVD des Film-Verleihs „Frenetic Films“. Sprachäußerungen sind den deutschen Untertiteln entnommen. 3 [01:15:10] 4 Darauf hat auch C. Wheatley hingewiesen. Vgl. Catherine Wheatley: Michael Haneke’s Cinema. New York 2009. S. 160. 5 Aber auch der Zuschauer schenkt den eingespielten Nachrichten keine Aufmerksamkeit, da sie keine Funktion für den Handlungsverlauf haben. Sie sind eher Realitätseffekt, die der Naturalisierung der Darstellung dienen. 6 Ich beziehe mich hier auf einen Begriff von Kristin Thompson: Breaking the Glass Armour: Neoformalist Film Analysis. Princeton 1988. S. 15: „The word device indicates any single element or structure that plays a role in the artwork – a camera movement, a frame story, a repeated word, a constume, a theme, and so on. We can analyze devices using the concepts of function and motivation.“
4
Über das Spiel mit Realitätsebenen und einer unkonventionellen Filmsprache steht
die Verunsicherung außerdem auf der Handlungsebene in Verbindung mit dem
bedrohlichen Gefühl eines Angriffs auf die Privatsphäre, das Georges Laurent erlebt.
Des Weiteren fragt die Arbeit nach Geschlossenheit beziehungsweise Offenheit der
Struktur von Medien, insbesondere der der realistischen Filmkunst.7 Dazu betrachte
ich Caché zunächst unter dem Aspekt der Medienkritik Jean Baudrillards, sowie der
von Bertolt Brecht. Mit der vermeintlichen Passivierung und Manipulation durch
Medien hat sich auch Christiane Voss beschäftigt, die eine Notwendigkeit der
Hinwendung zu einer emotionstheoretischen Rezeptionstheorie sieht. Die emotionale
und somatische Rezeption des Films spielt in Caché eine tragende Rolle bei der
Reflexion von Medienwahrnehmung und seiner Verunsicherung. In diesem Aspekt
stütze ich mich auf das Werk von Catherine Wheatley, die phänomenologisch-
somatische Filmtheorie zur Wahrnehmung des Films von Thomas Morsch und im
speziellen auf die Typologie der Filmsprache von Vivian Sobchack.
2. Rätselhafte Videoaufnahmen 2.1 Die Agonie des Realen im Film im Film
In „Agonie des Realen“ kritisiert Jean Baudrillard die Verbreitung der Massenmedien,
die in einer abstrakten Eigenständigkeit medialer Zeichensysteme münde: „Es geht
um die Substituierung des Realen durch Zeichen des Realen [...]“8. Das Imaginäre
der medialen Wirklichkeit verdränge also das reale Ereignis, weil das tatsächliche
Ereignis die Bedeutung seiner Evidenz eines tatsächlich real Geschehenden verlöre.
Es verliert seine Wirklichkeit in der Wahrnehmung. Reale Ereignisse erscheinen
ähnlich vermittelt und abstrakt, wie das mediale Ereignis. Man könnte auch von einer
7 Gemeint ist hier ein filmischer Realismus im Sinne von Sergej Eisenstein, zu dem die Montage und Konstruktion von filmischer Wirklichkeit gehört. 8 Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin 1978. S. 9.
5
Abstumpfung der Wahrnehmung sprechen, die durch die mediale Inszenierung bzw.
Dokumentation von Gewalt oder Missständen eingeübt wird. Über die Distanz der
medialen Vermittlung wirken diese verharmlost und werden banalisiert. Dies
geschieht für Jean Baudrillard über die Verdoppelung der Wirklichkeit in der
medialen Inszenierung.9
Vor allem in der realistischen Darstellungsform von Film und Fernsehen wird die
Darstellung als Verdoppelung der tatsächlichen Wirklichkeit empfunden. Die
dargestellte Realität wird so zu tatsächlicher Wirklichkeit und es verschwimmen die
Grenzen von medialer und tatsächlicher Realität. Man denke dabei auch an Live-
Übertragungen oder Überwachungsmonitore, in denen diese Grenze auf das
Minimalste heruntergespielt scheint. Es entsteht im Weiteren ein Code der medialen
Bilder, die nicht mehr die Wirklichkeit repräsentieren, sondern sie duplizieren. Dabei
wird vergessen, dass die Bilder auf eine Art und Weise produziert werden, die
Konventionen von Inszenierung, Montage und Kadrierung folgt. Dieser, durch
Konventionen entstandene Code erlange eine Eigenständigkeit, indem er sich
zunehmend auf sich selbst beziehe und so schwer zugänglich werde, so
Baudrillard.10
Auch in Caché wird das Verwischen von Realitätsebenen erlebt. In der fünfminütigen
Eingangssequenz erscheint der unbewegliche Ausschnitt einer Straße und zeigt in
der Totale ein Haus, das hinter einer großen Hecke und Efeugewächs kaum zu
sehen ist. Man hört Straßenlärm und Vogellaute. Drei Minuten lang passiert nichts,
außer dass drei, vier Passanten und Radfahrer zu sehen sind und eine Frau das
Haus verlässt. Die Kamera bewegt sich nicht auf Objekte zu, auch bewegen sich
keine Objekte auf sie zu. Der Zuschauer weiß im Augenblick nicht, was er mit dem,
was er sieht, anfangen soll, da nichts, was einer Handlung nahe kommt, passiert. Er
ist auf sich selbst verwiesen, den rätselhaften Code des Bildes, das er sieht, zu
entschlüsseln und findet nichts, was darauf hinweist, was als nächstes passieren
könnte. Das Bild deutet auf nichts hinaus, so scheint es. Nach drei Minuten, wie aus
9 Vgl. Rainer Leschke: Einführung in die Medientheorie. München 2007. S. 257-265. 10 Vgl. Leschke, Einführung in die Medientheorie, S. 257-265.
6
dem Nichts, sind Stimmen aus dem Off zu hören: „Und?“ ... „Nichts.“11 Es gibt einen
Schnitt und die Kamera wird beweglich. In der Halbtotale sieht man in der
Dämmerung einen Mann und eine Frau aus dem Haus treten. Der Mann geht weiter
hinaus auf die Straße und sucht nach etwas. „Er muss etwa hier gestanden haben.“,
sagt er.12 Es gibt einen erneuten Schnitt in die Totale, in der es wieder taghell ist.
Das Ehepaar unterhält sich im Off weiter. Dann spult das Bild plötzlich rückwärts.
Es wird klar, dass es sich bei dem Bild nicht um die Realität der intradiegetischen
Ebene13 gehandelt hat, sondern um das Bild einer Videoaufnahme, das sich das
Ehepaar ansieht. Im Laufe des Films erhalten George und Anne immer wieder
Videokassetten mit den rätselhaften Aufnahmen. Ein weiteres Mal ist ihr Haus aus
gleicher Position bei Nacht über eine Minute lang zu sehen und wieder passiert
nichts, außer dass Georges zu sehen ist, wie er in der Nähe des anonymen
Beobachtungspunktes sein Auto parkt und im Haus verschwindet.14 Hiernach jedoch
findet keine Auflösung statt, in der klar wird, ob das metadiegetische Bild einer
Videokassette zu sehen war oder der Blick einer intradiegetischen Instanz. Es ist
nicht in eine Szene eingebettet, in der Georges und Anne vor dem Fernseher sitzen
und es sind keine Stimmen aus dem Off zu hören.15 Es folgt ein direkter Schnitt in die
Literatursendung Georges. Und hier erlebt der Zuschauer ein weiteres Verwirrspiel.
