Kindheit und Minne = Kinderminne? Gleichung mit Unbekannten

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1 Kindheit und Minne = Kinderminne? Gleichung mit Unbekannten Christian Buhr, M.A. (Würzburg) Cele pucele, qui la siet, / m’ama des enfance et je li. (Chrétien de Troyes: Erec et Enide, V. 6052f.) 1 Zwei Menschen, die physiologisch und geistig als Heranwachsende oder in sozialer Hinsicht als noch nicht erwachsen gekennzeichnet sind, stehen sich so nahe, dass sie sich viel zu früh und meist gegen den Willen der Eltern oder gegen herrschende Vorstellungen gesellschaftlicher Ordnung ineinander verlieben. Sie kämpfen für ihre Liebe, die sie mit dem Ernst und mit der Sprache der Erwachsenen betreiben, und gehen dabei entweder tragisch unter oder werden schlussendlich oft dank einer glücklichen Schicksalswendung doch miteinander vereint. Wahrscheinlich gehört dieses Thema, das auch innerhalb der höfisch-mittelalterlichen Liebesdichtung aufgegriffen und vielfach variiert wird, zu den ältesten Mythen der Menschheit. In der germanistischen Mediävistik ist für dieses Hereinbrechen der Liebe im Kindesalter der romantische Neologismus ‚Kinderminne‘ gebräuchlich ein eigentümliches Kompositum, das nach authentischem Mittelhochdeutsch klingen will und suggeriert, dass es sich um eine simple, sich selbst erklärende Gleichung handle: Kindheit und Minne ergibt Kinderminne. Doch trotz zahlreicher Betrachtungen einzelner ‚Kinderminneromane‘ wurde eine grundlegende literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Kinderminne bislang nur in Ansätzen versucht. Ausgehend von Ignace Feuerlichts Studie über den provenzalischen Minnesang, hat sich einerseits ein literatursoziologisches Erklärungsmuster etabliert, das die Prominenz der höfischen Kinderliebesthematik mit der Erziehung der Knaben an den Höfischen des Mittelalters begründet. Diese habe das Verhältnis abhängiger junger Adliger zu ihren Herrinnen und Erzieherinnen so gefestigt, dass sich Spuren davon nicht nur in der literarischen Produktion der Dichtersubjekte niederschlügen, sondern auch beim Publikum eine Disposition hervor riefen, die für die poetische Behandlung der Kinderliebe in Lyrik und Epik besonders empfänglich mache. Kurzum: Frauendienst erwachse also aus dem Pagendienst. 2 Beispielhaft hierfür mag das in Wolframs Parzival dargestellte Verhältnis des jungen angevinischen Ritters Gahmuret zu Anphlise, der Königin von Frankreich, sein. Doch es darf bezweifelt werden, dass Wolfram bei seiner gegenüber der Quelle frei hinzugefügten Nebenhandlung wirklich ein konkretes Abbild einer nicht ungewöhnlichen gesellschaftlichen Erscheinung zeichnen wollte. Vor allem 1 Zit. nach Chrétien de Troyes. Erec et Enide. Erec und Enite, hg. v. Albert Gier, Stuttgart 1987. Das Mädchen, das dort sitzt, liebt mich seit ihrer Kindheit, und ich sie ebenso. 2 Vgl. Ignace Feuerlicht: Vom Ursprung der Minne, in: Der provenzalische Minnesang. Ein Querschnitt durch die neuere Forschungsdiskussion, hg. v. Rudolf Baehr, Darmstadt 1967, S. 263-302, hier: S. 274f. und Ignace Feuerlicht: Vom Ursprung der Minne, in: Archivum Romanicum 23 (1939), S. 140-177, hier: S. 148f. sowie Ingrid Kasten: Frauendienst bei Trobadors und Minnesängern im 12. Jahrhundert. Zur Entwicklung und Adaption eines literarischen Konzepts, Heidelberg 1986 [= Beihefte zur Germanisch- romanischen Monatsschrift 5], S. 89f.

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Kindheit und Minne = Kinderminne?

Gleichung mit Unbekannten

Christian Buhr, M.A. (Würzburg)

Cele pucele, qui la siet, / m’ama des enfance et je li.

(Chrétien de Troyes: Erec et Enide, V. 6052f.)1

Zwei Menschen, die physiologisch und geistig als Heranwachsende oder in sozialer

Hinsicht als noch nicht erwachsen gekennzeichnet sind, stehen sich so nahe, dass sie

sich viel zu früh und meist gegen den Willen der Eltern oder gegen herrschende

Vorstellungen gesellschaftlicher Ordnung ineinander verlieben. Sie kämpfen für ihre

Liebe, die sie mit dem Ernst und mit der Sprache der Erwachsenen betreiben, und gehen

dabei entweder tragisch unter oder werden schlussendlich – oft dank einer glücklichen

Schicksalswendung – doch miteinander vereint. Wahrscheinlich gehört dieses Thema,

das auch innerhalb der höfisch-mittelalterlichen Liebesdichtung aufgegriffen und

vielfach variiert wird, zu den ältesten Mythen der Menschheit. In der germanistischen

Mediävistik ist für dieses Hereinbrechen der Liebe im Kindesalter der romantische

Neologismus ‚Kinderminne‘ gebräuchlich – ein eigentümliches Kompositum, das nach

authentischem Mittelhochdeutsch klingen will und suggeriert, dass es sich um eine

simple, sich selbst erklärende Gleichung handle: Kindheit und Minne ergibt

Kinderminne. Doch trotz zahlreicher Betrachtungen einzelner ‚Kinderminneromane‘

wurde eine grundlegende literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der

Kinderminne bislang nur in Ansätzen versucht.

Ausgehend von Ignace Feuerlichts Studie über den provenzalischen Minnesang,

hat sich einerseits ein literatursoziologisches Erklärungsmuster etabliert, das die

Prominenz der höfischen Kinderliebesthematik mit der Erziehung der Knaben an den

Höfischen des Mittelalters begründet. Diese habe das Verhältnis abhängiger junger

Adliger zu ihren Herrinnen und Erzieherinnen so gefestigt, dass sich Spuren davon nicht

nur in der literarischen Produktion der Dichtersubjekte niederschlügen, sondern auch

beim Publikum eine Disposition hervor riefen, die für die poetische Behandlung der

Kinderliebe in Lyrik und Epik besonders empfänglich mache. Kurzum: Frauendienst

erwachse also aus dem Pagendienst.2 Beispielhaft hierfür mag das in Wolframs Parzival

dargestellte Verhältnis des jungen angevinischen Ritters Gahmuret zu Anphlise, der

Königin von Frankreich, sein. Doch es darf bezweifelt werden, dass Wolfram bei seiner

gegenüber der Quelle frei hinzugefügten Nebenhandlung wirklich ein konkretes Abbild

einer nicht ungewöhnlichen gesellschaftlichen Erscheinung zeichnen wollte. Vor allem

1 Zit. nach Chrétien de Troyes. Erec et Enide. Erec und Enite, hg. v. Albert Gier, Stuttgart 1987. Das

Mädchen, das dort sitzt, liebt mich seit ihrer Kindheit, und ich sie ebenso. 2 Vgl. Ignace Feuerlicht: Vom Ursprung der Minne, in: Der provenzalische Minnesang. Ein Querschnitt

durch die neuere Forschungsdiskussion, hg. v. Rudolf Baehr, Darmstadt 1967, S. 263-302, hier: S. 274f.

und Ignace Feuerlicht: Vom Ursprung der Minne, in: Archivum Romanicum 23 (1939), S. 140-177, hier:

S. 148f. sowie Ingrid Kasten: Frauendienst bei Trobadors und Minnesängern im 12. Jahrhundert. Zur

Entwicklung und Adaption eines literarischen Konzepts, Heidelberg 1986 [= Beihefte zur Germanisch-

romanischen Monatsschrift 5], S. 89f.

2

aber ist zu bemerken, dass es sich hierbei um eine Geschichte handelt, die nach dem

Willen eines ansonsten zu allerlei Digressionen neigenden Erzählers – vielleicht als

verworfener Lebensweg des Heldenvaters – im Hintergrund verbleiben soll.3

So zeugen Gahmuret und Anphlise auch von der begrenzten des

literatursoziologischen Modells für jene Kinderminneromane, die doch ganz anderes

darstellen als die unmittelbare Lebenswirklichkeit höfischer Knaben – ganz abgesehen

von den fragwürdigen biographistischen und literaturhistorischen Implikationen eines

solchen Deutungsansatzes. Spätere soziologische Ansätze etwa von Ursula Liebertz-

Grün kritisieren zwar Feuerlichts These,4 nehmen damit aber auch das Problem der

Kinderminne aus dem Blickfeld. Rüdiger Schnells grundlegende Darstellung höfischer

Liebesdiskurse weiß diese daher nur den einzelnen Darstellungstraditionen zu

unterstellen, ohne dass dabei noch ein spezifischer Eigenwert des mittelalterlichen

Erzählens von kindlicher Liebe hervorgehoben würde.5

An dieser Stelle könnte also eine narratologische Untersuchung der Kinderminne

unter Umständen wertvolle Erkenntnisse liefern. Doch die formalistische

Erzählforschung tendiert dazu, so sie sich denn überhaupt mit der poetischen Faktur

dieser Texte auseinandersetzt, ein höchst vitales Genre in ein enges narratives Korsett

zu zwängen, ohne dabei noch auf konkrete literarische oder mentalitätsgeschichtliche

Fragen Antwort zu geben.6

So blieb die Forschung bislang einer genauen Definition der Kinderminne in

Abgrenzung zu späteren Kinderliebeserzählungen ebenso schuldig wie einer exakten

Einordnung des Phänomens in Kontext der Herausbildung der mittelalterlichen

Liebesdichtung. Die vorliegende Studie wird versuchen, die vorhandenen Leerstellen

mittels eines komparatistischen Verfahrens zu schließen, das epische und lyrische

Äußerungen gleichermaßen zu erfassen und diese in zeitgenössische erotische Diskurse

zu integrieren versucht. Dabei wird eine erhöhte Signifikanz lyrischer Elemente und

Motive im Rahmen des Erzählens von der Kinderminne zu beobachten sein, die es – so

meine These – als ein lyrisches Übertragungsphänomen zu begreifen gilt.

1. Begriffsgeschichte

Höfische Romane und Erzählungen wie „Flore und Blanscheflur“, die von dem Glück

und dem Leid handeln, das aus der Liebe zweier Kinder resultiert, werden in der

germanistischen Mediävistik unter dem Begriff der ‚Kinderminne‘ subsumiert. Für

3 Zu Anphlise und ihrer Rolle im „Parzival“ und im „Titurel“ siehe Christoph März: Anphlise und

Wolfram: eine Mésalliance?, in: ZfdA 121 (1992), S. 20-36. 4 Siehe Ursula Liebertz-Grün: Zur Soziologie des ‚amour courtois‘. Umrisse der Forschung, Heidelberg

1977, S. 85-88, die an dem von Feuerlicht geprägten Ansatz insbesondere den Zirkelschluss herausstellt,

der darin besteht, dass die im „Frauendienst“ Ulrichs von Liechtenstein vorgefundene Verarbeitung

höfischer (Lied-)Kultur als Grundlage für einen – allzu simplen – Vergleich zwischen Troubadours und

Minnesängern herangezogen wurde. 5 Rüdiger Schnell: Causa Amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen

Literatur, Bern und München 1985. 6 Beispielhaft hierfür Armin Schultz: Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle

Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik: „Willehalm von Orlens“ – „Partonopier und Meliur“ –

„Wilhelm von Österreich“ – „Die schöne Magelone“, Berlin 2000. Wertvolle Grundlagen für eine

vertiefte narratologische Auseinandersetzung mit Kinderminneromanen vom Typus „Flore und

Blanscheflur“ bietet dagegen das Kapitel „Dynastische Allianz und minne“ in Jan-Dirk Müller: Höfische

Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007.

