Melos amoris. Die Musik der Mystik (Melos amoris: The Music af Mysticism)

22
23 Wolfgang Fuhrmann | Melos amoris: Die Musik der Mystik Melos amoris: Die Musik der Mystik Wolfgang Fuhrmann »Im Himel gar man nicht bedarff Der kunst Grammatic Logic scharff Geometrj / Astronomey Kein medicin / juristerey Philosophey / Rhetorica Allein die schöne Musica Do werdens all Cantores sein Gebrauchen diser Kunst allein Sie werden all mit rhum und preis Gott loben hoch mit gantzem fleiss« (Johann Walther) 1 Im späten 14. Jahrhundert widerfuhren der Hausfrau und Mutter Margery Kempe (ca. 1373 – nach 1439) in der Norfolker Hafenstadt Bishop’s Lynn (heute King’s Lynn) grauenhafte und wunderbare Dinge. Nach der Ge- burt ihres ersten Kindes verfiel sie in das, was die heutige Medizin eine postnatale Psychose nennen würde: Sie meinte, Teufel bedrohten sie und forderten sie auf, ihren Glauben, Gott, Maria und alle Heiligen, ihre Wer- ke und Tugenden, ihre Eltern und alle ihre Freunde zu verleugnen – und das tat Margery (»And also the develys cryed upon hir wyth greet thretyngys, and bodyn hir sche schuld forsake hir Crystendam, hir feyth, and denyin hir god, hys modyr, and alle the seyntys in hevyn, hyr goode werkys and alle good vertues, hir fadyr, hyr modyr, and alle hire frendys. And so sche dede.«). 2 Sie verfiel derart in Raserei, dass sie in ihrem eige- nen Haus festgehalten werden musste. Bis hierher ähnelt Margery Kempes Schicksal, wie sie es selbst im Al- ter, gegen 1439, einem Priester 3 diktierend der Nachwelt geschildert hat, eher der Karriere einer frühneuzeitlichen Hexe, und vielleicht wäre man wenig später mit ihr auch nach den hierbei bewährten Mustern verfah- ren. Aber die religiösen Symptome von Heiligen und Hexen liegen, wie der Mentalitätshistoriker Peter Dinzelbacher beobachtet hat, näher zu- sammen, als man es glauben möchte, und Margery Kempe war ein ande- res Schicksal bestimmt. 4 Ihrem Bericht nach trat die Wende durch eine Vision ein: Christus sei ihr erschienen und habe sie mit folgenden Worten angesprochen: »Toch- ter, warum hast du mich verlassen, wo ich dich niemals verließ?« (»Dowtyr, why hast thow forsakyn me, and I forsoke nevyr the?«) 5 Von da an kam Margery wieder zu Verstand und Vernunft (»was stabelyd in hir wyttys and in hir reson«) und fühlte sich als Dienerin Gottes. 6 Noch aber war sie nicht gewillt, ihren Stolz fahren zu lassen, wie er sich in ihrer kostbaren Kleidung (»pompows array«) 7 zum Ausdruck brachte. Und deswegen musste ein weiteres visionäres Exempel statuiert werden – obwohl hier, wie gleich zu sehen sein wird, korrekt von einer Audition zu sprechen wäre. 1 »Lob und Preis der löblichen Kunst Musica 1538«, Faksimi- le-Neudruck, mit einem Ge- leitwort hg. von Willibald Gurlitt, Kassel 1938, fol. C3 r C3 v . 2 The Book of Margery Kempe, hg. von Barry Windeatt, Har- low etc. 2000 (Longman An- notated Texts), S. 54. – Alle Übersetzungen, soweit nicht anders angegeben, stammen von mir. 3 Möglicherweise ihr Beicht- vater Robert Spryngolde, vgl. Windeatt, »Introduction«, in: Book of Margery Kempe (wie Anm. 2), S. 7. 4 Peter Dinzelbacher, Mittelal- terliche Frauenmystik, Pader- born etc. 1993, S. 285–303. 5 Book of Margery Kempe (wie Anm. 2), S. 56. 6 Ebenda. 7 Ebenda, S. 57.

Transcript of Melos amoris. Die Musik der Mystik (Melos amoris: The Music af Mysticism)

23Wolfgang Fuhrmann | Melos amoris: Die Musik der Mystik

Melos amoris: Die Musik der MystikWolfgang Fuhrmann

»Im Himel gar man nicht bedarffDer kunst Grammatic Logic scharff

Geometrj / AstronomeyKein medicin / juristereyPhilosophey / Rhetorica

Allein die schöne MusicaDo werdens all Cantores sein

Gebrauchen diser Kunst alleinSie werden all mit rhum und preis

Gott loben hoch mit gantzem fleiss«(Johann Walther)1

Im späten 14. Jahrhundert widerfuhren der Hausfrau und Mutter MargeryKempe (ca. 1373 – nach 1439) in der Norfolker Hafenstadt Bishop’s Lynn(heute King’s Lynn) grauenhafte und wunderbare Dinge. Nach der Ge-burt ihres ersten Kindes verfiel sie in das, was die heutige Medizin einepostnatale Psychose nennen würde: Sie meinte, Teufel bedrohten sie undforderten sie auf, ihren Glauben, Gott, Maria und alle Heiligen, ihre Wer-ke und Tugenden, ihre Eltern und alle ihre Freunde zu verleugnen – unddas tat Margery (»And also the develys cryed upon hir wyth greetthretyngys, and bodyn hir sche schuld forsake hir Crystendam, hir feyth,and denyin hir god, hys modyr, and alle the seyntys in hevyn, hyr goodewerkys and alle good vertues, hir fadyr, hyr modyr, and alle hire frendys.And so sche dede.«).2 Sie verfiel derart in Raserei, dass sie in ihrem eige-nen Haus festgehalten werden musste.

Bis hierher ähnelt Margery Kempes Schicksal, wie sie es selbst im Al-ter, gegen 1439, einem Priester3 diktierend der Nachwelt geschildert hat,eher der Karriere einer frühneuzeitlichen Hexe, und vielleicht wäre manwenig später mit ihr auch nach den hierbei bewährten Mustern verfah-ren. Aber die religiösen Symptome von Heiligen und Hexen liegen, wieder Mentalitätshistoriker Peter Dinzelbacher beobachtet hat, näher zu-sammen, als man es glauben möchte, und Margery Kempe war ein ande-res Schicksal bestimmt.4

Ihrem Bericht nach trat die Wende durch eine Vision ein: Christus seiihr erschienen und habe sie mit folgenden Worten angesprochen: »Toch-ter, warum hast du mich verlassen, wo ich dich niemals verließ?« (»Dowtyr,why hast thow forsakyn me, and I forsoke nevyr the?«)5 Von da an kamMargery wieder zu Verstand und Vernunft (»was stabelyd in hir wyttysand in hir reson«) und fühlte sich als Dienerin Gottes.6 Noch aber war sienicht gewillt, ihren Stolz fahren zu lassen, wie er sich in ihrer kostbarenKleidung (»pompows array«)7 zum Ausdruck brachte. Und deswegenmusste ein weiteres visionäres Exempel statuiert werden – obwohl hier,wie gleich zu sehen sein wird, korrekt von einer Audition zu sprechenwäre.

1 »Lob und Preis der löblichenKunst Musica 1538«, Faksimi-le-Neudruck, mit einem Ge-leitwort hg. von WillibaldGurlitt, Kassel 1938, fol. C3r–C3v.

2 The Book of Margery Kempe,hg. von Barry Windeatt, Har-low etc. 2000 (Longman An-notated Texts), S. 54. – AlleÜbersetzungen, soweit nichtanders angegeben, stammenvon mir.

3 Möglicherweise ihr Beicht-vater Robert Spryngolde, vgl.Windeatt, »Introduction«, in:Book of Margery Kempe (wieAnm. 2), S. 7.

4 Peter Dinzelbacher, Mittelal-terliche Frauenmystik, Pader-born etc. 1993, S. 285–303.

5 Book of Margery Kempe (wieAnm. 2), S. 56.

6 Ebenda.7 Ebenda, S. 57.

24 Wolfgang Fuhrmann | Melos amoris: Die Musik der Mystik

»On a nygth, as this creatur lay in hir beddewyth hir husbond, sche herd a sownd of me-lodye so swet and delectable, hir thowt, assche had been in paradyse. And therwythshe styrt owt of hir bedde and seyd: ›Alas,that evyr I dede synne, it is ful mery in he-vyn!‹ Thys melody was so swete that it pas-syd alle the melodye that evyr myght beherd in this world wythowtyn ony compar-yson, and caused this creatur, whan scheherd ony myrth or melodye aftyrward, forto have ful plentyvows and habundawntteerys of hy devocyon, wyth greet sobbyn-gys and syhyngys aftyr the blysse of heven,not dredyng the schamys and the spytys ofthe wretchyd world.«8

Was nicht einmal die visionäre Erscheinung Christi bewirkt hatte – dasbewirkt die Musik, die auf Margery Kempe wirkt wie ein Vorklang deshimmlischen Paradieses. Und diesmal ist die Wandlung dauerhaft undtiefgreifend, sie bestimmt Margerys gesamtes weiteres Leben.

»And evyr after this drawt, sche had in hirmende the myrth and the melodye that wasin heven, so mech that sche cowd not wylrestreyn hyrself fro the spekyng thereof. For,wher she was in ony cumpanye, sche woldsey oftyntyme: ›It is ful mery in hevyn!‹ Andthei that knew hir governawnce befortymeand now herd hir spekyn so mech of theblysse of hevyn seyd unto hir: ›Why spekeye so of the myrth that is in hevyn? Ye knowit not and ye have not be ther no mor thanwe‹ […].«9

Aber diese Behauptung ficht Margerys auditiv erlangte Gewissheit eben-so wenig an, wie sie sie auf ihrem neu eingeschlagenen Lebensweg irri-tiert. Von Stund an verspürt sie auch kein Bedürfnis mehr, ihre ehelichenPflichten zu vollziehen (»And aftyr this tyme she had nevyr desyr tokomown fleschly with hyre husbonde«)10, obwohl der Text betont, dasssie zuvor beide »gret delectacyon« dabei empfunden hätten.11

Margery gibt das Hausfrauendasein auf und wird zur visionärenMystikerin. Die Sehnsucht nach dem klingenden Himmelreich, die sie ver-spürt, treibt sie schon auf Erden dazu, die »cognitio Dei experimentalis«12

zu suchen, die »Erkenntnis Gottes aus eigener Erfahrung«, wie ihr Zeit-genosse Jean Gerson die Mystik definiert. Dass sie auf diesen Weg durchein musikalisches Erlebnis gebracht wird, ist vielleicht ein Extrem-, aberkein Einzelfall. Es ist sogar vermutet worden, dass Margerys nächtlicheAudition ihrerseits schon auf literarische Vorbilder zurückgreift, nämlichauf die Berichte der gleichfalls englischen Mystiker Richard Rolle undJulian of Norwich.13

Zunächst dürfte es sich aber empfehlen, der Musik der Mystik etwastiefergehend nachzuhorchen. Das Thema dieses Beitrags unterscheidet

8 Ebenda, S. 61f.9 Ebenda, S. 62.10 Ebenda.11 Ebenda, S. 63.12 Jean Gerson, Œuvres Complè-

tes 3, hg. von Pierre Glorieux,Paris 1962, S. 252, zitiert nachPeter Dinzelbacher, Christli-che Mystik im Abendland. IhreGeschichte von den Anfängenbis zum Ende des Mittelalters,Paderborn etc. 1994, S. 9.

13 Kommentar von Windeattzur Stelle in: Book of MargeryKempe (wie Anm. 2), S. 61.

Eines Nachts, als das Geschöpf [= Margery]mit ihrem Ehemann im Bett lag, hörte sie denKlang von so süßem und köstlichem Wohlge-sang, dass ihr dünkte, sie sei im Paradies. Undalsbald sprang sie aus ihrem Bett und sagte:»O weh, dass ich jemals gesündigt habe, esist gar fröhlich im Himmel!« Dieser Wohlge-sang war so süß, dass er alle Wohlgesänge derWelt vergleichslos übertraf, und er bewirktebei dem Geschöpf, dass sie, wann immer siespäter irgendwelche fröhlichen Wohlgesän-ge hörte, zahlreiche, überreiche Tränen vonhöchster Andacht vergoss, mit großenSchluchzern und Seufzern nach der Seligkeitdes Himmels, ohne die Schande und die Be-leidigungen der sündigen Welt zu fürchten.

Und von nun an, nachdem sie diese Sehn-sucht verspürt hatte, beherrschten die Fröh-lichkeit und der Wohlgesang des Himmelsall ihr Denken; so sehr, dass sie sich kaumenthalten konnte, darüber zu sprechen.Denn wann immer sie sich in Gesellschaftbefand, sagte sie oft und oft: »Es ist gar fröh-lich im Himmel!« Und diejenigen, die wuss-ten, wie sie sich früher benommen hatte,und sie nun soviel von der Seligkeit des Him-mels sprechen hörten, sagten zu ihr: »War-um sprecht Ihr soviel von der Fröhlichkeitim Himmel? Ihr kennt sie nicht und seiddort genausowenig gewesen wie wir« […].

