Panta rhei. Beiträge zur Medienkultur

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Johannes GrotzkyPANTA RHEI

Beiträge zur Medienkultur

Johannes GROTZKY, Dr. phil. (*1949)

Studium der Slawistik, Balkanologie und Geschichte Ost-­‐und Südosteuropas. Seit 2002 Hörfunkdirektor des Bayeri-­‐schen Rundfunks. Bücher: Gebrauchsanweisung für die Sow-­‐jetunion (1985, 41990), Herausforderung Sowjetunion (1991),Konflikt im Vielvölkerstaat (1991), Balkankrieg (1993), Freiheitalleine macht nicht satt Hrsg. (1996), Schachmatt (2004,32012), Fremde Nachbarn (2009, 22012), Lenins Enkel (2009),„Mit welchem Recht kämpfen wir dort?“ (2011)

Johannes Grotzky

PANTA RHEIBeiträge zur Medienkultur

© Johannes Grotzky 2012Umschlagfoto: www.mygeo.info/hintergrundbilder.htmlUmschlaggestaltung: BoD easyCoverHerstellung und Verlag:Books on Demand GmbH, NorderstedtPrinted in Germany

INHALT

Vorwort 7

Wie sozial sind soziale Netzwerke 11

"Was heisst hier eigentlichKulturradio" 26

Tradition und Brauchtum alsMedienfaktor 37

Deutschsprachige Musik im Radio 49

Der Hörfunk auf dem Weg insdigitale Zeitalter 63

Eine Welt ohne Archive -­‐Eine Welt ohne Gedächtnis 82

An der Schwelle zur Praxis 89

Sprache und politischer Wandel 95

Eine andere mediale Erfahrung:Mit Mariss Jansons in Russland 127

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Vorwort

Die Worte 'panta rhei' (griechisch πάντα ῥεῖ,"alles fließt") sind zu einer Metapher für die stän-­‐digen Veränderungen ("Prozessualität") der Weltgeworden. Diese Erkenntnis wird dem Philoso-­‐phen Heraklit von Ephesos zugeschrieben, der um520 -­‐ 460 vor Christus gelebt hat, also vor gutzweieinhalbtausend Jahren. Der Philosoph Platon(428 -­‐ 348 v. Chr.) hat diesen Gedanken aufge-­‐nommen und fortgeschrieben: Πάντα χωρεῖ καὶοὐδὲν μένει: „Alles bewegt sich weiter und nichtsbleibt so, wie es war.”

In der vorliegenden Textsammlung sollen mitdieser Erkenntnis die ständigen Umbrüche in derMedienwelt bezeichnet werden, die sich vor al-­‐lem in der Zeit der Digitalisierung für jedermanngreifbar schnell vollziehen. In der Tat haben sichProduktion und Rezeption der Medien durch dieDigitalisierung und durch das Internet nachhaltigverändert, alles bewegt sich weiter und nichtsbleibt mehr so, wie es einmal war. Allen voranhaben dabei die "sozialen Netzwerke" eine medial

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relevante Bedeutung gewonnen, weil sie zu einerPlattform des Informationsaustausches und derMeinungsbildung außerhalb bislang bekannterStrukturen und Regularien geworden sind. DieDeutungshoheit der traditionellen Medien, denenin einem rechtlich sogar geschützten Rahmengerne die Rolle der „Vierten Gewalt“ zugeschrie-­‐ben wurde, wird nun durch Vernetzung und Ver-­‐vielfältigung individueller Meinungsprozesse inFrage gestellt.

Daneben stehen aber bis auf weiteres noch dietraditionellen Medien, die sich mit dem viel disku-­‐tierten Kulturbegriff beschäftigen, der sich ausdem Kulturauftrag vor allem im öffentlich-­‐rechtlichen Bereich der Medien ableitet. Auch derUmgang mit Tradition, Brauchtum und Musikbleibt relevant, weil es sich hier um Inhalte han-­‐delt, die zwar in neuen Formen aufscheinen, aberihrem Selbstverständnis nach weiterhin dem Er-­‐halt vertrauter Identitäten dienen. Von besonde-­‐rer Bedeutung war auf dem heimischen Radio-­‐markt die Auseinandersetzung um so genanntedeutsche Musik geworden; unklar blieb allerdingsdie Absicht, ob es sich dabei um deutschsprachigeoder in Deutschland und mit deutschen Gruppenproduzierte Musik vor allem im Pop-­‐ und Rockbe-­‐reich handeln solle.

Inhalte welcher Art auch immer behalten je-­‐doch ihre Bedeutung nur dann, wenn sie zeitun-­‐abhängig und möglichst barrierefrei für den Nut-­‐zer wieder auffindbar sind. Hier gelten zwar recht-­‐

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liche Grenzen des Urheberschutzes. Dennoch si-­‐chert erst das dokumentarische Gedächtnis derMedienarchive, zu denen sich die Podcast-­‐Angebote gesellt haben, dieser Vergangenheiteine Zukunft, macht sie wieder verfügbar undüberprüfbar. Dabei reicht es nicht, sich einfach aufden Algorithmus fremd bestimmter Suchmaschi-­‐nen im Internet zu verlassen. Denn die Mediendo-­‐kumentation gewichtet, versieht den Quellentext,das Video, das Audio mit notwendigen Begleitda-­‐ten, um später deren Bedeutung rekonstruierenzu können. Gerade der Beitrag über die Digitalisie-­‐rung des Hörfunks belegt, dass schon vor mehr alseinem halben Jahrzehnt die Weichen für einekünftige Neuausrichtung gestellt wurden, die auchauf das veränderte Verhalten der Rezipienteneinging. Einige Angaben von damals wurden aktu-­‐ell ergänzt, wenngleich die grundsätzlichen Her-­‐ausforderungen von damals für die traditionellenMedien weiterhin bestehen.

Eine besondere Rolle spielt bei all diesen Ver-­‐änderungen der sprachliche Wandel. Am Beispielmeines eigenen Fachgebietes Ost-­‐ und Südosteu-­‐ropa versuche ich aufzuzeigen, dass politische undgesellschaftliche Veränderungen gerade in derSprache ihren medienwirksamen Niederschlagfinden. Denn Sprache ist das unverzichtbareMerkmal jeder Kommunikation, wenn ich michnicht nur auf die ikonenhafte Zeichensprache desBildes verlassen will. Hier sind es besonders Bei-­‐spiele aus dem Sprachbereich des zerfallenden

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Jugoslawien wie auch aus der Sowjetunion derPerestrojka, die eindrucksvoll zeigen, welche Ab-­‐hängigkeit zwischen Sprache und medialer Ver-­‐mittlung bei politischen Umbrüchen besteht.

In einer Reihe von Beiträgen, die teilweise alsVorträge angelegt waren, sind all diese Aspekteund deren jeweilige Auswirkungen auf die Medi-­‐enkultur zu unterschiedlichen Zeiten und Anlässenbehandelt worden. Es besteht also kein chronolo-­‐gischer Zusammenhang zwischen diesen Texten,die sich gleichwohl alle in ihren Beobachtungenmit der Kultur unserer Medien ganz generell be-­‐schäftigen.

Zu guter Letzt habe ich eine Russlandreise mitdem Symphonieorchester des Bayerischen Rund-­‐funks zum Anlass genommen, um über eine medi-­‐ale Erfahrung besonderer Art zu berichten. Dennauch diese Arbeit gehört zum Programmauftrageines Hörfunkdirektors, aus dessen Alltag herausdiese Beiträge entstanden sind.

München, Sommer 2012

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Wie sozial sindsoziale Netzwerke?

Noch bevor ich in die Schule kam, interessierteich mich für das, was in einem Radio vor sich ging.Ich wollte wissen, wie diese Menschen in das Ge-­‐rät kommen, um dort zu sprechen oder zu musi-­‐zieren. Und ich wollte wissen, ob ich mit diesenMenschen Kontakt aufnehmen könnte.

Meine weitaus älteren Schwestern erklärtenmir im Vorschulalter, die Sprecher und Musikerliefen durch das Stromkabel aus der Wand in dasRadio hinein. Und wenn das Programm beendetsei, packten sie alles zusammen und verließen dasGerät wieder durch das Stromkabel RichtungSteckdose.

Ich war begierig, mit den RadiomenschleinKontakt aufzunehmen. Als ich alleine im Zimmerwar, wartete ich -­‐ mit einer Schere in der Hand -­‐das Ende eines Musikstückes ab. Noch bevor derSprecher mit der Absage begann, schnitt ichschnell das Kabel durch in der Hoffnung, nun

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müssten mir alle die Musiker in die Hand purzelnund ich könnte endlich mit Ihnen in Kontakt tre-­‐ten.

Das Unglück war verhältnismäßig überschau-­‐bar. Ein Kurzschluss, eine versengte Schere, eineverbrannte Hand und ein heulender Knabe.

Heute würde ich natürlich einen anderen Wegzur Kontaktaufnahme gehen, dank sozialer Netz-­‐werke. Denn sie ermöglichen Zugang zu unserenProgrammleuten -­‐ allen voran über Facebook.Meine frühe Idee, Broadcast, also die Sendefunk-­‐tion von einem Punkt zu vielen Empfängern, ineinen Dialog zu verändern, gewissermaßen einenRückkanal aufzubauen, ist heute Kommunikati-­‐onsstandard.

Etwas euphorisch haben wir dieser Plattformden Begriff der sozialen Netzwerke zugeschrieben,ohne zu wissen, dass es dabei zwar keine ver-­‐brannten Hände, sehr wohl aber verbrannte See-­‐len geben kann.

Natürlich ist mir klar, dass diese Einrichtung,die im Englischen als „social network“ firmiert,nichts mit dem Begriff „sozial“ zu tun hat. Korrek-­‐terweise müsste man dies mit „gesellschaftlichemNetzwerk“ übersetzen. Das konterkariert natür-­‐lich auch die Überschrift über diese kurze Einlas-­‐sung, hat aber dennoch seine Berechtigung, weilunter dieser Rubrik manches passiert, was nichtunbedingt unsere gesellschaftliche Billigung findendürfte.

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Im Gegensatz zu dieser virtuellen Welt stehendie realen sozialen Netzwerke, die zu Recht ihrenNamen verdienen. Mein Vater gehörte nach demKrieg in Niedersachsen zu den Mitbegründern des„Hilfswerks der Freien Wohlfahrtverbände“, einechtes Netzwerk sozialen Engagements. Dortwirkten Innere Mission, Arbeiterwohlfahrt, Jüdi-­‐sche Wohlfahrt und Caritas gemeinsam. Es gingdarum, eine Verbindung zu schaffen zwischenallen Hilfsbereiten und allen Hilfsbedürftigen inder Nachkriegszeit:

Überlebende KZ-­‐Opfer, verwaiste Kinder,Flüchtlinge und Vertriebene, Staatenlose odersolche Menschen, denen die Rückkehr in ihreHeimat (oft wegen der kommunistischen Macht-­‐ergreifung) verwehrt war. Die Flüchtlingslager inFriedland und Uelzen -­‐ sicher auch anderswo inDeutschland -­‐ waren überfüllt. Die letzten Kriegs-­‐gefangenen kamen erst 1955 aus der Sowjetunionzurück.

Ich selbst wurde von meinen Eltern in jenenJahren überall mit hingenommen. Noch heutespüre ich die halbrund-­‐geduckte Bauform derNissenhütten aus den Lagern, in denen es mirimmer zu warm oder zu kalt vorkam. In der ameri-­‐kanische Presse gibt es Fotos aus jenen Jahren, diemich, den erfolglosen Erforscher von Musikernund Sprechern im Radioempfänger, mit einemgroßen Schild NCWC zeigen. Ich stehe auf einemamerikanischen Militärlaster, aus dem die Care-­‐Pakete verteilt wurden, mal von der National Ca-­‐

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tholic Welfare Conference, dann wieder von denQuäkern aus den USA. Bis heute wirken diese rea-­‐len sozialen Netzwerke fort, institutionell weiter inder Hand solcher Verbände wie der Inneren Mis-­‐sion, undenkbar aber ohne das vielfältige Enga-­‐gement von ehrenamtlichen Helferinnen und Hel-­‐fern. Viel Gutes wurde zu Notzeiten geleistet, undviel Gutes wird weiter geleistet, weil gesellschaft-­‐liche und individuelle Not immer wieder Konjunk-­‐tur haben. Hier geschieht das Gegenteil dessen,was sich in der virtuellen Welt jener sozialenNetzwerke vollzieht, die ich mit einem kritischenBlick hier im Folgenden betrachten werde. Nunalso der Sprung in eine Gegenwart, die mehrheit-­‐lich noch von der jüngeren Generation gelebtwird:

Vielen von Ihnen wird dabei die traurige Ge-­‐schichte bekannt sein, die der „New Yorker“ un-­‐ter dem Titel „The Story of a Suicide“ bekanntgemacht hat. Dabei handelte es sich dabei einenStudenten, der seinen Mitbewohner über eineWebcam bespitzelt hat, um dann -­‐ in etwas gehäs-­‐siger Absicht -­‐ dessen schwule Neigungen überTwitter zu posten. Der ausspionierte Studentbeging Selbstmord.

Ich kann nicht sagen, ob hier ein Zusammen-­‐hang besteht zu der Entscheidung von Facebook,für solche Fälle eine Art Prophylaxe anzubieten.Zumindest können inzwischen Facebook-­‐Freundereagieren, falls jemand aus deren CommunitySuizidgedanken äußert. Facebook bietet als Hilfe

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eine Hotline und einen Link zu einem Berater an.Der Gang zu einer sozialen Einrichtung, zu einemglaubwürdigen Berater aus der realen Welt, isthier nicht mehr vorgesehen.

Viele Nutzer von Facebook, My Space und an-­‐deren Plattformen machen sich vermutlich nurselten klar, dass sie mit Ihren Einträgen nicht nurihre Freunde „beglücken“. Oftmals werden ihreDaten von einem Metadaten-­‐Staubsauger aufge-­‐sogen und weiter verarbeitet. Damit meine ichnicht die werbetreibende Wirtschaft, die georefe-­‐renziell und personenbezogen ihre Reklameange-­‐bote individualisiert und für jedermann und jede-­‐frau zielgruppenspezifisch das Richtige zur rechtenZeit anzubieten glaubt. Das ist ein Preis, den zubezahlen jeder in Kauf nimmt, der scheinbar kos-­‐tenlose Dienste im Internet nutzt. Mir scheint sichhier eine Entwicklung aufzutun nach dem Motto:„Überantworten Sie uns ihre Existenz, und wirführen Ihr Leben für Sie.“

Reale soziale Hilfe beabsichtigt das Gegenteil:Nämlich die Selbstverantwortung des Menschenzu fördern und zu stützen und nur subsidiar unddann auch unter der Achtung der Menschenwürdehelfend einzugreifen.

Doch im Internet geht es um noch mehr: zumBeispiel um Lexi Nexis, einen Dienst, der Pro-­‐gramme anbietet, um in den USA Behörden mitInformationen aus den sozialen Netzwerken zuversorgen. Das kann mal für die IRS (Internal Re-­‐venue Service), die US-­‐amerikanische Steuerbe-­‐

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hörde, interessant werden oder aber für die Ein-­‐wanderungsbehörden.

Wenn man weiß, dass US-­‐Staatsbürger, wennSie erst einmal eine „Social Security Number“ ha-­‐ben, unabhängig von ihrem Wohnsitzland immerin den USA steuerpflichtig bleiben, der wird ver-­‐stehen, dass die internationale Vernetzung vonFacebook eben doch den Hinweis auf gut verdie-­‐nende US-­‐Staatsbürger in anderen Ländern er-­‐möglicht. Und sei es nur, weil einer mit seinemneuen Auto, einer teuren Reise oder Ähnlichembei Freunden angeben will.

Nicht weniger interessant sind für Einwande-­‐rungsbehörden weltweit die sozialen Netzwerke,u.a. bei Asylverfahren. Hier geht es darum, Spu-­‐ren in das Ursprungsland oder zu Verwandtenzurückzuverfolgen und zu testen, ob die amtlichgemachten Angaben mit der Wirklichkeit überein-­‐stimmen.

In der Süddeutschen Zeitung hat am 10. Febru-­‐ar 2012 Lori Andrews, Direktorin vom „Institutefor Science, Law and Technologie“ am „ChicagoKent-­‐College of Law“ diese und andere Überra-­‐schungen aus der Welt der sozialen Netzwerkegeschildert. Dabei erwähnt sie auch eine Firmanamens SPOKEO, die für Personalabteilungen dasNetz durchforsten. Einer Studie zufolge haben 70Prozent aller Personalchefs in den USA eine Be-­‐werbung unter Berufung auf Informationen ausdem Internet abgelehnt.

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Es sollte heute jedem Nutzer von sozialenNetzwerken, aber auch von E-­‐Mails klar sein, dassnatürlich gigantische Massen auf vermeintlichkritische Begriffe durchforstet werden, und zwarvon Geheimdiensten rund um den Globus. DerBundesnachrichtendienst (BND) ist in dieser Sa-­‐chen ebenso fleißig wie andere Dienste. In denMedien taucht immer wieder die Zahl von bis zu37 Millionen E-­‐Mails, die der BND pro Jahr aufReizbegriffe prüfen lässt, ohne dass die Nutzerdavon etwas mitbekommen1. Dann erfolgt einezweite Stufe der Prüfung, um zu sehen, ob dieScanner nur einer witzigen Formulierung aufge-­‐sessen sind oder gar gesetzeswidrige Aktivtätenentlarvt haben. Natürlich gibt es eine Reihe vonRechtsvorschriften dabei zu beachten, aber in denUSA hat die Homeland Security zuweilen den Ein-­‐druck sehr voreiliger Maßnahmen vermittelt.

Anhand einer harmlosen fiktiven Mail oder ei-­‐nes Tweets, einem Text, den ich mir für heuteausgedacht habe, werden Sie erkennen, wieschnell man in ein Fahndungsnetz geraten kann,wenn der Scanraster auf bestimmte Suchwörtereingestellt ist. Der Text lautet:

„Heute erwartet Sie eine Bombenstimmung.Wir revolutionieren ihre Party und lassen es kra-­‐chen -­‐ eine Explosion von Spaß und Überraschun-­‐gen. Rechts und links werden ihre Nachbarn radi-­‐

1 Süddeutsche Zeitung, 17./18. März 2012

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kal neidisch reagieren. Buchen Sie noch heute denKnalleffekt für jede lustige Gesellschaft.“

Ein konkretes Beispiel hat in den letzten Wo-­‐chen im Netz die Runde gemacht: Ein Brite na-­‐mens van Bryan wollte mit seiner Freundin in dieUSA reisen. Offensichtlich in Urlaubsstimmungtwitterte er etwas von “destroying America anddigging up Marylin Monroe”. Der junge Mann undseine Freundin wurden bereits bei der Einreise inden USA abgefangen, verhört, zwölf Stunden fest-­‐gesetzt und dann wieder zurück nach Großbritan-­‐nien geschickt. Dort wiederum regte man sichüber die vermeintliche Dummheit jener Fahnderauf, die nicht wissen, dass man im britischen Eng-­‐lisch gerne “to destroy” als Synonym verwendetfür den Ausdruck “eine tolle Zeit haben”.

Wem solche Zwischenfälle bekannt und dieFolgen bewusst sind, der wird seine Kommunika-­‐tion in den sozialen Netzwerken überdenken undnicht allzu vertrauensselig darauf bauen, dass allesnur auf den freigegebenen Kreis der angemelde-­‐ten Freunde begrenzt bleibt. Natürlich gibt esgenügend Beispiele, wie Hacker das Vertrauens-­‐verhältnis unter Freunden ausgenutzt haben. Bei-­‐spiel: Ein Hilfeschrei im Netz, auf einer gehacktenFacebook-­‐Seite. Der angebliche Inhaber dieserFacebook-­‐Seite schreibt an seine „Freunde“:

„Ich sitze in London fest und mir ist alles Geldgeklaut worden.“

Dazu ein paar vermeintlich intime Anspielun-­‐gen auf Daten -­‐ ebenfalls im Internet geklaut -­‐ ,

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die niemand außer den besten engsten Freundenkennt. Und schon hat jemand zur Hilfe Geld überWestern Union an eine hinterlegte Adresse raus-­‐geschickt. Geschickt gelinkt, kann man da nursagen. Einige solcher erstaunlichen Beispieleschilderte Ulrich Hottelet schon vor drei Jahren imOnline-­‐Forum der Wochenzeitung DIE ZEIT.2

Den wenigsten ist vermutlich bewusst, dasszum Beispiel Facebook und Google Plus morali-­‐sche Grundsätze für die Nutzung ihrer Dienst for-­‐muliert haben, die anerkannt werden müssen. DasCybermobbing ist demnach ausdrücklich verbotenebenso wie die Verherrlichung von Gewalt oderIdentitätsklau durch Aneignung fremder Daten.Twitter hingegen vertraut auf die Eigenverantwor-­‐tung seiner Nutzer. Dies alles schließt aber dasprofessionelle Data-­‐Mining, also die Auswertungder Daten durch Dritte nicht aus.

Es erscheint heute müßig, die genauen Zahlenvon Nutzern in sozialen Netzwerken oder die Re-­‐korde bei Tweets pro Sekunde zu benennen. Imersten Fall sind es viele hunderte von MillionenMenschen und im zweiten Fall dürfte irgendwannauch die Zehntausender-­‐Grenze von Tweets proSekunde bei einem Großereignis erreicht oder garüberschritten werden. Als einer der Höhepunktegalten lange 7.196 Tweets in einer Sekunde, alsJapan 2011 die Fußballweltmeisterschaft derFrauen gewann.

2 23. Juli 2009

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In Deutschland werden rund einhundert sozialeNetzwerke benutzt: Neben dem Marktführer Fa-­‐cebook natürlich auch stayfriends, schuelerVZ,StudiVZ, Wer-­‐kennt-­‐wen, XING und so weiter.

Aber auch russische soziale Netzwerke wieOdnoklassniki, Vkontakte oder Moj Mir habendank der Migrationsbewegung in Deutschlandüber eine Million Anhänger, in Russland und derGUS sogar mehr als einhundert Millionen Nutzer.

Daneben spielt in Brasilien und Indien dasNetzwerk ORKUT, allerdings mit Google-­‐Unterstützung, eine große Rolle. Wikipedia ver-­‐mutet, dass es auch im Iran und von Exiliranern alsAustauschplattform intensiv genutzt wurde, bevordie iranische Regierung den Zugang geblockt hat.

Ungleich größer ist der chinesische Markt, al-­‐lerdings auch streng kontrolliert. Sprachbarrierenmachen es den meisten von uns nahezu unmög-­‐lich zu verfolgen, was in den chinesischen Netz-­‐werken wie RenRen, Kaixin001, Qzone und51.com passiert. Die sollen zusammen auf rund750 Millionen Nutzer kommen.

Inzwischen entstehen Vernetzungen mit ande-­‐ren Verbreitungswegen, sozusagen Meta-­‐Strukturen, die oft schon auf Nutzerebene kreiertwerden, wenn Meldungen, Bilder, Videos ver-­‐knüpft gepostet werden über YouTube, Flickr,Google+, Facebook und Twitter. So wie es Meta-­‐Suchmaschinen gibt, werden auch Meta-­‐Verknüpfungs-­‐Maschinen im Internet alles mit

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allem und jeden mit jedem in Kontakt bringenkönnen.

Besonders heftig wird es, wenn solche Ver-­‐knüpfungen bei Bashing-­‐Vorgängen, also der Be-­‐schimpfungen im Netz, einen Schneeballeffektauslösen und nicht wieder einzufangen sind. Nochschwieriger sind die Trolle, also jene anonymenNetzwerker, die in Foren und Blogs unverhülltprovokativ bis hin zu regelrechten HetztiradenStimmungen anheizen. Der Begriff „Shitstorm“,etwas euphemistisch als „Empörungswelle“ über-­‐setzt, ist für solche Internetaktionen inzwischeninternational bekannt. Am Schluss gilt auch hierim übertragenen -­‐ leider auch negativen -­‐ Sinn dieErkenntnis des Mephistopheles aus Faust I vonGoethe: „Denn was man schwarz auf weiß besitzt,kann man getrost nach Hause tragen“.

Was früher schwarz auf weiß, also dokumenta-­‐risch gedruckt, beweisbar und wiederholbar war,das ist heute das Netz. Und das „zu Hause“ für dieimmerwährende Auffindbarkeit ist eben unserCyberspace. Die Frage ist: Wo bleibt die sozialeVerantwortung und wo die Achtung vor demMenschen, wenn alles in jeder beliebigen Kombi-­‐nation auf Dauer abrufbar ist und weiter verbrei-­‐tet werden kann.