3

diesen nicht ganz unproblematischen Terminus gibt es in anderen philologischen

Fachgebieten kein unmittelbares Äquivalent. Die Romanistik etwa zählt alle

sogenannten Kinderminneromane aufgrund ihrer Erzählstruktur pauschal zu den

Abenteuerromanen (roman d’aventiure)7 und bildet für die handlungsarmen, wenig

chevaleresken und daher eher lyrisch anmutenden Erzählungen – etwa die version

artistocratique des Flore-Romans – die Kategorie der idyllischen Romane (roman

idyllique).8 Andere Klassifizierungsversuche stellen die relativ exakte Topographie

dieser Texte und ihre meist im antiken Mittelmeerraum angesiedelte Handlung in den

Vordergrund, weshalb seit Anthime Fourriers im Jahr 1960 veröffentlichter Studie, die

auf instruktive Weise die Grundzüge eines Realismus im roman courtois skizziert, in

Abgrenzung zur märchenhaft-wunderbaren Welt des Artusromans von Texten

gesprochen wird, worin ein tendenziell realistischer Erzählmodus wirksam ist. Aus

formalästhetischen Gründen subsumiert Fourrier die Kinderliebeserzählungen also unter

den courant réaliste.9

Der Germanist und Literaturhistoriker Wolfgang Golther hingegen stellt schon

1893 fest, ‚Kinderminne‘ im Stile des „Titurel“ oder des Flore-Romans sei ein Thema

oder ein Genre, das den Zeitgenossen gefallen habe.10

Dass diese beiden doch sehr

verschiedenen Texte in einem Atemzug genannt werden können, setzt voraus, dass die

Kinderliebe in der höfischen Dichtung als ein literarisches Konzept sui generis zu

denken ist. Gustav Ehrismann verwendet in seiner 1927 erschienenen

Literaturgeschichte Kinderminne und Kinderliebe synonym11

und gilt damit als

vorbildhaft für die Studien von Erwin Wendt12

, Helmut de Boor13

und Hannes

Kästner14

.

Den exakten Ursprung dieses im mittelhochdeutschen Wortschatz indessen gar

nicht vorhandenen Begriffs zurückzuverfolgen, ist mir nicht gelungen. Er reicht wohl

bis weit ins 19. Jahrhundert hinein – eine literarische Phase also, in der die Liebe

zwischen Kindern oder ehemaligen Spielgefährten gerade höchste Konjunktur hatte.

Vieles deutet darauf hin, dass der Terminus dem „Titurel“ abgelauscht ist (Owê, minne,

waz touc // dîn kraft under kinder, V. 49,1)15

. Andere Spuren führen zu Walthers König-

7 Vgl. Erich Köhler: Vorlesungen zur Geschichte der französischen Literatur. Mittelalter I, Stuttgart:

1985, S. 170f. 8 Dieser Begriff wird von Myrrha Lot-Borodine insbesondere zur Charakterisierung des Flore-Romans

gebraucht. Als zentraler Bezugspunkt hierfür dient ihr hierfür die arkadische Liebesdichtung, wie sie die

von Longos erzählte Hirtengeschichte „Daphnis und Chloe“ repräsentiert. Vgl. Myrrha Lot-Borodine: Le

roman idyllique au Moyen Age, Genf 1972, S. 9 und S. 63. 9 Vgl. Anthime Fourrier: Le courant réaliste dans le roman courtois en France au moyen âge. Bd. 1: Les

débuts (XII. siècle), Paris: 1960, S. 13f. Zum Realismus als ästhetische Eigenschaft des Schicksalsromans

vgl. auch Köhler [Anm. 2], S. 171f. 10

Vgl. Wolfgang Golther: Die deutsche Dichtung im Mittelalter. 800-1500. Neu gesetzte und

überarbeitete Ausgabe nach der Ausgabe Stuttgart 1912, Wiesbaden 2005, S. 228. 11

Vgl. Gustav Ehrismann: Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters. 2. Teil:

Die mittelhochdeutsche Literatur. 2. Abschnitt: Blütezeit (1. Hälfte), München 1927, S. 65 und S. 294. 12

Erwin Wendt: Sentimentales in der deutschen Epik des 13. Jahrhunderts, Borna-Leipzig 1930. 13

Helmut de Boor: Die höfische Literatur. Vorbereitung, Blüte, Ausklang (1170-1250), 11. Aufl.,

München 1991 [= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 2]. 14

Hannes Kästner: Minne und kintheit sint ein ander gram. Kinderminne bei Walther von der

Vogelweide und einigen seiner Zeitgenossen, in: Poetica 34, 2002, S. 307-322. 15

Zit. nach Wolfram von Eschenbach: Titurel, hg. v. Helmut Brackert und Stephan Fuchs-Jolie, Berlin

und New York 2003.

4

Heinrich-Ton (minne und kintheit sint einander gram, L. 102,8)16

und selbstverständlich

auch zu der bereits erwähnten Versroman „Flore und Blanscheflur“. Sophie Bernhardi

reimt in ihrer von August Wilhelm Schlegel herausgegebenen, als episches Gedicht in

zwölf Gesängen verfassten sentimentalen Adaption der Erzählung: „Da rangen nun die

Diener nach Gewinne, / Verriethen roh der zarten Kinder Minne.“17

Von dem heute

meist unbedarft verwendeten Kompositum sind ihre Verse bloß noch ein ein

Leerzeichen entfernt.

Nun muss nicht eigens die mittelalterliche Literatur konsultiert werden, um

Erzählungen, Mythen und Phantasmagorien ausfindig zu machen, die kindliche Figuren

zu Protagonisten von Liebesgeschichten erheben, um sie entweder auf tragische Weise

untergehen zu lassen oder – nach einem Abstieg ins Tal der Tränen – eine spätere,

ernste Liebe anzubahnen. Wer die antike Literatur sondiert, kann mühelos bei Ovid

fündig werden; genannt seien an dieser Stelle das für das Mittelalter so bedeutsame

Liebespaar Pyramus und Thisbe sowie die in den „Heroides“ erzählte Geschichte von

Hero und Leander – letztere wurde bis heute in Form der Ballade von den zwei

Königskindern konserviert.18

Nicht von geringerem Rang ist die von Johann Wolfgang

Goethe über die Maßen geschätzte Hirtendichtung „Daphnis und Chloe“ des Longos.

Jenseits der Antikenrezeption finden sich neuzeitliche Spuren der Liebe zwischen

Kindern auch in Aufklärung, Klassik und Romantik. Davon zeugen Voltaires „Candide“

und der rousseauistische Kinderliebesroman des Bernardin de Saint-Pierrre („Paul und

Virginie“) ebenso wie die Popularität der Mignon-Gestalt und Joseph von Eichendorffs

„Marmorbild“. In der Zeit des Biedermeier und im Realismus wird schließlich die

Kinderliebe, deren Glück in der Regel nicht in weiter Ferne, sondern – meist nur eine

Haustür weiter – im unmittelbaren Nahbereich liegt, gar zum literarischen Ideal

(„Immensee“, „Romeo und Julia auf dem Dorfe“). Die literarische Moderne hat dieses

Thema mit einigem Schaudern unter (auto-)biographischer und psychoanalytischer

Perspektive neu gefasst („Les Enfants Terribles“, „Gefährliche Geliebte“), während sich

die romantische Idee von der kindlichen Liebe gegen Ende des 20. Jahrhunderts noch

einmal bei den Drehbuchschreibern („My Girl“) und Kinderbuchautoren („Ben liebt

Anna“) größter Beliebtheit erfreute. Man darf also – mit einiger Vorsicht – die

Kinderliebe als ein nahezu universelles literarisches Phänomen betrachten, das eine dem

Erzählen von der Liebe stets innewohnende lyrisch-epische Emergenz darstellt.19

2. Mittelalterliche Kinderlieben

In seiner Arbeit zu den literarischen Kinderlieben im deutschsprachigen Realismus

schließt Sebastian Susteck das Vorhandensein mittelalterlicher Kinderliebeserzählungen

kategorisch aus. Hierbei folgt er der von Philippe Ariès nachhaltig geprägten Annahme,

16

Zit. nach Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche, 14., völlig neubearb. Aufl. d.

Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner, hg. v. Christoph Cormeau,

Berlin und New York. 17

Sophie Bernhardi: Flore und Blanscheflur. Ein episches Gedicht in zwölf Gesängen, hg. v. August

Wilhelm von Schlegel, Berlin 1822, S. 34. 18

Vgl. Jaromír Jech: Hero und Leander, in: Enzyklopädie des Märchens, hg. v. Rolf Wilhelm Brednich,

Bd. 6: Gott und Teufel auf Wanderschaft – Hyltén-Cavallius, Berlin und New York 1990, Sp. 845-851,

hier: S. 846. 19

Vgl. Sebastian Susteck: Kinderlieben. Studien zum Wissen des 19. Jahrhunderts und zum

deutschsprachigen Realismus von Stifter, Keller, Storm und anderen, Berlin und New York 2010, S. 10.

5

wonach die Entdeckung der Kindheit ein besonderes Kennzeichen der Neuzeit

darstelle.20

Während vor allem die griechische Antike erste Vorstellungen von

unterschiedlichen Lebensaltern und Entwicklungsstufen entwickelt habe, gehe dieses

Wissen im Mittelalter fast vollständig verloren, gerate das Kind aus dem Blickpunkt der

Gesellschaft. Wenn aber in der Welt des Mittelalters „kein Platz für die Kindheit“21

ist,

wenn also die pädagogische Vorstellung von der Kindheit als Schutzraum vor dem

Erwachsenwerden überhaupt nicht vorhanden war, wie konnten dann die Grundlagen

für die Entstehung eines Erzählens von der Kinderliebe als literarisches Genre irgend

gegeben sein?

Anderseits gibt der Begriff Kinderminne vor, dass es eine spezifische

Besonderheit hochmittelalterlicher Kinderlieben gäbe. In ihrer Studie über die Figur des

Kindes in der mittelhochdeutschen Dichtung kommt Agnes Geering sogar zu dem

Schluss, dass die Liebe im Kindesalter ein für die höfische Dichtung geradezu

charakteristisches Phänomen sei.22

Beide Positionen lassen sich harmonisieren: Susteck

ist insofern zuzustimmen, als der Fokus der Kinderminneromane nicht auf der Kindheit

als einem entwicklungspsychologisch abgrenzbaren Eigenraum liegt, der sich literarisch

darstellen und ausgestalten ließe. Ohnedies meint ja der mittelhochdeutsche Begriff kint

im weiteren Sinne nur einen noch relativ jungen und dementsprechend in besonderer

Weise der sozialen Hierarchie unterworfenen Menschen ohne konkrete Altersangabe.23

Im Vordergrund der mittelalterlichen Kindheitserzählungen steht vielmehr die Minne

selbst; diese Texte sind im Grunde Liebesromane unter veränderten sozialen

Bedingungen: Die Wahl kindlicher Protagonisten bietet einerseits ein originelles

narratives Potential, das sich auf der Ebene der histoire zuweilen stark von anderen

zeitgenössischen Erzählstoffen abhebt, andererseits schafft die Verlagerung der Liebe in

die Jugend neue, gegenüber jedweder Art von Geschlechtlichkeit vordergründig

distanzierte Formen des Sprechens von der Liebe. Mit anderen Worten:

Kinderminneromane sind nicht die verzärtelt-pädagogischen Kinderbuchfassungen des

höfischen Liebesromans, Diskursivierungen höfischer Liebe von spezifischem

Eigenwert.24

Ein kurzer Blick auf die Erzählliteratur der Zeit um 1200 bestätigt diesen

Eindruck: So ist spätestens ab der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts ein rasanter

Anstieg der literarischen Beschäftigung mit der Kindheit zu beobachten: Zunehmend

werden Figuren portraitiert, die als noch nicht erwachsen gelten können, und es wird

eine nennenswerte Zahl an Kurzerzählungen und Romanen verfasst, die von der

Kameradschaft oder der Liebe zweier Kinder handeln.25

In Frankreich, wo es bereits um

1170 einen Flore-Roman, einen Narziss-Lai und einen Lai von Pyramus und Thisbe

gibt, tritt diese Entwicklung einige Jahrzehnte früher ein. Hat hier auch jene Aventiure

ihren Platz, mit der Chrétien de Troyes seinen Erec-Romans beschließt? Vielleicht ist

es literaturgeschichtlich kein Zufall, dass der Erzähler seinen Rezipienten sehr deutlich

20

Vgl. ebd., S. 14. 21

Philippe Ariès: Geschichte der Kindheit, 17. Aufl., München 2011. 22

Vgl. Agnes Geering. Die Figur des Kindes in der mittelhochdeutschen Dichtung, Zürich 1899, S. 51f. 23

Zu den verschiedenen Bezeichnungen für Kinder und Jugendliche im Mittelhochdeutschen siehe James

A. Schultz: The Knowledge of Childhood in the German Middle Ages. 1100-1350, Philadelphia 1995, S.

23-31. Eine kritische Auseinandersetzung mit divergierenden Kindheitsvorstellungen und der

Unvereinbarkeit lateinisch-gelehrter und volkssprachlich-höfischer Traditionen findet sich am selben Ort

auf S. 39f. 24

Jan-Dirk Müller [Anm. 6], S. 404. 25

Vgl. Schultz [Anm. 23], S. 214.