25Wolfgang Fuhrmann | Melos amoris: Die Musik der Mystik

sich nicht unbeträchtlich von der Frage nach dem »klingenden Himmel-reich«, wie sie in den übrigen Studien dieses Hefts angesprochen wird.Dort gilt das Interesse der kosmologisch-numerologischen Spekulation,wie sie sich auf die platonisch-pythagoräischen Lehren der Antike zurück-führen lässt; hier gilt es im Gegenteil (wenn auch nicht im Widerspruch)den jüdisch-christlichen Vorstellungen von einer im und durch den Ge-sang sich vermittelnden Begegnung mit Gott und Himmelreich. Dabeidenkt man natürlich in erster Linie an die himmlische Liturgie und ihrenengelhaften Wohllaut, wie er sich den irdischen Heiligen in mystischenVisionen offenbart hat. Insbesondere jedoch gilt unser Interesse den spät-mittelalterlichen Versuchen, den Übertritt des eigenen Ichs in die ›uniomystica‹ als durch Musik ausgelöst, in Musik mündend, und zuletzt selbst:als Musik zu beschreiben.

I

Es ist hier weder nötig noch möglich, noch einmal die zahlreichen alt-und neutestamentarischen Belege anzuführen, die die reiche musikali-sche Entfaltung der himmlischen Liturgie zeigen.14 Beschränken wir unsauf die drei berühmtesten, weil in die christliche Liturgie eingegangenenGesänge: die Engelsgesänge des Sanctus (Jesaja 6,3) und des Gloria (Lu-kas 2,14) und das der Jenseitsvision der Apokalypse von den 24 Ältestenund den vier Wesen gesungene Alleluja (Offb 19,1–6). Eine prominenteRolle vor allem in der Messliturgie spielen diese Gesänge nicht nur, weilsie durch ihren himmlischen Ursprung und biblischen Wortlaut gehei-ligt, sondern auch, weil sie rein vokal dargeboten werden – denn im Ge-gensatz zum reichlichen Instrumentengebrauch im jüdischen Tempel-gottesdienst hat die christliche Kirche bis ins späte Mittelalter hinein dieexklusive Vokalität, den A-cappella-Gesang gepflegt.

Dies geschah vor allem deswegen, weil in der Kirche wie in ihrem spät-antiken heidnischen Umfeld ein Misstrauen gegenüber allen »veräußer-lichten« Formen des religiösen Kults herrschte; ein Misstrauen, das sichsogar bis zur Ablehnung kultischer Zeremonien insgesamt steigern konn-te und die reine, schweigende Verehrung im Geiste empfahl, das »geisti-ge Opfer«.15 Ganz so weit ging das Christentum zumindest in seinenHauptströmungen freilich nicht: Denn die hinter diesem völligen mysti-schen Rückzug in reine intellektuelle »Schau« stehende Ablehnung aller»niedrigen, geistfeindlichen« Materie vertrug sich schlecht mit der Schöp-fungstheologie. So fand man, insbesondere nach der Etablierung musika-lisch elaborierter Liturgien ab der schrittweisen Anerkennung des Chris-tentums durch das römische Imperium im 4. Jahrhundert, zu der Kom-promissformel, es sei stets mit Herz und Stimme zu singen – das heißt,nicht nur in bloß »ritueller« Verlautung der Gebete und Gesänge, auchnicht nur »ästhetisch« im Prunk sinnlich-kunstvoll geführter Stimmschön-heit, sondern »im Herzen«, also »existenziell« in der innerlichen intellek-tuellen und emotionalen Anteilnahme, schließlich in der Ausrichtung undÜbereinstimmung der ganzen Lebensführung auf die christliche Ethik.

14 Vgl. nur Reinhold Hammer-stein, Die Musik der Engel.Untersuchungen zur Musik-anschauung des Mittelalters,Bern / München 1962, undGerda Laube-Przygodda, Dasalttestamentliche und neu-testamentliche Gotteslob inder Rezeption durch die christ-lichen Autoren des 2. bis 11.Jahrhunderts, Regensburg1980 (Kölner Beiträge zur Mu-sikforschung 104), S. 23–35.

15 Vgl. Odo Casel, »Die logik¾qus…a der antiken Mystik inchristlich-liturgischer Umdeu-tung«, in: Jahrbuch für Litur-giewissenschaft 4 (1924/21974),S. 37–47; Helmut Hüschen,»Musik der ›Anbetung imGeiste‹«, in: Karl Gustav Fel-lerer (Hg.), Geschichte der ka-tholischen Kirchenmusik, Bd.I: Von den Anfängen bis zumTridentinum, Kassel etc. 1972,S. 31–36; Arnold Angenendt,Geschichte der Religiosität imMittelalter, Darmstadt 1997,S. 359–363.

26 Wolfgang Fuhrmann | Melos amoris: Die Musik der Mystik

Der Topos von »Herz und Stimme« markiert die Überschneidung dieserdrei Problemzonen des liturgisch-zeremoniellen, des ästhetischen und desexistenziell-ethischen Bereichs im christlichen Gesang.16 Er ist auch fürdie musikalische Mystik und ihr eigentümliches Verhältnis von äußeren(irdischen) und inneren (geistlichen) Sinnen, von Wahrnehmbarkeit undNicht-Wahrnehmbarkeit, von körperlich hervorgebrachten und rein spiri-tuellen Klängen von Bedeutung.

Vorbild und Ziel der irdischen Liturgie und ihrer musikalischen Kom-ponenten ist die Musik der neun Engelschöre, die immerwährend zele-brierte himmlische Liturgie. Ziel und Sehnsucht des Christenmenschenist das himmlische Paradies, die mystische Schau Gottes und die Teilnah-me im zehnten Chor, der nach dem Ende aller Zeiten die Erwählten unterden Menschen mit den Engeln zum ewigen Lobpreis vereinen wird. WieJohann Walther sagte: »Do werdens all Cantores sein.« Von dieser Sehn-sucht nach der überirdischen musikalischen Verklärung ist alles christli-che Dasein geprägt, mag es auch im Schein büßender Demut, in Sack undAsche einherschreiten. Und diejenigen, die versuchen, sich durch bestimmteasketische Übungen, durch Meditation und Kontemplation schon hienie-den, und sei es auch nur für Momente, zur seligmachenden Schau Got-tes, der ›visio beatifica‹ emporzuschwingen – die Mystiker also –, bege-ben sich hier in eine semantische Sphäre, die sensu stricto dem Unaus-sprechlichen angehört, jenseits des sprachlich Artikulierten nur noch inMetaphern umschrieben werden kann – die aber von Gesängen durch-flutet wird, von denen jene, die sie vernommen haben, uns übereinstim-mend ihre ganz unaussprechliche Schönheit versichert haben.

Der bedeutendste und wirkmächtigste Theologe unter den Kirchen-vätern, Aurelius Augustinus, Bischof von Hippo (354–430), war es, der alserster die Schlussfolgerung gezogen hat, dass der überbegrifflichen, un-aussprechlichen Herrlichkeit Gottes einzig die »absolute«, nicht mehrtextgebundene Vokalise entspricht:

»Quid est in iubilatione canere? Intelligere,verbis explicare non posse quod canitur cor-de. […] Iubilum sonus quidam est signifi-cans cor parturire quod dicere non potest.Et quem decet ista iubilatio, nisi ineffabi-lem Deum? Ineffabilis enim est, quem farinon potes: et si eum fari non potes, et tace-re non debes, quid restat nisi ut iubiles; utgaudeat cor sine verbis, et immensa latitu-do gaudiorum metas non habeat syllabar-um? Bene cantate ei in iubilatione.«17

Lassen wir die umstrittene Frage, ob Augustinus mit Äußerungen wiedieser eine bestimmte Praxis fordert oder gar eine konkrete Gattung vonKirchengesängen anspricht, beiseite. Wesentlich ist, dass hier wohl erst-mals die Idee formuliert wird, Musik könne gerade durch ihre Unbegriff-

16 Wolfgang Fuhrmann, Herzund Stimme. Innerlichkeit, Af-fekt und Gesang im Mittelal-ter, Kassel 2004 (Musiksozio-logie 13).

17 Aurelius Augustinus, Enarra-tiones in Psalmos, hg. von D.Eligius Dekkers OSB und Jo-hannes Fraipont, Turnhout1956 (Corpus ChristianorumSeries Latina 38–40: AureliiAugustini opera, pars X: 1–3),in psalmum 32, 2, I, 254. Über-setzung nach Fuhrmann,Herz (wie Anm. 16), S. 116. – Vgl.zum Folgenden den grund-legenden Aufsatz von Her-bert Grundmann, »Jubel«, in:Ders., Ausgewählte Aufsätze,Teil 3: Bildung und Sprache,Stuttgart 1978 (Schriften derMonumenta Germaniae His-torica 25/3), S. 130–162 (zu-erst in: Benno von Wiese /Karl Heinz Borck [Hg.], Fest-schrift für Jost Trier zu seinem50. Geburtstag am 15. Dezem-ber 1954, Meisenheim/Glan1954, S. 477–511).

»Was bedeutet: in der Jubilatio singen? Mitdem Verstand nicht erfassen, mit Wortennicht erklären zu können, was im Herzengesungen wird. […] Ein iubilum ist ein un-bestimmter Laut, der anzeigt, dass das Herzetwas hervorbringt, was es nicht sagenkann. Und wem sollte eine solche Jubilatiogebühren, wenn nicht dem unsagbarenGott? Unsagbar nämlich ist Er, den du nichtzu sagen vermagst, und wenn du Ihn nichtsagen kannst, und nicht schweigen darfst,was bleibt dir als zu jubeln, damit sich dasHerz ohne Worte freue, und die unermess-liche Weite der Freuden nicht das Maß derSilben kenne? Singet ihm trefflich in der Ju-bilatio!«

27Wolfgang Fuhrmann | Melos amoris: Die Musik der Mystik

lichkeit das Unbeschreibliche fassen oder symbolisieren. Das legt dieÜbertragung auf die mystische Gotteserfahrung nahe. Und mag man die-sen Zusammenhang bei Augustinus allenfalls angedeutet finden, so wirder in der Rezeption der augustinischen »jubilatio«, bei Papst Gregor demGroßen (c. 540–604) explizit. Gregor kommentiert den in diesem Zusam-menhang ja sich geradezu aufdrängenden Vers 33,26 aus dem Buch Hiob:»Et videbit faciem eius in iubilo« (hier etwa zu übersetzen: Und er wirdsein Gesicht im Jubilus sehen) folgendermaßen.

»Iubilum namque dicitur, quando ineffabi-le gaudium mente concipitur, quod nec abs-condi possit, nec sermonibus aperiri; et ta-men quibusdam motibus proditur, quam-vis nullis proprietatibus exprimatur. […] Sen-titur per [iubilationem] quippe, quod ultrasensum est. Et cum vix ad hoc contemp-landum sufficiat conscientia sentientis, qu-omodo ad hoc exprimendum sufficiat lin-gua dicentis[.]«18

In unmittelbarem Anschluss entwickelt Gregor eine jener typischen Drei-schritt-Aufstiegslehren aus Reinigung, Erhebung und Einung19, die sichimmer wieder in der Theorie der Mystik finden:

»Menti enim nostrae de consideratione cae-citatis suae prius ignis tribulationis immit-titur, ut omnis vitiorum aerugo concreme-tur; et tunc mundatis oculis cordis illa lae-titia patriae caelestis aperitur, ut prius pur-gemus lugendo quod fecimus; et postmo-dum manifestius contemplemur per gaudiaquod quaeramus. […] Quia ergo post labor-um certamina, post temptationum fluctus,saepe in excessu anima suspenditur, ut cog-nitionem divinae praesentiae contemple-tur, quam tamen praesentiam et sentirepossit, et explere non possit; recte post totlabores de hoc temptato dicitur: Videbit fa-ciem eius in iubilo.«20

Dieser Zusammenhang von mystischem Aufstieg und dem ›iubilum‹ (der›iubilatio‹, dem ›iubilus‹ – auf das Geschlecht kommt es in himmlischenDingen nicht an) gehört von nun an zu den festen Ideenverbindungen,wann immer über Mystik gepredigt oder gelehrt wird. Nicht notwendiger-weise müssen dabei tatsächlich immer konkrete musikalische Vorstel-lungen oder gar Äußerungen im Spiel gewesen sein; bei einem so bedeu-tenden und einflussreichen Mystiker wie Bernhard von Clairvaux hat manzum Beispiel den Eindruck, ›iubilus‹ sei ihm nur eine andere Umschrei-bung für Begriffe wie ›raptus‹, ›extasis‹ oder ›excessus mentis‹; Begriffe,

18 Gregorius I., Moralia in IobXXIV, 6, hg. von Marc Adriaen,3 Bde., Turnhout 1979–1985(Corpus Christianorum SeriesLatina 143/143A/143B), II, S.1194f. Übersetzung nach Fuhr-mann, Herz (wie Anm. 16), S.150f.

