Institutionelle Determinanten des Aufstiegs großer Schwellenländer. Eine global-politökonomische...
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Christian May, Andreas Nölke, Tobias ten Brink
Institutionelle Determinanten des Aufstiegs großer Schwellenländer: Eine global-
politökonomische Erweiterung der Vergleichenden Kapitalismusforschung
(Die formatierte und paginierte Version dieses Artikels ist 2014 im PVS-Sonderheft
Entwicklungstheorien erschienen)
1. Einleitung1
Wie ein Vergleich der Zahlen zum Wachstum des Volkseinkommens nationaler Wirtschaften
zeigt, haben in den letzten beiden Jahrzehnten signifikante Verschiebungen in den Nord-Süd-
Verhältnissen stattgefunden: Die Volksrepublik China wird im Jahr 2011 mit einem
Bruttoinlandsprodukt von rund 7000 Mrd. USD offiziell als zweitgrößte Volkswirtschaft der
Erde ausgewiesen. Ein weiteres Schwellenland des „Südens“, Brasilien, folgt mit etwa 2500
Mrd. USD auf Platz sechs einer Berechnung des IWF. Indien ist in den letzten Jahren mit sehr
hohen Wachstumsraten des Volkseinkommens und nun annähernd 1.900 Mrd. USD zur
zehntgrößten Wirtschaft avanciert (IWF 2012). Offensichtlich ist die einstige Dominanz des
Nordens bzw. der OECD-Länder in der Weltwirtschaft durchbrochen worden. Während die
weltweiten Transformationsprozesse seit den 1980ern für große Teile der Bevölkerung des
globalen Südens kaum oder keine positiven sozioökonomischen Auswirkungen mit sich
brachten (United Nations 2010), kam es zeitgleich zu einem Prozess der fortschreitenden
Differenzierung der sogenannten „Dritten Welt“ (Kappel 2003). In einigen Ländern und
Regionen, auch und gerade in den hier untersuchten Ländern Brasilien, Indien und China,
sind beeindruckende Erfolge der nachholenden (und nicht immer nach westlichem Vorbild
ablaufenden) Industrialisierung zu verzeichnen gewesen. Die zunehmende Bedeutung dieser
großen Schwellenländer (im Folgenden als BIC-Länder bezeichnet), in denen etwa 40% der
Weltbevölkerung lebt, hat eine Restrukturierung der Konkurrenzverhältnisse auf den
internationalen Märkten zur Folge. Jüngst lässt sich ebenso eine zugunsten der BIC-Länder
geänderte Kräftekonstellation in den internationalen Institutionen feststellen, wie der im Zuge
der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise neu begründete G20-Gipfel und eine
Stimmrechtsreform des Internationalen Währungsfonds (IWF) nahelegen (vgl. den Beitrag
von Claudia Derichs in diesem Band).
Wie lässt sich der Aufstieg der BIC-Länder erklären? Im Folgenden stellen wir ein
politökonomisch erweitertes Instrumentarium der institutionellen Kapitalismusanalyse vor,
das diese Frage in Ansätzen zu beantworten vermag. Wir synthetisieren dabei Einsichten der
Vergleichenden Kapitalismusforschung und Internationalen Politischen Ökonomie in einer
Weise, die sich von klassischen Erklärungsansätzen zum Wachstum von Schwellenländern
unterscheidet. Im Gegensatz zu modernisierungstheoretischen Ansätzen, die vorwiegend
interne Erklärungsfaktoren heranziehen, und (neo-)dependenztheoretischen Perspektiven, die
bei der Begründung des Aufstiegs (bzw. der Verunmöglichung der nachholenden
Entwicklung) vorwiegend auf externe Faktoren rekurrieren, verknüpfen wir interne und
externe Dimensionen, um den ökonomischen Bedeutungsgewinn der BIC-Länder zu erklären.
Zugleich beziehen wir uns auf neuere vergleichende Forschungen zu den „BIC“-Ländern und
politökonomische Länderfallstudien (vgl. exemplarisch zu den BIC-Ökonomien: Becker
1 Der Beitrag beruht auf Arbeiten zum Forschungsprojekt „Eine BICS-Variante des Kapitalismus? Die
Herausbildung staatlich-durchdrungener Marktökonomien in großen Schwellenländern“, welches die DFG unter
dem GZ NO 855/3-1 seit Juni 2012 fördert. Wir danken den TeilnehmerInnen der AutorInnentagung, zwei
anonymen GutachterInnen und Ingrid Wehr für sehr hilfreiche Hinweise zu früheren Versionen des Beitrags.
2
2013; zu Brasilien: Boschi u. Santana 2012; Schneider 2009; zu Indien: Kohli 2007; zu China:
Fligstein u. Zhang 2011; McNally 2012).
Im ersten Teil des Artikels stellen wir unser analytisches Instrumentarium vor. Diese als
kritische institutionelle Analyse in politökonomischer Perspektive bezeichnete
Vorgehensweise fragt nach den vorrangigen sozioökonomischen Institutionen der BIC-Länder
und ihren Querwirkungen. Im Anschluss an eine kritische Weiterentwicklung der
vergleichenden Kapitalismusforschung wird dabei der Typus staatlich durchdrungener
Marktökonomien vorgestellt, der sich in den BIC-Ländern in unterschiedlicher Ausprägung
herausgebildet hat und sich von anderen Spielarten des Kapitalismus unterscheidet.2 Im
zweiten, empirischen Teil beschreiben wir einerseits – auf Grundlage des zuvor erarbeiteten
Kriterienkatalogs – die maßgeblichen Institutionen der politischen Ökonomien Brasiliens,
Chinas und Indiens detaillierter und erläutern Verwandtschaften zwischen den drei
untersuchten Fällen, die es trotz aller Varianz erlauben, von staatlich durchdrungenen
Marktökonomien in den BIC-Ländern zu sprechen und diese Ökonomien insbesondere von
den liberalen und koordinierten Spielarten in einigen OECD-Ländern als auch vom
abhängigen Kapitalismus in Mittelosteuropa zu unterscheiden. Andererseits steht im
empirischen Teil eine institutionalistische Erklärung des oben angeführten
Wirtschaftswachstums – bei dauerhaft verbliebener sozialer Ungleichheit – im Vordergrund,
die sich von herkömmlichen neoklassischen Wachstumstheorien unterscheidet. Im letzten Teil
skizzieren wir kurz eine Reihe von Implikationen, die sich aus unserer Diagnose der
institutionell spezifisch verfassten Kapitalismen in den aufstrebenden BIC-Ländern für die
globale Wirtschaftsordnung ergeben.
Unsere zentrale These lautet, dass die Verbindung von externen und internen Faktoren
wichtige Anhaltspunkte für die Erklärung des weltwirtschaftlichen Aufstiegs der BIC-Länder
liefert.3 Zentral hierbei ist das aus der Vergleichenden Kapitalismusforschung stammende
Konzept der „institutionellen Komplementaritäten“ (Höpner 2005, Crouch 2010). In den BIC-
Ländern hat sich eine polit-ökonomische Konfiguration herausgebildet, in denen sich die
Wirkung zentraler Institutionen gegenseitig verstärkt und dadurch komparative Vorteile
erzeugt, die anderen Schwellen- und Entwicklungsländern zum Teil verwehrt bleiben. Dazu
gehört eine nur partielle Integration in die Weltwirtschaft (vor allem was die Einbindung in
die globalen Finanzmärkte betrifft), die die vergleichsweise mächtigen BIC-Staaten auf der
Grundlage großer Binnenmärkte organisierten. Diese Vorteile, welche gleichfalls nur in einer
historisch spezifischen Situation der Weltwirtschaft realisiert werden konnten, ermöglichen es
den aufstrebenden BIC-Schwellenländern, längerfristig Wachstumsraten zu erzielen, die
weder für andere Entwicklungs- und Schwellenländer noch für die etablierten Länder des
Nordens zu erreichen sind. Wir behaupten dabei zwar nicht, dass unsere Erklärung die einzige
plausible für die Erklärung der rasanten Wachstumsprozesse insbesondere in der letzten
Dekade ist, aber doch Analysen aus anderen Perspektiven (etwa der Entwicklungsökonomie)
sinnvoll ergänzen kann. Weiterhin können wir nicht beanspruchen, auf dem gegebenen Raum
2 Im Unterschied zu Analysen, die regionale Varianten des Kapitalismus beschreiben (vgl. zu Ostasien: Witt u.
Redding 2013) gehen wir zudem davon aus, dass sich staatlich durchdrungene Marktökonomien nicht nur – wie
üblicherweise angenommen – in Ostasien finden lassen, sondern auch in anderen Schwellenländern mit großen
Binnenmärkten. 3 Wir folgen nicht der gängigen Fokussierung auf die „BRIC“-Länder als neue „emerging powers“ (Goldman
Sachs 2003), da der Fall Russland für die entwicklungstheoretische Diskussion eine marginale Rolle spielt. Zum
einen kann eine ehemalige Großmacht nur schwerlich als „emerging“ bezeichnet werden, zum anderen scheint
dort die wirtschaftliche Dynamik in erster Linie auf dem Export von Energierohstoffen zu beruhen und wird
durch ungleichmäßige Weltwirtschaftseinbindung (strukturelle Heterogenität) und massives rent-seeking stärker
behindert als in den anderen genannten Staaten.
3
eine differenzierte Analyse der politischen Ökonomien Brasiliens, Indiens und Chinas zu
leisten, noch deren aktueller wirtschaftlicher Situation und Reaktionen im Kontext der
globalen Finanzkrise umfassend Rechnung zu tragen (vgl. aber Schmalz u. Ebenau 2011).
Auch erlaubt uns das Format keine Rekonstruktion des individuellen historischen
Entwicklungsweges der drei Länder (etwa die differierenden Kolonialgeschichten der Länder
und deren Vermächtnisse). Das Erkenntnisinteresse unseres Beitrages liegt eindeutig auf der
Identifikation von deren aktuellen Gemeinsamkeiten, nicht der zwangsläufig ebenfalls
feststellbaren Besonderheiten. Schließlich beabsichtigen wir auch nicht, den von uns
identifizierten Typ staatlich durchdrungener Marktökonomien als Modell zur Nachahmung zu
empfehlen. Eine solche Betrachtungsweise würde nicht nur der Annahme nicht beliebig
rekonstruierbarer institutioneller und international-ökonomischer Rahmenbedingungen
widersprechen. Er wäre auch normativ problematisch, denn in unserem Beitrag geht es erst
einmal nur um die Determinanten von Wirtschaftswachstum, einem Wachstum, welches
jedoch mit extremer Ungleichheit sowie gravierenden Umweltschäden in den betroffenen
Ländern einhergeht (vgl. auch den Beitrag von Ulrich Brand und Kristina Dietz in diesem
Band).