Ich war bis hierher etwas unfair und habe kri-­‐tisch beäugt, was uns an argen Überraschungenim Netz bevorstehen kann. Eine typisch journalis-­‐tische Haltung. Denn auch im Journalismus wirdeher der Absturz eines Flugzeugs statt tausende

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von erfolgreichen Landungen zum Thema ge-­‐macht. Mit einem Wort: Die Netzwerke eröffnenungeheure positive Chancen der Begegnungen,des Austausches -­‐ schlicht der Kommunikation.Das heißt aber auch, dass Sozialverbände sichdieser Netzwerke bedienen können. Ich nenne alsBeispiel nur die Anonymen Alkoholiker, Hilfsplatt-­‐formen für Drogensüchtige oder für verzweifelteMenschen. Wichtig ist nur, dass das Gemeinte unddas Gesagte vertrauensvoll überein stimmen: WerHilfe über soziale Netzwerke im Internet anbietet,muss sozusagen das Zertifikat der Glaubwürdig-­‐keit mitliefern. Und dazu wären sicher Einrichtun-­‐gen wie die Innere Mission am besten berufen.

Wo aber liegt nun die Herausforderung für denöffentlich-­‐rechtlichen Rundfunk bei dieser Ent-­‐wicklung? Eigentlich haben wir hier eine Parallelezu den realen sozialen Einrichtungen. Wir bauenauf unsere Glaubwürdigkeit, erreichen aber nichtimmer die Menschen dort, wo wir sie bislang an-­‐gesprochen haben. Denn individualisierte Kom-­‐munikation ist für junge und zunehmend auchältere Menschen oft interessanter als lineare In-­‐formation, obwohl unser Zeitbudget für die Medi-­‐ennutzung noch beides nebeneinander zulässt.

Natürlich kann ich eine Kinokritik anschauen,eine Buchbesprechung hören. Doch wenn meineeigenen Freunde mich antwittern und sagen: „Su-­‐perfilm, musst Du sehen“ oder „Heißer Stoff, un-­‐bedingt lesen“, dann ist die Überzeugungskraftmeist noch größer. Ich kann auch eine Sendung

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über die Nöte des Alltags anhören oder einemGesundheitsgespräch mit Marianne Koch folgen.Doch auch hier lösen die Foren und Blogs im Netzimmer mehr die Autorität geprüfter Fachleute ab.

Wenn der öffentlich-­‐rechtliche Anbieter in die-­‐sen Kommunikationsprozess mit seinen Produktennicht eingebunden ist, dann kann er einen Teilseines Publikums verlieren -­‐ oder gar nicht ersterreichen. Und ein Teil seiner Kompetenz gehtverloren. Deshalb sind beim Bayerischen Rund-­‐funk einige Dutzend Redaktionen und Sendungenauf Facebook aktiv, ganz zu schweigen von derpersönlichen Facebook-­‐Seiten vieler Moderato-­‐rinnen und Moderatoren. Und auch uns stehendazu die Mediadaten zur Verfügung, die zeigen,wie vielen Nutzern welches Produkt gefällt, wieviele Personen gerade darüber sprechen und wiedie Entwicklung der wöchentlichen Reichweiteunserer Themen im Facebook sind. Sendebeglei-­‐tung im Netz, Rückmeldungen zum laufendenProgramm oder auch schon Vorabdiskussionen,was man hören oder sehen möchte, gehören beieinigen Anbietern bereits mehr und mehr zumAlltag.

Wir wären nicht öffentlich-­‐rechtlich, hätten wirnicht ein mehrseitiges Papier, nämlich die „SocialMedia Guidelines“ des Bayerischen Rundfunks.Dies ist allein schon deshalb wichtig, weil wir einerKontrolle durch den Rundfunkrat unterliegen, derdurch ein Telemedienkonzept für den BayerischenRundfunk Vorgaben erfüllt, die das Rundfunkge-­‐

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setz und der Rundfunkstaatsvertrag verlangen.Das klingt kompliziert, ist auch ein langwierigerProzess gewesen, gleichzeitig aber auch notwen-­‐dig, damit es zu keinem Wildwuchs kommt. Natür-­‐lich gelten alle journalistischen Kriterien aus demProgramm auch für diesen Bereich. Simpel gesagt:Wir belügen nicht unser Publikum, auch wenn wirFehler machen. Wir manipulieren keine Meinung,sondern unterstützen plurale Meinungsbildung.Fakten, die wir vertreten, sind sorgfältig undüberprüfbar recherchiert.

Wenn Sie nun solche Ansprüche der stürmi-­‐schen Entwicklung im Netz gegenüberstellen,dann bemerken Sie schnell die Kluft zwischen in-­‐dividualisierter, aber auch wertender Kommunika-­‐tion und dem Versuch, auf demselben Weg mitanderen Mitteln und Inhalten Menschen zu errei-­‐chen. Dies ist wahrscheinlich die größte Heraus-­‐forderung, vor der unser öffentlich-­‐rechtlichesSystem seit seiner Gründung steht. Die Folge wirdsein, dass sich die Form des öffentlich-­‐rechtlichenRundfunks ebenso wie die Geschäftsfelder deretablierten Verlage drastisch ändern werden.Natürlich bleibt es bei Audios und Videos, auflange Zeit auch bei den beliebten linearen Radio-­‐und Fernsehmarken. Doch der drohende Genera-­‐tionenabriss vor allem im Fernsehen zwingt denöffentlich-­‐rechtlichen Rundfunk, seine Gebühren,die von fast allen entrichtet werden, auch dorteinzusetzen, so sich der größte Teil seiner Gebüh-­‐

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renzahler in Zukunft bewegen wird. Und zwar imNetz und mit Hilfe sozialer Netzwerke.

Wenn dabei die realen sozialen Netzwerke, dieohnehin kontinuierlich Gegenstand unserer Be-­‐richterstattung sind, projektbezogen auch nochunserer Partner sind, dann können wir in gemein-­‐samer Verantwortung auch der virtuellen Weltnoch viel Gutes abgewinnen.

Vortrag anlässlich der Verleihung des Karl-­‐Buchrucker-­‐Preises der Inneren Mission am 26.März 2012 in München. Nachdruck in epd medien35/2012, S. 29-­‐32.

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„Was heißt hiereigentlichKulturradio?“

Diskussionen um den Begriff der Kultur sind le-­‐gendär. Warum soll das beim Radio anders sein.Ich bekenne vorweg, dass ich Schwierigkeiten mitdem Begriff „Kulturradio“ habe. Denn ich weißnicht, was sich dahinter verbergen soll. Reden wirvon einem Programm, das sich als Spartenpro-­‐gramm ausschließlich der Vermittlung von undden Berichten über Kultur widmet?

Oder sprechen wir von klassischen Vollpro-­‐grammen, die in der Tradition des Hörfunks denAuftakt zur Rundfunkgeschichte gebildet haben?Damals wurden rundfunktypische Genres wie dasHörspiel oder die Technik der Live-­‐Übertragungvon Konzerten entwickelt. Dazu kam die gespro-­‐chene Literatur; der oder das Essay, dann das

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Hörbild und mit der Entwicklung beweglicherTonbandgeräte auch noch das Radiofeature.

Oder meinen wir heute mit „Kulturradio“schlicht einen Alibibegriff, um all jene Bereicheabzudecken, die wir einem öffentlich-­‐rechtlichenRundfunkauftrag schulden, über dessen Inhalt wirjedoch sehr herzhaft zu streiten verstehen?

Damit möchte ich auf das Problem hinweisen,dass der Rundfunkauftrag in seiner Ausgestaltung-­‐ bis auf einige Grunddefinitionen -­‐ in der TatSpielraum für verschiedene Interpretation undUmsetzungen lässt. So heißt es im BayerischenRundfunkgesetz:

„Die Sendungen des Bayerischen Rundfunksdienen der Bildung, Unterrichtung und Unterhal-­‐tung. Sie sollen von demokratischer Gesinnung,von kulturellem Verantwortungsbewusstsein, vonMenschlichkeit und Objektivität getragen sein undder Eigenart Bayerns gerecht werden. Der Bayeri-­‐sche Rundfunk hat den Rundfunkteilnehmerneinen objektiven und umfassenden Überblick überdas internationale, das nationale und das bayeri-­‐sche Geschehen in allen Lebensbereichen zu ge-­‐ben.“

Erst in einer Ergänzung vom Oktober 2011 sindweitere inhaltliche Zuweisungen definiert worden.Im Rahmen der Digitalisierung, die in Bayern vonden privaten wie von den öffentlich-­‐rechtlichenAnbietern mit Nachdruck betrieben wird, sind dieHörfunkprogramme des BR ausgebaut worden.Dadurch sind wir mit der Erstellung von nunmehr

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zehn Radioprogrammen beauftragt, deren einzel-­‐ne Schwerpunkte ebenfalls im Gesetz markiert,nicht aber ausdefiniert sind. Bei diesen Pro-­‐grammschwerpunkten unterscheiden wir zwi-­‐schen „Kultur“ im Sinne des Wortradios einerseitsund „Klassik“ andererseits. Im Klartext: UnserRundfunkgesetz weist diese beiden Schwerpunk-­‐ten zwei verschiedenen Programmen zu.

Wenn wir also von einem Radio wie Bayern 2sprechen, dann umschließt dies eben nicht denBereich der Klassik. Oder anders ausgedrückt: ImTagesverlauf von Bayern 2 findet überhaupt keineKlassik statt, wenn man von einer Nachstrecke fürbayerische Gegenwartskomponisten absieht.Dennoch ist dieses Programm die Heimat all jeneroriginären Genres, die den Kulturbegriff im Radiogeprägt haben als da zu nennen sind:-­‐ Das Hörspiel mit seiner Weiterentwicklung zurradiophonen Kunstform, bei uns Medienkunstgenannt. Dieses Genres ist ebenso legendär wieunsterblich solange wir Radio hören.-­‐ Die Literatur im Radio. Um die Bedeutung diesesGenres zu verstehen, muss man sich in jene Zeitnach der kulturelle Enthauptung unserer Gesell-­‐schaft durch den Nationalsozialismus versetzen.Die verbrannte Literatur musste wiederentdecktwerden. Buchdruck und Buchverkauf liefen erstlangsam an. Doch durch den Einsatz des Radios alsPropagandamaschine hatte Goebbels zumindesterreicht, dass in den meisten Haushalten auchnach dem Krieg noch Radios vom Typ Volksemp-­‐

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fänger waren. Diese Geräte dienten nun derÜberwindung jenes unseligen Zeitgeistes, für des-­‐sen Propaganda sie eigentlich produziert wordenwaren. Doch auch heute noch ist die gesprocheneLiteratur eine Interpretation von Text und texutel-­‐ler Konzeption.-­‐ Als nächstes möchte ich das Hörbild erwähnen,also das getextete Bild als gesprochenes Wort, inder Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg im Bayeri-­‐sches Rundfunk genreprägend durch solche Grö-­‐ßen wie Reinhardt Raffalt und Horst Krüger (derSchriftsteller, nicht der Musiker) vertreten.-­‐ Dann „der“ oder „das“ Essay, der freie, gesell-­‐schaftliche Diskurs in seiner radiotypischen Form.Das gesprochene Wort als Reflexion, Provokationund Addition zu vermeldeten Mehrheitsmeinun-­‐gen oder vermeintliche Zeitströmungen, beim BRals eigenes Genre, ergänzt durch andere Formen,unter dem Begriff „Nachtstudio“ bis heute weiter-­‐geführt.-­‐ Mit der zunehmenden Mobiliät von Aufnahme-­‐geräten -­‐ eine Vorstellung, die heute nur nochüber Sechzigjährige mit mir teilen können -­‐ hatdas Radiofeature eine neue Dimension erhalten.Neben den Studioproduktionen trat das Original-­‐ton-­‐Feature. Der Autor als akustischer Interpretvon Vorgängen und Sachverhalten.-­‐ Dann bleibt auf jeden Fall noch das Feuilleton,das in seiner Formen-­‐ und Themenvielfalt unterverschiedenen Sendungsnamen erfolgreich ge-­‐pflegt wird.

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Ungenannt bleiben dabei Formen wie das Ge-­‐spräch, die Reportage, der Kommentar, die natür-­‐lich alle ihre Berechtigung als angemessene Gefä-­‐ße für kulturelle Inhalte haben. Mir ging es jedochum die bisher genannten Inhalte, die ich zu denkulturellen Genres im Radio zähle und aus denensich das Kulturradio beim Wort und im wortüber-­‐greifenden radiophon-­‐akustischen Bereich über-­‐wiegend speist.

Doch der Programmauftrag geht deutlich wei-­‐ter. Denn während diese Genres kulturstiftendund/oder kulturprägend sind, muss das Kulturra-­‐dio auch schlicht informieren. Und zwar über kul-­‐turelle Ereignisse. Natürlich gehören eine Bespre-­‐chung des Theaters -­‐ auch des Musiktheaters -­‐,eine Bücherschau, ein Kulturkalender, ja Kultur-­‐partnerschaften im gesellschaftlichen Raum bishin zu Hörtouren und der Erstellung von Audio-­‐guides, nicht zuletzt aber der Dialog -­‐ wie heutehier -­‐ zu jenen Aufgaben, die dem Kulturradioobliegen.

Wenn ich bis hier her die Klassik vom Altertumbis zur Moderne ausgelassen habe, so hängt diesdamit zusammen, dass wir im Bayerischen Rund-­‐funk ein erweitertes Genreverständnis entwickelthaben, das den Bereich des Radios überschreitet.Denn die bisher genannten Inhalte werden bei unsnicht mit klassischer Musik verbunden. Die Hörerder geschilderten Wortangebote bevorzugen un-­‐serer Erfahrung nach eine völlig andere Musik,

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über die auf dieser Tagung sicher noch fachkundigberichtet werden wird.

Wir haben statt dessen die Dachmarke „BRKlassik“ gegründet, die folgende Bestandteile um-­‐fasst:-­‐ Ein 24-­‐stündiges Hörfunkprogramm mit Klassikaus allen Zeitepochen, Berichten über Klassik,dem Musikfeature sowie Klassikangebote für Ju-­‐gendliche und Kinder.-­‐ Alle Klassiksendungen in unseren Fernsehpro-­‐grammen, also im Bayerischen Fernsehen und inBR-­‐alpha, die ebenfalls mit demselben Signet wiedie Radiowelle „BR Klassik“ gebrandet sind.-­‐ Alle Klangkörper des BR, also das Symphonieor-­‐chester mit seinem zusätzlichen Kammerorches-­‐ter, das Münchner Rundfunkorchester, den Chordes Bayerischen Rundfunks.-­‐ Ein eigenes CD-­‐ und DVD-­‐Label „BR Klassik“, daswir mit gemeinsamer Anstrengung aus der Taufegehoben haben und das nach den ersten Aus-­‐zeichnungen mit Echo-­‐Klassik und anderen Preisensich nun bereits selbst trägt.-­‐ Alle off-­‐air-­‐Aktivitäten vor allem im musikpäda-­‐gogischen Bereich.-­‐ Alle begleitenden Publikationen und Marketing-­‐maßnahmen, die ebenfalls unter der Gemein-­‐schaftsmarke BR Klassik firmieren.

Hier also liegt -­‐ um in der Diktion unserer Ta-­‐gung zu bleiben -­‐ ein echtes und ausschließlichesKulturradio-­‐Angebot vor.

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Kommen wir also zu den Problemen, die unse-­‐re Mischformen im sonst so genannten Kulturra-­‐dio aufwerfen. Da ist zunächst der immer weiterwachsende Bereich von Wissenschaft und Bildung.Lassen sich aber die Fragen der Fort-­‐ und Weiter-­‐bildung, der Bildungspolitik, der Wissenschaftspo-­‐litik, die neuen Erkenntnisse der Genetik, der Im-­‐munologie oder der Organverpflanzung, die Rätselder Algorithmen von Google und Facebook, derMassenmarkt von App-­‐Entwicklungen, psychologi-­‐sche und soziologische Studien zu frühkindlicherEntwicklung oder aber das Ringen um die jüng-­‐sten Theorien zum Frauen-­‐Mentoring im MINT-­‐Bereich noch unter einen gemeinsamen Oberbe-­‐griff subsumieren? Ist dies alles noch Kulturradio?

Und ist die Pflege von Brauchtum, Dialekten,regionaler Identität und Volksmusik -­‐ was allesbeim Bayerischen Rundfunk eine große Rollespielt -­‐ keine Kultur? Eine solche Behauptung wärevermessen. Gleichwohl würden sich viele Vertei-­‐diger eines Kulturradios vermutlich mit der Pflegevon solchen Themen eher schwer tun. Auch hierweist Bayern 2 einen recht großen Spagat auf,obwohl diese Inhalte schwerpunktmäßig einemanderen Programm zugeordnet sind.

Und wie steht es mit der kulturellen Pflege derNachwuchsszene im Rock-­‐ und Popbereich? Na-­‐türlich haben wir dafür ebenfalls andere Schwer-­‐punktprogramme. Gleichwohl nimmt der legendä-­‐re Zündfunk auf Bayern 2 genau jene avantgardis-­‐tische Rolle ein, die nötig ist, um überhaupt ein

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Forum für neue Musikentwicklungen im Rock-­‐undPopbereich zu ermöglichen.

Wenn der Begriff Kultur für die Gestaltungsviel-­‐falt einer Gesellschaft über die Grundbedürfnissean Information hinaus steht, dann müssen wirauch dem Kulturradio einen solchen breiten Stel-­‐lenwert einräumen.

Wenn ich mich jedoch auf einen sehr engen -­‐aus meiner Sicht elitären -­‐ Kulturbegriff derOpernhäuser und Theater, der Literatur undSchönen Künste zurückziehe, dann wäre das Kul-­‐turradio ein Spartenangebot, das nur einemselbstreferenziellen Marketingeffekt für die Kul-­‐turszene entspräche.

In jedem Fall also Bedarf es einer Klärung des-­‐sen, was wir darunter verstehen. Wie ich eingangserwähnt habe, ringe ich mit mir immer, wenn esum den Begriff des Kulturradios geht, weil in mei-­‐ner Denktradition Radio schlechthin für Kultursteht. Und zwar für eine Radiokultur, die ich nachinhaltlichen wie nach formalen Kriterien für mei-­‐nen Verantwortungsbereich als Hörfunkdirektorschon oft vorgetragen haben. An erster Stellesteht die Forderung:

Wir bilden die Welt so umfassend, vorurteils-­‐frei und barrierefrei ab wie möglich.

Wir wissen, dass unsere Programmstunden be-­‐fristet sind ebenso wie die Arbeitskraft der Produ-­‐zenten und die Aufnahmefähigkeit der Rezipien-­‐ten. Der Begriff „umfassend“ legt daher nur nahe,

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dass wir nicht einseitig Fakten traktieren und an-­‐dere, ebenso relevante Fakten unterschlagen.Trotz Bemühen, vorurteilsfrei zu sein, bin ich einleidenschaftlicher Anhänger des Kommentars, derin sich nicht ausgewogen sein soll, dem aber zurAusgewogenheit bei Bedarf ein anderer Kommen-­‐tar folgen kann.

Barrierefrei heißt, dass wir eine Sprache benut-­‐zen, die nicht verklausuliert, sondern entschlüs-­‐selt.

Barrierefrei heißt, dass wir uns nicht hinter Bil-­‐dungsattitüden verstecken, sondern zur Bildunganregen.

Barrierefrei heißt, dass wir nicht mit unseremkulturellen Anspruch Menschen verschrecken,sondern sie zur Kulturrezeption anregen.

Wir belügen nicht unser Publikum.Wir machen zwar Fehler, aber wir legen uns

Rechenschaft ab über das Verhältnis von Wahrheitund Wahrhaftigkeit. Mit anderen Worten: Wirvergewissern uns unserer Quellen, die unser Den-­‐ken und Urteilen speisen und begründen unsereUrteile. Und wir sagen auch, was wir nicht wissenoder nicht wissen können.

Wir bemühen uns um angemessene radio-­‐phone Formen und audiophone Standards.

Das heißt aber auch, nicht alles muss in 5.1Technik produziert werden, aber 5.1 Produktionenmüssen auch möglich sein. Selbstfahrerstudios

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und STBRs müssen ebenso möglich sein, wie Pro-­‐duktionen mit künstlerischen Tonmeistern undTonmeisterinnen.

Wir streben nach eine Quote, die ich als quali-­‐fizierende Quote definiere.

Wenn eine Gesellschaft vier bis fünf Prozentder Bevölkerung als klassikaffin ausweist, dannmöchte ich, dass unser Klassikprogramm in die-­‐sem Segment die Mehrheit der Zielgruppe er-­‐reicht. In diesem Fall entsprechen für mich 2,5Prozent Reichweite einer 50-­‐prozentigen qualifi-­‐zierenden Hörerquote. Entsprechend genrebezo-­‐gen kann man alle Stunden-­‐, Halbstunden-­‐, jasogar Viertelstundenreichweiten nach ihrem qua-­‐lifizierenden Quotienten bewerten. Wir müssenuns darauf einstellen, dass die Erhebung unsererHörerzahlen auf ein anderes Messverfahren um-­‐gestellt wird. Denn Radio ist das einzige Mediumohne Einzelverkauf in Deutschland, dessen Nut-­‐zung bisher nicht elektronisch gestützt wird. Sogardie Nutzung der Plakatwerbung wird zielgruppen-­‐gestützt mit Scannern erhoben!

Diese Grundpositionen bilden für mich jenenAnspruch auf Radiokultur, die jedem Programm zueigen sein soll. Deshalb definiere ich diesen Kul-­‐turbegriff beim Radio als horizontale Basisleiste,auf der alle einzelnen Programmsäulen bezie-­‐hungsweise alle Programwellen stehen. Dass sichdarunter -­‐ zumindest im BR -­‐ zwei Wellen, nämlichBayern 2 überwiegend und BR Klassik fast aus-­‐

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schließlich der Interpretation von Kultur und derKulturvermittlung widmen, mag sie als Kulturra-­‐dio auszeichnen.

Unsere sehr ernüchternde Erkenntnis jedochzeigt, dass bei einschlägigen Umfragen zur Na-­‐mensgebung das Attribut „Kultur“ potentielleHörer eher verschreckt als anlockt. In diesem Sin-­‐ne, so warne ich, kann das beharren auf dem Be-­‐griff „Kulturradio“ dem Ziel einer Barrierefreiheitfür alle, die wir für das Radio gewinnen oder diewir am Radio halten wollen, entgegenstehen. Aberdas muss ja nicht immer so bleiben.

Vortrag anlässlich einer Tagung zum Thema„Kulturradio“ am 15. Juni 2012 in der Evangeli-­‐schen Akademie Tutzing. Nachdruck in epd medien38/2012, S. 7-­‐10.

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Tradition undBrauchtum alsMedienfaktor

Das Bayerische Rundfunkgesetz, hält eine Be-­‐sonderheit bereit, die in dieser Formulierung ein-­‐malig sein dürfte. Demnach sollen die Sendungendes Bayerischen Rundfunks nicht nur von demo-­‐kratischer Gesinnung, von kulturellem Verantwor-­‐tungsbewusstsein, von Menschlichkeit und Objek-­‐tivität getragen sein; darüber hinaus sollen dieSendungen auch der Eigenart Bayerns gerechtwerden. Damit dürfte der öffentlich-­‐rechtlicheRundfunk in Bayern das einzige Medium sein, demein gesetzlicher Auftrag obliegt, der in dieser Formfür kein Privatradio, kein Privatfernsehen, keineZeitung, keine Zeitschrift in Bayern gilt.

Dieses Gesetzesprivileg ist zugleich auch Pro-­‐grammverpflichtung. Doch wie kann der BR mitseinen vielen Programmen in Hörfunk und Fern-­‐

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sehen und den begleitenden Online-­‐Angebotendiesem Anspruch gerecht werden?

Gestatten Sie eine kurze biographische Rück-­‐blende: Denn vor Ihnen steht nicht nur ein Pro-­‐grammdirektor des BR, sondern ein Mensch mitseinen Wurzeln, über die ich gerne Auskunft ge-­‐ben möchte.

Mehr durch Zufall bin ich im Norden Deutsch-­‐lands aufgewachsen. Dorthin hatte es meine El-­‐tern verschlagen: Mein Vater stammt aus Schlesi-­‐en. Er hat eine polnischen Mutter und einen deut-­‐schen Vater. Meine Mutter stammt aus dem klei-­‐nen Dorf Kordel an der Kyll im Moselgebiet, kaum12 Kilometer von Luxemburg entfernt, woher Teileder Familie ihrer Mutter stammten. Meine Frauwiederum ist Amerikanerin und unsere Kinder,mehrheitlich in München geboren, sind die erstenelf Lebensjahre in Moskau und in Wien aufge-­‐wachsen, bevor sie nach Bayern kamen. Und den-­‐noch ist für uns trotz der Vielfalt der Abstam-­‐mung, trotz der vielfältigen kulturellen undsprachlichen Sozialisation Bayern zur Heimat ge-­‐worden.

Und auch diese Identität ist mit meiner Ge-­‐schichte gewachsen. Denn als Schülersprechermeines Gymnasiums organisierte ich in der Ober-­‐stufe eine Klassenfahrt nach Würzburg. Wir lern-­‐ten zuvor alles über Kilian, Kolonat und Totnan,die irischen Frankenapostel. Wir informierten unsüber den fränkischen Barock. Und wir lernten,dass in meiner Heimatstadt Hildesheim und in

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Würzburg Ende des 12. und Anfang des 13. Jahr-­‐hunderts nacheinander derselbe Bischof Konrad I.regiert hatte. Uns allen war klar: Wir besuchenFranken. Von Bayern war dabei nicht die Rede.