19 Angenendt, Geschichte (wieAnm. 15), S. 548.

20 Gregorius I., Moralia (wieAnm. 18), S. 1195f.

»Jubilum wird es nämlich genannt, wennim Geist unaussprechliche Freude empfan-gen wird, die weder verborgen werden kann,noch durch die Rede eröffnet, und sich den-noch durch gewisse Bewegungen äußert,obwohl sie sich durch keinerlei bestimmteEigenschaften ausdrückt. […] Durch die Ju-bilatio wird nämlich gefühlt, was jenseitsder Sinne ist. Und wenn das Bewusstseindes Fühlenden kaum hinreicht, das zu be-trachten, wie könnte dann die Sprache desRedenden hinreichen, es auszudrücken?«

Unserem Geist wird nämlich, da seine Blind-heit mitbedacht wird, zuerst das Feuer derPrüfungen eingeflößt, damit aller Grünspander Laster verbrannt werde; und danachwird den gereinigten Augen des Herzensjene Fröhlichkeit des himmlischen Vater-lands eröffnet, auf dass wir zuerst entsühntwerden, indem wir das beklagen, was wirgetan haben, und danach können wir offen-barer durch die Freude das beschauen, waswir gesucht haben. […] Weil die Seele alsonach den Kämpfen der Mühseligkeiten, nachden Wogen der Versuchungen, oft in die Ek-stase erhoben wird, dass sie die Erkenntnisder göttlichen Gegenwart beschauen kann– wobei sie diese Gegenwart jedoch zwarspüren kann, aber nicht erfassen –, so wirdnach soviel Plagen zu Recht von dem so Ver-suchten gesagt: Er wird sein Gesicht im Ju-bilus sehen.

28 Wolfgang Fuhrmann | Melos amoris: Die Musik der Mystik

die die Ekstase, die ›unio mystica‹, die Vereinigung der menschlichen Seelemit Gott bezeichnen. Ist es denn mehr als eine rhetorische ›amplificatio‹,wenn Bernhard etwa sagt: »und lasst uns ausschreiten in ungewohnteAffekte, geistliche Fröhlichkeiten, in jubelnde Schönheiten, ins Licht Got-tes, in die Lieblichkeit, in den Heiligen Geist« (»et excedamus per inusi-tatas quasdam affectiones, spirituales laetitias, in iubileis amoenitatibus,in lumine Dei, in suavitate, in Spiritu Sancto«)?21

Die Beziehung zwischen Musik und Mystik bleibt so, wie es scheint,auf einer metaphorischen Ebene: ›jubilus‹ ist einfach nur ein andererAusdruck für die mystische Ekstase, und dass sich damit keinerlei Laut-äußerung verbindet, wird durch Formulierungen wie ›jubilus mentis‹(Jubilus des Geistes) oder ›jubilus cordis‹ (Jubilus des Herzens) bei man-chen hoch- und spätmittelalterlichen Autoren wie Bruno von Köln undRichard von St. Viktor noch unterstrichen.22

Nichtsdestoweniger erscheint im selben Zeitraum, und vor allem imausgehenden Mittelalter, die göttliche Gegenwart manchen Mystikerngeradezu mit Musik durchflutet. Die liturgischen Gesänge – real oder vi-sionär – lassen sie in den ›raptus‹ verfallen. Die Gotteserfahrung begeis-tert sie zu ekstatischen Gesängen. Und manchmal scheint es, als wärediese Erfahrung selbst nichts anderes als eine Musik von übersinnlicher,unaussprechlicher Schönheit. Das sei im Folgenden an drei Beispielenbelegt, die die ganze Breite des hier umschriebenen Spektrums umfas-sen: an der belgischen Begine Maria von Oignies, dem deutschen Mysti-ker Heinrich Seuse und dem englischen Eremiten Richard Rolle.

II

Die Frauenmystik, ein Teil des oft bestaunten Phänomens »religiöse Frau-enbewegung im hohen und späten Mittelalter« und wie dieses in ihrenUrsachen und ihrer Erfolgsgeschichte immer noch nicht ganz erklärt23,ist in vieler Hinsicht inspiriert von den mystischen Lehren eines Bernhardvon Clairvaux und seiner Zeitgenossen. Aber wie in vielen Bereichen desgeistlichen Lebens hat die Frauenbewegung auch hier eine bloße Meta-pher in die Realität geholt und die bildlich gemeinte Rede vom Jubilus inklingende Wirklichkeit verwandelt. Von Christina von Stommeln (1242–1312) bis mindestens ins 15. Jahrhundert hinein wird uns von verzücktenVokalisen berichtet. Der anderswo vorgelegten, freilich bei weitem nichtvollständigen Darstellung24 sei hier nur noch ein Bericht hinzugefügt, derwohl am Anfang dieser Tradition steht: Bischof Jakobs von Vitry Vita derbelgischen Begine Marie d’Oignies (ca. 1177–1213). Am Ende ihres Lebens,so schreibt Jakob von Vitry, habe Maria plötzlich zu singen begonnen:

»Extersit enim Deus omnem lacrymam aboculis ancillæ suæ, & implevit cor ejus ex-ultatione, & labia ejus modulatione. Ince-pit enim alta voce & clara cantare, nec ces-savit spatio trium dierum & noctium Deumlaudare, gratias agere, dulcissimam canti-lenam de Deo, de sanctis Angelis, de beata

21 Sermones super Canticumcanticorum 13, 7, 7, in: SanctiBernardi Opera 1, hg. von JeanLeclercq, C. H. Talbot und H.M. Rochais, Rom 1957, S. 74.

22 Vgl. Fuhrmann, Herz (wieAnm. 16), S. 291—294.

23 Immer noch unerreicht: Her-bert Grundmann, ReligiöseBewegungen im Mittelalter.Untersuchungen über die ge-schichtlichen Zusammen-hänge zwischen der Ketzerei,den Bettelorden und der reli-giösen Frauenbewegung im12. und 13. Jahrhundert undüber die geschichtlichenGrundlagen der deutschenMystik, Darmstadt 1960 (Ber-lin 1935 [Historische Studien267]).

24 Fuhrmann, Herz (wie Anm.16), S. 295–320. Vgl. Grund-mann, Jubel (wie Anm. 17).Vgl. auch Bardo Weiß, Eksta-se und Liebe. Die Unio mysti-ca bei den deutschen Mysti-kerinnen des 12. und 13. Jahr-hunderts, Paderborn etc. 2000,S. 106–110.

Gott nämlich wischte alle Tränen von denAugen seiner Magd und erfüllte ihr Herzmit Überschwang, und ihre Lippen mit Ge-sang. Sie begann nämlich mit lauter undheller Stimme zu singen und hörte für dieZeit von drei Tagen und drei Nächten nichtdamit auf, Gott zu loben, Dank zu sagen, die

29Wolfgang Fuhrmann | Melos amoris: Die Musik der Mystik

Virgine, de Sanctis aliis, de amicis suis, dedivinis Scripturis, rithmice dulci modulatio-ne contexere: nec deliberabat an sententi-as inveniret, nec morabatur ut inventas rith-mice disponeret; sed velut ante se scribe-rentur, dabat ei Dominus in illa hora quidloqueretur. […] Unus autem de Seraphim, utvidebatur ei, alas suas super pectus suumexpandebat: quo ministrante & dulciterassistente, inspirabatur eidem carmen ab-sque ulla difficultate. Cum autem tota dieusque ad noctem clamasset, raucæ factæsunt fauces ejus, ita quod in principio noc-tis vix aliquam vocem poterat edere.«25

Und darüber sei der Prior des Augustinerklosters von Oignies, in dessenNähe sich Marias Eremitenzelle befand, ganz froh gewesen, denn er habebefürchtet, dass die Kirchenbesucher am folgenden Sonntag an diesemGesang Anstoß nehmen könnten. Doch der Prior freute sich zu früh:

»Angelus enim Domini illa nocte abstule-rat omnem raucitatem a gutture, immit-tens pectori ejus miræ suavitatis unctio-nem: & sic reparatis arteriis & renovatavoce; per totam fere diem non cessavit a Deilaude.«26

Von den meisten späteren Berichten über jubilierende Mystikerinnenunterscheidet sich dieser insofern, als Maria von Oignies in ihrem inspirier-ten Zustand keine bloße ekstatische Vokalise von sich gibt (wie etwa Chris-tine von Stommeln: »vnica tamen esse audiebatur eratque modulacioneordinata, sed non in verba distincta«)27, sondern bei aller Entrückung dochvon konkreten Gegenständen und Themen singt. In dieser Hinsicht äh-nelt sie eher einer ›prophetissa‹ wie Hildegard von Bingen. Hinzu kommt,dass sich Maria mit einer Gelehrtheit äußert, die staunen macht, und inder Gelehrtensprache Latein, derer sie eigentlich gar nicht fähig war.

»Primo autem summo & supremo tono An-tiphonam suam inchoavit a sancta scilicetTrinitate, Trinitatem in Unitate, & Unitatemin Trinitate diutissime laudans, & mirabiliaquasi ineffabilia cantilenæ suæ interserens.Quædam etiam de divinis Scripturis, novo& mirabili modo exponens; de Euangelio, dePsalmis, de novo & de veteri Testamentoquæ numquam audierat, multa & subtili-ter edisserens. A Trinitate vero ad Christidescendit humanitatem, dehinc ad beatamVirginem, ab hinc de sanctis Angelis, & deApostolis, & de aliis sequentibus Sanctismulta pronuntians. Tandem quasi in ultimo& infimo puncto de amicis suis, qui adhucin mundo sunt, multa dicens; Dominoque

25 Jacobus de Vitriaco, Vita B.Mariae Oigniacensis, in Bel-gio, lib. II, c. c. 11: »De cantuejus ante infirmitatem«, Ac-ta sanctorum Iun. IV, 1707, S.636–666, hier S. 662f.

26 Ebenda, S. 663.27 Hier zitiert nach Fuhrmann,

Herz (wie Anm. 16), S. 298f.

süßesten Gesänge von Gott, den heiligenEngeln, der seligen Jungfrau, anderen Hei-ligen, ihren Freunden und der heiligenSchrift in Versform und süßer Melodie zuverfassen. Und sie suchte weder nach dempassenden Ausdruck, noch verweilte sie, umdas Gefundene ins Versmaß zu fassen, son-dern als ob es vor ihr geschrieben stünde,gab ihr Gott in dieser Stunde, was sie zusagen hatte. […] Es schien ihr aber, dass ei-ner der Seraphim seine Flügel über ihrerBrust ausbreitete, und indem dieser ihrdiente und liebreich beistand, wurde ihrGesang ohne jede Schwierigkeit inspiriert.Da sie aber den ganzen Tag bis in die Nachthinein laut gesungen hatte, wurde ihre Keh-le so heiser, dass sie bei Einbruch der Nachtkaum noch ein Wort sprechen konnte.

Denn der Engel des Herrn nahm ihrer Kehlein jener Nacht alle Heiserkeit, indem er ihreBrust mit einer Salbung von wunderbaremWohlduft versah, und so, mit wiederherge-stellter Luftröhre und erneuerter Stimm-kraft, hörte sie den ganzen Tag nicht auf,Gott zu loben.

Zuerst begann sie nämlich im höchsten undobersten Ton [?] ihre Antiphon von der hei-ligen Dreifaltigkeit, wobei sie die Dreifaltig-keit in der Einheit, und die Einheit in derDreifaltigkeit über einen langen Zeitraumlobte, und unaussprechlich Wunderbares inihren Gesang einfügte. Manches nämlichaus der Heiligen Schrift erklärte sie in einerneuen und wunderbaren Weise; viele Din-ge aus den Evangelien, den Psalmen, demalten und neuen Testament, die sie niemalsgehört hatte, erläuterte sie vieles auf scharf-sinnige Weise. Von der Dreifaltigkeit stiegsie herunter zur Menschheit Christi, vondort zur heiligen Jungfrau, danach erzähl-te sie vieles von den heiligen Engeln, den

30 Wolfgang Fuhrmann | Melos amoris: Die Musik der Mystik

singillatim per ordinem commendans, mul-tas pro eis orationes ad Dominum profudit:& hæc omnia rithmice & lingua Romanaprotulit.«28

In der Folge berichtet Jakob von Vitry staunend und offensichtlich ohnejeden Anstoß daran zu nehmen, dass hier eine Ekstatikerin sich das kirch-liche Lehramt anmaßte, über die theologischen Aussagen der Maria vonOignies (beispielsweise: dass die heilige Jungfrau schon im körperlichenZustand verherrlicht worden sei).29 Er berichtet auch, dass sie im Gebetnicht nur einen Prediger (›praedicator‹) ihrer Bekanntschaft dem Herrnempfohlen, sondern auch detailliert dessen Versuchungen und einstigeSünden aufgezählt habe, was den oben erwähnten Prior, der auch derBeichtvater jenes Predigers war, in größtes Erstaunen versetzte.30 Mariaschließt ihren Gesang mit dem Canticum Simeonis, dem »Nunc dimittis«,um zu bekräftigen, dass sie um die Nähe ihres eigenen Todes weiß.