6

zu verstehen gibt, wie das Problem von joie de la court zu verstehen ist: die

verhängnisvolle Verbindung von Mabonagrin und seiner Dame entwirft er als eine aus

den Fugen geratene, hermetisch gegen die Außenwelt abgeschirmte Liebe, die aus einer

seit frühester Jugend bestehenden Verbindung resultiert: Cele pucele qui la siet / m’ama

des enfance, et je li (V. 6052f.).26

Das allgemeine Verlangen nach Kinder- und Kinderliebesgeschichten ist in

dieser Zeit offenbar so groß, dass die Erzähler mehr und mehr dazu tendieren, selbst

bekannte ‚erwachsene‘ Romanfiguren in die Kindheit oder zumindest in ein relativ

junges Alter zurückzuversetzen. Es sind so unterschiedliche Helden wie Rennewart,

Lanzelot und Alexander, die allesamt nicht gerade als ‚Kinderstars‘ die literarische

Weltbühne betraten und nun dennoch ex post nach dem Geschmack der Zeit übertüncht

werden. In einigen Fällen wird ihnen dann auch eine erste kindliche Liaison

angedichtet, oft wissen sie aber nur wenig von der Liebe. Ihre Existenz also Kind

bereitet dann vielmehr den künftigen Status als Ritter vor.27

Mit der großen Welle der Adaption bekannter literarischer Stoffe durch die Neu-

und Wiedererzähler des 13. Jahrhunderts erfasst dieses Schicksal schließlich sogar die

Nebenfiguren, sei es im Zuge einer zur amplificatio tendierenden Bearbeitungsstrategie

oder einer auf das Enzyklopädische ausgerichteten Poetik. Um diesen Prozess sichtbar

zu machen, eignet sich ein vergleichender Blick auf eine frühe und eine späte

Tristanfassung: Hatte Eilhart von Oberg die Liebe von Tristans Schwager Kehenis zu

der verheirateten Dame Garîôle noch so allgemein gehalten, dass er lediglich von

heimlicher Liebe und einem wie auch immer gearteten älteren Anrecht spricht (nuo hett

dú frow gar lӱß / geloubt Keheniß, / e sú ainen man an nem, V. 8172-8174)28

, so lässt

Heinrich von Freiberg am Ende des 13. Jahrhunderts seine Figuren präzisieren, dass das

Paar bereits seit gemeinsam verbrachten Kindheitstagen in Liebe verbunden sei:

Diu süeze, wandels frîe

genennet ist Kassîe,

gein der mîn herze liebe treit;

wan wir in unser kintheit

mit einander sîn gezogen

und grôzer liebe hân gepflogen

mit einander von kinde unz her.

(Heinrich von Freiberg: Tristan, V. 5757-5763)29

Der Befund der hier vorliegenden, eher heuristisch angelegten Materialsammlung ist

indessen leicht widersprüchlich: Unter qualitativen Gesichtspunkten fällt auf, dass das

Motiv des liebenden Kindes vielfach nur den Nebenschauplatz oder das Eingangsbild

eines epischen Texts darstellt, der letzten Endes von ganz anderen Dingen handelt als

von Herzensangelegenheiten. Zuweilen belassen es die Erzähler lediglich bei Zitaten

und opaken Andeutungen, die unser Interesse wecken, schließlich aber nicht selten an

26

Vgl. Friedrich Wolfzettel: Bilder des Irdischen Paradieses im (französischen) Mittelalter und bei Dante,

in: DDJ 83, 2008, S. 61-91, hier: S. 82. 27

Vgl. James A. Schultz: No Girls, No Boys, No Families. On the Construction of Childhood in Texts of

the German Middle Ages, in: JEGP 94, 1995, S. 59-81, hier: S. 67f. 28

Zit. nach Eilhart von Oberg: Tristrant und Isalde. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg. v. Wolfgang

Spiewok und Danielle Buschinger, Greifswald 1993. 29

Zit. nach Heinrich von Freiberg: Tristan, in: Heinrich von Freiberg, hg. v. Alois Bernt, Halle 1906.

7

den Rändern der erzählten Welt versanden. In Wolframs Werken ist dieses Verfahren

besonders ausgeprägt – eine Vielzahl äußerst knapp umrissener und schemenhaft

beschriebener Jugendlieben wird hier in den Haupttext eingelassen: Gahmuret und

Ampflise, Sigune und Schionatulander, Obie und Meljanz, Rennewart und Alize. Doch

auch andere mittelhochdeutsche Dichter führen die Kinderminne in ihrem Repertoire

höfischer Liebesmotive. Nachklassischen Romanen wie „Mai und Beaflor“ oder

„Tandareis und Flordibel“ mangelt es ebenso wenig an Kindheitsskizzen dieser Art wie

dem „Lanzelet“ Ulrichs von Zatzikhoven, der sowohl die erste Liebe des Helden als

auch die Liebesgeschichte zwischen dem Ritter Loifilol und seiner Dame unzweifelhaft

als Kinderminne markiert.

Daneben gibt es eine ganze Serie von Texten, in deren Verlauf die Liebe

zwischen zwei Kindern ein weitläufiges Programm von Prüfungen und Abenteuern

generiert, das den noch unfertigen männlichen Helden nach Art des

Entwicklungsromans heranreifen lässt. Auch diese Romane sind im engeren Sinne

Kinderminneromane, doch sie neigen von der Mitte des 13. Jahrhunderts an

fortschreitend zur Hybridisierung, verbinden also eine ursprüngliche

Kinderliebesgeschichte mit einer Motivik, die beispielsweise dem Feenroman oder

legendarischen Texten entlehnt ist („Friedrich von Schwaben“, „Reinfried von

Braunschweig“).

In absoluter Reinform wird die Kinderliebe wohl nur in jenen Texten überliefert,

die nach dem Schema ‚idyllischer‘ Liebeserzählungen vom Typus „Flore und

Blanscheflur“ gearbeitet sind. Gegenüber dem eingangs konstatierten Befund vom

ubiquitären Bild der Liebe zwischen zwei Heranwachsenden in der höfischen Literatur

nimmt sich deren Zahl äußerst gering aus. Es scheint, als ließe sich das Thema nur

begrenzt literarisch produktiv machen. Womöglich ist, wie Rüdiger Krohn in Bezug auf

die altfranzösische Erzählung „Aucassin und Nicolette“ vermutet, der nahezu

reibungslose, von ‚metaformeller Gnade‘30

regulierte Handlungsverlauf für ein gewisses

Desinteresse seitens der Dichter und des Publikums verantwortlich. Die schlechte

Überlieferung von Romanen über so problemlose Liebespaare wie Flore und

Blanscheflur scheint dieser Ansicht ebenso Recht zu geben wie die Tatsache, dass sich

die abenteuerlicheren und somit spannungsreicheren Volksbuchfassungen dieser Stoffe

demgegenüber – freilich bei einem etwas anderen Publikum – oft größter Beliebtheit

erfreuten.31

3. Definition

In jeder der genannten Kinderliebeserzählungen finden wir bestimmte Vorstellungen,

die heute wohl als Sandkastenliebe oder Schwärmerei bezeichnet würden:

Liebesverhältnisse, die so ausgestaltet sind, dass sich die Partner bereits seit ihren

Kindertagen kennen und oft sogar ehemalige Spielkameraden sind. Im engeren Sinne

geht es also um eine Beziehung zwischen zwei Heranwachsenden, die eine Intensität

30

Elisabeth Schmid: Über Liebe und Geld. Zu den Floris-Roman, in: Der fremdgewordene Text.

Festschrift für Helmut Brackert, hg. v. Silvia Bovenschen u.a., Berlin und New York 1997, S. 42-57, hier:

S. 43. 31

Vgl. Rüdiger Krohn: Ein allzu problemloses Liebespaar. „Aucassin et Nicolette“ – und was die

deutschen Dichter daraus machten, in: Paare und Paarungen. Festschrift für Werner Wunderlich zum 60.

Geburtstag, hg. v. Ulrich Müller und Margarete Springeth, Stuttgart 2004, S. 197-212, hier: S. 200ff.

8

erreicht, die diejenige gewöhnlicher Kinderfreundschaften weit übersteigt. Unter

soziologischer Perspektive ließe sich hier eine interessante Intensivierung und

Akzentuierung des romantischen Liebescodes erkennen. Niklas Luhmann ging in

„Liebe als Passion“ bekanntlich davon aus, dass die romantische Liebe mit der

Idealisierung der Liebesheirat die Einheit von sexueller Leidenschaft und Ehe durch

Konzepte von lebenslanger Treue und Freundschaft amalgamiert – ein Ideal, das

Luhmann aus diskursprägenden literarischen Texten wie Friedrich Schlegels „Lucine“

induzierte, wo die ideale Partnerin beschrieben wird als eine Frau, dem Mann „zugleich

die zärtlichste Geliebte und die beste Gesellschaft wäre und auch eine vollkommene

Freundin.“32

Die Kinderliebe wiederum idealisiert eine Verbindung heterosexueller

Partner, deren Liebe bereits aus einer in die Kindertage zurückreichenden

Kameradschaft resultiert, so dass die Liebenden nicht erst im Laufe der Beziehung zu

Freunden oder Lebenspartnern werden, sondern es im Grunde immer schon sind. Aus

der zeitlichen Verschiebung resultiert also zugleich eine Verlagerung der Intimität vom

Eros zur Freundschaft.

In Abgrenzung zu modernen Konzeptionen von Kinderliebe ließe sich die

hochmittelalterliche Kinderminne als eine Form literarisch imaginierter kindlicher

Intimität beschreiben, bei der bestimmte höfische Liebesentwürfe in vorerwachsene

Entwicklungsstufen verlagert bzw. die Emotionen höfischer Mädchen und Knaben nach

dem Muster tradierter Vorstellungen von Liebe überformt werden. Die Liebenden

befinden sich folglich in einem relativ jungen Alter, in dem erotisches Begehren bzw.

ein hohes Maß an Intimität noch nicht zulässig ist, weil sie hierfür weder in körperlicher

noch in kognitiver Hinsicht reif sind, vor allem aber weil sie aus sozialer Perspektive

noch nicht als vollwertige Mitglieder der höfischen Gesellschaft gelten können.