Als ich jedoch nach dem Abitur zum Studiumnach München ging, stellten meine Freunde fest:Du gehst ja nach Bayern. Da meine Kindheit undJugend sehr stark von langen Aufenthalten in derSchweiz geprägt waren, hatte ich vor allem dieschweizerdeutsche Mundart aus Zürich und St.Gallen im Ohr. Als ich von München aus Nessel-­‐wang im Allgäu besuchte, freute ich mich, dass dievertrauten „schweizerischen“ Laute auch dortauftauchten. Die Dialektologen mögen mir man-­‐che Ungenauigkeit verzeihen, aber die klanglicheNähe des Alemannischen assoziierte ich eher mitder mir vertrauten Schweiz als mit dem Bairi-­‐schen. Später beschäftige ich mich in zahlreichenSendungen mit mundartlichen Entwicklungenentlang der bayerisch-­‐böhmischen Grenze. Dortverbindet Egerländisch (auch: Egerländirisch) his-­‐torisch westliche Teile Tschechiens mit Bereichender Oberpfalz und Oberfrankens. Die Unterschie-­‐de zwischen all diesen Mundarten und ihren Spre-­‐chern, zwischen deren Kulturgeschichte und geo-­‐graphischer Orientierung, ihrer Besiedlung-­‐ undMissionierungsgeschichte sind sehr groß.

Und dennoch ist all dies Bayern. Ja mehr noch,das Kerngebiet des Bairischen mit seiner jahrhun-­‐dertealten Kultursprache weist in seiner südbairi-­‐schen Variante weit bis über Wien hinaus. Deshalb

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war vielleicht der Wechsel von Wien nach Mün-­‐chen für unsere Kinder gewissermaßen ein Heim-­‐spiel.

In diesem Bereich also setzt die Aufgabe desBayerischen Rundfunks ein: Vielfalt zu zeigen, zupflegen und gleichzeitig für den Zusammenhalt indieser Vielfalt Sorge zu tragen. Das verstehe ichunter dem gesetzlichen Auftrag an den öffentlich-­‐rechtlichen Programmanbieter, wenn es heißt, ersolle „der Eigenart Bayerns“ gerecht werden. MitBayern verhält es sich wie mit einem Mosaik: Jeweiter ich entfernt bin, desto eher erkenne ich dasGesamtbild des Freistaates und seiner Gesell-­‐schaft; je näher ich dem Mosaik komme, destomehr treten die Strukturen, Schattierungen undOberflächen der einzelnen Mosaiksteine in denVordergrund: Vom Nordbairischen, dem Mittel-­‐bairischen und Südbairischen Sprachraum bis zumOstfränkischen, Ostschwäbischen und Nieder-­‐Alemannischen. Sie spüren vielleicht, dass ich alsgelernter Dialektologe -­‐ wenn auch im Rahmender Balkansprachen -­‐ sehr viel eigene Feldfor-­‐schung betrieben und dem Thema Sprache undIdentität recht viel Aufmerksamkeit gewidmethabe. Dabei spielte in meiner Forschung vor allemdie oberdeutsche Wortwanderung in den Südos-­‐ten Europas eine große Rolle. Wenn Sie so wollen,war die südbairisch-­‐oberdeutsche Sprache eineder wichtigsten Faktoren bei der Vermittlung vonKulturtransfer in diese Region.

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Doch zurück zur Erschließung unseres Gesamt-­‐bildes: Aus dem Schulunterricht wissen wir, dassich einem Kunstwerk erst dann gerecht werde,wenn ich es in seiner Gesamtheit aus der Entfer-­‐nung genau so intensiv betrachte, wie aus derunmittelbaren Nähe, die mir neben dem künstleri-­‐schen Gesamteindruck auch den materiell-­‐künstlerischen Aufbau vermittelt. In diesem Sinnesollen wir auch mit Bayern umgehen, um dasLand, seine Menschen, seine Geschichte zu ver-­‐stehen und dadurch seine Bedeutung zu würdi-­‐gen. Das Eindringen bis auf die Ebene des kulturel-­‐len Mikrokosmos bedeutet nichts anderes, alsVerständnis und Verstehen zu entwickeln für dieTraditionen und Gebräuche jedes Einzelnen. Spra-­‐che und Sprachmelodik sind dabei der erste Aus-­‐druck von kultureller Identität. Hören kommt vordem Sehen. Eine Tatsache, die sich mit derSchwangerschaft beweist, in der die Kinder nochvor der Geburt sehr wohl Stimme, Sprache, Ge-­‐sang und Geräusch wahrnehmen, noch bevor siedas Licht der Welt erblicken.

Deshalb ist es gewissermaßen von Kinderbei-­‐nen an prägend, wie die Laute meiner Umgebungsind, also auch, welche Laute aus dem Radio, ausdem Fernsehen kommen. Die visuelle Prägungkommt dann selbstverständlich und später sogardominierend hinzu. Dieses Erleben und Erziehenwird als Volkskultur geprägt, ausgeformt und tra-­‐diert. Und -­‐ seien wir ganz ehrlich -­‐ viele tradiertevolkskulturelle Formen vom Volkslied, von der

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Volkserzählung bis zum Volkstanz müssen heutebewusst gepflegt werden, da wir einer sprachli-­‐chen und soziokulturellen Globalisierung ausge-­‐setzt sind. Beides aufzuzeigen, die globale Weltmit ihren Herausforderungen und ihren Reizen,wie die heimatliche Nähe mit ihrer Geborgenheitund Identitäts-­‐Stiftung -­‐ darum bemüht sich derBayerische Rundfunk.

Ich kann Sie mit Zahlen überschütten, die ein-­‐drucksvoll sind, aber nur eines belegen sollen:Regionalität ist eine der Hauptsäulen in allen Pro-­‐grammen, Hörfunk wie Fernsehen. Zwanzig Bürosmit Landeskorrespondenten und drei Regional-­‐studios zeugen davon. Neben zahlreichen Pro-­‐grammaufteilungen für Nord-­‐ und Südbayern bie-­‐tet allein im Hörfunk das Programm Bayern 1täglich 72 regionale Programmfenster an. Hier giltes, in eben diesen Fenster regionale Identität zuschaffen.

Ich habe eine Liste mit Programmangebotendabei, die in fast fünfzig Sendeplätzen auch auf dieVolkskultur in Bayern eingehen.-­‐ Dazu gehören natürlich die zahlreichen Volksmu-­‐siksendungen in Hörfunk und Fernsehen -­‐ allein 49Stunden davon wöchentlich im Hörfunk, in derRegel von Mundartsprechern begleitet ebenso wiedas Rucksackradio (B 1).-­‐ Dazu gehören der „Heimatspiegel“, die „Bayern-­‐chronik“, die „Zeit für Bayern“ und die neu einge-­‐führte „regionalZeit“ (Bayern 2).

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-­‐ Dazu gehören die „Heimatbilder“ auf BR alphaebenso wie „Menschen in Bayern“, „Unter unse-­‐rem Himmel“, das „Chiemgauer Volkstheater“, der„Komödien-­‐Stadl“ oder „Bayern, Burgen, Blasmu-­‐sik“ -­‐ dies alles im Bayerischen Fernsehen.

Wir haben die Berichterstattung aus der Regi-­‐on gerade in den letzten Jahren erheblich ausge-­‐weitet, weil wir überzeugt sind, dass von einemBayerischen Rundfunk, der diesen Namen ver-­‐dient, erwartet werden darf, dass er auch umfas-­‐send über Bayern in seinen vielfältigen Formenberichtet.

Eng mit dem Stichwort Erwartung ist dasStichwort Akzeptanz verknüpft. Nur wenn wir dieErwartungen unseres Publikums erfüllen, sichernwir eine breite gesellschaftliche Akzeptanz. Undda wir über die Rundfunkgebühren von der Ge-­‐sellschaft finanziert werden, ist diese Akzeptanzfür uns lebenswichtig.

Nun heißt Akzeptanz für uns nicht gleich Quo-­‐te. Das ist bei den Privatsendern so. Ihnen geht esdarum, möglichst hohe Einschaltquoten zu erzie-­‐len, um möglichst hohe Werbeeinnahmen zu be-­‐kommen. Uns muss es dagegen darum gehen,Programme anzubieten, die der Gesellschaft einenMehrwert bringen. Und das heißt, Mehrheiten-­‐und Minderheitenprogramme anzubieten, alsoalle gesellschaftlich relevanten Themen anzuspre-­‐chen. Und dazu gehört -­‐ neben dem Blick überden bayerischen Tellerrand -­‐ auch die Berichter-­‐stattung aus und über Bayern.

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Das bedeutet, dass wir auch Programme anbie-­‐ten, die nicht dem Geschmack der Masse entspre-­‐chen. Gleichwohl müssen wir uns schon danachrichten, was die Menschen -­‐ in der jeweiligen Ziel-­‐gruppe -­‐ wollen. Wenn Menschen von einem un-­‐serer Angebote abwandern, wenn sie also nichtmehr einschalten, dann müssen wir darauf reagie-­‐ren.

Dies ist auch Grundlage mancher Programm-­‐Entscheidungen, die sich nicht auf den ersten Blickfür alle einleuchtend vermitteln lassen.

Doch kommen wir zurück zur Volkskultur. DieBedeutung der Volkskultur für den BayerischenRundfunk als Ausdruck von Heimat ist keine Ein-­‐bahnstraße. Sie ist nicht nur wichtig für den Baye-­‐rischen Rundfunk, der Bayerische Rundfunk istauch wichtig für sie. Viele vom Vergessen bedroh-­‐te Traditionen wurden in der Vergangenheit vonunseren Hörfunk-­‐ und Fernsehleuten für dieNachwelt bewahrt. Wie viele Bilder von Dörfern,Städten, Landschaften, Arbeitsweisen und Lebens-­‐formen hat unser Fernseharchiv, die es heute sonicht mehr gibt! Wie viele Melodien, Texte undMundartformen sind seit Anbeginn in den Hör-­‐funkarchiven des Bayerischen Rundfunks gesam-­‐melt worden. Unsere Autoren sind auch Doku-­‐mentare des Wandels, unsere Archive sind Be-­‐wahrungsstätten von vergangenem Brauchtum,von verlorenen Landschaften und von verschwin-­‐denden Berufen.

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Wir verstehen uns aber nicht nur als Dokumen-­‐tare von verlorenen Traditionen, sondern wollenin unseren Sendungen auch und vor allem zeigen,wie lebendig Traditionen in Bayern sein können.

Wir machen dies erstens über gezielte Forma-­‐te, zweitens versuchen wir aber auch in anderenSendungen, das Thema scheinbar ganz nebenbeizu transportieren.

Es gibt den sogenannten Mitnahme-­‐Effekt, denwir nicht abschätzig beiseite schieben dürfen.Denken Sie an „Gernstl unterwegs“ oder „Dahoamis Dahoam“. Der unterhaltende Charakter dieserFernsehsendungen ist verbunden mit der Vermitt-­‐lung von Brauchtum, das auf diese Weise in einanderes Umfeld transportiert wird. In der Begleit-­‐ausstellung unserer Veranstaltung wird festge-­‐stellt, dass in München heute die Mundart immermehr verschwindet. Hier kann der Einsatz derMundart oder wenigstens des oberdeutschenSprachklanges helfen, Identität zu wahren und zufördern.

Erlauben Sie mir aber auch einen Hinweis aufdie Lage in den bayerischen Schulen. Hier wird mitdem Argument der Chancengleichheit auf die ak-­‐tive Verwendung der Mundart verzichtet. Viel-­‐leicht könnte man als Ersatz im Deutschunterricht-­‐ soweit es sogar schon geschieht -­‐ dem Mundart-­‐unterricht eigenen Raum schaffen. Der BR jeden-­‐falls schließt die Mundart nicht aus, sondern ver-­‐sucht vielmehr ein sehr differenziertes Bild vonBayern zu zeigen. Natürlich zeigen wir das ver-­‐

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meintlich typisch Bayerische: die Alpen ebensowie die Fränkische Schweiz, Trachten aus allenLandesteilen und die damit verbundenen Traditi-­‐onen. Unser Ziel ist zu zeigen: Bayern ist vielfältig!Bayerisches Brauchtum hat viele Heimaten! Wirwollen allen Menschen aus Bayern zeigen, wo siedaheim sind, den Menschen aus Franken undSchwaben genauso wie denen aus Altbayern. Undwir wollen auch den vielen Menschen im Frei-­‐staat, die zugewandert sind, Lust darauf machen,Bayern kennen zu lernen.

Dazu gehört einerseits der Blick auf die Ge-­‐schichte, dazu gehört aber auch der Blick auf heu-­‐tiges Brauchtum. Denn wer genauer hinschauterkennt: Viele Bräuche in Bayern sind lebendigund keineswegs zu Ritualen verkommen oder zuHobbys zerronnen. Brauchtum ist nichts Stati-­‐sches. Es verändert sich. Auch neue Formen wol-­‐len wir zeigen und fördern. Denn wir sehen unsereRolle einerseits als „Bewahrer“, wollen uns aberandererseits Neuem auch nicht verschließen.

Ich weiß, dass die Entwicklung im Pro-­‐grammangebot der Volksmusik hin zum Tradimixnicht nur Begeisterung ausgelöst hat. Aber es do-­‐kumentiert auch die lebendige Weiterentwicklungder Volksmusik, die immer neue Formen an-­‐nimmt, aber dennoch Volksmusik bleibt.

Abschließend gestatten Sie bitte noch einenGedanken, der mir persönlich am Herzen liegt:

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Unsere Aufgabe ist es, Heimat abzubilden,nicht sie zu verklären und nur von ihrer Schokola-­‐denseite zu zeigen.

Heimat ist Realität und muss von uns auch sobehandelt werden. Deshalb gehört auch manchehistorisch ungeschminkte Wahrheit über die sogenannte gute alte Zeit auf den Tisch. Auch hierkönnen wir der Begleitausstellungen zu unsererheutigen Veranstaltung wichtige Anregungen ent-­‐nehmen. Daher: keine nostalgische Verklärung,sondern wirklichkeitsnahe Aufklärung -­‐ das sinddie Fundamente für die Pflege von Heimat,Brauchtum und Volkskultur. Um zu zeigen, was inmeiner Verantwortung zumindest in der Hörfunk-­‐direktion auch unter dem Stichwort „Zweitverwer-­‐tung“ entsteht, um die Nachhaltigkeit unsererArbeit zu dokumentieren, habe ich für den Veran-­‐stalter einige ausgewählte Exemplare mitge-­‐bracht:-­‐ ein Radiobuch zum Thema „Bayerisches Feuille-­‐ton“,-­‐ eine CD-­‐Edition des Schriftstellers Joseph Berlin-­‐ger, in der er u.a. unter dem Titel „Rettet denSchafkopf“ eine Liebeserklärung an ein bayeri-­‐sches Kulturgut formuliert,-­‐ eine dreiteilige CD-­‐Reihe „Bayern Minis“ mit„Gschichtn aus der bayerischen Gschicht“,-­‐ die schönsten Berg-­‐Kolumnen von Stefan Früh-­‐beis, einem Juwel unseres Programms,-­‐ die jüngste Volksmusik-­‐CD aus dem RosenheimerLand,

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-­‐ eine preisgekrönte Sendung über Bayerns bauli-­‐ches Erbe, das wir vor dem Zerfall retten müssen,-­‐ und nicht zuletzt unseren bayerischen Papst,dessen Schätze wir in unserem Hörfunkarchivgehoben haben.

Der allerletzte Satz ist nun mein Dank an Sie,die Sie Ihre Heimat lieben und pflegen. Durch IhrBekenntnis zur Heimat haben Sie vielen anderenMenschen, vor allem den Millionen, die nach demKrieg ihre Heimat verloren haben, eine neueHeimstatt geboten. Das große Verdienst bayeri-­‐scher Identität besteht in der ungeheuren Integra-­‐tionskraft dieses Landes, das auch dem Fremdenoffen gegenüber tritt und ihn an den Vorzügen derbayerischen Heimat teilhaben lässt. Dies soll auchuns Verpflichtung im Bayerischen Rundfunk sein.So kann ich mich abschließend nur in Hochach-­‐tung vor dieser Libertas Bavariae verneigen.

Vortrag anlässlich der Veranstaltungsreihe„Tradition und Brauchtum“ des Chiemgau-­‐Alpen-­‐verbandes für Tracht und Sitte e.V. am 7. Mai 2010in Grassau.

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DeutschsprachigeMusik im Radio

Sichert eine Quote für deutschsprachige Musikim Radio die „musikalische Artenvielfalt” oder istsie vielmehr ein Eingriff in die Programmfreiheit,um die Umsätze der deutschen Phonoindustrie zusteigern? Wie sieht die „Förderung“ deutscherNachwuchskünstler ohne gesetzliche Vorgabenaus? Seit Frankreich 1996 eine Quote für fran-­‐zösischsprachige Musik im Radio eingeführt hat,flammt die Diskussion auch in Deutschland immerwieder auf, ob nicht gerade die öffentlich-­‐rechtlichen Programmveranstalter verpflichtetwerden sollten, ein bestimmtes Kontingent deut-­‐scher Lieder zu spielen. Johannes Grotzky,Hörfunkdirektor des BR und Vorsitzender der ARD-­‐Hörfunkkommission, setzt sich kritisch mit denForderungen aus der Musikindustrie und von eini-­‐gen deutschen Musikschaffenden auseinander.

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Deutschtümelei, nationale Rückbesinnung garoder nur eine skurrile Idee -­‐ die Reaktionen warenjedenfalls eindeutig kritisch, als der LiedermacherHeinz Rudolf Kunze im Juni 1996 im „SPIEGEL”eine Quote für deutsche Rockmusik in Radio undFernsehen forderte. Kunze hatte zur Begründungunter anderem angeführt, dass „gerade inDeutschland und Japan, den Verlierernationen desZweiten Weltkrieges, die Flut von ausländischerMusik und eben auch ausländischem Schund be-­‐sonders widerstandslos geschluckt wird”. Ein Ver-­‐treter des Deutschen Rockmusikerverbandes, OleSeelenmeyer, setzte noch eins drauf und sprachvon einem „Genozid an der deutschen Rockmu-­‐sik”. Entschuldigend hieß es später, dies sei nur„verbaler Punk” gewesen. Aber der Schaden warangerichtet: Die Debatte um eine deutsche Mu-­‐sikquote war schon längst zu einer Debatte umdeutschtümelnde Parolen geworden. Damit aberwollten weder Popstars noch Politik oder Industrieetwas zu tun haben. Die Debatte um die Mu-­‐sikquote in Deutschland schlief zunächst wiederein. Kunze und Seelenmeyer hatten zu unglück-­‐lichen Vergleichen gegriffen -­‐ doch ihnen ging esnicht einfach nur um reine Provokation: Ihre For-­‐derung nach einer Musikquote schien keineswegsvöllig aus der Luft gegriffen. Die deutschenKünstler hatten ein Vorbild: das NachbarlandFrankreich. Dort war wenige Monate zuvor, An-­‐fang 1996, das Gesetz zur Einführung einer Radio-­‐quote in Kraft getreten: Mindestens 40 Prozent

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der gesendeten Musik müssen seitdem fran-­‐zösischsprachig sein. Und von diesen 40 Prozentmuss die Hälfte Neuerscheinungen oder demNachwuchs vorbehalten sein.

Den Radiostationen droht eine breite Palettevon Strafen, wenn zu wenig Französisch aus demRadio klingt: Bußgelder, erzwungene Sendepausenoder gar der Entzug der Sendelizenz. Verhängtwerden können diese Sanktionen von der Auf-­‐sichtsbehörde für Hörfunk und Fernsehen. EinigeMonate nach Einführung der Radioquote in Frank-­‐reich zeichnete sich ab: Das System funktioniert -­‐und Platten mit französischsprachiger Musik wur-­‐den tatsächlich zunächst häufiger gekauft, bis esauch in Frankreich zu einem Einbruch auf dem CD-­‐Markt kam.

Was in Deutschland gerne übersehen wird:Diese französische Regelung war an ein Gesetz zurFörderung der französischen Sprache gekoppeltund wurde nicht als Förderung der heimischenPhonoindustrie verstanden, denn eine solchewirtschaftliche Standortförderung widersprächeden EU-­‐Wettbewerbsrichtlinien. Überdies wurdedas Gesetz im Jahr 2000 modifiziert und die Quotewurde nach drei Radioformaten gestaffelt:Während die Formate für ältere Zielgruppen einenfranzösischsprachigen Musikanteil von 60 Prozentaufweisen müssen, haben die Jugendformate nurnoch einen Anteil von 35 Prozent zu erfüllen. Diesentspricht tendenziell auch den deutschen Musi-­‐kanteilen bei den öffentlich-­‐rechtlichen Hörfunk-­‐

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programmen in Deutschland. So sind 45 Prozentder gespielten Lieder im Programm Bayern 1deutschsprachig3, in Bayern 3 kommt über einDrittel aus deutscher Produktion. Bei WDR 4stammen sogar mehr als 90 Prozent der Titel ausDeutschland.

Die Phonoindustrie in Deutschland, die zuneh-­‐mend mit Absatzproblemen zu kämpfen hatte, sahin der französischen Regelung ein mögliches Vor-­‐bild, ohne dabei die besonderen Umstände desBegleitgesetzes zur Förderung der französischenSprache zu thematisieren. Warum, so die Argu-­‐mentation, sollte nicht auch hier funktionieren,was der französischen Industrie geholfen hat?Man lobte die Genesung, die die Plattenindustriein Frankreich durch die Einführung der Radioquoteerlebe. Auch die deutsche Musikindustrie fordertenun eine Quote für deutsche Songs im Radio.

Die Politik entdeckte ebenfalls dieses Thema:In Bayern brachte man eine Gesetzesinitiative zurQuotierung deutscher Musik im Hörfunk auf denWeg. Flankiert wurden solche Forderungen vomBundestagspräsidenten Wolfgang Thierse, der imSommer 2003 eine Quote für einheimische Musikforderte mit dem Argument, es gehe dabei „umdie Verteidigung der kulturellen Vielfalt Europasund nicht um nationales Pathos”. Zeitgleich er-­‐

3 Mit der Einführung des überwiegend deutschsprachigenSchlager-­‐ und Volksmusikprogramms Bayern plus hat sichBayern 1 internationaler positioniert.

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klärten die Ministerpräsidenten von zehn Bun-­‐desländern in einer nicht bindenden Protokollno-­‐tiz zum siebten Rundfunkänderungsstaatsvertrag:„Die Länder erwarten von den Hörfunk-­‐veranstaltern, insbesondere von den in der ARDzusammengeschlossenen Rundfunkanstalten unddem DeutschlandRadio, eine stärkere Berück-­‐sichtigung von deutschsprachiger Musik und des-­‐halb eine Förderung auch neuerer deutschspra-­‐chiger Musik durch ausreichende Sendeplätze inden Programmen.”

In der Folgezeit organisierten deutsche „Musi-­‐ker in eigener Sache” einen Aufruf, die „skanda-­‐löse Unterrepräsentation der Musik deutschspra-­‐chiger Künstler in deutschen Rundfunk-­‐ und Fern-­‐sehprogrammen zu beheben”. Über 500 Musikerund Künstler unterzeichneten diesen Aufruf. DochFrankreich, auf das sich die Kritiker wiederholtberiefen, eignet sich nicht als Vorbild: HeimischeMusik hat dort eine grundlegend andere Traditionals in Deutschland. Stichwort: Chanson. Zudemreagieren die Franzosen sehr viel sensibler als dieDeutschen auf äußere Einflüsse auf ihre Sprache:Anglizismen sind verpönt, und deshalb werdenselbst die Namen von Bands und Interpreten nichtso ausgesprochen, wie sie im Original klingen: Dieirische Band U2 (die auch in Deutschland englischausgesprochen wird) wird in Frankreich zu „ÜDeux”. Und die -­‐ ebenfalls englischsprachige -­‐Reggaeband UB 40 ist bei unseren Nachbarn „Ü BeQuarante”.Viel wichtiger jedoch ist die Frage, wo

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die französischsprachige Musik komponiert undproduziert wird: Sie kommt nur zu einem Teil ausFrankreich selbst. Ein großer Teil ist Weltmusik,die in den ehemaligen französisch-­‐sprachigenKolonien, so etwa in der Karibik oder Nordafrika,eingespielt worden ist. Ein anderer Teil fran-­‐zösischsprachiger Musik stammt aus Kanada, etwavon Sängern, die auch englischsprachige Hits plat-­‐zieren, wie Céline Dion. Im Übrigen haben diefranzösischen Radiosender längst Wege gefunden,um die Quote zu umgehen, oder besser gesagt:mit der Quote geschickt umzugehen. So lässt manenglischsprachige Stars einfach einige Zeilen Fran-­‐zösisch singen -­‐ und schon hat man einen weite-­‐ren Song im Programm, der die Quote erfüllt.

