Georg J. W. Dorn: Kleine Einführung in die allgemeine Wissenschaftstheorie für Doktorandinnen und...

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Kleine Einführung in die allgemeine Wissenschaftstheorie für Doktorandinnen und Doktoranden in den Kultur- und Gesellschaftswissenschaften von GEORG J. W. DORN (Paris-Lodron-Universität Salzburg, Sommersemester 2011) (Verb. u. erg. Fassung, März 2014) Inhaltsverzeichnis 1 Wissenschaft, allgemeine und spezielle Wissenschaftstheorie 5 1.1 Erfahrungswissenschaft als Tätigkeit: Ihre Ziele und Produkte 5 1.2 Allgemeine und spezielle Wissenschaftstheorie 7 1.2.1 Gegenüberstellung 7 1.2.2 Literaturhinweise 8 1.3 Übungen 10 1.4 Lösungen der Übungen zum 1. Kapitel 14 2 Ausdrücke, Namen, Begriffe 15 2.1 Vorbemerkung 15 2.2 Ausdrücke 17 2.3 Namen 18 2.3.1 Wichtige Arten von Namen aus logischer Sicht 18 2.3.2 Anführungsnamen 20 2.3.3 Empfehlungen fürs wissenschaftliche Arbeiten 23 2.4 Begriffe 25 2.4.1 Vier Bedeutungen des Wortes ›Begriff‹ 25 2.4.1.1 Begriffe als Ausdrücke 25 2.4.1.2 Begriffe als Bedeutungen von Ausdrücken 25

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Kleine Einführung in die allgemeine

Wissenschaftstheorie für

Doktorandinnen und Doktoranden in den

Kultur- und Gesellschaftswissenschaften

von

GEORG J. W. DORN

(Paris-Lodron-Universität Salzburg, Sommersemester 2011)

(Verb. u. erg. Fassung, März 2014)

Inhaltsverzeichnis

1 Wissenschaft, allgemeine und spezielle Wissenschaftstheorie 51.1 Erfahrungswissenschaft als Tätigkeit: Ihre Ziele und Produkte 51.2 Allgemeine und spezielle Wissenschaftstheorie 71.2.1 Gegenüberstellung 71.2.2 Literaturhinweise 81.3 Übungen 101.4 Lösungen der Übungen zum 1. Kapitel 14

2 Ausdrücke, Namen, Begriffe 152.1 Vorbemerkung 152.2 Ausdrücke 172.3 Namen 182.3.1 Wichtige Arten von Namen aus logischer Sicht 182.3.2 Anführungsnamen 202.3.3 Empfehlungen fürs wissenschaftliche Arbeiten 232.4 Begriffe 252.4.1 Vier Bedeutungen des Wortes ›Begriff‹ 252.4.1.1 Begriffe als Ausdrücke 252.4.1.2 Begriffe als Bedeutungen von Ausdrücken 25

2 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

2.4.2 Klassifkatorische, komparative und metrische Begriffe 292.4.2.1 Klassifkatorische Begriffe 292.4.2.1.1 Klassifkatorische Begriffe als generelle Namen 292.4.2.1.2 Systematisierungsleistung klassifkatorischer Begriffe 312.4.2.2 Komparative Begriffe 332.4.2.3 Metrische Begriffe 352.4.3 Empfehlungen fürs wissenschaftliche Arbeiten 362.5 Literaturhinweise 372.6 Übungen 382.7 Lösungen der Übungen zum 2. Kapitel 44

3 Aussagesätze, Arten von und Beziehungen zwischen Aussagesätzen 533.1 Wichtige Arten von Aussagesätzen aus syntaktischer Sicht 533.1.1 Aussagesätze, Aussagen und Sätze, die keine Aussagesätze sind 533.1.1.1 Aussagesätze 533.1.1.2 Aussagen und Mehrdeutigkeit von Aussagesätzen 543.1.1.3 Wichtige Arten von Sätzen, die keine Aussagesätze sind 573.1.1.3.1 Sätze, die Fragen ausdrücken 573.1.1.3.2 Sätze, die Befehle ausdrücken 593.1.1.3.3 Sätze, die Vorschläge und Wünsche ausdrücken 593.1.1.3.4 Sätze, die Normen ausdrücken 593.1.1.3.5 Sätze, mittels derer soziale Handlungen vollzogen werden 603.1.2 Singuläre Aussagesätze 603.1.2.1 Einfache Aussagesätze 603.1.2.2 Molekulare Aussagesätze 623.1.3 Generelle Aussagesätze 623.1.3.1 Es-gibt-Sätze 633.1.3.2 Allsätze 633.1.3.3 Quasi-Allsätze 643.1.3.3.1 Fast-alle-Sätze 643.1.3.3.2 Die-meisten-Sätze 643.1.3.3.3 Normalerweise-Sätze 653.1.4 Quasi-generelle Aussagesätze 653.2 Wichtige Arten von Aussagesätzen aus semantischer Sicht 663.2.1 Faktisch wahre und faktisch falsche Aussagesätze 663.2.2 Logisch wahre und logisch falsche Aussagesätze 673.2.3 Analytisch wahre und analytisch falsche Aussagesätze 693.2.3.1 Beispielsblock 1: Drei einfache Beispiele aus dem Alltag 703.2.3.2 Beispielsblock 2: Sieben Beispiele aus der Kommunikations-

wissenschaft 713.3 Wichtige logische Beziehungen zwischen Aussagesätzen 773.3.1 Logische Implikation und logische Folge 773.3.2 Logische Äquivalenz 783.3.3 Logische Unverträglichkeit und Verträglichkeit 783.4 Empfehlungen fürs wissenschaftliche Arbeiten 793.5 Literaturhinweise 803.6 Übungen 813.7 Lösungen der Übungen zum 3. Kapitel 84

2014 INHALTSVERZEICHNIS 3

4 Defnieren 994.1 Reportive Defnitionen 994.2 Stipulative Defnitionen 1014.3 Defnitionen angeben, erkennen, bewerten 1034.3.1 Sprachliche Verwischungen 1034.3.2 Defnitionen und Was-ist-Fragen 1054.3.3 Defnitionen und wissenschaftliches Arbeiten 1074.4 Literaturhinweis 1124.5 Empfehlungen fürs wissenschaftliche Arbeiten 1124.6 Übungen 1124.7 Lösungen der Übungen zum 4. Kapitel 114

5 Theoretisieren 1265.1 Natürlichsprachliche Theorien 1265.2 Das Problem des Identifzierens natürlichsprachlicher Theorien, Teil 1 1275.2.1 Ursache 1: Mangelnde sprachliche Unterscheidungen 1275.2.2 Ursache 2: Stillschweigende Voraussetzungen 1315.3 Das Problem des Identifzierens natürlichsprachlicher

Theorien, Teil 2 1315.4 Literaturhinweise 1335.5 Empfehlungen fürs wissenschaftliche Arbeiten 1345.6 Übungen 1345.7 Lösungen der Übungen zum 5. Kapitel 136

6 Argumente und Argumentshierarchien aus logischer und epistemischer Sicht 138

6.1 Argumente 1386.1.1 Verwendung von ›Argument‹ gemäß herkömmlichem

logischen Sprachgebrauch 1386.1.2 Vier wichtige andere Verwendungsweisen von ›Argument‹ 1406.1.2.1 Argumente als Begründungen 1406.1.2.2 Präskriptive bzw. normative Argumente 1416.1.2.3 Argumente im Sinne von ›Prämissen von Argumenten‹ 1416.1.2.4 Argumente für und gegen 1446.2 Beurteilung von Argumenten 1446.2.1 Beurteilung hinsichtlich logischer Gültigkeit 1446.2.2 Beurteilung hinsichtlich Stärke 1476.3 Argumentshierarchien 1516.3.1 Mehrstufge Begründungsprozesse 1516.3.2 Ein Beispiel für eine Argumentshierarchie aus dem Alltag 1556.3.3 Ein Beispiel für eine Argumentshierarchie aus der Philosophie 1576.4 Empfehlungen fürs wissenschaftliche Arbeiten 1586.4.1 Fall 1: Sie selbst gebrauchen das Wort ›Argument‹ 1586.4.2 Fall 2: Jemand anderes gebraucht das Wort ›Argument‹ 1606.5 Literaturhinweise 1616.6 Übungen 1626.7 Lösungen der Übungen zum 6. Kapitel 166

4 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

7 Erklärung, Vorhersage, Zurücksage 1687.1 Die klassische Auffassung der Erklärung, Vorhersage und Zurücksage 1687.1.1 Deduktiv-nomologische Erklärung von Ereignissen 1687.1.2 Potentielle deduktiv-nomologische Erklärung von Ereignissen 1717.1.3 Deduktive Erklärung von strikten Regel- oder Gesetzmäßigkeiten 1737.1.4 Sätze als deduktiv-nomologische Erklärungen von Ereignissen 1747.1.5 Deduktiv-nomologische Vorhersage von Ereignissen 1757.1.6 Potentielle deduktiv-nomologische Vorhersage von Ereignissen 1787.1.7 Deduktiv-nomologische Zurücksage (Retrodiktion) von Ereignissen 1807.1.8 Potentielle deduktiv-nomologische Zurücksage von Ereignissen 1817.1.9 Deduktiv-nomologische Erklärung, Vorher- und Zurücksage

im Vergleich 1837.2 Intentionale Erklärung und Vorhersage 1857.3 Relevanzstatistische Erklärung 1887.4 Empfehlungen fürs wissenschaftliche Arbeiten 1917.5 Weiterführende Literatur 1917.6 Übungen 1927.7 Lösungen der Übungen zum 7. Kapitel 195

Bibliographische Angaben, Danksagung, Anschrift 195

2014 1 WISSENSCHAFT, ALLG. U. SPEZ. WISSENSCHAFTSTHEORIE 5

1 WISSENSCHAFT, ALLGEMEINE UND SPEZIELLE WISSENSCHAFTSTHEORIE

1.1 ERFAHRUNGSWISSENSCHAFT ALS TÄTIGKEIT: IHRE ZIELE UND PRODUKTE

Das wissenschaftsinterne Hauptziel erfahrungswissenschaftlicher Tätigkeit ist es, fol-gende vier Produkte zu liefern:

Erklärungen von stattgefundenen Ereignissen;

Vorhersagen (Prognosen) von zukünftigen Ereignissen;

Zurücksagen (Retrodiktionen) von stattgefundenen Ereignissen;

Erklärungen von allgemeinen Zusammenhängen oder Regelmäßigkeiten.

Es gibt natürlich auch wissenschaftsexterne Ziele erfahrungswissenschaftlicher Tätigkeit,aus der Sicht des Wissenschaftlers1 zum Beispiel: gut Geld zu verdienen, viel reisen zukönnen, Macht und Ansehen zu erlangen; aus der Sicht der Gesellschaft zum Beispiel:die Natur zu kontrollieren, den Wohlstand bestimmter Menschengruppen zu erhöhen, dasAllgemeinwohl zu fördern, Menschen zu manipulieren, Menschen mündig zu machen,die Angriffs- und Verteidigungsstärke eines Staates auszubauen. Die allgemeine Wissen-schaftstheorie konzentriert sich darauf, wie die Wissenschaftler das wissenschaftsinterneHauptziel zu erreichen versuchen sollten. Sie überlässt die Untersuchung der Frage, wiedie Wissenschaftler ihre wissenschaftsexternen Ziele zu verwirklichen trachten, der Wis-senschaftsforschung (= Wissenschaftspsychologie und -soziologie) und die Untersuchungder Frage, inwieweit es moralisch gut ist, die wissenschaftsinternen und -externen Zielemit den und den Mitteln anzustreben, der Wissenschaftsethik.

Im Folgenden je ein sehr einfaches Beispiel für erfahrungswissenschaftliche Pro-dukte. Ein Beispiel für eine Erklärung eines Ereignisses: „Dieses Kupferstück da dehntsich jetzt aus, weil es gerade erwärmt wird und sich jedes Kupferstück, das erwärmt wird,ausdehnt.“ Ein Beispiel für eine Vorhersage: „In spätestens einer Stunde wird es regnen,weil seit 30 Minuten der Luftdruck sehr rasch sinkt und sich der Himmel sehr raschdunkel bewölkt und es normalerweise innerhalb einer halben Stunde regnet, wenn derLuftdruck sehr rasch sinkt und sich der Himmel sehr rasch dunkel bewölkt“. Ein Beispielfür eine Retrodiktion: „Max hat sich vor ca. 10 Tagen mit Salmonellen infziert, denn beiMax ist heute Paratyphus ausgebrochen und die Inkubationszeit von Paratyphus beträgtnormalerweise ungefähr 10 Tage.“ Ein Beispiel für eine Erklärung einer Regelmäßigkeit:„Alle Menschen, die extrem erschöpft sind, sind appetitlos, weil kein Mensch, der extremerschöpft ist, Dünndarmkontraktionen hat, und ohne Dünndarmkontraktionen keineHungermeldung ans Hirn erfolgt.“

Um Erklärungen, Vorhersagen und Zurücksagen von Ereignissen liefern zu können,müssen die Wissenschaftler zunächst Antworten auf Fragen der folgenden Art fnden:Was ist konkret der Fall? Fragen dieser Art versucht der Wissenschaftler zu beantworten,indem er seine Sinnesorgane und deren technische Ergänzungen wie Mikroskope, Fern-

1 Das Wort ›Wissenschaftler‹ wird hier geschlechtsneutral gebraucht. Es dient zur Bezeichnung jederPerson, die Wissenschaft betreibt.

6 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

rohre, Richtmikrophone, Temperaturmessgeräte und ähnliches mehr einsetzt. Er kommtdann im positiven Fall zu Ergebnissen, die sich in Sätzen der folgenden Form nieder-schlagen: Das und das ist zu der und der Zeit an dem und dem Ort geschehen oder derFall. Die Erkenntnisse, die ihm die Sinneswahrnehmung liefert, dienen ihm als Basis fürweitere Forschung; die Sätze, mit denen er diese aus der Sinneswahrnehmung gewon-nenen Erkenntnisse beschreibt, heißen deshalb gewöhnlich ›Beobachtungssätze‹ (auch:›Basissätze‹ oder ›Datenmaterial‹).

Diese Basissätze allein machen noch keine Wissenschaft aus, denn sie erlaubenkeine Erklärung, keine Vorhersage und keine Zurücksage. Dafür sind zusätzlichallgemeine Gesetze und Theorien nötig. Unter ›Theorien‹ versteht man hierbei imGrunde nichts anderes als in ein System gebrachte Gesetze, unter ›Gesetze‹ grob gesagtnichts anderes als gut bewährte Hypothesen. Mit ›Hypothesen‹ (wörtlich aus demGriechischen zu übersetzen als ›Unterstellungen‹) bezeichnet man (vor allem universelle)Sätze, die Vermutungen darüber ausdrücken, dass die und die Regelmäßigkeiten in derWelt bestehen. Die Hypothesen sind Sätze, die noch (weiter) auf Wahrheit zu prüfen sind,und helfen fürs Erste dabei, Antworten auf Fragen der folgenden Art zu formulieren:Warum ist etwas so, wie es ist? Was geschah in Anbetracht des Jetztzustandes in derVergangenheit? Was wird in Anbetracht des Jetztzustandes in der Zukunft geschehen? Esist typisch für die wissenschaftliche Vorgangsweise, dass diese Antworten alsvorläufg und nicht als endgültig betrachtet werden; dass der Zweifel an ihrerWahrheit erwünscht und eine Tugend statt unerwünscht und ein Laster ist; und dassin der Folge ihre strenge Überprüfung durchzuführen statt ihr auszuweichen ist. Esversteht sich von selbst, dass jede solche Prüfung ergebnisoffen zu sein hat. Hypo-thesen, die keine empirische Erprobung zulassen, gelten als unwissenschaftlich, Per-sonen, welche ihre Hypothesen unentwegt gegen Kritik immunisieren, handeln unwis-senschaftlich. Strenge Überprüfung beinhaltet, dass aus den Hypothesen und den schonvorhandenen Basissätzen wieder neue Basissätze erschlossen werden und mittels Sinnes-wahrnehmung festgestellt wird, ob diese neuen Basissätze zutreffen. Treffen sie zu, giltdie geprüfte Hypothese als gestützt (bewährt, im Extremfall als verifziert); treffen sienicht zu, gilt die geprüfte Hypothese als geschwächt (kritisiert, im Extremfall als falsif-ziert). Hypothesen, die sich immer wieder in Prüfungen bewähren und nie oder kaumjemals geschwächt worden sind, erhalten nach Jahren den Status von Gesetzen; Hypo-thesen, die mehrmals intersubjektiv nachvollziehbar geschwächt worden sind, werdenabgeändert oder schließlich ganz fallengelassen.

Die Gesetze, also die gut bewährten Hypothesen, lohnen die Frage, warum sie gel-ten, und diese Frage versuchen die Wissenschaftler zu beantworten, indem sie noch all-gemeinere Hypothesen aufstellen, aus denen sich einerseits die betrachteten Gesetze undanderseits weitere Hypothesen erschließen lassen, die wiederum strengen Prüfungenunterzogen werden. Auf diese Weise entsteht langsam eine zusammenhängende Mengevon mehr oder minder bewährten Hypothesen, eben eine Theorie (im herkömmlichenSinn des Wortes). Damit eine solche Theorie jedoch straff zusammenhängt, bedarf esauch weiterer Bindeglieder: einerseits der analytisch wahren Sätze, die allein aufgrundvon defnitorischen Vereinbarungen, bestimmte Wörter in einem bestimmten Sinn zugebrauchen, wahr sind; und anderseits der Bedeutungspostulate (Reduktionssätze), dieangeben, wie bestimmte abstrakt-theoretische Ausdrücke (z.B. ›Aggression‹, ›magne-tisch‹, ›Elektron‹) mit bestimmten konkret-beobachtungssprachlichen Ausdrücken (z.B.›Beschimpfung‹, ›bewegt Eisenstaub auf sich zu‹, ›hinterlässt eine Nebelkammerspur‹)

2014 1 WISSENSCHAFT, ALLG. U. SPEZ. WISSENSCHAFTSTHEORIE 7

inhaltlich zusammenhängen, und so den Weg weisen, wie die Theorie trotz ihrer Ab-straktheit mit der Erfahrung konfrontiert werden kann.

Das wichtigste Zwischenziel erfahrungswissenschaftlicher Tätigkeit bilden also dieerfahrungswissenschaftlichen Theorien; sie dienen dem Zweck der Erklärung, Vorhersageund Zurücksage von Ereignissen sowie dem Zweck der Erklärung von Regelmäßigkeiten.Das Hauptmerkmal erfahrungswissenschaftlicher Theorien ist ihre intersubjektive Nach-prüfbarkeit an der Erfahrung: eine Theorie, die sich nicht intersubjektiv nachvollziehbaran der Erfahrung überprüfen lässt, ist nicht erfahrungswissenschaftlich.

Die Frage, ob eine Theorie überhaupt an der Erfahrung scheitern oder sich be-währen können sollte, wird in dieser kleinen Einführung nicht weiter verfolgt. Die Ant-wort „Ja“ wird im Folgenden vorausgesetzt — nicht zuletzt mit Blick darauf, dass diehier besonders interessierenden Kultur- und Gesellschaftswissenschaften sich großteilsals Erfahrungswissenschaften begreifen und dementsprechend bestrebt sind, die in ihrenFächern aufgestellten Hypothesen und Theorien durch empirische Untersuchungen zutesten.

1.2 ALLGEMEINE UND SPEZIELLE WISSENSCHAFTSTHEORIE

1.2.1 GEGENÜBERSTELLUNG

Die zentrale, für die allgemeine Wissenschaftstheorie charakteristische Fragestellunglautet:

Was macht eine Tätigkeit zu einer wissenschaftlichen Tätigkeit?

Daraus ergeben sich Folgeprobleme, insbesondere:

Was sind die Hauptziele wissenschaftlicher Tätigkeit? (Erklärung, Vorhersage,Zurücksage von Ereignissen und Erklärung von Regelmäßigkeiten)Was sind wichtige Zwischenziele wissenschaftlicher Tätigkeit? (Beobachtungs-sätze, Hypothesen, Gesetze, defnitionsgemäß wahre Aussagesätze, Theorien)Wie lassen sich am besten diese Zwischenziele erreichen? (Wie sollten idealer-weise Hypothesen aufgestellt, begründet, kritisiert, bewertet werden? Wie solltenidealerweise Ausdrücke defniert werden? Wie und woraus sollten idealerweiseTheorien gebildet werden? Wie lassen sich verschiedene Theorien miteinandervergleichen, aufeinander reduzieren?)

Neben der zentralen Fragestellung rechnet man noch zwei weitere, eher als peripherbetrachtete Fragestellungen der allgemeinen Wissenschaftstheorie zu:

Erstens: Was wird immer unerklärbar, unvorhersagbar, unzurücksagbar bleiben?(Bei den Antwortversuchen auf diese Fragen kann die allgemeine Wissenschafts-theorie in die Metaphysik übergehen.)Zweitens: Was (alles) bedeuten die zentralen Ausdrücke der wissenschaftlichenDisziplinen? (Bei den Antwortversuchen auf diese Fragen kann die allgemeineWissenschaftstheorie in den theoretischen Teil der jeweiligen Einzelwissenschaftenübergehen.)

8 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Die spezielle Wissenschaftstheorie ist die Gesamtheit der Antwortversuche auf spezielle,ganz konkrete Methodenfragen der Einzelwissenschaften. Solche Fragen lauten zum Bei-spiel:

Wie soll man Primaten beobachten? (Verhaltensforschung)Wie soll man die Nebenwirkungen von Medikamenten untersuchen? (Medizin)Wie soll man vorgehen, um verlässlich die Vorkommnishäufgkeit von Gräsern in einem Areal schätzen zu können? (Botanik)Wie soll man vorgehen, um Erdölfelder zu fnden? (Geologie)Wie soll man psychologische Experimente durchführen? (Psychologie)Wie soll man vorgehen, um die tatsächlichen Machtverhältnisse in einer Men-schengruppe herauszufnden? (Soziologie)Wie soll man Mundarten so voneinander abgrenzen, dass man sie zählen kann? (Sprachwissenschaft)

Etwas allgemeiner:Wie hat man in der jeweiligen Disziplin Forschungsinstrumente (vom Mikroskop

bis zum Erhebungsbogen, vom Fernrohr bis zur Nebelkammer) einzusetzen und wie hatman die mit ihnen gewonnenen Daten auszuwerten und zu interpretieren?

Wie hat man in der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplin Hypothesen auf ihreWahrheit hin zu prüfen?

Die Antworten auf Fragen wie die obigen sind methodologische Normen (= Vorschriftenfürs Forschen); sie sind der schriftliche Ausdruck des Methodenarsenals der jeweiligenEinzelwissenschaft.

1.2.2 LITERATURHINWEISE

Literatur zur allgemeinen Wissenschaftstheorie

Alan F. CHALMERS: Wege der Wissenschaft: Einführung in die Wissenschaftstheorie. —Berlin: Springer, 62007. [Ebenso beliebte wie problematische Einführung. Enthält die ausführlichste

Bibliographie zur deutschsprachigen Literatur aus der allgemeinen Wissenschaftstheorie.]

Hans POSER: Wissenschaftstheorie. Eine philosophische Einführung. — Stuttgart: Rec-lam, 2001. [Kommt wie auch Chalmers ohne formale Logik aus, was logische Fehler nicht verhindert.]

Literatur zur speziellen Wissenschaftstheorie

Dazu gehören einerseits die zahllosen Abhandlungen und Bücher zum richtigen me-thodischen Vorgehen in der jeweiligen Einzelwissenschaft, anderseits die bei weitemweniger zahlreichen Abhandlungen und Bücher, in denen versucht wird, die abstraktenBehauptungen, Defnitionen und Empfehlungen der allgemeinen Wissenschaftstheorieauf die jeweilige Einzeldisziplin anzuwenden; hier eine kleine Auswahl aus dieser zwei-ten Gruppe.

Literaturwissenschaft

Ulrich CHARPA: Methodologie der Wissenschaft: Theorie literaturwissenschaftlicherPraxis? — Hildesheim (u.a.): Georg Olms Verlag, 1983. [Bringt auch Hermeneutik und Kon-

struktivismus ins Spiel.]

2014 1 WISSENSCHAFT, ALLG. U. SPEZ. WISSENSCHAFTSTHEORIE 9

Werner STRUBE: Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft: Untersuchungen zurliteraturwissenschaftlichen Defnition, Klassifkation, Interpretation und Textbewertung.— Paderborn (u.a.): Schöningh, 1993. [Standardwerk zur Interpretationsproblematik]

Psychologie

Franz BREUER: Wissenschaftstheorie für Psychologen. Eine Einführung. — Münster:Aschendorff, 51991. [Viel Literatur verarbeitet, aber begriffich schlampig; letztes Kapitel: Wis-

senschaftsethik.]

Rainer WESTERMANN: Wissenschaftstheorie und Experimentalmethodik: Ein Lehrbuchzur Psychologischen Methodenlehre. — Göttingen (u.a.): Hogrefe, 2000. [Behandelt:

Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis, Präzisierungen durch Logik, induktive Argumentationen,

Bedeutung und Defnition, Charakterisierungen durch Mengen und Strukturen, Kausalität und wissen-

schaftliche Gesetze, wissenschaftliche Erklärungen, Verifzierbarkeit und Falsifzierbarkeit, Entstehung und

Veränderung von Theorien, Struktur wissenschaftlicher Theorien (strukturalistische Auffassung),

Grundzüge der Experimentalmethodik, Validität einer Untersuchung, interne Validität, Signifkanzvalidität,

Hypothesenvalidität, Entscheidungsvalidität, Identifkation von Moderatorvariablen.]

Sozialwissenschaften

Ernest NAGEL: The Structure of Science. Problems in the Logic of Scientifc Explanation.— Cambridge: Hackett Publ. Comp., 1979. [Das wohl bedeutendste wissenschaftstheoretische

Lehrbuch des 20. Jhs. behandelt zwar hauptsächlich die Thematik „Erklärung, Gesetz, Theorie, Kausalität,

Reduktion von Theorien auf andere Theorien“ an Beispielen aus der Physik, widmet jedoch die drei

Schlusskapitel den methodologischen Problemen der Sozialwissenschaften (einschließlich Geschichts-

wissenschaft); diese drei einsichtsvollen Kapitel wurden anscheinend leider niemals von den deutschspra-

chigen Sozialwissenschaftlern zur Kenntnis genommen. Das ist umso bedauerlicher, als es keine empfeh-

lenswerte deutsche Einführung in die allgemeine Wissenschaftstheorie für Sozialwissenschaftler gibt.]

Nachschlagwerke zur allgemeinen Wissenschaftstheorie

Edmund BRAUN und Hans RADERMACHER: Wissenschaftstheoretisches Lexikon. — Graz:Styria, 1978.

Jürgen MITTELSTRASS (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Band1: A–G. — Stuttgart; Weimar: J.B. Metzler, 2004.

Jürgen MITTELSTRASS (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Band2: H–O. — Stuttgart; Weimar: J.B. Metzler, 2004.

Jürgen MITTELSTRASS (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Band3: P–So. — Stuttgart; Weimar: J.B. Metzler, 2004.

Jürgen MITTELSTRASS (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Band4: Sp–Z. — Stuttgart; Weimar: J.B. Metzler, 2004.

Helmut SEIFFERT und Gerard RADNITZKY (Hg.): Handlexikon der Wissenschaftstheorie.— München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2000.

Josef SPECK (Hg.): Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe. Band 1: A–F. —Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1980.

10 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Josef SPECK (Hg.): Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe. Band 2: G–Q. —Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1980.

Josef SPECK (Hg.): Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe. Band 3: R–Z. —Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1980.

1.3 ÜBUNGEN

1. Welche von den folgenden vier kurzen Texten könnten Erklärungen von Ereignissen,

welche Erklärungen von allgemeinen Zusammenhängen, welche Vorhersagen und welche Zu-

rücksagen sein?

(a) Max hat sich vor mindestens 20 Jahren mit Syphilis infziert, denn heuer hat sich

herausgestellt, dass Max an progressiver Paralyse leidet und jede Person, die zu Zeit t an

progressiver Paralyse leidet, hat sich mindestens 20 Jahre vor t mit Syphilis infziert.

(b) Menschen, die frustriert werden, reagieren normalerweise aggressiv, denn jede Fru-

stration löst einen Adrenalinstoß aus und Adrenalinstöße aktivieren im betreffenden Indi-

viduum die Angriffsneigung.

(c) Max leidet seit einigen Wochen zunehmend an Nageleinriss, Ekzemen, Haarausfall,

Tagesmüdigkeit und Infektionen, weil Max seit mehr als einem Jahr in seiner Nahrung kein

Zink aufnimmt und fast jede Person, die seit mehr als einem Jahr in ihrer Nahrung kein

Zink aufnimmt, die Symptome Nageleinriss, Ekzeme, Haarausfall, Tagesmüdigkeit und

Infektionsanfälligkeit in zunehmender Stärke zeigt.

(d) Max wird in 5 Minuten tot sein, denn Max hat soeben 10 Gramm Zyankali geschluckt

und jede Person, die 10 Gramm Zyankali schluckt, ist innerhalb von 5 Minuten tot.

2. Welcher von den folgenden Sätzen lässt sich als Beobachtungssatz, welcher als Hypothese,

welcher als Gesetz auffassen und welcher als nichts von den dreien?

(a) Für alle physischen Körper x gilt: die Energie von x ist identisch mit der Masse von x

mal dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit.

(b) Als dem Kind Helga am 15.4.2002 um 10 Uhr 24 die Puppe weggenommen wurde,

bekam Helga einen roten Kopf und brüllte bis 10 Uhr 27.

(c) Mit dem Wort ›Restaufage‹ sei im Folgenden der unverkäufiche Bestand der letzten

Aufage eines Buches bezeichnet.

(d) Je weniger Eisen ein Säugetier im Blut aufweist, desto weniger leicht ist es normaler-

weise über das Blut mit Bakterien infzierbar.

3. In welchen der folgenden sechs Beispiele wurde nicht wissenschaftlich vorgegangen?

(a) Jemand stellt 1899 die Hypothese auf, Träume seien manifeste oder latente Wunsch-

träume. Er selbst bringt in seinen eigenen Veröffentlichungen nur Material, das seine

Behauptung zu stützen scheint. Insbesondere Einwände seitens der Träumer werden als

Zeichen der Verstocktheit abgetan. Mit der Zeit bleiben die Einwände nicht nur der

Träumer aus. Die hochinteressante Hypothese wird, da sie niemand ernsthaft zu testen ver-

sucht, im Lauf der folgenden Jahrzehnte fast nebenbei zum Dogma.

(b) Jemand vermutet nach der Entdeckung der Blutgruppen am Anfang des 20. Jahrhun-

derts, dass bei der Transfusion von Blut derselben Blutgruppe keine Unverträglichkeits-

2014 1 WISSENSCHAFT, ALLG. U. SPEZ. WISSENSCHAFTSTHEORIE 11

reaktionen auftreten. Es stellt sich jedoch heraus, dass die Verträglichkeit zwar meistens,

aber nicht immer besteht. Die Forscher versuchen nicht krampfhaft, die ursprüngliche

Hypothese aufrecht zu halten oder sie gar zu einem Dogma zu machen; sie beginnen

stattdessen, nach möglichen Ursachen für die Unverträglichkeitsreaktionen zu suchen.

Nach circa 35 Jahren harter Arbeit entdecken sie den Rhesuspositiv- und den Rhesusnega-

tivfaktor und modifzieren die ursprüngliche Hypothese ungefähr wie folgt: Bei der Trans-

fusion von Blut derselben Blutgruppe treten dann und nur dann keine Unverträglichkeits-

reaktionen auf, wenn das Blut des Spenders nicht rhesuspositiv oder das des Empfängers

nicht rhesusnegativ ist. Mit anderen Worten: Bei der Transfusion von Blut derselben Blut-

gruppe treten genau dann Unverträglichkeitsreaktionen auf, wenn das Blut des Spenders

rhesuspositiv und das des Empfängers rhesusnegativ ist. Diese modifzierte Hypothese

wird tausendfach und so streng wie möglich getestet; sie wird durch alle Tests bestätigt und

bekommt den Rang eines Gesetzes.

(c) Jemand leugnet, dass es Gene gibt, und wiederholt die Behauptung, alle oder fast alle

oder zumindest die meisten erlernten Eigenschaften könnten irgendwie per Fortpfanzung

weitergegeben werden. Er überzeugt in den 1930er Jahren den großartigen Herrscher eines

großen Reiches von seinen Thesen und wendet sie unter anderem auf die Getreidezucht an.

Jene Forscherkollegen, die das Projekt nicht mittragen wollen, verlieren ihren Posten; jene,

die öffentlich methodische oder theoretische Einwände vorbringen, ihr Leben. Schein-

erfolge werden veröffentlicht, notfalls erfunden, Misserfolge verheimlicht. Das Getreide

wird knapp, die Biologie stagniert im großen Reich noch länger als neun Jahre nach dem

Tod des großartigen Herrschers.

(d) Eine Doktorandin in Anthropologie gelangt zu dem von ihrem Doktorvater gern

gesehenen Ergebnis, in dem samoanischen Stamm, den sie hauptsächlich untersucht hat,

gebe es freizügige Sexualität und demgemäß nur wenig Aggression. Sie begründet ihre

Behauptung durch Hinweis auf Gespräche, die sie mit einem Mädchen aus dem Stamm

mittels Dolmetscherin geführt hat. Weder wohnt sie beim Stamm, noch kontrolliert sie ihre

Behauptung durch die Verbrechensstatistik der lokalen Polizeistelle. Ihre weltweit rezep-

tierten Ergebnisse aus dem Jahr 1928 bleiben bis heute wegen der problematischen Me-

thoden und der mangelnden Ergebnisoffenheit ihrer Feldstudie umstritten.

(e) Ein wichtiger Vertreter einer Kultgemeinschaft behauptet, die Sonne kreise um die un-

bewegte Erde. Er begründet dies damit, dass er diese Behauptung einem Buch entnehme,

das nur wahre Behauptungen enthalte. Als jemand anderer behauptet, die Erde kreise, sich

drehend, um die Sonne, bringt er ihn 1633 vor Gericht und droht ihm glaubhaft mit Folter

und Verbrennung. Der andere beteuert nun, weder kreise die Erde um die Sonne noch

drehe sie sich. Er kommt mit Hausarrest bis zum Ende seines Lebens davon. Das Aufstel-

len der Behauptung, die Erde kreise um die Sonne, wird von der Kultgemeinschaft noch

190 Jahre lang verboten.

(f) Jemand behauptet während des ersten Weltkriegs, alle Lichtstrahlen würden in der Nähe

großer physischer Massen gekrümmt. Er ermuntert seine experimentell arbeitenden Kol-

legen, baldmöglichst nach dem Krieg anlässlich einer totalen Sonnenfnsternis einen Test

durchzuführen. Er freut sich später, dass dieser Test seine Behauptung stützt, betont aber,

er hätte seine Hypothese und nötigenfalls die ganze dazugehörige Theorie aufgegeben,

wenn das Testergebnis seine Hypothese widerlegt hätte.