Ein Bezug zwischen Prophetie und Musik ist schon aus dem biblischenBericht über den Propheten Elisa überliefert (2 Könige 3,15). Dort aber istes der Prophet, der durch einen Saitenspieler in visionäre Ekstase versetztwerden muss; ähnliche Praktiken sind aus einer Reihe von Kulten rundum den Globus bekannt, und wir werden gleich sehen, wie Heinrich Seusedurch liturgische Gesänge in Verzückung versetzt wurde. Maria vonOignies aber – und das verbindet sie nun doch mit den anderen Mystiker-innen des Mittelalters – äußert sich von selbst, spontan und bereits imZustand, ja als Folge dieser Verzückung durch das Medium des melodi-schen Gesangs – als wolle sie über die diskursiv darstellbaren Glaubens-wahrheiten hinaus das Unsagbare in Tönen offenbaren.

III

Im Dreigestirn der deutschen Mystik – Meister Eckhart, Heinrich Seuse,Johannes Tauler – ist Seuse (gest. 1366) wohl der einzige, der für musika-lische Erfahrungen empfänglich gewesen ist. Das hängt zusammen mitseinem Gottesbegriff, der nicht nur die Unaussprechlichkeit, Unbegreif-lichkeit Gottes betont, sondern auch die Bedeutung des affektiven mysti-schen Zugangs, die vor allem durch die Franziskaner (Bonaventura) er-folgte Aufwertung der affektiven gegenüber der rationalen, abstrahie-renden, intellektuellen Gottessuche. »Ich bin in mir selben daz unbegriffengut, daz ie waz und iemer ist, daz nie gesprochen wart und niemer gespro-chen wirt«, sagt die Ewige Weisheit bei Seuse: »Ich mag mich wol demherzen inrlich ze enphinden geben, aber enkein zunge mag mich eigent-lich gewörten noh gesprechen.«31

In diesem Weg über das »niedere«, »körpernahe« Seelenvermögendes Affekts steht Seuse der Frauenmystik nahe.32 Das gilt auch für die

28 Jacobus, Vita B. Mariae (wieAnm. 25), S. 663.

29 Ebenda.30 Ebenda.31 Büchlein der Ewigen Weisheit,

c. 7, in: Karl Bihlmeyer (Hg.),Heinrich Seuse. DeutscheSchriften, Stuttgart 1907 (Re-print Frankfurt a.M. 1961), S.223.

32 Arnold Angenendt, »Die Li-turgie bei Heinrich Seuse«,in: Franz J. Felten / NikolasJaspert / Stephanie Haarlän-der (Hg.), Vita Religiosa imMittelalter. Festschrift für Kas-par Elm zum 70. Geburtstag,Berlin 1999 (Berliner histori-sche Studien 31: Ordensstu-dien 13), S. 877–897, hier S.884, mit Verweis auf Alois M.Haas, Gottleiden – Gottlie-ben. Zur volkssprachlichenMystik im Mittelalter, Frank-furt a.M. 1989, S. 109–126.

Aposteln und anderen, späteren Heiligen.Zuletzt, gleichsam als letzten und niedrigs-ten Punkt, sprach sie viel von ihren noch le-benden Freunden; sie empfahl sie alle ein-zeln und der Reihe nach dem Herrn an undbrachte viele Gebete für sie beim Herrn vor:und all das trug sie im Versmaß und in derlateinischen Sprache vor.

31Wolfgang Fuhrmann | Melos amoris: Die Musik der Mystik

liturgischen Visionen, über die Seuse berichtet, und die besonders umdie Morgen- und die Abendzeit stattfinden (also in den Übergangsphasenzwischen Wachen und Schlaf; auch ein Traum kann ja als Vision empfun-den werden). In auffälligem Gegensatz zu den beiden anderen hier zubehandelnden Mystikern bindet sich Seuse an die konkreten liturgischenTageszeiten, ja an die Gesänge der Liturgie, um sie sogleich in eine Be-gegnung von Himmel und Erde zu überführen. (Auf den Ort der »bildhaf-ten« Visionen in Seuses mystischem Denken – und auf die Frage, wie weites sich hier um »bildhafte Sprechweisen« handelt – kann ich hier nichteingehen.)33 In seinem Lebensbericht schildert Seuse folgende Vision:

»Einest an der vasnaht hat er sin gebet gezogen, unz daz der wahter den tag blies. Alsogedaht er: ›sizz enklein, e daz du den liehten morgensternen enpfahest.‹ Und do im also einvil klein die sinne in ein ruw kamen, do erhuben die himelschen jungling mit hoher stimmedaz schoe n respons: Illuminare, illuminare Jerusalem etc., und daz erklang als unmesseklichsüzz enmiten in siner sele. Do sú kumme ein vil wenig gesungen, do wart dez himelschengedoe nes dú sel als vol, daz sin der krank lip nit me moht erliden, und giengen im dú ogen uf,und daz herze gieng úber und flussen die inbrúnstigen trehen úber abe.«34

Das erinnert fast wörtlich an Augustinus’ Bericht in den Confessiones überdie Tränen, die er beim Hören des Mailänder Kirchengesangs vergoss:

»Quantum flevi in hymnis et canticis tuissuave sonantis ecclesiae tuae vocibus com-motus acriter! Voces illae influebant auri-bus meis et eliquabatur veritas in cor meumet exaestuabat inde affectus pietatis, etcurrebant lacrimae, et bene mihi erat cumeis.«35

Man muss nicht unbedingt annehmen, dass Seuse diese – im Mittelal-ter gleichwohl viel zitierte Stelle – im Sinn hatte: Die Auffassung desreifen Augustinus, die Kirchenmusik sei dazu nötig, die Affekte zu be-wegen und das von den alltäglichen Sünden und weltlichen Sorgen ver-härtete Herz zu erweichen, ist im Mittelalter weit verbreitet. Seuse über-trägt diese Funktion nur auf den Gesang der »himelschen jungling«,die das zur anbrechenden Morgenstunde passende Responsorium Illu-minare singen.

Auch die beiden anderen hier zu berichtenden Visionen Seuses ereig-nen sich zur Morgenstunde:

»Des liehten morgens, do man daz froe lich gesang von dem veterlichen glanz der ewigenwisheit solt singen ze messe: Lux fulgebit, do waz der diener des morgens in siner kapell inein stilles rue wli siner ussren [äußeren] sinnen komen. Do waz im vor in einer gesicht, wie erwurdi gefue ret in einen kor, da man mess sang. In dem kor waz ein groe ssú schar dez himel-schen ingesindes, von gote dar geschiket, daz sú sungin ein sue ss melodie dez himelschengedoe nes. Daz taten sú und sungen ein núws froe lich gedoe ne, daz er nieme hat gehoe ret, unddaz waz als sue zz, daz in duchte, daz sin sel zerflussi von rehten froe den.« 36

Auch in diesem »neuen fröhlichen Getöne« verbirgt sich wohl eine Anspie-lung auf das in der Bibel geforderte »neue Lied« (in mehreren Psalmenund in Jes 42,10). Es ist interessant, dass Seuse diese Bemerkung zu einerZeit macht, in der nicht nur zahlreiche neue einstimmige Messkomposi-tionen, sondern auch erste Ansätze zur mehrstimmigen Messe zu ver-

33 Vgl. dazu Angenendt, Litur-gie (wie Anm. 32), insbeson-dere S. 880–885.

34 Leben Seuses, Kap. V., in: Deut-sche Schriften (wie Anm. 31),S. 18.

35 Augustinus, Confessiones IX:6,14, hier zitiert nach Augus-tinus, Bekenntnisse, zweispra-chige Ausgabe, aus dem La-teinischen von Joseph Bern-hart, Frankfurt a.M. 1987 (lat.Text nach Saint Augustin,Confessions, texte établi ettraduit par Pierre de Labri-olle, Paris I 51950, II 31947), S.446.

36 Seuse, Briefbüchlein, VIII. Brief,in: Deutsche Schriften (wieAnm. 31), S. 385f.

Wieviel ich geweint habe bei deinen Hym-nen und Gesängen, heftig bewegt durch dieStimmen deiner süß klingenden Gemeinde!Jene Stimmen flossen in meine Ohren unddie Wahrheit wurde ausgeschüttet in meinHerz und daraus kochte der Affekt der Fröm-migkeit über, und es flossen die Tränen, undwohl war es mir mit ihnen.

32 Wolfgang Fuhrmann | Melos amoris: Die Musik der Mystik

zeichnen sind. In einer für das Spätmittelalter nicht seltenen Weise istdiese Vision, wie sich gleich zeigen wird, interaktiv angelegt:

»Aber sunderlich do wart daz Sanctus so gar herlich gesungen, und er hub och an und sangmit in. Do man kam an daz wort: Benedictus qui venit, do erhuben sú ihre stimmen gar hohe,und do hub och der priester unsern herren uf [das heißt, er hob die Hostie nach der Wand-lung]. Den sah der diener an mit einem demütigen erbietene siner waren lieplichen gegen-wúrtikeit, und ducht in, daz neiswaz [etwas wie] minneklichen vernúnftigen glastes von imtrungi gen siner sele, daz unsprechlich ist allen zungen. Und in dem so ward sin herz undsele als vol núwer inhizziger begirde und inres liehtes, daz es im zemal alle sin kraft benam;es waz neiswi, als so sich herz mit herzen in blosser vernúnftklicher wise vereinet. Und kamalso in ein zerflossenheit siner sele, daz er ime kein liplich glichnuss kond geben. [… nach derEkstase:] Und in dem nidersigene kam er wider zu im selben und tet dú usren ogen uf, dúwaren vol trehen, und sin sel waz vol liehter gnaden. Und gieng hin fúr den alter, da unsersherren fronlichnam waz, und tonde verborgenlich daz gedöne: Benedictus qui venit, als diegeischlichen klenke dennoh in siner sel waren.«37

Immer noch tönen also die geistlichen Klänge des Benedictus in SeusesSeele nach und nicht zufällig verfällt er zu dem Zeitpunkt in Ekstase, alsin der Messliturgie zu eben diesem Benedictus die höchste Annäherungzwischen Gott und Mensch erreicht ist, nämlich der Moment der Wand-lung und Erhebung (Elevation) der Hostie, ein Brennpunkt spätmittelal-terlicher Frömmigkeit, mit dem sich allerlei Aber- und Wunderglaubenverband.

Die letzte und zugleich umfangreichste der musikalischen VisionenSeuses geht in der Eigeninitiative des Visionärs noch einmal einen Schrittweiter. Nun lässt er sich nicht nur singen, singt auch nicht nur mit, son-dern singt selbst, aus eigenem Abtrieb. Anlass ist die Erscheinung der Jung-frau Maria mit ihrem neugeborenen Kind, ein sehr beliebtes Visionsmotiv,das sich in unzähligen spätmittelalterlichen Berichten findet, insbeson-dere bei der Weihnachtsfeier. Seuse widerfährt diese Erscheinung jedochzur Lichtmess Mariä (Purificatio Mariae, 2. Februar).

»So denn der tag kom der kerzwihi, frue , e daz ieman ze kilchen giengi, so gieng er fúr fronal-ter und wartet da in siner betrahtunge der kindbeterin, wenn sú keme mit irem himelschenhorde. Do sú nahte der ussren porte der stat, so fúrlúf er in sines herzen begirde sú alle, undlúf ir engegen mit dem gezoge aller gotesminnenden herzen. Er viel in der strasse fúr si[etwa fiel vor ihr auf die Knie] und bat si still haben mit ir gezoge ein wili, unz daz er ir einsgesungi. Er hub denn uf und sang mit geischlichem stillen gedoe ne, daz der mund gie und esdoch nieman horte, die prose: Inviolata etc., so er iemer minneklichest konde, und neig irvon grunde, so er daz sang: O beningna, o beningna, und bat si, daz si die milten gue ti aneinem armen súnder erzoe gti, und stund denn uf und volgete ir mit siner geischlichen kerzenin begirde, daz si die brinnenden flammen des goe tlichen liehtes in im niemer liessi erloe schen.Dar na so er denn zu der schar aller minnenden herzen kom, dien hub er denne an daz gesang:Adorna etc., und ermant sú, daz sú minneklich den heilant enpfiengin und begirlich sinkind|beterin umbfiengin; und furten sie also mit lobe und gesange unz zu dem tempel.«38

Seuse betont hier, er habe mit »geistlichem stillen Getöne« gesungen,»so, dass sich der Mund bewegte und es doch niemand hörte«. Es han-delt sich hier, im Gegensatz zu Maria von Oignies, aber (wie sich zeigenwird) in Übereinstimmung mit Richard Rolle, um »innerliches« Singen, umdas Singen des Herzens statt des Mundes. Und doch geht es hier nicht,wie man es bei manchen Theoretikern des ›Jubilus cordis‹ argwöhnt, umein bloßes Bild, sondern um einen ganz konkreten Gesang, die Prosa Invio-lata, integra et casta es, Maria und (wie Seuse etwas später berichtet) die

37 Ebenda, S. 385.38 Leben Seuses, c. 10, in: Deut-

sche Schriften (wie Anm. 31),S. 29f.