Die ARD hat eine gesetzliche Radioquote stetsabgelehnt -­‐ nicht nur, weil der Vergleich mitFrankreich hinkt. Eine Quote wäre ein Eingriff indie Programmautonomie der Sender. Hinzukommt, dass die Kritiker den Sendern gar nichtklar machen konnten, wie eine Radioquote über-­‐haupt genau aussehen soll, denn die Forderungenvon Politik und Industrie sind nicht deckungs-­‐gleich: Die Politik wollte mehrheitlich eine Quotefür deutschsprachige Musik, es ging ihr darum, diedeutsche Sprache zu pflegen. Wer an Popmusikdenkt, sollte nicht automatisch an Englisch den-­‐ken. Der Phonoindustrie aber ist es eher unwich-­‐tig, in welcher Sprache gesungen wird: Wichtig istfür sie, dass die Platten in Deutschland produziertworden sind.

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Dieses Interesse ist durchaus nachvollziehbar:Denn die meisten Mutterkonzerne der deutschenLabels kommen vor allem aus den USA. Diese Fir-­‐men interessiert nicht die deutsche Sprache, son-­‐dern der deutsche Markt. Personalintensive Filia-­‐len in der Bundesrepublik rentieren sich für dieUS-­‐Firmen nur, wenn diese TochterunternehmenGewinne mit nationalen Produkten -­‐ sprich: inDeutschland produzierten Platten -­‐ machen.

In dieser Hinsicht interessante Bands sind etwa„Reamonn”, eine Gruppe mit einem irischenSänger, die aber in Freiburg gegründet wurde.Oder eine Band wie „Slut” aus Ingolstadt, die eng-­‐lisch singt. Andere Beispiele sind Sarah Connoroder DJ Bobo, die ebenfalls nicht ihre Mutterspra-­‐che Deutsch bzw. Schweizerdeutsch benutzen,sondern sehr erfolgreich und ausschließlich aufEnglisch singen. Derartige Gruppen sind für diedeutschen Filialen der Plattenverbände wichtig,um unabhängiger vom mächtigen Mutterkonzernin den USA agieren zu können. Den öffentlich-­‐rechtlichen Hörfunksendern aber kann es nichtdarum gehen, im Sinne der Phonoindustrie Stand-­‐ortförderung zu betreiben. Der ARD ging und gehtes vielmehr darum, talentierte Nachwuchskünstlerund gute Musik zu fördern, unabhängig davon, obdiese Musiker bereits bei einem CD-­‐Label einenVertrag unterzeichnet haben oder nicht.

Musik, die in deutscher Sprache geschriebenund gesungen wird, ist nicht automatisch gut.Manche Liedtexte sind politisch angreifbar oder

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gehen weit unter die Gürtellinie. Ein öffentlich-­‐rechtlicher Sender darf solche Songs keinesfallsspielen. Deutsche Hip-­‐Hop-­‐Texte sind inzwischensogar auf dem Index für jugendgefährdende Me-­‐dien gelandet. Die SPD-­‐Politikerin Monika Grie-­‐fahn hat als Vorsitzende des Medienausschussesim Deutschen Bundestag die Radio-­‐Sender garaufgefordert, deutschsprachige Rap-­‐Songs ausdem Programm zu nehmen. Denn Lieder vondeutschen Rappern wie Fler, Sido oder King Or-­‐gasmus One haben einen immer stärker pornogra-­‐fischen, Gewalt verherrlichenden und rassisti-­‐schen Inhalt. Die Bundesprüfstelle für jugendge-­‐fährdende Medien hat den Verkauf einiger Plattenan Minderjährige verboten und warnt, in deut-­‐schen Rap-­‐Texten werde vermehrt dazu aufgefor-­‐dert, Frauen zu diskriminieren, zu vergewaltigenoder Gewalt in anderer Form anzuwenden. DasHauptaugenmerk der öffentlich-­‐rechtlichen Sen-­‐der muss zudem immer auf dem Publikum liegen:Die Hörerinnen und Hörer haben eher eine gerin-­‐ge Affinität zu deutschsprachigen Pop-­‐ und Rockti-­‐teln. Laut Medienforschung stoßen deutscheSongs anfangs immer auf ein höheres Maß anAblehnung als englische oder italienische. Es ist inder Tat nicht einfach, einen deutschen Popsong zuschreiben, der nicht kitschig oder zu sehr nachSchlager klingt. Trotzdem schaffen dies immerwieder Künstler und Gruppen -­‐ und diese werdenvon den öffentlich-­‐rechtlichen Hörfunkprogram-­‐men gezielt gesucht und gefördert.

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Beim BR gibt es schon seit über 30 Jahren den„Zündfunk”, ein Szenemagazin, bei dem Nach-­‐wuchsförderung ganz oben in der Programmge-­‐staltung steht. Die Wochenzeitung „Die Zeit” be-­‐scheinigte dem „Zündfunk”: Er zähle heute „zumBesten, was der Musikjournalismus in Deutsch-­‐land zu bieten hat”. So kurvt etwa der„Zündfunk”-­‐Bus durch das bayerische Land, umregionale Bands zu Wort und Sound kommen zulassen. Der BR hat ein Festival gegründet, die„Bavarian Open”, das im Jahr 2004 über 50 Bandsund Künstlern, überwiegend aus dem deutschenNachwuchsbereich, ein Forum gab. Die erste Aus-­‐gabe der „Bavarian Open” im Jahr 2003 war soerfolgreich, dass sie gleich mit dem „BayerischenRockpreis” ausgezeichnet worden ist. Das Festivalwird fortgesetzt und erweitert: 2005 gibt eszusätzlich die „Bavarian Open Air”, eine Sommer-­‐ausgabe des Festivals in Ostbayern.

Die Pop-­‐ und Servicewelle Bayern 3 engagiertsich in ähnlicher Weise, etwa mit dem Sommer-­‐Festival „Shooting Star -­‐ Stars und Newcomer”.Bayern 1 hat als Heimatsender ohnehin traditio-­‐nell einen sehr hohen Anteil deutschsprachigerMusik. Dies zeigt sich auch schon in Sendungenwie der „Deutschen Schlagerparade”. Einähnliches Bild zeigt sich auch in den anderen ARD-­‐Anstalten: WDR 4 hat beispielsweise den Claim„Deutsche Hits und Schlager”. Der Name ist Pro-­‐gramm: Mehr als 90 Prozent der Titel kommenaus Deutschland. Eins Live, das junge Programm

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des WDR, widmet sich besonders der Förderungjunger Künstlerinnen und Künstler aus Deutsch-­‐land. In der sonntäglichen Sendung „Heimatkult”wird ausschließlich deutsche Musik gespielt. ProSendung stellt die Redaktion zwei Bands aus Nord-­‐rhein-­‐Westfalen vor, die noch keinen Plattenver-­‐trag haben. Unter dem Titel „das erste mal” rich-­‐tet auch Eins Live ein Newcomer-­‐Festival aus. DieWelle vergibt zudem mit der „Eins Live Krone”einen Radio-­‐Award für nationale Musiker undKomiker, darunter eine Auszeichnung für den„Besten Newcomer”. Die MDR JugendwelleSPUTNIK lädt einmal im Jahr unter dem Motto „Ihrseid die Stars von morgen” Nachwuchsbands zumSPUTNIK SOUNDCHECK”-­‐Contest ein. Der Sieger-­‐band winkt nach den Vorentscheidungen ein Auf-­‐tritt bei einem der größten Open-­‐Air-­‐Konzerte inEuropa, dem Sziget Festival in Budapest. JungeBands aus Berlin und Brandenburg stellt Fritz, dasJugendradio des RBB, in der Sendung „Die Pop-­‐agenten” einer breiteren Öffentlichkeit vor. ImNorden der Republik, beim NDR, fördert die jungeWelle N-­‐JOY deutsche Newcomer, neben regel-­‐mäßigen Sendungen und exklusiven Hörerkon-­‐zerten stand ein ganzes Wochenende im Zeichendeutscher Musik. Unter dem Motto „Die neueNeue Deutsche Welle” spielte N-­‐JOY zwei Tagelang nur das, was in Deutschland getextet, ge-­‐schrieben und produziert worden ist. Ab Herbst2005 kommt eine feste Sondersendung hinzu, inder einmal wöchentlich Künstlern ohne Platten-­‐

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vertrag ein Forum gegeben wird. Die Welle NDR 2hat ebenfalls eine eigene Spezial-­‐Sendung fürdeutsche bzw. norddeutsche Bands und Musiker.

Beim SWR sendet die Popwelle SWR3werktäglich abends eine zweistündige Show,„SWR Intensiv”, in der Newcomer einen besonde-­‐ren Stellenwert haben. Dies gilt auch für das SWR3New Pop Festival, mit dem der SWR interessantenBands oder Solisten zum Durchbruch verhelfenwill. Musik aus Deutschland steht beim Jugendan-­‐gebot DASDING ebenfalls hoch im Kurs: Diewöchentliche Sendung „Netzparade” stellt Musikund Interpreten vor, die noch keinen Platten-­‐Vertrag haben. Und in der „Heimatmelodie” gehtes ausschließlich um Musik aus Deutschland. Die-­‐se Sendung ist im Jahr 2005 mit dem „KulturpreisDeutsche Sprache” ausgezeichnet worden. „DAS-­‐DING macht seit zwei Jahren vor, dass es auchohne gesetzliche Quotenregelung möglich ist, mitdeutschsprachiger Musik ein Radioprogramm fürjunge Leute zu machen”, so die Begründung derJury. Deutschsprachige Schlager und volks-­‐tümliche Musik prägen das Programm von hr4, fürdie jüngeren Hörerinnen und Hörer bietet dieJugendwelle YOU FM deutsche Newcomer-­‐Bands.Der Sender kann sich zudem rühmen, zu den Ent-­‐deckern der inzwischen populären Band „Juli” zugehören. Auch der HR hat schon Aktionstage ver-­‐anstaltet, an denen im Programm ausschließlichRock und Pop aus Deutschland zu hören war. DieMusikredakteure der ARD-­‐Hörfunkprogramme

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stöbern gezielt im Untergrund der Musikszene,entdecken, hegen und pflegen die guten Funde.Leitlinie ist für sie stets der Programmauftrag deröffentlich-­‐rechtlichen Sender.

„Es ist eines unserer Ziele”, so formulierte derdamalige Vorsitzende der ARD-­‐Hörfunkkommis-­‐sion, NDR-­‐Programmdirektor Gernot Romann,„den Erwartungen unserer Hörerinnen und Hörergerecht zu werden, nicht jedoch denen einesWirtschaftszweiges.” Die öffentlich-­‐rechtlichenProgramme hätten Nachwuchskünstler von An-­‐fang an vorgestellt, so Romann weiter, im Gegen-­‐satz dazu habe sich der private Rundfunk erst aufden fahrenden Zug gesetzt. In einer gemeinsamenAnhörung des Bundestags-­‐Ausschusses für Kulturund Medien sowie der Enquete-­‐Kommission „Kul-­‐tur in Deutschland” am 29.9.2004 betonte Ro-­‐mann, es könne nicht angehen, dass die Musik-­‐wirtschaft oder die Parteien bestimmten, was dieHörer hören müssten. Den öffentlich-­‐rechtlichenHörfunkprogrammen geht es also darum, guteMusik aus Deutschland zu fördern -­‐ egal ob sie aufDeutsch, Englisch, Türkisch oder Russisch gesun-­‐gen wird. Denn auch die Musikszene der Migran-­‐ten wird in den ARD-­‐Programmen abgebildet. Solaufen im Programm von „Zündfunk” in Bayern 2regelmäßig Bands wie die afrodeutsche HipHop-­‐Crew „Brothers Keepers” oder die türkisch-­‐deutsche Rap-­‐Gruppe „Cartel”.

Prominente Befürworter einer Quote wie dieBundestagsvizepräsidentin und kulturpolitische

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Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen,Antje Vollmer, sahen im Herbst 2004 nur zweiMöglichkeiten: „Entweder macht man eine Bun-­‐desinitiative, oder einige Länder preschen vor undändern ihre Rundfunkgesetze. Ich glaube, dass esbald einen regelrechten Wettbewerb unter denLändern diesbezüglich geben wird. Überlegungengibt es ja, in Ostdeutschland wie in Bayern oderdem Saarland. Letztlich ist es egal, wer damit an-­‐fängt -­‐ es wird daraus ein Druck auf die anderenLänder und die jeweiligen öffentlich-­‐rechtlichenAnstalten erwachsen”4

Im Gegensatz dazu hatte der Kulturausschussdes Bayerischen Landtages bereits am 4.6.2003einen Antrag der Staatsregierung in Münchenabgelehnt, eine Radioquote für den BR einzu-­‐führen. In Bayern setzt man inzwischen, wie auchin anderen Bundesländern, auf eine Verstän-­‐digung von Radio und Plattenindustrie: An einemRunden Tisch zu deutschen und deutschsprachi-­‐gen Produktionen sitzen inzwischen regelmäßigVertreter der öffentlich-­‐rechtlichen und privatenHörfunksender, der Plattenindustrie, Musiker undPolitiker zusammen.

Im Bundestag ist der Vorstoß für eine gesetz-­‐lich verankerte Quote ebenfalls ins Leere gelau-­‐fen: Am 17.12.2004 war eine Debatte über dieMusikquote angesetzt, eine gesetzliche Quote

4 Süddeutsche Zeitung, 10. September 2004

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allerdings beschloss das Parlament nicht. DieMehrheit der Abgeordneten forderte die öffent-­‐lich-­‐rechtlichen und privaten Sender vielmehr auf,selbst tätig zu werden: So solle laut diesem Be-­‐schluss in den Musikprogrammen ein Anteil vonannähernd 35 Prozent deutschsprachiger oder inDeutschland produzierter Pop-­‐ und Rockmusikgesendet werden, wobei zur Hälfte Neuerschei-­‐nungen von Nachwuchsmusikern zu berücksich-­‐tigen seien.

Zu Recht wies jedoch die Vorsitzende des Kul-­‐turausschusses des Deutschen Bundestages, Mo-­‐nika Griefahn, darauf hin, dass der Bund keineQuoten machen könne, sondern dass eine staatli-­‐che Regelung in den 16 Länderparlamenten ent-­‐schieden werden müsse. Damit wird das Problemdorthin verwiesen, wo es hingehört: In die Kultur-­‐hoheit der Bundesländer. Hier jedoch hat sichgezeigt, dass gesetzliche Eingriffe in die Pro-­‐grammautonomie der Sender unnötig sind. Quali-­‐tät wird im Bereich der neuen deutschen Rock-­‐und Popmusik weiter gefördert, muss aber letzt-­‐lich vom Hörer angenommen werden.

Beitrag für das ARD-­‐Jahrbuch 2005, S. 83-­‐88,Mitarbeit: Eva Kötting, Birgit van Eimeren.

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Der Hörfunkauf dem Wegins digitale Zeitalter

„Der Rundfunk ist aus einem Distributionsappa-­‐rat in einen Kommunikationsapparat zu verwan-­‐deln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigsteKommunikationsapparat des öffentlichen Lebens,[ . . .] wenn er es verstünde, nicht nur auszusen-­‐den, sondern auch zu empfangen, also den Zu-­‐hörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zumachen [ . . .] “.

Diese Radio-­‐Utopie entwarf Bertolt Brecht imJahre 1932. Mit den neuen digitalen Möglichkeitendes Mediums scheint sie Wirklichkeit zu werden.Angesichts von MP3-­‐Playern, Podcasting, NetRa-­‐dio und interaktiven Diensten kommen auf Pro-­‐gramm-­‐Macher völlig neue Herausforderungen zu.Die aktuellen, nicht nur technischen Entwicklungendes Radios und das veränderte Nutzungsverhalten

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seiner Hörer beschreibt Johannes Grotzky,Hörfunkdirektor des BR und Vorsitzender der ARD-­‐Hörfunk-­‐Kommission.

„Hörfunk -­‐ quo vadis?” -­‐ hinter diesem Mottodes „Radio Day 2006„ verbirgt sich die Frage, wel-­‐che Chancen und Risiken das älteste elektronischeMedium im Zeitalter der Digitalisierung hat. Zwei-­‐fel an der Zukunftsfähigkeit des Hörfunks befallenRadiomacher besonders dann, wenn ihnen jungeMenschen mit Ohrstöpseln in Fußgängerzonenoder in der Straßenbahn begegnen, die aus ihrenMP3-­‐Playern Programme hören, die sie selbst -­‐meist im Internet -­‐ zusammengestellt haben.

Zusätzlich geschürt werden die Zweifel der Ra-­‐diomacher durch den Umstand, dass das MediumHörfunk seit 2001 vor allem bei den Jüngerenrückläufige Reichweiten aufweist, obwohl derMedienkonsum der Bundesbürger insgesamt seitJahren kontinuierlich ansteigt. Angesichts vonDigitalisierung und Individualisierung scheint esmanchem Medienpropheten nur schwer vorstell-­‐bar, dass ein linear verbreitetes Medium wie dastraditionelle Radio seine Stellung als reichweitens-­‐tärkstes Tagesbegleitangebot zukünftig behauptenkann. Jetzt wird ein Weg gesucht, der für denHörfunk den erfolgreichen Übergang vom analo-­‐gen ins digitale Zeitalter sichert. Grundsätzlichstellt die Digitalisierung neue Herausforderungenan die Rundfunkanstalten in den Bereichen Archi-­‐vierung, Verschlagwortung von Metadaten undVerbreitung der Hörfunkinhalte.

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Radioinhalte müssen künftig dem jeweiligenMedium und der Nutzungssituation angepasstwerden. Archivmaterial kann in Zukunft leichterfür Zweitverwertung und Download zur Verfügunggestellt werden. Es wird bereits darüber nachge-­‐dacht, digitalisierte Archive für den Zugriff vonaußen zu öffnen. Damit verändert sich die Rolleder Hörfunkarchive, die bei der digitalen Nutzungdann aktiver einbezogen werden.

Die Digitalisierung ist zweifelsohne die Zukunftdes Hörfunks, denn der Hörfunk darf nicht eineanaloge Insel in einem digitalen Umfeld sein. Nurwer die technische Entwicklung der Medienweltkomplett ignoriert, spricht von einem „digitalenAbseits”, wie dies eine bayerische TageszeitungAnfang des Jahres 2006 noch getan hat. Die Digi-­‐talisierung ist zudem notwendig, um das MediumHörfunk fit für die Zukunft zu machen. Die Digitali-­‐sierung wird dazu führen, dass sich langfristig dieklassischen Verbreitungswege des Rundfunksgrundlegend verändern. Auch die Märkte undWettbewerbssituationen werden nicht mehr wieheute aussehen. In dieser Entwicklung könnenGefahren für das ganze Medium liegen. Gleichzei-­‐tig eröffnen die technischen Umwälzungen auchChancen für einen engagierten, publikumsnahenöffentlich-­‐rechtlichen Hörfunk.

Die Digitalisierung erlaubt dem Hörfunk erst-­‐mals in seiner nunmehr über 80-­‐jährigen Ge-­‐schichte, seine Hörer mit -­‐ ganz auf ihre Be-­‐dürfnisse zugeschnittenen -­‐ „personalisierten„

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Programmangeboten individuell zu bedienen.Natürlich werden personalisierte Angebote dielinear verbreiteten Programme nicht verdrängen.Die bisherigen Programme werden ihren Platzbehaupten, weil sich nicht alle Menschen aus ei-­‐nem reichen Medienangebot ihre Tagespalette anMusik und Information selbst zusammenstellenwollen. Die heutigen traditionellen Massenpro-­‐gramme, die vor allem auf regionale Identitätausgerichtet sind und als Tagesbegleiter dienen,werden weiter attraktiv bleiben, denn der Hörfunkhat einen starken Verbündeten, nämlich das Ge-­‐wohnheitsprinzip: Der Hörfunk ist das noch immermeistgenutzte tagesbegleitende Medium und hatseinen festen Platz im Leben der Menschen. DerHörfunk ist die Verbindung zur Außenwelt, indemer nahezu in Echtzeit informiert, die Stille belebtund seine Hörer ohne größere Barriere in derWohnung, im Auto oder am Arbeitsplatz erreicht.Das weiß und schätzt der Hörer auch angesichtsvielfacher (digitaler) Alternativen.

Der Hörfunk begleitet sein Publikum selbstver-­‐ständlich durch den Tag, erhält aber weniger Auf-­‐merksamkeit als beispielsweise das Internet. Ra-­‐dioinhalte sind seltener als Fernsehereignisse dasGesprächsthema des Tages. Auch scheinen vorallem bei jungen Menschen Radioprogrammeweniger attraktiv und modern zu sein als derselbst bestückte MP3-­‐Player. Aber gerade in derSelbstverständlichkeit, mit der Hörfunkprogram-­‐me die Menschen in allen Lebenssituationen, egal

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ob zu Hause oder unterwegs, begleiten, liegt diegroße Chance des Hörfunks. Die Digitalisierung istnicht der erste technische Quantensprung in derEntwicklung der Medien -­‐ der Abgesang auf dasälteste elektronische Medium, das Radio, wirdnicht zum ersten Mal angestimmt. Die Geschichtedes Hörfunks war immer von technischen Um-­‐wälzungen begleitet, aber das Radio blieb reich-­‐weitenstärkstes Tagesbegleit-­‐ und Informations-­‐medium. Gerade die rasante Entwicklung auf demMediensektor in den vergangenen fünf Jahrzehn-­‐ten stellte für den Hörfunk die Herausforderungdar, sich den dynamischen Rahmenbedingungenmit innovativen Programmformaten anzupassen.Ein kurzer Blick zurück:

In den 50er Jahren des vergangenen Jahrhun-­‐derts war der Hörfunk als Massenmedium konkur-­‐renzlos. Die Reputation war groß, auch weil diemeisten Kulturschaffenden für den Hörfunk arbei-­‐teten. Für Gesprächsstoff sorgten Radioklassikerwie der „Internationale Frühschoppen” mit Wer-­‐ner Höfer, Krimiserien, die zu „Straßenfegern”wurden, wie „Gestatten, mein Name ist Cox” oder„Dickie Dick Dickens” und auch Unterhaltungs-­‐formate, etwa „Wer fragt, gewinnt” mit Hans Ro-­‐senthal.

In den 60er Jahren bekam der Hörfunk Kon-­‐kurrenz durch das Fernsehen. Dabei drängte sichdas Fernsehen in die abendliche Prime Time undmachte aus ehemaligen Hörern Zuschauer. DasRadio verlegte seine Prime Time vom Abend zum

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Morgen und zum Mittag, indem lange Magazin-­‐strecken mit Wort und Musik entwickelt wurden.Ein erster Schritt in Richtung „Nebenbei-­‐Medium”war getan.

In den 70er Jahren entstanden die Musik-­‐ undServicewellen. 1971 startete Bayern 3 als ersteServicewelle mit Verkehrsnachrichten. Es folgtenin den Jahren darauf hr3, NDR2 und SWF 3 miteinem einheitlichen, durchhörbaren Pop-­‐Pro-­‐gramm. Mit dem Aufkommen der privaten Radio-­‐veranstalter in den 80er Jahren verschärfte sichder Wettbewerb. Privatradios orientierten sichmit Erfolg an den ARD-­‐Pop-­‐Wellen. Zudem ver-­‐stärkte sich die Konkurrenz durch das Fernsehen.Die Fernsehprogramme schlossen ihre vormalsdurch das Testbild markierten Sendelücken undboten ein 24-­‐ Stunden-­‐Programm an. Damit zieltedas Fernsehen auch auf die morgendliche undvormittägliche Prime Time des Hörfunks. Dies warein weiterer Anlass für den ARD-­‐Hörfunk, überBehauptungsstrategien nachzudenken.

In den 90er Jahren hielt das Formatradio Ein-­‐zug. Formatradios verfolgen das Ziel, ein unver-­‐wechselbares Radioprogramm als Marktproduktzu etablieren, das exakt auf die Bedürfnisse einerklar definierten Zielgruppe abgestimmt ist. ImGegensatz zu den kommerziellen Anbietern kon-­‐zentrierte sich die ARD mit ihren Formatradiosnicht auf den Unterhaltungssektor, sondern schufinnovative Programme im Informations-­‐ und Klas-­‐sikbereich.

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Im Jahr 1991 startete mit B5 aktuell der erstedeutsche Nachrichtenkanal. B5 aktuell setzte kon-­‐sequent auf die Vorzüge des Hörfunks als schnell-­‐stes Medium, das nahezu jederzeit und überallabrufbar ist. Der Nachrichtenkanal des BR wurdedamit zum Vorbild für alle nachfolgenden Infowel-­‐len.

Außerdem nutzen die ARD-­‐Hörfunkprogrammeseit Mitte der 90er Jahre die Vorzüge des Inter-­‐nets. Auf eigenen Homepages bieten sie pro-­‐grammbegleitende Services an, machen das vor-­‐her nur akustisch vernehmbare Programm durchHintergrundinformationen, Newsletter undWebcams aus dem Studio sichtbar. Zudem er-­‐möglichten das Internet und die Satellitenaus-­‐strahlung den Hörfunkprogrammen, die Grenzender eigenen Sendegebiete zu sprengen; mehrnoch: Seither sind die Live-­‐Streams der Hörfunk-­‐programme überall auf der Welt abrufbar.