4. Bitte notieren Sie je ein Beispiel aus Ihrem Fachgebiet für eine Erklärung, Prognose und

Retrodiktion eines Ereignisses sowie für eine Erklärung einer Regelmäßigkeit.

12 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

5. Bitte notieren Sie, wie Sie die Ausdrücke ›wissenschaftlich‹, ›unwissenschaftlich‹, ›pseu-

dowissenschaftlich‹, ›parawissenschaftlich‹ verstehen und veranschaulichen Sie Ihre Gedanken

durch Beispiele, wenn möglich aus Ihrem Fach.

6. Bitte notieren Sie Ihre Ansicht samt Begründung dazu, ob — erstens — jene Disziplin, in

der Sie Ihre Doktorarbeit schreiben oder zu schreiben beabsichtigen, eine Erfahrungswissenschaft

ist, und ob — zweitens — sie eine Erfahrungswissenschaft sein soll(te).

7. Welche von den folgenden sieben kurzen Texten lassen sich als Antwortversuche auf

Fragen aus der zentralen Fragestellung der allgemeinen Wissenschaftstheorie auffassen? Bitte

nennen Sie im positiven Fall das jeweilige Teilproblem der zentralen Fragestellung, auf das in

dem betreffenden Antwortversuch eingegangen wird.

(a) Eine Tätigkeit kann nicht als wissenschaftlich betrachtet werden, wenn ihr Ergebnis

nicht intersubjektiv überprüfbar ist. Nun ist aber die Introspektion eine Tätigkeit, deren

Ergebnis nicht intersubjektiv überprüfbar ist. Wenn ich zum Beispiel berichte, ich hätte

eben geträumt, an einem Meeresstrand zu liegen, dann kann niemand außer mir feststellen,

ob ich die Wahrheit gesagt habe. Also ist die Introspektion keine wissenschaftliche Tätig-

keit.

(b) Alle Ereignisse zu erklären, ist vielleicht logisch, aber sicher nicht technisch möglich.

Denn damit ein Ereignis von uns erklärt werden kann, muss es uns bekannt sein. Nun

bleiben uns aber die allermeisten Ereignisse in und auf diesem Planeten unbekannt, nicht

zu reden von den Ereignissen in und auf anderen Planeten unseres Sonnensystems, in und

auf den Sternen unserer Galaxie oder gar in und auf den Sternen anderer Galaxien. Also ist

es uns Menschen allein schon wegen unserer eingeschränkten Fähigkeit zur Informations-

aufnahme technisch unmöglich, mehr als einen verschwindend kleinen Bruchteil aller

Ereignisse im Universum zu erklären.

(c) In einer korrekten objektsprachlichen Defnition hat jede Individuenvariable, die im

Defniens frei vorkommt, auch im Defniendum frei vorzukommen.

(d) Vergleicht man die Verwendungsweisen des Wortes ›Kausalität‹ in der Physik mit

denen in der Soziologie, so fällt auf, dass für die meisten Physiker die Kausalitätsrelation

asymmetrisch zu sein scheint, während die Soziologen auf den ersten Blick auch sym-

metrische Relationen als Kausalrelationen zuzulassen scheinen, man denke etwa an gesell-

schaftliche Rückkoppelungsprozesse.

(e) Es ist unsinnig, Regeln für die Hypothesenfndung aufzustellen. Wir fnden nicht

Hypothesen vor, sondern erfnden sie. Erfndung ist ein schöpferischer Vorgang. Schö-

pferische Vorgänge sind nicht regelgeleitet. Die sogenannte Heuristik ist ein Humbug.

(f) Eine Theorie, die den Namen ›erfahrungswissenschaftlich‹ verdient, sollte an der

Erfahrung scheitern können. Sie kann aber nicht an der Erfahrung scheitern, wenn beim

Aufbau der Theorie offen gelassen wird, welche ihrer Axiome als faktisch wahr und wel-

che als analytisch wahr intendiert sind.

(g) Der Idee, ein Beobachtungssatz spiegele wahrheitsgemäß einen Ausschnitt der Wirk-

lichkeit wider, liegt die Fiktion zugrunde, unser Wahrnehmungsapparat arbeite fehlerlos

und unser Großhirn theorienfrei.

8. Welche von den folgenden neun kurzen Texten zählen zur allgemeinen, welche zu einer

speziellen Wissenschaftstheorie, welche weder zur allgemeinen noch zu einer speziellen Wissen-

schaftstheorie?

2014 1 WISSENSCHAFT, ALLG. U. SPEZ. WISSENSCHAFTSTHEORIE 13

(a) Ob eine Tätigkeit wissenschaftlich ist, hängt davon ab, ob sie Anwendungsfall einer

wissenschaftlichen Methode ist.

(b) Da auch das Verhalten des Versuchsleiters eine Störvariable ist, ist es zum Zweck der

Kontrolle aller relevanten Variablen nötig, genau vorzuschreiben, wie die Versuchs-

personen vom Versuchsleiter zu behandeln sind, beginnend mit der Festlegung der Art der

Begrüßung der Versuchspersonen, über die Festlegung der Art der Verlesung der Ver-

suchsanweisung, bis zur Festlegung der Art der Verabschiedung der Versuchspersonen.

(c) Das Dorfmädchen Tess in Thomas Hardys Roman „Tess of the d’Urbervilles“ aus dem

Jahr 1891 erlebt den Konfikt zwischen naturhafter Sinnlichkeit und viktorianischer Moral

in ihren Beziehungen zu dem neureichen Verführer Alec, der nur ihre sexuelle Ausstrah-

lung wahrnimmt, und dem Pfarrerssohn Angel, der diese Ausstrahlung nicht wahrhaben

will. Als sie ihm nach der Eheschließung ihre Vergangenheit mit Alec gesteht, verlässt er

sie. Angesichts der Not ihrer Familie gelangt sie wieder unter Alecs Einfuss. Sie tötet

Alec, als Angel zu ihr zurückkehrt, und erlebt mit diesem eine kurze Zeit der Erfüllung, bis

sie verhaftet und gehenkt wird.

(d) Eine Methode ist nur dann wissenschaftlich, wenn sie reliabel (zuverlässig) ist. Und sie

ist nur dann reliabel, wenn die bedingte Wahrscheinlichkeit, dass sie vom Anfangs- zum

Zielzustand führt, größer ist als die unbedingte Wahrscheinlichkeit des Zielzustandes.

(e) Die Frage „Was ist die Bedeutung dieses Textes?“ setzt als selbstverständlich voraus,

was erst zu zeigen wäre, dass nämlich der betreffende Text genau eine Bedeutung hat, das

heißt, dass er — erstens — mindestens eine und — zweitens — höchstens eine Bedeutung

hat. Die zweite Voraussetzung ist fast nie erfüllt, nicht einmal bei wissenschaftlichen

Texten, und die erste Voraussetzung ist nicht blind als erfüllt anzusehen. Bei der Interpre-

tation dichterischer Texte etwa sollten Sie die Möglichkeit bedenken, dass der Text nichts

mitteilt; dass er Gefühle, nicht Erkenntnisse hervorrufen soll.

(f) Bei der qualitativen Analyse von Medienberichten über politische Ereignisse ist stets

auch in Betracht zu ziehen, was nicht im Bericht steht. Dass etwa der Name eines be-

stimmten Politikers im Bericht fehlt, kann mehr über die gegenwärtige Machtstellung

dieses Politikers aussagen, als es seine Erwähnung vermocht hätte.

(g) Personen, die über ihre Leistung regelmäßig und sachlich informiert werden, sind im

Schnitt höher motiviert als Personen, die über ihre Leistung nie oder sehr selten informiert

werden. Deshalb sollten Arbeitgeber ihre Angestellten regelmäßig und sachlich über deren

Leistung informieren.

(h) Das Publish-or-perish-Prinzip zwingt die Wissenschaftler, viel zu viele viel zu kurze

Abhandlungen viel zu rasch zu publizieren. Die Flut von unverständlichen und unreifen

Artikelchen führt dazu, dass sie fast niemand liest. Was nicht gelesen wurde, dürfte, streng

genommen, nicht zitiert werden. Damit es dennoch zitiert werde, bilden sich innerhalb von

Forschergemeinden sogenannte Seilschaften. Sie funktionieren nach dem Prinzip der Ge-

genseitigkeit: zitierst du mich, zitier’ ich dich; publizierst du mich in deinem Sammelband,

publizier’ ich dich in meinem Sammelband; lädst du mich auf deine Tagung ein, lad’ ich

dich auf meine Tagung ein. Das ist zwar keine Garantie für eine wissenschaftliche Kar-

riere, erhöht aber die Chancen beträchtlich.

(i) Niemals sollte ein Befund, der gegen eine Hypothese spricht, unterschlagen werden.

Solange es schlechter Brauch in einem Fachgebiet ist, negative Befunde nicht stets zu ver-

öffentlichen, können Meta-Analysen empirischer Arbeiten zu einer Hypothese nicht anders

als irreführend sein.

14 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

1.4 LÖSUNGEN DER ÜBUNGEN ZUM 1. KAPITEL

1. (a) Zurücksage (b) Erklärung einer Regelmäßigkeit

(c) Erklärung eines Vorgangs (d) Vorhersage eines Ereignisses

2. (a) Gesetz (bisher sehr gut bewährte Hypothese) (b) Beobachtungssatz

(c) Nichts von alledem (sondern stipulative Defnition) (d) Hypothese (im Jahr 2002)

3. In (a), (c), (d) und (e).

4., 5., 6. SIE sind am Zug.

7.

(a) Versuch einer Teilantwort auf die zentrale Frage, was eine Tätigkeit zu einer wissenschaftlichen

Tätigkeit macht, und zwar am Beispiel der Introspektion.

(b) Kein Antwortversuch auf Fragen aus der zentralen Fragestellung, sondern ein Antwortversuch auf

die periphere wissenschaftstheoretische Frage, was immer unerklärbar sein wird.

(c) Eine Teilantwort auf eine Frage aus der zentralen Fragestellung, und zwar darauf, wie man

innerhalb der logisch reglementierten Sprache einer axiomatischen Theorie korrekt defnieren soll.

(d) Kein Antwortversuch auf Fragen aus der zentralen Fragestellung, sondern eine Teilantwort auf

eine periphere wissenschaftstheoretische Frage, nämlich was wichtige Fachausdrücke in bestimmten

Einzelwissenschaften bei näherer Betrachtung bedeuten.

(e) Eine Teilantwort auf eine Frage aus der zentralen Fragestellung, und zwar darauf, wie man zu

Hypothesen gelangen soll. (Nicht, indem man bestimmten Regeln zu folgen versucht — so die hier

vorgebrachte Meinung des bedeutenden Wissenschaftstheoretikers Karl Popper.)

(f) Eine Teilantwort auf eine Frage aus der zentralen Fragestellung, und zwar darauf, wie man

Theorien formulieren soll. (So, dass es klar ist, welche Sätze der Theorie faktisch (synthetisch) und

welche analytisch sind. — Wir kommen darauf im Kapitel 3 noch ausführlich zu sprechen.)

(g) Ein Stück aus einem Antwortversuch auf eine Frage aus der zentralen Fragestellung, und zwar

darauf, ob Beobachtungssätze falsch sein können (ja) und ob sie gewöhnlich im Rahmen einer

Theorie formuliert sind (ebenfalls ja).

8.

(a) Zählt zur allgemeinen Wissenschaftstheorie.

(b) Zählt zur speziellen Wissenschaftstheorie der Psychologie.

(c) Zählt weder zur allgemeinen Wissenschaftstheorie noch zu einer speziellen Wissenschaftstheorie,

sondern ist eine kurze Inhaltsangabe eines Romans, zählt somit zu einer der Literaturwissenschaften.

(d) Zählt zur allgemeinen Wissenschaftstheorie.

(e) Zählt zur speziellen Wissenschaftstheorie der Literatur- und Kommunikationswissenschaften.

(f) Zählt zur speziellen Wissenschaftstheorie der Kommunikationswissenschaften.

(g) Zählt weder zur allgemeinen Wissenschaftstheorie noch zu einer speziellen Wissenschaftstheorie,

sondern zur Psychologie (insbesondere zur Betriebspsychologie).

(h) Zählt weder zur allgemeinen Wissenschaftstheorie noch zu einer speziellen Wissenschaftstheorie,

sondern zur Wissenschaftssoziologie.

(i) Zählt zur allgemeinen Wissenschaftstheorie.

2014 2 AUSDRÜCKE, NAMEN, BEGRIFFE 15

2 AUSDRÜCKE, NAMEN, BEGRIFFE

2.1 VORBEMERKUNG: UNEINHEITLICHKEIT VON

GEISTESWISSENSCHAFTLICHEN FACHSPRACHEN IM ALLGEMEINEN UND

VON DER WISSENSCHAFTSTHEORETISCHEN FACHSPRACHE IMBESONDEREN

Die naturwissenschaftlichen Fachausdrücke, meist künstlich aus lateinischen und alt-griechischen Wurzeln gebildet, haben gewöhnlich genau eine fest umrissene Bedeutung,kurz: jede Naturwissenschaft hat ihre einheitliche Fachsprache. Wenn etwa ein Chemikerdas Wort ›Protein‹ im Gespräch mit einer Fachkollegin ausspricht, dann kann sie sichersein, was er damit meint, somit kann sie auch sicher sein, was er damit nicht meint, zumBeispiel, dass er mit dem Wort ›Protein‹ nicht über Aminosäuren oder Amine redet.Natürlich kennen beide aufgrund ihrer langjährigen Ausbildung Aberdutzende Zusam-menhänge zwischen Proteinen, Aminosäuren und Aminen. Gerade deshalb würde esihnen nie einfallen (außer vielleicht auf weit fortgeschrittenen Faschingsveranstaltungen),das Wort ›Protein‹ einmal im Sinne des Wortes ›Protein‹, ein andermal im Sinne desWortes ›Aminosäure‹ und wieder ein andermal im Sinne des Wortes ›Amin‹ zu ver-wenden. Denn täten sie das, ließen sich eben jene in harter empirischer Forschungerkannten Zusammenhänge nicht mehr eindeutig mitteilen. Ihre sprachliche Disziplin-losigkeit würde sowohl die Mitteilbarkeit der bisher gewonnenen Forschungsergebnisseihrer Wissenschaft als auch den zukünftigen Fortschritt der Chemie ernsthaft gefährden.

Die Philosophie sowie die Kultur- und Gesellschaftswissenschaften haben keineeinheitlichen Fachsprachen. Zwar gibt es auch dort künstlich gebildete Fachausdrückezuhauf, doch bemühen sich ihre Benützer gewöhnlich nicht, ihre Bedeutungen ein-zugrenzen und voneinander abzugrenzen, geschweige denn sie in genau einer Bedeutungzu verwenden. Die Folge: Ketten von Missverständnissen in fachlichen Auseinander-setzungen, angefangen von der Diskussion im unbedeutendsten Proseminar bis hinauf zuder auf dem bedeutendsten Fachkongress. Man glaubt, weil man denselben Fachausdruckverwendet, über dieselbe Sache zu reden, meint aber oft in Wirklichkeit voneinanderVerschiedenes. Man redet also aneinander vorbei, stimmt scheinbar miteinander überein,obwohl man unerkannterweise einander widerspricht, oder man widerspricht einanderscheinbar, obwohl man unerkannterweise miteinander übereinstimmt. Es verhält sichähnlich wie in der billigen Anekdote mit dem Pferdezüchter und dem Münzensammler,die auf einer Abendgesellschaft begeistert über Rappen zu reden beginnen, bis sie nachdrei Minuten entdecken, dass der eine immer über schwarze Pferde, der andere überSchweizer Kleingeld gesprochen hat. Der Unterschied vor allem zum philosophischenund kulturwissenschaftlichen Gespräch besteht darin, dass sich zwei Philosophen oderKulturwissenschaftler höchst glücklich schätzen dürfen, wenn sie bereits nach dreiMinuten entscheiden können, ob sie aneinander vorbei geredet haben.

Der Mangel einer einheitlichen Fachsprache weist, wissenschaftstheoretisch be-trachtet, darauf hin, dass es das Fach noch zu keinem großen Theoriegebäude gebrachthat, sondern verschiedene Gruppen von Fachleuten vorläufg noch an der eigenen kleinenHypothesenhütte basteln. Dieses theoretische Defzit regt, wissenschaftspsychologischbetrachtet, nicht nur ehrliche, harte Bemühung um den Aufbau möglichst wahrheitsnaherTheorien über den jeweiligen Gegenstandsbereich an, sondern lädt auch (zur entschieden

16 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

leichter fallenden) leeren Wortklimperei ein, mit der man zumindest dem Laien, demJournalisten und hoffentlich dem Sponsor imponieren kann, ohne in Richtung Theorie-aufbau und -kritik irgendetwas weitergebracht zu haben. Im Gegenteil: Wortklimperei istkeineswegs ein Mittel der Erkenntnisgewinnung, sondern der Täuschung darüber, wieschlecht es um den Erkenntnisstand im Fach steht.

Terminologische Schlamperei gibt es leider auch in der Wissenschaftstheorie selbst. Zwarhält sich in der Wissenschaftstheorie die Wortklimperei in Grenzen, doch muss zuge-geben werden, dass gerade der Ausdruck ›Wissenschaftstheorie‹ selbst mehr verspricht,als er halten kann, nämlich ein Name für eine ausgereifte normativ-methodologischeTheorie der Wissenschaft als Tätigkeit zu sein. Eine solche Theorie gibt es noch nicht,viele Probleme der Daten- und Hypothesengewinnung sowie der Daten- und Hypo-thesenbewertung sind noch offen; insbesondere das Problem eines allgemein akzep-tierbaren Messverfahrens für den Bestätigungsgrad eine Satzes oder gar einer ganzenTheorie hat sich als so ungemein komplex erwiesen, dass einige Wissenschaftstheoretiker(und nicht die schlechtesten Köpfe) die Befürchtung hegen, es sei unlösbar.

Auch in der Wissenschaftstheorie ist das Fehlen eines von allen Wissenschafts-theoretikern gemeinsam bewohnten mächtigen Theoriegebäudes unausweichlich mit demFehlen einer gemeinsamen einheitlichen Fachsprache verbunden. Das bedeutet für diealltägliche Lese- und Diskussionspraxis ganz banal dieses: Wenn Sie von einem Ihnenfremden Wissenschaftstheoretiker so wichtige und zentrale wissenschaftstheoretischeFachausdrücke zu hören oder zu lesen bekommen wie ›Beobachtungssatz‹, ›Hypothese‹,›Gesetz‹, ›Defnition‹, ›Theorie‹, ›Modell‹, ›Paradigma‹, ›Abduktion‹, ›Induktion‹, ›Er-klärung‹, ›Bestätigung‹, ›Falsifkation‹, ›Verifkation‹, ›Beweis‹, dann können Sie niesicher sein, was er damit meint. Vielleicht verknüpft er eine ähnliche Bedeutung mitdiesen Wörtern wie Sie, vielleicht auch nicht. Im allgemeinen werden Sie gut beratensein, nachzufragen oder nachzulesen, was (alles) diese Wörter bei dem betreffendenWissenschaftstheoretiker bedeuten, denn obschon es sich bei diesen Wörtern um zentraleFachausdrücke der Wissenschaftstheorie handelt, haben sie mindestens so viele Bedeu-tungen, wie es bedeutende Wissenschaftstheoretiker gibt. Diese Uneinheitlichkeit undMehrdeutigkeit liegt, so sei betont, weniger an der Disziplinlosigkeit der Wissenschafts-theoretiker, als vielmehr an dem beträchtlichen Schwierigkeitsgrad der Probleme, für diesie begründete Lösungsvorschläge zu machen versuchen (wenngleich man sich etwa imFall des ehemaligen wissenschaftstheoretischen Modewortes ›Paradigma‹ fragen darf, obes wirklich unvermeidlich war, dass es allein schon sein eigener Kreator in mehr als 20Bedeutungen verwendet hat). Wir müssen jedenfalls die Tatsache zur Kenntnis nehmen,dass es konkurrierende wissenschaftstheoretische Theorien gibt und dass, da ja dieverschiedenen Theorien teilweise die gleiche Terminologie benutzen, auch die wissen-schaftstheoretischen Fachausdrücke mehrdeutiger sind, als es für erkenntnisgerichtetesForschen und Lehren wünschenswert ist. Ich trage diesem Zustand Rechnung, indem icheinerseits jene Bedeutungen der Fachausdrücke hervorheben werde, die mir besonderswichtig erscheinen, und anderseits auf andere Bedeutungen dieser Ausdrücke in Formvon terminologischen Bemerkungen ausdrücklich verweisen werde. ——

Zur terminologischen Schlamperei, zum Chaos der Mehrdeutigkeiten, zum leeren Daher-gerede und -geschreibe sowie zum gekonnten Einsatz von Fachjargon als Bluff-Instru-ment in der Philosophie und den Kultur- und Gesellschaftswissenschaften sollten Siemehrere der folgenden Werke wenigstens teilweise lesen:

2014 2 AUSDRÜCKE, NAMEN, BEGRIFFE 17

Ronald ENGLEFIELD: Critique of Pure Verbiage. Essays on Abuses of Language inLiterary, Religious, and Philosophical Writings. — La Salle, Ill.: Open Court, 1990.

Klaus LAERMANN: „Die Lust an der Unklarheit und die Schmerzgrenzen des Verstehens.Dunkelheit als Erfolgsgrundlage in den Geisteswissenschaften“. — In: Frank GRIES-HEIMER und Alois PRINZ (Hg.): Wozu Literaturwissenschaft? Kritik und Perspektiven.Tübingen: Francke, 1992, pp. 80–101.

Karl POPPER: „Gegen die großen Worte“. — In: Karl POPPER: Auf der Suche nach einerbesseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren. — München (u.a.): Piper,142006, pp. 99–113.

Alan SOKAL und Jean BRICMONT: Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmodernedie Wissenschaften mißbrauchen. — München: Beck, 1999 (auch als dtv, München2001).

2.2 AUSDRÜCKE

Terminologische Vorbemerkung: Ich beziehe mich im Folgenden fast nur auf schrift-sprachliche, kaum jemals auf lautsprachliche Ausdrücke. Ich lasse deshalb den Zusatz›schriftsprachlich‹ fast durchgängig weg.

In den folgenden sechs Zeilen befndet sich je eine Zeichenreihe, wie wir durch Hinsehenfeststellen können.

Gustave FlaubertGustave FlaubertGustave Flaubertmnkrüöstwvaberaber

Zeichenreihen der obigen Art seien ›Ausdrücke‹ (›tokens‹) genannt.

Wir stellen weiters fest:

(1) einige der obigen Ausdrücke sind miteinander gestaltgleich, andere nicht;(2) einige sind grammatisch korrekt gebildet, einer ist es nicht;(3) drei nehmen auf etwas Bezug, drei nehmen auf nichts Bezug;(4) jene drei der obigen Ausdrücke, die auf etwas Bezug nehmen, sind weder miteinanderidentisch; noch sind sie mit jener Person identisch, auf die sie Bezug nehmen; noch sindsie mit der Menge aller jener Ausdrücke, die mit ihnen gestaltgleich sind, identisch.

Die Menge aller Ausdrücke, die mit dem Ausdruck in der folgenden Zeile gestalt-gleich sind

Gustave Flaubert

sei ›die Gestalt des Ausdrucks ›Gustave Flaubert‹‹ genannt.

Allgemein: Sei x irgendein Ausdruck. Wir sagen: die Gestalt (der type) von x ist dieMenge aller jener Ausdrücke, die mit x gestaltgleich sind.

Beispiel: Auf dieser Seite gibt es fünf Ausdrücke, die mit dem Ausdruck in derersten Textzeile auf der nächsten Seite gestaltgleich sind.

18 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Gustave Flaubert

Die Gestalt des Ausdrucks in der obigen Zeile ist die Menge aller jener Ausdrücke,welche mit ihm gestaltgleich sind. Der Ausdruck in der zweiten Zeile oberhalb dieser istein physisches Objekt, die Gestalt dieses Ausdrucks nicht; jener hat ganz andere Eigen-schaften als diese: etwa kann man den Ausdruck ausradieren oder durchstreichen, dieentsprechende Gestalt dieses Ausdrucks nicht; die Gestalt des Ausdrucks in der erstenTextzeile auf dieser Seite ist eine Menge, die Millionen Ausdrücke als Elemente hat, aberder Ausdruck selber ist keine Menge, sondern ist ein aus Tonerschwärze bestehendesDing in Raum und Zeit, also ein physisches Objekt, genauer: ein physisches Ereignis.

Im Weiteren konzentrieren wir uns auf jene Ausdrücke, mittels derer wir auf Ge-genstände, Eigenschaften und Beziehungen Bezug nehmen oder zu nehmen versuchen.Diese Ausdrücke sind im Alltag wie in der Wissenschaft am wichtigsten, mit ihnenformulieren wir unsere Erkenntnisse (und unsere Irrtümer).

2.3 NAMEN

2.3.1 WICHTIGE ARTEN VON NAMEN AUS LOGISCHER SICHT

Betrachten wir den folgenden Ausdruck (A).

Viktor Klima ist Österreicher, aber Helmut Kohl nicht.

Sowohl (A) selbst als auch die Gestalt von (A) ist ein grammatisch korrekter, sinnvollerIndikativsatz. Einige Ausdrücke in (A) werden offenbar gebraucht, um sich auf Dinge inder Welt zu beziehen. Mit jenem Ausdruck in (A), der dieselbe Gestalt wie der Ausdruckin der nächsten Zeile hat

Viktor Klima

beziehen wir uns etwa auf eine ganz bestimmte Person; ditto mit jenem Ausdruck in (A),der dieselbe Gestalt hat wie der in der nächsten Zeile.

Helmut Kohl

Auch mit jenem Ausdruck in (A), der dieselbe Gestalt hat wie

ist Österreicher

beziehen wir uns auf Dinge, wenn auch nicht auf ein ganz bestimmtes Objekt, sondernauf jedes beliebige Objekt, das die Eigenschaft hat, ein Österreicher zu sein. Der Rest derin (A) vorkommenden Ausdrücke (nämlich ein Beistrich, ein Punkt, ein Satzverknü-pfungswort und eine Negationspartikel) wurde nicht in der Absicht gebraucht, auf Dingein der Welt Bezug zu nehmen.

Die Logiker nennen üblicherweise solche Ausdrücke, die in der Absicht gebrauchtwerden, auf etwas Bezug zu nehmen oder etwas zu bezeichnen, ›Namen‹ oder ›des-kriptive Zeichen‹ oder ›Terme‹ oder in Anlehnung an den scholastischen Sprachgebrauch›autokategorematische Ausdrücke‹, das sind Ausdrücke mit eigener Bedeutung; währendsie jene Ausdrücke, die nicht in dieser Absicht gebraucht werden, ›logische Zeichen‹nennen oder wieder in Anlehnung an den scholastischen Sprachgebrauch ›synkate-gorematische Ausdrücke‹, das sind Ausdrücke, die nicht selber eine Bedeutung haben,sondern ausschließlich im Verein mit anderen Ausdrücken zur Bildung sinnvoller Aus-drücke beitragen.

2014 2 AUSDRÜCKE, NAMEN, BEGRIFFE 19

Eine verbreitete logische Klassifkation der Namen ist die folgende.

Singuläre Namen:2

individuelle Namen (Eigennamen);Kennzeichnungen (individuierende Deskriptionen).

Generelle Namen (allgemeine Namen, Prädikatausdrücke):3

einstellige Prädikatausdrücke (Eigenschaftsnamen);mehrstellige Prädikatausdrücke (Beziehungsnamen).

Gehen wir obige Klassifkation der Reihe nach durch.

Die Logiker nennen üblicherweise solche Ausdrücke, die in der Absicht gebrauchtwerden, auf genau ein Objekt Bezug zu nehmen, ›singuläre Namen‹. Ein singulärerName ist entweder ein Ausdruck, mittels dessen die Sprachgemeinschaft das fraglicheObjekt zu benennen versucht, ohne es damit näher zu beschreiben; oder er ist ein Aus-druck, mittels dessen ein Objekt so treffend beschrieben oder gekennzeichnet werdensoll, dass es in der Sprachgemeinschaft klar ist, genau welches Objekt damit gemeint ist.Singuläre Namen, mittels derer ein Objekt zu benennen versucht wird, heißen in derLogik ›Eigennamen‹; singuläre Namen, mittels derer ein Objekt so genau beschriebenwerden soll, dass es eindeutig ist, welches Objekt gemeint ist, heißen in der Logik›Kennzeichnungen‹. Beispiele für Eigennamen sind Ausdrücke wie diese: ›ViktorKlima‹, ›Wien‹, ›15‹, ›Liza Minnelli‹. Kennzeichnungen sind z.B. Ausdrücke wie diese:›der Bundeskanzler Österreichs im Sommer 1997‹, ›die Hauptstadt Österreichs im Jahr2010‹, ›das Produkt aus 3 mal 5‹, ›die Tochter von Judy Garland und Vincente Minnelli‹.

Nicht selten wird eine Kennzeichnung unrichtig gebraucht, das heißt, der betref-fende Ausdruck wird zwar in der Absicht verwendet, genau ein Objekt mittels gewissercharakteristischer Eigenschaften zu kennzeichnen, aber das Ziel wird verfehlt, sei es,dass das gemeinte Objekt nicht existiert, sei es, dass die Charakterisierung zu schwachwar und mehr als ein einziges Objekt unter die Beschreibung fällt. Legen wir dem-entsprechend fest: Ein Ausdruck heiße ›eine korrekte Kennzeichnung‹ genau dann,wenn er eine Kennzeichnung ist, mittels derer ihr Benutzer tatsächlich (und nicht nur derAbsicht nach) auf genau ein Objekt Bezug nimmt. Ein Ausdruck heiße ›eine unkorrekteKennzeichnung‹ genau dann, wenn er eine Kennzeichnung ist, mittels derer ihr Benutzernur der Absicht nach, aber nicht tatsächlich auf genau ein Objekt Bezug nimmt. Eineunkorrekte Kennzeichnung, die sich auf nichts bezieht, sei näherhin ›eine leere Kenn-zeichnung‹, und eine unkorrekte Kennzeichnung, die sich auf mehr als ein Objektbezieht, ›eine uneindeutige Kennzeichnung‹ genannt. Die obigen Beispiele für Kenn-zeichnungen waren Beispiele für korrekte Kennzeichnungen. Beispiele für unkorrekteKennzeichnungen sind: ›der Bundeskanzler Österreichs im Jahre 1997‹ (dies ist eine un-eindeutige Kennzeichnung, da im Jahr 1997 ein Kanzlerwechsel von Vranitzky zu Klimastattfand); ›die Hauptstadt Österreichs im Jahre 1940‹ (dies ist eine leere Kennzeichnung,da es 1940 keine Hauptstadt Österreichs gab); ›der Sohn von Thomas Mann‹ (dies isteine uneindeutige Kennzeichnung, da Thomas Mann drei Söhne hatte); ›ÖsterreichsBudgetüberschuss im Jahr 2002‹ (dies ist eine leere Kennzeichnung, da es 2002 keinen

2 Singuläre Namen werden in der englischen Fachliteratur meist ›singular terms‹ genannt, Eigennamenmeist ›proper names‹, Kennzeichnungen meist ›defnite descriptions‹.3 Allgemeine Namen werden in der englischen Fachliteratur meist ›general terms‹ genannt, einstelligePrädikatausdrücke meist ›unary predicates‹, zweistellige meist ›binary predicates‹, dreistellige meist›ternary predicates‹ und allgemein k-stellige meist ›k-ary predicates‹, wobei k eine beliebige natürlicheZahl ist.

20 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Budgetüberschuss in Österreich gab); ›die Bedeutung des englischen Wortes ›plane‹‹(dies ist eine uneindeutige Kennzeichnung, da das Wort ›plane‹ mindestens vier Bedeu-tungen hat: Ebene, Flugzeug, Hobel, Platane); ›die größte natürliche Zahl‹ (dies ist eineleere Kennzeichnung, da es keine größte natürliche Zahl gibt); ›der Autor der Kinder-und Hausmärchen‹ (dies ist eine uneindeutige Kennzeichnung, da die Brüder Grimmderen zwei waren). — Nun zu den generellen Namen.

Die Logiker nennen üblicherweise jeden Ausdruck, der in der Absicht gebrauchtwird, auf alle beliebigen Objekte Bezug zu nehmen, welche die im Ausdruck angespro-chene Eigenschaft haben, ›Eigenschaftsnamen‹ oder ›einstellige Prädikatausdrücke‹;und jeden Ausdruck, der in der Absicht gebraucht wird, auf alle beliebigen ObjekteBezug zu nehmen, welche die im Ausdruck angesprochene Beziehung zueinander auf-weisen, ›Beziehungsnamen‹ oder ›mehrstellige Prädikatausdrücke‹; Ausdrücke, dieEigenschafts- oder Beziehungsnamen bzw. ein- oder mehrstellige Prädikatausdrückesind, heißen oft ›generelle Namen‹ oder ›Prädikatausdrücke‹. Einstellige (deutsche)Prädikatausdrücke sind zum Beispiel:

›…ist ein Österreicher‹, ›…hat eine Mäusephobie‹, ›…ist ein Drama‹, ›…ist ein Bundeskanzler‹.

Ergänzt man diese einstelligen Prädikatausdrücke sinnvoll durch jeweils genau einensingulären Namen, entstehen Sätze; z.B. entsteht so der wahre Satz ›Viktor Klima ist einÖsterreicher.‹ aus dem einstelligen Prädikat ›…ist ein Österreicher‹. Mehrstellige (deu-tsche) Prädikatausdrücke sind zum Beispiel:

›…ist benachbart mit…‹, ›…hatte eine Mäusephobie…von…bis…‹, ›…ist ein Drama von…‹,›…liegt zwischen…und…‹.

Ergänzt man diese mehrstelligen Prädikatausdrücke sinnvoll durch jeweils so vielesinguläre Namen, wie leere Stellen angedeutet sind, entstehen Sätze; z.B. entsteht so derfalsche Satz ›Innsbruck liegt zwischen Salzburg und Wien.‹ aus dem dreistelligen Prädi-kat ›…liegt zwischen…und…‹.

Soweit fürs erste zu den singulären und generellen Namen. Zu den logischen odersynkategorematischen Zeichen zählen wir die junktorhaften Wörter (›nicht‹, ›und‹,›oder‹, ›wenn, dann‹, ›genau dann, wenn‹, ›es sei denn, dass‹ u.a.m.), die quantorhaftenWörter (›alle‹, ›einige‹, ›fast alle‹, ›die meisten‹, ›viele‹ u.a.m.) und die Hilfszeichen(Punkt, Beistrich, Klammern u.a.m.). Hierauf werden wir später in der elementarenSatzkunde näher eingehen. Vorher werfen wir noch einen kurzen Blick auf jene eigen-artigen singulären Namen, die ›Anführungsnamen‹ genannt werden. Sie bilden einebestimmte Art von Namen für Ausdrücke. In allen Wissenschaften, die Ausdrücke (undganze Mengen davon) zum Gegenstand haben, bedarf man der Anführungsnamen inbesonderem Maße, also insbesondere in den Sprach- und Literaturwissenschaften.