2. Kritische institutionelle Analyse und der Aufstieg großer Schwellenländer
Nachfolgend entwickeln wir ein Untersuchungsinstrumentarium, das als kritische
institutionelle Analyse in politökonomischer Perspektive bezeichnet werden kann.4 Es basiert
auf einigen neueren theoretischen Entwicklungen im Rahmen der Vergleichenden
Kapitalismusforschung sowie der Regulationsschule (vgl. Boyer 1990; Boyer u. Saillard
2002; Hall u. Soskice 2001; Crouch 2005; Deeg u. Jackson 2008) und kombiniert diese mit
Beobachtungen zur Staats- und Klassenstruktur in den großen Schwellenländern (vgl. bereits
Evans 1979; Elsenhans 1981).
In den letzten Jahren ist dem Theorieprogramm der Vergleichenden Kapitalismusforschung
(Comparative Capitalism, Jackson u. Deeg 2006) in Studien zur politischen Ökonomie
westlicher Industriegesellschaften ein fast schon kanonischer Rang zugewachsen (Blyth 2003,
S. 215). Im Rahmen dieses Forschungsprogramms sind in den letzten beiden Dekaden eine
Vielzahl von Kapitalismustypologien entstanden, mit unterschiedlichen theoretischen
Wurzeln in der Regulationstheorie (Amable 2003; Boyer 2005), dem Neomarxismus (Coates
2000) und dem Neoinstitutionalismus (Hall u. Soskice 2001). Insbesondere die letztgenannte
Version hat mit ihrer Gegenüberstellung von liberalen (liberal market economy/LME) und
koordinierten Marktökonomien (coordinated market economy/CME) – mit den USA und
Deutschland als Vorbild – viele empirische Studien angeleitet. Die Grundannahme dieses
Theorieprogramms ist, dass die den beiden Kapitalismustypen inhärenten institutionellen
Komplementaritäten die jeweils unterschiedlichen Innovationsmuster (und
Wettbewerbsvorteile) der führenden Sektoren in liberalen und koordinierten Marktökonomien
erklären können. Hall und Soskice argumentieren, dass jedes Element in den beiden
Grundmodellen zu den anderen Elementen des jeweiligen Modells komplementär ist, sich
aber gleichzeitig deutlich vom funktionalen Äquivalent im Alternativmodell unterscheidet.
Sie (2001, S. 17-33) unterscheiden – ähnlich wie andere Ansätze der Vergleichenden
Kapitalismusforschung (Jackson u. Deeg 2006, S. 11-20) – fünf institutionelle Sphären: (1)
die Unternehmensführung/Corporate Governance, (2) das System der
Investitionsfinanzierung, (3) die industriellen Beziehungen, (4) das Bildungs- und
Ausbildungssystem und (5) die Art und Weise, wie Innovationen in der jeweiligen Ökonomie
4 Frühere Versionen des Arguments in diesem Abschnitt finden sich bei Nölke 2011a; 2012 sowie May u. Nölke
2013a.
4
entstehen und transferiert werden. Ausgehend von dieser Differenzierung erlaubt die
Comparative-Capitalism-Forschung eine konzeptionell sparsame, aber trotzdem durchaus
differenzierte Analyse westlicher Kapitalismen, die deutlich von den in der
Wirtschaftswissenschaft vorherrschenden neoklassischen Perspektiven abweicht. Trotzdem
sind in den vergangenen Jahren zunehmend eine Reihe von Beschränkungen dieser
Forschungsrichtung thematisiert worden (Hancké et al. 2007, S. 4-9; Jackson u. Deeg 2006, S.
37-39). Bemängelt wurden neben dem statischen Charakter der meisten Modelle a) die
einseitige Fokussierung auf die Länder der Triade (USA, Westeuropa, Japan; zusätzlich
Südkorea bei Amable 2003), b) der strenge LME/CME-Dualismus des dominanten Varieties-
of-Capitalism-Ansatzes, c) die Ausblendung transnationaler Faktoren (Staaten werden
tendenziell als in sich abgeschlossene Container betrachtet), d) die Vernachlässigung der
Rolle des Staates und staatlicher Regulierungen und e) die tendenziell funktionalistische
Perspektive und mangelnde Berücksichtigung der diese Kapitalismusmodelle tragenden
Klassendynamiken.
Das nachfolgende Analyseschema gehört zu einer neuen, aktuell sich manifestierenden
Generation von Kapitalismusstudien, die diese Restriktionen überwinden will, ohne
bestimmte Stärken des „Comparative Capitalism“-Programms wie die Differenzierung in
institutionelle Sphären der Wirtschaft sowie das Erklärungsmodell der institutionellen
Komplementaritäten ungenutzt zu lassen. Komplementäre Institutionen stellen relativ
kohärente Handlungsperspektiven für ökonomische Akteure bereit, die wiederum deren
strategische Entscheidungen beeinflussen (May u. Nölke 2013a). Ähnlich wie Doctor (2010),
Drahokoupil (2009), Nölke (2011a), Nölke u. Vliegenthart (2009), Schneider (2009), ten
Brink (2010, 2013) erweitern wir nachfolgend den räumlichen Rahmen der Vergleichenden
Kapitalismusforschung a) zugunsten von Ökonomien außerhalb der Triade, fragen b) nach der
Existenz weiterer grundlegender Typen jenseits von LME und CME, analysieren c) die Rolle
transnationaler Einflüsse (insbesondere multinationaler Unternehmen und der Form der
Weltmarktintegration), und unterstreichen d) die Rolle staatlicher Institutionen für die
Herausbildung spezifischer Kapitalismustypen außerhalb der Triade. Zudem sollen e) soziale
Machtbeziehungen und Klassen für die Analyse der gesellschaftlichen
Koordinationsmechanismen hervorgehoben werden, da angenommen wird, dass sich diese in
den unterschiedlichen Institutionen manifestieren und f) die einseitige normative Ausrichtung
auf komparative Vorteile und Wachstumsraten mit einer Verteilungsdimension erweitert
werden muss.
Konkret verweisen wir auf die Herausbildung institutioneller Faktoren, die die Entwicklung
der BIC-Länder antrieb und sie dazu brachte, bislang innerhalb (und nicht entgegen) der
bestehenden weltwirtschaftlichen Strukturen zu operieren (Nölke 2011b; ten Brink 2013). Sie
widerlegen durch ihren rasanten Aufstieg dependenztheoretische Hypothesen, da ihr
Wachstumsprozess nicht durch Abhängigkeit von den kapitalistischen Zentren behindert wird.
Gleichzeitig greifen auch modernisierungstheoretische Erklärungen ins Leere, indem ihr
Aufstieg nicht mit der Konvergenz auf westlich-entwickelte Kapitalismusmodelle einhergeht
(Rostow 1959; Peet 2009, S. 126-130), sondern eine eigene Wirtschaftsordnung hervorbringt.
Im Zentrum steht bei den BICs ein enges Geflecht zwischen staatlichen Instanzen und großen
Unternehmen, das vor dem Hintergrund landesinterner institutioneller Komplementaritäten,
eines großen Binnenmarktes und günstiger weltwirtschaftlicher Konstellationen ökonomische
Effizienzdynamiken befördert. Es bildet den zentralen Koordinationsmechanismus dieser
staatlich durchdrungenen Kapitalismen. Im Gegensatz etwa zu abhängigen Ökonomien an der
Peripherie Westeuropas (Nölke u. Vliegenthart 2009) dominiert ferner nicht transnationales,
sondern nationales Kapital die politische Ökonomie.
5
Damit ergänzen wir in unserer kritischen institutionellen Analyse eine (auch in neueren
Studien) stark mikroökonomisch eingegrenzte Ausrichtung der Vergleichenden
Kapitalismusforschung mit einer erweiterten politökonomischen Perspektive, die explizit auch
die Verknüpfung von formeller und informeller Ökonomie, die Notwendigkeit der
Begrenzung von struktureller Heterogenität und rent seeking-Aktivitäten sowie Fragen der
sozialen Mobilität (z.B. die Bedeutung neuer Mittelklassen und damit die Entwicklung der
Binnennachfrage) hervorhebt, auch wenn damit die strikt institutionalistische und
mikroökonomische Ausrichtung der Vergleichenden Kapitalismusforschung transzendiert
wird. Wünschenswert – aber in diesem Beitrag nicht zu leisten – wäre schließlich eine stärker
historisch ausgerichtete Analyse, die neben der Genese der institutionellen Konfiguration der
BIC-Ökonomien auch die Prägung der entsprechenden Kapitalismen durch den Zeitpunkt der
Integration in den globalen Kapitalismus und dessen jeweiliges Entwicklungsstadium
einbezieht (vgl. aber Nölke 2012; ten Brink 2013).
Die Gegenüberstellung der Idealtypen liberaler und koordinierter Marktökonomien mag eine
grobe Einordnung westlicher Industriegesellschaften erlauben, wenn auch mit
Einschränkungen etwa bei (süd-)europäischen Ökonomien, bei denen der Staat eine
wesentlich wichtigere Rolle einnimmt als von Hall und Soskice zugebilligt (Amable 2003,
Schmidt 2003). Dieser Dualismus findet jedoch beispielsweise bei jenen Ökonomien an der
Peripherie Westeuropas und der USA, mit ihrer ausgeprägten Abhängigkeit von
multinationalen Unternehmen der entsprechenden Zentren, seine Grenzen. Für diese
Ökonomien ist der Typus der abhängigen Marktökonomie (dependent market economy/DME,
vgl. Nölke u. Vliegenthart 2009) geprägt worden. Hier ist insbesondere ihre Abhängigkeit von
den Entscheidungen in den hierarchisch übergeordneten Hauptquartieren westlicher
multinationaler Unternehmen (MNU) das durchgängige Strukturmerkmal. Für die BIC-
Länder hingegen erscheint uns die Charakterisierung als staatlich durchdrungene
Marktökonomien (state-permeated market economy/SME) hilfreich, um die institutionellen
Verwandtschaften und/oder Gemeinsamkeiten dieser Schwellenländer skizzieren zu können
(vgl. Abb. 1).