Man könnte sie nach den Altersstufen des Augustinus, wenngleich für die

Betrachtung der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters nur wenig geeignet, der

infantia, der pueritia oder der adolescentia zuordnen.33

In erster Linie sind die

Protagonisten dieser Erzählungen eben noch-nicht Mann und noch-nicht Frau – und das

heißt mithin auch, dass sie noch als ‚jungfräulich‘ gelten dürfen.34

So lernen wir Sigune

und Schionatulander als heranwachsende Adlige in jugendlichem Alter kennen, die

noch von ihren Erziehern abhängig sind; als Knappe, nicht als Ritter begleitet

Schionatulander seinen Erzieher Gahmuret. Beide nähern sich der Liebe zwar naiv, aber

doch auf eine durchaus konventionelle Weise. Ebenso ist Willehalm von Orlens noch

weit davon entfernt, in der Schwertleite zum Ritter promoviert zu werden, als er in

Liebe zu Amelye entbrennt. Wilhelm von Österreich träumt bereits im zarten

Knabenalter von seiner fernen Geliebten und Flore und Blanscheflur lieben sich vom

Tag ihrer Geburt an. Letzteres ist ein Motiv, das Ulrich von Zatzikhoven parodiert,

wenn er seinen Erzähler im Kontext der Mantelprobe von der Nebenfigur Loifilol

berichten lässt, dieser habe seine Dame schon ein Jahr vor ihrer Geburt geliebt (ê siu

wurde geborn ein jâr, V. 5975)35

.

32

Friedrich Schlegel: Lucinde. Ein Roman, in: Ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Erste

Abteilung: Kritische Neuausgabe, Bd. 5: Dichtungen, hg. v. Hans Eichner, München u.a. 1962, S. 1-96,

hier S. 10. 33

Zum Konzept der Lebensalter siehe Ariès [Anm. 21], S. 69-91. 34

Vgl. Schultz [Anm. 23], S. 63f. 35

Zit. nach Ulrich von Zatzikhoven: Lanzelet. Studienausgabe, hg. v. Florian Kragl, Berlin und New

York 2009. Die Textstelle ist allerdings nicht eindeutig und ließe sich auch so verstehen, dass der Ritter

die Dame schon geliebt habe, seitdem sie ein Jahr alt ist. Der parodistische Gestus bleibt, wie Kragl

zutreffend anmerkt, in jedem Fall erhalten. Vgl. Florian Kragl: Stellenkommentar, in: Ulrich von

9

Die Zurückweisung der Körperlichkeit zugunsten von Reinheit und Askese, von

Tugendhaftigkeit und Geschwisterlichkeit gehört wohl zu den epochenübergreifenden

Merkmalen der Kinderliebe. Hinsichtlich der mittelalterlichen Vorstellung von Kindheit

ließe sich präzisieren: Wenn der Beginn konkreter sexueller Aktivität den Übergang

vom Knaben zum Mann, von der maget zum wîp markiert, dann endet die Kinderminne

unmittelbar mit ihrer sexuellen Erfüllung.36

Aus der kindlichen Paarbeziehung wird

dann eine Herrschaftsehe. Die tragischsten Kindergestalten aber, Pyramus und Thisbe,

entbrennen – jedenfalls in den volkssprachlichen Erzählungen des Mittelalters37

gerade nicht in libidinösem Begehren, sondern sterben, noch ehe es überhaupt zu einer

konkreten intimen Annäherung kommen kann.

Ein weiteres spezifisch mittelalterliches Charakteristikum ist ferner, dass fast

alle kindlichen und jugendlichen Liebespaare nicht etwa allein durch Naivität

gekennzeichnet sind, sondern dass sie sich vermittels ihrer höfischen Sozialisierung und

ihrer literarischen Bildung gewisse Grundkenntnisse in der Liebeskunst erworben

haben. Ihre Dialoge klingen dementsprechend immer seltsam altklug und gelegentlich

wird es heutigen Lesern wohl schwer fallen, sich des Eindrucks zu erwehren, die

Autoren hätten schlichtweg vergessen, dass sie Kinder darstellen wollten. Auch in

dieser Hinsicht sind die Kinder also „verkleinerte Ausgaben“38

erwachsener Menschen.

Die Sprache der Liebenden ist darüber hinaus so merklich dem Konzept der Hohen

Minne entlehnt, dass manche Dialoge den Charakter eines in einen Erzähltext

umgegossenen lyrischen Wechsels annehmen.39

In Konrad Flecks Flore-Roman klingt

die Liebesklage des Helden dann so:

‚genâde, frou künginne,

wie kumet daz iuwer minne

mir tegelich ist sô niuwe?

ich gibe iuch mîne triuwe,

daz ir mir verre lieber sint

dan daz einige kint

sîner muoter müge sîn.

waz sol des werden, frouwe mîn?

wan des lîd ich ungemach.‘

(Konrad Fleck: Flore und Blanscheflur, V. 777-785)40

Zatzikhoven: Lanzelet. Studienausgabe, hg. v. Florian Kragl, Berlin und New York 2009. S. 557-624, S.

605. 36

Zu den Auswirkungen des Eros auf das Ende der Kindheit siehe auchReinhard Clifford Kuhn:

Corruption in Paradise. The Child in Western Literature, Hanover/Penns. und London 1982, S. 128-172. 37

Auf die gelehrt-lateinische Tradition einer Deutung der Geschichte von Pyramus und Thisbe als

Warnung vor dem Libidinösen verweist Rüdiger Schnell [Anm. 5], S. 431. 38

Ariès [Anm. 21], S. 91. Siehe hierzu auch Geering [Anm. 22], S. 59. 39

Vgl. Werner Röcke: Liebe und Schrift. Deutungsmuster sozialer und literarischer Kommunikation im

deutschen Liebes- und Reiseroman des 13. Jahrhunderts, in: Mündlichkeit – Schriftlichkeit –

Weltbildwandel. Literarische Kommunikation und Deutungsschemata von Wirklichkeit in der Literatur

des Mittelalters und der frühen Neuzeit, hg. v. Werner Röcke und Ursula Schaefer, Tübingen 1996, S. 85-

108, hier: S. 98. Ähnlich bei James A. Schultz [Anm. 21], S. 144ff. 40

Zit. nach Konrad Fleck: Flore und Blanscheflur, in: Tristan und Isolde und Flore und Blanscheflur.

Zweiter Teil, hg. v. Wolfgang Golther, Berlin und Stuttgart 1889.

10

Das geliebte Mädchen wird dem Knaben zur Minneherrin, zur Königin, deren Gnade

allein sein Leid zu lindern vermag. Eingedenk ihrer Rolle antwortet die christliche

Sklavin Blanscheflur mit einer Reflexion über das Verhältnis von Kindheit und Minne:

‚Flôre, süezer âmîs,

joch minne ich iuch ze gelîcher wîs

und weiz got noch mêre.

doch wundert mich sêre

waz mir sî und wâ von.

joch solt ein kint sîn ungewon

solhes kumbers als ich trage

von iuwern schulden alle tage,

alle zît und alle stunde.‘

(Konrad Fleck: Flore und Blanscheflur, V. 787-795)

Selbst dann noch, wenn sie von Todesgefahr und gegenseitigem Verlust bedroht sind,

handeln die Kinder durchweg wie Erwachsene, entspricht ihr Verhalten den gängigen

Normen und Konventionen höfischer Liebe. Die Erzähler erklären diesen seltsamen

Umstand gerne damit, dass die gelesenen Liebeserzählungen oder aber Frau Minne

persönlich die Kinder liebesverständig (ze minnen verstanden, V. 725) gemacht hätten.

Egal ob im Gespräch, beim Verfassen eigener Gedichte oder angesichts von Abschied

und Verlust: jede Handlung der Liebenden gerät nun so offensichtlich zur lyrischen

Geste, dass die doch vermeintlich so naive Liebe der Kinder nun völlig im höfisch-

literarischen Diskurs aufgeht. Bei Luhmann heißt es:

Das Wagnis Liebe und die entsprechend komplizierte, anforderungsreiche

Alltagsorientierung ist nur möglich, wenn man sich dabei auf kulturelle Überlieferungen,

literarische Vorlagen, überzeugungsfähige Sprachmuster und Situationsbilder, kurz: auf

eine tradierte Semantik stützen kann.41

Dies ist bei Flore und Blanscheflur ebenso der Fall und wie bei Rudolfs „Willehalm von

Orlens“, wo der Protagonist im Alter von 13 Jahren die Kunst der Hohen Minne erlernt

und daraufhin seine Gespielin in den Rang einer Minneherrin erhebt, deren Gnade er

sich erhofft. Die mit sieben Jahren noch nicht im selben Ausmaß literarisch sozialisierte

Amelye reagiert auf diese Avancen mit Unverstand und wird von schame rot (V.

4812)42

. Stets verharrt die Kinderminne also im Spannungsfeld einer signifikanten

Sublimierung der Libido auf der einen und den Implikationen durchaus wirkmächtiger

erotischer Diskurse und Praktiken auf der anderen Seite. Kindliche Unschuld und

höfische Liebeskunst werden stets aufs Neue verhandelt. Die ungezwungene

Darstellung erster eigenständiger Liebeserfahrungen, wie sie bukolische Dichtung zu

vermitteln scheint, ist den mittelhochdeutschen Romanen fremd. Hier haben die Kinder

in der Regel Romane gelesen, und das heißt: Sie kennen den Code.

Die Behauptung, das Mittelalter habe die Liebe zwischen zwei Kindern verklärt,

ja die Kinderminne sei sogar, wie Kurt Ruh formuliert, eine „Feier des Großen und

41

Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/Main 1994, S. 47. 42

Zit. nach Rudolf von Ems: Willehalm von Orlens, hg. v. Victor Junk, 2. Aufl., Dublin u.a. 1967.

11

Reinen“43

, ist insofern äußerst verwunderlich. Nur, weil es sich um Kinder handelt,

sollte die vermeintliche Asexualität und Askese nicht den Blick darauf verstellen, dass

die meisten Erzähltexte die Kinder- und Jugendliebe unmittelbar als eine

problematische Extremform der höfischen Liebe darstellen, die durchaus sexuelle

Implikationen hat und neben erotischen vor allem soziale Gefahren birgt.44

Nicht allein Chrétien konfrontiert eine solchermaßen übersteigerte Intimität mit

der Symbolik pervertierter Ritterlichkeit von joie de la court. Ein kursorischer Blick auf

das Textkorpus genügt, um die Konsequenzen der Kinderminne zu erfassen: Flore

weigert sich aus Liebe, auch nur einen Gedanken an eine ihm ebenbürtige Partie zu

verschwenden und bringt damit seine Dynastie, die mehr oder minder über den

gesamten heidnischen Teil Europas herrscht, in Gefahr; Aucassin vernachlässigt sogar

seine Pflichten in der Landesverteidigung und gibt vor, lieber mit seiner geliebten

Nicolette in die Hölle gehen zu wollen, als ohne sie ins Paradies zu kommen, wo doch

nur lammfromme Pfaffen und zerlumpte Pilger ihr Nachleben verbrächten. Der junge

Willehalm von Orlens geht sogar noch einen Schritt weiter und entführt kurzerhand

seine Freundin Amelye, um eine Hochzeit mit dem spanischen König Avenis zu

verhindern. Und schließlich weiß der junge Held Wilhelm zum Entsetzen des Königs

Agrant, der das Paar wie König Marke heimlich belauscht, ziemlich genau, welcher

Vorgang dafür sorgt, dass man die Prinzessin nur als Mädchen bezeichnet, während

man die Königin doch eine Frau zu nennen pflegt. Wohl eher in spielerischer

Nachahmung der Eltern als in unmittelbar sexueller Absicht möchte er sich daher mit

Aglye nackent hin ze naht ligen (V. 1753).45

Wenn es bei der Kinderminne nur um Liebe in Gedanken ginge, dann wäre die

aus feudaler Perspektive stets befürchtete Mesalliance von geringer Bedeutung. Doch es

sind gerade die meist nur im Hintergrund mitschwingenden, nur vorläufig

ausgegrenzten Konsequenzen, die dafür sorgen, dass die Kinderminne nicht nur offensiv

gegen ein durch den Elternwillen verkörpertes politisches Verständnis von Liebe und

Eheschließung gerichtet ist, sondern auch die Funktionsfähigkeit der feudalen Ordnung

nachhaltig stört.46

Das bedrohliche, normwidrige Verhalten wird daher auch regelmäßig

mit Strafen wie Trennung, Gefangenschaft oder Verbannung sanktioniert. Die

feudalgesellschaftlichen Machtverhältnisse, die inszeniert werden, um an ihrem

Einwirken auf die widerständigen Protagonisten die uneingeschränkte Herrschaft und

die sentimentale Wirkung der Minne sichtbar zu machen, gehören zum strukturellen

Kern des Genres.