Um das Ende der Sendung einzuläuten, zoomt die Kamera von einer frontalen
Großaufnahme von Georges Gesicht in die Halbtotale, nachdem er sich von den
Zuschauern vor dem Fernseher verabschiedet hat. Es ist, als wären die Aufnahmen
der Sendung zu sehen. Als Georges kurz darauf hinter die Kulisse tritt, um seine
Frau anzurufen, folgt ihm die Kamera, die zuvor als metadiegetischer Blickpunkt der
Kamera der Fernsehsendung markiert war. Es findet also mehrere Male eine
11 [00:02:40] 12 [00:03:30] 13 im Folgenden werden die Handlungsebene des Films als (intra)diegetische und die Realitätsebene der Videoaufnahmen als metadiegetische Ebene bezeichnet. Das von Genette geprägte dreigliedrige System narrativer Ebenen kann hier nur unvollständig übernommen werden, da im Film die Ebene des Erzählaktes, die extradiegetische Ebene, wegfällt. Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung. 2. Aufl. München 1998. S. 162-167. 14 [00:11:00] 15 Zwar wird in einer späteren Szene klar, dass Anne die Aufnahme ohne Georges schon gesehen hat, jedoch gibt es während des Bildes keine Hinweise darauf, dass Anne sie sich ansieht.
7
Verunklarung der Realitätsebenen statt, die zwar meistens, aber nicht immer
eindeutig, aufgelöst wird.
Das Device der Videoaufnahmen sorgt nicht nur für eine Verunklarung der
Realitätsebenen. Auch der für Konventionen des realistischen Films entsprechende
chronologische Zeitverlauf scheint verwirrt zu sein. Der Zeitraum der
Videoaufnahmen, die stets schon gedreht sein müssen, bevor sie Anne oder
Georges betrachten können, ist für den Zuschauer zumindest in der ersten
Einstellung diegetische Realität und erlebte Echt-Zeit innerhalb dieser. Die
eingespielten Aufnahmen bilden so eine uneingeläutete Analepse innerhalb der
filmischen Erzählung und verwirren so, zumindest vorübergehend, den Zeitverlauf.
Ein weiterer Aspekt ist die physikalische Unmöglichkeit des Blickpunktes der
anonymen Kamera. In der ersten Sequenz ist Georges in der Videoaufnahme zu
sehen, wie er auf sein Auto zugeht, direkt in die Richtung der Kamera blickt und sie
trotzdem nicht bemerkt.16 Auch in Majids Appartement ist die Stelle zu sehen, von
der aus die Bilder hätten gemacht werden müssen, in denen Georges zu sehen ist,
wie er sich mit Majid unterhält und die George und Anne später erhalten.17 In beiden
Fällen ist keine Kamera zu sehen. Besonders ambivalent ist auch die Schlussszene.
In dieser ist die Treppe der Schule zu sehen und man kann beobachten, wie sich am
linken Bildrand Majids Sohn und Pierrot unterhalten. Die ungewöhnlich lange Dauer
der Einstellung, die unbewegliche Kadrierung und die gedämpften
Umgebungsgeräusche sind charakteristisch für die anonymen Aufnahmen und
werden vom Zuschauer als diese erkannt. Zugleich ist diese Position des
Blickpunktes als die von Georges besetzt, während er in einer früheren Szene im
Auto auf Pierrot wartet. 18 Nach der Einstellung findet wieder keine Aufklärung
darüber statt, ob es sich um eine metadiegetische oder um eine diegetische
Realitätsebene handelt. Es könnte sich wieder um eine der anonymen
Videoaufnahmen handeln oder um eine andere diegetische Instanz, zu der der
Kamera-Blick gehört. Die Einstellung geht in den Abspann über und die Closing
16 [00:15:00] 17 [00:47:20] 18 [00:18:25]
8
Credits werden eingeblendet. Der Zuschauer wird also mit der offenen Frage, um
welche Realitätsebene es sich handelt, zum Ende des Films allein gelassen.
Dem Zuschauer wird während des Films bewusst, dass er die als intradiegetisch
wahrgenommene Realitätsebene als metadiegetische Wirklichkeit einer
Videokassette erkannt hat; und dass sich umgekehrt aber auch die als
metadiegetisch wahrgenommenen Bilder mit intradiegtischen Blickpunkten
zusammenfügen. Er stellt sich darauf ein, dass es verschiedene unangekündigte
Wechsel der Ebenen gibt. Ihm wird auch bewusst, dass er sich in der Annahme, um
welche Realitätsebene es sich handelt, irren kann. Im Hinterfragen der
Realitätsebenen werden also mehrere Momente der Verunsicherung kommuniziert.
2.2 Verfremdung und “Interrupted Pleasure Drive”
Während für Jean Baudrillard die Medien den Gestus einer Nicht-Kommunikation
kultivieren19 ist für die Brechtsche Idee darstellender Kunst der Zusammenhang von
Erstaunen und der Bereitschaft zum Lernen programmatisch. Sie soll „den
Lernprozess kommunizieren [Übers. d. Verf.]“. 20 Im Zusammenhang mit Brechts
Theater ist von einem „nichtorganischen Kunstwerk“21 die Rede. Durch das „Prinzip
der Montage und der Konstruktion“22 werde im Theater Gewohntes bewusst aus dem
Zusammenhang gerissen, und so erscheint die fragmenthaft zusammengefügte
Wirklichkeit, die die Realität nachahmt, konstruiert und fremd. Indem an sich
Gewohntes und Plausibles, also die Realität, plötzlich fremd erscheint, gelangt das
Publikum in ein Erstaunen.23
Die sogenannte unsichtbare Montage, als Konvention des realistischen Films, ist in
Caché vorherrschendes Prinzip. Dass die filmische Realität mit dem Schnitt durch
Auslassungen und bestimmte Perspektiven geformt ist, wird vom Zuschauer
19 Vgl. Jean Baudrillard: Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen. Berlin 1978. S. 91. 20 Robert Stam: Reflexivity in Film and Literature. Morningside Edition, New York 1992. S. 211 f. 21 Gerd Koch: Lernen mit Bert Brecht. Erw. Neuausgabe, Frankfurt/M. 1988. S. 95. 22 Ebd. 23 Vgl. Koch, Lernen mit Bert Brecht, S. 91 ff.
9
während der Filmwahrnehmung größtenteils ausgeblendet. Er konzentriert sich auf
den Handlungsverlauf und die Figuren. Mit diesem Prinzip wird in Caché allerdings
immer wieder gebrochen. Das Device der anonymen Videoaufnahmen zeigt einen
Bruch mit konventionellen Techniken des realistischen Films an. Wenn die Kamera
auf das Haus der Laurents hält oder der Weg zum Elternhaus von Georges oder zum
Appartement Majids aus dem Auto heraus gefilmt wird, wird lange Zeit nicht
gesprochen, sondern sind nur Umgebungsgeräusche zu hören. In den ungewöhnlich
lange gleich bleibenden Einstellungen fehlt der Schnitt für einen Perspektivwechsel
oder der Schuss-Gegenschuss, der den Blick einer Figur markiert. In The Middle of
the World von Alain Tanner gibt es eine ähnliche Technik der Kameraführung, die
den Objekten vor der Linse nicht folgt. „At first glance, Tanner’s method would seem to reinforce conventional Bazinian realism by avoiding the fragmentation that goes with montage. In fact, however, it has a contrary effect, precisely because the spectators are accustomed to „invisible“ montage and fabricated continuity so that shots which literally respect the spatial and temporal unity of the scene create, paradoxically, an effect of unreality and alienation.“24
Die Veränderung der gewohnten Montage-Technik scheint die Zeit zu verlangsamen,
„sie respektiert den Zeitverlauf der Szene [Übers. d. Verf.]“.25 Während die schnelle
Schnittfolge einen beschleunigten Zeitverlauf suggeriert, wird die Zeitwahrnehmung
bei langsamerer Schnittfolge entschleunigt. So scheint vor allem während der
anonymen Aufnahmen des Hauses die Zeit im Film stehen zu bleiben. Die
veränderte Bildästhetik, die durch die unbewegliche Kamera, den fehlenden Schnitt
und die fehlenden Sprachäußerungen stutzen lässt, erscheint fremd und signalisiert
eine andere Ebene der Wahrnehmung. Denn dadurch, dass das Prinzip der Montage
für die Dauer des Videoaufnahme-Devices in seiner erwarteten Form aussetzt, wird
der Machart der filmischen Realität gerade Aufmerksamkeit zuteil. Die fragmenthafte
Wahrnehmung, die konstitutiv für die Wahrnehmung im Film ist und in Caché die
Normalität darstellt und anzeigt, wird durch das Videoaufnahme-Device immer
wieder gebrochen. Die gewohnte Darstellung wird damit erst deutlich und bewusst.