33Wolfgang Fuhrmann | Melos amoris: Die Musik der Mystik

Antiphon Adorna (thalamum tuum). Es geht, vielleicht sogar erstmals inder Musikgeschichte, um die Imagination des Singens, um sein inneresEcho.

Hierauf bittet Seuse – auch hier ganz konform mit unzähligen Mysti-kerinnen – , das Kind sehen und küssen zu dürfen.

»Er geschowete sinú húbschú oe glú, er gesah sinú kleinú hendlú, er ergrue zte sin zarte múnd-li, und ellú sinú kintlichú gelidlú dez himelschen hordes dursah er, und hub denn uf sinúogen und erschrei von wunder in sinem herzen, daz der himeltrager so gross und so klein ist,so schoe n in dem himelrich und so kintsch in ertrich, und begie sich denne mit im, als er im esdenne ze tune gab, mit singen und mit weinen und mit geischlichen ue bungen, und gab indenn geswinde siner muter wider und gie mit ir hin, unz daz es alles volbraht ward.«39

Der geistliche Gesang ist für Seuse also eine privilegierte Kommunika-tionsform mit dem himmlischen Reich. Das war eine Idee, die schon hin-ter der angesprochenen Transplantation der »Engelsgesänge« aus denbiblischen Berichten in die Liturgie stand. Immer wieder wird von denliturgischen Exegeten des Hoch- und Spätmittelalters – vor allem am Bei-spiel des Alleluia und der Sequenz, aber auch des Sanctus – die Annähe-rung, Vorwegnahme der Himmelsmusik in diesen Messgesängen be-tont.40 Diese Gesänge werden aber von der Gemeinschaft der Kleriker,etwa der Chorherren, ausgeführt. Für das Spätmittelalter ist es wiederumcharakteristisch, dass die Liturgie den Charakter der gemeinschaftlichenTeilhabe verlor – der ohnehin von dem Klerikerchor nur noch stellvertre-tend für die Gemeinde als Ganzes symbolisiert wurde – und sich ins Pri-vate zurückzog. 41 Das gilt auch für Seuses scheinbar noch in der Liturgieverankerte Frömmigkeit – denn die Verbindlichkeit dieser Liturgie stelltsich nur noch visionär her: Nicht mehr die reale Zelebration, sondern diezwischen Träumen und Wachen empfangene persönliche Vision ist daswahre, zu Tränen rührende Erlebnis.

IV

Kein anderer mittelalterlicher Autor hat zur Erklärung der mystischenErfahrung so sehr in musikalischen Bildern geschwelgt wie Richard Rolle(1300–1349), einer der einflussreichsten englischen religiösen Schriftstel-ler des späten Mittelalters. Rolle, der ein Theologiestudium in Oxford ausEnttäuschung über die Scholastik abgebrochen hatte, führte ein Lebenzunächst als Wanderprediger, dann als sesshafter Eremit in Richmond-shire, dann in Hampole; seine zahlreichen lateinischen und vulgärsprach-lichen Schriften preisen das sesshafte Eremitendasein als den besten, deneinzigen Weg zur mystischen Erfahrung; in deutlichem und explizitenGegensatz nicht nur zur universitären Theologie, sondern auch zu deninstitutionalisierten religiösen Orden und sogar zur Liturgie.

Diese mystische Erfahrung ist für Rolle von Musik durchdrungen, wennnicht gar selbst Musik: Melos amoris lautet denn auch der Titel eines ver-mutlich frühen Traktats, der auch unter dem Titel Melum [!] contempla-tivorum oder Melum contemplativorum ardencium überliefert ist.42 An-hand dieses Traktats soll im Folgenden die eigentümliche musikalisch-

39 Leben Seuses, c. 10, in: Deut-sche Schriften (wie Anm. 31),S. 30.

40 Vgl. Hammerstein, Musik (wieAnm. 14), S. 36–43; Fuhrmann,Herz (wie Anm. 16), S. 177–180.

41 Stephanus Hilpisch OSB,»Chorgebet und Frömmig-keit im Spätmittelalter«, in:Odo Casel OSB (Hg.), HeiligeÜberlieferung. Ausschnitte ausder Geschichte des Mönch-tums und des Heiligen Kultes,dem hochwürdigsten HerrnAbte von Maria Laach Dr.theol. et iur. h.c. Ildefons Her-wegen zum silbernen Abtju-biläum, Münster 1938, S. 263–284; vgl. auch Angenendt, Li-turgie (wie Anm. 32).

42 Richard Rolle, Le Chantd’Amour (Melos amoris), la-teinisch-französisch, hg. vonE. J. F. Arnould, eingeleitetund annotiert von FrançoisVandenbroucke OSB, über-setzt von den Nonnen vonWisques, 2 Bde., Paris 1971(Sources chrétiennes 168/169– Série des Textes Monasti-ques d’Occident 32/33), Ein-leitung, S. 41.

34 Wolfgang Fuhrmann | Melos amoris: Die Musik der Mystik

mystische Lehre Rolles skizziert werden, ergänzt um Seitenblicke auf sei-ne übrigen Schriften.

Was über eine dieser Schriften gesagt worden ist: »Its organization isnot a linear movement through the stages of contemplation, but anincremental repetition of themes shouted in the prologue«43, das gilt auchund vielleicht noch mehr für Melos amoris: Auch hier wird schon in derkurzen Einleitung das Grundthema des Ganzen angeschlagen, wobei diedamit verbundenen Ideen nicht systematisch entwickelt werden, sondernsich nach und nach, in einer flutenden Woge von Worten, langsam aus-breiten und enthüllen. Dies sind die beiden ersten Sätze des Werks:

»Amor utique audacem efficit animum,quem arripit ab imis dum eterni Auctoris in-cendium amicam inflammat et suscipit insublimitatem supra sophiam secularem utnon senciat nisi sanctitatem. Urget igituramoris habundancia ut audeam aperire elo-quium ad informacionem aliorum, osten-dens altitudinem amancium ardentissimeiustitiamque iubilancium iocunde in Iesu accharitatem canencium in conformitate ce-lica, necnon et claritatem conscienciarumcapacium increati caloris et delectacionisindeficientis.«44

Gleich mehrere leitmotivische Bilder für Rolles mystische Gotteserfahrungwerden hier auf knappem Raum zusammengebracht – zu Beginn das derEntzündung, des Brandes, der lodernden Liebes-Flamme, wie es den Titelvon Rolles anderem ›magnum opus‹ bildet, des Incendium amoris, demgegen Ende des Zitats der Sinnbereich der Hitze entspricht. Danach erstfolgt das titelgebende Thema des Gesangs, das sich auch im Weiterenausspricht etwa in der kaum übersetzbaren Wendung »[dignatur Deus]magnificare modernos in melliphona multitudine«45 (etwa: »Gott wür-digt auch heute noch Zeitgenossen [und eben nicht nur die biblischenHeiligen], in der Fülle des honigsüßen Gesangs verherrlicht zu werden«).Der hier berührte Bildbereich des Süßen ist der dritte, der metaphorischesMaterial für Rolles Text liefert, in Formeln wie »den Menschen in dieserWelt Süßigkeit einflößen« (»indulcorare homines in hoc mundo«) oder»in der Verkostung der göttlichen Süße« (»degustacione divine dulcedi-nis«), die letztere vielleicht eine Anspielung auf Ps. 33,9 Vulgata: »kostetund sehet, wie gut der Herr ist« (»gustate et videte quoniam bonus Do-minus«) und Ps. 118,103: »Wie süß ist meiner Kehle dein Wort und mehrals Honig meinem Munde« (»quam dulce gutturi meo eloquium tuumsuper mel ori meo«). Gewiss ist keines dieser Bilder wirklich neu, wie dieauch bei Rolle gelegentlich auftretende Licht-Metapher entstammen sieeiner langen theologischen Tradition, mit der das eigentlich Unsagbareder Gotteserfahrung in der Seele umschrieben wird. Und doch ist die In-tensität, mit der Rolle gerade musikalische Ausdrücke häuft, um diesemystische Erfahrung ins Wort zu fassen, meines Wissens ohne Parallelein der mystischen Literatur seiner Zeit.

43 William F. Pollard, »The ›Toneof Heaven‹: BonaventuranMelody and the Easter Psalmin Richard Rolle«, in: ThomasJ. Heffernan (Hg.), The Popu-lar Literature of MedievalEngland, Knoxville 1985 (Ten-nessee Studies in Literature28), S. 252–276, hier S. 254. –Nicht zugänglich war mir SamJones Womack jr., The Jubilustheme in the later writings ofRichard Rolle, ph. D. diss., DukeUniversity 1961.

44 MA c. 1; I:98. Die Angabenverweisen auf die in Anm. 42zitierte Edition und sind wiefolgt aufzulösen: Melos amo-ris, Kapitel 1, Band I (Sourceschrétiennes 168), S. 98. Da dieZeilenzählung dieser Ausga-be häufig inkorrekt ist, wur-de auf die Angabe verzichtet,ebenso auf textkritische Zei-chen.

45 Ebenda. Hier auch die beidenfolgenden Wendungen.

Die Liebe hat den Geist ganz wagemutiggemacht, den sie aus den Tiefen emporriss,als die Flamme des ewigen Schöpfers seineFreundin [die Seele] entzündete und sie überdie irdische Weisheit erhob, sodass sie nurnoch Heiligkeit verspürte. Es drängt also derÜberfluss der Liebe, dass ich es wage, dieStimme zum Unterricht anderer zu erheben,indem ich die Erhabenheit der inbrünstig Lie-benden und die Gerechtigkeit der fröhlich inJesus Jubilierenden und die Liebe der in himm-lischer Gleichförmigkeit Singenden darstel-le, wie auch die Klarheit der Gleichwissen-den, die die ungeschaffene Hitze erfasst ha-ben und die immerwährende Freude.

35Wolfgang Fuhrmann | Melos amoris: Die Musik der Mystik

In einem anderen Traktat, Contra amatores mundi, hat Rolle diesenAufstieg systematisch beschrieben: Die von der Liebe zu Christus erfass-te Seele wird von dieser Liebe, die ja stets schon Gott selbst ist (wie esprominent am Ende der Göttlichen Komödie von Rolles ZeitgenossenDante gezeigt wird), vom Eise befreit erwärmt, verflüssigt (»rigor a mentedefluit; congelatus torpor liquescit; frigus calefieri incipit«), in das göttli-che Licht emporgerissen und von der göttlichen Süßigkeit durchdrungen(»In excelsum itaque mens rapta dulcore divinitatis perfunditur, et ardoreincreate lucis mellifluo repleta«) und – dies der Höhepunkt der Ekstase –über alles Sichtbare hinweg in die Lieblichkeit des jubilierenden Gesangserhoben (»ac visibilia cuncta transcendens ad suavitatem cantus iubileisanctissime sublevatur«). Denn der in wahrer Liebe sich der göttlichenBetrachtung Hingebende singe das Gotteslob ohne Unterlass, und nichtselten werde es ihm gegeben, in der mystischen Entrückung, mit leuch-tendem, brennendem Herzen, den Gesang der Engel selbst zu hören(»Unde et iam perfecte et vere diligens contemplator effectus vir dei divi-nas laudes non cessat canere; et non nunquam in tanto iubilo est suspen-su, ut eciam melos angelicum donetur ascultare, eius cor lucens et urensin ignem quasi totum convertitur«).46

Es liegt nahe, diesen Prozess des Aufstiegs als eine ausgedehnte Me-taphernkette anzusehen; als eine Umschreibung subtiler geistlicher Er-fahrungen mit der sinnlichen Erfahrung entnommenen Bildern. Aber soeinfach scheinen die Dinge nicht zu liegen. So sicher es bei Hitze, Licht,Süßigkeit und Musik nicht um Erfahrungen der äußeren Sinneswelt geht,so wenig wird man sie als bloße rhetorische Figuren oder der Traditionentnommene literarische Motive abtun können. Zu präzise hat Rolle indem »autobiographischen« 15. Kapitel seines Incendium amoris beschrie-ben, in welchem zeitlichen Abstand und in welcher Reihenfolge ihm die-se geistlichen Erfahrungen zuteil wurden:47 Von seiner Abkehr von derWelt bis zur Öffnung der himmlischen Pforte seien etwa zweidreiviertelJahre vergangen; von dort bis zur ersten Wahrnehmung der »Hitze derewigen Liebe« (calor eterni amoris) etwa ein weiteres Jahr.