Heute zählt die Standarduntersuchung derMedienforscher, die Media-­‐Analyse (ma), 56ARD-­‐Programme (ohne DLR/DLF und DW) rund200 kommerzielle Sender in Deutschland. ZumAngebots-­‐Portfolio der ARD zählen 18 Informa-­‐tions-­‐ und Kulturprogramme, deren Hörerzahl vonJahr zu Jahr ansteigt. Wandten sich noch Mitte der90er Jahre rund 2,3 Millionen erwachsene Bun-­‐desdeutsche jeden Tag einem Informations-­‐ oderKulturprogramm zu, liegt die Reichweite dieser„Einschaltprogramme” heute bei 4,7 MillionenHörern täglich.

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Insgesamt erreichen die ARD-­‐Hörfunkpro-­‐gramme täglich 33,2 Millionen Menschen, diesentspricht rund 51 Prozent der bundesdeutschenErwachsenen. Die Privatanbieter fielen nach ei-­‐nem Höhenflug um die Jahrtausendwende auf42,8 Prozent Reichweite zurück, dies sind hochge-­‐rechnet 27,8 Millionen Hörer pro Tag.

Trotz dieser Erfolgsstory gibt die jüngste Ent-­‐wicklung des Mediums Hörfunk generell Anlasszur Sorge. Das Radio muss -­‐ wie auch bereits inden vergangenen fünf Jahrzehnten -­‐ konsequentweiterentwickelt und in Teilen strategisch neupositioniert werden. Bis zum Jahr 2000 stieg derHörfunkkonsum kontinuierlich an. Seit 2001 zeigtdie Reichweitenentwicklung jedoch tendenziellnach unten. Laut Media Analyse 2006 Radio Ischalten 78 Prozent der Erwachsenen in Deutsch-­‐land an jedem Werktag ihr Radio ein. Im Vergleichzum Vorjahr entspricht dies einem Minus von fastzwei Prozentpunkten. Parallel dazu wächst derMedienkonsum der Menschen in Deutschlandinsgesamt von Jahr zu Jahr. Besonders rückläufigist die Hörfunknutzung unter Jugendlichen. Beiden 14-­‐ bis 19-­‐Jährigen sank die Tagesreichweiteum zweieinhalb Prozentpunkte auf 72,3 Prozent,bei den 20-­‐ bis 29-­‐Jährigen fiel der Radiokonsumvon 74,2 auf 71,2 Prozent zurück.5 Auch in den

5 Die Ergebnisse der Mediaanalyse für das Radio weisen imersten Halbjahr 2012 für Jugendliche zwischen zehn und 19Jahren eine Tagesreichweite von 69,9 Prozent aus (MA 2011

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Hörergruppen der 30-­‐ bis 49-­‐Jährigen wird dasRadio tendenziell weniger nachgefragt.

Im Gegensatz zu den vergangenen Jahrzehntenmachen heute mehr die neuen digitalen Medienund weniger das Fernsehen dem Hörfunk Konkur-­‐renz. Von Jahr zu Jahr verbringen die Deutschenmehr Zeit mit PC und Internet. Inzwischen liegt dieInternetverbreitung in Deutschland bei rund 60Prozent (2012 bereits 75%). Unter Jugendlichen istder Umgang mit Laptop und Maus fast geläufigerals der mit Bleistift und Papier. Zudem ist injüngeren Zielgruppen in den vergangenen Jahrendie „Tonträgernutzung” überproportional ange-­‐stiegen. Tonband, Kassette und CD sind für Ju-­‐gendliche zwar schon immer besonders attraktivgewesen, aber noch nie hat ein neu entwickeltesSpeichermedium einen derartigen Umbruch imUmgang mit medialen Inhalten ausgelöst und eineganze Generation so stark geprägt wie derMP3-­‐Player. Die Möglichkeit, Musikdateien aufden PC herunterzuladen, sie zu speichern und zubearbeiten, um sie anschließend im Kleinstformatbeliebig und jederzeit verfügbar zu haben, schafft-­‐ nicht nur -­‐ bei dieser Generation ganz neue Er-­‐wartungen an die zukünftige Aufbereitung undVerbreitung von auditiven und visuellen Inhalten.

II: 69,4%): Dies zeigt nach einem mehrjährigen Rückgang eineZunahme der Radionutzung bei Jugendlichen (MA 2010 I:67,4%).

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Mobile „All-­‐in-­‐one-­‐Geräte” (Smartphones) ent-­‐sprechen heute den Vorstellungen vieler Medien-­‐konsumenten. Bislang bleibt der Durchbruch der„Live-­‐Radionutzung” über das Internet aus. Lautden Ergebnissen der jüngsten ARD/ZDF-­‐Online-­‐Studie haben sich in den vergangenen Jahren we-­‐niger als 2,5 Prozent der Erwachsenen Radiopro-­‐gramme per Live-­‐Stream angehört.

Allerdings verzeichnen die Online-­‐Angeboteder Sender bei dem individuellen Abruf einzelnerSendungen Downloads in Millionenhöhe. Überdiesstellt kostenlose Software wie Phono-­‐Star im In-­‐ternet inzwischen den Zugriff auf 4000 Radiostati-­‐onen weltweit zur Verfügung (2012 bereits 6000).Andere Programme ermöglichen den Zugriff aufdie doppelte Anzahl von Sendern. Wer seine Laut-­‐sprecherboxen an den Computer anschließt, kannSendungen teilweise in hervorragender Qualitätabrufen, individuell geordnet nach Genres,Ländern und Sprachen. Zusätzlich ist der problem-­‐lose und unbegrenzte Mitschnitt all dieser Pro-­‐gramme im Computer möglich.

Der zweite Schritt sind nun die so genanntenWLAN-­‐Radios, die als eigene Internet-­‐Radios denZwischenschritt über den Computer überflüssigmachen und direkt auf die weltweite Programm-­‐vielfalt im Internet zugreifen. Voraussetzung fürdiesen zeitlich unbegrenzten Zugriff ist allerdingseine Flatrate und einem WLAN-­‐Router. So wirdkünftig unter anderem der WDR mit seinem Pro-­‐gramm Eins Live diesen Weg gehen. Die

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öffentlich-­‐rechtlichen Rundfunksender müssendafür die Beschränkung der Zugriffe auf den Li-­‐ve-­‐Stream aufheben und die Datenrate erhöhen.Über diesen Weg kann die „Generation @” aufdas schier unbegrenzte Angebot im Internet zu-­‐greifen, ausgewählte Stücke herunterladen, zu-­‐sammenstellen und ein selbst komponiertes Pro-­‐gramm auf den MP3-­‐Player überspielen.

Für diese besonders innovativen Publi-­‐kumssegmente ist die Zukunft jedes Mediumsdavon abhängig, wie gut und komfortabel dasAngebot die Bedürfnisse seiner Nutzer befriedigt.So ist Radio für die meisten Hörer, und damit auchfür die Jüngeren unter ihnen, primär das Hinter-­‐grundmedium, das ohne größeren individuellenAufwand, gewissermaßen auf „Knopfdruck”, eineangenehme Stimmung verbreitet, Musik bietet,über das Neueste informiert und überall verfügbarist.

Diese Erkenntnis mag insbesondere für dieMacher von Tagesbegleitprogrammen, die über-­‐wiegend am Morgen, am Arbeitsplatz oder imAuto gehört werden, beruhigend sein. Dennochprofitieren auch sie von den neuen digitalen Ver-­‐breitungswegen. Die bisherigen Grenzen, diedurch die Beschränkung der technischenÜbertragungskapazitäten bedingt waren, werdenaufgehoben. Theoretisch gilt heute für alleHörfunkprogramme: „alles, überall, zu jeder Zeit”.Inhalte versenden sich so nicht mehr zwangsläufigim Äther, sondern sind -­‐ angereichert mit Hinter-­‐

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grundinformation, Text und Bild -­‐ jederzeit imInternet abrufbar.

Von dieser Entwicklung werden im besonderenMaße die Kultur-­‐ und Informationsprogrammeprofitieren. Gerade für diese Programme, die da-­‐runter leiden, dass ihre potenziellen Hörer nichtzu einem bestimmten Zeitpunkt die Muße haben,sich dem Zuhören zu widmen, wird das zeitver-­‐setzte, orts-­‐ und geräteunabhängige Hören zu-­‐nehmend wichtiger. Einzelne Programmangebotekönnen gezielt an Hörer übermittelt oder alsDownload bereitgestellt werden. So erhalten Bil-­‐dungsangebote, die häufig im linearen Programm-­‐ablauf ein Schattendasein gefristet haben, neueChancen. Sie sind durch die Möglichkeit desDownloads plötzlich nicht nur wieder attraktiv,sondern erreichen Nutzergruppen, die für Bil-­‐dungsangebote im Hörfunk bereits als abge-­‐schrieben galten.

Die Podcast-­‐Angebote kommen dem zuneh-­‐menden Bedürfnis nach Zeit-­‐ und Ortsunab-­‐hängigkeit der Hörer entgegen. Das „Radio zumMitnehmen” macht nicht nur vom Sendeablaufunabhängig, sondern erschließt gleichzeitig Hörer-­‐gruppen, die nicht zum traditionellen Publikumder Informations-­‐ und Kulturprogramme zählen.Ob aus eifrigen „Podcastern” dann treue Ra-­‐diohörer werden, ist noch ungewiss. Allerdingsbietet das Podcasting die Chance, Menschen fürInhalte zu interessieren, die sie im starren Zeitkor-­‐sett der Radioprogramme nicht nutzen würden.

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Damit bedeutet die Digitalisierung für Programm-­‐verantwortliche eine doppelte Herausforderung:Da die passive Haltung, „zurückgelehnt” ein ferti-­‐ges Programm zu nutzen, nicht aussterben wird,müssen Radiomacher weiter auf den herkömm-­‐lichen, linearen Verbreitungswegen ihr Publikuman sich binden. Gleichzeitig stehen ihnenMöglichkeiten der Individualisierung ihrer Pro-­‐grammangebote zur Verfügung, mit denen sie aufmehreren technischen Plattformen in einen über-­‐greifenden Wettstreit um die Aufmerksamkeitihrer Nutzer eintreten. Bei diesem Wettstreit gehtes dann nicht nur darum, mehr Hörer zu gewinnenals das Konkurrenzprogramm, sondern die Inhaltefür unterschiedliche Plattformen optimal aufzube-­‐reiten. Inzwischen gibt es eine Vielzahl unter-­‐schiedlicher digitaler Verbreitungswege. Noch istnicht klar, welche Wege sich dauerhaft durchset-­‐zen werden oder aber ob sie langfristig parallelexistieren werden. DAB, DMB, DRM, DVB-­‐T, DVB-­‐Ssind einige Kürzel aus der heutigen digitalen Welt.

Der Regelbetrieb von DAB (Digital AudioBroadcasting) begann in Deutschland im Jahr1999, das Projekt war von der EU initiiert worden.Die DAB-­‐Sendeabdeckung in der Bundesrepublikbeträgt derzeit rund 85 Prozent, allerdings ist derEmpfang in den Häusern zum Teil schlecht, da dieSendestärke noch schwach ist.6 Die Europäische

6 Inzwischen ist die Sendeleistung angehoben und der verbes-­‐serte Standard DAB+ eingeführt worden.

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Kommission fordert von ihren Mitgliedstaaten,den analogen Rundfunk bis spätestens 2012 abzu-­‐schalten.7 Deutschland hat sich verpflichtet, diesesZiel schon zwei Jahre früher zu erreichen. MancheLänder treiben den DAB-­‐Ausbau konsequent vo-­‐ran, so etwa Großbritannien. Dort hat das „DigitalRadio Development Bureau” die Markteinführungvon DAB gefördert. Das DRDB ist eine gemeinsa-­‐me Plattform der British Broadcasting Corporation(BBC) und von privaten Anbietern. Dieser Zusam-­‐menschluss war unter anderem der Schlüssel zumErfolg. Andere Länder wie etwa Schweden habendagegen den DAB-­‐Ausbau vorerst gestoppt.

Einige Landesrundfunkanstalten gehen inzwi-­‐schen neue Weg und bauen konsequent die Digi-­‐talangebote aus, so etwa der BR mit seinen Plänenfür eine Junge Welle8 oder der SR mit dem an-­‐spruchsvollen deutsch-­‐französischen Informati-­‐onsprogramm antenne saar.

Bei der Einführung der DVB-­‐T-­‐Technik (DigitalVideo Broadcasting -­‐ Terrestrial) im Fernsehen hatsich gezeigt, dass sich neue Techniken auf demMarkt innerhalb weniger Monate durchsetzenkönnen. Bei DAB deutet sich in Deutschland einUmdenken an. So riet die auflagenstarke Zeit-­‐schrift „ADAC-­‐Motorwelt” ihren Lesern im Juni

7 Dieser Termin war wegen der mangelnden Marktdurchdrin-­‐gung von DAB nicht einzuhalten8 Dazu kommen beim BR noch Bayern plus sowie die Pluspro-­‐gramme von B5 aktuell und Bayern 2

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2006: „Entscheiden Sie sich schon heute beimRadiokauf für ein DAB-­‐Gerät.” In das Angebot derFahrzeughersteller, so hieß es in dem Artikel wei-­‐ter, komme Bewegung, Opel, Audi und bald auchVW und voraussichtlich BMW böten DAB-­‐Radiosfür ihre Autos an. Auch die Kaufhäuser und Elekt-­‐roketten haben neuerdings DAB entdeckt: „Anpfifffür das Digitalradio” war etwa in der Werbungeiner großen Kaufhaus-­‐Kette zu lesen. Das Gerätwar von 229 Euro auf 79 Euro herabgesetzt wor-­‐den -­‐ dies könnte ein erster Hinweis auf einenbevorstehenden Preissturz bei den DAB-­‐ Gerätensein. In Großbritannien sind zahlreiche Modelleauf dem Markt, die etwa 60 bis 75 Euro kosten.

DMB (Digital Multimedia Broadcasting) nutztdas bestehende DAB-­‐Sendernetz und kann oben-­‐drein audiovisuelle Inhalte transportieren. DMBkönnte dazu führen, dass DAB sich stärker durch-­‐setzt. Die Investitionen in die DAB-­‐Technik werdendurch DMB zusätzlich gerechtfertigt. Korea ist hierbereits einen Schritt weiter als Europa: Die Tech-­‐nologie ist dort eingeführt und entwickelt sichrasant. Ein Erfolgsgeheimnis ist dabei der mobileEmpfang von Video-­‐ und Fernsehangeboten. InDeutschland wird DMB zunächst noch getestet, sogibt es DMB-­‐Versuche in Regensburg und Mün-­‐chen, an denen sich der öffentlich-­‐rechtliche undder private Rundfunk mit insgesamt 18 Hörfunk-­‐programmen beteiligen. Die Lang-­‐, Mittel-­‐ undKurzwellen sind inzwischen ebenfalls digitalisiert

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worden: DRM (Digital Radio Mondiale) heißt hierder Standard. Die DW sendet für Europa in DRM.

DVB-­‐T ist in vielen Regionen Deutschlands be-­‐reits für die Übertragung von digitalem Fernseheneingeführt worden. Technisch ist es ohne Proble-­‐me möglich, auf diesem Weg auch Hörfunk zuübertragen. DVB-­‐T-­‐Empfänger haben jetzt schondie Möglichkeit vorgesehen, Hörfunkpro-­‐grammezu empfangen und abzuspeichern.

Digital Video Broadcasting ist nicht nur terrest-­‐risch, sondern auch über Satellit (DVB-­‐S) möglich.Auf diesem Weg werden bereits Hörfunkpro-­‐gramme übertragen: Die ARD hat im Jahr 2005einen eigenen DVB-­‐S-­‐Transponder für die Radi-­‐oprogramme der Landesrundfunkanstalten inBetrieb genommen. Ein Spartenprogramm wieBayern 4 Klassik wird von 17 Prozent seiner Hörerüber Satellit empfangen, von denen bereits 80Prozent auf digitalen Satellitenempfang umgestie-­‐gen sind.

Digitaler Radioempfang auf Basis desDVB-­‐Verfahrens ist auch über kleine oder mobileGeräte (PDA, Mobiltelefon) möglich, dann sprichtman von DVB-­‐H (Handheld). Auf diesem Wegkönnen ebenfalls Multimediadienste verbreitetwerden.

Die Landesrundfunkanstalten der ARD nutzenzunehmend die hier aufgeführten digitalen Ver-­‐breitungswege, um das traditionelle Radiokonzeptzu erweitern: So können zusätzlich multimedialeAngebote gemacht werden wie etwa Audio-­‐ oder

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Videoblogs oder die Verbreitung von Metadaten.Der Hörfunk wird in Zukunft mehr sein als nur einlineares Angebot: Hörfunk wird sich als interakti-­‐ver Dienst verstehen. Bislang gibt es unter Exper-­‐ten keine konsensfähige Antwort auf die Frage,wo der Hörfunk in zehn Jahren stehen wird.

Bei allen Veränderungen und Herausforderun-­‐gen, die die Digitalisierung für das MediumHörfunk bedeutet, bleibt das Ziel der Pro-­‐gramm-­‐Macher das gleiche: Menschen mit Infor-­‐mationen, Bildungsangeboten und Unterhaltungzu bedienen und dabei Qualitätsjournalismus an-­‐zubieten. Dem Publikum ermöglicht die Digitalisie-­‐rung, die hochwertigen Inhalte der öffent-­‐lich-­‐rechtlichen Programme, die es zuvor mangelsZeit oder Kenntnis nicht auffinden konnte, aufunterschiedlichen Verbreitungswegen neu zu ent-­‐decken. Den Programm-­‐Machern ermöglicht dieDigitalisierung, ihre Inhalte in vielfältiger Weiseaufzubereiten und mit dem Publikum in Kontaktzu treten. Ein Traum von Programm-­‐Machern wirdwahr: Ihre Kreativität wird von den räumlichenund zeitlichen Grenzen des linearen Programmsbefreit.

Die BBC ist in Großbritannien bereits beispiel-­‐haft den Weg gegangen, im digitalen AngebotSpartenkanäle anzubieten: So gibt es das AsianNetwork für die asiatischstämmige Bevölkerungim Königreich oder einen Kanal, der hochwertigeProduktionen wie Comedys und Hörspiele sendet.Doch selbst wenn DAB in Deutschland eine

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ähnliche Akzeptanz hätte wie in Großbritannien -­‐bis Ende 2005 wurden dort 2,7 Mio DAB-­‐Geräteverkauft9 -­‐, könnte die ARD solche Spartenpro-­‐gramme nicht ebenso leicht auflegen wie die Bri-­‐ten: Das deutsche Urheberrecht lässt nur wenigeWiederholungen zu bzw. macht diese sehr teuer.

Die BBC sieht die digitalen Programme jedochnicht nur auf der Plattform DAB. Das Motto desSenders lautet: Jedes Programm muss auf jederPlattform empfangen werden können. So kannetwa über jedes Fernsehgerät, das digitale Pro-­‐gramme empfangen kann, auch Radio gehörtwerden. Mit Erfolg: Viele Briten hören ihr Radi-­‐oprogramm inzwischen über den Fernseher. DerBildschirm muss dabei übrigens nicht schwarzbleiben: Über Metadaten können Zusatzinforma-­‐tionen wie Musiktitel, Charts, Wetterinformatio-­‐nen etc. angeboten werden.

Den Wettbewerb um die Gunst des Publikumswird derjenige gewinnen, der in einer ausdifferen-­‐zierten Medienlandschaft Qualitätsmaßstäbesetzt. Gerade in Zeiten sozialer Unsicherheit sehntsich der Hörer ebenso wie der Zuschauer nachVerlässlichkeit, nach authentischer Vermittlungvon Realität und vor allem danach, als Menschund Empfänger von medialen Inhalten ernst ge-­‐

9 Einen großen Erfolg weist auch die Schweiz auf, wo bis Mitte2012 eine Million DAB-­‐Radios verkauft wurden, und dies beieiner Bevölkerungszahl von knapp acht Millionen Einwoh-­‐nern.

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nommen zu werden. Deshalb sollten die anste-­‐henden Veränderungen durch die Digitalisierungnicht als Bedrohung, sondern als neue Chanceauch für den Hörfunk wahrgenommen werden.

Beitrag für das ARD-­‐Jahrbuch 2006, S. 41-­‐49,Mitarbeit: Eva Kötting, Birgit van Eimeren.

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Eine Welt ohneArchive -­‐ eine Weltohne Gedächtnis

Verehrtes Publikum, nachdem Sie sich sach-­‐kundig mit der Gegenwart der Medienarchive imdigitalen Zeitalter beschäftigt haben, mute ichIhnen einen scheinbaren Rückschritt zu. Doch beigenauem Hinhören werden sie feststellen, dassder Content die Konstante, Speicherung und Dis-­‐tribution hingegen die Variablen in der Geschichteder Archive sind.

Eines meiner ersten großen Radiofeature beimBayerischen Rundfunk handelte von Archiven inDeutschland. Das war 1979, als ich selbst nochhauptberuflich im Zeitungsarchiv des Sendersarbeitete.

Für diese Sendung besuchte ich neben denMünchner Archiven das Bundesarchiv in Koblenzund das Bundesfilmarchiv Ehrenbreitstein, das

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Thurn-­‐ und Taxis-­‐Archiv in Regensburg, aber auchdie SPIEGEL-­‐Dokumentation und die damals neuePressedatenbank von Gruner & Jahr in Hamburg.

In der analogen Welt wurden Archiven in Län-­‐genmaßen bewertet:

Das Bundesarchiv wies damals 70 Regalkilome-­‐ter Schriftgut und 52-­‐tausend Kilometer Filmstrei-­‐fen auf. Maßangaben, die heute von Giga-­‐ undTerrabyte abgelöst worden sind.

Natürlich haben mich zunächst alte Urkundenfasziniert. So liegt im größten deutschen Adelsar-­‐chiv Regensburg die Urkunde von 1867, mit derPreußen das Postmonopol von Thurn und Taxisübernahm, unterschrieben vom späteren KaiserWilhelm I. und Bismarck. Oder im Hauptstaatsar-­‐chiv in München liegt die älteste Urkunde vom 7.Januar 777, mit der Karl der Große dem KlosterFulda die Hammelburg übereignet hat. Doch die-­‐se Urkunden und Archivalien waren jahrhunderte-­‐lang das Gedächtnis der Herrschenden, nicht derAllgemeinheit zugänglich.

Erst als Leopold von Ranke die eher philoso-­‐phisch ausgerichtet Geschichtsschreibung mitquellenkritischem Material systematisierte, öffne-­‐ten sich auch die Archive:

Als erstes erlaubte 1868 das Wiener Haus-­‐ Hof-­‐und Staatsarchiv Forschern den Zutritt.

Dann folgte Preußen, und schließlich gab 1881Papst Leo XIII. Zugang zu den Vatikanischen Archi-­‐ven frei.

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Seither sind Archive für Historiker, Publizisten,Politiker als anerkanntes Gedächtnis unserer Ge-­‐schichte nicht mehr fortzudenken. Die Bedeutungder Archive kann man unschwer daran erkennen,dass -­‐ etwa nach dem Zweiten Weltkrieg -­‐ alleSiegermächte bemüht waren, soviel Archivmateri-­‐al aus der Nazizeit wie möglich sicherzustellen.Das passierte in den Nachkriegswirren nicht im-­‐mer systematisch. So konnte die NSDAP Zentral-­‐kartei mit gut zehn Millionen Einträgen nur durchZufall von der 7. US-­‐Armee in München aus einerPapiermühle gerettet werden. Diese Kartei mach-­‐te später als Document Center Berlin Schlagzei-­‐len.

Immerhin baute die Rechtsprechung in Nürn-­‐berg gegen die Naziverbrecher ebenso wie diegeschichtliche Aufarbeitung der Nazizeit auf sol-­‐chen Dokumenten auf.

Der Begriff des Archivs, des Archivars und derArchivarin trifft allerdings in der Öffentlichkeitnicht die wirkliche Bedeutung. Es gibt sogar litera-­‐risch belegte Vorurteile. Ein schöner Beleg ist dieNovelle „Der Goldenen Topf“ von E.T.A Hoff-­‐mann. Ein Salamander, der in mythischer Vorzeiteine Untat beging, wurde zur Strafe in einen Men-­‐schen verwandelt. In seinem neuen Leben mussteer sich den kleinlichsten Bedrängnissen des ge-­‐meinen Lebens unterwerfen: Er wurde Archivar.

In Wirklichkeit sind die Archivare, die ich lieberDokumentarinnen und Dokumentare nennenmöchte, die herrschenden Figuren über unser

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zeitgeschichtliches wie historisches Gedächtnis.Dies gilt um so mehr, weil im digitalen ZeitalterUmfang und Methodik der Dokumentation einAusmaß angenommen haben, das zur Zeit derersten Mikroverfilmung noch nicht abzusehenwar. Vor 35 Jahren waren wir stolz auf die Mikro-­‐filme, die wir in unhandlichen Lesegeräten aufriesigen Bildschirmen solange durchgedreht ha-­‐ben, bis zuweilen ein Film riss. Oder Mikrofiche,hochauflösliche Negative, auf denen man vieleBlatt Papier verkleinert, aber noch lesbar unter-­‐bringen konnte.