2.3.2 ANFÜHRUNGSNAMEN

Um sich über Ausdrücke schriftlich mitteilen zu können, muss man selbst wieder Aus-drücke herstellen, die sich auf jene Ausdrücke beziehen, über die man etwas mitteilen

2014 2 AUSDRÜCKE, NAMEN, BEGRIFFE 21

möchte. Zum Beispiel stellen Mitglieder der deutschen Sprachgemeinschaft physischeObjekte von der Gestalt des Objektes in der folgenden Zeile her

Das Fragezeichen

um über die Gestalt des physischen Objektes in der folgenden Zeile

?

Mitteilungen machen zu können. Oder sie verwenden physische Objekte von der Gestaltdes physischen Objektes in der nächsten Zeile

die rechte runde Klammer

um über die Gestalt des physischen Objektes in der folgenden Zeile

)

Behauptungen aufstellen zu können. Wenn wir etwa den folgenden eingerückten Aus-druck hinschreiben (genauer: einen Ausdruck von der Gestalt des in der folgenden Zeilebefndlichen Ausdrucks herstellen)

Das Fragezeichen kommt im Alphabet der griechischen Sprache nicht vor.

dann haben wir mittels dieses Ausdrucks etwas Wahres über die Gestalt des in der nächs-ten Zeile befndlichen Ausdrucks

?

behauptet. Oder wenn wir etwa den folgenden Ausdruck hinschreiben

Keine rechte runde Klammer steht am Anfang irgendeines grammatikalisch kor-rekten Ausdrucks der deutschen Sprache.

dann haben wir mittels dieses Ausdrucks etwas Wahres über solche Ausdrücke mitgeteilt,die mit dem in der nächsten Zeile befndlichen Ausdruck gestaltgleich sind.

)

Wir können natürlich auch (absichtlich oder unabsichtlich) mittels eines Ausdrucksfalsche Behauptungen über die Gestalt von Ausdrücken aufstellen. Zum Beispiel drücktjeder Ausdruck von der Gestalt des in der übernächsten Zeile befndlichen Ausdruckseine falsche Behauptung aus.

Die rechte runde Klammer besteht aus 21 Buchstaben.

Offenkundig ist die oben vorgestellte Art, durch ausführliche Beschreibungen (also durchKennzeichnungen) auf Ausdrücke und auf die Gestalten von Ausdrücken Bezug zu neh-men, umständlich. Dies ist wohl der Hauptgrund, warum sie vermieden wird. Viel häu-fger setzt man, wenn man über Ausdrücke etwas mitteilen will, einen bestimmten (ganzkonkreten) Ausdruck unter Anführungszeichen. Da die Verwendung der uns vertrautendeutschen Anführungszeichen

‚...‘ „...“

schon durch die Rechtschreibvorschriften fürs Deutsche geregelt ist, empfehlt es sich,andere Zeichen als Anführungszeichen herzunehmen, damit keine Verwirrungen ent-stehen. Es bieten sich dafür unter anderem die spitzen Klammern (die sogenannten fran-zösischen Anführungszeichen) an. Wir schreiben dann etwa

›Gustave Flaubert‹

wenn wir hervorheben wollen, dass wir uns auf einen bestimmten Ausdruck und nicht aufeine bestimmte Person beziehen wollen.

22 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Wir haben diesen Brauch schon stillschweigend in diesem Skriptum übernommenund machen ihn uns nun bewusst: Wenn wir einen Ausdruck unter französische An-führungszeichen setzen, dann geben wir damit kund, dass wir über diesen Ausdruckselbst sprechen wollen und NICHT über das, worauf sich der betreffende Ausdrucknormalerweise bezieht. Legen wir allgemein fest:(a) Solche Ausdrücke, mittels derer wir uns auf andere Ausdrücke beziehen, seien›Namen für Ausdrücke‹ genannt. (b) Solche Namen für Ausdrücke, die mit einem nach rechts zeigenden französischenAnführungszeichen beginnen und mit einem nach links zeigenden französischen An-führungszeichen enden, seien ›Anführungsnamen‹ genannt.

Wenn wir also etwa schreiben

›Gustave Flaubert‹ ist ein französischer Schriftsteller.

dann haben wir einen falschen Satz hingeschrieben, denn der im obigen Satz unterAnführungszeichen gesetzte Ausdruck ist kein Schriftsteller (noch ist es die Gestalt die-ses Ausdrucks). Richtig ist hingegen der Satz in der folgenden Zeile.

Gustave Flaubert ist ein französischer Schriftsteller.

Und richtig ist auch der Satz in der folgenden Zeile 18.

›Gustave Flaubert‹ ist ein Eigenname eines Schriftstellers.

Jener Ausdruck in der Zeile 18, der mit dem Anführungsnamen ››Gustave Flaubert‹‹gestaltgleich ist, ist ja nicht zur Benennung einer bestimmten Person verwendet worden,sondern zur Benennung eines bestimmten Eigennamens, nämlich zur Benennung jenesEigennamens in der Zeile 18, der mit dem Ausdruck ›Gustave Flaubert‹ gestaltgleich ist,um über eben diesen Eigennamen etwas Wahres schreiben zu können, nämlich dass ereinen französischen Schriftsteller benennt.

Die Verwechselungsgefahr zwischen Namen und Benanntem wächst deutlich,wenn wir über Namen für Ausdrücke zu sprechen beginnen. Ein Beispiel aus der traditio-nellen Grammatik. Wenn man über das Rufzeichen und Namen für das Rufzeichenschreiben will, wird es ratsam, Anführungszeichen zu verwenden, um klar zu machen,worüber man gerade etwas behauptet. Wenn man über das Rufzeichen etwas schriftlichmitteilen will, kann man den singulären Namen ›das Rufzeichen‹ verwenden; wenn manüber den Ausdruck ›das Rufzeichen‹ etwas mitteilen will, kann man den Anführungs-namen ››das Rufzeichen‹‹ verwenden, um herauszustreichen, dass man nun nicht überdas Rufzeichen, sondern über einen seiner singulären Namen schreiben will. Zur Ver-anschaulichung: die ersten vier der acht folgenden Sätze sind wahr, die zweiten vierfalsch:

(1) Das Rufzeichen ist identisch mit der Gestalt des Ausdrucks ›!‹.(2) ›Das Rufzeichen‹ ist ein Name für die Gestalt des Ausdrucks ›!‹.(3) ››Das Rufzeichen‹‹ ist ein Anführungsname.(4) Der Anführungsname ››Das Rufzeichen‹‹ bezeichnet den dortigen, mit demsingulären Namen ›Das Rufzeichen‹ gestaltgleichen Ausdruck, der seinerseits dasRufzeichen bezeichnet, das nichts bezeichnet.

(5) ›Das Rufzeichen‹ ist identisch mit der Gestalt des Ausdrucks ›!‹.(6) Das Rufzeichen ist ein singulärer Name.(7) ›Das Rufzeichen‹ ist ein Anführungsname.(8) ››Das Rufzeichen‹‹ bezeichnet das Rufzeichen, das wiederum einen singulärenNamen für die Gestalt des Ausdrucks ›!‹ bezeichnet.

2014 2 AUSDRÜCKE, NAMEN, BEGRIFFE 23

2.3.3 EMPFEHLUNGEN FÜRS WISSENSCHAFTLICHE ARBEITEN

Empfehlung 1: Beachten Sie den Unterschied zwischen Ausdrücken und den Gestaltenvon Ausdrücken, wenn Sie über sprachliche Ausdrücke schreiben! Er ist keine Neben-sächlichkeit. Etwa kann ein Ausdruck (z.B. ›Peter‹) im Kontext eindeutig sein, d.h. genaueine Person bezeichnen; seine Gestalt, also die Menge aller mit ›Peter‹ gestaltgleichenAusdrücke, ist hingegen extrem mehrdeutig, weil es Hunderttausende Ausdrücke gibt, diezwar gestaltgleich mit dem Ausdruck ›Peter‹ sind, aber jeweils eine verschiedene Personbezeichnen. Auch kann ein Ausdruck Eigenschaften haben, die seine Gestalt nicht hatund nicht einmal haben kann; z.B. ist es wahr, dass der Ausdruck ›Literatur‹ sich inobiger Zeile befndet und schwarz ist, während seine Gestalt weder das eine noch dasandere ist und sogar weder das eine noch das andere sein kann.

Empfehlung 2: Stellen Sie sicher, dass dem fachkundigen Leser Ihrer wissenschaftlichenTexte klar ist, auf genau welches Objekt sich die singulären Namen, die Sie verwenden,jeweils beziehen!4 Das gilt insbesondere für Kennzeichnungen. Wenn Sie in einemwissenschaftlichen Text eine Kennzeichnung verwenden, haben Sie, sofern die betref-fende Kennzeichnung nicht offensichtlich korrekt ist, die Pficht, zumindest plausibel zumachen, dass sie nicht unkorrekt ist. Denn wer eine unkorrekte Kennzeichnung ge-braucht, schreibt so, als bezöge er sich auf genau ein Objekt, obwohl er sich auf keineinziges Objekt oder auf mehr als ein Objekt bezieht. In beiden Fällen weiß Ihr Leser(und wissen vielleicht auch Sie selbst) nicht, worüber Sie etwas mitzuteilen beabsichti-gen. Ein Soziologe etwa, der die Kennzeichnung ›der Begriff der Spaßgesellschaft‹ ver-wendet, muss, bevor er weiter schreibt, zumindest plausibel machen, dass diese Kenn-zeichnung korrekt ist, dass es also mindestens und höchstens einen Begriff der Spaß-gesellschaft gibt. Ein Wirtschaftswissenschaftler, der die Kennzeichnung ›die wirt-schaftliche Rezession Österreichs im Jahr 2002‹ verwendet, muss, bevor er weiterschreibt, zumindest plausibel machen, dass diese Kennzeichnung korrekt ist, dass es also2002 mindestens und höchstens eine wirtschaftliche Rezession in Österreich gegeben hat.Ein Literaturwissenschaftler, der z.B. die Kennzeichnung ›jene Interpretation des Ge-dichtes Der römische Brunnen, welche die richtige ist‹ verwendet, muss, bevor er weiterschreibt, zumindest plausibel machen, dass diese Kennzeichnung korrekt ist, dass es alsomindestens und höchstens eine richtige Interpretation dieses Gedichtes gibt. Wer diesePficht durchgängig verletzt, verletzt durchgängig die Pficht zur klaren Ausdrucksweise;denn eine Ausdrucksweise ist nun einmal nur dann klar, wenn der fachkundige Höreroder Leser ohne großen Aufwand erkennen kann, über welchen Gegenstand etwas mit-geteilt werden soll.

Empfehlung 3: Wenn Sie einen Ausdruck als generellen Namen verwenden — zum Bei-spiel einen Ausdruck der Gestalt des Ausdrucks ›Mythos‹ —, achten Sie bitte darauf,dass Sie auch die übrigen Ausdrücke in Ihrer Abhandlung, die mit ›Mythos‹ gestaltgleichsind, in derselben Bedeutung verwenden, oder machen Sie zumindest die Leser IhrerAbhandlung darauf aufmerksam, dass Sie und wo Sie mit ›Mythos‹ gestaltgleiche Aus-drücke in voneinander verschiedenen Bedeutungen verwenden. Wenn Sie eine Theorieder Mythen aufbauen, stellen Sie darüber hinaus auch klar, wie viele Stellen Ausdrücke

4 Die sprachphilosophische Frage, auf welche Weise sich Eigennamen und Kennzeichnungen auf die Weltbeziehen und inwieweit Eigennamen und Kennzeichnungen zusammenhängen, hat zu bemerkenswertenontologisch-metaphysischen Erkenntnissen geführt. Wenn Sie diese Fragen für überlegenswert fnden,sollten Sie vielleicht über folgendes elementare, unkonventionelle Lehrbuch in die Thematik einsteigen:Ermanno BENCIVENGA: Die Referenzproblematik. Eine Einführung in die analytische Sprachphilosophie.—Frankfurt am Main: Verlag Peter Lang, 1987.

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der Gestalt des Ausdrucks ›Mythos‹ in Ihrer Theorie haben. Etwa ist ›(Erzählung x) istein Mythos‹ ein einstelliger genereller Name, ›(Erzählung x) ist ein Mythos über (dasObjekt) y‹ ein zweistelliger genereller Name (siehe dazu auch Kapitel 4 und 5).

Empfehlung 4: Wenn Sie über einen Ausdruck etwas schreiben wollen, sollten Sie ihnunter Anführungszeichen setzen; wenn nicht, nicht. Auch dieser Brauch gehört zur Pfegeeiner klaren Ausdrucksweise. Wenn Sie ihm nicht folgen, bleibt es nicht selten für IhreLeser (und vielleicht auch für Sie) unklar, worüber Sie nun etwas mitteilen wollen: überden Ausdruck selbst, den Sie hingeschrieben haben, oder doch eher über das, worauf sichder betreffende Ausdruck bezieht. Das kann schon im Alltag ab und zu nützlich sein.Zum Beispiel ist der Satz

Peter ist einsilbig.

wahr, wenn die gemeinte Person ein wortkarger Typ ist; der Satz

›Peter‹ ist einsilbig.

ist hingegen auf jeden Fall falsch. In den semiotischen Disziplinen ist der Einsatz vonAnführungsnamen nicht nur ab und zu, sondern fast immer nützlich. Denn wenn wireinen Namen lesen, dann ist es eben praktisch nie von vornherein klar, ob er hinge-schrieben worden ist, um über das etwas mitteilen zu können, worauf er sich normaler-weise bezieht, oder um über ihn selbst etwas mitteilen zu können, kurz: ob er gebrauchtoder erwähnt wird. (Wir wissen z.B. ohne Vereinbarungen über die Bildung von An-führungsnamen nicht, ob der Satz ›Wien ist aus Vindobona entstanden.‹ eine sprach-wissenschaftliche oder eine städtehistorische Mitteilung beinhaltet.) Aus diesem Grundist es klärend, genau dann einen Anführungsnamen für ein Wort zu bilden, wenn manüber es selbst und nicht über das, worauf es sich bezieht, schreiben will; und es ist ver-wirrend, dies zu unterlassen oder sogar das fragliche Wort unter Anführungszeichen zusetzen, obschon man nicht über es selbst, sondern über das, worauf es sich bezieht,schreiben will. Wir kommen darauf im Kapitel übers Defnieren zurück. Lassen Siedeshalb in der Einleitung zu Ihrer Dissertation oder zumindest in einer Fußnote an ihremAnfang Ihre Leser wissen, welche Zeichen Sie zur Bildung von Anführungsnamen ein-zusetzen gedenken! Vermeiden Sie es, die bereits durch die deutschen Rechtschreibregelnüberstrapazierten deutschen Anführungszeichen zur Bildung von Anführungsnamen zuverwenden! Es geht erfahrungsgemäß nicht gut, wenn diese Anführungszeichen — wieüblich — sowohl (1) zum Zitieren („Errare humanum est.“) eingesetzt werden als auch(2) zur Bezeichnung von Werken (Wilhelm Genazinos „Die Liebesblödigkeit“) als auch(3) zur Andeutung des ironischen Sprachgebrauchs (Die CSU, die „Gewinnerin“ derWahl vom 28. September 2008, ...) als auch (4) zur politisch korrekten Distanzierung(„die Reichskristallnacht“) als auch (5) zur Hervorhebung des metaphorischen Gebrauchseines Wortes („der längste Tag“ im Leben des ...) als auch (6) als Marker für Über-treibungen (Ich „hasse“ Erdnussbutter.) als auch (7) zur Bildung von Anführungsnamen(Das Adjektiv „lang“ ist ein kurzes Wort.). Nehmen Sie stattdessen zur Bildung vonAnführungsnamen — zum Beispiel wie in diesem Skriptum — entweder die französi-schen Anführungszeichen, oder etwa auch — wie insbesondere in der Philosophie üblich— die einfachen englischen Anführungszeichen, also:

‘...’.Wenn Sie Ihre Dissertation z.B. auf Englisch schreiben, dann wird es hingegen sachlichvorteilhaft sein, Sie verwenden zur Bildung von Anführungsnamen ausdrücklich nicht dieenglischen, sondern z.B. die französischen oder die deutschen einfachen Anführungs-zeichen (sofern Ihr Betreuer oder Ihre Betreuerin Ihnen folgen kann).

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2.4 BEGRIFFE

2.4.1 VIER BEDEUTUNGEN DES WORTES ›BEGRIFF‹

2.4.1.1 Begriffe als Ausdrücke

Eine erste Bedeutung. — Manche Leute (darunter auch Logiker und Wissenschafts-theoretiker) verwenden das Wort ›Begriff‹ (das heißt produzieren Ausdrücke, die mit demAusdruck ›Begriff‹ gestaltgleich sind), um damit auf solche Ausdrücke Bezug zu neh-men, die grammatisch korrekt, aber keine Satzzeichen und keine Sätze und keine Satz-reihen sind.

Gemäß diesem Sprachgebrauch sind zum Beispiel alle Ausdrücke, die wir ›Namen‹genannt haben, Begriffe, denn Namen sind grammatisch korrekte Ausdrücke, die wederSatzzeichen noch Sätze noch Satzreihen sind. Da sich ja mit Namen beschreiben lässt,wie es in der Welt zugeht, nennen jene Leute, welche das Wort ›Begriff‹ im oben skiz-zierten Sinn verwenden, Namen oft ›deskriptive Begriffe‹. Davon unterscheiden sie jeneAusdrücke, die wir ›junktor- und quantorhafte Zeichen‹ genannt haben, und nennen siezusammen mit einer Reihe weiterer Satzoperatoren ›logische Begriffe‹ (solche Satz-operatoren sind z.B.: ›es ist notwendigerweise wahr, dass‹, ›es ist wahrscheinlich, dass‹,›ich glaube, dass‹, ›ich weiß, dass‹.) Für diese Leute sind also zum Beispiel Ausdrückewie ›alle‹, ›genau dann, wenn‹ oder ›ich bezweife, dass‹ logische Begriffe. Satzzeichenwie etwa der Strichpunkt und Sätze wie etwa der Satz, den Sie gerade lesen, sind da-gegen für diese Leute keine Begriffe. — Zur Veranschaulichung der ersten Verwendungs-weise von ›Begriff‹ zuerst fünf Sätze, die bei dieser Verwendungsweise wahr, dann fünfSätze, die bei dieser Verwendungsweise falsch sind:

(1) Der Begriff des Paradigmas ist mehrdeutig.(2) Der Begriff des Kommandanten kommt aus dem Vulgärlatein.(3) Der Begriff des Helligkeitsreglers wurde in den letzten 30 Jahren durch den desDimmers zurückgedrängt.(4) Der Ausdruck ›Stadt‹ ist ein deskriptiver Begriff.(5) Alle Namen sind Begriffe.

(6) Der Begriff des Paradigmas ist kein Ausdruck.(7) Der Begriff des Kommandanten ist identisch mit dem des Befehlshabers.(8) Salzburg ist ein Begriff.(9) Der Begriff des Dreiecks umfasst die Eigenschaft, eben zu sein.(10) Jeder Begriff ist ein Name.

2.4.1.2 Begriffe als Bedeutungen von Ausdrücken

Die meisten Leute verwenden das Wort ›Begriff‹, um damit nicht (nur) auf Ausdrücke,sondern (auch) auf deren Bedeutungen Bezug zu nehmen. Nun kann man unter demAusdruck ›Bedeutung eines Ausdrucks‹ Mannigfaches verstehen, man sollte aber aufjeden Fall wenigstens drei Sachen auseinanderhalten, die damit gemeint sein könnten:

(1) die Objekte, auf die mittels des betreffenden Ausdrucks Bezug genommen wirdoder genommen werden soll;5

5 Die Menge dieser Objekte wird üblicherweise in der Logik ›der Umfang‹ oder ›die Extension‹ desbetreffenden Ausdrucks genannt.

26 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

(2) ausgewählte Eigenschaften, die allen Objekten zukommen, auf die mittels desbetreffenden Ausdrucks Bezug genommen wird oder werden soll, und die zusam-men nur diesen Objekten zukommen;6

(3) die geistige Fähigkeit des Ausdruckshervorbringers oder -lesers, unter belie-bigen gegebenen Objekten genau jene zu bestimmen, auf die mit dem betreffendenAusdruck Bezug genommen werden soll.7

Gehen wir diese drei Möglichkeiten der Reihe nach durch!

Eine zweite Bedeutung von ›Begriff‹. — Einige Leute (insbesondere Semantiker, Mathe-matiker, Statistiker, Messtheoretiker) verwenden das Wort ›Begriff‹ im Sinne des obigenPunktes (1), also im Sinne von ›ist eine Menge von Objekten, auf die mittels eines Aus-drucks Bezug genommen wird‹.

Wenn diese Leute z.B. den Ausdruck ›der Begriff des Landwirts‹ verwenden, dannmeinen sie damit schlicht und einfach die Menge der Landwirte. Wenn sie schreiben,dass der Begriff des Reicher-seins-als in der Menge der Staaten, gemessen über dasBruttonationalprodukt, asymmetrisch ist, dann meinen sie damit, dass die Relation desReicher-seins-als in der Menge aller Staaten asymmetrisch ist, dass heißt, dass

{‹x, y›: x ist ein Staat und y ist ein Staat und x ist reicher als y}

asymmetrisch ist, was nichts weiter heißt, als dass für alle Staaten x und y gilt: wenn xreicher als y ist, dann ist y nicht reicher als x.

Oder wenn Sie in einem Statistikbuch lesen, der Begriff der Intelligenz sei quan-titativ, dann ist damit gemeint, dass der Begriff der Intelligenz eine solche Menge ist, dieeine (halb)numerische Funktion ist, das heißt, fürs erste gesagt, der Begriff der Intelli-genz ist eine Funktion, die jedem Menschen als Maß seiner Intelligenz eine Zahl zu-ordnet.

Oder wenn Sie in einem Mathematikbuch lesen, der Begriff der geraden Primzahlsei eine Einermenge, dann ist damit gemeint, dass die Menge aller jener natürlichenZahlen, die gerade Primzahlen sind, nur ein einziges Element hat (nämlich die Zahl 2).

Oder wenn Sie in einem Buch über Semantik lesen, der Begriff des Kaisers derVereinigten Staaten von Amerika sei leer, dann ist damit gemeint, dass die Menge allerKaiser der Vereinigten Staaten von Amerika kein einziges Element hat (mit anderenWorten, die Extension des generellen Namens ›ist ein Kaiser der Vereinigten Staaten vonAmerika‹ ist leer).

Wenn man das Wort ›Begriff‹ im mathematischen Sinn von ›Menge‹ verwendet, dannfällt es leicht, einige übliche Wendungen zu erläutern. Im Folgenden einige Erläute-rungen zu neun Wendungen, die seit altersher in Philosophie und Wissenschaft besondersverbreitet sind und deshalb gut verstanden werden sollten.

6 Eine jede solche Menge von Eigenschaften wird üblicherweise in der Logik ›ein Inhalt‹ oder ›eineIntension‹ des betreffenden Ausdrucks genannt.7 Psychologisch (und nicht zuletzt sprach- und literaturwissenschaftlich) betrachtet, kann ein Ausdrucknatürlich auch im Leser oder Hörer Vorstellungsbilder, Gefühle und mannigfache Assoziationen hervor-rufen. Jede Menge solcher Bilder, Gefühle und Assoziationen, die mit dem Hervorbringen oder mit demLesen oder Hören des betreffenden Ausdrucks einhergehen, wird in der Logik üblicherweise ›eine Kon-notation‹ dieses Ausdrucks genannt. — Es ist also zwischen Namen, ihren Extensionen, ihren Intensionenund ihren Konnotationen streng zu unterscheiden. Das Wort ›Begriff‹ wird leider oft so verwendet, dassdiese Unterscheidungen verwischt werden.

2014 2 AUSDRÜCKE, NAMEN, BEGRIFFE 27

›Begriff M ist umfangreicher als Begriff N‹ bedeutet soviel wie ›Menge M ist vongrößerer Mächtigkeit als Menge N‹.8 — Beispiel: Der Begriff des Briten ist umfang-reicher als der Begriff des Tirolers.9

›Begriff M ist enger als Begriff N‹ bedeutet soviel wie ›Menge M ist eine echte Teil-menge von Menge N‹.10 — Beispiel: Der Begriff des Kärntners ist enger als der Begriffdes Österreichers.

›Begriff M ist weiter als Begriff N‹ bedeutet soviel wie ›Menge M ist eine echte Ober-menge von Menge N‹.11 — Beispiel: Der Begriff des Österreichers ist weiter als derBegriff des Kärntners.

›Begriff M ist identisch mit Begriff N‹ bedeutet soviel wie ›Menge M ist identisch mitMenge N‹.12 — Beispiel: Der Begriff des gleichseitigen Dreiecks ist identisch mit demBegriff des gleichwinkeligen Dreiecks.

›Begriff M ist verschieden vom Begriff N‹ bedeutet soviel wie ›Menge M ist nichtidentisch mit Menge N‹.13 — Beispiel: Der Begriff des Menschen ist verschieden vomBegriff des Tirolers.

›Begriff M ist verträglich mit Begriff N‹ bedeutet soviel wie ›Menge M überschneidetsich mit Menge N‹.14 — Beispiel: Der Begriff des Landwirts ist verträglich mit demBegriff des Österreichers.

›Begriff M ist unverträglich mit Begriff N‹ bedeutet soviel wie ›Menge M ist ele-mentfremd mit Menge N‹.15 — Beispiel: Der Begriff des Aphorismus ist unverträglichmit dem Begriff des Romans.

›Begriff M ist der kontradiktorische Begriff zum Begriff N innerhalb des Begriffs B‹bedeutet soviel wie ›die nicht-leere Menge M ist das Komplement der nicht-leerenMenge N in der Menge B‹.16 — Beispiel: Der Begriff der ungeraden Zahl ist der kontra-diktorische Begriff zum Begriff der geraden Zahl innerhalb des Begriffs der natürlichenZahl.

›Begriff M ist ein konträrer Begriff zum Begriff N innerhalb des Begriffs B‹ bedeutetsoviel wie ›die nicht-leere Menge M ist eine echte Teilmenge des Komplementes der

8 Das heißt im endlichen Fall nichts weiter, als dass M mehr Elemente als N hat.9 Damit wird nur behauptet, dass es mehr Briten als Tiroler gibt; es wird damit nicht behauptet (um einemMissverständnis vorzubeugen, dem ich mal begegnet bin), dass die Briten im Durchschnitt mehr Bauch-umfang haben als die Tiroler. 10 M.a.W.: Jedes Element aus M ist auch eines aus N, aber nicht jedes aus N eines aus M.11 M.a.W.: Jedes Element aus N ist auch eines aus M, aber nicht jedes aus M eines aus N.12 M.a.W.: Jedes Element aus M ist auch eines aus N, und jedes aus N auch eines aus M.13 M.a.W.: Es gibt mindestens ein Element aus M, das kein Element aus N ist, oder es gibt mindestens einElement aus N, das kein Element aus M ist. — Offensichtlich gilt: Wenn Begriff M umfangreicher oderenger oder weiter als ein Begriff N ist, dann ist M verschieden von N. (Die Umkehrung gilt nicht. Mandenke zum Beispiel an die voneinander verschiedenen Begriffe der geraden und der ungeraden Zahl.)14 M.a.W.: M und N haben mindestens ein Element gemeinsam.15 M.a.W.: M und N haben kein Element gemeinsam. — Offensichtlich gilt: Wenn Begriff M unverträglichmit Begriff N ist, dann ist M verschieden von N. (Die Umkehrung gilt nicht. Man denke zum Beispiel andie voneinander verschiedenen Begriffe des Bankdirektors und des Schwerverbrechers.)16 M.a.W.: M vereinigt mit N ist identisch mit B; M geschnitten mit N ist identisch mit der leeren Menge;sowohl M als auch N hat mindestens ein Element. Also: Jedes Element aus B gehört entweder zu M oder zuN; jedes Element, das zu M oder zu N gehört, gehört zu B; M hat mindestens ein Element, ebenso N.

28 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

nicht-leeren Menge N in der Menge B‹.17 — Beispiel: Der Begriff des Sechseckes ist einkonträrer Begriff zum Begriff des Achteckes innerhalb des Begriffs des Vieleckes.

Eine dritte Bedeutung von ›Begriff‹. — Einige Leute verwenden das Wort ›Begriff‹ fürMengen von Merkmalen oder Eigenschaften. Wenn diese Leute z.B. den Ausdruck ›derBegriff des Landwirts‹ verwenden, dann meinen sie nicht die Menge der Landwirte (undschon gar nicht einen mit ›Landwirt‹ gestaltgleichen Ausdruck), sondern eine Menge vonEigenschaften, die zusammen für Landwirte charakteristisch sind; eine solche Mengekönnte etwa die folgenden drei Eigenschaften umfassen: (1) ein Mann zu sein, (2) einenHof im Besitz oder in Pacht zu haben, (3) regelmäßig auf dem Feld oder im Stall zuarbeiten. Oder wenn diese Leute den Ausdruck ›der Begriff des Menschen‹ verwenden,dann meinen sie nicht die Menge der Menschen (und schon gar nicht einen mit ›Mensch‹gestaltgleichen Ausdruck), sondern eine Menge von Eigenschaften, die zusammencharakteristisch für Menschen sind; nach sehr alter Auffassung könnte eine solche Mengeeine Menge sein, welche als einzige Elemente die beiden Eigenschaften, ein Lebewesenzu sein und vernunftbegabt zu sein, umfasst. Oder wenn diese Leute den Ausdruck ›derBegriff des Dreiecks‹ verwenden, dann meinen sie nicht die Menge aller Dreiecke (undschon gar nicht einen mit ›Dreieck‹ gestaltgleichen Ausdruck), sondern eine solcheMenge von Eigenschaften, die allen Dreiecken zukommen und zusammen nur Dreieckenzukommen; eine solche Menge könnte etwa eine Menge sein, welche als einzige Ele-mente die vier folgenden Eigenschaften umfasst: (1) eben sein, (2) dreiseitig sein, (3)geradseitig sein, (4) gebunden sein.

Eine vierte Bedeutung von ›Begriff‹. — Einige Leute, insbesondere Lernpsychologen,verwenden das Wort ›Begriff‹ zur Bezeichnung einer Beziehung zwischen einem Namenund der Fähigkeit des Namenbenützers, aus einer beliebigen Menge von Dingen diemeisten oder sogar alle Dinge auszusondern, auf die der jeweilige Name zutrifft. Wirhaben es nun nicht mehr mit dem einstelligen Namen ›ist ein Begriff‹ zu tun, sondern mitdem dreistelligen Namen ›Person x verfügt über den Begriff B zu Zeit t‹, und erläuternihn wie folgt: ›Person x hat zu Zeit t gelernt, Ausdrücken der Gestalt B je nach Kontextdie richtigen Objekte in den meisten Fällen zuzuordnen‹. Sei B ein Begriff, über den diePerson x zu Zeit t verfügt. Wir sagen:

Die Menge K ist die Kernextension von B in der Menge M gemäß Kenntnisstand von xzu t gdw18 K jene Teilmenge von Dingen aus M ist, von denen x zu t sicher ist, dass siemit B gemeint sind.

17 M.a.W.: M und N sind echte, elementfremde, nicht-leere Teilmengen von B. Also: Kein Element aus Mgehört zu N; jedes Element, das zu M oder zu N gehört, gehört zu B; M hat mindestens ein Element, N hatmindestens ein Element; es gibt mindestens ein Element aus B, das weder zu M und N gehört. Wegenletzterer Bedingung gilt für alle M, N und B: wenn M zu N innerhalb B konträr ist, dann ist M zu Ninnerhalb B nicht kontradiktorisch (das heißt, dann ist M nicht der kontradiktorische Begriff zu N innerhalbvon B).18 ›gdw‹ steht kurz für ›genau dann, wenn‹. — ›A gdw B.‹ bedeutet soviel wie ›Wenn A, dann B; und wennB, dann A.‹, also soviel wie ›Weder ist es der Fall, dass A, aber nicht B; noch ist es der Fall, dass B, abernicht A.‹. — Beispiel: ›Hans kommt zur Party gdw Helga zur Party kommt.‹ bedeutet soviel wie ›WennHans zur Party kommt, dann auch Helga; und wenn Helga zur Party kommt, dann auch Hans.‹, also sovielwie ›Weder ist es der Fall, dass Hans zur Party kommt, aber Helga nicht; noch ist es der Fall, dass Helgazur Party kommt, aber Hans nicht.‹.

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Die Menge G ist die Gegenextension von B in der Menge M gemäß Kenntnisstand von xzu t gdw G jene Teilmenge von Dingen aus M ist, von denen x zu t sicher ist, dass sienicht mit B gemeint sind.

Die Menge V ist der Vagheitsbereich von B in der Menge M gemäß Kenntnisstand von xzu t gdw V jene Teilmenge von Dingen aus M ist, von denen x zu t nicht sicher ist, ob siemit B gemeint sind.19 — Ein Beispiel:

Sei M eine Menge von 50 Musikstücken; sei B ein Ausdruck der Gestalt des Aus-drucks ›ist eine Fuge‹; es habe Hans heute von jedem der 50 Musikstücke zu beurteilen,ob es eine Fuge ist. Dann gilt: jene Menge von, sagen wir, 36 Musikstücken aus M, vondenen Hans heute sicher ist, dass sie Fugen sind, ist die Kernextension von ›ist eineFuge‹ in M gemäß heutigem Kenntnisstand von Hans; jene Menge von, sagen wir, 12Musikstücken aus M, von denen Hans heute sicher ist, dass sie keine Fugen sind, ist dieGegenextension von ›ist eine Fuge‹ in M gemäß heutigem Kenntnisstand von Hans; derRest der Musikstücke, also 2 Stücke, bildet den Vagheitsbereich von ›ist eine Fuge‹ in Mgemäß heutigem Kenntnisstand von Hans. Angenommen, Hans stellt fest, dass zum Vag-heitsbereich ein Musikstück gehört, bei dem er nicht sicher ist, ob es noch ein Ricercaroder nicht doch schon eine Fuge ist. Hans kann dann versuchen, diesen Vagheitsbereichzu verkleinern, indem er eine zusätzliche Regel lernt, die es ihm erlaubt, zu entscheiden,ob ein gegebenes Musikstück bereits eine Fuge oder doch noch ein Ricercar ist. Wirsagen im Erfolgsfall: Hans verfügt nun über einen präziseren Begriff der Fuge als vorher,das heißt, Hans hat seine Fertigkeit verbessert, Ausdrücken der Gestalt des Ausdrucks ›isteine Fuge‹ in einer gegebenen Menge M eine Kernextension und eine Gegenextensionzuzuordnen, wodurch er den früheren Vagheitsbereich verkleinern konnte.