24 Stam, Reflexivity in Film, S. 250. 25 Ebd.
10
Das Ausblenden der Konstruiertheit während der gewöhnlichen Filmdarstellung wird
durch die Veränderung der Einstellungstechnik angezeigt und entlarvt. Die
anonymen Videoaufnahmen haben also eine entlarvende Funktion, die mit der
Verfremdung des Gewohnten die Wahrnehmung der filmischen Realität hervorhebt.
Die erlebte Fremdheit der im Brechtschen Theater dargestellten Wirklichkeit soll
deutlich machen, dass nicht nur die Nachahmung der Wirklichkeit befremdlich wirkt,
sondern dass auch die tatsächliche Wirklichkeit in ihrer hingenommenen Normalität
hinterfragungswürdig ist. Anders gesagt, wird durch den in der dargestellten
Wirklichkeit vollzogenen Bruch mit der Normalität eine skeptische Haltung gegenüber
der vermittelten Wirklichkeit erlernt;26 und darüber hinaus auch mit der tatsächlichen
Realität. Denn die tatsächliche Realität wird eben gerade nachgeahmt. Diesen
Aspekt im Allgemeinen auf Medienrezeption zu übertragen, würde bedeuten zu
lernen, medialer Realität, sowie tatsächlicher Realität in einer skeptischen Haltung
gegenüberzustehen und diese zu hinterfragen.
Das Moment des Hinterfragens wird mit den ungewöhnlichen Aufnahmen auch in
Caché erzeugt. Das Device der Videoaufnahmen bildet entgegen der
Sehgewohnheiten experimentell und fremd wirkende Ausnahmen der realistischen
Ästhetik des Films. Es löst ein Zögern, ein Stuzten, ein Erstaunen aus, das in Caché
zusammen mit der Verunklarung der Realitätsebenen umso wirkungsvoller eine
Verunsicherung hervorruft.
Auch Catherine Wheatley argumentiert, dass Caché mit seinen die Konventionen
brechenden Techniken eine Haltung evoziert, die gegebene Wirklichkeit hinterfragt.
In der Überschneidung von vorherrschenden Konventionen des amerikanischen
Kinos und modernistischer Filmtechnik erzeuge Caché „[...] a tension between the
spectator’s rational awareness of the film as a construct and their emotional
involvement in the world that this construct presents“.27 Wheatley geht davon aus,
26 Vgl. Stam, Reflexivity in Film, S. 212: „Brecht’s goal was [...] to alert the public to the invisible codes“. 27 Wheatley, Haneke’s Cinema, S. 153.
11
dass der Zuschauer zu einem ethischen Gewahrsein gelangt, indessen er sich nach
eigener Schuld und Verantwortung fragt. Dies geht von der Nicht-Erfüllung von
Erwartungen des Zuschauers aus.28
Auf Handlungsebene entwickelt sich Caché in großen Teilen, aber nicht durchgängig,
nach den Mustern eines klassischen Thrillers. Der gut situierte Protagonist Georges
erfährt durch eine unbekannte Instanz eine existenzgefährdende Bedrohung und
stellt sich dieser, indem er seinen Gegner verfolgt und überwältigt.29 Die anonymen
Videos, die immer wieder unverhofft eintreffen, entsprechen dem typischen
Telefonanruf vieler Filme des Genres,30 die einen gewalttätigen Angriff ankündigen.
Sie haben die Funktion, eine Bedrohung zu erzeugen, die den Protagonisten in
erwartende Angst versetzt. Um sich greifende Paranoia wird merklich, als Georges
seinen Sohn und dessen Freunde verdächtigt und sich auch seiner Frau Anne oder
seinen Freunden nicht anvertraut. Georges vermutet seinen Gegner in Majid und
sieht sich selbst als Opfer dessen anonymer Drohungen. Als eine Videokassette
eintrifft, die zu der Tür einer Wohnung führt, verfolgt Georges die Spur und geht einer
Konfrontation mit seinem Gegner entgegen. Die Bilder einer wackeligen
Handkamera, die sich langsam durch einen spärlich beleuchteten Korridor bewegt,
lassen vermuten, dass sich hinter der Tür, auf die die Kamera deutet, etwas
Bedrohliches, Schreckliches befindet. Das Rätsel der anonymen Videobilder scheint
sich aufzuklären, die Bilder lassen zumindest eine verbale Konfrontation Georges’
mit seinem Gegner vermuten. Georges klingelt an der Tür, doch das Spannung
steigernde Warten, bis etwas passiert, wird nicht belohnt. Der Mann, der die Tür
öffnet und über seinen Besucher verwundert scheint, entspricht nicht der Erwartung
eines ebenbürtigen Gegners.31 Majid ist ein ruhiger höflicher Mann. „Haust du mir
eine rein?“ ... „Ein Leichtes für dich“, sagt Majid und als Georges verlangt: „Sag mir,
was du willst“, wiederholt Majid: „Nichts“.32 Nachdem Georges mit einer Drohung, ihn
28 Vgl. Wheatley, Haneke’s Cinema, S. 153-166. 29 Vgl. Peter Nusser: Der Kriminalroman. 3. Aufl. Stuttgart/Weimar 2003. S. 48-52. 30 zum Beispiel in „Unbekannter Anrufer“ von Simon West oder im Horrorfilm „Scream“ von Wes Craven. 31 Vgl. Nusser, Kriminalroman, S. 51: „Die Gegenspieler sind dem Helden [...] nahezu ebenbürtig“. 32 [00:50:26]
12
und seine Familie in Ruhe zu lassen die Wohnung verlassen hat, sieht man Majid
noch allein am Tisch sitzen, wie er in sich gesunken anfängt zu weinen.33
Die Machart des Films lässt erwarten, dass sich der Urheber der Videos unter den
Figuren befindet und sich im Laufe des Films zu erkennen gibt. Doch weder Majid,
noch dessen Sohn, noch Georges’ Sohn oder dessen Freunde können es gewesen
sein. Die Psychologie der Figuren erlaubt an keiner Stelle stichhaltige
Verdächtigungen. Gut und Böse, sowie die Rollen des Opfers und des Täters werden
vertauscht und infragegestellt. 34 Tatsächlich scheint Georges vorerst seine
Autonomie im Kampf gegen seinen Widersacher zurückzuerlangen, indem er seinen
Gegner Majid überwältigt. Doch die Gerechtigkeitsfrage zum Schicksal des Opfers
Majid kehrt sich um. Die Überwältigung von Majid als Figur, die den Protagonisten
bedroht, ist moralisch nicht gerechtfertigt, da dieser nicht der Initiator der Bedrohung
ist. Im Unterschied zu anderen Thrillern mit klassischem Handlungsverlauf wird die
Bedrohung in Caché nicht manifest. Zwar gibt es mit dem Selbstmord von Majid eine
Gewalttat, die auch den Höhepunkt der Geschichte bildet. Jedoch bleibt die
Bedrohung für Georges in gleicher Weise bis zum Schluss aufrechterhalten, da die
Herkunft dessen, was die Bedrohung auslöst, nicht dingfest gemacht wird. Die
Schlussszene, in der man Majids Sohn und Pierrot sich unterhalten sehen kann, wirft
neue Verdächtigungen und Fragen über den weiteren Verlauf auf, die nicht entfaltet
werden. Das ungeklärte Rätsel selbst ist die Bedrohung.
Auf filmtechnischer Ebene wie auf Handlungsebene wird also mit den Erwartungen
des Zuschauers gebrochen. Catherine Wheatley spricht vom scopophilic drive35, der
in Caché durch die modernistische [sic!] Technik unterbrochen wird. Dieser Drive
bezieht nicht nur die Erwartungen bezüglich der Filmtechnik und des
Handlungsverlaufs mit ein, sondern auch die emotionale Teilhabe am Geschehen
und die Identifikation mit Figuren. Wird der Drive unterbrochen, etwa, wenn sich
33 [00:56:00] 34 Zur Dichotomie des Gesellschaftsbildes und zur Bedeutung des Opfers im Thriller vgl. Nusser, Kriminalroman, S. 55 f. 35 „Scopophilic drive“ kann etwa mit Schaulust übersetzt werden.