Die erste Cross-­‐Recherche mit einem eigenenThesaurus, gewissermaßen die erste elektronischePressedatenbank in Verbindung mit Microfiches,habe ich vor mehr als 30 Jahren bei Gruner & Jahrkennengelernt, als die berühmte SPIEGEL-­‐Dokumentation noch darauf beharrte, dass nurder Original-­‐Zeitungsartikel von Beweiskraft seinkönne. In jenen Jahren mussten die SPIEGEL-­‐Dokumentare zur Verifizierung einer einzigen Wo-­‐chenausgabe sage und schreibe nahezu zehntau-­‐send Blatt Papier überprüfen. Kein Wunder, dassDER SPIEGEL zur Zeit immer noch gut 70 Doku-­‐mentarinnen und Dokumentare hat. Das heißt:Auf knapp drei Redakteursstellen entfällt eineStelle in der Dokumentation. Das ist natürlich einTraumverhältnis für alle Mediendokumentare und-­‐dokumentarinnen.

Seitdem Urkunden nicht mehr mit der Handgeschrieben und besiegelt wurden, seit der Ein-­‐

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führung der beweglichen Buchstaben und demBeginn der Flugschriften, seit dem Zeitungsdruck,der Ton-­‐, Bild-­‐ und Filmdokumentation hat sichdas materialisierte historische Gedächtnis ständigvervielfacht. Mit der Digitalisierung und dem In-­‐ternet hat eine neue Zeitrechnung für das Welt-­‐gedächtnis begonnen, die aus meiner Sicht vonzwei Strömungen gekennzeichnet ist :

Erstens wird unter dem Anspruch der Demo-­‐kratisierung versucht, allen Nutzern möglichstumfangreichen und barrierefreien Zugang zu na-­‐hezu allen Inhalten zu gewähren.

Zweitens beanspruchen zahlreiche Nutzer al-­‐lein auf der Basis von Suchmaschinen, deren Ge-­‐neratoren sie gar nicht selbst bestimmen können,über inhaltliche Ergebnisse zu verfügen, die sie indie Lage versetzen, weitreichende, oft meinungs-­‐bildende Urteile zu fällen.

Doch nichts ist im digitalen Zeitalter leichter,als durch Manipulationen Fälschungen in die Weltzu setzen. Natürlich ließ Stalin seinen Gegenspie-­‐ler Trotzkij aus Leninfotos retuschieren, sichtbarfür jedermann.

Und natürlich wurden auch früher schon Ur-­‐kunden gefälscht, indem der Text raffiniert ge-­‐löscht und neu geschrieben wurde, während dieUnterschrift und das Siegel erhalten blieben.Doch nur wenige hatten Zugang zu den Original-­‐quellen und nur wenige hatten die Fähigkeit zusolchen Fälschungen. Das ist heute völlig anders.

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Wir stehen also vor der Frage, wie können ineinem digitalen Zeitalter die Dokumentarinnenund Dokumentare für dieselbe Glaubwürdigkeiteinstehen wie die Archivare aus der Papierzeit, umdas Gedächtnis der Menschheit nicht nachhaltigzu beschädigen oder gar zu betrügen?

Hier komme ich auf das Ethos zu sprechen, dasletztlich jeden in seinem beruflichen wie privatenHandeln bestimmen sollte. Damit habe ich zwareine Leitlinie, die für mich als Hörfunkdirektorimmer in der Forderung mündet: Wir belügenunser Publikum nicht, auch wenn wir immer wie-­‐der Fehler machen, zu denen wir uns bekennen.

So sollte auch der Dokumentar, die Dokumen-­‐tarin sagen können: Wir belügen uns selbst unddamit auch unsere Kunden nicht, weil wir nachbestem Wissen und Gewissen Material sichten,gewichten, ordnen und bewerten. Der Wider-­‐spruch jedoch liegt auf der Hand: Sind wir über-­‐haupt noch in der Lage, aus der Fülle von Trillio-­‐nen Informationen das Notwendige herauszufin-­‐den? Ich glaube, ja. Wir werden immer spezifi-­‐schere Datenbanken haben, wir werden immerzielgenauer bei der Cross-­‐Recherche Überein-­‐stimmungen wie Widersprüche identifizieren. Undwir werden zunehmend alte Archivbestände digi-­‐tal erschließen. Eines der faszinierendsten Vorbil-­‐der ist dabei für mich das Vatikanische Archiv imInternet.

Um abschließend noch einmal klarzustellen:Google, Yahoo, Lycos und wie sie alle heißen -­‐ sind

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Suchmaschinen, aber keine Archive. Es fehlen denErgebnissen die Systematik der Erschließung, er-­‐kennbare Priorisierung der Auswahl und die ein-­‐ordnenden Metadaten. Gerade das digitale Zeital-­‐ter also verlangt nach noch mehr fachkundigerDokumentation, damit die gewaltigen digitalenArchivbestände ein funktionierendes Gedächtnisunserer Welt bleiben können.

Vortrag anlässlich der Tagung des Vereins fürMedieninformation und Mediendokumentationam 18. April 2012 in München.

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An der Schwellezur Praxis

Liebe Absolventinnen und Absolventen des Vo-­‐lontärjahrganges V 21, Ihre Vergangenheit ist un-­‐sere Zukunft. In den letzten zwei Jahren habe Siebereits erlernt, was wir als Bayerischer Rundfunkin den nächsten zehn Jahren verwirklichen wollen:nämlich ein öffentlich-­‐rechtliches Medienhaus mittrimedialer Ausrichtung zu sein.

Dazu gehören Handwerk, Engagement, Über-­‐zeugung. Dazu gehört aber -­‐ und jetzt hole ichganz tief aus -­‐ journalistische Ethik.

Nach dem Motto: „Opa erzählt vom Krieg“komme ich auf meine Zeit als Korrespondent zusprechen. Ich war in Moskau stationiert. Es tobtedamals der Kalte Krieg zwischen Ost und West.Dazu die Anekdote von damals: Der sowjetischenGeneralsekretär Gorbatschow wollte einen friedli-­‐chen Wettkampf der Systeme. Er lud den ameri-­‐kanischen Präsidenten zu einem Wettlauf auf derAschenbahn ein. Der Sieger sollte auch politisch

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mit seinem System als Gewinner anerkannt wer-­‐den.

Die beiden starteten -­‐ und der amerikanischePräsident gewann.

Was stand am nächsten Tag in der kommuni-­‐stischen Parteizeitung Prawda:

„Bei einem gigantischen Wettlauf der Systemebelegte der sowjetische Generalsekretär einenhervorragenden zweiten Platz. Der Amerikanerwurde Vorletzter.“

Die Lehre für die journalistische Ethik daraus?Mache Dich nie zum Sprachrohr von Interes-­‐

sen, die dich verführen, unter Umgehung derWahrheit die Unwahrheit zu suggerieren. Auchwer nachweislich nicht lügt, kann durch Unterlas-­‐sung der Unwahrheit dienen.

Viele von Ihnen haben schon von der Harvard-­‐Universität gehört, in Cambridge bei Boston. EinGroßtempel der reinen Wissenschaft. Dort habeich bei einer Willkommensfeier für Erstsemester -­‐auf Englisch freshmen -­‐ Studenten mit ihren Elternbegleitet. Der Unipräsident Larry Summers hielteine eindrucksvolle Rede und zitierte dann einennaturwissenschaftlichen Text aus dem Aufsatzeines Harvard-­‐Professors. „Diesen Text“, so Sum-­‐mers, „werden Sie jetzt nicht verstehen“. Undweiter: „Selbst wenn Sie ein naturwissenschaftli-­‐che Studium bei uns absolviert haben, werden Siemit dem Text nichts anfangen. Denn er ist reinerNonsense, Unsinn.“

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„Wir haben“, so klärte Summers die Erstsemes-­‐ter auf, „einen Test gemacht. Welche wissen-­‐schaftliche Zeitschrift druckt ungeprüft das Skripteines Professors, nur weil er von Harvard stammt,auch wenn Unsinn darin steht. Und in der Tat:Einige Zeitschriften sind darauf reingefallen.“

Die Lehre für die Erstsemester lautete: hinter-­‐fragen Sie, was man Ihnen erzählt, überprüfen Siedie Dinge auf Plausibilität und Richtigkeit, bleibenSie kritisch, nicht nur gegenüber ihren Professo-­‐ren, sondern ihr Leben lang. „Das ist es, was Sie inHarvard lernen können“, meinte der Unipräsidentabschließend.

Und dies scheint mir -­‐ neben der journalisti-­‐schen Ethik -­‐ auch für uns die zweite Faustregel,die ich Ihnen heute für ihre berufliche Karrieregerne mit auf den Weg geben möchte. Der oderdie Ranghöhere, Dienstältere müssen nicht auto-­‐matisch wegen des hierarchischen Status Rechthaben, wenn ein gut begründeter Themenvor-­‐schlag oder einer gut recherchierte Geschichteabgelehnt wird.

Ich habe aus Gesprächen mit Ihnen, liebe Ex-­‐Volos, etwas über Ihre Erfahrungen während derletzten zwei Jahre gelernt. Deshalb möchte ichIhnen gerade in dieser Hinsicht Mut machen. Ichkenne die Charakteristik vom Redaktionsbiotopund der hohen Volontärskunst: „Anpassen undgleichzeitig auffallen; selbstbewusst sein, aber imrichtigen Moment zuzustimmen.“ Das hat beimanch einem zur Einschätzung geführt, so ein

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Volontärskurs sei individuell sehr stark, im Teamaber schwach.

Nun löst das Team sich auf und in der Tat hältder freie Markt auch manche konkurrierende Her-­‐ausforderung für Sie bereit. Doch alle von Ihnensind trimedial aufgestellt und bestens vorbereitet.Bereit, gefordert zu werden oder -­‐ wie mir jemandsagte: „Ich fühle mich wie eine reife Frucht amBaum. Sehr reif. Fertig zum Pflücken.“ Der ge-­‐schützte Raum des Volontariats, das „kleine, jour-­‐nalistische Labor“ öffnet nun die Türen. Und Siewerden bestätigt finden, was mancher mir gegen-­‐über beklagt hat: „Das Reden über Themen alsVerkaufsmasche verstellt oft den Blick auf diewirklichen Fähigkeiten.“

Aber Sie haben auch erfahren, dass Journalis-­‐mus kein Hexenwerk ist. Man kann Journalismuserlernen, selbst wenn sich einige von Ihnen inseinem solchen Labyrinth wie dem BR anfangsgeradezu bedroht fühlten, verschlungen zu wer-­‐den. Begriffe wie Digas, Merlin, Open Media,Sphinx sind für das Leben in der normalen Weltunerheblich, im Bayerische Rundfunk sind sieüberlebensnotwendig. Technische Fertigkeitensind Teil des journalistischen Handwerks. Ob Sienun von der Veranlagung Lang-­‐ oder Kurzstrecken-­‐läufer sind, ist eigentlich egal. Sie müssen lernen,aller Formate zu bedienen, mit der VJ-­‐Kameradurch Unterwelten robben, sich in Redaktionenzusammenraufen, nahe an die Menschen gehen.

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Eine wichtige Erkenntnis habe ich bei Ihnenwiedergefunden: Information und Unterhaltungmüssen sich nicht ausschließen. Diese Theseschockt mich nicht, sondern macht mir Hoffnung.Meine amerikanische Frau hat unsere Kinder im-­‐mer wieder angespornt: „Isn’t it fun to understandthis or that?“ Macht es nicht Spaß, das Eine oderAndere zu verstehen? Damit öffnen Sie dem Publi-­‐kum neue Welten. Öffnen wir diese Welten zumAbschluss nun Ihren Träumen, von denen ich in-­‐zwischen etwas weiß:

Große Dokumentationen drehen, Korrespon-­‐dent oder Korrespondentin im Hauptstadtstudio,im Ausland, Kriegsreporter oder Kriegsreporterin,die regionaler Vielfalt im Programm fördern, viel-­‐leicht auch die Tagesthemen moderieren, Fern-­‐sehformate für jüngeres Publikum entwickeln,Trimedialität voranbringen.

Doch dies alles sind nur auf den ersten Blick dieWunschträume, in Wirklichkeit sind dies sehr rea-­‐listische Ziele. Denn alles davon ist erreichbar.Nicht für jeden und zu jedem Zeitpunkt. Chancendafür werden sich aber immer wieder bieten. Wir,der BR, haben Ihnen die Tür zu diesen Chanceneröffnet. Gehen Sie hindurch: selbstbewusst undkenntnisreich, aber auch selbstkritisch und mitjenem journalistischen Ethos ausgestattet, dassSie davor bewahrt, als Journalist und Journalistininstrumentalisiert zu werden.

Zu guter Letzt gibt es noch ein kleines Ge-­‐schenk von mir:

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Ich habe für Sie ein kleines Buch zusammenge-­‐stellt nach dem Motto: Opa erzählt vom Krieg. Eshandelt sich um Beiträge zur Rolle der Medien inKriegs-­‐ und Krisenzeiten. Darin finden Sie aucheiniges zur journalistischen Ethik und zum Um-­‐gang mit Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Sicherkein Buch zum Durchlesen. Aber schnüffeln Siemal rein. Und sollten Sie soweit sein, dass Sieselbst Journalistinnen und Journalisten ausbilden,dann können Sie vielleicht auf die eine oder ande-­‐re Erfahrung aus diesem Buch zurückgreifen, na-­‐türlich mit der kritischen Distanz eines Journalis-­‐ten oder einer Journalistin.

Abschlussrede für die Volontärinnen und Volon-­‐täre des Kurses V 21 des Bayerischen Rundfunksam 30. September 2011 in München.

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Sprache undpolitischer Wandel

Vor fast genau 30 Jahren trat ich vor ein Gre-­‐mium von zehn ARD-­‐Chefredakteuren. Sie suchteneinen Korrespondenten für Südosteuropa. Es gabmehrere Bewerber. Und ich gab mein Bestes,glaubte ich doch, hinreichend Studienkenntnissevom Balkan zu haben. Außerdem hatte ich vorherin dem zuständigen Auslandsstudio eine Vertre-­‐tung übernehmen dürfen. Kurzum: ich fühlte michfit und qualifiziert. Da richtete in der Diskussioneiner der Herren -­‐ Frauen gab es damals nochnicht in diesem Kreis -­‐ eine Frage an mich:

„Sprechen Sie überhaupt Jugoslawisch?“Was sollte ich antworten, um die Unwissen-­‐

heit, die sich in dieser Frage ausdrückte, nicht bloßzustellen?

Ich sucht nach einer Antwort und fing dannsinngemäß an:

Mit dieser vermutlich bewusst gestellten Frage,verehrter Herr Chefredakteur, wollen Sie sicher

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auf den Kern eines Problems von Jugoslawienhinweisen: nämlich auf die Diskrepanz zwischengesamtstaatlicher Identität einerseits und multi-­‐nationaler Identität der Ethnien andererseits. Esgibt ja in diesem Vielvölkerstaat keine sprachlicheIdentität, die den ganzen jugoslawischen Staatumfasst und somit auch keine jugoslawische Spra-­‐che.“

Dann referierte ich meine Erfahrungen, die ichals Student zur Zeit des Hrvatsko proljeće, also imso genannten Kroatischen Frühling 1971/72 ge-­‐macht hatte. Im Ringen um größere Freiheiteninnerhalb Jugoslawiens forderte die damals Sozia-­‐listische Republik Kroatien mehr wirtschaftlicheFreiheiten und einen größeren Anteil an den Devi-­‐seneinkommen Jugoslawiens. Denn das meisteGeld brachten westliche Touristen ins Land, die andie Kroatische Adria reisten. Im Zuge dieser Bewe-­‐gung meldeten sich Sprach-­‐ und Literaturwissen-­‐schaftler, um auch für die kroatische Sprachvari-­‐ante mehr Freiheiten zu erreichen. Es ging bis zurAufkündigung eines gemeinsamen Sprachenver-­‐trages, dem Vertrag von Novi Sad, dem No-­‐vosadski dogovor von 1954, mit dem im Tito-­‐Jugoslawien eine Normierung des Serbischen undKroatischen zu einer gemeinsamen Sprache fest-­‐gelegt worden war. Dann kam ich noch auf ähnli-­‐che Tendenzen der serbischen Sprachwissen-­‐schaftler zu sprechen, erwähnte überdies Slowe-­‐nisch, Makedonisch und Albanisch.

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Ich fühlte mich in meinem Element, als ich dieARD-­‐Chefredakteuren mit diesem Studentenwis-­‐sen überschüttete.

Natürlich glaubte ich, mit diesem Eindruck seimir die Korrespondentenstelle sicher. Das Gegen-­‐teil passierte. Ich wurde nicht gewählt.

Ein Jahr später allerdings wurde ich in das Stu-­‐dio Moskau entsandt -­‐ und niemand hat michzuvor gefragt, ob ich etwa auch „Sowjetisch“ sprä-­‐che.

Heute wissen unsere Medien schon besser zuunterscheiden, was sprachliche und was staatlicheIdentität in Ost-­‐ und Südosteuropa bedeuten. Undin der Europäischen Union sind nun schon fünfslawische Sprachen als Amtssprachen vertreten(Bulgarisch, Polnisch, Slowakisch, Slowenisch undTschechisch). Bald kommt Kroatisch hinzu. Einzel-­‐ne dieser slawischen Sprachen werden wiederumvon der EU offiziell in insgesamt sieben weiterennicht-­‐slawischen EU-­‐Nachbarstaaten als Minder-­‐heitssprache geführt, nämlich in Griechenland(Bulgarisch), Rumänien (Bulgarisch, Polnisch, Slo-­‐wakisch, Tschechisch), Ungarn (Bulgarisch, Pol-­‐nisch, Slowakisch, Slowenisch), Lettland (Polnisch),Litauen (Polnisch), Österreich (Slowenisch) undItalien (Slowenisch).

In den vergangenen drei Jahrzehnten habensich also gewaltige politische Veränderungen inOsteuropa und Südosteuropa vollzogen, die nichtohne Einfluss auf slawische Sprachen, auf sprach-­‐liche Identitäten, auf sprachliche Rezeption und

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auf die Welt der Medien in Ost-­‐ und Südosteuropawaren.

Gewissermaßen ein Feuerwerk an wissen-­‐schaftlichen Herausforderungen hat sich in diesemZeitraum über die Slawistik wie auch über die ost-­‐und südosteuropäischen Regionalstudien generellausgebreitet. Einige dieser Herausforderungenmöchte ich heute hier aufzeigen. Deren Entste-­‐hungsgeschichten liefen oft parallel zu meinereigenen journalistischen Arbeit in und über Ost-­‐und Südosteuropa.

Ich weiß, dass man sich Zahlen bei einem Vor-­‐trag schlecht merken kann. Dennoch sei mir fol-­‐gender Hinweis erlaubt:

Aus drei Staaten, die für die Slawistik nicht un-­‐erheblich sind, nämlich der Sowjetunion, Jugosla-­‐wien und der Tschechoslowakei entstanden bisheute 24 Einzelstaaten.

Die Wiedergeburt des Weißrussischen, die Re-­‐vitalisierung des Ukrainischen, die sprachlicheTrennung des Kroatischen und Serbischen, aberauch das neue Selbstbewusstsein des Slowaki-­‐schen gegenüber den Tschechischen -­‐ um nureinige Beispiele zu nennen -­‐ sind die sichtbarenFolgen dieses politischen Umbruchs.

Gehen wir noch einmal zurück zum Beginnmeiner eigenen Geschichte als Student in TitosJugoslawien zurück:

Ich erinnere mich an einen kroatischen Sprach-­‐wissenschaftler, Stjepan Babić, der in seinenVorlesungen an der Zagreber Universität gerne

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mit ironischem Unterton eine Definition dessenanbot, was im jugoslawische Staat als größteSprache galt. Babić nannte dies: hrvatsko-­‐bosansko-­‐hercegovačko-­‐srpsko-­‐crnogorski jezik.Also die kroatisch-­‐bosnisch-­‐herzegowinisch-­‐ser-­‐bisch-­‐montenegrinische Sprache.

Parallel dazu hatten wir als Studenten in Jugo-­‐slawien einen Witz auf Lager: Wie sieht Europa imJahr 2000 aus? Antwort: Es gibt dann die Vereinig-­‐ten Staaten von Westeuropa, die VereinigtenStaaten von Osteuropa sowie Slowenien, Kroatien,Bosnien-­‐Herzegowina, Serbien, Montenegro undMakedonien als Einzelstaaten.

Dass dieser Witz prophetischen Charakter hat-­‐te, konnte wir damals nicht ahnen. Ebenso mach-­‐ten wir uns im Studentenheim gerne über dieregionale Herkunft unserer Kommilitonen lustig,und zwar am Beispiel des Wortes Kaffee.

Wir witzelten also über „kava“ (gesprochen:kawa) für die kroatischen Kommilitonen, „kafa“für die serbischen und „kahva“ (gesprochen:káchwa) für die bosnischen Kommilitonen.

Ich erinnere mich allerdings auch an aggressi-­‐vere Formen der Abgrenzung. Mit dem Zug fuhrich durch Slawonien, um Freunde auf einem Dorfbei Nova Gradiška zu besuchen. Die Ortsnamenam Bahnhof waren damals immer in lateinischerund kyrillischer Schrift verfasst. Dabei erlebte ichradikale Jugendliche, die in nationalistischer Ge-­‐sinnung auf den Bahnhöfen die kyrillische, alsoserbische Variante übermalten. Umgekehrtes

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konnte ich später in den östlichen Landesteilenbeobachten. Als Reporter an den Frontlinien imJugoslawienkrieg sollte ich zwanzig Jahre nachdiesen Erlebnissen noch bitter erfahren, dass -­‐symbolisch gesprochen -­‐ diese sprachlichen Diffe-­‐renzierungen über Leben und Tod entscheidensollten.

Schon in den 1970-­‐iger Jahren waren also dieVorläufer einer späteren Desintegration des ehe-­‐mals kroato-­‐serbischen oder serbo-­‐kroatischenSprach-­‐ und Kulturraumes in Jugoslawien politischnachweisbar:

Ein letztes gemeinsames Wörterbuchprojektder Matica Hrvatska und der Matica Srpksa, derbeiden nationalen Kultureinrichtungen, zerbrachbereits nach dem zweiten Band. Gewissermaßenim staatlichen Auftrag sollten die kyrillische, alsoserbische, und die lateinische, also kroatische,Variante eines gemeinsamen Wörterbuches ent-­‐stehen. Noch heute besitze ich die Fragmente derlateinischen Ausgabe (bis Band zwei) und die ky-­‐rillische Ausgabe, die freilich zu Ende geführt wor-­‐den ist. Das Buchregal gewissermaßen als An-­‐schauungsmaterial sprachlicher Umbrüche undpolitischer Verwerfungen.

Mit dem Krieg um das zerfallende Jugoslawienab 1991 wurde sprachliche Identität als Bündnis-­‐fall oder als Gegnerschaft betrachtet, je nachStandpunkt. In meinem Büro habe ich auf einerTafel das altkirchenslavische Jat gemalt. Und da-­‐runter dessen Weiterentwicklung zu e, ije und i im

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Sprachgebiet des Serbischen und Kroatischen.Dann überrasche ich meine Besucher mit demHinweis, dass Sie hier einen der Schlüssel für dieKriegsführung im zerfallenden Jugoslawien sehen.Denn die Frontlinien verliefen meist entlang dersprachlichen Grenzen. Grob gesagt, wird -­‐ bezo-­‐gen auf den štokavischen Hauptdialekt -­‐ Serbisch -­‐mit Ausnahme von Montenegro -­‐ von der Laut-­‐entwicklung gerne mit dem Ekavischen identifi-­‐ziert und Kroatisch mit dem Ijekavischen. Natür-­‐lich gibt es eine Menge dialektaler Überschnei-­‐dungen einerseits und andererseits eine Mengeweiterer distinktiver Merkmale lexikalischer undmorphologischer Art. Aber die Lautung ist in Ver-­‐bindung mit bestimmten lexikalischen Elementenam plakativsten, da sie sofort identifizierbar ist.Problematisch blieb -­‐ und bleibt bis heute -­‐ jedochdas gemischte Sprachgebiet von Bosnien-­‐Herzegowina, wo auch der blutigste Teil des Krie-­‐ges unter der Führung von Radovan Karadžić undGeneral Mladić tobte. In jener Zeit erlebte ichKaradžić als gleichermaßen fanatischen wie ge-­‐bildeten Mann, der gerne auf seine literarischeAder als Lyriker verwies: Mit einer administrati-­‐ven, sprachpolitischen Anordnung wollte er seineEroberungen gewissermaßen markieren. Denn erverfügte, dass in dem von ihm kontrollierten bos-­‐nischen Gebiet in den Medien und in der Verwal-­‐tung ausschließlich die ekavische, aus seiner Sichtalso serbische Sprachvariante zu benutzen sei,unabhängig von den historisch verankerten

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Sprachformen. Die Ironie dieser Anweisung istjedoch, dass ausgerechnet in der Geburtsheimatvon Radovan Karadžić, in Montenegro, Serbisch inder ijekavischen Variante gesprochen wird.

Sprache als Ausdruck der Herrschaft und desSieges -­‐ dies ist ein häufig auftretendes histori-­‐sches Phänomen.