2.4.2 KLASSIFIKATORISCHE, KOMPARATIVE UND METRISCHE BEGRIFFE

2.4.2.1 Klassifkatorische Begriffe

2.4.2.1.1 Klassifkatorische Begriffe als generelle Namen

Nach dem wohl am weitesten verbreiteten Gebrauch des Ausdrucks ›klassifkatorischerBegriff‹ wird jeder einstellige generelle Name ›ein klassifkatorischer Begriff‹ genanntsowie auch alle zwei- oder dreistelligen generellen Namen, wenn sie sich auf eine derbeiden folgenden Formen bringen lassen:

Ding x ist ein P zu Zeit tDing x ist ein P zu Zeit t am Ort o

Ausdrücke wie zum Beispiel ›ist ein Aphorismus‹, ›hat Witz‹, ›ist zu Zeit t eine Demo-kratie‹, ›hat zu Zeit t eine Mäusephobie‹, ›ist romanisch‹, ›hat ein Vorwort‹, ›ist ein Syn-tagma‹, ›nimmt ein glückliches Ende‹, ›ist ein Euphemismus‹, ›lebt zu Zeit t am Ort o‹sind gemäß diesem Sprachgebrauch klassifkatorische Begriffe.

Mittels klassifkatorischer Begriffe werden alle Dinge aus einer Grundmenge zuKlassen zusammengefasst; deshalb das Beiwort ›klassifkatorisch‹. Zum Beispiel fasstman mittels des klassifkatorischen Begriffs ›ist eine Demokratie zu Zeit t‹ jene Staatenzu einer Klasse zusammen, welche zu Zeit t die für Demokratien typischen Merkmaleaufweisen; die Grundmenge ist hier die Menge der Staaten. Manchmal ist es offen-

19 Wir kommen im Defnitionskapitel auf diese wichtigen Fachausdrücke zurück.

30 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

sichtlich, was die Grundmenge ist, oft muss man raten. Um Ratespielchen unnötig zumachen, kann man den jeweiligen einstelligen generellen Namen so ausformulieren, dasskein Zweifel besteht, an welche Grundmenge gedacht ist. Eine solche sorgfältigereFormulierung obiger Beispiele für klassifkatorische Begriffe könnte lauten: ›ein Kurz-text x ist ein Aphorismus‹, ›ein Dialog x hat Witz‹, ›eine Person x hat eine Mäusephobiezu Zeit t‹, ›eine Sprache x ist romanisch‹, ›ein Buch x hat ein Vorwort‹, ›ein Ausdruck xist ein Syntagma‹, ›ein Film x nimmt ein glückliches Ende‹, ›eine Wendung x ist einEuphemismus‹. Offenbar hätten auch andere Grundmengen gewählt werden können.Etwa wäre statt ›ein Dialog x hat Witz‹ ebenso gut möglich ›eine Person x hat Witz‹; diejeweiligen Grundmengen, nämlich die Menge der Dialoge und die Menge der Personen,überschneiden sich nicht einmal. Oder statt ›eine Sprache x ist romanisch‹ wäre ebensomöglich ›ein Kirchengebäude x ist romanisch‹; hier überschneiden sich wieder dieGrundmengen nicht, und zweifellos werden auch romanische Sprachen ganz anderecharakteristische Merkmale als romanische Kirchengebäude aufweisen.

Nicht nur der ausdrückliche Hinweis auf die jeweilige Grundmenge ist meistensverständnisfördernd, sondern auch und mehr noch die Aufistung der charakteristischenMerkmalsmenge, auf die — oft nur stillschweigend — mittels des jeweiligen klassifka-torischen Begriffs verwiesen wird; ansonsten steht zu befürchten, dass selbst in der fach-lich geschulten Leserschaft Unklarheit oder Unstimmigkeit darüber herrschen, über ge-nau welche Klasse von Dingen aus der Grundmenge mittels des fraglichen klassifkatori-schen Begriffs Angaben gemacht werden sollen. Deshalb ist es häufg angebracht, den je-weiligen klassifkatorischen Begriff (also den jeweiligen generellen Namen) so zu erläu-tern, dass erstens kein Zweifel besteht, an welche charakteristische Merkmalsmenge ge-dacht ist, und dass zweitens der fachlich geschulte Leser von beliebigen vorgegebenenElementen aus der Grundmenge mit einiger Sicherheit entscheiden kann, ob sie alleMerkmale aus der besagten Menge aufweisen und damit zu jener Klasse gehören, auf dieman sich mit dem jeweiligen klassifkatorischen Begriff beziehen möchte.

Für den Fall etwa, dass zwischen Literaturwissenschaftlern Unstimmigkeit über diecharakteristische Merkmalsmenge von jenen Dingen besteht, auf die man mit Aus-drücken von der Gestalt des Ausdrucks ›Aphorismus‹ Bezug zu nehmen versucht, sollteman die Merkmale, die man zu dieser Menge zählt, vorsichtshalber einzeln aufisten, umMissverständnissen vorzubeugen. Für den Fall, dass zwar keine Unstimmigkeit überdiese Merkmalsmenge besteht, aber eine allzu große Unklarheit darüber, wie sich daseine oder andere dieser Merkmale an Kurztexten feststellen lässt, sollte man Verfahrenangeben, mittels derer (zumindest in den meisten Fällen) intersubjektiv nachvollziehbarfestgestellt werden kann, ob ein beliebiger Kurztext alle Merkmale aus der vereinbartencharakteristischen Merkmalsmenge aufweist und somit ein Aphorismus ist. Unstimmig-keit würde zum Beispiel vorliegen, wenn einige Literaturwissenschaftler verlangen, dassjeder Kurztext, der den Namen ›Aphorismus‹ verdient, nonfktional zu sein hat, währendandere diese Forderung nicht aufstellen. Aber selbst wenn man sich auf eine charak-teristische Merkmalsmenge geeinigt hat (und, sagen wir, zu dieser Menge das Merkmal,nonfktional zu sein, gehört), könnte immer noch Unklarheit darüber bestehen, welcheKurztexte nun Aphorismen sind, etwa weil kein verlässliches Verfahren zur Feststellungvon Nonfktionalität bekannt ist.

Wird diese Arbeit am Begriff unterlassen, dann lassen sich übrigens die Dinge, dieangeblich „unter ihn fallen“, nicht zählen. Wer z.B. behauptet, ein bestimmtes Buchenthalte 34 Aphorismen, von dem darf gefordert werden, dass er den einstelligen Namen

2014 2 AUSDRÜCKE, NAMEN, BEGRIFFE 31

›ist ein Aphorismus‹ so erläutern kann, dass man von jeder Textstelle (zumindest in demangesprochenen Buch) entscheiden kann, ob sie ein Aphorismus ist. Kann eine solcheErläuterung nicht gegeben werden, ist die Angabe von Zahlen eine Irreführung. Immerwieder werden in den Erfahrungswissenschaften Zahlenangaben gemacht, ohne dass dienotwendige Arbeit am jeweiligen klassifkatorischen Begriff geleistet worden ist. DenkenSie etwa an die differierenden Angaben darüber, wie viele Sprachen es gibt, oder wieviele Planeten die Sonne hat. Wer etwa behauptet, es gebe derzeit 6200 Sprachen, vondem darf gefordert werden, dass er den zweistelligen Namen ›x ist eine Sprache zu Zeit t‹so erläutern kann, dass man von jedem Element aus der jeweiligen Grundmenge (woraussie auch bestehen mag) entscheiden kann, ob es derzeit eine Sprache ist. Und wer seit den1930er Jahren wie üblich behauptet, es gebe 9 Planeten, von dem darf eine exakte Erläu-terung des klassifkatorischen Begriffs ›Himmelskörper x ist im Zeitbereich t ein Planetder Sonne‹ gefordert werden. Spätestens 2004 entdeckten die Astronomen, dass sie diesebegriffiche Arbeit nicht geleistet hatten. Gemäß ihrer Erläuterung von 2006 hat unserSonnensystem nun 8 Planeten.

2.4.2.1.2 Systematisierungsleistung klassifkatorischer Begriffe

Klassifkatorische Begriffe mit gemeinsamer Grundmenge können benutzt werden, umdiese Grundmenge einzuteilen. Einteilungen können einen hohen systematischen undtheoriebildenden Nutzen haben. Im Folgenden einige Erläuterungen zu dieser besonderswichtigen Verwendungsweise klassifkatorischer Begriffe.

Zuerst eine terminologische Vereinbarung:

Ein Gegenstand g fällt unter den klassifkatorischen Begriff x ist P

gdw es mindestens einen singulären Namen c für g gibt, so dass gilt:c ist P

ist ein wahrer Aussagesatz.20

Beispiele: Graz fällt unter den klassifkatorischen Begriff ›x ist eine Stadt‹, denn es gibtmindestens einen singulären Namen für Graz, etwa die Kennzeichnung ›die Kulturhaupt-stadt Europas im Jahr 2003‹, sodass gilt: ›Die Kulturhauptstadt Europas im Jahr 2003 isteine Stadt.‹ ist ein wahrer Aussagesatz.21 Oder: Elias Canetti fällt unter den Begriff ›x istSchriftsteller‹, denn es gibt mindestens einen singulären Namen für Elias Canetti, etwaden Eigennamen ›Elias Canetti‹, so dass gilt: ›Elias Canetti ist ein Schriftsteller.‹ ist einwahrer Aussagesatz.22

Wir sagen:

<G, M1, M2, M3,…, Mn> ist eine Einteilung gdw gilt: M1, M2, M3,…, Mn sindnicht-leere, echte Teilmengen von G und n1.

Wir sagen weiters:

Die klassifkatorischen Begriffe P1, P2, P3 bis Pn beschreiben zusammen eineEinteilung der Menge G gdw es Mengen M1, M2, M3,…, Mn gibt, so dass gilt:

20 Weniger umständlich: Gegenstand g fällt unter den klassifkatorischen Begriff P gdw P auf g zutrifft.21 Weniger umständlich: Graz fällt unter den Begriff ›Stadt‹, weil dieser Begriff auf Graz zutrifft.22 Weniger umständlich: Elias Canetti fällt unter den Begriff ›Schriftsteller‹, weil dieser Begriff auf Canettizutrifft.

32 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

<G, M1, M2, M3,…, Mn> ist eine Einteilung und M1 ist die Menge aller jener Objekte aus G, die unter den Begriff P1 fallen, M2 dieMenge aller jener Objekte aus G, die unter den Begriff P2 fallen, M3 die Mengealler jener Objekte aus G, die unter den Begriff P3 fallen, …, Mn die Menge allerjener Objekte aus G, die unter den Begriff Pn fallen.

Es sei ‹G, M1, M2, M3,…, Mn› eine Einteilung und es sei E identisch mit dem geordnetenn+1-Tupel ‹G, M1, M2, M3,…, Mn›. Wir sagen:

G ist das Einteilungsganze von E.

M1, M2, M3,…, Mn sind die Einteilungsklassen aus E.23

M1, M2, M3,…, Mn bilden eine Einteilung von G.

E ist eine n-gliedrige Einteilung.

Wir sagen weiters:

E ist eine saubere Einteilung gdw alle Einteilungsklassen aus E paarweise ele-mentfremd sind.24

E ist eine vollständige Einteilung gdw die Vereinigungsmenge aller Einteilungs-klassen aus E identisch mit G ist.25

E ist eine richtige Einteilung gdw E sowohl sauber als auch vollständig ist.26

Ein erstes Beispiel:

<Menge aller ganzen Zahlen, Menge aller geraden Zahlen, Menge aller Prim-zahlen> ist eine Einteilung.27 Benennen wir diese Einteilung mit ›E‹!

Die klassifkatorischen Begriffe ›ist gerade‹ und ›ist prim‹ beschreiben zusammeneine Einteilung der Menge aller ganzen Zahlen.

Die Menge aller ganzen Zahlen ist das Einteilungsganze von E.

Die Menge aller geraden Zahlen und die Menge aller Primzahlen sind die Ein-teilungsklassen aus E.

Die Menge aller geraden Zahlen und die Menge aller Primzahlen bilden eine Ein-teilung der Menge aller ganzen Zahlen.

E ist eine zweigliedrige Einteilung.

E ist (wegen der geraden Zahl 2, die eine Primzahl ist) keine saubere Einteilung.

E ist (wegen der ungeraden Zahlen, die nicht prim sind) keine vollständige Eintei-lung.

E ist keine richtige Einteilung.

Ein zweites Beispiel:

<Menge aller romanischen Sprachen, Menge aller europäischen romanischenSprachen, Menge aller südamerikanischen romanischen Sprachen, Menge allermittelamerikanischen romanischen Sprachen, Menge aller nordamerikanischenromanischen Sprachen, Menge aller asiatischen romanischen Sprachen, Menge

23 Statt ›Einteilungsklassen aus E‹ ist auch der Ausdruck ›Einteilungsglieder von E‹ in Gebrauch.24 Statt ›saubere Einteilung‹ ist auch der Ausdruck ›scharfe Einteilung‹ in Gebrauch.25 Statt ›vollständige Einteilung‹ ist auch der Ausdruck ›erschöpfende Einteilung‹ in Gebrauch.26 Statt ›richtige Einteilung‹ ist auch der Ausdruck ›korrekte Einteilung‹ in Gebrauch.27 Denn die Menge aller geraden Zahlen ist eine nicht-leere, echte Teilmenge der Menge der ganzenZahlen. Ditto für die Menge der Primzahlen.

2014 2 AUSDRÜCKE, NAMEN, BEGRIFFE 33

aller afrikanischen romanischen Sprachen> ist eine Einteilung.28 Benennen wirdiese Einteilung mit ›E*‹!

Die klassifkatorischen Begriffe ›ist europäisch‹, ›ist südamerikanisch‹, ›ist mit-telamerikanisch‹, ›ist nordamerikanisch‹ ›ist asiatisch‹ und ›ist afrikanisch‹ be-schreiben zusammen eine Einteilung der Menge aller romanischen Sprachen.

Die Menge aller romanischen Sprachen ist das Einteilungsganze von E*.

Die Menge aller europäischen romanischen Sprachen, die Menge aller südameri-kanischen romanischen Sprachen, die Menge aller mittelamerikanischen romani-schen Sprachen, die Menge aller nordamerikanischen romanischen Sprachen, dieMenge aller asiatischen romanischen Sprachen und die Menge aller afrikanischenromanischen Sprachen sind die Einteilungsklassen aus E*.

Die genannten Mengen bilden eine Einteilung der Menge der romanischen Spra-chen.

E* ist eine sechsgliedrige Einteilung.

E* ist eine saubere Einteilung.29

E* ist keine vollständige Einteilung.30

E* ist keine richtige Einteilung.

Abschließend sei betont, dass nicht jede richtige Einteilung theoretisch fruchtbar ist,wobei der Terminus ›theoretisch fruchtbar‹ etwa soviel bedeutet wie ›erlaubt die Auf-stellung vieler wahrer gehaltvoller Allsätze durch internen und externen Vergleich derElemente der Einteilungsklassen‹. Die Konstruktion richtiger Einteilungen ist oft einZeichen hohen Könnens, die fruchtbarer Einteilungen darüber hinaus ein Zeichen hoherKreativität.

2.4.2.2 Komparative Begriffe

Komparative sind gemäß dem Sprachgebrauch der traditionellen Grammatik Adjektive inder ersten Steigerungsform wie etwa die folgenden: ›ist weicher als‹, ›lebte länger als‹,›ist glücklicher als‹, ›ist verschuldeter als‹, ›kommt der Wahrheit näher als‹, ›schreibtspannender als‹, ›ist autobiographischer als‹ usw. Aus der Sicht der Logik sind solcheKomparative zwei- bis vierstellige generelle Namen der Form ›Ding x ist [zu Zeit t amOrt o] Per als y‹, wobei P ein beliebiger Positiv (ein Adjektiv ungesteigerter Form) ist.Komparative dienen der sprachlichen Formulierung von Vergleichen, deshalb auch ihrName. Doch sind sie nicht die einzigen sprachlichen Mittel zur Formulierung von Ver-gleichen. Wir stellen nämlich beim Vergleich zweier Dinge nicht selten fest, dass sie dasinteressierende Merkmal in demselben Ausmaß besitzen. Um Vergleichsergebnisse dieserArt zu beschreiben, bedienen wir uns ebenfalls zwei- bis vierstelliger genereller Namen,

28 Sie wäre beispielsweise keine Einteilung, wenn die Menge aller nordamerikanischen romanischenSprachen leer wäre; doch diese Menge enthält mindestens ein Element, nämlich das Quebecsche Fran-zösisch. Und sie wäre beispielsweise keine Einteilung, wenn die Menge aller europäischen romanischenSprachen identisch mit der Menge aller romanischen Sprachen wäre; doch das ist sie nicht, da es ja romani-sche Sprachen außerhalb Europas gibt.29 Eine eindeutige Zuordnung der karibischen Inseln zum amerikanischen Kontinent vorausgesetzt.30 Es gibt ja pazifsche Inseln, auf denen Französisch Amtssprache ist. Nähme man als weitere Eintei-lungsklasse die Menge der pazifschen romanischen Sprachen dazu, dann dürfte diese neue siebengliedrigeEinteilung vollständig sein.

34 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

aber diesmal solcher, die sich auf die folgende Form bringen lassen ›x ist [zu Zeit t amOrt o] ebenso P wie y‹; zum Beispiel: ›ist ebenso weich wie‹, ›lebte ebenso lang wie‹, ›istebenso glücklich wie‹, ›hat ebenso viel Geld wie‹, ›ist ebenso verschuldet wie‹, ›kommtder Wahrheit ebenso nahe wie‹, ›schreibt ebenso spannend wie‹, ›ist ebenso autobio-graphisch wie‹. Jeder Ausdruck der Form ›x ist [zu Zeit t am Ort o] Per als y‹ oder derForm ›x ist [zu Zeit t am Ort o] ebenso P wie y‹ sei hier ›ein Komparativ‹ genannt. Wirsagen in enger Anlehnung an den wissenschaftstheoretischen Sprachgebrauch, wobei wirder Einfachheit halber die Relativierung auf t und o weglassen:

Ein Paar von Komparativen der Form ›u ist Per als v‹ und ›u ist ebenso P wie v‹bildet einen komparativen Begriff bezüglich der Menge M genau dann, wenn füralle x, y und z aus M gilt:(1) wenn x Per als y ist, dann ist y nicht Per als x;(2) wenn x Per als y und y Per als z ist, dann ist x Per als z;(3) wenn x ebenso P wie y ist, dann ist y ebenso P wie x;(4) wenn x ebenso P wie y und y ebenso P wie z ist, dann ist x ebenso P wie z;(5) wenn x nicht ebenso P wie y ist, dann ist x Per als y oder y ist Per als x.31

Diese fünf Bedingungen klingen trivial. Doch ob ein Paar von Komparativen bezüglicheiner Menge M wirklich einen komparativen Begriff bildet, ist keineswegs selbstver-ständlich. Man hat vielmehr genau zu erläutern, was man mit den Komparativen meint.Die Erläuterung muss so vorgenommen werden, dass es von jedem vorgegebenen Objektx und von jedem vorgegebenen Objekt y aus M auf empirische und intersubjektive Weiseentscheidbar wird, ob x Per als y ist oder ob x ebenso P wie y ist. Es ist eines, aus einemPositiv (etwa ›Roman x ist autobiographisch‹) zwei Komparative zu gewinnen (hier:›Roman x ist autobiographischer als Roman y‹ und ›Roman x ist ebenso autobiographischwie Roman y‹), das ist in spätestens 15 Sekunden erledigt; es ist ein anderes, die beidenKomparative so zu erläutern, dass nachweislich die oben angegebenen fünf Bedingungenan einen komparativen Begriff erfüllt sind. Hier beginnt die Arbeit. Sie ist gewöhnlichschwierig und zeitraubend. Es erstaunt nicht, dass sie häufg vermieden wird. Dochtäuscht sich und andere, wer die Bildung von Komparativen mit der Bildung von kompa-rativen Begriffen verwechselt. Im Falle der Komparative ›Roman x ist autobiographi-scher als Roman y‹ und ›Roman x ist ebenso autobiographisch wie Roman y‹ wäre alsoeine solche Erläuterung dieser zweistelligen Namen zu geben, dass für alle x, y und z aus,sagen wir, der Menge der im 20. Jahrhundert geschriebenen Romane gilt:

(1) wenn x autobiographischer als y ist, dann ist y nicht autobiographischer als x;(2) wenn x autobiographischer als y und y autobiographischer als z ist, dann ist xautobiographischer als z;(3) wenn x ebenso autobiographisch wie y ist, dann ist y ist ebenso autobiogra-phisch wie x;(4) wenn x ebenso autobiographisch wie y und y ebenso autobiographisch wie z ist,dann ist x ebenso autobiographisch wie z;(5) wenn x nicht ebenso autobiographisch wie y ist, dann ist x autobiographischerals y oder y ist autobiographischer als x.

Angenommen, ›Roman x ist autobiographischer als Roman y‹ wird zu erläutern versuchtdurch ›die Tagebücher des Autors von x schildern mehr Vorfälle, die auch in x beschrie-ben werden, als die Tagebücher des Autors von y Vorfälle schildern, die auch in y be-

31 Man beachte: Gemäß dieser wissenschaftstheoretischen Auffassung von komparativen Begriffen sindkomparative Begriffe also keine Komparative im grammatischen Sinn, sondern geordnete Tripel, bestehendaus zwei Komparativen und einer Menge, auf die sich diese Komparative beziehen.

2014 2 AUSDRÜCKE, NAMEN, BEGRIFFE 35

schrieben werden‹, und ›Roman x ist ebenso autobiographisch wie Roman y‹ wird zuerläutern versucht durch ›die Tagebücher des Autors von x schildern genau so vieleVorfälle, die auch in x beschrieben werden, wie die Tagebücher des Autors von y Vorfälleschildern, die auch in y beschrieben werden‹. Dann ist Bedingung (5) in allen jenenFällen verletzt, in denen ein Roman vorliegt, dessen Autor keine Tagebücher geführt hat.Dieser Erläuterungsversuch macht also aus den beiden Komparativen keinen komparati-ven Begriff bezüglich der Menge der im 20. Jahrhundert verfassten Romane.

Die Schwierigkeit der Bildung komparativer Begriffe ist keineswegs auf die Litera-turwissenschaften beschränkt, auch die Naturwissenschaftler haben hier ebenso zukämpfen wie ihre kultur- und gesellschaftswissenschaftlichen Kolleginnen und Kollegen.Ein bekanntes einfaches Beispiel stammt aus der Mineralogie. Man versuchte dort unteranderem, die Komparative ›Mineral x ist härter als Mineral y‹ und ›Mineral x ist ebensohart wie Mineral y‹ durch ›Mineral x ritzt Mineral y‹ sowie durch ›Mineral x ritzt Mineraly nicht und Mineral y ritzt Mineral x nicht‹ zu erläutern. Wie die Mineralogen jedochfeststellen mussten, gibt es Mineralienstücke x, y, z, für die gilt: x ritzt y und y ritzt z, aberx ritzt z nicht. Somit war Bedingung (2) verletzt und empirisch erwiesen, dass dieKomparative ›Mineral x ist härter als Mineral y‹ und ›Mineral x ist ebenso hart wie y‹ beidieser Erläuterung keinen komparativen Begriff bezüglich der Menge der Mineralebilden. Man musste sich nach anderen Erläuterungen der beiden Komparative umsehen.

2.4.2.3 Metrische Begriffe

Wenn es gelungen ist, das Ausmaß der Ausprägung eines Merkmals in einem Gegenstandmittels einer Zahl anzugeben, dann ist es gelungen, einen metrischen Begriff zu kon-struieren. Ein metrischer Begriff ist im Grunde nichts anderes als ein Name für einemathematische Funktion, die jedem Gegenstand aus ihrem Defnitionsbereich genau eineZahl zuordnet, die angibt, in welchem Ausmaß der jeweilige Gegenstand ein bestimmtesMerkmal aufweist. Alltägliche Beispiele für metrische Begriffe sind Namen für Funk-tionen, die physischen Objekten Zahlen zuordnen zur Angabe der Geschwindigkeit,Länge, Masse, Temperatur usw. eben dieser Objekte. Wenn ich etwa von einem Auto-mobil sage, es bewege sich mit einer Geschwindigkeit von 60 Stundenkilometern, sohabe ich diesem physischen Gegenstand eine Zahl zugesprochen, die angeben soll, inwelchem Ausmaß er das Merkmal Geschwindigkeit aufweist. Ähnlich verhält es sich,wenn ich sage, Karl sei 184 cm groß: hier wird die Ausprägung des Merkmals Körper-größe bei Karl durch eine Zahl bestimmt. Wenn ich anfüge, Karl habe eine Masse von 80kg, dann habe ich offensichtlich das Merkmal Körpermasse bei Karl durch eine Zahl zumAusdruck gebracht.

Das langfristige Hauptziel aller wissenschaftlichen Begriffsbildung ist die Kon-struktion solcher metrischer Begriffe, welche die Ausprägung des interessierenden Merk-mals in den jeweiligen Gegenständen auf eine reliable, valide und theoretisch fruchtbareWeise messen, das heißt, dass erstens sich Messfehler in tolerablen Grenzen halten(Reliabilität), zweitens das interessierende Merkmal (und nicht versehentlich ein anderes)gemessen wird (Validität) und drittens sich möglichst viele informative Beziehungen zuden Ausprägungsgraden anderer Merkmale herstellen lassen (theoretische Fruchtbarkeit).Es ist nicht sonderlich schwierig, metrische Begriffe zu konstruieren, die unreliabel, un-valide oder unfruchtbar sind; es ist jedoch (insbesondere in den Sozialwissenschaften)sehr schwierig, metrische Begriffe zu konstruieren, die sowohl reliabel als auch valide alsauch theoretisch fruchtbar sind.

36 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Ein Beispiel aus der Literaturwissenschaft: Es fällt leicht, den metrischen Begriff›die Autobiographizität von‹ für die Menge aller Romane, deren Autor Tagebücher führ-ten, wie folgt zu defnieren:

die Autobiographizität des Romans x ist identisch mit der Anzahl der in den Tage-büchern des Autors von x erwähnten Ereignisse, die auch im Roman x beschriebenwerden, dividiert durch die Anzahl aller im Roman x beschriebenen Ereignisse

Doch dieser metrische Begriff ist solange nicht reliabel, als kein Zählverfahren für be-schriebene Ereignisse angegeben wird; er ist nicht valide, denn er verfehlt zumindestteilweise unsere Intuitionen bezüglich dessen, was das autobiographische Element aneinem Roman ausmacht, so diffus diese Intuitionen auch noch sein mögen; und er istvermutlich auch theoretisch unfruchtbar: welche Gesetze z.B. von der Form

Für (fast) alle Romane x gilt: wenn die Autobiographizität von x gleich r ist, dannist der Ausprägungsgrad des Merkmals P von x gleich s.Für (fast) alle Romane x und y gilt: wenn die Autobiographizität von x größer alsdie Autobiographizität von y ist, dann ist der Ausprägungsgrad des Merkmals P vonx größer als der Ausprägungsgrad des Merkmals P von y.

lassen sich wohl mit unserem weder reliablen und noch validen metrischen Begriff derAutobiographizität bilden?

2.4.3 EMPFEHLUNGEN FÜRS WISSENSCHAFTLICHE ARBEITEN

Empfehlung 1: Versuchen Sie in erkenntnisgerichteten Gesprächen oder bei erkenntnis-gerichteter Lektüre zu erraten, ob Gesprächspartner oder Autor den Ausdruck ›Begriff‹ ineiner der vier skizzierten Verwendungsweisen gebraucht. Wenn eine Verwendungsweiseauf einen mit ›Begriff‹ gestaltgleichen Ausdruck passt, rechnen Sie nicht damit, dass sieauch noch auf den nächsten passt: langjährige Gesprächs- und Leseerfahrung sprechengegen diesen Optimismus. Wenn keine der vier Verwendungsweisen vorliegt, dannüberlegen Sie, ob Gesprächspartner oder Autor vielleicht mit dem betreffenden Ausdruckso etwas wie eine Theorie meint, das heißt ungefähr: eine Menge mehr oder minderinhaltlich und logisch zusammenhängender Sätze (in den Geisteswissenschaften wird jagerne auch das Wort ›Begriff‹ oder ›Konzept‹ zur Bezeichnung von Theorien gebraucht).Wenn’s das auch nicht ist, dann sind nicht mehr Sie gefordert zu raten, sondern IhrGesprächspartner oder der betreffende Autor zu erläutern.

Empfehlung 2: Wenn Sie selber erkenntnisgerichtet sprechen oder schreiben wollen undwenn Sie glauben, das Wort ›Begriff‹ verwenden zu müssen, dann sollten Sie sich da-rüber klar sein und notfalls Ihren Gesprächspartnern oder Lesern klar machen, in welcherder vier hier vorgestellten Verwendungsweisen (oder sonst einer) Sie dieses Wort zuverwenden gedenken (und sich dann an Ihren guten Vorsatz halten).

Empfehlung 3: Vermeiden Sie das allzu mehrdeutige Wort ›Begriff‹, wann immer mög-lich! Schreiben Sie stattdessen ›Ausdruck‹, wenn Sie über Ausdrücke schreiben wollen;›Name‹, wenn Sie über Namen schreiben wollen; ›die Extension von‹, wenn Sie über dieObjektmenge schreiben wollen, auf die sich ein bestimmter Name bezieht; und ›eineIntension von‹, wenn Sie über Eigenschaftsmengen schreiben wollen, auf die ein be-stimmter Name verweist. (Und verwenden Sie bitte ›Theorie‹ für Theorien; siehe dazudas Kapitel 5.)

Empfehlung 4: Prüfen Sie, wenn Sie auf Namen stoßen, die als klassifkatorische Begriffeausgegeben werden, (und wenn die Prüfung den Aufwand lohnt), ob sie wirklich klassi-

2014 2 AUSDRÜCKE, NAMEN, BEGRIFFE 37

fkatorische Begriffe sind. Wenn es nicht einmal klar ist, ob sich der fragliche Name aufdie Form ›x ist P (an o zu t)‹ bringen lässt, oder wenn unklar bleibt, worüber denn dieVariable ›x‹ läuft, dann liegt ein schweres Versäumnis des Namenverwenders vor. Wenndiese beiden Punkte jedoch löblicherweise klar sind, dann bleibt immer noch zu prüfen,ob intersubjektiv nachvollziehbare Verfahren angegeben sind, mittels derer sich ent-scheiden lässt, welche x aus der jeweiligen Grundmenge G die Eigenschaft P haben.Fehlen solche Verfahren, dann lässt es sich nicht seriös angeben, wie viele Dinge aus Gdie Eigenschaft P haben. Beachten Sie diese drei Punkte auch, wenn Sie selber Namenverwenden, die als klassifkatorische Begriffe dienen sollen!

Empfehlung 5: Prüfen Sie angebliche Einteilungen stets auf Richtigkeit, also auf Sauber-keit und Vollständigkeit! Wenn es unmöglich ist, das Einteilungsganze oder die Anzahlder Einteilungsklassen zu erraten, dann ist die angebliche Einteilung unter jeder Kritik.Wenn Sie in Ihrer Dissertation selber eine Einteilung machen, dann sollten Sie sich unddem Leser unbedingt klar machen, erstens aus welcher Menge von Dingen das Eintei-lungsganze besteht, wie viele Klassen die Einteilung hat, ob sich diese Klassen über-schneiden (wenn nein, ist Ihre Einteilung sauber) und ob sie zusammen das Einteilungs-ganze ergeben (wenn ja, dann ist Ihre Einteilung vollständig).

Empfehlung 6: Prüfen Sie, wenn Sie auf Komparative stoßen, ob sie wirklich kompa-rative Begriffe in der jeweils intendierten Menge bilden (sofern die Prüfung den Aufwandlohnt). Wenn die Komparative niemals so zu erläutern versucht werden, dass intersub-jektiv entscheidbar die einschlägigen fünf Bedingungen erfüllt sind, dann liegt einschweres Versäumnis des Verwenders der Komparative vor. Seine mit diesen Kompa-rativen gebildeten Sätze sind empirisch gehaltlos, denn man kann sie nicht an der Er-fahrung überprüfen. Liegt jedoch ein Erläuterungsversuch vor, dann kann es lehrreichsein zu untersuchen, ob die fraglichen Komparative alle fünf Bedingungen an einen kom-parativen Begriff erfüllen. Beachten Sie diese beiden Punkte auch, wenn Sie selber Kom-parative verwenden, die zusammen einen komparativen Begriff bilden sollen!

Empfehlung 7: Prüfen Sie, wenn Sie auf Ausdrücke der Form ›die Pzität von‹ stoßen, dieals metrische Begriffe ausgegeben werden, (und wenn die Prüfung den Aufwand lohnt),ob sie wirklich metrische Begriffe sind. Wenn es unklar bleibt, auf welche Weise derAusprägungsgrad des Merkmals P gemessen werden soll, dann liegt ein schweres Ver-säumnis des Verwenders des fraglichen Ausdrucks vor; es handelt sich um einen pseudo-metrischen Begriff (z.B. ›die Luzidität des Textes x‹). Seine mit diesem Ausdruck gebil-deten Sätze sind empirisch gehaltlos. Liegt jedoch ein Mess- oder Berechnungsverfahrenvor, dann kann es lehrreich sein zu prüfen, ob der fragliche metrische Begriff reliabel,valide und theoretisch fruchtbar ist. Beachten Sie diese beiden Punkte auch, wenn Sieselber Ausdrücke der Form ›die Pzität von‹ verwenden mit dem Anspruch, es handle sichdabei um einen metrischen Begriff!

2.5 LITERATURHINWEISE

Carl Gustav HEMPEL: Grundzüge der Begriffsbildung in der empirischen Wissenschaft.— Düsseldorf: Bertelsmann Universitätsverlag, 1974. [Der Klassiker. Teilweise schwierig.]

Franz von KUTSCHERA: Wissenschaftstheorie I: Grundzüge der allgemeinen Methodo-logie der empirischen Wissenschaften. — München: Fink, 1972. [Eher schwierig.]

38 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Eike von SAVIGNY: Grundkurs im wissenschaftlichen Defnieren: Übungen zum Selbst-studium. — München: dtv, 51980. [Kapitel 3. Einfach und lehrreich. Empfehlenswert.]

2.6 ÜBUNGEN

1. Welche der folgenden Sätze (a) bis (z) treffen zu?

(a) Der Ausdruck ›Mehl‹ befndet sich in der nächsten Zeile.

(b) Ein Ausdruck von der Gestalt des Ausdrucks ›Mehl‹ befndet sich in der ersten und in

der zweiten Zeile oberhalb dieser.

(c) Auf dieser Seite befnden sich sechs Ausdrücke, welche dieselbe Gestalt wie der Aus-

druck ›Mehl‹ haben.

(d) Weder der Ausdruck ›Mehl‹ noch die Gestalt dieses Ausdrucks bestehen aus Mehl.

(e) Es gibt Ausdrücke aus Tinte, Kreide, Druckerschwärze, Blumen, Teig, Plastik, Mehl,

Ruß, Stahl, Silber.

(f) Die Gestalt eines Ausdrucks ist immateriell.

(g) Den folgenden, unter einfachen französischen Anführungszeichen stehenden Ausdruck

›Gerhard Hauptmann‹ kann man durchstreichen.

(h) Die Gestalt des folgenden, unter einfachen französischen Anführungszeichen stehenden

Ausdrucks ›Gerhard Hauptmann‹ kann man durchstreichen.