13
hinter der geheimnisvollen Tür kein gefährlicher Ganove findet oder die
Hauptidentifiktionsfigur36 den eigenen Normenhorizont zu sehr verletzt, fühlt der
Zuschauer eine Frustration, ein Unbehagen. „In a second moment they [the
spectator, d. Verf.] become aware of the reason for this discomfort as their instinct to
avoid pain leeds them to seek its source [...]“37 und der Zuschauer merkt, dass der
Grund für die Frustration darin liegt, dass er den Wunsch hat, seine Erwartungen
erfüllt zu sehen. Er möchte, dass sich hinter der Tür das Böse befindet, das
überwältigt wird.38 Er wünscht sich die Wiederherstellung der Normalität für den
Helden, mit dem er sich identifiziert, oder zumindest dessen Autonomie. In Caché
geht die Identifikation mit Georges und seiner Familie mit einem Unbehagen einher,
da in der Geschichte ein Unrecht geschieht, für das sie Verantwortung tragen.
Georges setzt sich nicht bewusst mit seiner Schuld an der Intrige gegen Majid
auseinander und steht ihm auch als Erwachsener nicht aufrichtig gegenüber. Der
Wunsch des Zuschauers, in dem Mann hinter der Tür einen gefährlichen Gegner zu
sehen, wird mit der Unschuld und der Verzweiflung der Figur zu einem Wunsch, für
den der Zuschauer sich im Nachhinein schämt oder den er zumindest revidiert. Er
fragt sich: „Why do I feel unpleasure?“, und „Is this justified?“, „Warum habe ich in
Majid einen gefährlichen Gegner gesehen? Warum bin ich enttäuscht, dass Majid
nicht als Verbrecher dingfest gemacht werden kann?“ und begreift somit seine
Teilhabe am Film.39 Er fragt sich, ob seine Erwartungen, seine Vorurteile, die der
bisherige Filmverlauf erzeugt hat, richtig waren. In der Brechung mit diesen
Erwartungen und Wünschen wird dem Zuschauer seine emotionale und Wunsch-
orientierte Beziehung zum Film bewusst und „[d]as Leinwandgeschehen wird somit
zum thematischen Bezugsobjekt des Verständnisses auch der eigenen somatisch-
36 Überwiegende Identifikationsfigur ist Georges, da er die am häufigsten präsente Figur ist und Einsicht in Erinnerungen und intime Situationen bietet. 37 Wheatley, Haneke’s Cinema, S. 153. 38 Vgl. Georg Seeßlen: Thriller. Kino der Angst. Überarb. und aktualisierte Neuaufl, Margburg 1995. S. 11: Das Gefühl der Angst wird im Film anhand einer konkreten Gefahrensituation durchlebt und das Gefühl, sie überstanden zu haben, hinterlässt Befriedigung. 39 Vgl. Wheatley, Haneke’s Cinema, S. 154: „In the process of considering these feelings, the spectator enters a moral thought space asking, firstly, why they feel shame or guilt, finding its source in their own complicity with the cinematic medium, and then asking themself whether or not this is justified.“
14
synästhetischen Reaktion.“ 40 Christiane Voss legt dar, dass für die
Filmwahrnehmung das Einfühlen in Figuren und in das Geschehen maßgeblich ist.41
Dabei haben die Emotionen des Zuschauers als Reaktion auf das
Leinwandgeschehen eine bewertende Funktion. Gefühle sind immer auf das
Geschehen und auf die in das Geschehen eingebetteten Objekte bezogen (man
fürchtet sich vor etwas und es ist schlecht für das eigene Wohlempfinden).42 Man
fürchtet sich vor dem, was sich hinter der Tür befindet und möchte, dass es
überwältigt wird. Man hat Mitleid mit Majid, wenn man ihn weinen sieht. Laut Voss
wird mit der emotionalen Reaktion des Zuschauers zum einen die Wirkung des
Geschehens auf das eigene Wohlempfinden bewertet und zum anderen die Wirkung
auf das Wohlempfinden der Figur, mit der er sich identifiziert. In der Identifikation mit
Georges sorgt sich der Zuschauer um dessen Unversehrtheit und merkt dann, dass
diese Sorge und die damit einhergehende offensive Haltung gegenüber Majid
ungerechtfertigt waren. Dem Zuschauer wird klar, dass er sich in der Zuweisung von
Gut und Böse geirrt hat, denn Georges wird zu einer moralisch nicht integeren Figur.
Nicht nur das Geschehen und die Figuren werden so moralisch und emotional
bewertet, sondern auch das eigene Empfinden und die eigene Wahrnehmung
werden geprüft. Der Bruch mit den Erwartungen des Zuschauers bewirkt also, dass
die eigene Wahrnehmung überprüft und revidiert wird. „In der menschlichen Wahrnehmung ist die Wahrnehmung des eigenen Körpers als Subjekt der Wahrnehmung stets impliziert. Darüber hinaus können wir unsere eigenen Wahrnehmungsakte jederzeit selbst zum Objekt des Bewusstseins machen und ein reflexives Verhältnis zu unserer Wahrnehmung einnehmen.“43
40 Christiane Voss: „Narrativität, Emotion und kinematographische Illusion aus philosophischer Sicht“. In: Anne Bartsch / Jens Eder / Kathrin Fahlenbach (Hg.): Audiovisuelle Emotionen. Emotionsdarstellung und Emotionsvermittlung durch audiovisuelle Medienangebote. Köln 2007. S. 312-329, hier S. 326. 41 Vgl. Voss, Narrativität, S. 312-329. 42 Vgl. ebd., S. 322: „Emotionen sind Weisen des Urteilens und als solche stets auf etwas (Objekte) korrelativ bezogen (SOLOMON 1993).“ 43 Thomas Morsch: Medienästhetik des Films. Verkörperte Wahrnehmung und ästhetische Erfahrung im Kino. Paderborn 2011. S. 175.
15
Nicht nur die psychologische Wahrnehmung der Identifikationen und Emotionen wird
reflektiert. Auch die körperliche Wahrnehmung ist Gegenstand der Selbstreflexion.
Die körperliche Reaktion auf das Filmgeschehen wird in Caché besonders im
Schrecken spürbar, der auf die Selbsttötung von Majids folgt.
2.3 Schock und Selbsterkenntnis Das Reflektieren der eigenen Wahrnehmung wird in Caché an mehreren Stellen
evoziert. Zum einen nimmt der Zuschauer im Bruch mit der Darstellungsweise eine
skeptische Haltung gegenüber der Realitätsebenen ein. Zum anderen werden
Erwartungen an den Handlungsverlauf gebrochen, was zu einer Revidierung und
Relativierung von Identifikationen und Urteilen führt. Dadurch wird ein Unbehagen
erzeugt, das zum Höhepunkt des Films, die Selbsttötung von Majid, noch einmal
verstärkt wird.
Während der Nachbearbeitung seiner Sendung wird Georges von Majid angerufen,
der ihn in seine Wohnung bittet. Nachdem Georges die Küche betreten hat, stellt sich
Majid vor ihn und schneidet sich unerwartet mit einem Taschenmesser die Kehle auf.