43

Vgl. Kurt Ruh: Walthers König-Heinrich-Ton (L. 101,23), in: Walther von der Vogelweide.

Hamburger Kolloquium 1988 zum 65. Geburtstag von Karl-Heinz Borck, hg. v. Jan-Dirk Müller und

Franz Joseph Worstbrock, Stuttgart 1989, S. 9-15, hier: S. 13. 44

Der vorliegenden Darstellung ist nicht daran gelegen, in dieser Sache eine einseitige Ausrichtung der

Kinderminne auf das Sexuelle zu propagieren. Es sei daher an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass

einige Romane, insbesondere der Flore-Roman, durchaus auch den Aspekt der Askese und der Idee der

Liebe als Gottesdienst herausstellen. Vgl. Geering [Anm. 22], S. 71. Insofern der paradiesische

Baumgarten, in dem sich Flore und Blanscheflur bevorzugt aufhalten, auch als christliches Symbol für

das Zeitalter vor dem Sündenfall betrachtet werden kann, wäre es eine durchaus lohnende Aufgabe,

diesen Gesichtspunkt weiter zu beleuchten und in diesem Zusammenhang etwa nach dem Verhältnis der

Kinderminneromane zu der zeitgenössischen, vor allem von Bonaventura und Thomas von Aquin

geprägten Diskussion um die Körperlichkeit bzw. das Geschlecht der Engel zu fragen. 45

Vgl. Jan-Dirk Müller [Anm. 6], S. 401. 46

Vgl. Walter Haug: Die höfische Liebe im Horizont der erotischen Diskurse des Mittelalters und der

frühen Neuzeit, Berlin und New York 2004, S. 22f.

12

In diesem Zusammenhang haben offensichtlich die narrativen Modelle der

Abenteuerromane nach griechisch-antikem Vorbild stilbildend gewirkt. Erzählungen

wie der „Apollonius von Tyrus“ beziehen ihr zentrales Spannungsmoment aus der

schicksalhaften Trennung der Liebenden. Hindernisse wie die Entführung, Verheiratung

oder Versklavung der Geliebten treiben nicht nur immer wieder die Handlung voran, sie

sind auch bestens geeignet, um die Passion zu befeuern und die Intensität der Liebe

unter Beweis zu stellen.47

So werden die Helden zu Wandernden, deren Bewegungen

innerhalb der erzählten Welt weniger auf einen inneren Abenteuertrieb als vielmehr auf

einen bestimmten äußeren Anlass – den Verlust der Geliebten – zurückzuführen sind.

Auf diese Erzähllogik greifen die meisten Erzählungen von Kinderminne

insofern zurück, als sie mit dem väterlichen Verbot des Liebesverhältnisses oder einer

gleichwirksamen gesellschaftlichen Norm einen elementaren Widerstand erzeugen. Das

‚Nein-des-Vaters‘48

, das die Helden überwinden müssen, um dem Jugendalter zu

entwachsen und ihre Geliebte wiederzugewinnen, ist somit das eigentliche Movens der

meisten höfischen Kindheitsromane. Noch einmal zeigt sich also, dass die Kinderminne

nicht die prinzipielle Andersheit kindlich-unschuldiger Liebe portraitiert, sondern

gerade aus dem Status der Kinder als von den Erwachsenen graduell verschieden schafft

– symbolisiert durch das autoritative Nein – jenen Raum schafft, in dem der gemäß der

‚Allianz von Liebe und Roman‘49

zu erwartende Verlauf der verfrühten

Liebesbeziehung, das heißt ihre planmäßige Überführung in die Ehe, retardiert und

zuweilen nachhaltig gestört wird.50

Das Modell der höfischen Kinderliebe hat damit

seinen charakteristischen Bauplan erhalten: Schicksalhafte Bestimmung der Kinder von

Geburt an, Verfeinerung und Entdeckung der Liebe, Strafe, Trennung und – im

günstigsten Fall – glückliche Wiedervereinigung (oft bei gleichzeitigem Tod der

Vaterinstanz) sowie anschließende Heirat. Das Resultat sind weniger Abenteuerromane

als ‚Schicksalsromane‘51

, die ihre Helden durch zahlreiche Prüfungen als ausdauernd,

demütig und geduldig, die Liebenden als uneingeschränkt treu und standhaft

hervorheben. Parallelen zum Tristanprogramm werden hier greifbar, doch besteht der

signifikante Unterschied der Kinderminneromane darin, dass in vielen Fällen am Ende

nicht die Protagonisten untergehen, sondern die alte Ordnung beseitigt und durch eine

neue, auf der einstigen Kinderliebe basierenden Herrscherdynastie ersetzt wird.

4. Lyrik

Karl Bartsch spricht in seinen Ausführungen zum „Parzival“ und zum „Titurel“ nicht

von Kinderminne, der romantische Neologismus ist ihm fremd. Seine Einführung in das

Werk Wolframs von Eschenbach gibt dennoch einen entscheidenden Hinweis für die

literaturwissenschaftliche Deutung dieses Phänomens. In Bezug auf Sigune und

47

Vgl. Schultz [Anm. 23], S. 201. 48

Jacques Lacan: Der Signifikant als solcher bedeutet nichts, in: Ders.: Das Seminar III. Die Psychosen,

hg. v. Jaques-Alain Miller, Weinheim und Berlin 1997, S. 217-231, hier: S. 229. 49

Niels Werber: Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation, München

2003, S. 9. 50

Vgl. Susteck [Anm. 19], S. 271. Diesem Typus folgen neben den bereits genannten Romanen auch die

altfranzösische ‚chantefable‘ „Aucassin et Nicolete“ und – mit einigen gattungsbedingten

Einschränkungen – sogar Wickrams „Goldfaden“. Pyramus und Thisbe hingegen gehen bei diesem

Versuch zugrunde. 51

Köhler [Anm. 7], S. 170.

13

Schionatulander spricht Bartsch vom lyrischen Charakter der Titurel-Bruchstücke,

deren Reiz vor allem dem lyrischen Hang der Jugend gerecht werde. Der Stoff habe

gerade für Anfänger einen besonderen Reiz (wobei er im Unklaren lässt, ob er den

Leser oder den Dichter meint) und stehe freilich der gereiften Männlichkeit in Form der

tiefen und großartigen Idee des „Parzival“ diametral gegenüber. Aus alldem sei zu

schlussfolgern, dass der „Titurel“ zweifellos Wolframs Jugendwerk sein müsse.52

Bartsch führt weiter aus:

Der Hauptinhalt derselben (Bruchstücke) steht dem Wesen der Lyrik sehr nahe: die

Gespräche über die Minne erörtern die Natur der Liebe, wie es die Lieder der

Minnesinger auch thun.53

Dieser Befund trifft – wie oben gezeigt – auch auf Flore und Blanscheflur zu, die nicht

nur die Rhetorik der Minnesänger beherrschen, sondern auch eigene getiht (V. 824)

über die Liebe zu verfassen imstande sind. Mit einem besonderen Blick auf solche

Übertragungsphänomene können vielfältige, komplexe und vor allem auch

wechselseitige Beziehungen zwischen Kinderminne und Lyrik festgestellt werden, die

mit einem einfachen Intertextualitätsbegriff nicht so recht zu erfassen sind. Hierzu sind

unter anderem die Anspielungen auf den Flore-Roman im Leich Ulrichs von Gutenberg

und der senhal ‚Flore‘ in den Liedern der Comtessa de Dia zu zählen. Lyrik und

Kinderminneroman partizipieren nicht nur an derselben Liebessemantik, sprechen also

eine recht ähnliche, das diskursive Erbe Ovids fortführende Sprache der Liebe. Sie sind

auch durch einen gemeinsamen Bestand an Themen und Motiven, Figuren und

Schauplätzen prinzipiell kompatibel.

So ähnelt die räumliche Distanz und die semi-reale, am Mittelmeer orientierte

Topographie, die in vielen Kinderminne-Erzählungen vorherrscht, dem Konnex von

Fernliebe und Kreuzzugsthematik, wie er seit Jaufre Rudels amor de lonh vielfach

variiert wurde. Die Szenerie der Fernliebe ist so wirkmächtig, dass sich Sigune, die in

den Titurel-Strophen 122 bis 124 eine rührenden Kantilene über ihre Sehnsucht zu

singen scheint, in Erwartung ihres Geliebten am Fenster in Kanvoleis stehend über

Straßen und Wiesen auf das offene Meer hinausträumt. In ihrer Exposition kindlicher

Zweisamkeit rezipieren Romane wie „Flore und Blanscheflur“ tradierte Vorstellungen

vom lieblich-heiteren locus amoenus, die auch in der mittelalterlichen Pastourellen-

Tradition abgerufen werden.

Die Aufnahme lyrischer Imaginationen und Diskursivierungen in den

Liebesroman geht indessen weit über rhetorische und situative Aspekte hinaus.

Nirgends tritt dies so evident hervor, wie in der aus dem frühen 13. Jahrhundert

stammenden altfranzösischen Kinderminnegeschichte „Aucassin et Nicolette“ – ein als

‚chantefable‘ bezeichneter, prosimetrischer Text, bei dem assonierend gereimte

Liedpartien in freie Prosa eingelassen sind. Das Ergebnis ist eine zuweilen burleske, in

jedem Fall aber gesungene Erzählung um die verbotene Liebe zweier Kinder, deren

transgenerische Interferenz mit der Lyrik durch den Einbezug von Versatzstücken aus

Tagelied, Frauenpreis oder jeu parti noch einmal intensiviert wird. Die lyrisch-epische

Verflechtung dieses Textes kulminiert in einer kuriosen Schluss-Sequenz, in der sich

das Mädchen Nicolette – wahrscheinlich als eine entfernte Reminiszenz an den

52

Vgl. Karl Bartsch: Einleitung, in: Wolfram von Eschenbach: Parzival und Titurel. Erster Theil, hg. v.

Dems., Leipzig 1870, S. V-XXXVI, hier: S. XV. 53

Ebd., S. XVII.

14

Tristanroman – als Spielmann verkleidet und während ihres Auftritts in beinahe

balladesker Manier eine lyrische Miniatur ihrer eigenen Liebesgeschichte darbietet.