(i) Der Ausdruck ›Karl Kraus‹ ist etwas anderes als die Person Karl Kraus.

(j) Wenn jemand im Ernst sagt, das lateinische Alphabet bestehe aus 26 Buchstaben, dann

kann er mit ›Buchstaben‹ keine Ausdrücke meinen.

(k) Karl Kraus hat den folgenden Ausdruck ›die Fackel‹ geschrieben.

(l) Der Ausdruck ›die Fackel‹ ist mit dem folgenden Ausdruck ›die Fackel‹ identisch.

(m) Der Ausdruck ›die Fackel‹ ist mit dem folgenden Ausdruck ›die Fackel‹ gestaltgleich.

(n) Die Gestalt des Ausdrucks ›die Fackel‹ ist mit der Gestalt des folgenden Ausdrucks

›die Fackel‹ identisch.

(o) Das ›Die Fackel‹ genannte Periodikum wurde von Karl Kraus herausgegeben und

geschrieben.

(p) Der Strichpunkt ist ein Satzzeichen.

(q) ›Der Strichpunkt‹ ist kein Satzzeichen, sondern ein Anführungsname.

(r) ››Der Strichpunkt‹‹ ist kein Name für den Strichpunkt, sondern ist ein Name für einen

bestimmten, sich in obiger Zeile befndlichen Ausdruck, der mit dem Ausdruck ›Der

Strichpunkt‹ gestaltgleich und in der Tat ein Name für den Strichpunkt ist, welch letzterer

allerdings kein Name, sondern ein Satzzeichen ist.

(s) ›Der Chinese des Schmerzes‹ ist ein literarisches Werk von Peter Handke.

(t) Das Buch mit dem Titel ›Der Chinese des Schmerzes‹ ist ein literarisches Werk von

Peter Handke.

(u) Jeder Ausdruck ist grammatisch korrekt.

(v) Es gibt keinen Ausdruck ohne Sinn.

(w) Die Gestalt eines Ausdrucks ist sein Sinn.

(x) Die Gestalt eines Ausdrucks, der aus Kreide besteht, besteht ebenfalls aus Kreide.

(y) Jeder Ausdruck ist ein physisches Ereignis: er hat einen zeitlichen Anfang, er hat ein

zeitliches Ende, er nimmt Raum ein.

(z) Die Gestalt eines Ausdrucks ist kein physisches Ereignis.

2014 2 AUSDRÜCKE, NAMEN, BEGRIFFE 39

2. Welche der folgenden Ausdrücke (a) bis (z) sind vermutlich Eigennamen, welche Kenn-

zeichnungen? Welche der Kennzeichnungen sind vermutlich korrekt, welche leer, welche un-

eindeutig? Welche Stellenzahl haben vermutlich die generellen Namen?

(a) Werk x ist von Person y zu Zeit t verfasst worden

(b) das Werk von Georg Trakl

(c) Karl Kraus

(d) der biologische Vater von Karl Kraus

(e) das Jahr 1936 nach Christus

(f) Karl Kraus starb im Jahr 1936.

(g) hat Geschwister

(h) ist Geschwister von

(i) x erinnert sich besser an y als an z

(j) der Autor des Buches mit dem Titel ›Eleganter Unsinn‹

(k) das Buch mit dem Titel ›Eleganter Unsinn‹

(l) x ist 30 Meter von y entfernt

(m) die Entfernung (Luftlinie) zwischen Graz und Linz

(n) die Gestalt des Ausdrucks ›Heinrich Mann‹

(o) die Menge aller Österreicher

(p) ist ein Österreicher

(q) Österreicher

(r) der Intelligenzquotient von Wolfgang Schüssel

(s) jener Ausdruck in der dritten Zeile oberhalb dieser, der mit dem Ausdruck ›Wolfgang

Schüssel‹ gestaltgleich ist

(t) jener Ausdruck in der dritten Zeile oberhalb dieser, der mit dem Ausdruck ›Wolfgang

Schüssel‹ gestaltgleich ist

(u) die Wirkung von Alkoholmissbrauch bei Jugendlichen

(v) ist eine Demokratie

(w) die Demokratie

(x) der Einfuss internationaler Firmen auf kleine Nationalstaaten

(y) der ältere Bruder von Thomas Mann

(z) jene Schwester von Thomas Mann, die den Freitod wählte

3. Welche von den folgenden Sätzen (a) bis (n) sind falsch? Warum?

(a) Jeder Ausdruck ist ein physisches Objekt.

(b) Jeder Ausdruck ist verschieden von seiner Gestalt.

(c) Jeder singuläre Name ist ein Eigenname.

(d) Jeder Beziehungsname ist eine Kennzeichnung.

(e) Alle junktorhaften Wörter sind synkategorematische Ausdrücke.

(f) Kein Hilfszeichen ist ein Name.

(g) Jede korrekte Kennzeichnung bezieht sich auf genau ein Objekt.

(h) Jede unkorrekte Kennzeichnung bezieht sich auf mehr als ein Objekt.

(i) Alle Anführungsnamen bezeichnen genau ein Objekt.

(j) Alle Anführungsnamen von generellen Namen sind singuläre Namen.

(k) Keine Abkürzung eines Namens ist ein Name für den abgekürzten Namen.

(l) Kein Fragezeichen ist ein Name.

(m) Das Fragezeichen ist ein singulärer Name.

(n) Der Ausdruck ›ein Fragezeichen‹ ist ein singulärer Name.

(o) Der Ausdruck ›das Fragezeichen‹ ist ein Anführungsname.

40 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

4. Welche der folgenden Sätze (a) bis (z) sind — unter strenger Rücksicht auf die Verwen-

dung bzw. Nichtverwendung von Anführungszeichen — wahr?

(a) ›Thrombose‹ ist ein Fachausdruck aus der Medizin.

(b) Verschleppte Thrombosen in den Waden können zu Lungeninfarkten führen.

(c) Das Fragezeichen ist verschieden vom Strichpunkt.

(d) In der Zeile oberhalb dieser befndet sich ein Fragezeichen.

(e) In der Zeile oberhalb dieser befndet sich ein Punkt.

(f) In der Zeile oberhalb dieser befndet sich der Ausdruck ›Punkt‹.

(g) ›UB‹ ist eine Abkürzung für ›Universitätsbibliothek‹.

(h) ›UB‹ ist ein einstelliger genereller Name für Universitätsbibliotheken.

(i) ›UB‹ ist ein Name für ›Universitätsbibliothek‹.

(j) Utilitarismus bezeichnet die Doktrin, dass die Nützlichkeit einer Handlung entscheidend

für ihre moralische Qualität ist.

(k) Oxygen ist ein anderes Wort für Sauerstoff.

(l) ›Oxygen‹ ist ein Name für ein lebenswichtiges Gas.

(m) ›Oxygen‹ ist Oxygen.

(n) ›Oxymoron‹ ist ein Oxymoron.

(o) Henri Beyle ist identisch mit Stendhal.

(p) ›Henri Beyle‹ ist identisch mit Stendhal.

(q) ›Henri Beyle‹ ist identisch mit ›Stendhal‹.

(r) ››Henri Beyle‹‹ ist ein Name für einen Namen von Stendhal.

(s) Der Autor von Le Rouge et le Noir war ein Bewunderer Napoleons.

(t) ›Der Autor von Le Rouge et le Noir‹ ist ein Anführungsname.

(u) Le Rouge et le Noir ist ein Roman.

(v) Die rechte runde Klammer ist eine Kennzeichnung.

(w) ›)‹ ist eine von Millionen rechter runder Klammern.

(x) Die Gestalt von ›)‹ ist identisch mit der rechten runden Klammer.

(y) ›Eine rechte runde Klammer‹ ist ein singulärer Name.

(z) ›Eine rechte runde Klammer‹ ist keine rechte runde Klammer.

5. Jonathan Culler verwendet in seinem einfussreichen Aufsatz „Was ist Theorie?“ Anfüh-

rungszeichen manchmal korrekt zur Bildung eines Anführungsnamens, manchmal nicht, obschon

es angebracht gewesen wäre, und manchmal, obwohl es nicht angebracht gewesen wäre.32 Bitte

versuchen Sie herauszufnden, was davon auf folgende drei Zitate aus seinem Aufsatz zutrifft.

(a) ›Theorie‹, so heißt es, habe die Literaturwissenschaft radikal verändert.

(b) Theorie in der Literaturwissenschaft meint also weder eine Erkundung des Wesens der Lite-

ratur noch ihrer Untersuchungsmethoden […]. Theorie meint vielmehr eine Anzahl von Überle-

gungen und Texten, deren gemeinsame Grenzen äußerst schwer bestimmbar sind. Der Philosoph

Richard Rorty hat diesbezüglich von einer Mischgattung gesprochen […].

(c) Der Begriff ›Theorie‹ hat sich einfach als bequemste Bezeichnung für eine solche Mischgat-

tung erwiesen, und zwar als Etikett für alle jene Schriften, denen es gelingt, das Denken auf an-

deren, offenbar auch wesensfremden Feldern herauszufordern und in neue Bahnen zu lenken.

6. Im erkenntnisgerichteten Gedankenaustausch sollten zumindest die wichtigsten Wörter in

(ungefähr) derselben Bedeutung verwendet werden. Diese methodologische Norm wird oft in

alltäglichen sowie in kultur- und gesellschaftswissenschaftlichen Auseinandersetzungen gröblich

32 Jonathan CULLER: „Was ist Theorie?“.—In: ders.: Literaturtheorie. Eine kurze Einführung.—Stuttgart:Reclam, 2002, 9–30. Siehe Seiten 9, 11, 12.

2014 2 AUSDRÜCKE, NAMEN, BEGRIFFE 41

verletzt. Versuchen Sie bitte herauszufnden, welcher Gesprächspartner was mit den jeweils zen-

tralen Wörtern in den folgenden vier künstlichen und vergleichsweise noch logisch durchsich-

tigen Dialogen (a) bis (d) vermutlich meint.

(a) Diskutant 1: In Lateinamerika sind es eindeutig die Kreolen, welche die politische

Macht haben. — Diskutant 2: Sie haben offenbar von den politischen Zuständen in Latein-

amerika keine Ahnung. Ist Ihnen denn nicht bekannt, dass dort gilt: Je dunkler die Haut-

farbe, desto geringer die politische Macht? — Diskutant 1: Dies ist mir durchaus bekannt.

— Diskutant 2: Wenn das so ist, dann müssen Sie farbenblind sein. — Diskutant 1: Ich

kann Ihnen nicht folgen. Im Übrigen bin ich nicht farbenblind. — Diskutant 2: Dann waren

Sie noch nie in Lateinamerika. Denn wenn Sie sich dort umsähen, würden Sie erkennen,

dass es eindeutig die Kreolen sind, welche die dunkelste Hautfarbe und somit am wenig–

sten politische Macht haben. — Diskutant 1: Ich gebe zu, dass Kreolen im Allgemeinen ein

wenig dunkler sind als solche Lateinamerikaner, deren Vorfahren, sagen wir, aus Skandi-

navien, England oder Deutschland eingewandert sind. Aber die Zahl der Lateinamerikaner

mit nord- und mitteleuropäischen Vorfahren ist vergleichsweise gering, die Kreolen konn-

ten sich deshalb, obschon ihre Hautfarbe geringfügig dunkler ist, gegen diese Gruppe der

Weißen voll durchsetzen. — Diskutant 2: Ihre Ignoranz verschlägt mir die Worte. Die Kre-

olen sind im Allgemeinen nicht bloß ein wenig dunkler als Lateinamerikaner mit weißen

Vorfahren, sondern sie sind gewöhnlich bei weitem dunkler als diese. Und augenscheinlich

konnten sich die Kreolen trotz ihrer immensen Überzahl bisher nicht gegen die weißen

Lateinamerikaner durchsetzen. — Diskutant 1: Langsam geht mir ein Licht auf. Ihr heftig

geäußerter Widerspruch trifft sachlich meine Anfangsbehauptung überhaupt nicht! Denn…

— Diskutant 2: Jetzt entlarven Sie sich aber nicht nur als Ignorant der lateinamerikani-

schen politischen Zustände, sondern auch der einfachsten logischen Beziehungen. Natür-

lich habe ich Ihnen widersprochen, und nicht nur das, ich habe Sie widerlegt, denn alles,

was ich gesagt habe, ist wahr. — Diskutant 1: Ich beginne, Ihrer Unhöfichkeit und Ver-

bohrtheit überdrüssig zu werden. Haben Sie keinen einzigen Gedanken darauf verschwen-

det, dass ich, einem verbreiteten Sprachgebrauch folgend, mit dem Ausdruck ›Kreolen‹ die

Nachkommen weißer romanischer Einwanderer nach Mittel- und Südamerika meinen

könnte, während Sie offenbar mit diesem Ausdruck, einem anderen verbreiteten Sprachge-

brauch folgend, auf die Nachkommen von Negersklaven Bezug nehmen? — Diskutant 2:

Aber ich weiß doch, worüber ich rede! Wenn ich über Kreolen rede, dann rede ich über

Kreolen. — Diskutant 1: Ein wahres Wort! Doch wollten Sie mich widerlegen. Dafür

genügt es aber nicht, dass Sie wissen, worüber Sie reden; Sie sollten auch wissen, worüber

ich geredet habe. Als ich zu Beginn unseres Gesprächs sagte, in Lateinamerika seien es

eindeutig die Kreolen, welche die politische Macht haben, dann meinte ich natürlich, dass

in Lateinamerika nach wie vor die Nachfahren der portugiesischen, spanischen, franzö-

sischen und italienischen Einwanderer am meisten politische Macht haben; ich meinte

nicht, wie Sie unrefektiert unterstellten, dass in Lateinamerika nach wie vor die Nachfah-

ren der Negersklaven am meisten politische Macht haben. Deshalb widersprachen Sie

meiner Behauptung nicht im geringsten, als Sie mir erwiderten, dass die Kreolen keines-

wegs die politische Macht haben, denn Sie sagten ja damit nichts weiter, als dass die

Nachkommen der Negersklaven nicht die politische Macht haben. Das ist durchaus wahr,

es folgt sogar aus meiner Behauptung, statt ihr zu widersprechen. Mein lieber Herr, wir

haben unsere Zeit damit vergeudet, aneinander vorbeizureden. Überlassen wir diesen Zeit-

vertreib jenen Leuten, die dafür bezahlt werden. Leben Sie wohl!

(b) Diskutant 1: Der Großteil der Frauenliteratur ist trivial und naiv-affrmativ. Denken Sie

nur an Marlitt, Courths-Mahler und Vicki Baum. — Diskutant 2: So viel Falsches in so

42 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

wenigen Worten habe ich selten gehört. Erstens ist die gesamte Frauenliteratur non-trivial

und keineswegs affrmativ. Denken Sie nur an Alice Schwarzer, wenn Ihnen der Name

schon mal untergekommen sein sollte. Zweitens zählen die Arbeiten von Marlitt und Co.

nicht zur Frauenliteratur. Eignen Sie sich die literaturwissenschaftliche Fachsprache an,

bevor Sie über Literatur zu sprechen beginnen!

(c) Diskutant 1: Unsere Untersuchungen im höheren Management bedeutender deutscher

Firmen haben eindeutig ergeben, dass der deutsche höhere Manager ein typischer Klein-

bürger ist. — Diskutant 2: Als Soziologe sollten Sie wissen, dass jeder Kleinbürger der B-

Schicht angehört und dass faktisch keine einzige Person im höheren Management irgend-

einer deutschen Firma so wenig verdient, um da reinzugehören. — Diskutant 1: Ich weiß

durchaus, was ein Kleinbürger ist, aber ich sehe, Sie brauchen ein klein wenig Nachhilfe-

unterricht. Also sage ich Ihnen gerne im Detail, was wir rausgefunden haben: der deutsche

höhere Manager legt großen Wert auf Ordnung, Pünktlichkeit, Sauberkeit und Sparsamkeit,

ist amusisch, autoritätsgläubig und kulturell wenig interessiert. Jetzt sind Sie baff? —

Diskutant 2: Ja, aber aus einem anderen Grund, als Sie meinen. Ich bin verblüfft, dass Sie

offenbar keine Ahnung davon haben, was ein Kleinbürger ist. Vielleicht liegt das daran,

dass Sie nicht wissen, wann eine Person zur B-Schicht zu zählen ist. — Diskutant 1: Das

weiß ich besser als Sie, schließlich habe ich Soziologie cum laude abgeschlossen. Ein B-

Schichtler hat ein Nettojahreseinkommen von wenigstens 150.000 und höchstens 250.000

Schilling und ein Gesamtvermögen von weniger als 3 Millionen Schilling. Stimmt doch?

Ich unterstelle mal, Sie können das in Mark umrechnen. — Diskutant 2: Beides richtig.

Daraus ergibt sich klar, dass kein höherer deutscher Manager ein Kleinbürger ist. Geben

Sie das endlich zu? — Diskutant 1: Nichts gebe ich zu. Ich gebe auf.

(d) Diskutant 1: Der Begriff „Sigmund Freud“ ist ein Eigenname, während der Begriff „der

Begründer der Psychoanalyse“ eine Kennzeichnung ist. Also sind beide Begriffe singuläre

Namen, und zwar zwei verschiedene singuläre Namen für ein und dasselbe Objekt. Dieses

ist natürlich von jenen verschieden. Stimmen Sie mir soweit zu? — Diskutant 2: Nicht

ganz. Es ist zwar trivial wahr, dass die Person Sigmund Freud sowohl von dem Begriff

„Sigmund Freud“ als auch von dem Begriff des Begründers der Psychoanalyse verschieden

ist. Aber das ist so aus einem anderen Grund, als Sie vermuten. Der Begriff „Sigmund

Freud“ ist zwar ein Singulärbegriff, weil seine Extension eine Einermenge ist, aber deshalb

ist er noch lange kein singulärer Name, denn er ist ja identisch mit der Menge aller

Eigenschaften des Sigmund Freud, und sowohl Sigmund Freud als auch sein Name sind

etwas anderes als eine Menge von Eigenschaften. Ditto für den Begriff des Begründers der

Psychoanalyse, aber weil Sie ein wenig verdutzt dreinschauen, formuliere ich die Sache

mal lieber aus. Der Begriff des Begründers der Psychoanalyse ist zwar ein Singulärbegriff,

weil seine Extension eine Einermenge ist, aber deshalb ist er mitnichten ein singulärer

Name, denn er ist ja identisch mit der Menge, deren einziges Element die für Sigmund

Freud charakteristische Eigenschaft ist, Begründer der Psychoanalyse zu sein, und wieder

gilt natürlich, dass weder Sigmund Freud noch der Ausdruck „der Begründer der Psycho-

analyse“ identisch mit dieser Menge sind. Nebenbei sollte offensichtlich geworden sein,

dass Begriffe keine Namen und somit keineswegs sprachliche Ausdrücke, sondern Mengen

von Eigenschaften sind. Klar? — Diskutant 3: Sie liegen beide daneben. Dabei ist es so

einfach. Der Begriff Sigmund Freud ist das Referenzobjekt des Eigennamens „Sigmund

Freud“, und das ist nichts anderes als der gute alte Freud selbst. Genau so einfach geht es

weiter: der Begriff des Begründers der Psychoanalyse ist das Referenzobjekt der Kenn-

zeichnung „der Begründer der Psychoanalyse“, und das ist wieder nichts anderes als der

gute alte Freud selbst. Folglich: Der Begriff „Sigmund Freud“ ist identisch mit dem Begriff

2014 2 AUSDRÜCKE, NAMEN, BEGRIFFE 43

des Begründers der Psychoanalyse, und beide Begriffe sind identisch mit der Person Sig-

mund Freud. — Diskutant 1 und Diskutant 2: Ungeheuerlich, Sie verwechseln die Exten-

sion eines Begriffs mit seinem Referenzobjekt, ein grober Kategorienfehler! Wo haben Sie

denn Wissenschaftstheorie studiert? Dürfen wir Sie darauf aufmerksam machen, dass die

Extension eines Begriffs die Menge aller Objekte ist, auf die er zutrifft? Folglich: die

Extension des Begriffs „Sigmund Freud“ ist nicht Sigmund Freud, sondern jene Menge,

deren einziges Element Sigmund Freud ist; und die Extension des Begriffs des Begründers

der Psychoanalyse ist nicht der Begründer der Psychoanalyse, sondern jene Menge, deren

einziges Element der Begründer der Psychoanalyse ist. Folglich (Logik werden Sie ja wohl

gehabt haben): nur die Extensionen der genannten Begriffe sind miteinander identisch,

keineswegs sind diese Begriffe oder ihre Extensionen mit der Person Sigmund Freud

identisch. —Diskutant 3: Wenn Sie schon auf Logik anspielen, dann möchte ich Sie darauf

hinweisen, dass in der Quineschen Mengenlehre Einermengen und Individuen dasselbe

sind. — Zuhörerin: Das ist ja nicht zum Aushalten. Es ist mir unbegreifich, dass Sie alle,

ohne einzuhalten, mit demselben Wort über zwar verschiedene, aber eng zusammen-

hängende Dinge daherreden. Sie machen sich keinen Begriff davon, wie verwirrend das ist.

Was mich angeht, werde ich den Begriff „Begriff“ nicht mehr verwenden. Ich hoffe, Sie

können das begreifen.

7. Versuchen Sie herauszufnden, in welcher Weise die jeweiligen Ausdrücke von der Gestalt

des Ausdrucks ›Begriff‹ in den folgenden Sätzen gebraucht werden.

(a) Die Psychoanalytiker gebrauchen den Begriff der Rationalisierung in einem anderen

Sinn als die Ökonomen.

(b) Der Begriff des Leptosomen ist die Menge der erwachsenen Menschen mit vergleichs-

weise hohem Wuchs, schlankem Körperbau und zartem Knochengerüst.

(c) Während der Begriff der Rationalisierung aus dem Lateinischen kommt, hat der des

Leptosomen eine altgriechische Wurzel.

(d) Die Germanisten gebrauchen den Begriff der Neuromantik als eine vage Sammel-

bezeichnung für jene literarischen Gegenströmungen zum materialistischen Naturalismus,

die etwa zwischen 1890 und 1920 in Deutschland und Österreich entstanden und ver-

gangen sind.

(e) Der Begriff der Neuromantik enthält die Eigenschaften, antimaterialistisch und anti-

naturalistisch zu sein.

(f) Im Begriff des Mythos ist der Bezug auf das Übernatürliche unabdingbar eingeschlos-

sen.

(g) Fragt man die Leute, kommt man sofort drauf, dass sie einen vagen Begriff der Demo-

kratie haben.

(h) Der Begriff der transitiven Relation umfasst solche Relationen R, für die gilt: wenn x in

der Relation R zu y steht und wenn y in der Relation R zu z steht, dann steht x auch in der

Relation R zu z.

(i) Der Begriff der Tatsache ist doppeldeutig.

8. Bitte geben Sie an, in welchen Beziehungen die folgenden Begriffe (= Objektmengen) zu-

einander stehen.

(a) der Begriff des Fingers, der Begriff der Hand

(b) der Begriff der Lyrik, der Begriff der Dichtung

(c) der Begriff der romanischen Sprache, der Begriff der lateinamerikanischen Sprache

(d) der Begriff des Lebewesens mit Nieren, der Begriff des Lebewesens mit Herz

44 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

(e) der Begriff des Buches, der Begriff des Schriftwerks

(f) der Begriff der Zahl, der Begriff der Diktatur

(g) der Begriff der Straftat, der Begriff der nicht durch Freiheitsentzug bedrohten Handlung

(h) der Begriff der blaublütigen Blume, der Begriff der rotblütigen Blume

(i) der Begriff des Ausdrucks, der Begriff des physischen Objekts

(j) der Begriff des Mythos, der Begriff der Sage

(k) der Begriff des Fragezeichens, der Begriff des Namens

(l) der Begriff des singulären Namens, der Begriff des generellen Namens

9. Bitte versuchen Sie, in Ihrem Fach einen Ausdruck zu fnden, der wie ein klassifkatori-

scher Begriff aussieht, und überlegen Sie sich, ob er wirklich einer ist. Gehen Sie dabei so vor:

Bringen Sie ein paar typische Beispiele, auf die der Ausdruck zutrifft. Fragen Sie sich nun: Han-

delt es sich überhaupt um einen Ausdruck, der sich auf die Form ›x ist [zu Zeit t am Ort o] ein P‹

bringen lässt? Wenn ja, worüber läuft die Individuenvariable ›x‹? (M.a.W.: Was ist die Grund-

menge?) Lässt sich intersubjektiv nachvollziehbar von jedem fraglichen x feststellen, ob der

jeweilige Fachausdruck auf x zutrifft? (M.a.W.: Ist der Vagheitsbereich des gewählten Fach-

ausdrucks aus Sicht der Fachleute leer oder beinahe leer? Kann man somit die Dinge, auf die der

betreffende Fachausdruck zutrifft, zählen?) Wenn ja, dann (und nur dann) ist der untersuchte

Ausdruck ein klassifkatorischer Begriff.

10. Bitte versuchen Sie, in Ihrem Fach ein Paar von Komparativen zu fnden, die Ihrer Ansicht

nach begründetermaßen einen komparativen Begriff bezüglich der jeweils intendierten Gegen-

standsmenge M bilden! Bitte versuchen Sie, in Ihrem Fach ein Paar von Komparativen zu fnden,

die Ihrer Ansicht nach begründetermaßen keinen komparativen Begriff bezüglich der jeweils

intendierten Gegenstandsmenge M bilden!

11. Bitte versuchen Sie, in Ihrem Fach einen Ausdruck der Form ›die Pzität von‹ zu fnden, der

Ihrer Ansicht nach begründetermaßen ein reliabler, eventuell auch valider und theoretisch frucht-

barer metrischer Begriff ist! Bitte versuchen Sie, in Ihrem Fach einen pseudo-metrischen Begriff

zu fnden!

12. Bitte versuchen Sie, in Ihrem Fach

(a) eine korrekte Einteilung zu fnden,

(b) eine unkorrekte Einteilung zu fnden,

(c) eine angebliche Einteilung zu fnden, die unter jeder Kritik ist.

2.7 LÖSUNGEN DER ÜBUNGEN ZUM 2. KAPITEL

1. Es treffen die folgenden Sätze zu:

(b) (c) (d)

(e) (f) (g)

(i) (j) (m)

(n) (o) (p)

(r) (t) (y)

(z)

2014 2 AUSDRÜCKE, NAMEN, BEGRIFFE 45

2. Antworten:

(a) dreistelliger genereller Name

(b) auf jeden Fall eine Kennzeichnung; wenn ›Werk‹ soviel heißt wie ›Gesamtwerk‹, dann eine

korrekte Kennzeichnung

(c) Eigenname

(d) korrekte Kennzeichnung

(e) korrekte Kennzeichnung

(f) (wahrer) Aussagesatz, somit kein singulärer oder genereller Name

(g) einstelliger genereller Name

(h) zweistelliger genereller Name

(i) dreistelliger genereller Name

(j) uneindeutige und somit unkorrekte Kennzeichnung

(k) korrekte Kennzeichnung

(l) zweistelliger genereller Name

(m) korrekte Kennzeichnung

(n) korrekte Kennzeichnung

(o) korrekte Kennzeichnung

(p) einstelliger genereller Name

(q) einstelliger genereller Name oder Eigenname; ohne Kontext nicht zu entscheiden

(r) korrekte Kennzeichnung

(s) leere und somit unkorrekte Kennzeichnung

(t) korrekte Kennzeichnung

(u) uneindeutige und somit unkorrekte Kennzeichnung

(v) einstelliger genereller Name

(w) Eigenname (für eine Staatsform)

(x) uneindeutige und somit unkorrekte Kennzeichnung

(y) korrekte Kennzeichnung33

(z) uneindeutige und somit unkorrekte Kennzeichnung34

3. Die falschen Sätze sind:

(c) Denn z.B. ist ›der jüngere Bruder von Thomas Mann‹ ein singulärer Name, der aber kein

Eigenname, sondern eine Kennzeichnung ist.35

(d) Denn z.B. ist ›liegt südlich von‹ ein Beziehungsname, aber keine Kennzeichnung. (In der

Tat ist kein einziger Beziehungsname eine Kennzeichnung.)

(h) Denn z.B. ist ›die Ehefrau Isaac Newtons‹ eine (leere und somit) unkorrekte Kennzeich-

nung.36

(m) Denn das Fragezeichen ist ein Hilfszeichen, kein Name.

(n) Denn ›ein Fragezeichen‹ ist ein (einstelliger) genereller, kein singulärer Name.

(o) Denn weder beginnt der unter französische Anführungszeichen gesetzte Ausdruck mit

einem französischen Anführungszeichen, noch endet er mit einem solchen.

33 Thomas Mann (1875–1955, Nobelpreis für Literatur 1929) hatte genau einen älteren Bruder, nämlichHeinrich Mann (1871–1950).34 Thomas Mann hatte zwei Schwestern, Julia und Carla; Julia erhängte sich 1927 in ihrem fünfzigstenLebensjahr, Carla tötete sich 1910 neunundzwanzigjährig mit einer Dosis Zyankali.35 Diese Kennzeichnung ist übrigens korrekt, denn Thomas Mann hatte genau einen jüngeren Bruder, näm-lich Viktor Mann (1890–1949).36 Isaac Newton (1642–1727), einer der bedeutendsten Physiker in der bisherigen Menschheitsgeschichte,war niemals verheiratet.

46 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

4. Die wahren Sätze sind:

(a) (b) (c)

(e) (g) (h)

(l) (n)37 (o)

(r) (s) (u)

(w) (x) (z)

5. Jonathan Culler hätte — aus wissenschaftstheoretischer Sicht — besser geschrieben:

(a) Theorien, so heißt es, hätten die Literaturwissenschaft radikal verändert.

(b) Die meisten Ausdrücke von der Gestalt des generellen Namens ›Theorie‹ bezeichnen in der

Literaturwissenschaft also weder eine Erkundung des Wesens der Literatur noch ihrer Untersuchungs-

methoden […]. Sie bezeichnen vielmehr eine Anzahl von Überlegungen und Texten, deren gemein-

same Grenzen äußerst schwer bestimmbar sind. Der Philosoph Richard Rorty betrachtet deshalb

Theorien in der Literaturwissenschaft als Mischgattungen […].

(c) Mit ›Theorie‹ gestaltgleiche Ausdrücke haben sich einfach als bequemste Bezeichnung für eine

solche Mischgattung erwiesen, und zwar als Etikett für alle jene Schriften, denen es gelingt, das

Denken auf anderen, offenbar auch wesensfremden Feldern herauszufordern und in neue Bahnen zu

lenken.

6. Vermutlich haben die Gesprächspartner jeweils Folgendes gemeint:

(a) Diskutant 1 bezeichnet mit seinen Ausdrücken, die von der Gestalt des einstelligen generellen

Namens ›Kreole‹ sind, die Nachkommen weißer romanischer Einwanderer nach Mittel- und Süd-

amerika. — Diskutant 2 bezeichnet mit seinen Ausdrücken, die mit ›Kreole‹ gestaltgleich sind, die in

Mittel- und Südamerika lebenden Nachkommen von Negersklaven.

Diskutant 1 hat Recht, denn die Nachkommen weißer romanischer Einwanderer nach Mittel- und

Südamerika haben in Brasilien die Macht. Diskutant 2 hat Recht, denn die in Brasilien lebenden

Nachkommen von Negersklaven haben dort nicht die Macht. Diskutant 1 und 2 haben also einander

nicht widersprochen. Nur Diskutant 1 ist dessen gewahr geworden.

(b) Diskutant 1 bezeichnet vermutlich mit seinen Ausdrücken, die von der Gestalt des singulären

Namens ›die Frauenliteratur‹ sind, die Menge aller von Frauen für Frauen geschriebenen schön-

geistigen Texte, die nach Absicht der Autorinnen unterhaltsam, zumindest ein wenig sentimental und

vor allem gesellschaftskonform sein sollen. — Diskutant 2 bezeichnet vermutlich mit seinen

Ausdrücken, die von der Gestalt des Ausdrucks ›die Frauenliteratur‹ sind, die Menge aller von Frauen

für Frauen geschriebenen schöngeistigen Texte, die nach Absicht der Autorinnen emanzipatorisch sein

sollen.

Diskutant 1 und 2 haben beide recht, aber der besserwisserische und dominanzorientierte Diskutant 2

will darüber hinwegtäuschen, dass Diskutant 1 recht hat, wenn man gemäß der Regel der wohlwol -

lenden Interpretation naheliegenderweise unterstellt, dass Diskutant 1 seine mit ›die Frauenliteratur‹

gestaltgleichen Ausdrücke eben in einem ganz anderen Sinn verwendet als Diskutant 2 die seinen.

Denn in der Tat ist der Großteil aller von Frauen für Frauen geschriebenen schöngeistigen Texte, die

nach Absicht der Autorinnen unterhaltsam, zumindest ein wenig sentimental und vor allem gesell -

schaftskonform sein sollen, trivial und naiv-affrmativ. Dies hat Diskutant 1 behauptet und nicht (wie

Diskutant 2 rhetorisch geschickt unterstellt), der Großteil aller von Frauen für Frauen geschriebenen

schöngeistigen Texte, die nach Absicht der Autorinnen emanzipatorisch sein sollen, seien trivial und

naiv-affrmativ. Statt klarzustellen, dass Diskutant 1 recht hat, wenn man seine mit ›die Frauen-

37 ›Oxymoron‹ kommt aus dem Altgriechischen; es heißt ungefähr soviel wie ›klugdumm‹.

2014 2 AUSDRÜCKE, NAMEN, BEGRIFFE 47

literatur‹ gestaltgleichen Ausdrücke so wie Diskutant 1 versteht, und dass Diskutant 2 recht hat, wenn

man seine mit ›die Frauenliteratur‹ gestaltgleichen Ausdrücke so wie Diskutant 2 versteht, fordert

Diskutant 2 — wieder rhetorisch geschickt — Diskutant 1 energisch und herablassend auf, nicht über

Literatur zu reden, wenn er — wie scheinbar offensichtlich — die literaturwissenschaftliche Termi-

nologie nicht kennt. Diskutant 2 unterstellt dabei als selbstverständlich, dass seine Gebrauchsweise

von Ausdrücken, die mit ›die Frauenliteratur‹ gestaltgleich sind, die in Fachkreisen übliche und einzig

zugelassene ist. Das Gespräch ist somit dank Diskutant 2 nicht mehr auf Erkenntnis über den Gegen-

standsbereich, sondern auf Sieg über den Gesprächspartner gerichtet: Diskutant 2 behält denn auch

das letzte Wort, Diskutant 1 erscheint als Ignorant.

(c) Diskutant 1 bezeichnet mit seinen Ausdrücken von der Gestalt des Ausdrucks ›Kleinbürger‹

solche Personen, die großen Wert auf Ordnung, Pünktlichkeit, Sauberkeit und Sparsamkeit legen

sowie amusisch, autoritätsgläubig und kulturell wenig interessiert sind. — Diskutant 2 bezeichnet mit

seinen Ausdrücken von der Gestalt des Ausdrucks ›Kleinbürger‹ solche Personen, die einkommens-

mäßig der B-Schicht angehören.