Die Kamera zeigt den gleichen statischen Ausschnitt der anonymen Videoaufnahme,
der auch Georges’ Besuch zuvor zeigt. Das Blut spritzt an die Wand und Majid fällt
zu Boden. Der geschockte Georges läuft langsam aus dem Bild heraus.44
Der Schrecken, den der Selbstmord auslöst, wird in Caché nicht nur, wie in der
Studie von Thomas Morsch erläutert, über die filmische Inszenierung der Plötzlichkeit
erzeugt.45 Eine Form von Plötzlichkeit wird hier erlebt, indem der Zuschauer vorher
keinerlei Hinweise auf die Tat erhält und nicht mit der Handlung rechnet. Es könnte
jedoch keine entschleunigtere Darstellung der Handlung geben, als die eines
statischen Bildes von einer in relativer Entfernung stehenden Kamera. Auf der einen
44 [01:25:00] 45 Vgl. Morsch, Medienästhetik, S. 234: Zum einen wird die für die moderne Großstadterfahrung emblematische Darstellung des schnellen Schnitts genannt und zum anderen die taktile Nähe des Zuschauers zum Bild.
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Seite erschreckt die Szene aufgrund der ästhetischen Ähnlichkeit mit
Überwachungskamerabildern und dokumentarischem Filmstil und der damit
einhergehenden Authentisierung des Geschehens.46 Marion Gymnich erläutert hierzu
Verfahren der Sichtbarmachung der Kamera, die einen nicht-fiktionalen
Rezeptionsrahmen aufrufen und zu einer Naturalisierung der Darstellung führen.47
Der Schock wird hier jedoch auch durch die besondere Markierung der
Filmeinstellung innerhalb der Filmsemantik verstärkt. Die statische Aufnahme
kündigte im bisherigen Filmverlauf eine Szene an, in der sich nichts ereignet, denn
sie ist assoziativ mit dem Device der anonymen Videoaufnahmen verknüpft. Wenn
die Kamera in der Eingangsszene auf das Haus der Laurents hält, passiert auch
nach – für konventionelle Filmdarstellung – langer Zeit nichts, was eine Handlung
ausmacht. Die Videoaufnahmen zeigen auch im weiteren Filmverlauf keine
Ereignisse, sondern sind Wegweiser und stummes Zeichen, das auf etwas hinweist.
Auf erzählerischer Ebene ist der Film im Film kein fiktionaler Raum, in dem etwas
geschieht, das die Handlung konstatiert.48 Das ändert sich, wenn der Selbstmord im
Rahmen der statischen Aufnahme geschieht. Um ein weiteres Mal wird also mit den
Gewöhnungen und Erwartungen des Zuschauers gebrochen und somit gleichzeitig
mit dem Schrecken über Majids Selbsttötung eine umso wirkungsvollere
Verunsicherung erzeugt.
Für den Zuschauer wird die Filmwahrnehmung hier mit dem Schrecken auch zu einer
körperlich besonders spürbaren Erfahrung. Aufgrund des erlebten Schreckens
reagiert der Körper mit erhöhtem Pulsschlag, Schweißbildung oder einer Gänsehaut.
Die Körperregungen beim Schrecken sind ähnlich sichtbar, wie zum Beispiel Tränen
beim Erleben von Trauer. Der Schrecken ist somit deutlicher reflektierbar, als andere
46 Auch bekommen die Videoaufnahmen den Charakter eines Beweises, als Anne in der Aufnahme sieht, wie Georges Majid in seinem Appartement aufsucht, [00:56:25]. 47 Vgl. Marion Gymnich: „Meta-Film und Meta-TV: Möglichkeiten und Funktionen von Metaisierung in Filmen und Fernsehserien“. In: Janine Hauthal / Julijana Nadj et al. (Hg.): Metaisierung in Literatur und anderen Medien. Berlin 2007. S. 127-154, hier: S. 173 f. Zwar ist die anonyme Kamera in Caché gerade nicht direkt sichtbar, dennoch ist es keine „unsichtbare Kamera“, die zur filmischen Illusion von Wirklichkeit beiträgt. Sie ist aufgrund der von ihr gemachten Bilder, die Anne und Georges erhalten, präsent. 48 Wenn sie zeigt, wie Georges Majid das erste Mal besucht, dann sieht der Zuschauer eine Wiederholung der Handlung.
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Reaktionen der Filmwahrnehmung. Zur Erfahrung des Entsetzens schreibt Hans
Richard Brittnacher: „Der [entsetzte] Mensch verläßt gleichsam sein Zentrum, tritt
neben sich und schaut aus dieser ‚exzentrischen Positionalität’ auf sich selbst.“49
Zum Schrecken gehört ebenso die körperliche Erfahrung, wie die Perspektivierung
auf das eigene Selbst.50
Vivian Sobchack sieht das Medium Film als Ausdruck als Wahrnehmung. Der
filmische Ausdruck der Kamera wird als Wahrnehmung wahrgenommen. Das heißt,
dass sich also während der Filmrezeption die Wahrnehmung der Wahrnehmung
geradezu aufdrängt, da dem Zuschauer vorgeführt wird, wie die Kamera wahrnimmt,
beziehungsweise wie gerade wahrgenommen wird.51 Thomas Morsch schreibt dazu:
„Beim Film haben wir es mit einer Wahrnehmung zu tun, die selbst wiederum (durch
den Zuschauer) wahrgenommen wird.“ 52 Die Täuschung über die Illusion einer
filmischen Wirklichkeitsebene wird zuvor im Film immer wieder deutlich, wenn das
Videoaufnahme-Device einsetzt und als Film im Film entlarvt wird. Anschließend wird
dem Zuschauer klar, dass er sich in der Wahrnehmung der Filmrealität getäuscht
hat. Das Device der Videoaufnahmen signalisiert zum einen das Moment des
Reflektierens der eigenen Wahrnehmung, wenn es sich als metadiegetische
Wirklichkeit herausstellt und zum anderen signalisiert es das Moment der
Revidierung des eigenen Urteils, wenn sie Majids Verzweiflung und Trauer zeigt. Das
Device ist Teil eines Bruchs mit Erwartungen und ruft ein Moment der Reflexion der
eigenen Wahrnehmung auf. Es findet im Film ein Wechsel zwischen relativ
selbstvergessener Wahrnehmung des Films und selbstreflexiver Wahrnehmung der
eigenen Wahrnehmung statt.
Einen weiteren Effekt, den das Videoaufnahme-Device erzeugt, möchte ich mit
einem Begriff von Vivian Sobchack, dem des filmischen Körpers erläutern. Der
Begriff geht davon aus, dass die bewegte Kamera die Intentionalität eines leiblichen
49 Hans Richard Brittnacher: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt/M. 1994. S. 45 f. 50 Vgl. Morsch, Medienästhetik, S. 236 f. 51 Vgl. ebd., S. 179: „Der Film hingegen konstituiert eine Wahrnehmungserfahrung [...]“. 52 Ebd., S. 175.
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Körpers nachbildet. Das filmische Bild, das Bewegung und Entscheidungen
ausdrückt, entspricht dem menschlichen Wahrnehmungs- und Bewegungsfeld. Der
filmische Körper ist allerdings nicht als figürliche Instanz oder in den Film versetztes
Subjekt zu verstehen, sondern ist eher ein anonymer, impliziter Körper.53 Er ist aus
Zuschauersicht „some body for whom it counts as ‘mine’.“54 Das heißt, dass sich der
Zuschauer nicht nur mit den Figuren und der Handlung identifiziert, sondern auch mit
der Position und Bewegung der Kamera mitgeht. Die Kamera in Caché, die im
Videoaufnahme-Device auf das Haus der Laurents gerichtet ist, scheint in ihrer
Position und Bewegungslosigkeit die Intention des Verharrens, des Wartens auf
Etwas auszudrücken. Auch der Zuschauer wartet darauf, dass endlich etwas
passiert. Nach der Selbsttötung verharrt die unbewegte Kamera auf dem reglosen
Körper, während Georges aus dem Bild läuft. Der Blick der statischen Kamera
signalisiert nicht den Blick einer beteiligten Figur, er ist in seiner Intention unbeteiligt.