So wurden den Deutschen in der Sowjetunionnach dem Großen Vaterländischen Krieg -­‐ wie dortder Zweite Weltkrieg heißt -­‐ der öffentliche Ge-­‐brauch und die Unterrichtung ihrer Muttersprachebis Mitte der 1950-­‐iger Jahre verboten. Deutsch-­‐sprachige Medien wurden verboten. Ähnlich wares in den ehemals deutschen Ostgebieten in Polenoder auch -­‐ nach dem Ersten Weltkrieg -­‐ im Elsass.Auch die Russifizierung vieler Völker und Völker-­‐schaften in der Sowjetunion gehört in dieses Kapi-­‐tel von Sprache und Herrschaft, nicht unähnlichder Anglisierung der vielen Völker und Völker-­‐schaften im Commonwealth. Eine Anekdote be-­‐sagt, Napoleon habe sogar auf seinen Ägypten-­‐feldzug (1788-­‐1801) Druckmaschinen mitschlep-­‐pen lassen, um gegen den britischen Einfluss dortdie französische Sprache zu verbreiten. Doch zu-­‐rück zur so genannten jugoslawischen Frage:

In der heutigen Nachkriegsgliederung Jugosla-­‐wiens haben wir es nun mit sieben Staaten zu tun.Sie haben sich -­‐ mit Ausnahme vom mehrheitlichalbanisch-­‐sprachigen Kosova -­‐ um eine Namensi-­‐dentität von Staat und Nationalsprache bemüht.Entsprechend groß sind auch die Anstrengungen,

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in Lexik, Morphologie und Syntax wieder mehrUnterscheidendes als Gemeinsames zu entwi-­‐ckeln. So kann man heute bereits in der WikipediaArtikel nicht nur zum Kroatischen und Serbischen,sondern auch zur neu konstituierten bosnischenoder montenegrinischen Sprache finden, Ergeb-­‐nisse des Zerfalls von Jugoslawien in Einzelstaaten.

Natürlich konnte man zu jugoslawischer Zeit inZagreb problemlos das Wort „telegram“ (Tele-­‐gramm) oder „aerodrom“ (Flughafen) benutzen.Doch mit der Unabhängigkeit wurde unter Präsi-­‐dent Franjo Tudjman eine Sprachnormierung ver-­‐folgt, die zunächst für den Schulunterricht und dieMedien galt und solche Ausdrücke als ausschließ-­‐lich serbisch definierte. Meine damaligen Freunde,die bei der kroatischen Presseagentur HINA arbei-­‐teten, also der Hrvatska isvještajna novinskaagencija, berichteten mir von den regelmäßigenSprachreinigungen anhand langer Wortlisten: statt„telegram“ durfte nur noch „brzojav“ (wörtlich:Schnellmeldung) und statt „aerodrom“ nur noch„zračna luka“ (wörtlich: Lufthafen) benutzt wer-­‐den. Dies hat allerdings einen realen Hintergrund,denn Kroatisch hat sich in seiner Lexik nicht denInternationalismen so geöffnet wie andere slawi-­‐sche Sprachen. „Musik“ oder „Komponist“, meistin Varianten in vielen slawische Sprachen wieder-­‐zuerkennen, heißt es im Kroatischen (ähnlich wieim Slowenischen, Slowakischen und Tschechi-­‐schen) „glazba“ und „skladatelj“. Insofern machtauch die kroatische Sprachnormierung nach dem

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Zerfall von Jugoslawien Sinn. Schwieriger ist es inBosnien-­‐Herzegowina. Nach dem Jugoslawienkriegwar ich vom Rundfunk in Sarajewo für den Medi-­‐enaufbau eingeladen. Als erstes drückten mir dieRedakteure ein Buch über den korrekten Ge-­‐brauch der bosnischen Sprache in die Hand.

Vor allem ging es darum, alle Ausdrücke der is-­‐lamischen Kultur und Religion in einheitlich nor-­‐mierter, nun bosnisch definierter Fassung zu be-­‐rücksichtigen. Unser berühmtes aspiriertes h in„kahva“ begegnete mir dabei wieder ebenso wie„lahko“ statt „lako“ (leicht) oder „mehko“ statt„meko“ (weich).

Was wir als Studenten in unserer Unerfahren-­‐heit dem türkisch-­‐arabischen Einfluss zugeschrie-­‐ben hatten, nämlich die aspirierte Lautung, findetsich jedoch auch in anderen slawischen Sprachenwieder. Deutlicher jedoch ist der türkisch-­‐arabische Einfluss in der Lexik, die nun für dasBosnische standardisiert wird. Das Wort für „Brot“heißt kroatisch „kruh“, serbisch „hleb“ und nunbosnisch „somun“. Oder der „Uhrmacher“ kroa-­‐tisch „urar“, serbisch „časnovičar“ und bosnisch„sahadžija“. Diese Begriffe werden als Standardvor allem über die Medien in der Gesellschaftverankert.

Nur nebenbei sei bemerkt, dass Bosnien-­‐Herzegovina mit seinen drei Entitäten als Gesamt-­‐staat nicht funktioniert und daher letztlich alledrei Sprachnormierungen von Kroatisch, Serbischund Bosnisch dort nebeneinander existieren.

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Und auch in Podgorica, der Hauptstadt Mon-­‐tenegros, gibt es nun ein sprachwissenschaftlichesInstitut, um Montenegrinisch -­‐ laut Verfassungvom 19. Oktober 2077 offizielle Amtssprache -­‐gegenüber Serbisch abzugrenzen, obwohl trotzdialektaler Unterschiede Montenegro bisher alsserbisches Sprachgebiet galt. Die frühere Ver-­‐trautheit mit den jeweils anderen Sprach-­‐ undSchriftvarianten auf dem Gebiet des ehemaligenJugoslawien schwindet also dahin.

Bevor ich zu einem anderen sprachpolitischenBrennpunkt der slawischen Welt der letzten dreiJahrzehnte weiterführe, möchte ich Sie kurz nocheinmal an meinen Ausgangspunkt erinnern:

„Sprechen Sie überhaupt Jugoslawisch?“, frag-­‐te mich damals ein Chefredakteur.

Was glauben Sie, wie schwer es war und heutenoch ist, in den Medien auch nur annähernd ver-­‐ständlich jene Differenzierungen darzustellen,über die ich Ihnen bis jetzt -­‐ nur oberflächlich -­‐berichtet habe. Und dabei muss uns immer klarsein: Diese Differenzierungen wurden und werdenpolitisch genutzt, auch bei Klischeebildungen undTypisierungen im Eigen-­‐ und Fremdbild einer Re-­‐gion.

Jetzt machen wir einen großen geographischenSprung und ich nehme Sie auf meiner Reise in dieVergangenheit mit in die Sowjetunion, in die Zeitvon Glasnost und Perestrojka. Allein diese Begrif-­‐fe, die heute als symbolische Wegmarken einerpolitischen Umbruchzeit gelten, waren bis zu Gor-­‐

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batschow für die meisten Menschen, die Russischsprachen oder lernten, ohne jeden signifikantenInhalt. Natürlich fehlen diese Begriffe in der Gro-­‐ßen Sowjetenzyklopädie. Und in den Wörterbü-­‐chern der Vor-­‐Gorbatschow-­‐Zeit gibt es dafürauch keine politische Konnotation.

Der Begriff „glasnost“ (гласность) hat aller-­‐dings eine Geschichte in Russland. Er taucht im 19.Jahrhundert bei Gerichtsverfahren unter Zar Ale-­‐xander II. auf und ist auch als „glasnost´ sudo-­‐proizvodstvo“ (гласность судопроизводство) inder Sowjetunion verwendet worden. Damit wurdeder Zugang der Öffentlichkeit zu Gerichtsverfah-­‐ren beschrieben. Fachkundige Rechercheure ha-­‐ben den Begriff überdie im Artikel 9 der Sow-­‐jetverfassung von 1977 gefunden.

Auch der Begriff „perestrojka“ (перестройка)wurde angeblich von Leonid Breschnjew auf dem26. Parteitag der KPdSU schon einmal erwähnt.Doch dies blieb ohne Bedeutung. Erst mit Gor-­‐batschow ist die lexikalische und semantischePrägung erfolgt, die es heute möglich macht, bei-­‐de russischen Begriffe -­‐ also Glasnost und Pere-­‐strojka -­‐ nahezu weltweit in allen Medien ohneÜbersetzung zu identifizieren und mit einer Be-­‐deutung zu hinterlegen. Wer sich gerne mit Semi-­‐otik und Charles Sanders Peirce beschäftigt, könn-­‐te an diesen Begriffen die Zeichentheorie anwen-­‐den, denn beide Begriffe haben den Charaktereines Icons erhalten, ähnlich einem Piktogramm,

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dessen Bedeutung ebenfalls sprachenunabhängigidentifiziert werden kann.

Andere signifikante sprachliche Wendungenaus der Zeit der letzten Reformversuche in derSowjetunion haben sich auf die russische Seman-­‐tik ausgewirkt, ohne als semiotische Zeichen denWeg über die russischen Mediensprache hinausgefunden zu haben. Dazu gehört zum Beispiel„suchoj zakon“ (сухой закон), das Trockenheits-­‐gesetz, mit dem Gorbatschow den Alkoholmiss-­‐brauch eindämmen wollte oder „uskorenije“(ускорение), die Beschleunigung, mit der die Pro-­‐duktion ebenso wie der gesellschaftliche Umbauangekurbelt werden sollte.

Komposita, meist zusammengesetzte Wortun-­‐getüme wie „chosrasschtschot“ (хосрасщот), die„wirtschaftliche Rechnungsführung“ oder „min-­‐mjasomolprom“ (МИНМЯАСМОЛПРОМ) das„Ministerium für Milch-­‐ und Fleischindustrie“,standen paradigmatisch für die Verbürokratisie-­‐rung der russischen Sprache.

Wer mit der humorvollen Art der Russen ver-­‐traut ist, wird sich leicht ausmalen können, dasssolche Begriffe schnell Gegenstand zahlreicherWitze geworden sind. Dies gilt unter anderem fürden Begriff „vorfristig“ (досрочно), der bei denMeldungen über wirtschaftliche Erfolge in densowjetischen Fernsehnachrichten eine wichtigeRolle spielte. Ununterbrochen wurde auf die vor-­‐fristige Planerfüllung hingewiesen, insbesonderebei der Ernte. „Wenn wir unseren Nachrichten

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glauben“, so ironisierten meine Freunde das Wort„vorfristig“ (досрочно), „dann fahren wir jetztschon die Ernte vom kommenden Jahr ein.“

Der ironisch-­‐entlarvende Umgang mit der poli-­‐tischen Sprache -­‐ auch und gerade in der Zeit derPerestrojka -­‐ hat meiner Beobachtung nach unteranderem zu einer Ent-­‐Autorisierung der Reform-­‐bemühungen mit beigetragen. Die vielen Auftrittevon Michail Gorbatschow und sein Bemühen, mitden Menschen vor laufenden Fernsehkameraslandesweit ins Gespräch zu kommen, konntennicht verbergen, dass es wirtschaftlich in der Zeitvon Glasnost und Perestrojka weiter bergab ging.Während der Westen über Gorbatschow jubelte,mussten in unterversorgten Regionen der Sowjet-­‐union wieder Bezugsscheine für Lebensmittel ein-­‐geführt werden. Dies wiederum verschaffte einemandere Ausdruck eine ungeheure Resonanz: Gor-­‐batschow wurde im Volksmund bald als „Schwät-­‐zer“ verunglimpft und boltat’ (болтать „schwat-­‐zen, schwadronieren“) galt als angemessene Be-­‐schreibung seiner politischen Auftritte.

Diese Entwicklung hatte mich persönlich sehrüberrascht, denn Gorbatschow war bei seinemersten wirklich wichtigen Auftritt in der sowjeti-­‐schen Öffentlichkeit fast wie eine -­‐ auch sprachli-­‐che -­‐ Lichtgestalt erschienen. Dies wurde erstmalsder breiten sowjetischen Öffentlichkeit im März1985 bewusst, und zwar bei der Beerdigung vonGorbatschows Vorgänger Konstantin Tschernenko.Die Luft schien gefroren, doch wir Korresponden-­‐

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ten hielten tapfer mit Kameras und Mikrofonenunterhalb vom Politbüro beim Leninmausoleumaus, um dann eine Sensation zu erleben.

Mit nur wenigen Sätzen betrauerte Gor-­‐batschow eher emotionslos seinen Vorgänger.Was dann folgte, waren massive rhetorische Ver-­‐stöße gegen das Protokoll der kommunistischenRituale, ein Schock für die Nomenklatura. Gor-­‐batschow wetterte in seiner ersten öffentlichenRede als Generalsekretär plötzlich über die verlo-­‐gene, heuchlerische Gesellschaft im Land. Erschwang die Peitsche weit reichender Drohungen:Lügner müssten bestraft und Nichtstuer zur Arbeitangehalten werden.

Die Reaktionen, die ich als Reporter auf derStraße einfing, waren ziemlich einmütig:

„Der Mann kann frei sprechen. Er muss nichtjeden Satz ablesen. Er sagt offensichtlich, was erdenkt.“

An dieser Stelle muss ich daran erinnern, wel-­‐che sprachlich-­‐rhetorischen Quälereien der sowje-­‐tischen Öffentlichkeit in den Jahren vor Gor-­‐batschow zugemutet worden war:

Ein Witz aus dem Ende der Breschnew-­‐Zeit istdafür charakteristisch:

Olympische Spiele in Moskau 1980. Breschnewschreitet zur Eröffnung und beginnt: „O, O, O“.Dann unterbricht ihn sein Adjutant: „GenosseBreschnew, das ist nicht der Text, das sind dieOlympischen Ringe.“

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Zwei quälende Jahre später kam der schwerkranke Jurij Andropow, dessen Texte fast immervon Sprechern im Fernsehen verlesen werdenmussten, weil Andropow kaum noch öffentlichauftreten konnte. Es folgte der ebenfalls schwerkranke Tschernenko, der nur röchelnd seine kaumverständlichen Sätze formulierte. Über seine Un-­‐fähigkeit im Amt und sein mangelhaftes Sprach-­‐verständnis, deren negative Wirkung durch seineFernsehauftritte noch verstärkt wurde, witzelteman mit der Doppeldeutigkeit des Wortes„vystuplenie“ (выступление), was „Auftritt“, aberauch „öffentliche Rede“ bedeutet.

Im Politbüro wurde also der Generalsekretäraufgefordert: „Genosse Tschernenko, Ihr Auftritt[=Rede] bitte.“ („Товарищ Тчерненко, Ваше вы-­‐ступление, пожалуйтса.“) Tschernenko erhebtsich schwerfällig vom Stuhl, stampft einmal mitdem Fuß kräftig auf und setzt sich wieder hin.

Und dann kam Gorbatschow: Und mit ihmSprache als medialer Befreiungsakt, Sprache alspolitische Autorität, Sprache als Mittel der Politik.

Warum aber wirkte in der Sowjetunion diePerestrojka in erster Linie als sprachlicher Auf-­‐bruch, der von den Medien getragen wurde? Dieweißen Flecken der Geschichte wurden kommuni-­‐ziert, verbotene Literatur publiziert. Einige Bei-­‐spiele: die poetische Sprache eines Josef Brodskijkehrte zurück; Nikolaj Gumiljow, einer der begab-­‐testen Lyriker, 1921 als Konterrevolutionär er-­‐schossen, wurde wieder entdeckt; das „Reqiem“

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von Anna Achmatowa, „Die Kinder des Arbat“(Деты Арбата) von Anatoli Rybakow, der Romanüber die Schrecken der Stalinzeit „Leben undSchicksal“ (Жизнь и Судьба) von Vasilij Grossmanwurden gedruckt, das „Hundeherz“ (Собачьесердце) von Michail Bulgakow durfte endlich aufder Bühne inszeniert werden. Man sprach dabeivon der so genannten Schubladenliteratur, dieversteckt worden war, aber in eingeweihten Zir-­‐keln als Untergrundausgabe kursierten. Kurz: eserfolgte die Rückkehr zur literarischen und damitzur sprachlich-­‐kulturellen Identität der Gesell-­‐schaft.

Einer der symbolträchtigsten Schritte war fürviele die vollständige Rehabilitierung von BorisPasternak. Seit seinem Tod 1960 verging kein Jahr,an dem sich seine Verehrer nicht zu Lesungen anseinem Grab in Peredelkino, der Schriftstellersied-­‐lung westlich von Moskau, getroffen hätten. Trotzübelster Hetzkampagnen gegen den Autor, der aufpolitischen Druck hin den Literaturnobelpreisnicht annehmen durfte, trotz seines Ausschlussesaus dem Schriftstellerverband war sein Ruf inRussland ungebrochen. Ich werde nie vergessen,wie auf dem 8. Schriftstellerkongress 1986, alsoein Jahr nach Gorbatschows Amtsantritt, derSchriftsteller Jewgenij Jewtuschenko mit einerüberraschenden Initiative auftrat. Er überreichtedem Präsidium einen offenen Brief, den vierzigweitere Schriftsteller unterschrieben hatten, undforderte zum hundertsten Geburtstag von Pas-­‐

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ternak 1990 ein eigens Museum. Kurz darauf wur-­‐de Pasternak posthum wieder in den Schriftstel-­‐lerverband aufgenommen und sein verfemterRoman „Doktor Schiwago“ (Доктор Живаго)erstmals in der Sowjetunion veröffentlicht -­‐ undzwar dreißig Jahre nach seinem Erscheinen imWesten.

Dennoch gab es auch Zusammenstöße zwi-­‐schen der literarischen Rückbesinnung und denfunktionärshaften Versuchen der Verweigerung.Selten habe ich in meinem Leben so engagiertFernsehen geschaut wie in dieser Zeit von Glas-­‐nost und Perestrojka. Die Mediensprache streiftealles Formelhafte ab, das Parteirussisch wich all-­‐mählich aus den Nachrichten und immer mehrgriffen Diskussionssendungen um sich, die sogarlive und somit unzensiert ausgestrahlt wurden.Hierbei prallten die Welten aufeinander. Anschau-­‐lichste Beispiel war für mich eine Diskussion überstalinistische Lager. Ein junges Mädchen fragtedabei eine ehemalige Lagerinsassin, ob alles wirk-­‐lich so schlimm gewesen sei wie bei Alexandr Sol-­‐schenizyn im „Archipel Gulag“ (Архипел ГУЛАГ)beschrieben. Da griff der Moderator ein undmeinte: „Wir können auf diese Frage nicht ant-­‐worten, denn wir kennen dieses Buch nicht. Es istbei uns nicht erschienen.“

Um das künstlerische Werk des verfemten, exi-­‐lierten Nobelpreisträgers wurde während derPerestrojka ideologisch gerungen. Sogar Gor-­‐batschows Chefideologie Vadim Medwedew emp-­‐

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fahl noch 1988, die Werke von Solschenizyn nichtzu veröffentlichen, da seine Positionen „der herr-­‐schenden Auffassung zu Geschichte und Revoluti-­‐on“ widersprächen. Der Machtkampf um diesePosition wurde weiter öffentlich ausgetragen.Denn bald darauf strahlte das Fernsehen eineAufzeichnung aus Irkutsk in Sibirien aus. Bei dieserVeranstaltung schilderte der russische Schriftstel-­‐ler Viktor Astaf’ev, wie er auf dem russischenEmigrantenfriedhof in Paris vor dem Grab desrussischen Literaturnobelpreisträgers Ivan Buninum Verzeihung gebeten habe für das, was ihmseine Heimat angetan hatte. Und so könne eskommen, fuhr Astaf’ev fort, dass er dereinst aucham Grab von Solschenizyn um Verzeihung bittenmüsse.

Vor dem Hintergrund solcher Ereignisse erhältdie Wiederentdeckung und Bewertung der Rezep-­‐tion russischer Literatur eine weitreichende ge-­‐sellschaftspolitische Bedeutung, an der immernoch weiter geforscht werden kann.

Doch damit nicht genug der Herausforderun-­‐gen für die Wissenschaft: Regelrechte Kapriolenmusste immer wieder die russische Onomastikschlagen. Denn die politische Entwicklung hatteunmittelbar Auswirkung auf Namensgebung undNamensänderungen. Im Westen dürfte mit derEntstalinisierung die Umbenennung von Stalingrad(Сталинград) in Wolgograd (Волгоград) am be-­‐kanntesten sein, wobei eher weniger bekannt ist,dass diese Stadt ursprünglich Zaryzin (Царицын)

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geheißen hatte. Mit der Perestrojka erfolgte einDammbruch der Um-­‐ und Rückbenennungen.Fachleute für Ortsnamenskunde haben auf demersten sowjetischen Kongress für Toponomastik1989 vorgeschlagen, zunächst zwanzig Städtenihre alten Namen wieder zu geben, die nach Per-­‐sonen der sowjetischen Nomenklatura umbe-­‐nannt worden waren. Aus Kalinin wurde wiederTwer, aus Kuibyschew wurde Samara, aus Gorkiwieder Nishnij Nowgorod und -­‐ nach längererDiskussion -­‐ wurde Leningrad wieder zu Sankt-­‐Peterburg zurückbenannt. Wer heute einen Stadt-­‐plan aus Moskau aus dem Jahr 1990 zur Handnimmt, wird sich mit den Straßennamen nichtmehr zurecht finden. Denn auch hier haben um-­‐fangreiche Namensrückbenennung stattgefunden,von einzelnen Straßen bis zu ganzen Stadtvierteln.

In dieser Zeit waren in der Sowjetunion aberauch andere sprachliche Emanzipationsbewegun-­‐gen zu beobachten. Und zwar unter den nicht-­‐slawischen Völkern ebenso wie unter den nicht-­‐russischen, slawischen Völkern. Den Begriff derRussifizierung habe ich vorhin schon kurz ange-­‐sprochen. Wertneutral kann man darin zunächsteine gemeinschaftliche Kommunikationsbasis fürden Vielvölkerstaat sehen. Nicht-­‐russische Völkerhaben damit jedoch auch eine Einschränkung ihrernationalen Identität verbunden. Dies galt immerfür die baltischen Staaten, die vor allem unter derMassenverbannungen ihrer Intelligenz und einergezielten Russifizierung gelitten hatten; nicht ganz

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so dramatisch, aber auch einschränkend wurdedie Russifizierung in Zentralasien und Teilen derUkraine und Moldawien empfunden. Ein Sonder-­‐fall blieb Weißrussland.

Gerade in den baltischen Staaten, die staats-­‐rechtlich von den USA und ihren Verbündeten nieals Teil der Sowjetunion anerkannt worden waren,kämpfte man immer um die eigene sprachlicheIdentität, die heute wieder hergestellt worden ist.

Schon in den 1980-­‐iger Jahren, wenn ich etwanach Estland fuhr, weigerten sich viele Esten mitmir Russisch als lingua franca zu benutzen. Lieberquälten sie sich mit einem damals noch rudimen-­‐tären Englisch, um gegenüber dem Ausländer zuzeigen, dass sie keine russische Provinz gewordensind.

In Zentralasien hingegen war in den gemisch-­‐ten Siedlungsgebieten durchaus geläufig, dassman drei Sprachen nutzte. In der Regel immereine der Turksprachen (Kasachisch, Usbekisch,Turkmenisch, Karakalpakisch, Kirgisisch) nebendem selteneren Dari/Tadschikisch/Persisch undnatürlich immer Russisch. Hier galt Russisch alsSprache zur übrigen Welt und wird -­‐ im Gegensatzzum Baltikum -­‐ auch heute noch in den zentralasi-­‐atischen Republiken als Verkehrssprache akzep-­‐tiert. Ausgeklammert sei hier die Rolle des Russi-­‐schen bei den kleineren sibirischen Völkern, derensprachliche Eigenständigkeit vermutlich schon invorrevolutionärer Zeit weitgehend aufgegebenwurde. Im Transkaukasus hingegen konnten sich

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immer Armenisch, Georgisch und Aserbeidscha-­‐nisch, letztere als Turksprache der Aseris auch imIran, behaupten, abgesehen von einem Sprachen-­‐streit in der Chruschtschow-­‐Zeit, ob man in Geor-­‐gien doch Russisch als einzige Amtssprache ein-­‐führen solle. Der Streit endete damit, dass meinesWissens Georgien das einzige Land ist, das seinerSprache in der Hauptstadt Tbilissi (Tiflis) ein gigan-­‐tisches Monument errichtet hat, um sich damitsymbolisch weiteren Versuchen der Russifizierungzu widersetzen.

Anders zeigte sich die sprachliche Situation inden westlichen Teilen der Sowjetunion. Natürlichwar Ukrainisch als Sprache nie verboten, dochman konnte in der Ukraine auf Russisch seineSchule absolvieren, studieren und arbeiten, ohneein Wort Ukrainisch zu beherrschen. Durch diepolitischen Zerwürfnisse der letzten Jahre ist auchim Ausland bewusst geworden, dass heute nochdie Ukraine geteilt ist in eine östliche, mehr rus-­‐sischsprachig geprägte, und eine westliche, ukrai-­‐nischsprachig geprägte Gesellschaft.