Wieder haben beide Diskutanten recht, aber nur Diskutant 1 scheint das zu kapieren.

(d) Diskutant 1 verwendet seine mit ›Begriff‹ gestaltgleichen Ausdrücke im Sinne von ›Name‹. —

Diskutant 2 verwendet seine mit ›Begriff‹ gestaltgleichen Ausdrücke im Sinne von ›Intension eines

Namens‹. — Diskutant 3 verwendet seine mit ›Begriff‹ gestaltgleichen Ausdrücke im Sinne von

›Extension eines Namens‹.

Die drei Diskutanten widersprechen einander nur scheinbar, sie reden aneinander vorbei, aber anders

als der Pferdeliebhaber und der Münzensammler in der Rappen-Anekdote bemerken sie es nicht.

7. Hier die passend reformulierten Beispielsätze:

(a) Die Psychoanalytiker gebrauchen mit ›Rationalisierung‹ gestaltgleiche Ausdrücke in einem an-

deren Sinn als die Ökonomen.

(b) Die Menge der Leptosomen ist identisch mit der Menge der erwachsenen Menschen mit ver-

gleichsweise hohem Wuchs, schlankem Körperbau und zartem Knochengerüst.

(c) Während jeder mit ›Rationalisierung‹ gestaltgleiche Ausdruck aus dem Lateinischen kommt, hat

jeder mit ›Leptosomer‹ gestaltgleiche Ausdruck eine altgriechische Wurzel.

(d) Die Germanisten gebrauchen Ausdrücke, die mit dem Terminus ›die Neuromantik‹ gestaltgleich

sind, meist als eine vage Sammelbezeichnung für jene literarischen Gegenströmungen zum ma-

terialistischen Naturalismus, die etwa zwischen 1890 und 1920 in Deutschland und Österreich ent -

standen und vergangen sind.

(e) Zur defnitorischen Intension der meisten (fast aller? aller?) Ausdrücke, die mit dem singulären

Namen ›die Neuromantik‹ gestaltgleich sind, gehören die Eigenschaften, antimaterialistisch und

antinaturalistisch zu sein.

(f) Zur defnitorischen Intension eines Großteils jener Ausdrücke, die mit dem generellen Namen

›Mythos‹ gestaltgleich sind, gehört unabdingbar die Eigenschaft, sich auf das Übernatürliche zu

beziehen.

(g) Fragt man die Leute, kommt man sofort drauf, dass sie von vielen Staaten unsicher sind, ob der

generelle Name ›ist eine Demokratie‹ auf sie zutrifft.

(h) Die Menge der transitiven Relationen umfasst solche und nur solche Relationen R, für die gilt:

wenn x in der Relation R zu y steht und wenn y in der Relation R zu z steht, dann steht x auch in der

Relation R zu z.

(i) Die meisten Ausdrücke, die mit dem generellen Name ›Tatsache‹ gestaltgleich sind, sind doppel -

deutig.

48 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

8. Es bestehen die folgenden Beziehungen zwischen den Begriffen (=Namensextensionen):

(a) Der Begriff des Fingers ist umfangreicher als der Begriff der Hand, denn es gibt mehr Finger als

Hände. Der Begriff des Fingers ist nicht enger als der Begriff der Hand, denn es gibt Finger, die keine

Hände sind. Der Begriff des Fingers ist nicht weiter als der Begriff der Hand, denn es gibt Hände, die

keine Finger sind. Der Begriff des Fingers ist deshalb verschieden von dem Begriff der Hand. Der

Begriff des Fingers ist unverträglich mit dem Begriff der Hand, denn kein Finger ist eine Hand. Der

Begriff des Fingers ist konträr zum Begriff der Hand innerhalb des Begriffs der Körperteile, denn

einerseits ist kein Körperteil, der ein Finger ist, eine Hand, und anderseits gibt es Körperteile, die

weder Finger noch Hände sind. Der Begriff des Fingers ist nicht kontradiktorisch zum Begriff der

Hand innerhalb des Begriffs der Körperteile, denn es ist kein Körperteil, der ein Finger ist, eine Hand,

aber es gibt eben Körperteile, die weder Finger noch Hände sind.

(b) Der Begriff der Dichtung ist umfangreicher als der Begriff der Lyrik, denn es gibt mehr

dichterische als lyrische Werke.38 Der Begriff der Lyrik ist enger als der Begriff der Dichtung, denn

jedes lyrische Werk ist ein dichterisches, aber nicht jedes dichterische ein lyrisches. Der Begriff der

Dichtung ist somit weiter als der der Lyrik und verschieden von dem der Lyrik. Der Begriff der

Dichtung ist verträglich mit dem der Lyrik, denn es gibt dichterische Werke, die lyrische Werke sind.

Der Begriff der Dichtung ist somit weder konträr noch kontradiktorisch zum Begriff der Lyrik

innerhalb des Begriffs etwa des Sprachkunstwerks.

(c) Der Begriff der romanischen Sprache ist umfangreicher als der Begriff der lateinamerikanischen

Sprache, den es gibt mehr romanische als lateinamerikanische Sprachen.39 Der Begriff der latein-

amerikanischen Sprache ist enger als der der romanischen Sprache, denn zwar ist jede lateinameri-

kanische Sprache romanisch, aber nicht jede romanische lateinamerikanisch. Der Begriff der romani-

schen Sprache ist somit weiter als der der lateinamerikanischen Sprache und verschieden von dem der

lateinamerikanischen Sprache. Der Begriff der lateinamerikanischen Sprache ist verträglich mit dem

der romanischen Sprache, denn es gibt lateinamerikanische Sprachen, die romanisch sind. Der Begriff

der lateinamerikanischen Sprache ist somit weder konträr noch kontradiktorisch zum Begriff der

romanischen Sprache innerhalb des Begriffs der Sprache.

(d) Der Begriff des Menschen mit Nieren ist nicht umfangreicher als der Begriff des Menschen mit

Herz, und umgekehrt.40 Der Begriff des Menschen mit Nieren ist nicht enger als der Begriff des

Menschen mit Herz, denn zwar hat jeder Mensch mit Nieren auch ein Herz, aber es gibt keinen

Menschen mit Herz, der keine Nieren hat. Der Begriff des Menschen mit Nieren ist nicht weiter als

der Begriff des Menschen mit Herz, denn zwar ist jeder Mensch mit Herz auch einer mit Nieren, aber

jeder Mensch mit Nieren ist auch einer mit Herz. Der Begriff des Menschen mit Nieren ist somit

identisch mit dem Begriff des Menschen mit Herz. Der Begriff des Menschen mit Nieren ist verträg-

lich mit dem Begriff des Menschen mit Herz, denn es gibt Menschen mit Nieren, die auch Menschen

mit Herz sind. Der Begriff des Menschen mit Nieren ist somit weder konträr noch kontradiktorisch

zum Begriff des Menschen mit Herz innerhalb des Begriffs des Menschen.

38 Wir zählen hier zum Begriff der Dichtung neben den lyrischen Werken auch die epischen und drama-tischen.39 Wir zählen hier zu den lateinamerikanischen Sprachen nur jene romanischen Sprachen, die in Süd- undMittelamerika gesprochen werden.40 Wir unterstellen hier, dass der folgende Satz ein biologisches Gesetz ist: ›Jeder Mensch hat angebore-nerweise genau dann mindestens ein Herz, wenn er angeborenerweise mindestens eine Niere hat.‹.

2014 2 AUSDRÜCKE, NAMEN, BEGRIFFE 49

(e) Der Begriff des Schriftwerks ist umfangreicher als der des Buches, denn es gibt mehr Schrift-

werke als Bücher. Der Begriff des Buches ist enger als der des Schriftwerks, denn jedes Buch ist ein

Schriftwerk, aber nicht jedes Schriftwerk ein Buch (etwa sind Flugblätter keine Bücher). Somit ist der

Begriff des Schriftwerks weiter als der des Buches und verschieden von dem des Buches. Der Begriff

des Buches ist verträglich mit dem des Schriftwerks, denn es gibt Bücher, die Schriftwerke sind.

Somit ist der Begriff des Buches weder konträr noch kontradiktorisch zum Begriff des Schriftwerks

innerhalb des Begriffs etwa der Datenträger.

(f) Der Begriff der Zahl ist umfangreicher als der Begriff der Diktatur, denn es gibt mehr Zahlen als

Diktaturen. Der Begriff der Zahl ist weder enger noch weiter als der Begriff der Diktatur, denn

einerseits ist nicht jede Zahl eine Diktatur und anderseits ist nicht jede Diktatur eine Zahl. Somit ist

der Begriff der Zahl verschieden von dem der Diktatur. Der Begriff der Zahl ist unverträglich mit dem

der Diktatur, denn es gibt keine Zahl, die eine Diktatur ist. Der Begriff der Zahl ist konträr und somit

nicht kontradiktorisch zum Begriff der Diktatur in der Menge aller möglichen Objekte, denn einerseits

ist der Begriff der Zahl unverträglich mit dem Begriff der Diktatur und anderseits ergeben die Zahlen

zusammen mit den Diktaturen nicht die ganze Menge aller möglichen Objekte (z.B. gibt es ja unter

den möglichen Objekten, die weder Zahlen noch Diktaturen sind, Kachelöfen, Wale, Ziegelsteine,

Asteroiden, Langnasenaffen, Viren, Rotbuchen, Universitäten, usw. usw.).

(g) Der Begriff der nicht durch Freiheitsentzug bedrohten Handlung ist umfangreicher als der Begriff

der Straftat, denn es gibt mehr Handlungen, die nicht durch Freiheitsentzug bedroht sind, als es

Straftaten gibt.41 Der Begriff der nicht durch Freiheitsentzug bedrohten Handlung ist weder enger

noch weiter als der Begriff der Straftat, denn einerseits gibt es Handlungen, die weder durch Freiheits-

entzug bedroht noch Straftaten sind, und anderseits gibt es Straftaten, die durch Freiheitsentzug be-

drohte Handlungen sind. Somit ist der Begriff der nicht durch Freiheitsentzug bedrohten Handlung

verschieden vom Begriff der Straftat. Der Begriff der nicht durch Freiheitsentzug bedrohten Handlung

ist verträglich mit dem Begriff der Straftat, denn es gibt Straftaten (z.B. fahrlässiger Weiterverkauf

von Schmuggelgut), die bloß durch Geldstrafen (und nicht auch durch Freiheitsentzug) bedroht sind.

Der Begriff der nicht durch Freiheitsentzug bedrohten Handlung ist somit weder kontradiktorisch

noch konträr zum Begriff der Straftat innerhalb des Begriffs der Handlung. — (g) hat eine andere

Lösung, wenn man ›Straftat‹ in einem strengen, ebenfalls gebräuchlichen Sinn verwendet. Danach

werden mit ›Straftat‹ solche und nur solche Handlungen bezeichnet, die im österreichischen Straf-

gesetzbuch durch eine Strafe bedroht sind. Das Strafgesetzbuch umfasst nun aber nur das sogenannte

Gerichtsstrafrecht, das Mord, Totschlag, schwere Körperverletzung, erpresserische Entführung u.ä.m.

behandelt. Das Strafgesetzbuch umfasst nicht auch das Verwaltungsstrafrecht und nicht die sogenann-

ten strafrechtlichen Nebengesetze und Strafbestimmungen in anderen Gesetzen. Nun ist es, wie eine

Durchsicht des Strafgesetzbuches zeigt, faktisch so (es könnte durchaus auch anders sein, aber es ist

nun einmal so), dass jede Handlung, die im Strafgesetzbuch durch eine Strafe bedroht ist, entweder

durch eine Freiheitsstrafe allein oder durch eine Freiheitsstrafe zusammen mit einer alternativen

Geldstrafe bedroht ist (die gängige Phrase folgt dem Schema ›... ist mit einer so und so langen Frei-

heitsstrafe oder mit Geldstrafe von so und so viel Tagessätzen zu bestrafen‹). Somit gilt: Jede Straftat

im strengen Sinn des Wortes ist eine durch Freiheitsentzug bedrohte Handlung. Somit gilt auch: Der

Begriff der nicht durch Freiheitsentzug bedrohten Handlung ist unverträglich mit dem Begriff der

Straftat im strengen Sinn des Wortes. Und somit gilt auch: Der Begriff der nicht durch Freiheitsentzug

41 Unter ›Straftaten‹ versteht man im österreichischen Recht grob gesagt solche Handlungen, die gemäßösterreichischem Recht mit einer Strafe bedroht sind; die angedrohte Strafe ist meist eine Freiheits- oderGeldstrafe, manchmal auch (etwa im Finanzstrafrecht) der Verfall von Produktionsmitteln und Waren desTäters an den Staat oder (etwa im Verwaltungsstrafrecht) der Entzug einer Erlaubnis, z.B. der Erlaubnis,ein Automobil zu lenken.

50 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

bedrohten Handlung ist konträr zum Begriff der Straftat im strengen Sinn des Wortes innerhalb des

Begriffs der Handlung, denn einerseits gibt es keine Straftat im strengen Sinn des Wortes, die nicht

durch Freiheitsentzug bedroht ist, und anderseits gibt es Handlungen, die zwar durch Freiheitsentzug

bedroht sind, aber keine Straftaten im strengen Sinn des Wortes sind (z.B. ist nach § 35 des Militär-

strafgesetzes ein Vorgesetzter, der einen Untergebenen entwürdigend behandelt, mit bis zu zwei

Jahren Freiheitsentzug zu bestrafen).

(h) Der Begriff der blaublütigen Blume ist umfangreicher als der Begriff der rotblütigen Blume, falls

es mehr blaublütige als rotblütige Blumen gibt. Der Begriff der blaublütigen Blume ist weder enger

noch weiter als der Begriff der rotblütigen Blume, denn einerseits gibt es blaublütige Blumen, die

nicht rotblütig sind, und anderseits gibt es rotblütige Blumen, die nicht blaublütig sind. Der Begriff

der blaublütigen Blume ist somit verschieden vom Begriff der rotblütigen Blume. Der Begriff der

blaublütigen Blume ist unverträglich mit dem Begriff der rotblütigen Blume, denn keine blaublütige

Blume ist rotblütig. Der Begriff der blaublütigen Blume ist konträr und somit nicht kontradiktorisch

zum Begriff der rotblütigen Blume innerhalb des Begriffs der Blume, denn einerseits ist der Begriff

der blaublütigen Blume unverträglich mit dem Begriff der rotblütigen Blume und anderseits machen

die blaublütigen und die rotblütigen Blumen zusammengenommen nicht alle Blumen aus (z.B. gibt es

ja auch noch gelbblütige Blumen).

(i) Der Begriff des physischen Objekts ist umfangreicher als der Begriff des Ausdrucks, denn es gibt

mehr physische Objekte als Ausdrücke. Der Begriff des Ausdrucks ist enger als der Begriff des physi-

schen Objekts (und somit der Begriff des physischen Objekts weiter als der des Ausdrucks), denn es

gibt einerseits physische Objekte, die keine Ausdrücke sind, und anderseits ist jeder Ausdruck ein

physisches Objekt. Der Begriff des Ausdrucks ist somit verschieden vom Begriff des physischen

Objekts. Der Begriff des Ausdrucks ist verträglich mit dem Begriff des physischen Objekts, denn es

gibt physische Objekte, die Ausdrücke sind. Der Begriff des Ausdrucks ist somit weder kontradikto-

risch noch konträr zum Begriff des physischen Objekts innerhalb irgendeines Begriffes.

(j) Der Begriff der Sage ist umfangreicher als der Begriff des Mythos. Der Begriff der Sage ist weder

enger noch weiter als der Begriff des Mythos, denn einerseits gibt es Sagen, die keine Mythen sind,

und anderseits gibt es Mythen, die keine Sagen sind. Der Begriff der Sage ist somit verschieden vom

Begriff des Mythos. Der Begriff der Sage ist (zumindest nach je einer Defnition von ›Sage‹ und

›Mythos‹) unverträglich mit dem Begriff des Mythos, denn (gemäß diesen zwei Defnitionen) ist keine

Sage ein Mythos. Der Begriff der Sage ist konträr und somit nicht kontradiktorisch zum Begriff des

Mythos innerhalb des Begriffs der Erzählung, denn einerseits ist der Begriff der Sage unverträglich

mit dem Begriff des Mythos und anderseits gibt es Erzählungen (z.B. Märchen), die weder Sagen

noch Mythen sind.

(k) Der Begriff des Namens ist umfangreicher als der Begriff des Fragezeichens, denn es gibt mehr

Namen als Fragezeichen. Der Begriff des Namens ist weder enger noch weiter als der Begriff des

Fragezeichens, denn einerseits gibt es Namen, die keine Fragezeichen sind, und anderseits gibt es

Fragezeichen, die keine Namen sind. Der Begriff des Namens ist somit verschieden vom Begriff des

Fragezeichens. Der Begriff des Namens ist unverträglich mit dem Begriff des Fragezeichens, denn

kein Name ist ein Fragezeichen. Der Begriff des Fragezeichens ist konträr und somit nicht kontradik-

torisch zum Begriff des Namens innerhalb des Begriffs des Ausdrucks, denn einerseits ist der Begriff

des Namens unverträglich mit dem Begriff des Fragezeichens und anderseits gibt es Ausdrücke, die

weder Fragezeichen noch Namen sind.

2014 2 AUSDRÜCKE, NAMEN, BEGRIFFE 51

(l) Der Begriff des generellen Namens ist vermutlich umfangreicher als der Begriff des singulären

Namens, denn es gibt vermutlich mehr generelle als singuläre Namen. Der Begriff des generellen

Namens ist weder enger noch weiter als der Begriff des singulären Namens, denn einerseits gibt es

generelle Namen, die nicht singulär sind, und anderseits gibt es singuläre Namen, die nicht generell

sind. Der Begriff des generellen Namens ist somit verschieden vom Begriff des singulären Namens.

Der Begriff des generellen Namens ist verträglich mit dem Begriff des singulären Namens, denn es

gibt (wegen Mehrdeutigkeit) generelle Namen, die auch singulär sind (z.B. Ausdrücke der Gestalt

›Bauer‹, ›Wind‹, ›Zimmermann‹ usw.). Der Begriff des generellen Namens ist somit weder konträr

noch kontradiktorisch zum Begriff des singulären Namens innerhalb des Begriffes des Namens.

9. Ein Beispiel aus der Linguistik: ›Anapher‹.

Vorbemerkung: Das Wort ›Anapher‹ wird in der Rhetorik in einem ganz anderen Sinn gebraucht als in

der Linguistik. Hier sei nur eine der Bedeutungen, in denen ›Anapher‹ in der Linguistik verwendet

wird, herausgegriffen.

Zunächst vier einfache Beispiele! In der Satzaneinanderreihung ›Die Frau betrat den Raum. Sie

lächelte.‹ ist das dortige Personalpronomen ›Sie‹ eine Anapher bezüglich des dortigen singulären

Namens ›Die Frau‹. — Im Satz ›Fast jeder an der Theke lachte, nur einer nicht.‹ ist das dortige

Indefnitpronomen ›einer‹ eine Anapher bezüglich des dortigen quantorhaften Ausdrucks ›Fast jeder‹.

— In der Satzaneinanderreihung ›Hans liebt Hilde. Er ist ihr Ehemann.‹ ist das dortige Personalprono-

men ›Er‹ eine Anapher bezüglich des dortigen Eigennamens ›Hans‹. Weiters ist in diesem Satz das

dortige Possessivpronomen ›ihr‹ ebenfalls eine Anapher, aber nicht bezüglich des dortigen Ausdrucks

›Hans‹, sondern bezüglich des dortigen Ausdrucks ›Hilde‹. — In der Satzaneinanderreihung ›Sepp

lebt auf der gottverlassenen Insel Antiparos. Dort gefällt es diesem Spinner.‹ ist der indexikalische

Ausdruck ›Dort‹ eine Anapher bezüglich des Eigennamens ›Antiparos‹. Weiters ist in diesem Satz die

im Dativ stehende Nominalphrase ›diesem Spinner‹ eine Anapher bezüglich des Eigennamens ›Sepp‹.

Wie obige Beispiele andeuten, lässt sich zunächst ›Anapher‹ als dreistelliges Prädikat auf-

fassen: ›in y ist x eine Anapher bezüglich z‹. Worüber laufen die drei Variablen? Offenbar über

Ausdrücke (und nicht über Gestalten von Ausdrücken); und zwar läuft ›x‹ meist über solche Aus-

drücke, die in der herkömmlichen Grammatik ›Pronomina‹ oder ›Fürwörter‹ genannt werden sowie

auch über solche Ausdrücke, die in der Sprachphilosophie oft ›indexikalisch‹, in der herkömmlichen

Grammatik oft ›Adverbien des Ortes oder der Zeit‹ genannt werden; ›y‹ läuft über solche Ausdrücke,

die Sätze oder Satzaneinanderreihungen sind; und ›z‹ über solche, die singuläre Namen oder quantor-

hafte Ausdrücke sind. Wie lässt sich nun ›Anapher‹ in Anlehnung an den linguistischen Sprachge-

brauch stipulativ defnieren? Vielleicht ungefähr so: Es gelte defnitionsgemäß:

in y ist x eine Anapher bezüglich z gdw gilt:

1. y ist ein Satz oder eine Satzaneinanderreihung,

2. x ist ein Pronomen oder ein indexikalischer Ausdruck,

3. z ist ein singulärer Name oder ein quantorhafter Ausdruck,

4. z kommt in y räumlich vor x,

5. x bezieht sich auf jenes Objekt oder auf jene Objekte, auf die sich z bezieht.

Ist der so defnierte dreistellige generelle Name ›Anapher‹ ein klassifkatorischer Begriff? Leider

nicht, denn er hat nicht die verlangte Form ›x ist P‹. Wir brauchen offensichtlich eine Defnition des

einstelligen generellen Namens ›x ist eine Anapher‹. Lässt sich ein einstelliger genereller Name ›Ana-

pher‹ aus dem dreistelligen gewinnen? Ja, ganz einfach, und zwar in zwei simplen Schritten. Zunächst

defnieren wir mittels des dreistelligen generellen Namens ›Anapher‹ einen entsprechenden zweistel-

ligen. Es gelte defnitionsgemäß:

52 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

in y ist x ist eine Anapher gdw gilt: es gibt mindestens ein z derart, dass in y x eine Anapher

bezüglich z ist.

Es sei B1 identisch mit dem Ausdruck ›Die Frau betrat dem Raum. Sie lächelte.‹. In B1 ist also jener

Ausdruck, der sich in B1 befndet und mit ›Sie‹ gestaltgleich ist, eine Anapher, denn es gibt ja min-

destens ein z derart, dass in B1 dieses ›Sie‹ eine Anapher für z ist, nämlich für jenen sich in B1

befndlichen Ausdruck, der gestaltgleich mit ›Die Frau‹ ist. Allgemein gilt für jedes x, y und z: Wenn

in y x eine Anapher bezüglich z ist, dann ist in y x eine Anapher. (Die Umkehrung gilt nicht.) Vom

zweistelligen generellen Namen ›Anapher‹ kommen wir nun zum einstelligen, indem wir festlegen:

x ist eine Anapher gdw gilt: es gibt mindestens ein y derart, dass in y x eine Anapher ist.

Hieraus folgt:

x ist eine Anapher gdw gilt: es gibt mindestens ein y und ein z derart, dass in y x eine Anapher

bezüglich z ist.

So ist also zum Beispiel das sich in B1 befndliche ›Sie‹ eine Anapher, denn es gibt ja mindestens ein

y und z derart, dass in y (nämlich in B1) das dortige ›Sie‹ eine Anapher bezüglich z ist (nämlich eine

Anapher für das sich in B1 befndliche ›Die Frau‹ ist). Allgemein gilt für jedes x, y und z: Wenn in y x

eine Anapher bezüglich z ist, dann ist x eine Anapher. (Die Umkehrung gilt nicht.)

Der einstellige generelle Name ›Anapher‹ ist allerdings nur dann ein klassifkatorischer Begriff, wenn

sein Vagheitsbereich nicht intolerabel groß ist. Der Vagheitsbereich von ›Anapher‹ ist die Menge aller

jener Ausdrücke, von denen die einschlägige Forschergemeinschaft unsicher ist, ob sie im Lichte

unserer obigen Defnition von ›Anapher‹ Anaphern sind. Wie groß dieser Vagheitsbereich ist, wäre

anhand einer repräsentativen Stichprobe von Sprachwissenschaftlern und Beispielsätzen zu erfor-

schen. Man könnte z.B. die Sprachwissenschaftler mit einer Batterie von Sätzen wie den folgenden

konfrontieren und sie bitten, die Anaphern in diesen Sätzen, sofern vorhanden, aufzuzählen:

(1) Hans betrat sein Haus um 18 Uhr. Da war er noch ahnungslos.

(2) Herr Huber hat weder mit Ihnen noch mit ihr telefoniert.

(3) Er mochte sie, sie mochte ihn.

Et cetera, et cetera.

Einer der befragten Sprachwissenschaftler mag z.B. antworten: In (1) ist das dortige ›sein‹, das

dortige ›Da‹ und das dortige ›er‹ eine Anapher (im Sinne der vorgeschlagenen Defnition). Sonst gibt

es in (1) keine Anaphern. Die beiden Pronomina in (2) sind keine Anaphern. In (3) könnten das

dortige zweite ›sie‹ und das dortige ›ihn‹ eine Anapher sein, aber ich bin diesbezüglich nicht sicher,

weil mir die Defnition keine Entscheidungshilfe gibt, ob in (3) das dortige ›Er‹ und das erste dortige

›sie‹ als singuläre Namen betrachtet werden dürfen. Dieser Befragungsausschnitt macht bereits klar,

dass der Vagheitsbereich von ›Anapher‹ nicht leer ist (idealerweise sollte er leer sein): er umfasst ja

zumindest zwei Ausdrücke, nämlich einerseits jenen Ausdruck, der sich in (3) unmittelbar nach dem

Beistrich befndet und gestaltgleich mit ›sie‹ ist, sowie jenen Ausdruck, der sich in (3) befndet und

gestaltgleich mit ›ihn‹ ist. Da der Vagheitsbereich wissenschaftlicher Termini zu minimieren ist,

deutet sich damit schon an, wie die weitere Arbeit am Begriff aussehen wird: man wird sich bemühen

müssen, näher zu erläutern, was mit dem Wort ›singulärer Name‹ gemeint ist. Diese Erläuterungen

sind so lange fortzusetzen, bis der Vagheitsbereich von ›Anapher‹ gemäß den Ansprüchen der Sprach-

wissenschaft ausreichend klein ist. Erst dann kann man seriöserweise beginnen, die Zahl von Ana-

phern in einem Text anzugeben.

10. Jetzt sind SIE am Zug.

11. Jetzt sind SIE am Zug.

12. Jetzt sind SIE am Zug.

2014 3 AUSSAGESÄTZE, ARTEN UND BEZIEHUNGEN 53

3 AUSSAGESÄTZE, ARTEN VON UND BEZIEHUNGEN ZWISCHEN AUSSAGESÄTZEN

3.1 WICHTIGE ARTEN VON AUSSAGESÄTZEN AUS SYNTAKTISCHER SICHT

3.1.1 AUSSAGESÄTZE, AUSSAGEN UND SÄTZE, DIE KEINE AUSSAGESÄTZE SIND

3.1.1.1 Aussagesätze

Im Folgenden seien solche Ausdrücke ›Aussagesätze‹ oder ›deskriptive Sätze‹ genannt,42

von denen wir es als grundsätzlich sinnvoll erachten, die Prädikate ›wahr‹ und ›falsch‹auf sie anzuwenden. Bitte beachten Sie: wir haben damit — streng genommen — nichtfestgelegt, wann ein Ausdruck ein Aussagesatz ist, sondern nur, wann er für die und diePerson zu der und der Zeit ein Aussagesatz ist: nämlich genau dann, wenn diese Personzu dieser Zeit glaubt, die Prädikate ›wahr‹ und ›falsch‹ seien auf ihn anwendbar. Wirhaben also nicht das einstellige Prädikat ›Satz S ist ein Aussagesatz‹ defniert, sonderndas dreistellige Prädikat ›Satz S ist für die Person x zu Zeit t ein Aussagesatz‹.

Es ist möglich, dass ein gegebener Satz zu einer gewissen Zeit für eine Person einAussagesatz ist, für eine andere nicht; und dass ein gegebener Satz zu einer gewissen Zeitfür eine Person kein Aussagesatz ist und zu einer anderen (gewöhnlich späteren) Zeitdoch ein Aussagesatz ist. Für einige von Ihnen ist wohl im Augenblick der folgende Satz

L’écrivain Stendhal est connu dans le monde entier.

ein Aussagesatz, für andere nicht. Offenbar müssen wir einen Satz verstehen, bevor wirauf ihn das Prädikat ›wahr‹ oder ›falsch‹ anwenden können. Angenommen, Sie verstehenden Beispielsatz; dann ist dieser Satz derzeit für Sie ein Aussagesatz. Dies heißt natürlichnoch nicht, dass Sie diesen Satz für wahr halten oder dass Sie ihn für falsch halten. Zwarwerden wohl einige, die den Satz verstehen, ihn für wahr, andere für falsch halten, aberwieder andere werden ihn, obwohl sie es für sinnvoll erachten zu sagen, eines der Prä-dikate ›wahr‹ oder ›falsch‹ treffe auf ihn zu, sich vorläufg des Urteils enthalten, etwaweil ihnen einschlägiges Datenmaterial fehlt. Angenommen jedoch, Sie verstehen denBeispielsatz derzeit nicht und erachten es deshalb nicht für sinnvoll, dass Sie auf ihn diePrädikate ›wahr‹ und ›falsch‹ anwenden; dann ist dieser Satz für Sie derzeit kein Aus-sagesatz. Wenn Sie allerdings glaubhaft zu hören bekommen, dass der Satz aussagt, derSchriftsteller Stendhal sei weltberühmt, dann werden Sie es für sinnvoll erachten, einesder Prädikate ›wahr‹ und ›falsch‹ auf ihn anzuwenden, und dann ist dieser Satz nunmehrvereinbarungsgemäß ein Aussagesatz für Sie.

Oder nehmen wir als weiteres Beispiel den Satz

Bamalip ist von besonderem logischem Interesse.

Für jene unter Ihnen, die mit der Aristotelischen Syllogistik und ihrer scholastischenAusarbeitung vertraut sind, ist dieser Satz derzeit ein Aussagesatz (und ein wahrer dazu),für andere, denen das Wort ›Bamalip‹ nichts sagt, ist er solange kein Aussagesatz, bis sie

42 ›Deskriptiv‹ bedeutet soviel wie ›beschreibend‹ oder ›feststellend‹, im Gegensatz zu ›normativ‹ oder›präskriptiv‹, die soviel wie ›vorschreibend‹, ›festlegend‹, ›festsetzend‹ bedeuten.

54 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

sich dessen versichert haben, dass mit ›Bamalip‹ ein bestimmter syllogistischer Modusder vierten Figur bezeichnet wird, der in der klassischen Prädikatenlogik ungültig ist.

Es ist umständlich, ›Aussagesatz‹ als dreistelliges statt wie üblich als einstelligesPrädikat zu verwenden. Ich folge deshalb dem Brauch, kurz ›Aussagesatz‹ zu schreiben,wo eigentlich so etwas wie ›ist derzeit für mich ein Aussagesatz‹ stehen müsste. Wenn inder überübernächsten Zeile also ›Fünf Beispiele für Aussagesätze‹ steht, dann sollte dasim Sinne von ›fünf Beispiele für Sätze, die derzeit für Georg Dorn Aussagesätze sind‹verstanden werden; diese Sätze sind hoffentlich derzeit auch für Sie Aussagesätze.

Fünf Beispiele für Aussagesätze:

(1) Richard Burton war Engländer.(2) Alle Seminarteilnehmer lehnen einander nicht ab.(3) Mindestens ein Schriftsteller ist Neurotiker.(4) Gerd ist nicht mit Franz und Fritz befreundet.(5) Der Begriff des gleichwinkeligen Dreiecks ist identisch mit dem Begriff desgleichseitigen Dreiecks.

3.1.1.2 Aussagen und Mehrdeutigkeit von Aussagesätzen

Die folgende Unterscheidung zwischen Aussagesätzen auf der einen Seite und Aussagenauf der anderen Seite ist ebenso fundamental wie trivial: von den Aussagesätzen istnämlich sorgfältig das zu unterscheiden, was sie ausdrücken oder bedeuten oder was wirverstehen, wenn wir sie hören oder sehen. Alles das, was ein Aussagesatz bedeutet, seien›die (von ihm ausgedrückten) Aussagen‹ oder ›die (von ihm ausgedrückten) Proposi-tionen‹ genannt.43 Ein Aussagesatz, der genau eine Proposition ausdrückt, heißt ›ein-deutig‹, ein Aussagesatz, der mehr als eine Proposition ausdrückt, heißt ›mehrdeutig‹.Gewöhnlich (aber bei weitem nicht immer) haben gestaltverschiedene Aussagesätze von-einander verschiedene Bedeutungen und gestaltgleiche Aussagesätze gleiche Bedeu-tungen. Wichtig für die logische und wissenschaftstheoretische Textanalyse ist jedochfestzuhalten, dass gestaltverschiedene Aussagesätze durchaus dasselbe bedeuten könnenund vor allem dass gestaltgleiche Aussagesätze durchaus nicht dasselbe bedeuten können.Zunächst einige Erläuterungen zur ersten, dann einige zur zweiten Möglichkeit.

Zwei gestaltverschiedene Aussagesätze können dasselbe bedeuten. Das heißt ent-weder, sie drücken beide ein- und dieselbe Proposition aus; in diesem Fall ist jeder derbeiden Aussagesätze eindeutig. Oder jeder von ihnen drückt mehr als eine Propositionaus, und die Menge der von dem einen Aussagesatz ausgedrückten Propositionen istidentisch mit der Menge der von dem anderen Aussagesatz ausgedrückten Propositionen;in diesem Fall ist jeder der beiden Aussagesätze mehrdeutig, und zwar hat jeder derbeiden Aussagesätze alle Bedeutungen, die der andere hat. Zum Beispiel bedeutet derAussagesatz ›Nicht alle Schriftsteller sind keine Neurotiker.‹ dasselbe wie der obige

43 Terminologische Hinweise: Oft wird in der deutschsprachigen philosophischen Fachliteratur ›Aussage‹im Sinne von ›Aussagesatz‹ gebraucht, manchmal wird in der deutschsprachigen logischen Fachliteratur›Aussage‹ sogar zur Bezeichnung geschlossener prädikatenlogischer Formeln verwendet. In der englischenphilosophischen Fachliteratur entspricht häufg ›sentence‹ ›Aussagesatz‹ und ›proposition‹ ›Aussage‹. Ins-besondere in der älteren englischen Fachliteratur, etwa in den Abhandlungen und Büchern Bertrand Rus-sells, wird jedoch ›proposition‹ sowohl zur Bezeichnung von Aussagesätzen als auch von Aussagen alsauch von Formeln als auch von Wahrheitsfunktionen und anderem mehr gebraucht. Der Verwirrungseffektist beachtlich.