»Sedebam […] in quadam capella, et dumsuavitate oracionis vel meditacionis mul-tum delectarer, subito sentivi in me ardo-rem insolitum et iocundum. Sed cum priusdubitando a quo esset, per longum tempusexpertus sum non a creatura sed a Creato-re esse, quia fervenciorem et iocundioreminveni.«48

Deutlich ist hier, dass es sich um eine wirkliche Empfindung der Sinnehandelt, deren Ursache Rolle zunächst nicht zu bestimmen weiß und dieihm erst nach der Ausschaltung »natürlicher« (z.B. medizinischer) Kau-salitäten als göttlichen Ursprungs erscheint. (Natürlich lässt sich auchdieser scheinbar ungeschminkt persönliche Erfahrungen wiedergeben-de Text mittels einer Hermeneutik des Verdachts als Überzeugungsrhe-torik entlarven – aber das funktioniert ja immer.) Des weiteren schildert

46 Alle Zitate: The Contra ama-tores mundi of Richard Rolleof Hampole, hg. mit Einlei-tung und Übersetzung vonPaul F. Theiner, Berkeley / LosAngeles 1968, c. 4, 78. Zum Fol-genden vgl. Robert Boenig,»St Augustine’s jubilus andRichard Rolle’s Canor«, in:Anne Clark Bartlett / ThomasH. Bestul u.a. (Hg.), Vox Mys-tica: Essays on Medieval Mys-ticism in Honor of ProfessorValerie M. Lagorio, Cambridge1995, S. 75-86, hier S. 85f.

47 Margaret Deanesly (Hg.), TheIncendium amoris of RichardRolle of Hampole, Manches-ter, New York 1915, S. 187–191.

48 Ebenda, S. 189.Ich saß […] in einer Kapelle, und als ich michan der Lieblichkeit des Gebet und der Medi-tation gar sehr erfreute, habe ich plötzlichin mir eine ungewohnte und freudenvolleGlut verspürt. Aber obwohl ich zunächstzweifelte, was sie wohl verursachen könn-te, habe ich mich in langer Zeit davon über-zeugt, dass sie nicht von der Schöpfung,sondern vom Schöpfer sei, weil ich sie feu-riger und freudiger empfand.

36 Wolfgang Fuhrmann | Melos amoris: Die Musik der Mystik

Rolle, wie ihm nach einem weiteren Dreivierteljahr die Einflößung undWahrnehmen der himmlischen Klangs zuteil wurde (»usque ad infusio-nem et percepcionem soni celestis vel spiritualis, qui ad canticum pertinetlaudis eterne et suavitatem invisibilis melodie […] dimidius annus et tresmenses et aliquot ebdomade effluxerunt.«).49

»Dum enim in eadem capella sederem, etin nocte ante cenam psalmos prout potuidecantarem, quasi tinnitum psallenciumvel pocius canencium supra me ascultavi.Cumque celestibus eciam orando toto de-siderio intenderem, nescio quomodo moxin me concentum canorum sensi, et delec-tabilissimam armoniam celicus excepi, me-cum manentem in mente.«50

Immer und immer wieder kommt Rolle in seinen Schriften auf diesenseligmachenden Gesang zurück.51 Worin besteht nun dieses Melos? Zweizentrale Punkte von Rolles musikalischer Mystiktheorie werden schon inden wenigen Zeilen der Einleitung von Melos amoris berührt: zum einendie Behauptung, dass der mystische Aufstieg einen Verwandlung aus der(irdischen) Trauer in den (überirdischen) Gesang bedeute (»mentem tammirifice mutavit a merore in melos«; anderswo: »melos immissum menti-bus mirificatis munit eos a mesticia«).52 Das ist eine Anspielung auf dieberühmten Worte des Buchs Hiob 30,31: »Meine Harfe ist eine Klage wor-den und meine Pfeife ein Weinen« (»Conversa est in luctum cithara meaet organum meum in vocem flencium«), die Rolle den Verdammten inden Mund legt, über die er auch sagt: »melosque multorum mutabitur inmerorem«.53

»Demum hoc dicet doloribus dampnatusnunc mugiens in mundo ut magnus magis-ter: Conversa est in luctum cithara mea etorganum meum in vocem flencium. Utiqueiam ego assumptus amori, laudando Levan-tem me lubricum qui lavit, carmen captiviin contra converto, doloris dono melodiemutato. Audeo asserere talem tenorem:conversus est luctus meus in citharam etvox flebilis mea in organum. Cithara, sci-licet, resonat: superna modulacio mellifluamerorem a mente funditus fugavit […].«54

Zum anderen charakterisiert Rolle dieses Melos selbst in scheinbar para-doxer Weise:

»Non contradicat quis […], quod continuanspropter charitatem in solitudine sedere ca-pietur in cantacionem, non corporalem, sedprofecto in spiritu pulcriorem quam poteropredicare.«55

49 Ebenda.50 Ebenda.51 Am elaboriertesten in MA c.

44–46, II:112–136.52 MA c. 1, I:100; c. 44, II:114. Vgl.

auch c. 28, I:320.53 MA c. 10, I:164.54 MA c. 25, I:294.55 MA c. 1, I:100.

Als ich nämlich in derselben Kapelle saß,und in der Nacht vor dem Abendessen Psal-men sang, wie ich nur konnte, da hörte ichgleichsam den zarten Ton von Psallierendenoder besser Singenden über mir. Als ichauch im Gebet alles Himmlische mit vollemVerlangen anstrebte, da geschah es, ichweiß nicht wie, dass ich bald in mir denKlang von Gesängen verspürte, und diewunderbarste Harmonie vom Himmmelempfing, die mir im Geiste verblieb.

Zuletzt wird dies der zu Qualen Verdammtesagen, der sich nun wie ein großer Lehrer inder Welt aufspielt: Meine Harfe ist eine Kla-ge worden und meine Pfeife ein Weinen. Dannjedenfalls werde ich schon zur Liebe erhobensein, den mich Erhebenden loben, der michSchlüpfrigen reinigt, und das Gedicht desEingekerkerten wende ich in sein Gegenteil,die Gabe des Schmerzens in die der Melodieverwandelnd. Ich wage den folgenden Tenoraufzustellen: Meine Klage ist eine Harfenworden und mein Weinen eine Pfeife. DieHarfe nämlich erklingt: Der honigfließende,höhere Wohlgesang vertreibt den Schmerzvon Grund auf aus dem Geist […].

Und keiner widerspreche, dass der, der sichfortwährend um der Liebe willen in der Ein-samkeit niederlässt, vom Gesang erfasstwird, nicht dem körperlichen, sondernwahrhaftig dem im Geiste schöneren, alsich es werde predigen können.

37Wolfgang Fuhrmann | Melos amoris: Die Musik der Mystik

Und nur wenige Zeilen später stellt er als Daseinsideal sein eigenes Da-sein des Einsiedlertums aus »[A]nachorite honorifice assumentur […], quiaamplius uruntur igne amoris et carmen charissimum canunt in corde«.56

Es handelt sich also – dies eine Parallele zu Seuse – um keinen körperlichen,hörbaren Gesang, sondern um einen Gesang des Herzens, des Inneren.

Dass es sich hier a priori nicht um weltliche Gesänge handeln kann(für die Rolle interessanterweise den eigenen, ausschließlich negativ kon-notierten Terminus »cantilena« gebraucht)57, dürfte also auf der Hand lie-gen; was Rolle, kein Feind der Redundanz, freilich nicht hindert, nochmehrfach darauf hinzuweisen:

»Quamquam namque muliercularum ama-tores cantica carnalis delectacionis blandavalde et mundanis amabilia componere sa-tagant, profecto in modum amanciumChristum suavia non component.«58

Aber nicht nur die weltliche, sondern überhaupt jede sinnlich wahrnehm-bare Musik wird abgelehnt – in einer erstaunlichen Parallelbewegung zuder abstrahierenden Askese des spätantiken ›musicus‹ eines ( jungen)Augustinus oder Boethius, aber eben nicht mit deren Ziel eines Abzugsvon aller Sinnlichkeit in das ewig-klare Reich der höchsten Ratio, sondernaufgrund der Vorzüglichkeit einer alle irdische Sinnlichkeit an Schönheitund Süße übertreffenden übersinnlichen Melodie (wobei Rolle den altenGegensatz zwischen ›vita activa‹ und ›vita contemplativa‹ wieder auf-greift):

»Nam omnis melodia mundialis, omnisquecorporalis musica, instrumentis organicismachinata, quantumcumque activis seusecularibus viris negociis implicatis placuer-int, contemplativis vero desiderabilia nonerunt. Immo fugiunt corporalem audire so-nitum, quia in se contemplativi viri iam so-num susceperunt celestem. Activi vero inexterioribus gaudent canticis, nos contem-placione divina succensi in sono epulantisterrena transvolamus; illi nostrum nesciunt,nos illorum nesciamus gaudium, quia dumintra nos celestias delicias sonora voce iu-bilantes canimus, nimirum ab omnibuspsallentibus et loquentibus segregari affec-tamus.«59

Diese Spitze gegen die »Psallierenden« hindert übrigens nicht, dass Rollein der Einleitung zu seinem English Psalter – seit den Kirchenvätern demtraditionellen Ort einer Laudatio – dem Gesang von Psalmen eine enthu-siastische Lobrede hält, die mit den Worten beginnt: »Grete habundansof gastly conforth and ioy in God comes in Þe hertes of Þaime Þat says or

56 Ebenda.57 Kommentar zur zitierten Aus-

gabe, II:284.58 MA c. 2, I:110. Vgl. c. 12, I:184–

186 und öfter.59 Contra amatores mundi, c. 4,

S. 80. Vgl. MA c. 45, II:118–120.

Obwohl nämlich die Liebhaber der Weibleindanach trachten, gar viele schmeichlerischeGesänge der fleischlichen Freude, die denWeltlichen lieb sind, zu komponieren, sokomponieren sie sie doch wahrhaftig nichtlieblich in der Weise jener, die Christuslieben.

Denn aller weltliche Wohlgesang, alle kör-perliche Musik, durch musikalische Instru-mente hervorgebracht, wie sehr sie auchimmer tätigen, in weltliche Geschäfte ver-wickelten Männern gefallen mag, so wirdsie doch den betrachtenden nicht begeh-renswert sein. Ja vielmehr fliehen sie es, denkörperlichen Klang zu hören, weil die be-trachtenden Männer schon den himmli-schen Klang empfangen haben. Die Tätigenerfreuen sich an äußeren Gesängen, wir, diewir in der göttlichen Betrachtung entzün-det sind, überfliegen die irdischen Dinge imKlang des (himmlischen) Mahls; jene ken-nen unsere Freude nicht, wir nicht die ihre,weil wir, indem wir unter uns die himmli-schen Freuden mit klangvoller Stimme ju-belnd singen, uns allerdings von allen Psal-lierenden und Redenden zu distanzierenversuchen.

38 Wolfgang Fuhrmann | Melos amoris: Die Musik der Mystik

synges deevotly Þe psalmes in lovynge of Jhesu Crist«, und in der Folgezahlreiche weitere segensreiche Folgen der Psalmodie aufzählt.60 Es gehthier aber, wie es scheint, nicht um die traditionelle liturgische Psalmodie,sondern um den persönlichen, meditativen Psalmengesang – womit Rolle,historisch betrachtet, wieder bei der anachoritischen Tradition der Wüs-tenväter angekommen war. Zumindest wird uns aus seiner Einsiedlerklau-se irgendwo in den einsamen Feldern oder Wäldern bei Hampole berich-tet: »he was wont often to repair to sing psalms and hymns«.61 In der Tathat Rolle, wenn ich ihn recht verstehe, die liturgischen Gesänge abge-lehnt oder jedenfalls geringgeschätzt:

»Istud namque dulce canticum spiritualequidem et speciale valde, quia specialissi-mis datum est; cum exterioribus canticisnon concordat, que in ecclesiis vel alibi fre-quenta[n]tur. Dissonat autem multum abomnibus que humana et exteriori voce for-mantur, corporalibus auribus audienda; sedinter angelicos concentus armoniam habetacceptabilem admiracioneque commenda-tum est ab hiis qui cognoverunt.«62

In striktem Gegensatz nicht nur zu Heinrich Seuse, sondern auch zu vie-len anderen liturgischen Visionären sieht Rolle eine schroffe, unüberwind-liche Kluft zwischen irdischer und himmlischer Liturgie – eine Kluft, diegemeinsam mit dem Beginn des obigen Zitats auf ein Auserwähltheits-syndrom schließen lässt.

In apartem Gegensatz zu dieser Verachtung steht die Tatsache, dassRolle, wie schon an den wenigen Zitaten deutlich geworden sein dürfte,über einen reichen Bestand an musikalischem Vokabular verfügte, teil-weise aus dem mittelalterlichen Diskurs über den musikalischen Schmuckder Liturgie übernommen, teilweise schon an die Terminologie des musi-kalischen Fachschrifttums angrenzend: neben »melos« und das alliterie-rende »melliphona«, neben »canor«, »canere«, »cantacio«, »jubilus«, »ju-bilatio«, »jubilare« und den biblischen »cithara« und »organum« treten,wie wir eben sahen, der »tenor«, die »musica«, die »symphonia« und Ver-ben wie »ympnificare« und »neumatizare« und vieles andere.63 Es ist zuRecht festgestellt worden, dass fast auf jeder Seite von Rolles Melos amoriswenigstens ein musikalisches Wort zu finden ist.64

Nichtsdestoweniger handelt es sich trotz dieser zahlreichen Rückan-bindung an das Wortfeld des Musikalischen um einen Gesang des Her-zens, einen »concentus intimus«.65 Rolle macht dies schlagend deutlichin der paradoxen Formulierung des »unsichtbaren Wohlgesangs« (invisi-bilis melodia). Die Erwählten haben schon auf Erden am himmlischenWohllaut Teil, und während ihre Melodie hienieden »unsichtbar« bleibt,strahlen im Gegensatz dazu die himmlischen Chöre »heller als die Son-ne«.66 Die »unsichtbare Melodie« tritt in dem zentralen Theologoumenonseiner Ausführungen auf, das ebenfalls gleich zu Beginn präsentiert unddann wieder und wieder »durchgeführt« wird:

60 Prologue zum English Psal-ter, in: English Writings of Ri-chard Rolle, Hermit of Ham-pole, hg. von Hope Emily Al-len, Oxford 1931, S. 4.