Während Georges’ Körpersprache von Entsetzen, Schock und Ratlosigkeit zeugt,
drückt die statische Kamera unbeweglich passives Beobachten aus. Sie verstärkt ein
Gefühl der Untätigkeit und Hilflosigkeit, angesichts des Selbstmordes von Majid. Die
passive Haltung, die auch der Zuschauer als Betrachter medialer Ereignisse
einnimmt, wird so über den filmischen Körper reflexiv deutlich gemacht. Der
Zuschauer ist erschrocken und gleichzeitig durch die Intention des filmischen
Körpers in eine unbewegliche Position versetzt. Zusammen mit der selbstreflexiven
Ästhetik, die eine skeptische Haltung gegenüber der filmischen Realität erzeugt, wird
dem Zuschauer die Trennung von seiner körperlichen Erfahrung (dem Schrecken)
und dem medialen Ereignis deutlich. Ihm wird bewusst, dass das Erlebnis real ist,
das Ereignis jedoch nicht. Er sitzt im Kinosessel und kann nichts ändern an
Ereignissen, die ihn emotional erschüttern. Der Blick auf Majids blutenden Körper ist
kein Blick einer beteiligten Figur, die weglaufen oder einen Arzt rufen kann. Es ist der
53 Vgl. Vivian Sobchack: Carnal Thoughts. Embodiment and Moving Image Culture. Berkeley/Los Angeles/London 2004. S. 66, Anm. 48: „The ‘film’s body’ is not visible in the film except for its intentional agency and diacritical motion. It is not anthropomorphic, but it is also not reducible to the cinematic apparatus [...]; it is discovered and located only reflexively as a quasi-object and embodied ‘eye’ that has a discrete – if ordinarily prepersonal and anonymous – existence“. 54 Vivian Sobchack: The Adress of the Eye. A Phenomenology of Film Experience. Princeton 1992. S. 277 f.
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Blick eines nicht-diegetischen filmischen Körpers, der nicht weg kann und nicht
eingreifen kann. Daher spürt der Zuschauer ein Unbehagen.
3. Bedrohliche Nähe, geschlossene Räume: Angriff auf die Privatsphäre Die rätselhaften Videoaufnahmen verursachen beim Zuschauer eine Verunsicherung
auf erzählerischer Ebene einerseits. Sie verunsichern jedoch nicht nur den
Zuschauer, sondern auch die Protagonisten des Films. Für Georges und Anne ist die
Herkunft der Videos ein beunruhigendes unlösbares Rätsel und die Aufnahmen
machen sie zum Objekt des Beobachtens. Die Bedrohung, die Anne und Georges
empfinden, geht vom Blick einer anonymen und versteckten Kamera aus und löst
bestimmte Reaktionen und Gefühle der Verunsicherung und Angst aus. Nachdem
die erste Videokassette eintrifft, versuchen sie zuerst die Kamera, von der der Blick
ausging, zu finden. Georges tritt in der Dämmerung auf die Straße, doch er kann
keine Kamera sehen. „Komm wieder rein“, ruft ihm Anne zu und Georges
verschwindet schnell wieder im Haus. Die Szene ist eingebettet in die Bilder der
Videoaufnahme, auf sie folgt ein direkter Schnitt zum Bild des Hauses der Laurents,
dessen Eingang hinter einer hohen Hecke kaum zu sehen ist. „Es klingt blöd, aber es
macht mir Angst“,55 sagt Anne, nachdem die zweite Videokassette eintrifft. In sich
steigernder Paranoia versucht Georges der Herkunft der Videos auf den Grund zu
gehen und den Angriff auf sein Sicherheitsempfinden abzuwehren. Er droht Majid, in
dem er den Angreifer sieht, Gewalt an, falls er seine Familie nicht in Ruhe lassen
sollte.56 Der Blick der anonymen Kamera ist ein voyeuristischer Blick, von dem
Georges und Anne nicht wissen, wann er auf sie gerichtet ist und über den die
Angeblickten keinerlei Kontrolle zu haben scheinen. Er ist ein Akt taktil-nonverbaler
Kommunikation, der die Möglichkeit einer direkten Antwort verweigert und deshalb
besonders bedrohlich wirkt. Das, was Furcht auslöst „nähert sich drohend, ohne
55 [00:15:13] 56 [00:50:30]
20
schon in eine beherrschbare Nähe gerückt zu sein.“57 Die durch ihren Blick präsente
Kamera scheint ihr Objekt aus relativer Entfernung zu belauern und einen Angriff
anzukündigen, der kurz bevor steht. Bei Martin Heidegger gehört zur
„Begegnisstruktur des Bedrohlichen [...] die Näherung in der Nähe.“58 Obwohl der
Blick der anonymen Kamera nie tatsächlich in das Haus der Laurents eindringt,59
bewirkt er doch eine grundlegende Erschütterung des Familienlebens der Laurents.
Als eine der Aufnahmen, an seinen Chef adressiert, sogar seine Arbeitsstelle
erreicht, droht sie seine Karriere als öffentlicher Person zu gefährden.60 Mit dem
Verweis auf Georges’ Elternhaus und seine Kindheit dringen die Aufnahmen in die
private Sphäre des Protagonisten ein.
In seinem Artikel „Uneasy Domesticity in the Films of Michael Haneke“ stellt David
Sorfa fest, dass das Zuhause und seine Grenzziehung zur Umwelt in Hanekes
Filmen immer mit Gewalt verbunden sind: „the surface of domestic ease does not
only hold within it a disturbing element, but is also brought into existence by that very
factor.“ 61 Auf das Eindringen in Georges’ Familienleben und seine Privatsphäre
reagiert Georges mit offensivem und aggressivem Verhalten. Sein Verhältnis zu
seiner Frau, seinem Sohn und seinen Freunden ist aber gleichzeitig auch durch
Abschottung, Isolation und Misstrauen geprägt. Erst, als er sich dazu gezwungen
sieht, vertraut Georges seiner Frau das Geheimnis seiner Vergangenheit, das
folgenschwere Ausspielen von Majid, an. Die gemeinsamen Freunde des Ehepaars
und seine Mutter sollen nichts erfahren.
„Das Entsetzen ist die fast wahnhaft eindringliche Erfahrung von der Schutzlosigkeit
des Ich und seinem Preisgegebensein [...]“.62 Außer in Angesicht des Selbstmordes
57 Morsch, Medienästhetik, S. 239. 58 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 2001. S. 142. 59 Anders ist dies zum Beispiel bei den Videoaufnahmen in „Lost Highway“ von David Lynch, die das Haus nicht nur von außen, sondern auch von innen filmen. Auch sie stehen für eine Bedrohung. 60 „Der Mann möchte offenbar Ihre Karriere ruinieren“, sagt Georges’ Vorgesetzter, [01:02:00] 61 David Sorfa: „Uneasy Domesticity in the Films of Michael Haneke“. In: Studies in European Cinema. Vol. 3 Nr. 2, 2006. S. 93-104, hier: S. 98 (online abrufbar unter http://ljmu.academia.edu/DavidSorfa/Papers/77583/Uneasy_Domesticity_in_the_Films_of_Michael_Haneke). 62 Brittnacher, Ästhetik des Horrors, S.45 f.
21
von Majid, erschrickt Georges als er beinahe mit einem Radfahrer zusammenstößt.
Er reagiert verbal und gestisch aggressiv und beschimpft den Radfahrer. Wütend
bittet ihn dieser das Gesagte zu wiederholen, steigt von seinem Fahrrad und nähert
sich Georges auf eine intime Distanz. Der Radfahrer ist größer als Georges und
beugt sich leicht über ihn, während er eine drohende Gebärde macht. Als Georges
nichts mehr sagt, schlichtet Anne zwischen den beiden und das Ehepaar setzt sich
darauf ins Auto und schließt die Türen.63 Näherung hat hier den Charakter des
Bedrohlichen und löst bei der Figur Georges Angst aus. Es wird darauf mit
Abschottung in einem geschlossenen Raum reagiert.