Abbildung 1: Vier Kapitalismusmodelle
Kapitalismustyp Liberale
Marktökonomien
(LME)
Koordinierte
Marktökonomien
(CME)
Abhängige
Marktökonomien
(DME)
Staatlich
durchdrungene
Marktökonomien
(SME)
Zentraler Koordinationsmech
anismus
Wettbewerbsorientierte Märkte und
formale Verträge
Unternehmens- Netzwerke und –
Verbände
Abhängigkeit von Hierarchien in
MNU
interpersonale Loyalität, privat-
öffentliche
Allianzen
1. Corporate
Governance
Outsider:
Minderheiten-
Aktionäre
Insider:
Konzentrierter
Aktienbesitz
Kontrolle durch
MNU-Hauptquartier
nationale Kontrolle,
geringer Einfluss
transnationaler
Investoren
2. Wichtigste
Quelle für die
Investitionsfinanzie
rung
Nationale und
internationale
Kreditmärkte
Nationale Banken
und intern generierte
Erträge
Ausländische
Direktinvestitionen
und Banken
Besondere Rolle
von
Familienkapital
und Staatsbanken
3.
Arbeitsbeziehungen
pluralistisch,
marktbezogen,
kaum
Tarifabkommen
Korporatistisch, eher
konsensual,
sektorale oder sogar
nationale Tarifabkommen
Ruhigstellung
qualifizierter
Mitarbeiter,
unternehmensbezogene Tarifabkommen
Niedriglohnregime,
selektive
Durchsetzung von
Arbeitsrechten
6
4. Bildungs- und
Ausbildungssystem
Generelle
Fähigkeiten, hohe
FuT-Ausgaben
Besonderer Fokus
auf unternehmens-
bezogene oder
sektorale
Fähigkeiten
begrenzte Ausgaben
für Bildung/
Ausbildung,
Ausrichtung auf die
Bedürfnisse von
MNU
selektive staatliche
Unterstützungsmaß
nahmen für
verbündete
Unternehmen
5. Transfer von
Innovationen
Märkte und
Verträge
Unternehmenskoope
ration und Verbände
Innerbetrieblicher
Transfer in MNU
Nachlässiger
Patentschutz,
Wettbewerbspolitik
zugunsten
nationaler
"Champions"
6. Rolle von Binnenmärkten
Referenzpunkt ist (liberalisierter)
Weltmarkt
nicht konstitutiv für exportgestütztes
Wachstumsmodell
weitgehende Öffnung für Importe
selektive Abschottung,
Skalenvorteile für
nationale
Unternehmen
7. Internationale
Einbindung
expansiv, v.a. über
Finanzmärkte
starke Fixierung auf
Exporte
Abhängigkeit von
externen Akteuren
selektive
Internationalisierun
g, kein
„Ausverkauf“
Typische
komparative
Vorteile
Radikale
Innovationen in
high tech und
Dienstleistungen
Inkrementelle
Innovationen in
Anlagegütern
Montageplattform
für
halbstandardisierte
Industriegüter
Mittlere
Technologie &
Rohstoffe, auf
Basis niedriger
Arbeitskosten
Vgl. für frühere Versionen Nölke u. Vliegenthart 2009, Nölke 2011a
Der Staat spielt im SME-Typ des Kapitalismus eine bedeutendere Rolle als in anderen
Kapitalismusmodellen. Zwar ist die Reproduktion kapitalistischer Gesellschaften
grundsätzlich immer von einer funktionierenden Staatsmacht abhängig, dies gilt aber
insbesondere für (große) Schwellenländer. Obwohl die zentrale Position des Staates in diesen
Ländern seit langem bekannt ist (Elsenhans 1985), fehlt er häufig in Analysen des B(R)IC-
Kapitalismus. Allerdings hat sich die Rolle des Staates in den großen Schwellenländern
gegenüber der früheren Diskussion über u.a. den ostasiatischen Entwicklungsstaat deutlich
verändert. Eine Differenzierung verschiedener Formen des „Staatskapitalismus“ scheint uns
daher sinnvoll zu sein, um zu einem nuancierteren Verständnis starker Einflußnahme von
Regierungen und Bürokratien auf die ökonomische Ordnung zu kommen (vgl. umfassender:
ten Brink u. Nölke 2013, Musacchio u. Lazzarini 2012). Im Unterschied zu älteren
Vorstellungen eines Staatskapitalismus, in denen dieser als Synonym für eine
Kommandowirtschaft galt, herrscht in dessen modernen Formen ein System von direkter und
indirekter staatlicher Kontrolle der Wirtschaft vor, in dem die beschleunigende Funktion des
Wettbewerbs sowie die stabilisierende Funktion von interpersonalen Netzwerken gezielt
zugelassen werden. Dies äußert sich beispielsweise im Wettbewerb verschiedener Bündnisse
von staatlichen Stellen und großen Unternehmen, aber auch in Veränderungen der
Besitzstruktur von staatlichen Unternehmen. Dies ist zwar kein völlig neues Phänomen (vgl.
Elsenhans 1985, S. 135-6), wird aber in der gegenwärtigen Debatte über den
Staatskapitalismus kaum thematisiert (vgl. Bremmer 2011). SMEs sind daher nicht staatlich
gelenkt, sondern eben staatlich durchdrungen. Der Staat stellt keine straff-zentralistische
Lenkungsinstanz dar, sondern kontrolliert maßgeblich den Zugang zu essentiellen
Akkumulationsressourcen wie Kredit, den Marktzugang, Eigentumsrechte und Arbeitskraft–
und durchdringt in dieser Weise andere institutionelle Sphären. Ausgangspunkt des SME-
Modells ist ein (stilisierter) sozialer Koordinationsmechanismus, in dem interpersonelle
7
Loyalitäten als Grundlage privat-öffentlicher Allianzen im Zentrum stehen und damit eine
Alternative zur marktförmigen, koordinierten oder hierarchischen Koordination bilden (Boyer
2002, S. 325). Staatliche Instanzen sind dabei in der Regel keine passiven Empfänger von
partikularistischen Interessen, vielmehr sind sie aktiv in der Gestaltung dieser Allianzen
beteiligt und verfügen häufig über am Ende ausschlaggebende Interventionsmöglichkeiten.
Ironischerweise führten die Teilprivatisierungen in den 1990ern häufig dazu, dass die ehemals
rein bürokratisch organisierte Staatsklasse auf ein Segment der Unternehmerschaft
ausgeweitet wurde. Letztere formiert sich in SMEs jedoch nicht als eigenständige Klasse mit
eigenen Interessen, sondern bildet mit den staatlichen Eliten eine neuartige Kapitalistenklasse,
deren ökonomische Basis nicht die Rente ist (wie in „reinen“ Staatsklassen, vgl. Elsenhans
1997), sondern der kapitalistische Profit. Entsprechend ist die Unternehmerschaft in großen
Schwellenländern im Vergleich zu OECD-Ökonomien schwach organisiert (Schneider 2009),
was die Hoffnung Bremmers auf den Aufstieg einer privaten Unternehmerschicht, die den
Staatskapitalismus herausfordert (2011, S. 116-7), unrealistisch macht.
Der Koordinationsmechanismus privat-öffentlicher Allianzen durchzieht in unserem Modell
die institutionellen Sphären (vgl. Abb. 1). Ein wesentlicher Bezugspunkt ist dabei die
Corporate Governance. Im Gegensatz zu Minderheitsaktionären (LME), Blockaktionären
(CME) sowie der Kontrolle durch multinationale Unternehmen (DME) stehen in SMEs
zumeist Eigentümerstrukturen im Vordergrund, die entweder im Besitz von Familien oder
unter zumindest indirekter staatlicher Kontrolle sind, in jedem Fall allerdings von nationalem
Kapital dominiert werden. Hier ergeben sich Komplementaritäten zur
Unternehmensfinanzierung, da diese Eigentümerstrukturen Unternehmen in Schwellenländern
von kurzfristigen Schwankungen auf den Weltkapitalmärkten sowie den Renditeerwartungen
internationaler Kapitalanleger vergleichsweise unabhängig machen. Außerdem können
entsprechend kontrollierte Unternehmen so besonders von staatlichen
Unterstützungsmaßnahmen (z.B. verbilligte Kredite durch Staatsbanken,
Stützungsmaßnahmen während wirtschaftlicher Krisen) profitieren. Eine enge Kooperation
zwischen Unternehmensführung und Staat sowie (Staats- bzw. staatsnahen) Gewerkschaften
ist auch im Bereich der Arbeitsbeziehungen vorzufinden, da staatliche Regulierungen (und
deren selektive Implementierung) sowie die Existenz einer großen, die Reproduktionskosten
niedrig haltenden informellen Ökonomie erheblich dazu beigetragen haben, die Arbeitskosten
niedrig zu halten. Gleiches gilt für den Bildungs- und Ausbildungsbereich: hier setzen
staatliche Unterstützungsmaßnahmen bisher gezielt und sehr selektiv in jenen Bereichen an,
in denen die verbündeten Unternehmen tätig sind. Schließlich helfen staatliche Maßnahmen
auch im Bereich des Transfers von Innovationen und der Wettbewerbspolitik, indem die
Rechte und Pflichten ausländischer Unternehmen häufig auf die Bedürfnisse verbündeter
Unternehmen zugeschnitten werden (z.B. im Bereich des geistigen Eigentums).
Die auf nationale Institutionen ausgerichtete Heuristik etwa bei Hall und Soskice sieht
allerdings keine analytischen Kategorien für die Relevanz von Binnenmärkten sowie die
Integration in die internationale Ökonomie vor, die wir daher separat konzeptualisieren. Die
internationale Einbettung bestimmt die Art der Vermittlung zwischen der nationalen und
internationalen Ebene (Boyer 1990, S. 40). Aufgrund ihrer spezifischen Form der Integration
sind Unternehmen aus den großen Schwellenländern, insbesondere auf mittlerem
Technologieniveau und im Rohstoffbereich (auf Basis niedriger Arbeitskosten) auf globalen
Märkten wettbewerbsfähig, ohne jedoch in einseitige Abhängigkeiten zu verfallen. Im
Gegensatz zu früheren Perioden sind Konzerne aus Schwellenländern nun also aktiv in
globale Produktionsketten eingebunden, während die Abhängigkeit dieser Länder von
externem Kredit und damit das finanzpolitische Diktat des „Washington Consensus“ seit der
Asienkrise 1997/98 gesunken ist. Diese nur partielle Integration in die globalen Finanzmärkte
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(die auch und gerade durch die politischen Machtkapazitäten der BIC-Länder ermöglicht
wurde) erleichterte in jüngster Zeit ebenso den Umgang mit der globalen Krise.