Dennoch gab es in der Rada, dem Parlament, inder Regierung, in den Ministerien, den Universitä-­‐ten und den Medien -­‐ beginnend mit der Pere-­‐strojka -­‐ und dann massiv mit dem Zerfall derSowjetunion eine ungeheure Renaissance derukrainischen Sprache, deren Folgen für die Slawis-­‐tik meiner Meinung nach erst allmählich erkanntworden sind.

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Diese Entwicklung gilt formal praktisch für dieSouveränitätserklärungen aller ehemaligen Sow-­‐jetrepubliken und autonomen Republiken, dieimmer auch mit der Deklaration einer eigenenAmtssprache einher ging. Hier galt, wie spätereben auch im zerfallenden Jugoslawien, dass nati-­‐onale und staatrechtliche Emanzipation mit einernationalsprachlichen Emanzipation verbundenwurde.

Dass dies nicht deckungsgleich überall zu gel-­‐ten hat, lehren uns Sprachen wie Englisch, Franzö-­‐sisch oder Deutsch, die weder staatsrechtlich anein einziges Land noch an eine einzige Ethnie ge-­‐bunden sind.

Schwieriger war in der zerfallenden Sowjetuni-­‐on die Lage des Weißrussischen. Leger ausge-­‐drückt, war die Sprache so gut wie tot, als ich inden 1980-­‐iger Jahren in Weißrussland unterwegswar. Andererseits haben gerade die Intellektuellendie weißrussische Sprache als Befreiungsakt wie-­‐derbelebt, um Dinge zu veröffentlichen, die nichtdem politischen Kodex der Sowjetunion entspro-­‐chen haben. Ein mir befreundeter Journalist Ale-­‐xander Lukaschuk, Jahrgang 1955, nutzte die da-­‐mals meines Wissens einzige weißrussische Zei-­‐tung „Swjasda“, um Dissidentenliteratur und nochunbekannte Gräueltaten der Stalinzeit zu publizie-­‐ren.

Nun muss man sich das wechselvolle Schicksalvon Weißrussland vergegenwärtigen, um zu ver-­‐stehen, warum bis heute die eigene Sprache -­‐

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neben vielen Übergangsdialekten zum Russischen-­‐ nur auf einen kleinen Teil der städtischen Intelli-­‐genz beschränkt geblieben ist. An diesem Landzerrten in der Geschichte Polen und Russen; nichtnur die Sprache, sogar der Begriff „weißrussisch“war im 18. Jahrhundert verboten. Hinzu kommtheute die Herrschaft des letzten Diktators in Eu-­‐ropa, Aleksandr (Aljaksandr) Lukaschenko, derunter russischen Nationalisten hoch populär ist,am liebsten Präsident einer weißrussischen-­‐russländischen Union geworden wäre und auchdie russische Sprache in seinem Staat weiter för-­‐dert.

Ich möchte Sie nicht damit langweilen, dass esunter Berufung auf das Ruthenische als dem histo-­‐rischen Vorläufer des Weißrussischen eine Bewe-­‐gung gibt, die neben Weißrussisch und Belarus-­‐sisch auch Weißruthenisch als Sprachbezeichnungverwendet. Nur habe ich noch in lebhafter Erinne-­‐rung, wie mich im Rigorosum der Münchner Sla-­‐wist Johannes Holthusen mit einem ruthenischenText aus dem Großfürstentum Litauen quälte. Nurdurch erfolgreiches Raten und Ausschluss-­‐Definition, welche Sprache es nicht sein könne,bin ich zum Ziel gelangt.

Ein Blick über die Grenzen dieser Slawinen undderen sprachpolitisches Schicksal während derletzten Jahrzehnte sei mir noch gestattet. Beglei-­‐ten Sie mich auf meiner Reise nach dem Zerfallder Sowjetunion nach Lettland, in die HauptstadtRiga. Es dauerte keine fünf Jahre -­‐ und Russisch,

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die bislang beherrschende Sprache der städti-­‐schen Bevölkerung, war aus der Öffentlichkeitverschwunden: Aus den Universitäten, aus denMedien, auf den Märkten. Mein Problem ist: ichspreche kein Lettisch. Also bemühte ich mich, aufdem Markt einen bei unseren Kindern so belieb-­‐ten Waffel-­‐Konfekt zu kaufen -­‐ und zwar auf Rus-­‐sisch. Die Verkäuferin antwortete beharrlich aufLettisch, erst bei meinem dritten Anlauf wechseltesie in die russische Sprache. Und dann erfuhr ich,dass bei dem Bemühen um die neue lettischeIdentität eine öffentliche Sprachenaufsicht unter-­‐wegs war, im Volksmund Sprachenpolizei genannt,die darauf achtete, dass immer erst Lettisch be-­‐nutzt wurde, bevor man auf Russisch wechselnkonnte. Die Sprachengesetze haben Lettland auchProbleme gemacht während der Beitrittsverhand-­‐lungen zur Europäischen Union. Dann verabschie-­‐dete das lettische Parlament am 9. Dezember1999 ein neues Sprachen-­‐ und Integrationsgesetz,um der russischsprachigen Bevölkerung gleicheTeilhabe an dem neuen Staat zu ermöglichen. Erstso konnte Lettland 2004 Mitglied der Eu-­‐ropäischen Union werden. Sprachenpolitik kannalso durchaus als Integrations-­‐, aber auch als Des-­‐integrationspolitik verstanden werden.

Dies gilt um so mehr, als mit dem Zerfall derSowjetunion eine gewaltige Migration eingesetzthat, und zwar innerhalb der ehemaligen Sowjet-­‐republiken wie Richtung Westen. Davon ist auchDeutschland nicht unberührt geblieben ist. Natür-­‐

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lich gab es schon jahrzehntelang eine ehertröpfenweise Auswanderung von Russland-­‐deutschen. Die größte Welle von mehr als zweiMillionen Emigranten folgte jedoch innerhalbweniger Jahre, begleitet von den so genanntenKontingentflüchtlingem, also der jüdischen Zu-­‐wanderung nach Deutschland. Insgesamt wird dieZahl der russischsprachigen Zuwanderer inDeutschland auf rund drei Millionen geschätzt. DieLinguistik und Soziologie konnte hier ein sehrgroßes Feld von Themen finden, die heute immernoch weiter zu bearbeiten sind. Zunächst einmaldarf man pauschal feststellen, dass weit über dieHälfte der Zuwanderer aus der Sowjetunion diedeutsche Sprache so gut wie gar nicht be-­‐herrschten. Eine Faustformel besagt: je jünger dieZuwanderung ist, desto weniger Deutschkenntnis-­‐se sind bei den Zuwanderern nachweisbar. Esenstanden Interferenzen, die mir aus meinenfrüheren Besuchen in den deutschen Siedlungsge-­‐bieten etwa im Altai-­‐Gebirge oder in Kasachstansehr vertraut waren.

“Ich hab genaruschait” (нарyшать/нарушить„verletzten, ein Gesetz übertreten“), sagte mir einsowjetdeutscher Freund achselzuckend in Barnaul,als die Polizei ihm eine Strafe für zu schnelles Fah-­‐ren aufbrummte. Als Journalist hatte und habe ichdie schreckliche Eigenschaft, dass ich immer allesgleich für eine spätere Verwertung notieren muss-­‐te. Auf diese Weise kam eine lustige Sammlungverrückter Ausdrücke zustande.

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Umgekehrt konnte ich mich immer köstlichdarüber amüsieren, dass es im Russischen dasdeutsche Lehnwort „Butterbrot“ (бутерброд)gibt, das aber nur ein trockenes Stück Brot mitBelag von Käse oder Wurst meint. Will ichdagegen am Buffet (russ. bufet, буфет) ein echtesButterbrot haben, dann muss ich schon ein „бу-­‐терброд с маслом“, als ein „Butterbrot mit But-­‐ter“ bestellen. Solche Interferenzen zwischen zweiSprachen sind solang unerheblich, wie sieeinzelsprachlich isoliert auftreten und kommu-­‐nikativ eindeutig zu verstehen sind. Schwierig wirdes jedoch, wenn ich nun das Land und die Sprachewechsele und aus dem Wissen der einen (alsoRussisch) und dem Erlernen der anderen Sprache(also Deutsch) Kommunikationsprobleme ent-­‐stehen.

Seit vielen Jahren betreue ich im Rahmen derCivis-­‐Medienstiftung die Jury für denEuropäischen Radiopreis. Mit diesem Preis habenwir einmal ein Feature ausgezeichnet mit demTitel „Geschichten aus Parallelistan“ von FrederikKunth. Darin werden u. a. russlanddeutsche Aus-­‐siedler vorgestellt, die in ihrer eigenenFreizeitwelt und Musikszene leben. Deren Textesind eine Mischung aus Deutsch und Russisch, dieweder für einen Russen noch für einen Deutschen,sondern eben nur für diese Mischwelt aus beidemzu verstehen sind. In diesem Feature wird dieRockgruppe „Raster Republic“ aus Nürnbergvorgestellt, die sich eine musikalische und

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sprachliche Kunstfigur geschaffen hat: Denrusslanddeutschen Zuwanderer Tolja, 22 Jahre. Erschreibt russische Texte mit deutschen Wörtern,und er schreibt alles falsch. Beispiel: „у меня ан-­‐мелдовался“ (U menja anmeldowalsja. Wörtlichübersetzt: „Bei mir ist habe ich michangemeldet“). Es entstehen aber auch echtedeutschstämmige Substitute für russischeAusdrücke wie zum Beispiel „я пофарил“ (Japofarli, ich bin gefahren) statt „я поехал“ (japojechal). Inzwischen gibt es immer mehr Studien,die sich mit solchen sprachlichen Entwicklungenbeschäftigen. Einschlägige Bibliografien weisenzahlreiche Titel dafür aus.10

Ein weiterer Themenbereich für soziolinguis-­‐tische Beobachtungen sind die russischen sozialeNetzwerke wie „Odnoklassniki“, „V kontakte“oder „Moj Mir“. Denn Sie haben dank der Migrati-­‐onsbewegung allein in Deutschland über eineMillion Nutzer, in Russland und der GUS sind essogar mehr als einhundert Millionen Nutzer. Hierentstehen für die Medienrezeption herausfor-­‐dernde Kommunikations-­‐ und Informationsalter-­‐nativen für junge Zuwanderer.

Eine ähnliche sprachliche Zwischenwelt kannman auch in Israel erleben. Die Zuwanderung nachdem Ende der Sowjetunion machen in Israel etwaeine Million der Bevölkerung dort aus. Die ZeitungMa'ariv berichtete Ende der 1990-­‐iger Jahre von

10 http://www.ids-­‐mannheim.de/prag/aussiedler/biblio.html

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dem Versuch einer Knesset-­‐Abgeordneten,Russisch -­‐ neben Hebräisch und Arabisch -­‐ alsdritte Amtssprache einzuführen.

In der Tat habe ich selbst einen Wahlkampf inIsrael erlebt, bei dem alle Wahlspots im Fernsehenmit russischen Untertiteln ausgestrahlt wurden.Nun bin ich kein Fachmann für diese Region, aberich stelle mir vor, dass auch in Israel die Sprach-­‐wissenschaft reichlich Anschauungsmaterial fürSprachkontakte, Interferenzen und soziolingu-­‐istische Untersuchungen findet.

Zu guter Letzt möchte ich auf Auswirkungenhinweisen, die nicht nur durch die Migration,sondern auch durch touristische und wirtschaft-­‐liche Kontakte bedingt sind:

Wer heute auf dem türkischen Flughafen inAntalya landet, wird mit russischen Ansagen undrussischsprachigen Aufschriften konfrontiert. Werim Klinikum Rechts der Isar in München zurVerwaltung geht, findet dort einen Hinweis aufdas Büro für ausländische Patienten in den dreiWeltsprachen Englisch, Arabisch und Russisch.Und jeder Immobilienmakler in Baden-­‐Badenwirbt in seinem Schaufenster mit den Hinweis:„Мы говорим по русски“ („Wir sprechen Rus-­‐sisch“), garniert von Verkaufstafeln, die ebenfallsrussisch beschriftet sind.

Mir scheint jedoch der Kontakt einer anderenSprache in die slawische Welt hinein vonwachsender Bedeutung zu sein: nämlich dieenglische Sprache.

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2007 ist in Russland der Roman „Duchless“(Духлес) von Sergej Minajew erschienen,inwischen unter dem Titel „Seelenkalt“ auch aufDeutsch publiziert. Wenn ich den russischen Titelrichtig verstehe, ist er eine russisch-­‐englischeKontamination zwischen dem Wort „Geist“ (дух)und dem englischen Suffix -­‐less wie „thoughtless“(gedankenlos).

Viel weiter geht natürlich schon die Alltags-­‐entwicklung nicht nur im Russischen, sondern inallen slawischen Sprachen, weil durch das Internetund die Globalisierung Englisch einen nachhalti-­‐gen Einfluss auch auf diese Sprachen ausübt. Vorder Zeit des Internet kannte man im Russischenzwar die „Dschinsi“ (джинсы) und „Metallisti“(металлисты), also die Jeans und die Anhängervon Heavy Metall-­‐Musik. Auch in der Sprache desFußballs gibt es „goal“ (гол) das Tor oder „dribb-­‐ling“ (дриблинг), das Dribbeln. Nur am Rande seierwähnt, dass sich die Lexikographie in der Sow-­‐jetzeit vergeblich um den russischsprachigen Er-­‐satz für diese englischen Lehnwörter bemüht hat.Der so genannte Volksmund ist eben stärker alsjede Akademie der Wissenschaften.

Heute hingegen scheint es kein Ende zu gebenfür die ständige Adaption neuer englischer Begrif-­‐fe wie „imagemaker“ (имэдж-­‐мейкер), oder„looser“ (лузер), ganz zu schweigen von den funk-­‐tionalen Begriffen wie „login“ (логин) oder „brow-­‐ser“ (браузер).

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Dieselbe Entwicklung lässt sich parallel im Pol-­‐nischen mit dem „Server“ (serwer), „Scanner“(skaner), „Byte“ (bajt) oder dem „DJ“ (didżej) oder„dealer“ (diler) ebenso belegen wie im Tschechi-­‐schen oder Slowakischen. Nun bin ich leider imWestslawischen so gut wie gar nicht beheimatet.Deshalb stammt mein Wissen dort nicht aus eige-­‐ner Anschauung, sondern aus aktuellen Recher-­‐chen. Für das Polnische wird konstatiert, dass derehemals starke Einfluss französischer Lehnwörterund deren französische Aussprache unter demEinfluss des Englischen umformatiert wird: aus„image“ in französischer Aussprache wird nun„image“ in englischer Aussprache.

Für das Slowakisch gilt, dass mit derStaatstrennung das Übergewicht des Tschechi-­‐schen im ehemals östlichen Landesteil zurückge-­‐gangen ist. Da ich früher als Korrespondent oftdurch die Slowakei nach Ungarn fahren musste,habe ich mir in der Slowakei ein slawisches Espe-­‐ranto angewöhnt, mit dem ich aber gut durchkam.Heute werden Fernsehsendungen zwischenTschechien und der Slowakei unübersetzt gegen-­‐seitig ausgestrahlt. Aber von tschechischer Seitehöre ich, dass sich slowakische Jugendliche mitder tschechischen Sprache deutlich schwerer tunals umgekehrt. Auch hier also wird durch die Staa-­‐tenteilung mehr Trennendes entwickelt statt Ge-­‐meinsamkeiten zu fördern.

Die Slawistik hat also -­‐ wie wir gesehen haben -­‐in den letzten drei Jahrzehnten durch den politi-­‐

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schen und gesellschaftlichen Wandel in Ost-­‐ undSüdosteuropa, durch dessen Reflex in den Medi-­‐en, durch die Migrationsbewegung und durch dienoch anhaltende Ausweitung der EuropäischenUnion erheblich an wissenschaftlicher, politischerund gesellschaftlicher Bedeutung gewonnen. DieAufgabenfelder für die Slawistik sind dadurchnicht kleiner, sondern größer geworden. Der Sla-­‐wistik und den slawistischen Regionalstudienwünsche ich daher viel Freude an diesen neuenHerausforderungen und sage der Bamberger Sla-­‐wistik zu ihrem dreißigjährigen Jubiläum ganzaltmodisch „ad multos annos“ oder in der Sprachemeiner polnischen Großmutter „sto lat“ -­‐ „Hun-­‐dert Jahre“.

Festvortrag anlässlich des 31-­‐jährigen Beste-­‐hens des Instituts für Slawistik am 19. Juni 2012 inder Universität Bamberg. Eine überarbeitete Fas-­‐sung ist unter dem Titel „30 Jahre Wandel in derSlavia – ein Rückblick aus der Berufspraxis einesJournalisten“, in: Bulletin der Deutschen Slavistik18/2012, S. 7-­‐19 erschienen.

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Eine andere medialeErfahrung:MitMariss Jansonsin Russland

Als ich 1983 Jahren meinen Dienst in Moskauals Hörfunkkorrespondent antrat, konnten diePass-­‐ und Zollkontrollen bei der Einreise fast ge-­‐nau solange dauern wie der Flug von München indie russische Hauptstadt: nämlich gut dreieinhalbStunden. Diese Barriere ist nun überwunden. Rou-­‐tiniert scannen die Grenzbeamten in den vertrau-­‐ten Glaskästen Pass und Visum ein, um dann fastim Minutentakt den unendlichen Strom von Rei-­‐senden in das Land zu winken. Wer heute -­‐ zuRecht -­‐ die noch unausgereiften politischen Struk-­‐turen Russlands kritisiert, der muss verstehen,welchen Weg dieses Land zurückgelegt hat.

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Noch 1989, als ich Russland wieder verließ, warder Privatbesitz an Fotokopierern und Computer-­‐druckern verboten. Die Gerichte kannten nur dasStrafmaß von ganzen Jahren und der Anwalt einesAngeklagten hatte erst mit Eröffnung der Haupt-­‐verhandlung Zugang zu den Ermittlungsakten. Vonder totalen Staatskontrolle bis zu den heutigenFreiheiten ist ein weiter Weg zurückgelegt wor-­‐den, wenn auch die „gelenkte“ Demokratie weitentfernt ist von unseren politischen Idealen. Ausdiesem Land kam Mariss Jansons. Er kam aberauch aus einem Land, in dem die musische Erzie-­‐hung und der Ehrgeiz zur künstlerischen Voll-­‐kommenheit eine Symbiose von strenger undliebevoller Menschenführung einging, die bereitsim Kindesalter begann.

In dieses Land hat Mariss Jansons sein BR-­‐Symphonieorchester geführt. Hier hat er nun mitseinen Gastspielen in Moskau und St. Petersburgden größten und psychologisch wohl wichtigstenErfolg seines Musiklebens feiern können: Stehen-­‐de Ovationen, Blumenmeere, von Konzertbesu-­‐chern bereits in der Pause zum Dirigentenpodiumgebracht, Verehrung für die Kunst und den Künst-­‐ler wie für die Musiker an den Instrumenten, lan-­‐ge Schlangen nach dem Konzert, um einen Hän-­‐dedruck oder wenigsten eine privaten Blick aufJansons zu erwischen. Diese Eindrücke sind unver-­‐gesslich und intensiver als in New York, London,Luzern, Rom oder gar München.

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Ich hätte mir nie träumen lassen, dass mich dieEmotionen bei diesen Konzerten so überwältigenwürden -­‐ war mir doch das Programm vertraut,die Musiker, der Dirigent bekannt, habe ich dochhunderte von Konzerten mit dem Symphonieor-­‐chester erlebt. Aber in Russland war eben allesanders. Es war die Heimkehr eines Weltstars miteinem Orchester von Weltrang. Seit Jahren schonwurde Mariss Jansons sehnsüchtig von seinenAnhängern in Russland erwartet. Und diese Sehn-­‐sucht schlug um in erlösenden Jubel, der beson-­‐ders in St. Petersburg, der künstlerischen Heimatvon Mariss Jansons, ein berauschendes Ausmaßannahm.

Die Konzerte waren künstlerische Höhepunkte.Doch eine fast euphorische Grundstimmung be-­‐gleitete das Orchester auch die ganzen Tage hin-­‐durch. Wir labten uns im GUM, dem heutigenKonsumtempel am Roten Platz, an (teurem) Kaf-­‐fee und Kuchen, durchstreiften in kleinen Grup-­‐pen den Kreml oder die sagenhaften MoskauerMetrostationen und durchwanderten später stun-­‐denlang in St. Petersburg die Ermitage.

Nur einmal bin ich fast in die Falle der altenZeit getappt. Peter Meisel, Pressechef des Orches-­‐ters, wollte unbedingt die sagenumwobene Lub-­‐janka sehen, also die Zentrale des früheren KGB,heute FSB („Federalnaja Sluschba Besopasnosti“,zu deutsch: Föderaler Sicherheitsdienst) genannt.Für jeden erfahrenen Moskauer -­‐ also auch fürmich -­‐ eine vertraute Adresse. Zurzeit von Glas-­‐

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nost und Perestrojka hatte sich die KGB-­‐Zentralegeöffnet, wurde umbenannt in FSB und ließ sogarAuslandskorrespondenten in die Archive. Im Ver-­‐trauen auf diese Veränderungen führte ich PeterMeisel und unseren Fotografen nicht nur an dasGebäude, sondern ging auf den Haupteingang zu,um durch die Tür zu spähen. In Sekundenschnellewar ein Milizionär zur Stelle mit der alt vertrautenAufforderung: „Waschy Dokumenty! Ihre Doku-­‐mente.“ Hier bewährt sich, den Originalpass lieberim Hotel zu belassen und ein beliebiges anderesSchriftstück -­‐ und sei es auch nur den Hausaus-­‐weis des Bayerischen Rundfunks -­‐ vorzuweisen.Denn wenn es dem Herrn Milizionär gefällt, dannkonfisziert er kurzerhand das Dokument.

Als ich dem strengen Kontrolleur erklärte, dassich mit den Geheimarchiven schon von frühervertraut war und ich im anschließenden Gesprächdie Größe Russlands ausreichend bewundert hat-­‐te, ließ er uns laufen, nicht ohne Peter Meisel zuwarnen, er möge seine Kamera sofort in der Ta-­‐sche verschwinden lassen. Aber auch dies gehört -­‐immer noch -­‐ zum heutigen Russland. Aber wasmuss der Hörfunkdirektor des BR auch an denTüren des russischen Geheimdienstes schnüffeln!Irgendwie hat mich der Recherchentrieb des Kor-­‐respondenten wohl noch nicht verlassen.

Ein anderes, ebenfalls zutiefst russisches Er-­‐lebnis, war ein spontanes Pressegespräch vonMariss Jansons mit örtlichen Journalisten imTschaikowskij-­‐Konservatorium:

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Ein Flur neben dem Konzertsaal, in dem laut-­‐stark und voller Hingabe junge Studenten ihremusikalischen Leistungen darboten. Um uns her-­‐um eine Gerenne und Getue. Jansons vor einemkleinen Tischchen, auf dem sich die Mikrophonedrängten und fast übereinander gestapelt werdenmussten. Alles improvisiert. Doch als die Kollegin-­‐nen und Kollegen ihre Fragen stellten, zeigten siesich als wahre Kenner der Materie. Sie verwickel-­‐ten Jansons in einen fachlichen Disput, den ich aufkeiner westlichen Pressekonferenz mit ihm bislangerlebt habe. Irina Jansons, die neben mir saß,meinte voller Stolz: „Sehen Sie, Johannes, dass istRussland. Nichts funktioniert. Aber die Menschensind gebildet. Und sie interessieren sich für Inhal-­‐te.“ Die Grundlagen dieser -­‐ vor allem musischen -­‐Bildung konnten wir in St. Petersburg bewundern:Jansons musikalische Spezialschule und sein Kon-­‐servatorium. Wir trafen alte Mitschülerinnen, dievon ihm schwärmten, darunter Ljubow Rudowa,die heute eine Klavierklasse unterrichtet. „DerMariss, der kam aus dem fernen Riga, der war soanders als wir, so viel bürgerlicher. Er war sofortder Schwarm aller Mädchen.“ Später gesteht dergebürtige Lette Mariss Jansons in gemütlicherRunde bei Piroggen und Bliny, dass er in seinemersten russischen Diktate 47 Fehler hatte. Er er-­‐hielt keine Zensuren mehr, statt dessen Privatun-­‐terricht. „Nach drei Monaten“, so meint er vollerStolz, „habe ich nur noch vier Fehler im Diktatgehabt.“

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Der kleine Junge aus dem fernen Riga ist heuteeiner der Großen im ohnehin schon berühmtenKreis Petersburger Musiker. Die kleinen Zöglingein seiner Musik-­‐Spezialschule sprechen den Na-­‐men Jansons voller Ehrfurcht aus. Es sind sieben-­‐bis vierzehnjährige Jungen und Mädchen, die ne-­‐ben Russische und Geschichte, neben Mathema-­‐tik, Physik und Chemie noch mindestens fünfStunden am Tag Geige, Klavier, Cello oder Akkor-­‐deon (für die akademische Volksmusik!) üben. Seitdem Gastkonzert des Symphonieorchesters desBayerischen Rundfunks in St. Petersburg haben sieein neues Ziel entdeckt. „Wir möchten spätereinmal in diesem weltberühmten Orchester vonMariss Jansons in München spielen“, erklären siemit leuchtenden Augen.

Beitrag für das BR Intranet 2009.