2014 3 AUSSAGESÄTZE, ARTEN UND BEZIEHUNGEN 55

Beispielsatz (3), sofern in ihm die generellen Namen ›Schriftsteller‹ sowie ›Neurotiker‹genauso verstanden werden wie in (3).

Aussagesätze, die voneinander verschieden, aber gestaltgleich sind, können meh-rere Bedeutungen haben, das heißt, mehrere Propositionen ausdrücken. Etwa kann derAussagesatz ›Richard Burton war Engländer.‹ eine andere Bedeutung haben als derBeispielsatz (1), obwohl beide Sätze miteinander gestaltgleich sind; vielleicht wurde inder zweiten Zeile oberhalb dieser unter dem dortigen Wort ›Engländer‹ soviel wie unter›Brite‹ verstanden, während im Beispielsatz (1) das dortige ›Engländer‹ im engeren Sinnverstanden wurde, der Waliser und Schotten ausschließt.

Aber auch ein und derselbe Aussagesatz (der natürlich gestaltgleich mit sich selberist) kann mehrere Bedeutungen haben. Etwa kann der Beispielsatz (1), für sich alleingenommen, bereits mehrdeutig sein, weil es möglich, ja durchaus wahrscheinlich ist, dassverschiedene Leser und Leserinnen unter dem Aussagesatz (1) ganz Verschiedenes ver-stehen, was sich daran zeigen könnte, dass die einen den Aussagesatz (1) bei ihrer Auf-fassung zurecht für wahr, die anderen zurecht für falsch halten.

Die Mehrdeutigkeit eines Aussagesatzes kann zum einen daran liegen, dass wirmindestens einem Namen, der sich im Aussagesatz befndet, mehrere Bedeutungen (In-tensionen, Extensionen, oder beides) zuordnen. In einem solchen Fall sagen wir, derbetreffende Aussagesatz sei aus semantischen Gründen mehrdeutig.44 So ist der Bei-spielsatz (1) aus semantischen Gründen mehrdeutig, und zwar nicht nur wegen derMehrdeutigkeit des dortigen generellen Namens ›Engländer‹, sondern auch wegen derMehrdeutigkeit des dortigen Eigennamens ›Richard Burton‹: dieser Eigenname kann jaz.B. so verstanden werden, als bezöge er sich auf einen berühmten, aus Wales stam-menden britischen Filmschauspieler, der von 1925 bis 1984 lebte; er kann aber auch soverstanden werden, als bezöge er sich auf einen berühmten, aus Hertfordshire stammen-den britischen Forscher und Schriftsteller, der von 1821 bis 1890 lebte. Der Beispielsatz(1) kann damit soviel bedeuten wie seine Paraphrasen (1.1) bis (1.4):

(1.1) Der Filmschauspieler Richard Burton war Engländer im engeren Sinn desWortes. (Falsch)(1.2) Der Forscher und Schriftsteller Richard Burton war Engländer im engerenSinn des Wortes. (Wahr)(1.3) Der Filmschauspieler Richard Burton war Brite. (Wahr)(1.4) Der Forscher und Schriftsteller Richard Burton war Brite. (Wahr)

Wie diese vier Paraphrasen des Satzes (1) veranschaulichen, ist Aussagesatz (1) (zumin-dest) vierdeutig, drückt (zumindest) vier verschiedene Propositionen aus, macht (zumin-dest) vier verschiedene Aussagen. Man beachte, dass eine Person, die den Satz (1) imSinne von (1.1) versteht und ihn verneint, nur scheinbar einer Person widerspricht, dieihn im Sinne von (1.2) versteht; und dass eine Person, die den Satz (1) im Sinne von (1.3)versteht, nur scheinbar dasselbe behauptet wie eine Person, die den Satz (1) im Sinne von(1.2) oder von (1.4) versteht; das mag beiden Personen im Gespräch unbekannt bleiben.

Auch der Beispielsatz (5) hat mehrere Bedeutungen, weil ja bereits der generelleName ›Begriff‹ mehr als genug Bedeutungen hat. (5) kann beispielsweise soviel bedeutenwie (5.1):

44 ›Semantisch‹ kommt aus dem Altgriechischen und heißt ungefähr soviel wie ›die Bedeutungen einesAusdrucks betreffend‹.

56 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

(5.1) Die Menge der gleichwinkeligen Dreiecke ist identisch mit der Menge dergleichseitigen Dreiecke.

oder unter anderem auch soviel wie (5.2):

(5.2) Der Name ›gleichwinkeliges Dreieck‹ ist identisch mit dem Namen ›gleich-seitiges Dreieck‹.

Paraphrase (5.1) ist wahr, Paraphrase (5.2) nicht. Was ist (5)? Die Antwort lautet: (5) istwahr rücksichtlich jener Defnition, gemäß der ›Begriff‹ soviel wie ›Menge‹ bedeutet; (5)ist falsch rücksichtlich jener Defnition, gemäß der ›Begriff‹ soviel wie ›Name‹ bedeutet.

Dass ein Aussagesatz mehrdeutig ist, kann zum anderen auch daran liegen, dassunklar ist, welche Rolle die logischen oder synkategorematischen Ausdrücke, die sich inihm befnden, spielen. In einem solchen Fall sagen wir, der betreffende Aussagesatz seiaus syntaktischen Gründen mehrdeutig.45 Etwa ist der Beispielsatz (2) nicht nur deshalbmehrdeutig, weil der dortige einstellige Name ›Seminarteilnehmer‹ mehrdeutig ist46,sondern auch deshalb, weil unklar ist, ob der dortige junktorhafte Ausdruck ›nicht‹ dendortigen zweistelligen Namen ›ablehnen‹ oder den dortigen quantorhaften Ausdruck›alle‹ regiert. Im ersten Fall bedeutet (2) soviel wie (2.1):

(2.1) Jeder Seminarteilnehmer lehnt keinen anderen Seminarteilnehmer ab.

Im zweiten Fall bedeutet (2) soviel wie (2.2):

(2.2) Nicht alle Seminarteilnehmer lehnen einander ab.

Es ist möglich, dass (2.1) falsch, (2.2) dagegen wahr ist (und zwar rücksichtlich ein- undderselben Defnition von ›Seminarteilnehmer‹). Ähnliches gilt für den Beispielsatz (4). Esist unklar, ob ›nicht‹ dort ›und‹ regiert oder umgekehrt ›und‹ dort ›nicht‹ regiert. Imersten Fall bedeutet (4) soviel wie (4.1):

(4.1) Es ist nicht der Fall, dass Gerd sowohl mit Franz als auch mit Fritz befreundetist.

Im zweiten Fall bedeutet (4) soviel wie (4.2):

(4.2) Gerd ist weder mit Franz, noch mit Fritz befreundet.

Offenbar gilt (ganz unabhängig davon, wer nun genau mit ›Gerd‹, ›Franz‹ und ›Fritz‹gemeint ist): Wenn (4.2) wahr ist, dann auch (4.1); doch bleibt es durchaus möglich, dass(4.2) falsch, aber (4.1) wahr ist. Die syntaktisch eindeutig formulierten Paraphrasen derBeispielsätze haben uns wieder geholfen zu erkennen, welche Propositionen der fraglicheAussagesatz ausdrückt.

Wenn wir einen wissenschaftlichen Text analysieren, sollten wir uns also, wie dieobigen Beispiele nahe legen, dessen bewusst sein, dass ein gegebener Aussagesatzsowohl aus semantischen als auch aus syntaktischen Gründen mehrdeutig sein kann unddass er somit zu paraphrasieren ist, um zumindest einige seiner Bedeutungen herauszu-schälen. Die naive Frage, ob ein gegebener Aussagesatz wahr ist, wird so zur refektiertenFrage, bei welchen Lesarten er wahr, bei welchen er falsch ist. Durch die Paraphraseneines Aussagesatzes wird seine Mehrdeutigkeit veranschaulicht, anhand der Paraphrasenkann er mit Aussicht auf Erkenntnisgewinn weiter untersucht werden. Das Paraphrasieren

45 ›Syntaktisch‹ kommt aus dem Altgriechischen und heißt ungefähr soviel wie ›die Zusammensetzungeines Ausdrucks betreffend‹.46 In (2) kann mit ›Seminarteilnehmer‹ soviel gemeint sein wie ›ist ein männlicher Seminarteilnehmer‹oder soviel wie ›ist ein weiblicher oder ein männlicher Seminarteilnehmer‹. Allein deshalb ist (2) bereitsmehrdeutig, und zwar aus semantischen Gründen. Darüber hinaus ist (2) auch aus syntaktischen Gründenmehrdeutig.

2014 3 AUSSAGESÄTZE, ARTEN UND BEZIEHUNGEN 57

ist deshalb von großer Wichtigkeit in Wissenschaft und Philosophie und mag wohl auchim Alltag bisweilen angebracht sein. Das Aufdecken allfälliger Mehrdeutigkeiten mittelsParaphrasen sollte jedenfalls für erkenntnisgerichtetes Schreiben und Diskutieren zurselbstverständlichen Gewohnheit werden.

3.1.1.3 Wichtige Arten von Sätzen, die keine Aussagesätze sind

Zum Schluss von 3.1.1 noch ein kurzer Blick auf wichtige Klassen von solchen gram-matisch korrekten Sätzen, die zwar keine Aussagesätze sind, aber ebenfalls in wissen-schaftlichen Texten vorkommen. Zu diesen Sätzen gehören Sätze, die Fragen ausdrücken;Sätze, die Befehle ausdrücken; Sätze, die Vorschläge und Wünsche ausdrücken; Sätze,die Normen ausdrücken; und Sätze, mittels derer soziale Handlungen vollzogen werden.Im Folgenden einige kurze Erläuterungen.

3.1.1.3.1 Sätze, die Fragen ausdrücken

Fragesätze zeichnen sich gemäß der traditionellen Grammatik durch eine spezifscheWortstellung und ein Fragezeichen zum Schluss des Satzes aus. Nicht jeder Fragesatzdrückt jedoch eine Frage aus. Die sogenannten rhetorischen Fragesätze sind oft bedeu-tungsgleich mit Aussagesätzen oder mit Befehlssätzen. Der rhetorische Fragesatz

Und ist Brutus nicht ein ehrenwerter Mann?

drückt keine Frage aus, sondern ist im Kontext der Ermordung Cäsars bedeutungsgleichmit dem Negationssatz

Brutus ist in Wirklichkeit kein ehrenwerter Mann.

Der rhetorische Fragesatz

Wollen Sie mir drohen?

drückt keine Frage aus, sondern eine Warnung, die sich vielleicht am angemessenstendurch einen Befehlssatz wiedergeben lässt:

Drohen Sie mir nicht!

Man wird rhetorischen Fragesätzen nur selten in wissenschaftlichen Texten begegnen.Dort werden Fragesätze gewöhnlich verwendet, um Fragen auszudrücken, insbesondereum Probleme zu formulieren. Beispiele für Sätze, die Fragen ausdrücken, sind:

Gehörte Kurt Gödel zum Wiener Kreis?Ist Rudolf Carnap der bedeutendste Wissenschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts?Hat irgendein Neutrino Masse?Warum erhöhen Cortisol-Ausschüttungen fast immer den Blutdruck?Wozu dient der Wurmfortsatz am Blinddarm?Was ist ein Organismus?In welcher Jahrmillion entstanden die ersten Hominiden?

Alle Fragesätze, die Fragen ausdrücken, lassen sich auf die Standardform der Was-ist-Frage oder der Welcher-ist-Frage bringen. So lassen sich unsere obigen Beispieleumformulieren zu:

Was ist der Wahrheitswert des Aussagesatzes ›Kurt Gödel gehörte zum WienerKreis.‹?Was ist der Wahrheitswert des Aussagesatzes ›Rudolf Carnap ist der bedeutendsteWissenschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts.‹?

58 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Was ist der Wahrheitswert des Aussagesatzes ›Hat irgendein Neutrino Masse.‹?Was sind die Kausalursachen dafür, dass Cortisol-Ausschüttungen den Blutdruckerhöhen?Was sind die Zweckursachen dafür, dass sich an jedem menschlichen Blinddarm einWurmfortsatz befndet?Was ist ein Organismus?Welche Jahrmillion ist es, in der die ersten Hominiden entstanden?

Jene Aussagesätze, deren Wahrheit ein Fragesatz als gegeben voraussetzt, werden ›dieVoraussetzungen des Fragesatzes‹ genannt. Etwa wird bei der Frage nach dem Wahr-heitswert eines Satzes vorausgesetzt, dass er genau einen Wahrheitswert hat. Bei derFrage nach den Ursachen eines Phänomens wird vorausgesetzt, dass das Phänomen realexistiert und mindestens eine Ursache hat. Bei der Frage, in welcher Jahrmillion dieersten Hominiden entstanden sind, wird vorausgesetzt, dass es mehrere erste Hominidegab und dass sie alle zusammen innerhalb einer Jahrmillion entstanden sind.

Fragesätze, die Fragen ausdrücken, können als echt und unecht, jedoch nicht als wahroder falsch beurteilt werden. Ein Fragesatz sei als ein ›echter Fragesatz‹ bezeichnet gdwer eine Frage ausdrückt und jede seiner Voraussetzungen wahr ist. Ein Fragesatz sei alsein ›unechter Fragesatz‹ bezeichnet gdw er eine Frage ausdrückt und mindestens eineseiner Voraussetzungen falsch ist.47 Beispiele für unechte (und damit unbeantwortbare)Fragesätze sind:

Warum wurde Wolfgang Schüssel im März 2007 Bundeskanzler Österreichs?48

Wann genau ist das Hochwasser der Salzach im Februar 2007 zurückgegangen?49

In welchem Staat wurde 2008 die Fußball-Europameisterschaft ausgetragen?50

Welche Zahl ist identisch mit dem unmittelbaren Nachfolger der größten natür-lichen Zahl?51

Ob ein Fragesatz echt ist (kein Scheinproblem ausdrückt), sollte jeder bedenken, der ihnzu beantworten versucht — eine Empfehlung, die manchmal im Alltag und in der Wis-senschaft nicht beachtet wird. Angenommen, ein kinderloser Mann wird auf einer Partyvon einem Gast gefragt, wie es seinen Kindern gehe; der Mann wird von vornherein nichtversuchen, diese unbeantwortbare Frage zu beantworten, sondern den Fragesteller höfichdarauf hinweisen, er habe keine Kinder. Angenommen, dieser Mann studiert Literaturwis-senschaft und wird in einem Seminar gefragt, warum sich Anna Karenina unter einen Zuggeworfen habe; hier wird er vielleicht allzu schnell eine Antwort geben, nicht bedenkend,dass der stillschweigend vorausgesetzte Satz ›Anna Karenina hat sich unter einen Zuggeworfen.‹ entweder überhaupt kein Aussagesatz ist, oder, wenn er einer ist, je nach Auf-fassung von fktionalen Entitäten als falsch herauskommen kann.

47 In der Kommunikationswissenschaft und der englischsprachigen Jurisprudenz werden unechte Fragen›geladene Fragen‹ bzw. ›loaded questions‹ genannt. Der Fragesatz in einer Fernsehdiskussion zwischenPolitkern ›Wieso macht es Ihnen eigentlich Spaß, für einen Kanzler zu arbeiten, den Sie nicht mögen undder Sie nicht mag?‹ ist geladen, wenn der Angesprochene den Kanzler mag oder der Kanzler ihn mag oderes dem Angesprochenen sowieso keinen Spaß macht, für den Kanzler zu arbeiten. Der Fragesatz des Ver-teidigers des Ehemanns ›Haben Sie jemals aufgehört, Ihren Mann zu quälen?‹ ist geladen, wenn die Ehe-frau niemals damit begonnen hat, ihren Mann zu quälen.48 Wolfgang Schüssel wurde im März 2007 nicht Bundeskanzler.49 Es gab kein Hochwasser der Salzach im Februar 2007.50 Es gab nicht genau einen solchen Staat, sondern zwei solche Staaten: die Schweiz und Österreich.51 Es gibt keinen unmittelbaren Nachfolger der größten natürlichen Zahl.

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3.1.1.3.2 Sätze, die Befehle ausdrücken

Sätze, die Befehle ausdrücken, werden meist mittels Imperative formuliert, manchmaljedoch auch mittels Fragesätze (›Ist das Fenster immer noch offen?‹) oder mittels In-dikativsätze (›Unteroffzier Lemke übernimmt das dritte Geschütz.‹)52.

Imperative können bedingt oder unbedingt sein. Die ersten drei der folgenden sechsImperative sind unbedingt, die letzten drei bedingt:

Schließen Sie das Fenster!Lemke, übernehmen Sie das dritte Geschütz!Lüge nicht! Geben Sie das Ei in den Kochtopf, wenn das Wasser zu sieden beginnt!Wenn Sie gesund bleiben wollen, dann betreiben Sie Sport!Wenn Du ein Fremdwort nicht verstehst, dann schlage im DUDEN-Fremdwörter-buch nach!

Die Untersuchung bedingter Imperative spielt in der Ethik eine große Rolle. Auswissenschaftstheoretischer Sicht ist hervorhebenswert, dass die schriftliche Angabe vonMethoden häufg mittels bedingter Imperative erfolgt.

3.1.1.3.3 Sätze, die Vorschläge und Wünsche ausdrücken

Vorschläge und Wünsche werden meist mittels Optative (im weiten Sinn des Wortes) aus-gedrückt. Vier Beispiele:

Lasset uns singen!Möge es dir gut ergehen!Sei a im Folgenden eine beliebige natürliche Zahl!Mit ›Popper‹ möchte ich hier solche Jugendliche bezeichnen, die sich durch ge-pfegtes Äußeres und modische Kleidung bewusst von Punks abheben wollen.

Solche Sätze können zwar manchmal als zweckmäßig oder unzweckmäßig bewer-tet, jedoch nicht als wahr oder falsch beurteilt werden. Aus wissenschaftstheoretischerSicht sind jene Optative von besonderer Wichtigkeit, mittels derer vorgeschlagen wird,ein bestimmtes Wort in einer bestimmten Bedeutung zu verwenden. Solche Optativeheißen ›stipulative Defnitionen‹. Ihnen wird ein eigener Abschnitt im Kapitel über Def-nitionen gewidmet sein.

3.1.1.3.4 Sätze, die Normen ausdrücken

Eine problematische Gruppe bilden die in der Ethik besonders wichtigen, in der Wis-senschaftstheorie der empirischen Wissenschaften jedoch weniger wichtigen Gebots-,Verbots- und Erlaubnissätze. Beispiele: ›Es ist in Österreich geboten, auf der rechtenStraßenseite zu fahren.‹, ›Es ist an der Universität Salzburg verboten, in Seminarräumenzu rauchen.‹, ›Es ist erlaubt, den Hellbrunner Rasen zu betreten.‹. Diese Sätze sinddoppeldeutig. Einerseits informieren sie uns über Zustände; so aufgefasst sind sie wahroder falsch. Anderseits gebieten oder verbieten oder erlauben sie bestimmte Zustände undgleichen insofern Befehlssätzen. Will man betonen, dass man einen Gebots-, Verbots-oder Erlaubnissatz als Aussagesatz auffasst, kann man ihn entsprechend umformulieren,z.B. ›Es gibt in Österreich ein Gesetz, gemäß dem auf der rechten Straßenseite zu fahren

52 Wie das Lemke-Beispiel nebenbei zeigt, ist nicht jeder Indikativsatz ein Aussagesatz.

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ist.‹; dieser Satz ist einigermaßen klar als ein Aussagesatz über Österreich zu erkennen.Will man hingegen betonen, dass man einen Gebots-, Verbots- oder Erlaubnissatz alseinen normativen Satz auffasst, der zum Ausdruck einer Aufforderung oder einer Erlaub-nis dient, kann man auf Formulierungen zurückgreifen wie etwa: ›Sie sollen rechtsfahren!‹, ›Rauchen Sie nicht in Seminarräumen!‹, ›Du darfst den Rasen betreten!‹.

3.1.1.3.5 Sätze, mittels derer soziale Handlungen vollzogen werden

Ob laut- oder schriftsprachliche Ausdrücke, mittels derer unter festgelegten Umständensoziale Handlungen vollzogen werden, (auch) Aussagesätze sind, ist ein spannendeslinguistisches und sprachphilosophisches Thema, auf das wir hier allerdings nicht nähereinzugehen brauchen, weil Ausdrücke dieser Art von keinem größeren wissenschafts-theoretischen Interesse sind. Es handelt sich hier um Ausdrücke der folgenden Art: ›Ichverurteile Sie zu 6 Monaten Freiheitsentzug.‹, ›Ich verspreche es Dir.‹, ›Sie sind ent-lassen!‹, ›Ich enthebe Sie Ihres Amtes.‹, ›Ich nehme das zur Kenntnis.‹, ›Ich behaupte,dass die Erde fach ist.‹, ›Ich bestreite, dass die Erde fach ist.‹, ›Ich erkläre den folgendenSatz für vereinbarungsgemäß wahr.‹, ›Ich beende hiermit meine Vorlesung.‹.

Wir bleiben im Weiteren bei den Aussagesätzen und unterscheiden einige wissenschafts-theoretisch wichtige Arten von ihnen aus syntaktischer Sicht. Wir gehen nach folgenderGliederung vor:

— SINGULÄRE AUSSAGESÄTZE

— — einfache (atomare, elementare) Aussagesätze— — molekulare Aussagesätze— GENERELLE AUSSAGESÄTZE

— — Es-gibt-Sätze (Existenzsätze, partikuläre Sätze)— — Allsätze (strikt universelle Sätze)— — Quasi-Allsätze (quasi-universelle Sätze)— — — Fast-alle-Sätze— — — Die-meisten-Sätze— — — Normalerweise-Sätze (normische Sätze)— QUASI-GENERELLE AUSSAGESÄTZE (GENERISCHE AUSSAGESÄTZE)

3.1.2 SINGULÄRE AUSSAGESÄTZE

3.1.2.1 Einfache Aussagesätze

Unter ›einfacher Aussagesatz‹ oder ›atomarer Aussagesatz‹ oder ›elementarer Aus-sagesatz‹ sei jeder Aussagesatz verstanden, in dem neben dem Schlusspunkt nur singuläreund generelle Namen vorkommen. Im Folgenden einige Erläuterungen.

Eine sehr einfache und zielführende Art, einen Aussagesatz zu bilden, besteht darin,erstens das Objekt anzugeben, über das etwas behauptet werden soll, und zweitens dieEigenschaft anzugeben, die ihm zugesprochen werden soll. Etwa gibt in dem einfachen(atomaren, elementaren) Aussagesatz ›Peter Singer ist Ethiker.‹ der dortige Eigenname›Peter Singer‹ das Objekt an, über das etwas behauptet werden soll, und das dortige Prä-dikat ›ist Ethiker‹ gibt die Eigenschaft an, die Peter Singer zugesprochen werden soll.Erinnern wir uns: in der logischen Fachsprache nennt man üblicherweise alle jene Aus-drücke, die das Objekt angeben, über das gesprochen werden soll, ›singuläre Namen‹,

2014 3 AUSSAGESÄTZE, ARTEN UND BEZIEHUNGEN 61

während jene Ausdrücke, mit denen etwas über dieses Objekt ausgesagt wird, ›generelleNamen‹ heißen. Der Ausdruck ›Peter Singer‹ ist demnach ein singulärer, der Ausdruck›ist Ethiker‹ ein genereller Name. Erinnern wir uns weiter: Manchmal werden Kennzeich-nungen, d.h. ganze individuierende Beschreibungen, als singuläre Namen gebraucht. Indem (übrigens wahren) Aussagesatz ›Der erste Präsident der Vereinigten Staaten hatte einfalsches Gebiss aus Holz.‹ wird die dortige Kennzeichnung ›Der erste Präsident der Ver-einigten Staaten‹ zur Angabe des Individuums George Washington gebraucht, von demetwas ausgesagt werden soll, nämlich dass es ein falsches Gebiss aus Holz hatte.

Einfache Aussagesätze können nicht nur aus einem singulären und einem generellenNamen aufgebaut werden, sondern lassen sich auch mittels mehrerer singulärer Namenund eines generellen Namens bilden, wobei der generelle Name auf eine Beziehungzwischen den durch die singulären Namen angegebenen Objekten Bezug nimmt. Etwaenthält der einfache Aussagesatz ›Merkur ist heißer als Pluto.‹ zwei singuläre und einengenerellen Namen. Erinnern wir uns wieder: Generelle Namen, die auf Eigenschaften vonObjekten verweisen, werden oft ›einstellige Prädikatausdrücke‹ genannt, weil siezusammen mit einem singulären Namen einen einfachen Aussagesatz ergeben; ›bewegtsich mit einer Geschwindigkeit von 80 Stundenkilometern‹, ›kann gut singen‹, ›istmagnetisch‹ sind Beispiele für einstellige Prädikatausdrücke. Generelle Namen, die aufBeziehungen zwischen zwei oder mehr Objekten verweisen, werden oft ›mehrstelligePrädikatausdrücke‹ genannt, weil sie mit zwei oder mehreren singulären Namen zusam-men einen einfachen Aussagesatz ergeben; ›ist heißer als‹, ›ist ein Bruder von‹, ›liegtnördlich von‹, ›…befndet sich zwischen … und …‹ sind Beispiele für mehrstelligePrädikatausdrücke. Grundsätzlich werden also einfache Aussagesätze so konstruiert, dassman einen generellen Namen mit der entsprechenden Anzahl von singulären Namensinnvoll verbindet. Auf diese Weise schreibt man entweder dem durch den singulärenNamen angegebenen Objekt die durch den einstelligen generellen Namen angegebeneEigenschaft zu, oder man schreibt den durch n singuläre Namen angegebenen Objektendie durch den n-stelligen generellen Namen angegebene Beziehung zueinander zu.Wichtig ist, dass vereinbarungsgemäß kein Aussagesatz einfach oder atomar ist, der einenjunktor- oder quantorhaften Ausdruck oder sonst irgendeinen Satzoperator enthält. AlleAussagesätze, in denen z.B. junktorhafte Ausdrücke wie ›nicht‹, ›und‹, ›obwohl‹,›wenn…, dann‹ vorkommen, sind nicht atomar. Alle Aussagesätze, in denen quantorhafteAusdrücke wie z.B. ›jeglicher‹ ›mindestens ein‹, ›die meisten‹, ›mehrere‹, ›so mancher‹vorkommen, sind nicht atomar. Auch alle Aussagesätze, die mittels modaler Satzopera-toren wie z.B. ›es ist wahrscheinlich, dass‹, ›es ist möglich, dass‹, ›ich weiß, dass‹ oder›es ist bekannt, dass‹ gebildet sind, sind keine einfachen Aussagesätze. Zur Veranschau-lichung 14 Beispielsätze; die ungeradzahligen sind einfache Aussagesätze, die gerad-zahligen nicht:

(1) Johann Sebastian Bach ist 1685 geboren.(2) Einer der größten deutschen Komponisten ist 1685 geboren.(3) Der Komponist des Musikalischen Opfers ist 1685 geboren.(4) Der Komponist des Musikalischen Opfers ist nicht 1685 geboren.(5) 1685 wurde von Ludwig XIV. das Edikt von Nantes aufgehoben.(6) 1685 wurde von Ludwig XIV. das Edikt von Nantes aufgehoben, nachdem derum Mäßigung bemühte Colbert 1683 gestorben war.(7) Kant schrieb 1783 die Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik.(8) Alle Schriften Kants, die vor 1783 entstanden, werden zu seiner vorkritischenPhase gezählt.

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(9) Im selben Jahr, in dem Kant die Prolegomena zu einer jeden künftigen Meta-physik schrieb, komponierte Mozart die Linzer Symphonie.(10) Kant und Mozart vollendeten im Jahr 1783 mehrere bedeutende Werke.(11) Es war kalt in Salzburg am 7.4.2003.(12) Wahrscheinlich war es kalt in Salzburg am 7.4.2003.(13) Dieses Stück Zucker da brennt.(14) Zucker brennt.

Es sind die einfachen Aussagesätze, die sich direkt auf die Welt beziehen und uns berich-ten, welche Eigenschaften genau die und die Objekte haben und welche Beziehungenzwischen genau den und den Objekten bestehen. Man sieht deshalb die einfachen Aus-sagesätze, sofern sie sich auf wahrnehmbare Objekte beziehen, als Basis wissenschaft-licher Theorien an.

3.1.2.2 Molekulare Aussagesätze

Unter ›molekularer Aussagesatz‹ sei grob jeder Aussagesatz verstanden, der sich nur ausatomaren Aussagesätzen und junktorhaften Ausdrücken zusammensetzt. Während inatomaren Aussagesätzen weder junktor- noch quantorhafte Ausdrücke noch modaleSatzoperatoren vorkommen, kommen in molekularen Aussagesätzen stets junktorhafteAusdrücke, aber keine quantorhaften Ausdrücke und auch keine modalen Satzoperatorenvor. Im obigen Beispielsblock ist nur der Aussagesatz (4) molekular.

Beispiele für weitere molekulare Aussagesätze sind:

(1) Der Vogel dort ist nicht weiß.(2) Der Vogel dort ist ein Rabe und schwarz.(3) Linz liegt in Ober- oder Niederösterreich.(4) Wenn Hermann Maier am 11.4.2003 um 9:30 frustriert wird und weder schwerdepressiv ist noch unter Drogen steht, dann reagiert Hermann Maier am 11.4.2003um 9:30 aggressiv.(5) Hermann Maier ist genau dann Österreicher, wenn er die österreichische Staats-bürgerschaft besitzt.

Treffen wir schließlich folgende Vereinbarung: Alle Sätze, die atomare oder molekulareAussagesätze sind, seien ›singuläre Aussagesätze‹ genannt. Offenbar sind die obigenSätze (1) bis (5) sowie die ungeradzahligen Sätze im Beispielsblock weiter oben singu-läre Aussagesätze.

Ohne singuläre Aussagesätze läuft in den Wissenschaften nichts, denn sie sind we-sentliche Bestandteile nicht nur der Verifzierungs- und Falsifzierungsbeziehung, sondernauch der Stützungs- und Schwächungsbeziehung sowie jeder wissenschaftlichen Erklä-rung, Vorhersage und Retrodiktion von Ereignissen. Dagegen kann man etwa in denWissenschaften zur Not ohne Es-gibt-Sätze auskommen. Es-gibt-Sätze bilden eine Unter-art der generellen Sätze, denen wir uns nun zuwenden.

3.1.3 GENERELLE AUSSAGESÄTZE

Unter ›genereller Aussagesatz‹ sei hier jeder Aussagesatz verstanden, der ein Es-gibt-Satz, ein Allsatz oder ein Quasi-Allsatz ist. Wir können auch sagen: Ein Aussagesatz istgenau dann generell, wenn er von einem quantorhaften Ausdruck regiert wird. Sehen wiruns diese Satzarten der Reihe nach kurz an!

2014 3 AUSSAGESÄTZE, ARTEN UND BEZIEHUNGEN 63

3.1.3.1 Es-gibt-Sätze

Zuerst ein Blick auf die Es-gibt-Sätze.53 Sie werden von den quantorhaften Ausdrücken›mindestens ein[e; es]‹ oder ›es gibt [mindestens ein]‹ etc. oder ›einige‹ oder ›mehrere‹regiert. Die folgenden zwei Sätze sind (deskriptive) Es-gibt-Sätze:

(1) Es gab auf Papua-Neuguinea in den 1920er Jahren Gesellschaften ohne Inzest-Tabu.(2) Mindestens ein Mensch läuft (irgendwann und irgendwo) die 100 Meter unter9,5 Sekunden.

Ein einziges Beispiel genügt, um die Wahrheit eines Es-gibt-Satzes zu beweisen. Es-gibt-Sätze können, wie Satz (1), zeitlich-räumliche Einschränkungen machen; solche zirkum-skripten (nähere Angaben machenden) Es-gibt-Sätze können sich als wahr, aber auch alsfalsch herausstellen. Es-gibt-Sätze können aber auch, wie Satz (2) keine zeitlich-räumli-chen Einschränkungen machen; solche einschränkungsfreien Es-gibt-Sätze können sichals wahr, jedoch nicht als falsch herausstellen. Um (2) als falsch nachzuweisen, müssteman nämlich den verneinten Existenzsatz ›Kein Mensch läuft (irgendwann und irgendwo)die 100 Meter unter 9,5 Sekunden.‹ als wahr nachweisen. Aber das ist unmöglich: selbstwenn ich auf Milliarden Menschen verweisen kann, welche die 100 Meter nie und nir-gends unter 9,5 Sekunden gelaufen sind, folgt daraus noch nicht, dass kein einzigerMensch (irgendwann und irgendwo) die 100 Meter unter 9,5 Sekunden gelaufen ist oderlaufen wird. — Der verneinte Existenzsatz ›Kein Mensch läuft (irgendwann und irgend-wo) die 100 Meter unter 9,5 Sekunden.‹ ist offenkundig inhaltsgleich mit dem Allsatz›Für jeden Mensch x, jede Zeitstrecke t und jeden Ort o gilt: es ist nicht der Fall, dass x zut an o die 100 Meter unter 9,5 Sekunden läuft.‹. Damit sind wir bereits bei den Allsätzen;sie entsprechen also inhaltlich verneinten Existenzsätzen, sie sind aber keine verneintenExistenzsätze. Jeder verneinte Existenzsatz wird ja von einem ›es ist nicht der Fall, dassmindestens ein(e)‹ oder von ›kein(e/r)‹ regiert, während ein Allsatz, wie der Name schonandeutet, von anderen Ausdrücken regiert wird, insbesondere von dem quantorhaftenAusdruck ›alle‹.

3.1.3.2 Allsätze

Mit ›Allsatz‹ sei ein Satz bezeichnet, der von ›alle‹ oder ›jeder‹, ›jede‹, ›jedes‹ oder ›je-glicher‹, ›jegliche‹, ›jegliches‹ regiert wird.54 Fünf Beispiele für (deskriptive) Allsätze (esgibt natürlich auch normative Allsätze, die aber hier nicht weiter interessieren):

(1) Alle Menschen streben nach Glück.(2) Alle Mythen dienen der Rechtfertigung gesellschaftlicher Verhältnisse.(3) Alle Träume sind Wunschträume.(4) Alle Demokratien entstanden in bürgerlichen Gesellschaften.(5) Alle Romane Wilhelm Genazinos bedienen sich des inneren Monologs.

Ein Allsatz ist falsch, wenn er auf mindestens ein Objekt nicht zutrifft. M.a.W., ein einzi-ges Gegenbeispiel genügt, um die Falschheit eines Allsatzes zu beweisen. Gibt es z.B.auch nur einen einzigen Menschen, der nicht nach Glück strebt, dann ist Satz (1) falsch.Anderseits ist Satz (1) nicht als wahr erwiesen, wenn alle Menschen, die bisher gelebt

53 Sie werden auch ›Existenzsätze‹ oder ›partikuläre Sätze‹ genannt.54 Statt ›Allsatz‹ wird auch ›strikt universeller Satz‹ verwendet.

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haben, nach Glück gestrebt haben, denn es ist möglich, dass schon morgen ein Menschgeboren wird, der nicht nach Glück strebt.