Eine weitere zentrale Erklärung für diese Dynamik sind die großen Binnenmärkte der SMEs,
(und damit eine relative Unabhängigkeit vom volatilen Weltmarkt) insbesondere im Vergleich
mit anderen Staaten des globalen Südens. Ein gewisser Grad staatlicher Kontrolle der
Binnenmärkte ermöglicht hierbei Wettbewerbsvorteile für einheimische Firmen. In diesem
institutionellen Rahmen ist es für Konzerne in SMEs rational und effizient, sich auf den
einheimischen Markt zu konzentrieren, während der Weltmarkt häufig eine zusätzliche Option
darstellt. Die auch staatlich getriebene Nachfrage (u.a. Infrastrukturausbau, Immobilien) hat
zur Folge, dass ein Großteil des Wachstums innerhalb der Länder erwirtschaftet wird.
Allerdings wird das entsprechende Entwicklungspotential dieser Ökonomien nicht vollständig
ausgeschöpft, da die extreme soziale Ungleichheit sowohl die Ausschöpfung der
Massennachfrage als auch die Entfaltung des vollen Innovationspotentials begrenzt.
3. Kennzeichen der BIC-Kapitalismen aus institutionell-politökonomischer Perspektive
Im Folgenden arbeiten wir auf Grundlage des erarbeiteten Kriterienkatalogs wichtige
empirische Kennzeichen der politischen Ökonomien der BIC-Länder heraus. Auf diese Weise
lassen sich, so die These, Anhaltspunkte für ein Verständnis der SMEs und ihres
weltwirtschaftlichen Aufstiegs, aber auch der fortwährenden sozialen Ungleichheiten
benennen. Ausgehend vom zentralen Koordinationsmechanismus gehen wir auf die fünf als
relevant identifizierten institutionelle Sphären der Vergleichenden Kapitalismusforschung ein,
bevor wir diese mit einer Analyse der jeweiligen Binnenmärkte und der Integration in die
kapitalistische Weltökonomie ergänzen und abschließend die „Erfolgsbilanz“ in Form von
komparativen Vorteilen und Verteilungswirkungen skizzieren.
Zentraler Koordinationsmechanismus
Das Konzept der Koordinationsmechanismen verweist auf grundlegende Formen der
Gestaltung wirtschaftlicher Beziehungen. Typischerweise sind diese nicht auf einzelne Felder
zu reduzieren, sondern kennzeichnend für alle wesentlichen institutionellen Bereiche. Für den
Idealtyp der liberalen Marktökonomien wird hier die Bedeutung wettbewerbsorientierter
Märkte und formaler Verträge hervorgehoben, für koordinierte Marktökonomien
Unternehmensnetzwerke und Verbände und für abhängige Marktökonomien die Hierarchien
multinationaler Unternehmen (vgl. Abb. 1). Zentraler Koordinationsmechanismus in den BIC-
Kapitalismen ist jeweils ein enges Geflecht zwischen staatlichen Instanzen und großen
Unternehmen.
SMEs werden also im Kern von einer außerordentlich engen Kooperation zwischen
staatlichen und wirtschaftlichen Akteuren geprägt, die auf Loyalitäts- und
Reziprozitätslogiken, persönliche Beziehungen, gemeinsamen Werthaltungen und einem
ähnlichen sozialen Hintergrund (in einzelnen Fällen auch ethnische, religiöse oder
Familienbande) beruhen. Enge Allianzen zwischen Staaten und Unternehmen gibt es natürlich
auch in den anderen Kapitalismustypen, aber in keinem Fall spielen diese eine derart
dominante Rolle (vgl. ten Brink u. Nölke 2013).5 Auch basieren sie weniger auf engen
persönlichen Beziehungen. Staatliche Durchdringung bedeutet des Weiteren nicht einfach die
5 In CMEs existieren zweifellos auch interpersonelle Netzwerke, doch ist deren Grundlage anders und sie
vernetzen auch eher Unternehmen (z.B. im Rahmen von Aufsichtsratsverflechtungen), als staatliche Stellen und
Unternehmen.
9
Existenz eines „starken“, monolithischen Zentralstaats, die uneingeschränkt über alle
Wirtschaftssektoren reichende Dominanz staatlicher Unternehmen, eine einheitliche
Industriepolitik oder eine zentralisierte Entwicklungsplanung, wie noch in der früheren
Diskussion zum ostasiatischen Entwicklungsstaat angenommen wurde (Amsden 1994; Wade
1990). Vielmehr ist eine Omnipräsenz miteinander konkurrierender staatlicher Institutionen,
von lokalen privat-öffentlichen Wachstumskoalitionen sowie von unterschiedlichen
Strömungen der Machtelite festzustellen (Fraktionen von „Staatsklassen“, Elsenhans 1981;
„Factions“, Shih 2008), die häufig ihren partikularen Kalkülen folgen. Gleichzeitig werden
diese staatlichen Stellen und die mit ihnen potentiell kooperierenden rent-seekers in der
Ökonomie jedoch von einer vergleichsweise autonomen Rolle privaten (in- und
ausländischen) Kapitals – und zunehmend aufstrebenden Mittelschichten – in Schach
gehalten, so dass sie sich nicht Staat und Wirtschaft vollkommen zur „Beute“ machen können,
wie in patrimonialen Regimen (auch wenn diese Aktivitäten in SMEs ebenfalls nicht völlig zu
vermeiden sind, was aktuell insbesondere in Brasilien und Indien thematisiert wird). Im
Gegensatz zur tendenziell funktionalistischen Logik früherer Konzepte der Vergleichenden
Kapitalismusforschung wird hier allerdings nicht angenommen, dass gesamtgesellschaftlich
effiziente Institutionen hauptsächlich über den Druck des Marktes hergestellt werden.
Außerdem geht es in der hier vertretenen Perspektive nicht nur um Effizienz, sondern auch
um Machtfragen, insbesondere den Schutz nationalen Kapitals vor ausländischem Kapital.
Der Staat kooperiert mit der nationalen Wirtschaftselite und richtet sich im Unterschied zu
den abhängigen Marktökonomien nicht allein nach den Forderungen multinationaler
Unternehmen, sondern kann deren Investitionen gewisse Restriktionen auferlegen und sie zu
seinen Gunsten beeinflussen.
(1) Corporate Governance
Wie erwähnt, zeichnen sich SMEs im Unterschied zu anderen Kapitalismustypen durch
Eigentümerstrukturen aus, die entweder (indirekt) von staatlichen Stellen kontrolliert werden
oder im Besitz von Familien sind. In der Regel werden diese vom nationalen, also im Land
ansässigen Kapital dominiert und erleichtern somit die Koordination langfristiger
wirtschaftlicher Entwicklungsstrategien. Ausländisches Kapital wird als Mehrheitsaktionär
nur selektiv als Modernisierungsfaktor zugelassen: vorwiegend in Sektoren, in denen
einheimische Firmen (technologisch/organisatorisch) nicht konkurrenzfähig sind, die aber für
die Entwicklung der gesamten Wirtschaft als essentiell angesehen werden. In Bezug auf die
Dominanz nationalen Kapitals lassen sich Komplementaritäten zur
Unternehmensfinanzierung aufzeigen, denn derartige Eigentümerstrukturen machen
Unternehmen vergleichsweise unabhängig von kurzfristigen Schwankungen auf den
Weltkapitalmärkten sowie von den Renditeerwartungen internationaler Kapitalanleger.
Außerdem können eng mit dem Staat verbundene Unternehmen auf staatliche
Unterstützungsmaßnahmen (z.B. verbilligte Kredite durch Staatsbanken,
Stützungsmaßnahmen während wirtschaftlicher Krisen) zurückgreifen und sind leichter einer
Koordination mit staatlichen Stellen zugänglich.
Unternehmen, die diesem Muster nicht entsprechen, bestätigen häufig eher die Regel: Der
indische Wirtschaftsgigant Reliance war bereits bei dessen Gründung in den 1950er Jahren
ein am Aktionär ausgerichtetes Unternehmen nach angelsächsischem Vorbild, aber es
bedurfte erheblicher (lobbyistischer) Anstrengungen, um sich gegen etablierte
Ordnungsstrukturen (wie z.B. die Lizenzvergabe) durchzusetzen (Piramal 1996, S. 3-56). Eine
umfassende liberale „Modernisierung“ der indischen Unternehmensstruktur fand bis heute
nicht statt: die klassischen „business houses“ dominieren weiterhin die Institutionen der
indischen Ökonomie (May/Nölke 2013b). Die Schutzfunktion gegenüber Marktkräften, die
10
von diesen Institutionen ausgeht, ist so vorteilhaft für Unternehmen, dass sie möglichst lange
von dieser Konstellation profitieren wollen. Erst wenn Unternehmen aus diesem Rahmen
herausgewachsen sind, finden auch Umstrukturierungen in der Unternehmensführung statt.
Dies geht nicht selten mit einer umfassenden Internationalisierung einher. Sowohl der
brasilianische Ölkonzern Petrobras als auch der indische Stahlhersteller Mittal sind als global
players an den Börsen New Yorks und Londons gelistet. Es herrscht in den BICs daher eine
dezidiert unternehmensfreundliche Politik vor (für Indien, vgl. Kohli 2007). Das
Unternehmensinteresse steht im Vordergrund, während volkswirtschaftliche Überlegungen
eine geringere Rolle spielen. Dementsprechend sind es auch individuelle unternehmerische
Entscheidungen, aus dem institutionellen Gefüge des BIC-Kapitalismus auszuscheren.
Die formelle Rolle staatlicher Stellen für die Unternehmenskontrolle weist freilich sowohl
innerhalb der BICs als auch im historischen Zeitverlauf eine gewisse Nuancierung auf.
Hinsichtlich der corporate governance in China hat etwa eine Verschiebung der
wirtschaftlichen Kontrollkapazitäten von staatlichen Behörden auf das Management zahlloser
Unternehmen stattgefunden. Eine gemischte Wirtschaft regelt diese Beziehungen. Während
auf der zentralstaatlichen Ebene eine erneuerte Form des staatseigenen Unternehmens
vorherrscht, konnten besonders auf subnationalen Ebenen privat-öffentliche
Wirtschaftsregime an Bedeutung gewinnen (Naughton 2007). Die großen brasilianischen
Unternehmen sind zwar zumeist börsennotiert, weisen aber zumeist einen wesentlichen
Aktienanteil in Familienbesitz oder von anderen Kernaktionären auf. Zudem hält auch der
Staat häufig größere Aktienpakete oder „golden shares“, etwa bei staatlichen Unternehmen,
die privatisiert wurden (zum Beispiel Embraer oder Vale, vgl. Bremmer 2011, S. 125). Nicht
immer geht es um direkte staatliche Einflussnahme, vielmehr spielen indirekte Interventionen
eine bedeutende Rolle, etwa Institutionen wie die nationale brasilianische Entwicklungsbank
BNDES (Banco Nacional de Desenvolvimento Econômico e Social). Wichtig für eine
Erklärung der wirtschaftlichen Wachstumsprozesse in den letzten Dekaden ist jedenfalls, dass
in den SMEs kein offener Markt für Unternehmenskontrolle (und den damit einhergehenden
Volatilitäten) besteht, sondern eine vergleichsweise stabile Kontrollstruktur, die langfristige
Unternehmensstrategien und eine zumindest informelle Abstimmung nationaler
Entwicklungsstrategien ermöglicht.