Auch das Schlafzimmer dient Georges der Abschottung und als Fluchtort nach
aufreibenden Erlebnissen. Nach der aufgeladenen Konfrontation am Tag sieht man
ihn abends allein im dunklen stillen Schlafzimmer am Fenster stehen. Die Kamera
blickt in halbnaher Einstellung auf Georges Profil, das von einem diffus schwachen
Licht einer Straßenlaterne beleuchtet wird. Mit dem Blick aus dem Fenster
signalisiert das an romantische Motivik erinnernde Bild einen Rückzug in
Innerlichkeit. Auch nach dem Selbstmord von Majid geht Georges im Dunkeln durch
das Haus ins Schlafzimmer, um sich vor den Freunden Pierre und Mathilde zu
verstecken. Nachdem Anne ins Zimmer kommt, möchte Georges, dass sie die
Freunde mit einer Ausrede wegschickt, damit sie ihn nicht sehen. Das Licht im
Schlafzimmer soll ausbleiben und es herrscht eine gedämpfte und krisenhafte
Atmosphäre.64 Hier erst gibt er Anne Details seiner Geschichte mit Majid preis. Ins
Schlafzimmer verschwindet Georges auch nach dem konfrontierenden Gespräch mit
Majids Sohn zum Ende des Films. Nachdem er eine Tablette genommen hat, ist zu
sehen, wie er die Vorhänge schließt und sich zudeckt, so dass man nichts mehr von
ihm sieht.65 Auffällig häufig sieht man Georges Türen hinter sich schließen,66 sowie
der Wohnraum der Laurents durch drei Türen von draußen getrennt ist, die häufig
Motiv der Kamera sind.
63 [00:16:55] bis [00:18:05] 64 [01:27:00] 65 [01:42:35] 66 Zum Beispiel die Küchentür, während Pierre und Mathilde zu Besuch sind [01:17:15], oder die Schlafzimmertür [01:27:40].
22
Berührungen und körperliche Nähe gibt es in Caché selten. Nur in einer Szene sind
sich Anne und Georges körperlich wirklich nahe, 67 sowie auch Pierrot eine
distanzierte Beziehung zu seinen Eltern hat; als Anne sich Pierrot in intime Distanz
nähert, reagiert dieser abwehrend auf eine Umarmung.68 Die Nähe der Kamera zu
den Figuren ist auch mit einer Situation des Unbehagens verknüpft, als Majid und
dessen Sohn wegen der vermuteten Entführung von Pierrot verhaftet werden. Die
Kamera zeigt frontale Großaufnahmen der verdunkelten Gesichter von Georges,
Majid und dessen Sohn.69 Um noch einmal mit dem Begriff des filmischen Körpers
von Sobchack zu sprechen, verharrt dieser durch seine frontale Nähe mit größter
Intentionalität vor den Figuren aus. Verstärkt durch die vergitterten Fenster des
Polizeiwagens, wird das Gefühl der Bedrängnis und des Ausgeliefert-Seins erzeugt.
Die frontale Perspektive erinnert an die anonymen Aufnahmen aus der ersten
Sequenz, deren Blick gleichermaßen, frontal zum Objekt, auf einer Stelle verharrt. So
wie die Aufnahmen Georges auf eine Verantwortung drängen, hat die Haltung des
filmischen Körpers in der Verhaftungsszene auch das Movens einer Anklage.
Besonderes Unbehagen wird hergestellt, indem der Zuschauer, anders als die Figur
Georges, ahnt, dass diese zu Unrecht erhoben wird. Auch hier hat Nähe also etwas
Unbehagliches.
Privatheit drückt sich in Caché in der Vermeidung von Nähe und in Autonomie-
Erhaltung der einzelnen Person aus. Nicht nur die Familie wird von Georges vor dem
vermeintlich gefährlichen Angreifer abgeschirmt. Georges fährt Strategien der
Vereinzelung und Abgrenzung seiner Person, indem er über aller Anklage erhaben
und sich niemandem anvertrauen zu wollen scheint. Das Eindringen in die
Privatsphäre geschieht somit gerade nicht, da diese mit allen Mitteln der Gewalt
abgewehrt wird. Todd Herzog weist in seinem Artikel „The Banality of Surveillance“
darauf hin, „that nobody ever intrudes upon the Laurents’ private space in these
67 Beim Schwimmwettbewerb [00:54:45]. 68 [01:22:34] 69 [01:14:15]
23
surveillance videos“. 70 Indem die Kulisse der Literatursendung Georges’ eine
kompositorische Verdoppelung des Wohnzimmers der Laurents darstelle, werde der
Zuschauer daran erinnert, dass „the private dining room [...] remains closed to the
outside world“.71 Aber entgegen der Argumentation von Herzog, hinterlässt Caché
nicht den Eindruck der Routinisierung von einer westlichen Überwachungskultur. Die
Verunsicherung und der Schrecken, den der Film evoziert, vermitteln keine banalen
und routinehaften Erfahrungen. Die Konturierung von Privatheit und die Verhärtung
von Strategien der Abschottung, der privaten Sphäre zur Umwelt, werden
verdeutlicht. Das Thema politischer Migration wird im Zusammenhang mit der Angst
vor dem Fremden, das in den privaten Raum eindringt, entfaltet. Im Leben der
Laurents ist nicht nur das Zuhause hermetisch verriegelt, sondern schützt sich auch
jede einzelne Figur vor körperlicher und emotionaler Nähe.
„Ich musste alles teilen. Ich war sechs!“,72 verteidigt sich Georges Anne gegenüber,
als sie darüber sprechen, was in dessen Kindheit mit Majid passiert ist. In der
vorletzten Szene sieht man, wie Majid als Kind vom Hof der Laurents in einem Auto
weggebracht wird. Zum Ende des Films, in dem Streitgespräch mit Majids Sohn,
kann sich Georges auch als Erwachsener nicht von seinem Kindheitstrauma lösen zu
einer Verantwortung für das Schicksal von Majid bekennen.
„Warum haben Sie so Angst?“, fragt Majids Sohn. „Warum kommen Sie hierher?“,
erwidert Georges. „Hätten Sie mich in Ihre Wohnung gelassen?“73
So wenig wie Georges als Kind Majid Einlass in sein Familienleben gewährt hat,
lässt er auch als Erwachsener nicht zu, dass seine Privatsphäre vom als fremd
Empfundenen berührt wird.
70 Todd Herzog: „Banality of Surveillance: Michael Haneke’s Caché and Life after the End of Privacy“. In: Modern Austrian Literature. Vol. 43, Nr. 2, 2010. S. 25-40, hier: S. 32. 71 Ebd. 72 [00:58:14] 73 [01:37:23]
24
4. Schluss. Unentscheidbare Fragen
Zusammenfassend lassen sich im Film Caché vier Techniken aufzeigen, die eine
Verunsicherung beim Zuschauer erzeugen.
1. Die Verunklarung der Realitätsebenen.
2. Die Verfremdung der Ästhetik realistischer Filmdarstellung zum einen, sowie die
Verfremdung des gewohnten Handlungsverlaufs zum anderen.
3. Die Erfahrung des Schreckens mit besonderer Intentionalität des filmischen
Körpers zum Ereignis, das den Schrecken auslöst.
4. Die Identifikation mit einer Figur, die sich bedroht fühlt.
Die Verunsicherung geht mit dem Hinterfragen und Reflektieren der eigenen
Wahrnehmung einher, die die Beziehung des Zuschauers zum Film bewusst werden
lässt.
Verunsicherung, Bedrohung, Angst und Schrecken werden in Caché auf mehreren
Ebenen evoziert. In der Identifikation mit Georges wird die Angst verkörpert und das
Gefühl erzeugt, sich auch im Schutze des privaten Unterhaltungsvergnügens vor
dem Fernseher oder der Kinoleinwand nicht mehr ganz so sicher zu fühlen. Denn die
Erfahrung des Schreckens, die, wenn sie überstanden ist, gewöhnlich eine
Befriedigung beschafft, hinterlässt in Caché ein bleibendes Unbehagen. Die
schützende Mittelbarkeit der medialen Erfahrung von schmerzhaften Ereignissen
wird dem Zuschauer hier mit den erzählerischen und ästhetischen Mitteln des Films
bewusst gemacht. Er fühlt sich nicht mehr ganz so geschützt und befriedigt, da ihm
die Konstruiertheit medialer Wirklichkeit und die Tatsächlichkeit schmerzhafter
Ereignisse klar wird.