Nun wäre es der Sache kaum angemessen, eine monokausale literarhistorische

Genese des Kinderminneromans aus der Troubadour-Dichtung und dem Minnesang zu

behaupten. Schon das Eingangszitat aus dem „Erec“ verbietet eine solche Verengung,

trägt doch gerade in der Binnenerzählung im Modus der Kinderminne diskursivierte

Mabonagrin-Geschichte nicht unwesentliche Züge eines conte féerique.54

Die oben

genannten Beispiele bestätigen jedoch Bartschs Vermutung, dass die Kommunikation

zwischen dem Kinderliebesroman und der Lyrik des Hochmittelalters – mit Ausnahme

vielleicht des „Tristan“ – verglichen mit anderen epischen Gattungen und Genres eine

deutlich erhöhte Intensität aufweist. Die signifikanten Spuren lyrisch-epischer

Absorption und Transformation zeigen, dass es dringend geboten ist, den

mittelalterlichen Liebesroman nicht allein als Konstrukt von rein narrativer Faktur zu

begreifen. Es soll daher im Folgenden versucht werden, einige lyrische Fluchtlinien

aufzuzeigen, die das Erzählen von kindlicher Liebe im Mittelalter determinieren.

4.1. Reinheit der Liebe und Dienstgedanke

Kinderminne ist sublimierter Eros unter Beibehaltung des höfischen Liebescodes. Das

Bild des liebenden Kindes prädestiniert, um einem Liebesbegriff besonderen Ausdruck

zu verleihen, der von Keuschheit, Reinheit und Verzicht geprägt ist. Eine solche auf

Entsagung ausgerichtete Liebe prägt auch die Lyrik der Provenzalen Bernart de

Ventadorn und Giraut de Bornelh. Beide singen davon, dass der in Gedanken liebende

Sänger von seiner Dame keine körperliche Erfüllung, weder Küsse noch Beiliegen

verlangen brauche (qu‘eu no volh baizars ni jazers, Nr. 22,52)55

, weil der Frauendienst

ebenso wie der Herrendienst auch unabhängig von der Aussicht auf einen konkreten,

d.h. exakt festgelegten Lohn erfolge (cossi que del gazardo m’an, Nr. 31,52)56

oder weil

die Werbung der Dame ihren Lohn in sich selbst trage, insofern sie der

Vervollkommnung des Mannes diene. Ähnlich verhält es sich mit der Entsagungsminne

bei Friedrich von Hausen oder Reinmar dem Alten.57

Wo hingegen Dienstgedanke und Frauenpreis stark in den Vordergrund gerückt

werden, eignet sich die Vorstellung, sich der Dame bereits im Kindes- respektive

Pagenalter unterworfen zu haben, als ein topisches und hyperbolisches Mittel, um die

Dauer, Distanz und Intensität eines Minneverhältnisses zu betonen. Bei Bernhart de

Ventadorn ist zu lesen:

Pois fam amdui efan,

L‘am ades e la blan (sal);

54

Vgl. Volker Mertens: Enites dunkle Seite: Hartmann interpretiert Chrétien, in: Vom Verstehen

deutscher Texte des Mittelalters aus der europäischen Kultur: Hommage à Elisabeth Schmid, hg. v.

Dorothea Klein, Würzburg 2011, S. 174-190, hier: S. 180f. – zur Feenmotivik im „Erec“ siehe

grundlegend Pierre Gallais: La fée à la fontaine et à l‘arbre. Un archetype du conte merveilleux et du récit

courtois, Amsterdam und Atlanta 1992. 55

Alle Lieder von Giraut de Bornelh zit. nach Ders.: Sämtliche Lieder des Trobadors Giraut de Bornelh,

hg. v. Adolf Kolsen, Bd. 1: Texte mit Varianten und Übersetzung, Halle 1910. 56

Alle Lieder von Bernart de Ventadorn zit. nach Ders.: Seine Lieder, hg. v. Carl Appel, Halle 1915. Zum

Problem der Deutung lyrischer Verzichtsäußerungen vgl. Kasten [Anm. 2], S. 200f. 57

Vgl. Feuerlicht [Anm. 2], S. 277f.

15

E.s vai m‘amors doblan

A chascu jorn del an.

(Bernart de Ventadorn, Nr. 28,25-28)58

Giraut de Bornelh behauptet sogar, er sei der Minne schon treu ergeben, seitdem er das

Licht der Welt erblickt habe (So qu’eu li plevira, / c’anc de l’ora qu’eu fui natz, Nr.

24,61f.). Das ist freilich noch keine Kinderminne im eigentlichen Sinne, denn nicht das

Kind soll schon wie ein Erwachsener geliebt, sondern der Sänger will in der

Retrospektive bereits als Kind gedient und sein Begehren auf die Dame gerichtet haben.

In der mittelhochdeutschen Lyrik wiederum bringen Friedrich von Hausen (MF 50,11)59

und Albrecht von Johansdorf (MF 90,16f.) Kindheit und Minne erstmals in Verbindung.

Es folgen Heinrich von Morungen (MF 134,31) und Hartmann von Aue (MF

206,17ff.)60

, spätere Belege lassen sich unter anderem bei Ulrich von Singenberg,

Ulrich von Wintersteten und in großer Zahl bei Gottfried von Neifen finden.61

Ulrich

von Liechtenstein hingegen bearbeitet den kindlichen Dienstgedanken in seinem

„Frauendienst“ nicht mehr rein lyrisch, sondern als der Lyrik entlehntes Erzählelement,

das der autofiktionalen Biographie des Minnesängers – nicht ohne heitere Note –

vorangestellt wird. Burleske Effekte erzielen auch Neidharts Winterlieder, die über die

Idee des Minnediensts von kinde an (WL 14)62

hinaus bereits mit der umgekehrten und

zugleich kritisch gewendeten Vorstellung experimentieren, einer ebenso jungen wie

unerbittlichen Minneherrin zu dienen (WL 9). Nicht das Sänger-Ich, sondern das

begehrte Objekt wird in diesem Fall einer Verjüngung unterzogen.

In der Erzählliteratur korrespondiert diese Figur mit dem siebten Buch des

„Parzival“, wo das Mädchen Obilôt seine Rolle als vrouwe freilich weniger destruktiv

interpretiert als beispielsweise seine eigene Schwester Obîe. Die stilisierte Gestik und

die elaborierte Rhetorik von Flore, Schionatulander oder Willehalm ähneln mehr der

Selbstinszenierung der Minnesänger als den chevaleresken Helden der Artusromane.

Die jungen Helden der Kinderminneromane folgen demselben Impuls, dem auch die

Figur des Ulrich von Liechtenstein unterliegt: Ihr Handeln gegenüber der geliebten

Gespielin folgt, wenn auch in je verschiedener Ausprägung, den Regeln der Hohen

Minne. Ohne den von der höfischen Liebeslyrik geschaffenen diskursiven Grund wäre

dies nur schwerlich denkbar.

4.2 Liebe als Macht

Es gehört zu den elementaren Figuren der mittelalterlichen Lyrik, dass die höfische

Liebe allegorisch als Frau Minne in Gestalt einer Königin oder Göttin auftreten und

adressiert werden kann. Als abstrakte Macht, die über das Sänger-Ich gebietet,

Liebesglück bereitet und Leid verursacht, rufen – wohl in Anlehnung an Troubadours

58

Seit wir beide Kinder waren liebe ich sie und diene ihr, und an jedem Tag des Jahres verdoppelt sich

meine Liebe. 59

Sofern nicht anders ausgewiesen, werden alle Lieder des deutschen Minnesangs zit. nach Des

Minnesangs Frühling, unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moritz Haupt, Friedrich

Vogt und Carl von Kraus bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren, Bd. 1: Texte, 38. Aufl.,

Stuttgart 1988. 60

Vgl. Günther Schweikle: Minnesang, 2. Aufl., Stuttgart 1995, S. 197. 61

Vgl. Feuerlicht [Anm. 2], S. 274f. 62

Neidhart: Die Lieder, 5. Aufl., hg. v. Paul Sappler, Tübingen 1999.

16

der zweiten und dritten Generation – schon Friedrich von Hausen und Rudolf von Fenis

die Liebe an. Die Liebe erscheint dann als ein von außen kommendes, von den

Menschen nicht zu verantwortendes Unheil, als etwas, dessen Macht sich gerade auch

daran studieren lässt, dass weder das naive Kind noch der alrewîseste man (MF 66,17)

vor ihr sicher sind.63

Auch die Erzählungen des 12. und 13. Jahrhunderts greifen, insbesondere dort,

wo von Kinderliebe gesprochen wird, diesen Topos ovidianischen Ursprungs wieder

auf. Das mittelhochdeutsche Märe „Aristoteles und Phyllis“ verwendet sowohl das

Motiv des liebenden Kindes als auch des Weisen, dessen blindes Begehren ihn –

öffentlichkeitswirksam als Pony abgerichtet – zum Sklaven eines hübschen Mädchens

werden lässt. Konrad Fleck lässt seinen Erzähler an exponierter Stelle anmerken, dass

die Minne so mächtig sei, dass sie selbst Kinder in ihrer Kunst zu lehren versteht (sô

gewaltic ist der minnen got, V. 610). In ähnlicher Weise zeigen sich die Erzähler des

„Titurel“ (V. 49,1) und des „Willehalm von Orlens“ (V. 4459) darüber erstaunt, dass die

Minne ihre Macht ausgerechnet an zwei naiven Kindern zu erweisen gedenkt.

Trotz ihres literarisierten Charakters haftet der Kinderminne also etwas

Mythisches an: Sie ist eine fremde Macht, eine schicksalhafte Fügung, bedarf aber

weder eines Götterpfeils („Eneasroman“) noch eines magischen Tranks „Tristan“). Wo

ihr Ursprung erzählt wird, gibt sie – ähnlich wie die Liebesrhetorik eines Giraut de

Bornelh – vor, zu den ersten Lebensregungen des Kindes zu gehören und damit

gleichsam seit jeher zu bestehen. Wo aber nicht der sinnliche Körper Auslöser für ein

Liebesbegehren ist, kann eine Variante höfischer Liebe erzählt werden, die zumindest

vordergründig befreit ist von Sexualtrieb und Schuld.64

Umso größer die Sympathien des Lesers mit den Protagonisten wiegen und

umso drastischer die Reaktion ihrer Umwelt ausfällt, desto stärker tritt auch jener

Konflikt hervor, der in den Kinderminneromanen zuvorderst behandelt wird: die auf die

Überwältigung kindlicher Gefährten durch die Liebe folgende unangemessene

Leiderfahrung, die aus dem 'Nein-des-Vaters', welches das Machtdispositiv des

patriarchalen Feudalismus repräsentiert, resultiert.

4.3 Narzissmus

Die knappen Ausführungen über die Gattungsinterferenzen zwischen den

Kinderminneromanen und der Lyrik des Hochmittelalters sollten gezeigt haben, dass es

einige bemerkenswerte Motiv-Dubletten und semantische Berührungspunkte zu

entdecken gibt. Mit dem narzisstischen Begehren kann darüber hinaus noch eine dritte,

dem bisher Dargestellten jedoch nicht unverwandte Variante kindlicher Liebe ergänzt

werden: Mir ist geschehen als einem kindelîne (MF 145,1) lautet Heinrichs von

Morungen berühmte Anspielung auf den im Mittelalter vor allem aus den

„Metamorphosen“ bekannten antiken Mythos von Tod und Verwandlung des Jünglings

63

Das Lied Diu minne betwanc Salomône Heinrichs von Veldeke ist der früheste volkssprachliche Beleg

für den Topos des von der Macht der Liebe besiegten Salomon, den u.a. Wolfram von Eschenbach im

Rahmen der Blutstropfenszene im VI. Buch des „Parzival“ erneut als mythischen Präzedenzfall für die

Minne, die eben auch Salmônen (V. 289,17) zu bezwingen vermag, produktiv macht. Zit. nach: Wolfram

von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von

Karl Lachmann, 2. Aufl., Berlin und New York 2003. 64

Vgl. Rüdiger Schnell [Anm. 5], S. 430f.

17

Narziss. Ähnlich formulierte vor ihm schon Bernard de Ventadorn in seinem

Lerchenlied die grundsätzliche Nähe von Troubadour-Liebe und narzisstischer Liebe.