(2) Investitionsfinanzierung
Die BIC-Kapitalismen speisen Unternehmensinvestitionen vor allem aus internen Rücklagen,
familiärem Kapital sowie dem klassischen Bankkredit. Diese Finanzierungsformen werden
nicht über den Markt, insbesondere nicht über die hochgradig volatilen globalen
Kapitalmärkte vermittelt und ermöglichen daher die Verfolgung langfristiger
Wachstumsstrategien und die Koordination wirtschaftlicher Entscheidungen auf nationaler
Ebene. Im Gegensatz zu anderen Kapitalismustypen dominiert in SMEs eindeutig nationales
Kapital die Wirtschaft. Zwei Faktoren bedingen dabei eine dominante Stellung des
einheimischen Bankenkapitals in den SMEs: relativ hohe Sparquoten und eine restriktive
Regulierung des Kreditmarktes.
Abbildung 2: Sparquoten der BIC-Länder im Vergleich zu den USA (Bruttosparrate im Verhältnis zu BIP)
Abb. 2 bildet das enorm hohe Sparvolumen insbesondere in China und Indien ab.6 Hinter
diesen Zahlen stecken zwar Unterschiede hinsichtlich der Zusammensetzung des
6 Die brasilianische Sparquote ist zwar (durch die Erfahrung der Hyperinflation) verhältnismäßig niedrig, jedoch
besteht im Vergleich etwa zu den USA ein qualitativer Unterschied: Sie stellt Ersparnisse dar, welche den
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Sparvolumens, doch entscheidend ist hierbei, dass bei Banken eingelagerte Ersparnisse als
Investitionskapital verliehen werden können – in China etwa machen Ersparnisse der
Haushalte 44% aller Bankeneinlagen aus (vgl. NBS 2010). Dadurch kann auch ein Großteil
der Kredite nach nicht-marktförmigen Prinzipien vergeben werden, z.B. durch
Loyalitätsbeziehungen oder entwicklungsbezogene Maßgaben staatlicher Stellen. Empirisch
besteht in den SMEs ein enger Zusammenhang zwischen Investitions- und Sparquoten, was
einer eher konservativen Kreditvergabe entspricht (vgl. Deutsche Bank Research 2010). Da
ein Großteil des Bankenkredits durch Staats- und Entwicklungsbanken abgewickelt wird,
stellt der Staat eine durchgehend hohe Investitionsrate sicher. Zudem stellen Familien oder
ethnisch-basierte Wirtschaftsnetzwerke eine wichtige zusätzliche Quelle für
Investitionskapital dar. Dies gilt insbesondere für Indien, wo Rücküberweisungen aus dem
Ausland einen nicht zu unterschätzenden Finanzzufluß ausmachen sowie für China, wo
beträchtliche Kapitalsummen von Exil-Chinesen auf das chinesische Festland transferiert
werden (Tsai 2010).
Eine strikte staatliche Regulierung des Finanzsektors (bei gleichzeitiger Existenz informeller
Kreditmärkte) sorgt dafür, dass nationales Bankenkapital die dominante Investitionsquelle
bleibt. In China ist der Börsenhandel nach unterschiedlichen (handelbaren und nicht-
handelbaren) Aktientypen differenziert, in Brasilien unterliegt nicht nur der klassische
Börsenhandel, sondern auch der gesamte Derivatehandel einer strikten öffentlichen Kontrolle
(vgl. Walter u. Howie 2011). In allen Ländern sind viele Derivattypen nicht oder nur
eingeschränkt zugelassen, insbesondere solche, die vornehmlich der Absicherung von
Spekulationsgeschäften dienen (wie z.B. Kreditausfallderivate). Dadurch wird gewährleistet,
dass Ersparnisse tatsächlich im Bankensektor landen und die Unternehmensfinanzierung
weder von den kurzfristigen Rentabilitätsforderungen, noch den Imperativen der
internationalen Kapitalmärkte abhängig ist.
Abbildung 3: Anteil ausländischer Direktinvestitionen am BIP
Ausländische Direktinvestitionen (ADI) spielen zwar auch in Brasilien, Indien und China eine
wichtige Rolle, doch sind sie davon weniger abhängig als beispielsweise Ungarn oder
Tschechien (Nölke u. Vliegenthart 2009). Wie Abb. 3 zeigt, ist der Anteil der ADI am BIP für
alle BIC-Ökonomien moderat, wenn man sie mit anderen etablierten Kapitalismustypen
vergleicht. Dies gilt insbesondere für Indien, aber auch für China, wenn man zugrundelegt,
dass die Hälfte der ADI aus Hongkong stammt und von einheimischen Unternehmern genutzt
werden, um Steuervorteile zu nutzen (vgl. NBS 2010). Selbst in Brasilien nehmen
ausländische Investitionen eine moderate Position ein. Sie bleiben weit von der ausländischen
Durchdringung der Ökonomie entfernt, wie sie etwa in der abhängigen Marktökonomie
Tschechien anzutreffen ist.7
ADI sind in diesem neo-merkantilistischen Modell als Modernisierungsfaktor willkommen
(z.B. durch Joint Ventures), insofern sie nicht die prinzipielle Vormachtstellung des
nationalen Kapitals unterminieren, sondern selektiv die nationale Ökonomie modernisieren
(Cho 2005, S. 164-166). Die ADI-Entwicklung ging seit den 1980ern Hand in Hand mit der
globalen Reorientierung ausländischer Direktinvestitionen aus dem Zentrum in die Länder der
(Semi-)Peripherie, die sich nun weniger an Rohstoffen (oder an den politischen Prioritäten des
Ost-West-Konflikts), sondern der Einbeziehung in transnationale Wertschöpfungsketten und
Banken als Investitionskapital zur Verfügung stehen, wohingegen es in den USA vornehmlich Rücklagen von
Unternehmen (in Form von Aktien) sind, um sich gegen Übernahmen zu schützen. 7 Diese gesamtwirtschaftliche Perspektive verdeckt allerdings die Tatsache, dass einige Wirtschaftssektoren
durchaus von ausländischem Kapital dominiert sein können.
12
der Erschließung der wachsenden Binnenmärkte orientieren – insbesondere letzteres erfordert
eine enge Kooperation mit dem nationalen Kapital (Abu-El-Haj 2007, S. 96; Brandt u. Thun
2010, S. 1566-69). Gleichzeitig ist das nationale Kapital in bestimmten Bereichen auch auf
die Modernisierungswirkung ausländischer Direktinvestitionen angewiesen und stimmt in
diesem Rahmen selektiven Privatisierungen (in der Praxis häufig der Verkauf von staatlichen
Unternehmen an ausländische MNUs) zu. Der (lokale) Staat fungiert hier gewissermaßen als
„Gatekeeper“ für den Zufluss ausländischen Kapitals. Die großen BIC-Ökonomien mit ihren
potentiell umfangreichen Binnenmärkten unterscheiden sich damit nach unserer Annahme
zumindest graduell vom noch stärker exportorientierten Entwicklungsmodell der
„Tigerstaaten“, und noch viel stärker von reinen Rohstoffexporteuren, bei denen eine
strukturelle Heterogenität (Elsenhans 1981) dazu führt, dass sich die Wirtschaft auf die
Abschöpfung von Renten fokussiert und insofern zumeist auf die Entwicklung von
Institutionen verzichtet wird, die eine breite Integration der jeweiligen Wirtschaft in den
Weltmarkt möglich machen.
(3) Arbeitsbeziehungen
In den BIC-Ländern kann (im Gegensatz zu den „etablierten“ Fällen der vergleichenden
Kapitalismusforschung wie USA, Deutschland oder Schweden) von einer durchgreifenden
Organisation der Arbeitsbeziehungen kaum die Rede sein. Hier hat sich die Segmentierung
und Segregation der Arbeiterschaft als eine fortwährende Quelle der Wertschöpfung und als
Motor der Akkumulation erwiesen. Derart blieb die Ware Arbeitskraft nicht nur
„preisgünstig“, sondern die Beschäftigten wurden zugleich geographisch und betriebsintern
gespalten. Ein prekärer Beschäftigungsstatus ist weiterhin die Norm für die Masse der
Werktätigen. Dem entspricht, dass die Regulation des Lohnverhältnisses auf der Ebene der
einzelnen Unternehmen angesiedelt ist und es an einer kollektiven und
branchenübergreifenden Durchsetzung von Arbeits- und Sozialstandards mangelt. Ein
Großteil der Arbeit findet zudem in der informellen Ökonomie statt, wo quasi-
frühkapitalistische Formen eines primitiven Arbeitsmarktes vorherrschen. In Indien sind über
80% aller Arbeiter8 informell beschäftigt, d.h. überwiegend unorganisiert, ohne soziale
Absicherung und ohne Arbeitsvertrag (Government of India 2012). Dem gegenüber stehen
lediglich 35 Millionen Arbeitnehmer, die über ein formales Arbeitsverhältnis verfügen. Wo
lediglich ca. 5% der Lohnabhängigen in offiziellen Arbeitsverhältnissen stehen, ist die
Organisationsmacht der Arbeiterschaft gering. Weil sich die Mehrzahl der Beschäftigten in
ungesicherten Arbeitsverhältnissen befindet, sind flächendeckende Streiks schwer zu
realisieren, da diese deren Existenzgrundlage unmittelbar bedrohen (für Brasilien, vgl.
Anderson 2011, S. 9). Das produzierende Gewerbe konnte (und kann) in SMEs des Weiteren
mit einem stetigen Nachschub billiger Arbeitskräfte aus dem ländlichen Bereich rechnen.