61 Hope Emily Allen, »Introduc-tion«, in: English Writings (wieAnm. 60), S. IX.

62 Rolle, Incendium (wie Anm.47), c. 33, S. 239.

63 Eine vollständige Liste in derzitierten Edition, II, S. 325f.Einen wahren Exzess an mu-sikalischen Termini bietet MAc. 45, II:118.

64 Kommentar von Vanden-broucke in der zitierten Edi-tion, II, S. 284.

65 MA c. 8, I:152.66 MA c. 27, I:312.

Dieser süße Gesang ist geistlich und zwar einganz besonderer, weil er nur ganz Besonde-ren gegeben wird; mit den äußeren Gesän-gen, wie sie in den Kirchen oder anderswogepflegt werden, stimmt er nicht überein.Denn er klingt ganz anders als alles, wasdurch die menschliche und äußere Stimmehervorgebracht wird, auf dass es die körper-lichen Ohren hören; seine Melodie nämlichwird unter die englischen Gesänge aufge-nommen und von denen, die wissend sind,aller Bewunderung für würdig gehaltenwerden.

39Wolfgang Fuhrmann | Melos amoris: Die Musik der Mystik

»Porro predestinati ut pareant preeminen-tes in croceis vescuntur et nequaquam que-madmodum captivi in carnalibus cadentesamplexantur stercora (Lam 4, 5), quandoqui-dem […] calorem incircumscripte lucis sub-tiliter sentiunt, dum tantis invisibilis melo-die habundant auspiciis, ac sursum super-ni amoris suspensi vinculis dulcedine deli-ciarum mulceri meruerunt.«67

Entsprechend bedarf auch Rolles Mystiker, der ja, wie wir sahen, teilweiseexplizit autobiographische Züge trägt, der Teilnahme an der Liturgie nichtmehr, auch nicht mehr, wie noch sein Zeitgenosse Seuse, der Anregungdurch diese Liturgie.

Indem aber der Mystiker kraft seiner einsiedlerisch-keuschen Lebens-weise schon zu Lebzeiten, wenn auch nur zeitweise und nur innerlich, inden Himmel auffährt und dort am Jubel der göttlichen Heerscharen teil-nimmt, verwischen sich die Grenzen zwischen Ekstase und Erlösung, zwi-schen dem zeitlich begrenzten Jubel der ›unio mystica‹ und dem ewig-überzeitlichen der Eschatologie. Bei verschiedenen Passagen des MelosAmoris ist es schwierig oder gar unmöglich, diese Ebenen auseinander-zuhalten. So heißt es zum Beispiel:

»Puto quod [pauperes] prius probabanturper penas ut paterentur perversitates, iam-que iubilantes portantur in paradisum, quiacoram Conditore contempnebant cupidi-nem corporalem […].68 [S]ubito ac simplici-ter saliat sapiens a semitis seviencium etcum superbis non sedeat in suppremis; […]ac concinnet se ad collegium cantanciumut […] sonum substancialiter senciat psal-lencium supernorum celebrari.«69

Rolles Neigung, innerhalb weniger Sätze oder sogar eines Satzes die Tem-pora zu wechseln70, trägt zu dieser Desorientierung des Lesers bei, odergenauer gesagt, diese Desorientierung wird im Text inszeniert, um genaudiese perspektivische Unterscheidung zwischen temporärer und ewigerSeligkeit aufzuheben. An manchen Stellen kann sich der Leser sogar desVerdachts nicht erwehren, dass das ›melos amoris‹ seinem Empfängerbereits so etwas wie Heilsgewissheit garantiert: Indem dem Mystiker inder Ekstase der ›cantacio‹ schon im Fleische an der himmlischen Feier imKreise der Auserwählten teilnimmt, kann er sich bereits als Subskribentauf die Erlösung empfinden, und Rolle lässt kaum einen Zweifel daran,wenn er beschreibt, mit welcher Freude er den Höllensturz der Verdamm-ten begrüßen wird (»et de hoc dolere non debeo«, »electus […] letabitur,vindictam videns vidiosorum, libenter lavans manus maculatas in sangui-ne scelestorum«)71, eine Haltung, die selbst der fromme Kommentatorder Sources chrétiennes, Vandenbroucke, »quelque peu choquante« fand.72

Dass gerade das Bildfeld des Gesangs hier zum Garanten einer mensch-liches Wissen eigentlich übersteigenden eschatologischen Informiertheit

67 MA c. 2, I:106. Vgl. auch obendas Zitat zu Anm. 49.

68 MA c. 14, I:198.69 MA c. 14, I:200.70 Vgl. die Bemerkung in der In-

troduction zur zitierten Aus-gabe, S. 53.

71 MA c. 20, I:252 und c. 21, I:264.72 Kommentar zur zitierten Aus-

gabe, MA I:264.

Ferner leben die Erwählten, auf dass sie alsHervorragende erscheinen, im Überflussund niemals wie die dem Fleischlichen Ver-fallene im tiefsten Schmutz, da sie ja dieHitze des unumschränkten Lichtes fein ver-spüren, da sie so große Vorzeichen der un-sichtbaren Melodie im Überfluss verspürenund es verdient haben, im Aufstieg von denKetten der höheren Liebe erfasst, durch dieSüße des Labsals erfreut zu werden.

Ich meine, dass die Armen, nachdem siezuerst durch Qualen erprobt wurden, ob sieTorheiten ertragen, jetzt schon jubilierendins Paradies getragen werden, die im Ange-sicht des Schöpfers das körperliche Begeh-ren verachteten […]. Plötzlich und einfachwird der Wissende von den Pfaden der Ra-senden springen und nicht mit den Hoch-mütigen in der Höhe sitzen; […] und er fügtsich ein in die Gemeinschaft der Singenden,so dass er […] den Feierklang der höherenPsallierenden in aller Gewissheit spürt.

40 Wolfgang Fuhrmann | Melos amoris: Die Musik der Mystik

wird, mag – wie die musikalische Metaphorik der Mystik seit Augustinusund Gregor überhaupt – an der Un- oder Überbegrifflichkeit des Musika-lischen liegen, das, wie Augustinus gelehrt hatte, auf das sprachliche Zei-chen ganz verzichten kann.

»Nescio narrare quantum dulcessit dilecciodivina; […] amenitas amantis omnem intel-lectum humanum excedit, nam sensus nonsufficit liquide hoc loqui; […] exprimere nonpotest gloriam Dilecti dum capitur in can-ticum et germinat ingenter in genere iubi-leo.«73

Und hier ist auch der Ort, über das gewiss auffälligste stilistische Merk-mal des Melos amoris zu sprechen, das schon angesichts der wenigenAusschnitte den Leser frappiert haben dürfte (und dem Übersetzer nichtgeringe Mühe bereitet): die Alliteration.74 Die Alliteration wird von Rollemit einer Konsequenz gebraucht und zuweilen sogar über mehrere Zei-len durchgeführt, dass man von einem »Latin that ranks among the mostinsistently alliterated ever written« gesprochen hat, aber auch von »thealmost complete subjection of the learned tongue to the principles ofcontemporary verse«.75 Ein anderer Kommentator konnte sich sogar nichtenthalten, von »almost grotesque verbal pattering« zu sprechen, »al-though it has been suggested that in [Melos amoris] Rolle was attemptingto create a kind of four stress alliterative line comparable with the verna-cular form. The aspirations towards verse of parts of the Melos Amoriswere recognised by at least one reader, who created the Carmen Prosaicumfrom some of the most highly patterned sections of the longer work.«76

Rolle hat sich auch direkt als Lyriker versucht, so mit dem lateinischenMariengedicht Canticum amoris77, auch mit englischen Gedichten selbst-verständlich ausschließlich geistlichen Inhalts.78 Offensichtlich war er, wieauch das oben angeführte Zitat nahelegt, mit den »cantica carnalis delec-tationis«, der weltlichen Liebeslyrik, durchaus vertraut.79

Der Zusammenhang zwischen klanglichen, also ästhetischen Elemen-ten wie (Stab-)Reim und Versmaß und dem von Rolle immer wieder be-schworenen himmlischen Gesang ist offensichtlich, und die Konsequenzliegt auf der Hand, dass Rolle in der wellenförmig sich ausbreitendenElaboration einiger zugrundeliegender Formeln wie auch in der Einklei-dung, ja Vermummung seiner Gedanken durch das klangliche Momentder Alliteration das Melos Amoris nicht nur diskursiv umschreiben, son-dern mimetisch veranschaulichen wollte, sodass der Gegenstand des Trak-tats seine eigene Form bestimmt: »Thought turns to song, words to sing-ing, harmony and melody abound«, stellt Vincent Gillespie fest80 undparaphrasiert damit nur Rolle selbst:

»[M]ens moderata in melodiam mutetur nemetuat molestantem et cor in charitate cre-mans convertitur in cantum ut canat quo-tidie carmen Conditori.«81

73 MA c. 33, II:10.74 Leider nicht zugänglich war

mir der Beitrag von Sara deFord, »The Use and Functionof Alliteration in the Melosamoris of Richard Rolle«, in:Fourteenth Century EnglishMystics Newsletter 12 (1986),S. 59–66.

75 Gabriel M. Liegey, »The ›Can-ticum amoris‹ of Richard Rol-le«, in: Traditio 12 (1956), S.369–391, hier S. 379.

76 Vincent Gillespie, »Mystic’sFoot: Rolle and Affectivity«,in: Marion Glasscoe (Hg.), TheMedieval Mystical Traditionin England. Papers read at Dar-tington Hall, July 1982, Exeter1982, S. 199–230, hier S. 210;G. Liegey, »Richard Rolle’s Car-men Prosaicum, an Editionand Commentary«, in: Medi-eval Studies 19 (1957), S. 15–36.

77 Edition und Kommentar: Lie-gey (wie Anm. 72).

78 Frances M. M. Comper, TheLife of Richard Rolle: Togetherwith an Edition of His Englishlyrics, now for the First TimePublished, London / Toronto1928; Sarah J. Ogilvie-Thom-son, Richard Rolle: Prose andVerse, Edited from MS Long-leat 29 and Related Manu-scripts, London 1988 (EarlyEnglish Text Society 293).

79 Liegey (wie Anm. 72), S. 376–379.

80 Gillespie, »Mystic’s Foot« (wieAnm. 76), S. 210.

81 MA c. 14, I:204.

Ich weiß nicht zu sagen, wie sehr einen diegöttliche Liebe mit Süßigkeit durchdringt;[…] die Schönheit des Liebenden überschrei-tet jeden menschlichen Verstand, denn derSinn genügt nicht, dies flüssig zu schildern;[…] die Ehre des Geliebten kann nicht aus-gedrückt werden, wenn sie im Gesang er-fasst wird und übermäßig groß in der iubi-lierenden Weise heranwächst.

Der [göttlich] gelenkte Geist verwandeltsich in Wohlgesang, auf dass er nicht denVerfolger füchte, und das in Liebe entbrann-te Herz verändert sich in Gesang, auf dasses täglich dem Schöpfer eine Hymne singe.

41Wolfgang Fuhrmann | Melos amoris: Die Musik der Mystik

»[C]ogitacio convertitur in canticum ut incanore clarissimo capiat coronam et mensmodesta meritorum munimine mirificaturin misterium melodis moram multiplicansin musica manentem.«82

Denselben Gedanken hat Rolle mehrfach auch in seinen englischen Schrif-ten ausgesprochen, in Ego Dormio: »and Þan fore heghnesse of Þi hert Þiprayers turnes intil joyful sange, and Þi thoghtes to melody.«83, und inThe Form of Living: »Þan Þe sange of lovyng and of lufe es commen, ÞanÞi thoght turnes intil sang and intil melody […].«84 Wiederum am deut-lichsten hat Rolle diesen Gedanken aber in seinem autobiographischenExkurs im Incendium amoris formuliert, und zwar im unmittelbaren An-schluss an die oben angeführte Stelle:

»Nam cogitacio mea continuo in carmencanorum commutabatur, et quasi odas ha-bui meditando, et eciam oracionibus ipsiset psalmodia eundem sonum edidi. Dein-ceps usque ad canendum que prius dixe-ram, pre affluencia suavitatis interne proru-pi, occulte quidem, quia tantummodo co-ram Conditore meo.«85

Dieser alles Denken, alle Diskursivität in Musik auflösende mystische ›ca-nor‹ ist in der Rolle-Forschung gern im Sinne der Sphärenharmonie, der›musica mundana‹ gedeutet worden.86 Doch scheint mir diese Gewich-tung auf dem Moment der harmonischen, zahlhaften Ordnung, wie sieetwa der »ästhetischen« Theorie bei dem Franziskaner Bonaventura zu-grunde liegt, einen einseitigen Akzent auf »Maß, Zahl und Gewicht« (Buchder Weisheit 11, 21) zu legen.