Die zwei Lieder zeigen, dass die Situation des Narziss bzw. die arglose

Selbstbezogenheit des Kindes und das elaborierte Liebesstreben des Sängers prinzipiell

vergleichbar ist, weil beides auf einer elementaren Täuschung beruht: Hier wie dort

wird die eigene Projektion nicht als solche erkannt, sondern das Selbstbild oder die

ferne Geliebte so begehrt, als handelte es sich tatsächlich um ein anderes Subjekt.65

Andreas Kraß hat diesen Aspekt höfischer Liebesdichtung mit Hilfe der Theorien von

Freud und Lacan evident herausgearbeitet: In seinen Ausführungen zum Narziss-Lied

legt er dar, wie die hier verwendeten Spiegelungs- und Verwundungsmotive sichtbar

machen, dass jedwede Verlagerung der Selbstliebe auf eine höfische Dame

schlechterdings scheitern muss, wenn diese nur Objekt einer Projektion des ritterlichen

Ich-Ideals auf ein namenloses weibliches Wunschbild ist.66

Folgt man dieser Deutung,

so wäre der ‚primäre Narzissmus‘67

, auf den das Bild des selbstbezogenen Kindes

verweist, eine Metapher für die prinzipiell neurotische Struktur der Hohen Minne, das

zerstörte oder zerrinnende Spiegelbild ein Symbol für das Wechselspiel von

Idealisierung und Zweifel.

Doch was bedeutet das für den hier behandelten Romantypus? Gibt es

Möglichkeiten, das narzisstische Dispositiv episch aufzulösen? Freud schreibt in seinen

„Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, dass es dem Kind gewiss am Nächsten läge,

diejenigen Personen zu Sexualobjekten zu wählen, die es mit einer sozusagen

abgedämpften Libido bereits seit seiner Kindheit liebt.68

Für zahlreiche Liebespaare

insbesondere der Literatur des 19. Jahrhunderts gilt, dass sich ihre Bekanntschaft aus

ihren Kindertagen herleitet, dass sie in familiärer Vertrautheit miteinander aufwachsen

und schließlich von einer geschwisterlichen Relation zu einer sexuellen gelangen.69

Die

Kinderminne wiederum ist nichts anderes als die Idee, die Geliebte gleichsam in der

nestwarmen Kinderstube zu finden, doch aus dem zeitlichen Nacheinander von

Freundschaft und Begehren wird hier ein unheilvolles Nebeneinander, weil

Liebesklugheit und erotisches Begehren zu früh in die kindliche Welt eindringen und

eine biografische Diskontinuität erzeugen.70

Alle zivilisatorischen Bemühungen um

Exogamie – seien sie biologisch, gesellschaftlich oder politisch motiviert – sind

hierdurch aufs Gröbste gefährdet.71

65

Vgl. Gerhard Wolf: Minnesang unter Narzißmusverdacht. Überlegungen zu Heinrichs von Morungen

„Mir ist geschehen als einem kindelîne“ (MF 145,1), in: Das Gedichtete behauptet sein Recht. Festschrift

für Walter Gebhard zum 65. Geburtstag, hg. v. Klaus H. Kiefer, Armin Schäfer und Hans-Walter

Schmidt-Hannisa, Frankfurt/Main 2001, S. 333-345, hier: S. 338. 66

Vgl. Andreas Kraß: Der zerbrochene Spiegel. Minnesang und Psychoanalyse: Das Narzisslied

Heinrichs von Morungen, in: Narziss und Eros. Bild oder Text?, hg. v. Eckart Goebel und Elisabeth

Bronfen, Göttingen 2009, S. 77-100, hier: S. 85f. 67

Sigmund Freud: Zur Einführung des Narzißmus, in: Ders.: Das Ich und das Es. Metapsychologische

Schriften, 6. Aufl., Frankfurt/Main 1998, S. 51-77, hier: S 66. 68

Vgl. Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, in: Freud-Studienausgabe, hg. v.

Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey, Bd. 5: Sexualleben, 4. Aufl.,

Frankfurt/Main 1972, S. 37-146, hier: S. 128. 69

Vgl. Horst Thomé: Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie

und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848-1914), Tübingen 1993, S. 123. 70

Insofern wäre das liebende Kind die amouröse Variante des puer senex. Vgl. Schultz [Anm. 1], S. 69f. 71

Vgl. Ulrich Wyss: Den „Jüngeren Titurel“ lesen, in: Germanistik in Erlangen. Hundert Jahre nach der

Gründung des Deutschen Seminars, hg. v. Dietmar Peschel, Erlangen 1983, S. 95-113, hier: S. 106ff.

18

Der Blick auf das latente Narzissmus-Thema legt die suggestive Nähe zur

Geschwisterliebe frei, die allen Geschichten von der Kinderminne anhaftet. Die meisten

Fassungen des Flore-Romans negieren zwar eine Verwandtschaft der Kinder

ausdrücklich, doch schon die kuriose Geburt der Liebenden, die sich an einem

Palmsonntag im selben Raum und im selben Augenblick ereignet haben soll, deutet auf

ein Verhältnis hin, das einem Geschwisterpaar gleichkommt. Auf solche Weise

kommen für gewöhnlich nur Zwillinge zur Welt; Byblis und Kaunos beispielsweise, die

im Mittelalter durch die Ovid-Rezeption als Protagonisten einer inzestuösen, wenn auch

einseitigen Liebesgeschichte bekannt sind. Es sei hier nur kurz angemerkt, dass der

Erzähler des Flore-Romans auch im weiteren Verlauf der Geschichte keine Gelegenheit

auslassen wird, um zu betonen, dass die beiden Kinder gleich fühlen, gleich denken und

handeln. Sie sind Seelenverwandte, wenn auch von unterschiedlicher Konfession. Sogar

äußerlich ist die Wesensgleichheit so vollkommen, dass die Menschen, die ihnen

begegnen, sie allenthalben für Doppelgänger halten müssen und nur das Lüpfen der

Bettdecke der allgemeinen Verwirrung ein Ende bereiten kann. In seiner

schwesterlichen Freundin Blanscheflur liebt Flore also offenbar in erster Linie sein

eigenes Ebenbild. Seine lange Suche nach der Geliebten ist folglich nicht nur ein

Liebesabenteuer, sondern bedeutet – wenn man so will – auch ein Streben nach einer

Wiederherstellung seiner Einheit und Ganzheit.72

Unmittelbar auf der Hand liegt das problematische Nebeneinander des

Begehrens zwischen Kindern und des Begehrens zwischen Geschwistern in Johanns

von Würzburg „Wilhelm von Österreich“. Ganz unverschleiert wird die Liebe der

Kinder, die zwar nicht im biologischen Sinne verwandt, doch durch Adoption

verwandtschaftlich verbunden sind, auch als eine Verbindung zurückgewiesen, die

inzestuösen Charakter hat. Eine Laune des Schicksals sorgt in diesem Roman dafür,

dass Wilhelm seiner bislang nur aus der Ferne geliebten Aglye zum Bruder gemacht

wird:

‚dich schol der kuenc ze kinde han:

er hat ein luestic toehterlin;

sich! daz schol din swester sin!‘

(Johann von Würzburg: Wilhelm von Österreich, V.1252-1254)73

Die latente Ambivalenz der in den Romanen des 13. und 14. Jahrhunderts

vorgefundenen Kinderlieben wird hier manifest und kulminiert in Wilhelms Ausrufung

gnade, swesterlin! (V. 1378) – einer kuriosen Hybridformel aus verniedlichter

Verwandtschaftsbezeichnung und klassischer Liebesrhetorik. Das Ergebnis ist absehbar:

Die Kinder werden zunächst mit einem Kontaktverbot (huote) bestraft, das den Fluss

der Liebeskommunikation unterbinden soll, bis der Held in einem zweiten Schritt an

seinen Erzrivalen ausgeliefert wird. Es folgt die obligatorische Serie von Abenteuern,

ehe die beiden schlussendlich doch vereint werden. Allerdings ist dem prekären Glück

in diesem Fall keine Dauer beschienen, Wilhelm gerät in einen tödlichen Hinterhalt,

worauf der Liebestod der Dame folgt. Dass die Eltern ihr Handeln mit der Furcht vor

einer Mesalliance begründen und darüber vergessen, dass sie selbst das Findelkind

Hierzu auch Elisabeth Schmid: Familiengeschichte und Heilsmythologie. Die Verwandtschaftsstrukturen

in den französischen und deutschen Gralromanen des 12. und 13. Jahrhunderts, Tübingen 1986, S. 199f. 72

Vgl. Carol F. Heffernan: The Orient in Chaucer and Medieval Romance, Cambridge 2003, S. 102f. 73

Zit. nach Johann von Würzburg: Wilhelm von Österreich, hg. v. Ernst Regel, Berlin 1906.

19

Wilhelm als Dienst an ihrem Gott Apollo an Sohnes statt angenommen haben, ist

äußerst symptomatisch und zeigt an, dass die Spuren inzestuösen Begehrens in den

Kinderminneromanen allenfalls oberflächlich beseitigt wurden.

Nur auf den ersten Blick realisiert die Kinderminne also eine libidinöse, wenn

auch gegen Normen der feudalen Ordnung verstoßende Objektbesetzung. In Wahrheit

wird, unter dem Schein personaler, gegenseitiger und asketischer Geschlechterliebe

gerade deren Scheitern vorgeführt. Doch wie hängen der Narzissmus einerseits und der

Inzest als Extremfall einer endogamen Beziehung zusammen? Wer sein Begehren auf

das gerichtet hat, was er selbst ist, war oder sein möchte,74

muss idealiter entweder das

eigene Geschlecht oder sein eigen Fleisch und Blut begehren. Der Inzest ist insofern die

dunkle Kehrseite der so idyllischen Kinderminnebeschreibungen. Hartmann von Aue

gibt uns in seinem „Gregorius“ ein sehr genaues Bild von dieser Problematik, indem er

dem ödipalen Motiv Sohn-liebt-Mutter die von einem Bruder-Schwester-Inzest geprägte

Elternvorgeschichte vorausschickt und ihr Zustandekommen mit dem Teufel einerseits

und mit der kindlichen Unbefangenheit der Figuren andererseits erklärt.75

Die narzisstische Anlage höfischer Liebe wird in der Kinderminne folglich nicht

aufgelöst, sondern als oberflächlich entproblematisierte, aber prinzipiell strukturgleiche

Variante derselben regressiven Tendenz fortgeführt, die auch dem Minnesang

innewohnt. Hier sind bemerkenswerte Übereinstimmungen zu beobachten, wenn dieser

Befund mit Heinrichs Lied, das uns den Minnesang als narzisstisches Spiegelkabinett

vorführt, kurzgeschlossen wird. In beiden Fällen prädominiert die Perspektive eines

männlichen Subjekts, das nach einem Ideal strebt, das ihm grenzenloses Wohlbehagen

verspricht (Flore beispielsweise sehnt sich weniger nach einer verantwortungsvollen

Ehe mit Blanscheflur als nach einer Rückkehr in die Idylle der in einem lieblichen

Baumgarten verbrachten Kindertage)76

, zugleich aber durch die Erfahrung von Leid

gebrochen wird. Es kommt zur Entzweiung und endlichen Wiedervereinigung des Ichs

mit seinem Double. Sowohl das Kind als auch der Sänger strebt dabei nach einem Ich-

Ideal, das, wie James A. Schultz hervorhebt, eindeutig höfisch konnotiert ist und seine

Anziehungskraft gerade durch die höfischen und edlen Attribute des Begehrten erhält:

We assume there is something within us that makes us want to love and drives us to seek

out lovers and predetermines to some extent the sort of lover we will want […]. Courtly

lovers do not have this internal component. This means that the attributes of the beloved,

those attributes that enter the eyes and lodge in the heart, play a proportionally greater