Ähnliche Befunde wie für Indien gelten für Brasilien und China: Neben den formalisierten
Beschäftigungsverhältnissen findet ein erheblicher Teil der Arbeit in weitgehend
ungeschützten Subsistenz- oder Kleinproduzentenverhältnissen statt. In den Sektoren
allerdings, in denen dynamisches Wachstum zu erhöhten Lohnforderungen führt, greift
wieder die enge Kooperation zwischen Unternehmensführung und Staat (sowie
Gewerkschaften), indem staatliche Regulierungen und deren selektive, oft durch
Hierarchiebeziehungen ausgehebelte Implementierung erheblich dazu beitragen können,
Arbeitskosten niedrig zu halten und gleichzeitig qualifizierte Arbeitnehmer selektiv zu
befrieden. So sind auch in China korporatistische Abstimmungsprozesse zwischen
Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Staat (trotz Anstrengungen der Zentralregierung zur
8 Bezeichnungen wie Unternehmer, Parteikader, Arbeiter u.Ä. sind im Folgenden als Funktionsbezeichnungen zu
verstehen, die stets beide Geschlechter umfassen.
13
Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen) nur rudimentär vorhanden. Die Größe und
Heterogenität des Landes erlaubt es den wirtschaftlichen Akteuren seit Langem, von
ungleichen Akkumulationsbedingungen und Arbeitssystemen zu profitieren und „[to] move
from region to region to find the most supportive government officials […], which in turn
motivates officials to lend ‘helping hands’ rather than ‘grabbing hands’ in the provision of
public goods or services (e.g., granting of licenses to start-up firms), or else there will be an
outflow of profitable private businesses from the region“ (Allen et al 2011, S. 44-45). Die
Arbeitsbeziehungen erinnern daher auf den ersten Blick an liberale Ökonomien, bei näherem
Hinsehen in Teilbereichen jedoch auch an ostasiatische Systeme des Betriebspaternalismus
(Lüthje et al. 2013). Essentiell für die Wachstumsraten in den SMEs sind jedenfalls insgesamt
niedrige Arbeitskosten, die durch niedrige Reproduktionskosten und eine hohe Informalität
der Arbeitsbeziehungen ermöglicht werden. Qualifizierte Arbeitnehmer, die höhere
Lohnforderungen stellen können, sind meist nicht in solidarische Systeme der
Arbeitsbeziehungen eingebunden, sondern werden häufig durch eine individuell bessere
Entlohnung zufriedengestellt. Es existieren daher erhebliche Lohndifferenzen etwa zwischen
hoch qualifizierten Technikern und gering qualifizierten Montage-Arbeitern in der Industrie.
(4) Bildungs- und Ausbildungssystem
Das Ausbildungsniveau der Arbeiter ist, neben der „Innovation“ der Produktionsmittel, der
bestimmende Faktor zur allgemeinen Produktivitätssteigerung. Zur Gewährleistung eines
stabilen Produktionssystems muss daher der Prozess der skill formation organisiert, d.h.
institutionalisiert werden. Hier bedienen sich in SMEs Unternehmen auch und gerade der
Steuerungskapazität des Staates, um entsprechende Strukturen nicht selbst errichten zu
müssen. Besonders in China ist dabei ein Bildungssystem vorhanden, welches das
Niedriglohnregime mit – im Vergleich zu anderen Schwellenländern – relativ gut
ausgebildeten Arbeitskräften ergänzt. Die Mehrzahl der Arbeiter besucht bereits seit längerem
weiterführende Schulen. Im Bildungs- und Ausbildungsbereich setzen staatliche Maßnahmen
ferner gezielt in jenen Bereichen an, in denen die verbündeten Unternehmen tätig sind,
während die Konzentration auf eine extensive Produktionsweise (die in großen Bereichen
lediglich geringe und mittlere Qualifikationen erfordert) den Aufbau eines aufwendig
institutionalisierten Systems der tertiären Ausbildung sowie der spezialisierten beruflichen
Bildung erst in begrenztem Umfang nötig machen.
Insgesamt tragen die staatlichen Bildungsausgaben allerdings nicht zur Erhöhung der
Klassenmobilität und zur Eindämmung der sozialen Ungleichheit bei, auch wenn absolut
gesehen eine Erhöhung des Lebensstandards stattfindet. In Indien haben beispielsweise nur
5% der dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Personen eine berufliche Qualifikation.
Darüber hinaus ist die Klassenzugehörigkeit häufig ein entscheidendes Kriterium für die
Umwandlung von Bildungskapital in beruflichen Erfolg, so dass Klassenstrukturen über das
Bildungssystem reproduziert werden. In China werden die einflussreichen Nachkommen
hoher Parteiführer nicht umsonst als „Princelings“ bezeichnet, da sie erhebliche soziale
Privilegien genießen. In Brasilien gab es dagegen ab 1999, also nach dem Ende der
Liberalisierungsphase, signifikante Belege einer stärkeren Förderung der Grundausbildung,
doch gibt es insgesamt erst wenige Anzeichen, dass die extreme Segmentierung des
Arbeitsmarkts durch eine Erhöhung des allgemeinen Bildungsstandes insgesamt aufgebrochen
wird. Insbesondere in den bevölkerungsreichen Staaten China und Indien konnten dadurch in
den 2000ern die komparativen Kostenvorteile durch niedrige Löhne beibehalten werden.
(5) Transfer von Innovationen
14
Die Innovationsfähigkeit von Firmen ist zentral für die jeweilige Unternehmensstrategie (Hall
u. Soskice 2001, S. 38). Unternehmen müssen den Zufluss von Technologie und Innovationen
gewährleisten, um mittel- und langfristig Märkte bedienen zu können. Der Transfer von
Technologie muss daher institutionalisiert werden, wodurch sich modellspezifische
Innovationsmuster ergeben. Liberale Ökonomien befördern tendenziell Prozesse der radikalen
Innovation, während koordinierte Kapitalismen inkrementelle und Prozessinnovationen
hervorbringen und DMEs selbst keine Institutionen für Innovation bereitstellen. Findet der
Transfer in LMEs über Märkte und in CMEs über Firmenkonsortien und Forschungsallianzen
statt, so vollzieht er sich in SMEs vornehmlich durch staatliche Kanäle und privat-öffentliche
Allianzen.9 Solange Unternehmen hauptsächlich aufgrund niedriger Löhne profitabel sind,
besteht wenig Anreiz für Firmen, in Innovationsmaßnahmen zu investieren. Ein zumeist
relativ nachlässiger Patentschutz erleichtert zugleich zumindest vorübergehend jenes reverse
engineering, das für technologische Aufholprozesse und die damit mögliche Produktion für
wachsende Binnenmärkte (wie auch schon in früheren Industrialisierungsprozessen) von
zentraler Bedeutung ist. Gleichzeitig wird die Wettbewerbspolitik zielgerichtet darauf
abgestellt, einzelne Unternehmen gegenüber ausländischen Konkurrenten zu schützen, um
diesen über Monopolprofite die Expansion in in- und ausländische Märkte zu ermöglichen.
Hohe Marktbarrieren und die staatliche Kontrolle des Investitionswesens sorgen dafür, dass
vorwiegend technologisch fortgeschrittene Unternehmen ausländische Direktinvestitionen
tätigen und damit als Modernisierungsimpuls für einheimische Unternehmen dienen (Brandt
u. Thun 2010). In Brasilien und Indien ging es dabei in der Vergangenheit insbesondere auch
darum, Unternehmen aus der verhängnisvollen rent seeking-Orientierung der
importsubstituierenden Entwicklung zu holen, bei der es in erster Linie um staatlichen Schutz
und entsprechende Profite geht (Abu-El-Haj 2007, S. 97).
Hier zeigen sich Parallelen zur Sphäre des Bildungs- und Ausbildungssystems. Angesichts der
Innovationsmüdigkeit von Unternehmen in den BICs schafft der Staat entsprechende
Institutionen, die es einheimischen Unternehmen ermöglichen, mittel- und langfristig ein
technologisches Upgrading zu erreichen. Hierbei orientieren sich innovationsfördernde
Maßnahmen an einzelnen Unternehmen bzw. Wirtschaftssektoren. Insofern kann in diesen
Bereichen von einem „selektiven Staatskorporatismus“ gesprochen werden. Um den Transfer
von Innovationen zu garantieren, werden aber nicht lediglich einheimische Unternehmen
gegenüber ausländischen Konkurrenten geschützt, sondern – besonders deutlich im Falle
Chinas, aber auch in einzelnen Sektoren Brasiliens und Indiens – einzelunternehmerische
Schöpferkraft und staatliche Machtkapazitäten vereint, um zum Innovationsmotor zu werden
(vgl. bereits Evans 1995).
(6) Binnenmarktentwicklung
Nationale Märkte spielen eine zentrale Rolle in der Entwicklung der SME-Kapitalismen,
wurden in bisherigen Arbeiten aber weitgehend ausgeklammert, obwohl große, staatlich
geschützte Binnenmärkte pfadabhängige Vorteile für einheimische Unternehmen mit sich
bringen. „Binnenmarkt“ bezieht sich jedoch nicht nur auf nationale Märkte für Konsumgüter,
sondern ebenso auf den großen Immobiliensektor wie auch Infrastrukturmaßnahmen, die von
einheimischen Unternehmen realisiert werden. Weil in den BIC-Ländern der Schutz
nationaler Unternehmen durch verbündete staatliche Stellen bereits etabliert ist, können
9 Das Förderungswesen der Forschungseinrichtungen wird im Übrigen nicht mehr allein aus den
Staatshaushalten finanziert. Die Einrichtungen müssen – wie in anderen Ländern auch – auf eine verstärkte
Zusammenarbeit mit der Industrie, d.h. die Auftragsforschung, setzen. Resultat ist ein Wettbewerb um begrenzte
Fördergelder aus staatlichen Töpfen oder industriellen Fonds.
15
nationale Industrien zumindest zeitweise vor ausländischen Importen geschützt werden. So
konnte sich die Dynamik des IT-Sektors in Indien erst in einem relativ geschlossenen Umfeld
entfalten (Evans 1995, S. 114). In der Folge wurden ausländischen Konzernen Zugang zu
nationalen Märkten nicht oder nur unter strengen Auflagen gewährt. Die Märkte für
bestimmte Güter wurden (und werden) hingegen entsprechend geschützt. Staatlich geschützte
Binnenmärkte legen es einheimischen Unternehmen nahe, entsprechende Produkte zu
entwickeln und zu produzieren, da sie ein relativ stabiles institutionelles Umfeld
gewährleisten. Dies gilt insbesondere in Hinblick auf die (historisch konkret erfahrene)
Volatilität externer Nachfrage, den Konkurrenzdruck durch ausländische Konzerne und
Wechselkursrisiken, denen einheimische Unternehmen auf dem Weltmarkt ausgesetzt waren
und/oder wären. Eine erfolgreiche Binnenmarktorientierung für Konsumgüter ist in der Folge
einfacher durchsetzbar, wenn bereits national spezifische Konsummuster und
Produktpräferenzen herausgebildet sind. Die großen indischen business houses wuchsen nicht
zuletzt durch die Produktion von Mopeds, Fahrrädern sowie einfacher
Unterhaltungselektronik, die lokal abgesetzt werden konnten (Piramal 1996). Die
Regierungen in Brasilien, Indien und China federn zudem den externen Druck auf nationale
Unternehmen ab und nehmen gerne in Kauf, ständig im Clinch mit der WTO zu liegen bzw.
entsprechende Regularien nur sehr zögerlich zu übernehmen. Brasiliens Präsidentin Dilma
Rousseff hat jedenfalls bereits mehrfach ihre Bereitschaft zu weiteren „protektionistischen“
Unterstützungsmaßnahmen erklärt (Reuters 2011; Financial Times 2012).