Das spontane Erleben der Illusion des realistischen Kinos wird durch die
Wahrnehmung der eigenen Wahrnehmung gebrochen und in die Klausur
genommen. Die selbstreflexiven Momente im Film signalisieren und verstärken die
skeptische Haltung gegenüber dem Film, dem Selbst und seiner Wahrnehmung. Sie
verursachen ein Stutzen, ein Innehalten in der Irritation. Durch die rätselhaften
Aufnahmen ist der Zuschauer verunsichert. Die Dauer der Aufnahmen geben ihm
aber auch Zeit, Dinge zu hinterfragen und zu reflektieren. Er fragt sich, ob er etwas
25
nicht verstanden, vielleicht eine versteckte Kamera übersehen hat oder warum der
Regisseur die Kamera so lange einfach nur draufhalten lässt.
Angesichts von Caché als ein Autorenfilm liegt es nahe, auch eine
produktionsorientierte Problemstellung zu erläutern. Der Zuschauer erlebt die
Gleichzeitigkeit zum einen einer Ästhetik, die eine distanznehmende und
reflektierende Haltung erzeugt und zum anderen erlebt er Identifikation und die
Erfahrung des Schreckens, die die körperliche Wahrnehmung direkt spürbar macht.
Das Prinzip des Wechsels von konventioneller Machart und dem Bruch mit dieser ist
der Versuch Hanekes, die Trennung von Ereignis und Erfahrung in der medialen
Wahrnehmung aufzuheben, indem er diese deutlich macht. Die abstrakt gewordenen
medialen Zeichen sollen wieder eine Bedeutung gewinnen. Sie sollen nicht mehr nur
selbstreferentielle Bilder innerhalb des Films sein, sondern durch die selbstreflexiven
Techniken die körperliche Erfahrung und emotionale Beziehung zum Medium
bewusst werden lassen. Es gibt in Caché nicht nur einen Bruch mit Konventionen der
Ästhetik des realistischen Films und der gewohnten Weise eine spannungsgeladene
Geschichte zu erzählen. Es wird auch mit Konventionen gebrochen, die erst
innerhalb des Films etabliert werden (etwa, wenn die statische Einstellung mit der
Selbsttötung plötzlich doch ein Ereignis zeigt). Diese Brüche machen die
Besonderheit des Films aus. Sie geben der Spannung zwischen filmischer Illusion
von Wirklichkeit und dem Verweis auf die Konstruiertheit der filmischen Realität
einen Raum, diese zu reflektieren. Es kommt beim Zuschauer zu einer distanzierten
Haltung gegenüber den eigenen Identifikationen, gegenüber der zeitweisen
Selbstvergessenheit der eigenen Wahrnehmung.
Auch Susanne Kaul argumentiert, dass die unmöglichen Aufnahmen auf die
Konstruiertheit des Films verweisen und somit eine Medienkritik implizieren.74 In
74 Sie entsprechen dem Modus des unzuverlässigen Erzählens, da die Inkohärenz in der Handlungslogik (die Videoaufnahmen) auch nicht zum Ende des Films aufgelöst wird. Susanne Kaul: „Bilder aus dem Off. Zu Hanekes Caché“. In: Susanne Kaul / Jean-Pierre Palmier / Timo Skrandies (Hg.): Erzählen im Film. Unzuverlässigkeit – Audiovisualität – Musik. Bielefeld 2009. S. 65 f.
26
„Requiem für die Medien“ spricht Jean Baudrillard 1972 von der Nicht-
Kommunikation der Medien, da diese den Austausch von Frage und Antwort
verunmöglichen. „Die Massenmedien sind dadurch charakterisiert, daß sie anti-mediatorisch sind, intransitiv, dadurch, daß sie Nicht-Kommunikation fabrizieren – vorausgesetzt, man findet sich bereit Kommunikation als Austausch zu definieren, als reziproken Raum von Rede und Antwort [...].“75
Eine korrelierende Aussprache macht Michael Haneke in einem Interview. „‚Der siebte Kontinent’ war auch ein Film, der die Leute dadurch verstört hat, weil er keine Erklärung dafür gegeben hat, warum sie das tun, was sie tun. Und weil ich in der Tat glaube, dass das die einzige Methode ist, dem Publikum unter die Haut zu kommen. Im Gegensatz zum Fernsehen, das schon immer drei Antworten gibt, bevor es überhaupt eine Frage gestellt hat, will ich oder kann man, glaube ich, wenn man sich in welcher Kunstform auch immer äußert, nur Fragen stellen und nie behaupten, auch nur den Anhauch einer Antwort zu wissen.“76
Auch Caché drängt neben dem Unbehagen, dass er hinterlässt, darauf Fragen zu
stellen. Ist Georges zur Verantwortung zu ziehen für das, was er als Kind getan hat?
Wer ist der Urheber der Videos? Kann ein Film einen Effekt auf den Umgang mit
Medien haben? Wie positioniere ich mich als Rezipient zu Gewaltdarstellung in den
Medien? Wenigstens wird klar, dass der Film allein keine Antwort gibt.
75 Baudrillard, Kool Killer, S. 91. 76 Haneke, Regisseur des Films „Caché“, www.arte.tv.
27
Literatur
Baudrillard, Jean: Agonie des Realen. Berlin 1978. Baudrillard, Jean: Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen. Berlin 1978. Brittnacher, Hans Richard: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt/M. 1994. Genette, Gérard: Die Erzählung. 2. Aufl. München 1998. Gymnich, Marion: „Meta-Film und Meta-TV: Möglichkeiten und Funktionen von Metaisierung in Filmen und Fernsehserien“. In: Janine Hauthal / Julijana Nadj et al. (Hg.): Metaisierung in Literatur und anderen Medien. Berlin 2007. S. 127-154. Haneke, Michael im Interview mit Wolfgang Kabisch für die Sendung „Im Gespräch mit ...“: „Michael Haneke, Regisseur des Films ‚Caché’“. 2005 (online abrufbar unter http://www.arte.tv/de/857508,CmC=876864.html). Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 2001. Herzog, Todd: „Banality of Surveillance: Michael Haneke’s Caché and Life after the End of Privacy“. In: Modern Austrian Literature. Vol. 43, Nr. 2, 2010. S. 25-40. Kaul, Susanne: „Bilder aus dem Off. Zu Hanekes Caché“. In: Susanne Kaul / Jean-Pierre Palmier / Timo Skrandies (Hg.): Erzählen im Film. Unzuverlässigkeit – Audiovisualität – Musik. Bielefeld 2009. S. 57-68. Koch, Gerd: Lernen mit Bert Brecht. Erw. Neuausgabe, Frankfurt/M. 1988. Leschke, Rainer: Einführung in die Medientheorie. München 2007. Morsch, Thomas: Medienästhetik des Films. Verkörperte Wahrnehmung und ästhetische Erfahrung im Kino. Paderborn 2011. Nusser, Peter: Der Kriminalroman. 3. Aufl. Stuttgart 2003. Seeßlen, Georg: Thriller. Kino der Angst. Überarb. und aktualisierte Neuaufl, Margburg 1995. Sobchack, Vivian: The Adress of the Eye. A Phenomenology of Film Experience. Princeton 1992. Sobchack, Vivian: Carnal Thoughts. Embodiment and Moving Image Culture. Berkeley/Los Angeles/London 2004. Sorfa, David: „Uneasy Domesticity in the Films of Michael Haneke“. In: Studies in European Cinema. Vol. 3.2 2006. S. 93-104 (online abrufbar unter http://ljmu.academia.edu/DavidSorfa/Papers/77583/Uneasy_Domesticity_in_the_Films_of_Michael_Haneke). Stam, Robert: Reflexivity in Film and Literature. Morningside Edition, New York 1992. Thompson, Kristin: Breaking the Glass Armour: Neoformalist Film Analysis. Princeton 1988. Voss, Christiane: „Narrativität, Emotion und kinematographische Illusion aus philosophischer Sicht“. In: Anne Bartsch / Jens Eder / Kathrin Fahlenbach (Hg.): Audiovisuelle Emotionen.