Gewiss betont Rolle die Schönheit des himmlischen Gesangs, und ge-wiss klingen bei Begriffen wie »celica symphonia« auch die antiken Ideender Sphärenharmonie an. Aber ebenso wichtig, wenn nicht entscheiden-der für das Verständnis ist nicht der ästhetische, sondern der ekstatischeAspekt des Gesangs. Singen an sich ist ein ekstatischer Akt, das den Kör-per nicht nur viel stärker und ganz anders – erschöpfender und lustvoller– in Anspruch nimmt als das bloße Sprechen, sondern auch, wie bereitsausgeführt, die differentiale Aufteilung der Welt durch das sprachlicheZeichen über- – oder ( je nach Standpunkt) auch unterschreiten kann. Daswar die Entdeckung von Augustinus: dass sich nicht nur in der Transzen-denz der rationalen Meditation, sondern auch im Diesseits des (vermeint-lich) vorsprachlichen, körpernahen Gesangs eine Unbegrifflichkeit auf-finden lässt, die der Unbegrifflichkeit Gottes nahe kommt. Und diese As-pekte erscheinen mir die primären, die überhaupt den engen Konnexzwischen Musik und Mystik im Mittelalter, im Spätmittelalter zumal, her-gestellt haben.

82 MA c. 14, I:206.83 English Writings (wie Anm.

60), S. 69.84 Ebenda, S. 105f.85 Incendium amoris, c. 15, S. 189f.86 Etwa Pollard, »Tone« (wie

Anm. 43); Gillespie, »Mystic’sFoot« (wie Anm. 76).

– Die Überlegung wandelt sich in ein Lied,auf dass sie in hellstem Gesang die Kroneerringe und der bescheidene Geist wirddurch die Stütze der Verdienste in wunder-barer Weise in das Geheimnis verwandelt,die Dauer der Wohlgesänge in bestehendeMusik verwandelnd.

Denn mein Gedanke wurde fortwährend ineine Gesangs-Hymne verwandelt, und imMeditieren wurden mir gleichsam Odenzuteil, und auch die Gebete selbst gab ichmit demselben Ton wieder wie die Psalmo-die. Von da an brach ich vor Überfluss derinneren Süße in jenes Singen aus, von demich vorhin sprach, freilich heimlich, dennlediglich vor meinem Schöpfer.

42 Wolfgang Fuhrmann | Melos amoris: Die Musik der Mystik

V

Es mag den Leser oder die Leserin einigermaßen befremdlich anmuten,dass hier ausführlich über Musik gesprochen wurde, die niemals aufge-zeichnet wurde, ja in den meisten Fällen nicht einmal äußerlich erklun-gen ist. Ich möchte zum Schluss deswegen zumindest ein paar Hinweisedarauf geben, dass das durch die Mystik eröffnete Musikverständnis nichtvöllig transzendent geblieben sein könnte.

Eines der beachtlichsten Phänomene in der Entwicklung der europäi-schen geistlichen Polyphonie im 15. Jahrhundert ist ihre wesentliche Wie-derangleichung an den Choral. Das prägnanteste Zeugnis davon sindnatürlich die Choralparaphrasen, vor allem in der Oberstimme, die sich,wie es scheint, wesentlich englischem Einfluss verdanken; ich denke hieran die Marien- und Hoheliedantiphonen wie Alma redemptoris mater, Averegina celorum, Anima mea liquefacta est und ähnliche, wie sie uns vonDunstaple, Power, Du Fay und anderen bekannten oder anonym geworde-nen Komponisten überliefert sind. Die Choralanalogie geht jedoch wei-ter: Sie betrifft auch die Melodiebildung in cantus-firmus-freien Werkenoder Passagen, den gleichmäßigen »Stromrhythmus« (Heinrich Besseler)und vielleicht sogar den terz- und sexthaltigen Vollklang, die »contenanceangloise«, die alle einer würdevollen Darbietung im Kirchenraum entge-genkam – im Gegensatz zu den von den Theologen bekämpften »scurrilesnotae«.

Die Polyphonie ist somit eine Art von überhöhtem, eben ins Mehr-stimmige ausgefaltetem Choral. Sieht man diesen als die irdische Litur-gie an, so könnte die Polyphonie als dessen himmlische, unendlich gestei-gerte, in glückseligem Überschwang jubelnde Variante erscheinen. Dasist natürlich eine überspitzte Lesart, die bei weitem nicht auf alle Werkedes Zeitraums zutrifft. Sie zeigt jedoch eine Tendenz an.

Wie sinnlich man in einem Zeitalter, dessen Musik zum überwiegen-den Bestandteil einstimmig war, die einfachsten Konsonanzen empfin-den konnte, davon besitzen wir ein reizendes Zeugnis in der Declaratiomusicae disciplinae des italienischen Theoretikers Ugolino von Orvieto(ca. 1380–1457). Ugolino beschreibt im zweiten, dem Kontrapunkt gewid-meten Buch den Unterschied zwischen ›musica plana‹ oder ›nuda‹ und›musica melodiata‹ oder eben ›contrapunctus‹ in eindringlichen, ja gera-dezu überschwenglichen Worten: Sei jene erfreulich, so diese, weil siesich in Wohlgesänge (gleichsam) einkleide, noch weitaus erfreulicher(»[Q]uoniam in ipsa eius [= musicae planae] nuditate delectationemaccipimus tamen quia melodiis induta delectabilior valde sensu percipitur,ideo in hoc secundo [= libro] de ipsa melodiata musica intendimus per-tractare.«):87 Man werde beim Beurteilen der Konsonanzen und Disso-nanzen durch die Süße der Quinte hinweggerafft, durch die Oktave – dieHerrin der Konsonanzen – davongerissen und durch das Vergnügen anjenen Konsonanzen wie mit allersüßesten Schlägen versohlt (»Tunc et-enim ab ipsa diapente dulcedine rapimur, tunc a diapason consonantia-rum domina trahimur et ab ipsarum delectatione consonantiarumdulcissimo ictu percutimur.«). Das Zusammenklingende und das Ausein-

87 Ugolinus Urbevetanis, Decla-ratio musicae disciplinae II, 1,hg. von Albertus Seay, 3 Bde.,Rom 1962 (Corpus Scripto-rum de Musica 7), II, S. 3.

43Wolfgang Fuhrmann | Melos amoris: Die Musik der Mystik

anderklingende würden sich wechelseitig verbinden, und da dies einewunderbare Süße hervorbrächte, so würde die Seele durch diese Süßeergötzt (»Nectuntur consona consonis, dissona dissonis, consona dissonis,et dissona consonis, quae cum amoenam pariant suavitatem, anima suodulcore fovent.«). Durch das Vermögen des Kontrapunkts lache die Ein-trächtigkeit zweier Stimmen, wenn aber drei oder vier Stimmen gemäßdem Kontrapunkt zusammenkämen, so würde der Seele eine unsäglicheFreude zuteil (»Huius namque contrapuncti virtute duorum cantus con-cordia gaudet, et si tres vel quatuor ordine contrapuncti conveniantinextimabilis animae affertur laetitia.«).88 Das alles mutet an wie mysti-sches Vokabular: So wie die spätmittelalterlichen Mystikerinnen im Au-genblick der Entraffung in den süßen Jubilus ausbrachen, so wird Ugolinovon der Schönheit der Zusammenklänge geradezu in Ekstase versetzt.89

Dass manchem streng-reformerisch gesonnenen Asketen diese sinn-liche Freude nicht in Ekstase, sondern in Rage versetzte, dafür gibt es zahl-reiche Belege. Auch Gilles Carlier (gest. 1472), Dekan der Kathedrale vonCambrai und somit ein persönlicher Bekannter von Guillaume Du Fay, istvon einem frommen Mann (»quidam devotus«) gefragt worden, ob esdenn mit der Polyphonie seine Richtigkeit habe, wie sie in vielen Kathedra-len oder Kanonikerkollegiatskirchen betrieben werde auf Kosten des ›can-tus simplex‹ (also des Chorals), obwohl die Mönchsorden diesem Brauchnicht folgten, sondern mit flehender und gedämpfter Stimme Gott an-gemessen dienten; ob also beides gut sei (»Quaesivit quidam devotus,quid est quod in multis ecclesiis tam cathedralibus quam collegiatis cano-nicorum secularium cantus gregorianus, id est, cantus simplex, neggligituret dulcis iubilatio armonicaque vocum concordia in divino resonat officio,quam ritum religiones bene institutae non observant, sed voce flebile etsubmissa convenienter serviunt Deo, et si uterque bonus est«).90

Und Carliers Antwort lautete (kurz gefasst): »Beide Arten des Gesangs,der simplex nämlich und die musicalische iubilatio führen die Seele zurgöttlichen Beschauung, gemäß dem Unterschied der Stände, Personen,Zeiten und Orte.« (»Uterque autem cantus simplex, scilicet, et musicalisiubilatio trahit animam ad divinam contemplationem, secundum diversi-tatem statuum, personarum, temporum et locorum.«)91

Dass Carlier die Polyphonie mit der ›iubilatio‹ in Verbindung bringtund damit mit einem Terminus, der konnotativ zwischen himmlischerLiturgie und mystischer Ekstase angesiedelt ist, ist gewiss nicht mehr alsein Indiz für ein so gelagertes Verständnis der geistlichen Polyphonie des15. Jahrhunderts. Es kann nicht Aufgabe der vorliegenden Überlegungensein, ein solches Verständnis weiter zu untermauern, obwohl sich weite-re Belege anführen ließen. Aber es wäre zumindest der Mühe wert, denKlangstrom, die weitgespannten Melodiebögen, die oft verschleiertenoder überspielten Zäsuren und die rhythmisch wie melodisch geläufigerFasslichkeit sich entziehenden Linien der geistlichen Polyphonie eines DuFay oder Ockeghem einmal unter dem Gesichtspunkt einer ekstatischenVision himmlischer Liturgie zu betrachten statt, wie üblich, als klingendeRealisierung der Sphärenharmonie. Und es liegt auf der Hand, dass sichdie feierliche Simplizität der Anrufungen »O benigna, o regina, o Maria«

88 Ebenda, S. 4.89 Immerhin eine Fußnote ist

es wert, dass Kerstin Bartels,Musik in deutschen Texten desMittelalters, Frankfurt a.M.etc. 1997 (Europäische Hoch-schulschriften: Reihe 1, Deut-sche Sprache und Literatur1601), S. 49–52, die im Mittel-alter immer wiederkehrendeCharakterisierung von Ge-sängen als »süß« (suavis, dul-cis) mit dem mystisch-religiö-sen Vokabular in Verbindungbringt.

90 Gilles Carlier, »Tractatus deduplici ritu cantus ecclesias-tici in divinis officiis«, in:Reinhard Strohm / J. DonaldCullington (Hg.), On the Dig-nity & the Effects of Music.Egidius Carlerius – JohannesTinctoris: Two fifteenth-cen-tury treatises, London 1996(Study Texts 2), S. 39–47, hierS. 39.

91 Ebenda.

44 Wolfgang Fuhrmann | Melos amoris: Die Musik der Mystik

in Josquins Motette Inviolata, integra et casta es einem vergleichbarenAffekt verdankt wie Seuses Verneigung vor der visionären Gottesmutterselbst beim Gesang dieser Prosa.

Auch die irdische Polyphonie strebte eben danach, sich mit der un-aussprechlichen Himmelsharmonie zu vereinen: sich ihr nachzubilden,ihr vorzuklingen; und dass sie das mit allen Mitteln ihrer Kunst tat, lag inden Notwendigkeiten der Sache selbst. Denn im Himmel, auch das wuss-te noch der protestantische »Erzkantor« Johann Walther, bleibt von allenKünsten »allein die schöne Musica«.

Summary

In Christian mysticism, especially during the 14th and 15th centuries, mystical experience wasverbalized in musical terms: the »sound of heaven« became, in a way, the mystical unionitself. An example for this can be found in The book of Margery Kempe (c. 1439), where asupernaturally sweet melody causes the »creature« to embark on a search for heaven andholiness. The origins of musico-mystical concepts are traced back to biblical images of theliturgy of the heavens on the one hand, and Augustine’s concept of »jubilatio« on the other,and considered in a brief overview of medieval mystical language. Three authors are singledout for discussion: the Belgian beguine Mary of Oignies (d. 1213), the German DominicanHeinrich Seuse (d. 1366) and, especially, the English hermit Richard Rolle (d. 1349) and histreatise Melos amoris. In conclusion, some speculations on the pervasiveness of musico-mystical concepts and possible implications for our understanding of sacred polyphony inthe Renaissance are offered.