In der öffentlichen Wahrnehmung dominiert noch immer der Eindruck, dass das Wachstum
der Schwellenländer hauptsächlich auf eine starke Exportorientierung zurückzuführen ist. Ein
genauer Blick zeigt jedoch, dass die BICs nicht so exportabhängig sind, wie manchmal
vermutet wird. Während Deutschland stets circa 30% seiner Wirtschaftskraft aus
Exporterlösen erzielte und sich dieser Anteil (nicht zuletzt durch die Absenkung der
Reallöhne) seit 2002 auf über 50% erhöhte, erreichte der Anteil der Exporte an der
Wirtschaftsleistung selbst beim „Exportweltmeister“ China kaum mehr als 30%. Das heißt,
dass der überwiegende Teil des Wachstums in den Schwellenländern selbst realisiert wird
(Brandt u. Thun 2010, S. 1558). Das geschieht mitunter auf unterschiedlichen Wegen: in
Indien und Brasilien sind nationale Märkte für Konsumgüter maßgeblich, während in China
der Fokus auch auf dem Ausbau der Infrastruktur und Immobilien liegt; 2008 wurde in diesen
beiden Bereichen sogar mehr als im produzierenden Sektor investiert (vgl. NBS 2010). Ganz
generell ist es wohl nicht zufällig, dass gerade die großen Schwellenländer sich in den
vergangenen Jahren so dynamisch entwickeln konnten, da nur hier ausreichend
dimensionierte Binnenmärkte existieren, die das Wachstum nationaler Unternehmen
maßgeblich stützen konnten.
(7) Internationale wirtschaftliche Einbindung
Die Dynamik des Kapitalismus in den staatlich-durchdrungenen BIC-Marktökonomien kann
dennoch nicht ohne die Einbindung in internationale Verflechtungszusammenhänge begriffen
werden. Die SMEs konnten zum einen von weltwirtschaftlichen (sowie weiteren, hier aus
Platzgründen nicht berücksichtigten weltpolitischen und inter-gesellschaftlichen) Prozessen
profitieren (vgl. Hung 2009). Darüber hinaus sind sie zum anderen in einer spezifischen, ihrer
institutionellen Verfasstheit entsprechenden Weise selektiv, d.h. partiell staatlich geschützt, in
die Weltwirtschaft eingebunden.
Die BIC-Ökonomien konnten in großem Maße von Verlagerungen der weltweiten
Wertschöpfung seit den 1970ern profitieren. Eine Voraussetzung hierfür bildeten
technologische und organisatorische Entwicklungen, die die Möglichkeiten einer Auslagerung
16
relevanter Arbeitsprozesse in den „Süden“ verbesserten (Gereffi et al. 2005). Ein
fortgeschrittener technologischer Entwicklungsstand gestattete es großen Konzernen, eine
Umstrukturierung zu transnationalen Produktionsverbünden zu organisieren und im Rahmen
der neuen internationalen Arbeitsteilung Teile komplexer Produktionsprozesse an
Subunternehmer in unterentwickelten Regionen zu delegieren (u.a. Kontraktfertigung).
Industriegüterproduzenten nutzten auf diese Weise ungleiche Akkumulationsbedingungen aus
– trugen aber gleichzeitig zum industriellen Upgrading, etwa in China, bei. Weil Ostasien
bereits früh einen vergleichsweise hohen Internationalisierungsgrad aufwies – unter der
Führung japanischer Unternehmen, exilchinesische Netzwerke einschließend, bildete sich
eine enge Verflechtung überregionaler Produktionsnetzwerke heraus –, stellte dieser Raum
einen ausnehmend günstigen Rahmen für transnationale Produktionsprozesse dar (ADB 2011;
Zweig u. Chen 2007). In ähnlicher Weise konnte Indien, hier etwa im Dienstleistungssektor,
von dieser weltwirtschaftlichen Konstellation zehren: Der Anteil des Dienstleistungssektors
am BIP „stieg zwischen 1991 und 2007 von 40 auf 55%. Als Paradebeispiel für den Erfolg
der revidierten indischen wirtschaftspolitischen Strategie gilt die IT/BPO-Branche
(Informationstechnologie und Business Process Outsourcing), die vor allem von einer
Zunahme der Auslagerungsaktivitäten von Unternehmen aus den USA und Europa profitiert
hat“ (Schmalz u. Ebenau 2011, S. 95).
Zusätzlich profitierten die SMEs von wirtschaftlichen Stagnationstendenzen im Norden. Die
alten Zentren des Kapitalismus wiesen im Unterschied zur „goldenen“ Nachkriegsphase eine
niedrigere Investitionsquote und ein schwächeres BIP-Wachstum auf. Dem lag eine bereits
länger währende stagnative Phase in Europa, Japan und Nordamerika zugrunde, eine
Verminderung produktiver Investitionen, die die Internationalisierung der Produktion und, in
einem hohen Maß, die Finanzialisierung antrieben (vgl. Brenner 2006; Hung 2009). Das
verhältnismäßig niedrige BIP-Wachstum im Norden und der unter Ökonomen als
„Anlagenotstand“ bezeichnete Zustand mangelnder profitabler Investitionsoptionen fanden ihr
Gegenstück in der Tendenz zur Überakkumulation des Kapitals, d.h. nicht rentabel
verwendbarer Kapitalüberschüsse. Letzteres führte ab den 1990ern in großem Umfang zur
Kapitalverlagerung (nicht nur) auf das chinesische Festland. Während sich chinesische
Produzenten in globale Produktionsverbünde einfügten, eröffneten Direktinvestitionen aus
den hochentwickelten Ländern den Zugang zu Technologien und „zeitgemäßen“ Formen der
Unternehmensführung. Die Wachstumsschwäche im Norden beflügelte somit gewissermaßen
das Wachstum im Süden – auch, indem westliche MNCs die einheimischen Konzerne in
einen Produktivitätswettbewerb trieben. Alles in allem hat die Einbindung in die
Weltwirtschaft und in transnationale Produktionsverbünde aber auf eine selektive Weise
stattgefunden. Während in China etwa der Produktionsbereich und das Handelsregime in
vielerlei Hinsicht liberalisiert wurden (allerdings bestimmte strategische Industrien wie der
Rohstoffsektor weiterhin geschützt blieben), wurden transnationale Finanzströme begrenzt. Es
handelte sich um eine kontrollierte Öffnung der Volkswirtschaft, die auch nach dem WTO-
Beitritt 2001 fortdauerte. Ein starker Staat bildete dabei bis heute das Rückgrat dieser
Strategie, der gegebenenfalls auf protektionistische Maßnahmen zurückgreift.
Ein wichtiges Instrument für die SMEs, um die außenwirtschaftlichen Beziehungen zu einem
gewissen Grad selbst steuern zu können und nicht den Volatilitäten der globalen
Kapitalmärkte unterworfen zu sein, bilden nicht zuletzt ihre hohen Devisenreserven. Nicht nur
Chinas 3255 Mrd. USD sind hier von Belang: auch Brasilien und Indien erhöhen stetig ihre
Devisendepots (Tab. 1).
Tabelle 1: Devisenreserven der BIC-Ökonomien
17
absolut (in Mrd. USD)
relativ zu kurzfristiger Auslandsverschuldung (in %)
1996 2008 2009 2010 2011 1996 2008 2009 2010
Brasilien 58 179 193 232 352 111 292 364 300
Indien 20 267 247 259 299 260 340 338 302
China 105 1528 1946 2399 3255 376 1249 1868 1597
Quelle: BIZ 2009; BIZ 2010, Weltbank World Development Indicators (www.data.worldbank.org)
Devisenreserven sorgen für Währungsstabilität, da sie den externen Druck auf die
Kapitalbilanz, der z.B. durch Krisen oder Spekulationsgeschäfte entstehen kann, ausgleichen.
Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich bewertet (nach der Guidotti-Greenspan-
Regel) Ökonomien als relativ sicher, wenn sie ein Jahr ihrer kurzfristigen Verschuldung durch
Devisen abdecken können, ohne die Währung abwerten zu müssen. Aus Tab. 1 geht hervor,
dass die BICs bis 2011 weit über 100% ihrer Verschuldung aus dem Devisenreservoir
begleichen konnten. Die BIC-Länder legen die Exporterlöse also nicht vorwiegend in
attraktiven Finanzanlagen an, sondern erkaufen sich damit Stabilität. Die Finanzkrise 2007/08
fungierte dabei als erfolgreicher Lackmustest dieser Strategie, da die BICs ihre Ökonomien
zusätzlich durch umfangreiche Stützungsmaßnahmen und Konjunkturprogramme absicherten.
Die BICs sind dabei von den maßgeblichen Circuits des globalen Finanzmarktkapitalismus
vergleichweise abgekoppelt – ihr Anteil am grenzüberschreitenden Bankgeschäft sowie am
globalen Anleihemarkt beträgt zusammengenommen jeweils ca. 1,4% (May 2013).