74

Vgl. Freud [Anm. 67], S. 66. 75

Vgl. Kästner [Anm. 14], S. 312f. Eine Inzestproblematik gibt es auch in dem mit einer

Kinderliebesgeschichte beginnenden Roman „Mai und Beaflor“, hier jedoch nur auf der Vater-Tochter-

Ebene. In seiner im Wintersemester 2007/08 an der Frankfurter Goethe-Universität gehaltenen Vorlesung

„Sex and Rhyme: Ein Streifzug durch die deutsche Literatur des Mittelalters“ entwirft Andreas Kraß den

dreifachen Inzest als thematische Grundstruktur des „Gregorius“. Den beiden dargestellten

Inzesthandlungen ginge demnach ein erster, auf der Vater-Tochter-Ebene vollzogener Inzest voraus, der

durch die zu große Nähe und die Weigerung des Vaters, die Landesverhältnisse zu ordnen und seine

Tochter zu verheiraten, markiert sei. Mit einigen zeitgenössischen Erzählungen von der Kinderminne

ließe sich diese Deutung sehr gut verbinden. So entwickelt Telion, der König von Rom, zu Beginn der

Erzählung „Mai und Beaflor“ nach dem Tod seiner Ehefrau eine Neigung zu seiner eigenen Tochter. Als

gattungspoetisches Argument ließe sich unterstützend anbringen, dass der Vater-Tochter-Inzest auch in

der für die hier behandelten Texte modellbildenden „Historia Apollonii Regis Tyri“ eine zentrale,

handlungsmotivierende Rolle spielt. Zur Inzestproblematik im Flore-Roman, die sich aus den obskuren

Umständen der Zeugung- und Geburt der Kinder ergibt, siehe Heffernan [Anm. 72], S. 83-107. 76

Vgl. Geering [Anm. 22], S. 61.

20

role. The courtly lover does not seek love. He or she is rendered powerless by the courtly

and noble attributes of the beloved.77

Die höfische Liebe steht zu einem guten Teil im Dienste der Ästhetisierung, der

Distinktion und der Exklusivität des mittelalterlichen Feudaladels. Wenn Courtoisie und

höfische Liebe, wie Schultz ausführt, zwei gleichartige Momente einer Tendenz zur

Verfeinerung und Nobilitierung darstellen, dann ist die Kinderminne ein Modus, im

narzisstischen Begehren des Kindes ein Begehren des Höfischen zum Ausdruck zu

bringen, ohne dass dabei die Probleme des Eros unwillkürlich in den Vordergrund

drängen.78

5. Schluss

Im vorliegenden Aufsatz wurde die Kinderminne als ein in der höfischen Dichtung weit

verbreitetes Phänomen beschrieben, das sowohl in einigen grandiosen als auch in

einigen unterschätzten oder eher epigonalen Texten behandelt wird, das aber auch in

einer Vielzahl von Anspielungen und intertextuellen Verweisen aufscheint. Der

komparatistische Ansatz half dabei zu verstehen, welche Bedeutung den im frühen 12.

Jahrhundert einsetzenden lyrischen Reflexionen über die Liebe hinsichtlich der

Herausbildung der Kinderminne als ein ebenso originelles wie gewichtiges literarisches

Thema beizumessen ist.

Dabei zeigt sich, dass die Kinderminne trotz möglicher sozialhistorischer

Bezugspunkte weder ein bloßes Abbild einer konkreten höfisch-feudalen Wirklichkeit

ist, noch dass wir allein der vermeintlichen Güte, Keuschheit und Askese der Kinder

wegen von einer vollständigen Absorption des höfischen Eros ausgehen sollten.

Mitnichten ist die Kinderminne ein dem die Radikalität des Tristan-Paradigmas

umrankendes und eingehendes „heiteres und wolthuendes Blumenbild“79

– sie ist

„erotisch aufgeladene Asexualität“80

. Wer sich von der Verlagerung des erzählerischen

Akzents auf die Kindheit und deren spezifischer Konstruktion zu sehr vereinnahmen

lässt, läuft daher Gefahr zu übersehen, dass auch die vermeintlich sterile Kinderminne

in erster Linie im Kontext der Geschichte der Sexualität und nur nachrangig Rahmen

einer Geschichte der Kindheit im Mittelalter zu behandeln ist.81

Daneben ist der Befund, dass die Liebe zwischen zwei heranwachsenden

Mitgliedern der höfischen Gesellschaft vielfach ohne eine explizite literarische

Ausgestaltung oder gar ein eigenes Handlungsfundament auskommt, für die

literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit der Kinderminne von großer Bedeutung.

Dies gilt in der Epik ebenso wie in der Lyrik der frühen Troubadours und Minnesänger,

in der die Motivik des Flore-Romans gelegentlich als mythischer Präzedenzfall für die

77

James A. Schultz: Courtly Love, the Love of Courtliness, and the History of Sexuality, Chicago 2006,

S. 171. 78

Vgl. ebd. S. 172. 79

Wolfgang Golther: Flore und Blanscheflur. Einleitung, in: Tristan und Isolde und Flore und

Blanscheflur. Zweiter Teil, hg. v. Dems., Berlin und Stuttgart 1889, S. 235-246, hier: S. 246. 80

Jan-Dirk Müller [Anm. 6], S. 400. 81

Wie die Auseinandersetzungen mit Problemen des Inzests und der Mesalliance erwiese, stellt der

Zusammenhang zwischen kindlicher Intimität und den spezifischen Machtdispositiven dabei eine äußerst

produktive Kategorie für eine weiterführende kulturwissenschaftliche Betrachtung der Kinderminne dar.

21

Liebe am Hof herangezogen wird.82

Im höfischen Roman erscheint die Kinderminne als

ein gleichsam lyrisches Portrait, dessen Bildprogramm der Betrachter schon nach

wenigen, skizzenhaften Pinselstrichen abrufen kann.

Nur teilweise darf es den eingeschränkten Qualitäten der Verfasser angelastet

werden, dass dieses Portrait vielleicht nicht ganz an die großen Liebesentwürfe des

Mittelalters heranreicht – die Schwierigkeiten des Erzählens ‚reiner Kinderliebe‘ wurde

an Romanen wie „Flore und Blanscheflur“ und an der chantefable „Aucassin und

Nicolette“ evident. In den meisten anderen literarischen Entwürfen wird die

Kinderminne funktionalisiert als ein nahezu schablonenhaft zu gebrauchendes Konzept,

in dem sich verschiedene Schichtungen des höfischen Diskurses über die Liebe

sedimentiert haben, die im jeweiligen Text auf spezifische Weise aktualisiert und

hybridisiert werden können. Hier wie dort entpuppen sich also die neuen Variablen, die

in der vorliegenden Studien der Gleichung ‚Kindheit und Minne ergibt Kinderminne‘

hinzuzufügen versucht wurden, als relativ bekannte, erzählerisch abgewandelte

Elemente des höfisch-literarischen Sprechens über die Liebe.

Damit erscheint uns der Charakter dieses literarischen Bildes von den liebenden

Kindern zwar klarer, harrt aber noch immer einer genaueren Deutung. Die Verbindung

von außerehelicher Liebe und Todessehnsucht, stellen eine gewisse Nähe zum Tristan

und Isolde her. Diese Perspektive nehmen oft auch die Eltern der Protagonisten ein,

wobei sie mit ihren übereilten Handlungen – das zeigt insbesondere die Szene am

gefälschten Grabmal in Konrad Flecks „Flore und Blanscheflur“ – das Tristanprogram

nachgerade zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden lassen. Auf der anderen Seite ist

der Verlauf jener Romane, in denen die Liebenden nicht untergehen, eindeutig auf eine

herrschaftsstabilisierende, dem dynastischen Prinzip durchaus Rechnung tragende Ehe

ausgerichtet, was eine entscheidende Entschärfung der radikalen Liebespassion

bedeutet. Zwischen diesen Polen treten ferner andere Aspekte in den Vordergrund der

Auseinandersetzung mit heterosexueller Geschlechterliebe – etwa Ideen von Askese

und Freundschaft.83

Ausgehend von Luhmanns Begriff der romantischen Liebe ließe sich die

Kinderminne schließlich beschreiben als eine frühe Vorläuferin, die so etwas wie einen

dritten Weg zwischen der radikalen Tristanpassion und der harmonisierten

Herrschaftsehe des Artusromans zu gehen versucht. Vor allem Rudolfs von Ems

„Willehalm von Orlens“ – ein seit Walter Haugs Aufsatz über den ‚neuen Liebesroman‘

als Anti-Tristan verstandener Text – scheint in diese Richtung zu weisen.84

Doch auch

dieses Ergebnis bleibt vorläufig und dürfte der Heterogenität der literarischen

Äußerungen über die kindliche Liebe nicht gerecht werden.

Versuchsweise möchte ich daher abschließende eine andere Lesart vorschlagen:

Die Kinderminne stellt ein Übertragungsphänomen dar, das verschiedene, bereits

zwischen 1150 und 1200 etablierte Rede- und Denktraditionen zu einer lyrisch-epischen

82

Erst in Hadlaubs späteren Erzählliedern und Romanzen zielt der Einbezug der Kinderminneszenen auf

eine objektivierende Darstellung. Vgl. Jan-Dirk Müller: Ritual, Sprecherfiktion und Erzählung.

Literarisierungstendenzen im späteren Minnesang, in: Wechselspiele. Kommunikationsformen und

Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik, hg. v. Michael Schilling und Peter Strohschneider,

Heidelberg 1996, S. 43-74, hier: S. 49. 83

Die Frage nach der Absorption zeitgenössischer Freundschaftsdiskurse in Romanen wie dem

„Engelhart“ Konrads von Würzburg stellt sich insofern als ein weiterführendes Forschungsthema dar. 84

Walter Haug: Der neue Liebesroman und der leidende Held: Von Rudolfs „Willehalm von Orlens“ zu

Ulrichs von Etzenbach „Willehalm von Wenden“, in: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den

Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, 2. Aufl., Darmstadt 1992, S. 329-343.

22

Chiffre amalgamiert, die in Form von Liebesromanen wie „Flore und Blanscheflur“

auserzählt und konkretisiert werden kann, aber eben nicht notwendigerweise muss.

Dabei wird die Kinderminne ungeachtet ihrer durchaus sichtbaren Komposition und

Ästhetisierung stets als eine Erscheinung beschrieben, die – wie die Liebe von Geburt

an – naturwüchsig und im wahrsten Sinne des Wortes immerwährend ist. Sie geht sogar

über den Tod hinaus, hat also weder einen konkreten Anfang noch ein Ende. Sie stellt

damit eine massive Störung der temporalen Kontinuität dar. Gleichzeitig ist sie auf der

Grenze des Übergangs zu den magischen, übernatürlichen, dämonischen Formen der

Liebespassion angesiedelt.85

Was bringt ihr Auftauchen im Diskurs über die höfische

Liebe zum Ausdruck? – Anders als der Trank, der Zauber und der Dämon drückt

insbesondere die Flore-Liebe aus, dass Minne keine andersartige, anderweltliche und

radikal neuartige Erscheinung ist, sondern dass alles, was jetzt ist, im Grunde immer

schon da war. Hans Robert Jauß betrachtet das ausgehende Hochmittelalter als eine

Phase der Remythisierung Amors.86

Vielleicht wäre die Kinderminne vorläufig noch am

Ehesten zu verstehen als ein kultureller Mythos vom Ursprung der Liebe.

85

Vgl. Jan-Dirk Müller [Anm. 6], S. 404. 86

Vgl. Hans-Robert Jauß: Allegorese, Remythisierung und neuer Mythos. Bemerkungen zur christlichen

Gefangenschaft der Mythologie im Mittelalter, in: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, hg.

v. Manfred Fuhrmann, München 1971, S. 187-210, hier: S. 196f.