4. Die sozioökonomische Bilanz: Resilienz in der Wirtschaftskrise, komparative Vorteile
auf mittlerem Technologieniveau – aber auch starke soziale Ungleichheit
Dass die selektive Einbindung in den Weltmarkt in den letzten Jahren von Vorteil war, zeigte
sich ganz besonders während der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise. Obgleich der
Zusammenbruch des Exportgeschäfts aufgrund des Nachfrageausfalls in den alten Zentren
schwere Belastungen für die BIC-Ökonomien darstellten, überstanden Indien, China und (mit
Abstrichen) Brasilien die globale Finanz- und Bankenkrise weitaus besser als „westliche“
Volkswirtschaften. Indien und China waren die einzigen größeren Länder weltweit, die
zwischen 2008 und 2010 nicht in eine Rezession fielen. Brasilien konnte die Krise als eines
der ersten Länder überwinden. Vor allem die rigiden Regulierungssysteme und eine schwache
Einbindung in jene Segmente der globalen Finanzmärkte, die von der Krise besonders hart
getroffen wurden, trugen dazu bei (vgl. auch Schmalz u. Ebenau 2011, S. 159). So mussten
die Regierungen dieser SMEs keine größeren Summen in Bankenrettungsprogramme
investieren und konnten die Krise durch die Stimulierung der Binnennachfrage zum Teil
kompensieren. Auch diese Widerstandfähigkeit belegt, dass sich die SMEs von den
Kapitalismen im Norden unterscheiden.
Wir haben dabei zu zeigen versucht, dass wesentliche Institutionen staatlich-durchdrungener
Kapitalismen eine hohe Komplementarität zueinander aufweisen, wodurch sie eine relative
Stabilität erlangten. Die Größe der Länder, inklusive ihrer großen Binnenmärkte und ihr
Arbeitskraftreservoir legen es Unternehmen nahe, diese spezifischen Qualitäten
auszuschöpfen, indem sie auf arbeitsintensive Produkte für den heimischen Verbrauch setzen.
Sofern diese technologisch durchaus entwickelten, aber eben nicht hochtechnologischen
Güter auf eine globale Nachfrage treffen – was insbesondere für solche Firmen gilt, die in
globale Wertschöpfungsketten eingebunden sind – ergeben sich zudem Optionen für ein
Engagement auf dem Weltmarkt. Die Institutionen des Arbeitssystems, der (Aus-)Bildung wie
18
auch der Innovation im SME-Modell unterbinden gleichzeitig den Anstieg der Kosten für die
zentralen Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital.
Die oben identifizierten institutionellen Komplementaritäten erlauben es Unternehmen aus
den großen Schwellenländern insbesondere auf mittleren Technologieniveaus und im Bereich
der Rohstoffverarbeitung auf Basis niedriger Arbeitskosten wettbewerbsfähig zu sein.
Allerdings wird das Entwicklungspotential dieser Ökonomien nicht vollständig ausgeschöpft,
da die extreme soziale Ungleichheit sowohl die Massennachfrage begrenzt wie auch die
Entfaltung des vollen Innovationspotentials behindert. Wir denken, dass die größten
Krisenpotentiale der SMEs gegenwärtig weniger in den Gefahren einer dutch disease oder der
Stagnation in einer middle-income-trap (World Bank 2012) liegen, sondern – neben den in
diesem Band an anderer Stelle behandelten Umweltschäden (vgl. den Beitrag von Ulrich
Brand und Kristina Dietz) – in eben jener Verteilungsungerechtigkeit. Die Diskussion der
Arbeitsbeziehungen und des Ausbildungsregimes in den SMEs hat die starke Rolle der
sozialen Stratifikation (und deren Reproduktion) demonstriert. Dabei wurde deutlich, dass
diese Länder einerseits durch eine immense Ungleichheit und segmentierte
Arbeitsbeziehungen gekennzeichnet sind – Brasilien bildet z.B. das gesamte globale
Einkommensspektrum in einem Land ab (Milanovic 2011, S. 7f.), in Indien können 26% der
Bevölkerung nicht aus eigener Arbeit die Armutsgrenze überschreiten (Frankel 2005, S. 606).
Sofern Armut lediglich durch das verfügbare Einkommen definiert ist, findet in den BIC-
Ökonomien zweifellos ein allgemeiner sozialer Aufstieg statt (OECD 2010, Guarin et al.
2013). Aber auch wenn somit die Herauslösung von Millionen Menschen aus absoluter Armut
festzustellen ist, so befördert doch die spezifische Form des Kapitalismus in diesen SMEs
innergesellschaftliche Asymmetrien und Abhängigkeiten. Die Aufstiegsperspektiven weniger
(Fach-)Arbeiter in die Mittelklasse gehen mit der Entwurzelung und Prekarisierung vieler
einher. Wenn die komparativen Vorteile der BICs in einer hoch stratifizierten Gesellschaft
liegen, besteht aus Sicht der Eliten erst einmal kein Anlass, diese institutionelle
Komplementarität z.B. durch umfassende Sozial- oder Bildungsprogramme aufzubrechen,
zumal steigende Löhne zu einer Gefährdung von Wettbewerbsvorteilen führen können.
Stattdessen wird die Beibehaltung einer Strategie, die auf die Wettbewerbsfähigkeit nationaler
Unternehmen setzt, die zentrifugalen Tendenzen in den Gesellschaften eher verstärken.
5. Fazit und Implikationen für die globale Wirtschaftsordnung
Was erklärt nun also den Aufstieg und wirtschaftlichen Erfolg der großen Schwellenländer
Brasilien, Indien und China? Es wäre vermessen, würden wir behaupten, dass wir darauf die
definitiven Antworten hätten. In diesem Papier formulierten wir stattdessen ein
Erklärungsangebot: Unsere Analyse hat gezeigt, dass sich in den BICs cum grano salis ein
institutionell betrachtet ähnlicher Kapitalismustyp herausgebildet hat und dass diese
Institutionen einen wichtigen Beitrag zu den hohen BIP-Wachstumsraten, aber auch zur nach
wie vor sehr ausgeprägten sozio-ökonomischen Ungleichheit geleistet haben.
Die Bedeutung von Loyalität und Reziprozität in privat-öffentlichen Allianzen, die als
zentraler Koordinationsmechanismus von SMEs identifiziert wurden, ist dabei in weiten
Teilen der Wirtschaften der BICs nachweisbar. Staatlich durchdrungene Ökonomien weisen
im Untersuchungszeitraum der 2000er in allen benannten Institutionen und wirtschaftlichen
Sphären eine relative Stabilität auf, die es wirtschaftlichen Akteuren ermöglicht,
vergleichsweise sichere mittel- bis langfristige Strategien zu verfolgen. Unternehmen in den
BIC-Ländern können sich nicht nur darauf verlassen, dass sie bevorzugte Kanäle zur
Investitionsfinanzierung nutzen können, sondern auch, dass die Kontrolle ihrer Unternehmen
weiterhin in wenigen, gut bekannten Händen liegt. Sie können nicht nur damit rechnen, dass
19
Arbeitskräfte zu extrem günstigen Preisen arbeiten (müssen), sondern auch, dass dies
aufgrund der relativ schwachen Organisationsmacht der Arbeiter so bleibt. Zudem gehen sie
davon aus, dass ihre guten Verbindungen zu staatlichen Stellen dafür sorgen, dass
ausländische Firmen zwar technologische Innovationen ins Land bringen, aber durch
entsprechende Restriktionen daran gehindert werden, ihre „first-mover“-Vorteile ausspielen
und damit lokale Unternehmen in großem Stil „outperformen“ zu können.
Wir denken, dass die analysierten Institutionen kausale Kräfte für die Herausbildung eines
BIC-Kapitalismus darstellen. Erst das Zusammenspiel der verschiedenen komplementären
Institutionen konnte dieses Wachstum ermöglichen. Weder ist die spezifische Qualität der
staatlich durchdrungenen Kapitalismen auf einzelne lokale Faktoren zurückzuführen, wie z.B.
eine innovative chinesische Unternehmerschaft (Huang 2008) oder eine kohärente, umfassend
geplante Umstrukturierungspolitik, noch einzig aus neuartigen globalen Ordnungs- und
Machtverhältnissen ableitbar (van der Pijl 2006). Trotzdem erscheint es uns notwendig, die
aus der herkömmlichen vergleichenden Kapitalismusforschung stammende institutionelle
Erklärung der wirtschaftlichen Dynamik in Brasilien, Indien und China zu ergänzen durch die
Bedeutung der spezifischen weltwirtschaftlichen Kontexte und der großen Binnenmärkte, die
diese drei Länder von anderen Schwellenländern unterscheiden und die es den staatlichen
Institutionen allererst gestattete, den ökonomischen Aufholprozess vergleichsweise
erfolgreich abzusichern und zu unterstützen.
Die Herausbildung von staatlich durchdrungenen Marktökonomien in den BIC-Ländern hat
des Weiteren nicht alleine Auswirkungen auf deren nationale Gesellschaften, sondern auch
auf die globale polit-ökonomische Ordnung. Ein Aspekt dieser Entwicklung liegt in der
„Zugkraft“ der BICs für andere, weniger privilegierte Entwicklungs- und Schwellenländer im
globalen Süden im Rahmen einer (wieder-)erstarkenden Süd-Süd-Kooperation (ADB 2011).
Daneben stellt sich natürlich auch die Frage nach den potentiellen Gestaltungsansprüchen der
wirtschaftlich und politisch gestärkten BIC-Regierungen in Bezug auf die
Regulierungsinstitutionen der Weltwirtschaft. Einige Konsequenzen für die Institutionen der
Weltwirtschaftsordnung (angelehnt an die vorgehend behandelten institutionellen Sphären)
können bereits jetzt skizziert werden. Deutlich wird dabei durchgehend das potentielle
Spannungsverhältnis, das zwischen den vor allem vom LME-Modell gekennzeichneten
globalen Institutionen und den weitaus weniger wirtschaftsliberalen SME-Institutionen
herrscht – ein Spannungsverhältnis, das bisher eher latent blieb. So widerspricht
beispielsweise sowohl die typische Form der Corporate Governance in den BIC-Ökonomien
den entsprechenden, auf den Schutz von Minderheitsaktionären ausgerichteten OECD-
Standards, wie auch die geringe Rolle der Perspektive von Kapitalmarktinvestoren bei der
Unternehmensfinanzierung den vom International Accounting Standards Board aufgestellten
Normen – beide müssen in den BIC-Ökonomien nicht stringent umgesetzt werden. Ähnliche
Beobachtungen lassen sich für Normen der Corporate Social Responsibility und die
Arbeitsbedingungen in den BICs, den Standards des International Competition Networks oder
dem Schutz geistiger Eigentumsrechte machen (vgl. Nölke 2011b): Die Institutionen der
SMEs weichen deutlich von den dominierenden, liberal ausgerichteten globalen Standards ab,
können aber bisher wegen deren wenig stringenter Durchsetzung auf nationaler Ebene relativ
problemlos pragmatisch koexistieren. Eine artikulierte Dissidenz gegenüber den
Regelungsinstanzen der Weltwirtschaft hat dabei eher symbolischen Charakter. Ob das auf
Dauer so bleibt, muss die weitere Forschung zeigen.
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