3.1.3.3 Quasi-Allsätze

Zu den Quasi-Allsätzen55 werden solche Aussagesätze gezählt, die von einem ›fast alle‹oder ›fast jeder‹ etc. regiert werden, weiters solche Aussagesätze, die von einem ›diemeisten‹ regiert werden, schließlich solche Sätze, die von einem ›normalerweise‹ regiertwerden. Sehen wir uns diese Satztypen der Reihe nach an!

3.1.3.3.1 Fast-alle-Sätze

Zwei Beispiele für (deskriptive) Fast-alle-Sätze:

(1) Fast alle Menschen streben nach Glück.(2) Fast jeder Traum ist ein Wunschtraum.

Ein Fast-alle-Satz kann nicht mehr durch ein einziges Gegenbeispiel widerlegtwerden. Wie vieler Gegenbeispiele bedarf es? Dies ist nicht verbindlich geregelt. Dochkann im Prinzip stets eine Klärung herbeigeführt werden, indem man Fast-alle-Sätze inProzentangaben überführt. Satz (1) etwa könnte vereinbarungsgemäß genau dann alsfalsch angesehen werden, wenn 100% der Menschen (also doch alle) oder weniger als95% der Menschen nach Glück streben.56 Wir folgen hier dieser Vereinbarung. Unserezwei obigen Beispielsätze lassen sich somit als Konjunktionssätze wiedergeben:

(1)* Weniger als 100% aller Menschen streben nach Glück und mindestens 95%aller Menschen streben nach Glück.(2)* Weniger als 100% aller Träume sind Wunschträume und mindestens 95% allerTräume sind Wunschträume.

3.1.3.3.2 Die-meisten-Sätze

Zwei Beispiele für (deskriptive) Die-meisten-Sätze:

(1) Die meisten Menschen streben nach Glück.(2) Die meisten Träume sind Wunschträume.

Satz (1) könnte vereinbarungsgemäß als wahr betrachtet werden, wenn mehr als 50% derMenschen nach Glück streben. Zu beachten ist allerdings, dass der Ausdruck ›die meis-ten‹ nicht blind mit ›mehr als 50%‹ zu übersetzen ist. Der Ausdruck ›die meisten‹ bedeu-tet nur dann soviel wie ›mehr als 50%‹, wenn die betrachtete Grundgesamtheit in genauzwei Teilmengen zerlegt worden ist, im obigen Beispiel die Grundgesamtheit der Men-schen in die Menge der nach Glück strebenden Menschen und in die Menge der nichtnach Glück strebenden Menschen. Oft wird jedoch die Grundgesamtheit in mehr als zweiTeilmengen zerlegt gedacht. Beispielsweise bedeutet der Satz ›Die meisten der abge-gebenen Stimmen felen bei der letzten Wahl auf die ÖVP.‹ nicht, dass die ÖVP bei derletzten Wahl mehr als 50% der abgegebenen Stimmen erhalten hat, sondern nur, dass der

55 Statt ›Quasi-Allsatz‹ wird auch ›quasi-universeller Satz‹ verwendet.56 Satz (1) impliziert also unter anderem, dass es mindestens einen Menschen gibt, der nicht nach Glückstrebt; weiters, dass es mindestens einen Menschen gibt, der nach Glück strebt; somit: dass es mindestenszwei Menschen gibt.

2014 3 AUSSAGESÄTZE, ARTEN UND BEZIEHUNGEN 65

Prozentsatz der abgegebenen Stimmen, den die ÖVP bei der letzten Wahl erzielt hat,größer war als jeder der Prozentsätze, den die rivalisierenden Parteien erzielt haben.

3.1.3.3.3 Normalerweise-Sätze

Zwei Beispiele für (deskriptive) Normalerweise-Sätze:

(1) Menschen streben normalerweise nach Glück.(2) Träume sind normalerweise Wunschträume.

Die logische Untersuchung der Normalerweise-Sätze57 ist erst in den letzten 30 Jahren inGang gekommen (Forschungsgebiet nichtmonotone Logik). Grundsätzlich kann man dieWahrheitsbedingungen für Normalerweise-Sätze auf zwei verschiedene Arten festzulegenversuchen. Erstens nach der Art der klassischen Logik: Überführe einen Satz der Form›Dinge, welche die Eigenschaft F haben, haben normalerweise auch die Eigenschaft G.‹in einen Allsatz der Form ›Alle Dinge, welche die Eigenschaft F haben, haben auch dieEigenschaft G, sofern keine abnormalen Umstände vorliegen.‹ und mache dir dann dieMühe, eine möglichst vollständige Liste der abnormalen Umstände aufzustellen. Daswürde für unseren Beispielsatz (1) heißen, dass er in einen Allsatz der folgenden Art zuüberführen wäre: ›Alle Menschen streben nach Glück, sofern keine abnormalen Um-stände vorliegen, das heißt, sofern sie nicht gerade im Koma liegen usw. usw.‹. Dienichtmonotonen Logiker halten diese Vorgangsweise wegen der angeblichen Uner-schöpfichkeit der abnormalen Umstände für verfehlt. Die meisten schlagen stattdessenvor, Normalerweise-Sätze als Wahrscheinlichkeitssätze aufzufassen. Unser Beispielsatz(1) sollte gemäß ihrer Auffassungsweise, grob gesagt, in einen Satz der Form ›Die Wahr-scheinlichkeit dafür, dass x nach Glück strebt, gegeben den Fall, dass x ein Mensch ist,liegt im Intervall […]‹, überführt werden, wobei die Bestimmung der Intervallgrenzenvom jeweiligen Forschungsstand abhängt.

3.1.4 QUASI-GENERELLE AUSSAGESÄTZE

Es gibt eigenartige Sätze, die irgendwie generell zu sein scheinen, ohne dass sie von›mindestens ein‹, ›alle‹, ›fast alle‹, ›die meisten‹, ›normalerweise‹ usw. regiert werden.Nennen wir diese Sätze (in Anlehnung an den Wissenschaftstheoretiker Ernest Nagel)›quasi-generelle Sätze‹!58

Ein paar Beispiele für (deskriptive) quasi-generelle Sätze sind:

(1) Menschen streben nach Glück.(2) Mythen dienen der Rechtfertigung gesellschaftlicher Verhältnisse.(3) Träume sind Wunschträume.(4) Demokratien entstanden in bürgerlichen Gesellschaften.(5) Romane Wilhelm Genazinos bedienen sich des inneren Monologs.

Die obigen quasi-generellen Sätze lassen sich leicht dadurch erzeugen, dass wir in denentsprechenden Allsätzen (siehe Seite 63) den jeweiligen allquantorhaften Ausdruck er-satzlos entfernen. Was bleibt, ist ein Satz, von dem niemand weiß, unter welchen Um-ständen er als wahr, unter welchen er als falsch zu betrachten ist. Die quasi-generellenSätze haben nämlich die merkwürdige Eigenschaft, dass wir nicht wissen, was mit ihnengemeint ist, selbst wenn wir jeden Namen, der in ihnen vorkommt, problemlos verstehen.

57 Sie werden auch ›normische Sätze‹ genannt.58 In der Linguistik werden diese Sätze ›generische Sätze‹ genannt.

66 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Wir sind gezwungen, aus dem Kontext zu erraten, welcher quantorhafte Ausdruck zuergänzen ist. Es bieten sich mindestens fünf Möglichkeiten an. Ein quasi-genereller Satzwie Satz (3) kann z.B. alles Folgende bedeuten:

(3.1) Alle Träume sind Wunschträume.(3.2) Fast alle Träume sind Wunschträume.(3.3) Die meisten Träume sind Wunschträume.(3.4) Träume sind normalerweise Wunschträume.(3.5) Die Wahrscheinlichkeit, dass x ein Wunschtraum ist, gegeben den Fall, dass xein Traum ist, liegt irgendwo zwischen größer 0 und 1. (Und da sind nun überab-zählbar unendlich viele Spezifzierungen möglich.)

Die wichtigsten Lesarten von Sätzen der Form ›F sind G‹ sind also:(1) Alle F sind G.(2) Fast alle F sind G.(3) Die meisten F sind G.(4) F sind normalerweise G.(5) Pr(x ist ein G | x ist ein F) = r, wobei r>0.

Es fällt meist nicht schwer, mit quasi-generellen Sätzen rhetorisch erfolgreich zu sein:man kann treffende inhaltliche Einwände gegen präzisierte Versionen eines quasi-gene-rellen Aussagesatzes fast immer mühelos durch den Hinweis erledigen, dass sie auf einemgroben Missverständnis beruhen. Es verwundert deshalb nicht, das dieser Satztyp sichnicht nur im Alltag, sondern auch in manchen Wissenschaften großer Beliebtheit erfreut.So kam es etwa in den späten 1980er Jahren zu heftigen Auseinandersetzungen darüber,ob die Freudsche These (3) im Sinne der möglichen Lesart (3.1) verstanden werden darf(vgl. Dieter E. Zimmer, Tiefenschwindel, Rowohlt 1986).

3.2 WICHTIGE ARTEN VON AUSSAGESÄTZEN AUS SEMANTISCHER SICHT

Wir behandeln kurz diese besonders wichtigen semantischen Eigenschaftspaare:

— faktisch wahr sein, faktisch falsch sein;— logisch wahr sein, logisch falsch sein;— analytisch wahr sein, analytisch falsch sein.

3.2.1 FAKTISCH WAHRE UND FAKTISCH FALSCHE AUSSAGESÄTZE

Alle Sätze, die auf unsere wirkliche Welt, aber nicht auf jede mögliche Welt zutreffen,seien ›faktisch wahr‹ genannt; alle Sätze, die nicht auf unsere wirkliche Welt, aber aufmindestens eine mögliche Welt zutreffen, seien ›faktisch falsch‹ genannt.

Beispiel 1: Der atomare Aussagesatz ›Die Stadt Salzburg gehörte 1997 zu Öster-reich.‹ ist faktisch wahr: es ist ein historisches Faktum, dass die Stadt Salzburg 1997 zuÖsterreich gehörte. Ob der Satz ›Die Stadt Salzburg gehörte 1997 zu Österreich.‹ wahrist, ist also offenbar abhängig davon, wie die wirkliche Welt beschaffen ist, und die istnun einmal so beschaffen, dass Salzburg 1997 zu Österreich gehörte. Es hätte allerdingsauch anders kommen können. Wir können uns unschwer eine mögliche Welt vorstellen, inder Hitler den zweiten Weltkrieg gewonnen hat und in der Salzburg 1997 nicht zuÖsterreich gehört. Der Satz ›Die Stadt Salzburg gehörte 1997 zu Österreich.‹ würde aufdiese nicht wirkliche, bloß mögliche Welt nicht zutreffen. Er könnte also falsch sein,

2014 3 AUSSAGESÄTZE, ARTEN UND BEZIEHUNGEN 67

obschon er es nicht ist. Dies ist das Charakteristikum aller faktisch wahren Aussagesätze,ob sie nun atomar sind oder nicht: sie treffen zwar auf die wirkliche Welt zu, aber aufmindestens eine mögliche Welt treffen sie nicht zu.

Beispiel 2: Der atomare Aussagesatz ›Die Stadt Salzburg gehörte 1997 zu Deutsch-land.‹ ist faktisch falsch: es ist ein historisches Faktum, dass die Stadt Salzburg 1997nicht zu Deutschland gehörte. Ob der Satz ›Die Stadt Salzburg gehörte 1997 zu Deutsch-land.‹ falsch ist, ist also offenbar davon abhängig, wie die wirkliche Welt beschaffen ist,und die ist nun einmal so beschaffen, dass Salzburg 1997 nicht zu Deutschland gehörte.Doch wieder können wir feststellen: Es hätte auch anders kommen können. Wir könnenuns unschwer eine mögliche Welt vorstellen, in der Hitler den zweiten Weltkrieg gewon-nen hat und in der Salzburg 1997 zu Deutschland gehört. Der Satz ›Die Stadt Salzburggehörte 1997 zu Deutschland.‹ würde auf diese nicht wirkliche, bloß mögliche Weltzutreffen. Er könnte also wahr sein, obschon er es nicht ist. Dies ist das Charakteristikumaller faktisch falschen Aussagesätze, ob sie nun atomar sind oder nicht: sie treffen zwarauf die wirkliche Welt nicht zu, aber auf mindestens eine mögliche Welt treffen sie zu.

3.2.2 LOGISCH WAHRE UND LOGISCH FALSCHE AUSSAGESÄTZE

Alle Sätze, die sowohl auf unsere wirkliche Welt als auch auf jede andere mögliche Weltzutreffen, seien ›logisch wahr‹ genannt; alle Sätze, die weder auf unsere wirkliche Weltnoch auf irgendeine andere mögliche Welt zutreffen, seien ›logisch falsch‹ genannt.

Beispiel 1: Der molekulare Aussagesatz ›Die Stadt Salzburg gehörte 1997 zu Öster-reich, oder die Stadt Salzburg gehörte 1997 nicht zu Österreich.‹ ist logisch wahr: er trifftnicht nur auf die wirkliche Welt zu, sondern auch auf jede bloß mögliche Welt, zumBeispiel auch auf jene mögliche Welt, in der Hitler den zweiten Weltkrieg gewonnen hatund in der Salzburg 1997 nicht zu Österreich gehört. Unser Beispielsatz trifft auf jedemögliche Welt zu, gleichgültig wie sie beschaffen ist.

Beispiel 2: Der molekulare Aussagesatz ›Die Stadt Salzburg gehörte 1997 zu Öster-reich und die Stadt Salzburg gehörte 1997 nicht zu Österreich.‹ ist logisch falsch: er trifftweder auf die wirkliche Welt zu, noch auf jede bloß mögliche Welt, zum Beispiel auchnicht auf jene mögliche Welt, in der Hitler den zweiten Weltkrieg gewonnen hat und inder Salzburg 1997 nicht zu Österreich gehört. Unser Beispielsatz trifft auf keine einzigemögliche Welt zu, gleichgültig wie sie beschaffen ist.

Es gilt für alle Aussagesätze A:

Wenn A atomar ist, dann ist A weder logisch wahr noch logisch falsch.

Wenn A faktisch wahr oder faktisch falsch ist, dann ist A weder logisch wahr nochlogisch falsch.

A ist logisch wahr gdw die Verneinung von A logisch falsch ist.

Weitere einfache Beispiele für logisch wahre Aussagesätze sind (wobei wir stillschwei-gend voraussetzen, dass die gestaltgleichen Namen in diesen Beispielsätzen jeweils die-selbe Bedeutung haben):Wenn Wolfgang Schüssel SPÖ-Mitglied ist, dann ist Wolfgang Schüssel SPÖ-Mitglied.Es ist nicht der Fall, dass Hilary Clinton sowohl die Vorwahlen 2008 gewinnt als auchnicht gewinnt.Jeder Mensch, der erwachsen und berufstätig ist, ist berufstätig.

Einfache Beispiele für logisch falsche Aussagesätze sind:

68 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Es gibt jemanden, der SPÖ-Mitglied und nicht SPÖ-Mitglied ist.Hilary Clinton gewinnt die Vorwahlen 2008 und gewinnt die Vorwahlen 2008 nicht.Nicht jeder Mensch, der erwachsen und berufstätig ist, ist berufstätig.

Man rufe sich bei der Beurteilung von Aussagesätzen auf Wahrheit und Falschheit in Erinnerung (vgl.

3.1.1.2), dass die stillschweigende Voraussetzung „Wenn mehrere gestaltgleiche Namen in ein und

demselben Satz vorkommen, dann haben alle diese gestaltgleichen Namen in diesem Satz dieselbe

Bedeutung“ nicht immer erfüllt ist. Wenn diese stillschweigende Voraussetzung jedoch nicht erfüllt ist,

dann darf der betreffende Satz nicht blind auf Wahrheit und Falschheit beurteilt, sondern muss para-

phrasiert werden. Zwei einfache Beispiele.

Erstes Beispiel: Der Aussagesatz

Wenn Richard Burton ein Engländer war, dann war Richard Burton ein Engländer.

ist dann und nur dann logisch wahr, wenn die beiden dortigen mit ›Richard Burton‹ gestaltgleichen

Eigennamen und die dortigen beiden mit ›ein Engländer‹ gestaltgleichen generellen Namen dieselbe

Bedeutung haben. Wenn nicht, dann ist zu paraphrasieren. Beispielsweise ist folgende Paraphrase 1

Wenn der Forscher Richard Burton (1821–1890) ein Engländer im engen Sinn des Wortes war,

dann war der Filmschauspieler Richard Burton (1925–1985) ein Engländer im engen Sinn des

Wortes.

nicht logisch wahr, sondern faktisch falsch (denn der Wenn-Teil ist wahr, der Dann-Teil jedoch falsch),

während etwa die folgende Paraphrase 2

Wenn der Filmschauspieler Richard Burton (1925–1985) ein Engländer im engen Sinn des

Wortes war, dann war der Forscher Richard Burton (1821–1890) ein Engländer im engen Sinn

des Wortes.

nicht logisch wahr, sondern faktisch wahr ist (denn der Wenn-Teil ist in der wirklichen Welt falsch und

somit der ganze Wenn-dann-Satz, aufgefasst als Implikationssatz, in der wirklichen Welt wahr; ander-

seits ist eine mögliche Welt vorstellbar, in der die Paraphrase 2 falsch ist, weil in dieser möglichen

Welt der Schauspieler Burton, aber nicht der Forscher Burton ein Engländer im engen Sinn des Wortes

ist).

Zweites Beispiel: Der Aussagesatz

Nicht jeder Bauer ist ein Bauer.

ist dann und nur dann logisch falsch, wenn die beiden generellen Namen, die in ihm vorkommen,

dieselbe Bedeutung haben. Wenn aber jemand, der diesen Satz äußert, nur auf eine Aufmerksamkeit

erweckende Art mitteilen wollte, was die folgende Paraphrase klar macht, nämlich:

Nicht jeder Landwirt ist ein tölpelhafter Grobian.

dann ist der ursprüngliche Aussagesatz bei dieser Lesart nicht als logisch falsch, sondern als faktisch

wahr zu beurteilen.

Den Erfahrungswissenschaftler interessieren hauptsächlich nur solche Sätze, die zwar aufdie wirkliche Welt, aber nicht auf jede möglicheWelt zutreffen. Nur faktische, nicht logi-sche Wahrheit ist Ziel erfahrungswissenschaftlicher Forschung. Ob ein Satz logisch wahrist und deshalb nicht empirisch auf Wahrheit getestet zu werden braucht, lässt sich nor-malerweise im wissenschaftlichen Alltag leicht bestimmen, oft mit dem sog. gesundenMenschenverstand, notfalls mittels logischer Techniken. Aber es gibt noch eine dritte Artvon wahren bzw. falschen Aussagesätzen, die sich gewöhnlich viel schwerer von faktischwahren bzw. faktisch falschen Aussagesätzen unterscheiden lassen: dies sind die analy-tisch wahren bzw. die analytisch falschen Aussagesätze. Sie verdienen besondere Auf-merksamkeit.

2014 3 AUSSAGESÄTZE, ARTEN UND BEZIEHUNGEN 69

3.2.3 ANALYTISCH WAHRE UND ANALYTISCH FALSCHE AUSSAGESÄTZE

Alle Aussagesätze, die sich durch Rückgriff auf Defnitionen in logisch wahre Aussage-sätze übersetzen lassen, seien ›analytisch wahr‹ genannt; alle Aussagesätze, die sichdurch Rückgriff auf Defnitionen in logisch falsche Sätze übersetzen lassen, seien ›analy-tisch falsch‹ genannt. Ein Aussagesatz sei ›analytisch (rücksichtlich der jeweils verwen-deten Defnitionen)‹ genannt gdw er analytisch wahr oder analytisch falsch ist.59

Drei Beispiele für analytisch wahre Aussagesätze, für analytisch falsche Aussage-sätze und für Aussagesätze, die weder analytisch wahr noch analytisch falsch sind:

Der Allsatz ›Alle Frauen sind weiblich.‹ ist analytisch wahr, denn er lässt sich unterRückgriff darauf, dass defnitionsgemäß jeder erwachsene weibliche Mensch eine Frauist, in folgenden logisch wahren Satz übersetzen: ›Alle erwachsenen weiblichen Men-schen sind weiblich.‹. Der Existenzsatz ›Es gibt Frauen, die nicht weiblich sind.‹ ist ana-lytisch falsch, denn er lässt sich in den logisch falschen Satz ›Es gibt erwachsene weib-liche Menschen, die nicht weiblich sind.‹ übersetzen. Der faktisch wahre, atomare Satz›Jene Person, welche den Nobelpreis für Literatur im Jahr 1991 erhielt, war eine Frau.‹lässt sich weder in einen logisch wahren noch in einen logisch falschen Satz übersetzenund ist somit weder analytisch wahr noch analytisch falsch.

Der strikt universelle Satz ›Alle Allegorien sind textliche oder bildliche Darstel-lungen von Ideen als Personen.‹ ist analytisch wahr, denn er lässt sich unter Rückgriffdarauf, dass defnitionsgemäß jede Allegorie eine textliche oder bildliche Darstellung vonIdeen als Personen ist, in folgenden logisch wahren Satz übersetzen: ›Alle textlichen oderbildlichen Darstellungen von Ideen als Personen sind textliche oder bildliche Darstel-lungen von Ideen als Personen.‹. Der Aussagesatz ›Nicht alle Allegorien sind textlicheoder bildliche Darstellungen von Ideen als Personen.‹ ist analytisch falsch, denn er lässtsich in folgenden logisch falschen Satz übersetzen: ›Nicht alle textlichen oder bildlichenDarstellungen von Ideen als Personen sind textliche oder bildliche Darstellungen vonIdeen als Personen.‹. Der Allsatz ›Alle Allegorien sind bildliche Darstellungen von Ideenals Personen.‹ lässt sich unter Rückgriff darauf, dass defnitionsgemäß jede Allegorie einetextliche oder bildliche Darstellung von Ideen als Personen ist, nur in den faktisch fal-schen Allsatz ›Alle textlichen oder bildlichen Darstellungen von Ideen als Personen sindbildliche Darstellungen von Ideen als Personen.‹ übersetzen und ist somit weder analy-tisch wahr noch analytisch falsch.

Der Allsatz ›Jedes Verbrechen ist vorsätzlich.‹ ist analytisch wahr, denn er lässt sichunter Rückgriff darauf, dass defnitionsgemäß jede vorsätzliche Handlung, die mitlebenslanger oder mit mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe bedroht wird, ein Verbrechenist, in folgenden logisch wahren Satz übersetzen: ›Jede vorsätzliche Handlung, die mitlebenslanger oder mit mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe bedroht wird, ist vorsätzlich.‹.Der Satz ›Nicht jedes Verbrechen wird mit einer Freiheitsstrafe bedroht‹ ist analytischfalsch, denn er lässt sich in folgenden logisch falschen Satz übersetzen: ›Nicht jedevorsätzliche Handlung, die mit lebenslanger oder mit mehr als dreijähriger Freiheitsstrafebedroht wird, wird mit einer Freiheitsstrafe bedroht.‹. Der Satz ›Nicht jedes Verbrechenwird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht.‹ lässt sich nur in den faktisch wahren Satz›Nicht jede vorsätzliche Handlung, die mit lebenslanger oder mit mehr als dreijähriger

59 Manche Philosophen verwenden statt des Wortes ›analytisch wahr‹ das Wort ›analytisch‹ allein, mancheverwenden diese Wörter in einem weiteren Sinn als wir hier in diesem Skriptum.

70 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Freiheitsstrafe bedroht wird, wird mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe bedroht.‹ über–setzen und ist somit weder analytisch wahr noch analytisch falsch.

Es gilt für alle Aussagesätze A:

Wenn A faktisch wahr oder faktisch falsch ist, dann ist A weder analytisch wahrnoch analytisch falsch.

A ist analytisch wahr gdw die Verneinung von A analytisch falsch ist.

Da das Thema der Analytizität wichtig und schwierig ist, werden im Folgenden zwei weitere, ins

Detail gehende Beispielsblöcke für (rücksichtlich der jeweiligen Defnitionen) analytisch wahre,

analytisch falsche und weder analytisch wahre noch analytisch falsche Aussagesätze gebracht.

3.2.3.1 Beispielsblock 1: Drei einfache Beispiele aus dem Alltag

Satz 1: ›Jedes Mädchen ist weiblich.‹

Frage: Ist Satz 1 analytisch wahr rücksichtlich der folgenden Defnition?

Mit dem Ausdruck ›Mädchen‹ sei dasselbe gemeint wie mit ›weiblicher Menschunter 20 Jahren‹.60

Hinweis: Die Antwort ist ›Ja‹, wenn das Ergebnis der Einsetzung des Defniens inden Satz 1 anstelle des dortigen Wortes ›Mädchen‹ ein logisch wahrer Satz ist.

Setzen wir also im Satz 1 statt ›Mädchen‹ grammatisch passend den Ausdruck›weiblicher Mensch unter 20 Jahren‹ ein!61

Als Einsetzungsergebnis ergibt sich der Satz: ›Jeder weibliche Mensch unter 20Jahren ist weiblich.‹.62

Wir stellen fest: Das Einsetzungsergebnis ist ein logisch wahrer Satz.

Somit Antwort: Satz 1 ist analytisch wahr rücksichtlich obiger Defnition desgenerellen Namens ›Mädchen‹.

Wissenschaftstheoretische Konsequenz: Satz 1 ist rücksichtlich obiger Defnitionvon ›Mädchen‹ empirisch gehaltlos (das heißt, Satz 1 ist mit keinem einzigen faktischenSatz logisch unverträglich, er kann nicht an den Fakten scheitern). Somit: Satz 1 kannnicht und braucht nicht empirisch auf Wahrheit geprüft zu werden, wenn ›Mädchen‹ sowie oben defniert wurde.

Satz 2: ›Ilse ist ein Mädchen, das nicht weiblich ist.‹

Frage: Ist Satz 2 analytisch falsch rücksichtlich obiger Defnition von ›Mädchen‹?

Hinweis: Ja, wenn das Ergebnis der Einsetzung in den Satz 2 ein logisch falscherSatz ist.

60 Mädchen‹ ist das Defniendum, ›weiblicher Mensch unter 20 Jahren‹ das Defniens dieser Defnition.61 Genauer, aber auch viel umständlicher: Also setzen wir in einem Ausdruck, der die Gestalt von Satz 1hat, statt des dortigen Ausdrucks, der die Gestalt des Ausdrucks ›Mädchen‹ hat, genau einen Ausdruck ein,der die Gestalt des Ausdrucks ›weiblicher Mensch unter 20 Jahren‹ hat und machen dann die allfälligennötigen Streichungen und Ergänzungen, sodass das Einsetzungsergebnis ein grammatisch korrekter Satz ist.62 Genauer, aber ein wenig umständlicher: Als Einsetzungsergebnis ergibt sich ein Satz, der mit dem Aus-druck ›Jeder weibliche Mensch unter 20 Jahren ist weiblich.‹ gestaltgleich ist.

2014 3 AUSSAGESÄTZE, ARTEN UND BEZIEHUNGEN 71

Setzen wir also im Satz 2 statt ›Mädchen‹ grammatisch passend den Ausdruck›weiblicher Mensch unter 20 Jahren‹ ein!

Als Einsetzungsergebnis ergibt sich der Satz ›Ilse ist ein weiblicher Mensch unter20 Jahren, der nicht weiblich ist.‹.

Wir stellen fest: Das Einsetzungsergebnis ist ein logisch falscher Satz.

Somit Antwort: Satz 2 ist analytisch falsch rücksichtlich obiger Defnition desgenerellen Namens ›Mädchen‹.

Wissenschaftstheoretischer Hinweis: Wir verstehen nun vielleicht besser, warumSatz 1 empirisch gehaltlos ist. Satz 1 ist zwar mit vielen Sätzen von der Art des Satzes 2logisch unverträglich, aber alle diese Sätze sind – wie der Satz 2 selbst – keine faktischenSätze, sondern analytisch falsche Sätze.

Satz 3: ›Ilse ist ein hochintelligentes Mädchen.‹

Frage: Ist Satz 3 analytisch rücksichtlich obiger Defnition von ›Mädchen‹?

Hinweis: Nein, wenn das Ergebnis der Einsetzung in den Satz 3 weder ein logischfalscher noch ein logisch wahrer Satz ist.

Setzen wir also im Satz 3 statt ›Mädchen‹ grammatisch passend den Ausdruck›weiblicher Mensch unter 20 Jahren‹ ein!

Als Einsetzungsergebnis ergibt sich der Satz ›Ilse ist ein hochintelligenter weib-licher Mensch unter 20 Jahren.‹.

Wir stellen fest: Das Einsetzungsergebnis ist weder ein logisch falscher noch einlogisch wahrer Satz.

Somit Antwort: Satz 3 ist kein analytischer Satz rücksichtlich obiger Defnitiondes generellen Namens ›Mädchen‹.

Wissenschaftstheoretischer Hinweis: Satz 3 ist nicht nur kein analytischer Satz, erist zusätzlich weder logisch wahr noch logisch falsch. Also ist Satz 3 faktisch wahr oderfaktisch falsch. Ob er faktisch wahr ist, kann man empirisch herausfnden. Zum Beispiel,indem man einen validen, reliablen und objektiven Intelligenztest mit Ilse macht.

3.2.3.2 Beispielsblock 2: Sieben Beispiele aus der Kommunikationswissenschaft

Satz 4: ›Das Fernsehen ist ein tertiäres Medium.‹

Frage: Ist Satz 4 analytisch rücksichtlich der folgenden Defnition?

Mit dem Ausdruck ›tertiäres Medium‹ seien solche und nur solche Kommunikati-onsmittel bezeichnet, die zur Herstellung von Kommunikation zwischen mensch-lichem Empfänger und menschlichem Sender sowohl mindestens ein technischesGerät auf der Empfänger- als auch mindestens eines auf der Senderseite benötigen.

Hinweis: Die Antwort ist ›Nein‹, wenn das Ergebnis der Einsetzung in den Satz 4weder ein logisch wahrer Satz noch ein logisch falscher Satz ist.

Setzen wir also im Satz 4 statt ›tertiäres Medium‹ grammatisch passend den Aus-druck ›Kommunikationsmittel, die zur Herstellung von Kommunikation zwischen

72 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

menschlichem Empfänger und menschlichem Sender sowohl mindestens ein technischesGerät auf der Empfänger- als auch mindestens eines auf der Senderseite benötigen‹ ein!

Als Einsetzungsergebnis ergibt sich der Satz ›Das Fernsehen ist ein Kommunika-tionsmittel, das zur Herstellung von Kommunikation zwischen menschlichem Empfängerund menschlichem Sender sowohl mindestens ein technisches Gerät auf der Empfänger-als auch mindestens eines auf der Senderseite benötigt.‹.

Wir stellen fest: Das Einsetzungsergebnis ist weder ein logisch wahrer noch einlogisch falscher Satz.

Somit Antwort: Satz 4 ist kein analytischer Satz rücksichtlich obiger Defnitiondes generellen Namens ›tertiäres Medium‹.

Wissenschaftstheoretische Konsequenz: Satz 4 ist rücksichtlich obiger Defnitionvon ›tertiäres Medium‹ empirisch gehaltvoll (das heißt, Satz 4 ist mit faktischen Sätzenlogisch unverträglich). Somit: Satz 4 kann empirisch auf Wahrheit geprüft werden, wenn›tertiäres Medium‹ so wie oben defniert wurde. Zum Beispiel kann nachgewiesenwerden, dass Satz 4 wahr ist, indem man auf die wohlbekannte Tatsache hinweist, dassdas Fernsehen zur Herstellung von Kommunikation zwischen den Leuten, die auf demBildschirm erscheinen, und jenen, die auf den Bildschirm blicken, mindestens zweitechnische Geräte nötig sind, etwa ein Fernsehsender auf der Sender- und ein Fernseh-gerät auf der Empfängerseite.

Satz 5: ›Ein Kommunikationsmittel, das zur Herstellung von Kommunikation zwischenmenschlichem Empfänger und menschlichem Sender kein technisches Gerät auf der Em-pfängerseite benötigt, ist kein tertiäres Medium.‹

Frage: Ist Satz 5 analytisch wahr rücksichtlich der obigen Defnition von ›tertiäresMedium‹?

Hinweis: Die Antwort ist ›Ja‹, wenn das Ergebnis der Einsetzung in den Satz 5 einlogisch wahrer Satz ist.

Setzen wir also im Satz 5 statt ›tertiäres Medium‹ grammatisch passend den Aus-druck ›Kommunikationsmittel, die zur Herstellung von Kommunikation zwischenmenschlichem Empfänger und menschlichem Sender sowohl mindestens ein technischesGerät auf der Empfänger- als auch mindestens eines auf der Senderseite benötigen‹ ein!

Als Einsetzungsergebnis ergibt sich der Satz ›Ein Kommunikationsmittel, das zurHerstellung von Kommunikation zwischen menschlichem Empfänger und menschlichemSender kein technisches Gerät auf der Empfängerseite benötigt, ist kein Kommunika-tionsmittel, das zur Herstellung von Kommunikation zwischen menschlichem Empfängerund menschlichem Sender sowohl mindestens ein technisches Gerät auf der Empfänger-als auch mindestens eines auf der Senderseite benötigt.‹.

Wir stellen fest: Das Einsetzungsergebnis ist ein logisch wahrer Satz.

Somit Antwort: Satz 5 ist ein analytisch wahrer Satz rücksichtlich obiger Def-nition des generellen Namens ›tertiäres Medium‹.

Wissenschaftstheoretische Konsequenz: Eine empirische Überprüfung des Satzes 5auf faktische Wahrheit erübrigt sich; Satz 5 ist ein analytischer, kein faktischer Satz.

2014 3 AUSSAGESÄTZE, ARTEN UND BEZIEHUNGEN 73

Satz 6: ›Das Plakat, das im Wallistrakt den Tag der offenen Tür am 29.4.2008 ankündigt,ist ein solches tertiäres Medium, das kein technisches Gerät auf der Empfängerseite benö-tigt.‹

Frage: Ist Satz 6 analytisch falsch rücksichtlich der obigen Defnition von ›tertiäresMedium‹?

Hinweis: Die Antwort ist ›Ja‹, wenn das Ergebnis der Einsetzung in den Satz 6 einlogisch falscher Satz ist.

Setzen wir also im Satz 6 statt ›tertiäres Medium‹ grammatisch passend den Aus-druck ›Kommunikationsmittel, die zur Herstellung von Kommunikation zwischenmenschlichem Empfänger und menschlichem Sender sowohl mindestens ein technischesGerät auf der Empfänger- als auch mindestens eines auf der Senderseite benötigen‹ ein!

Als Einsetzungsergebnis ergibt sich der Satz ›Das Plakat, das im Wallistrakt denTag der offenen Tür am 29.4.2008 ankündigt, ist ein solches Kommunikationsmittel, daszur Herstellung von Kommunikation zwischen menschlichem Empfänger und menschli-chem Sender sowohl mindestens ein technisches Gerät auf der Empfänger- als auch min-destens eines auf der Senderseite benötigt und das kein technisches Gerät auf der Em-pfängerseite benötigt.‹.

Wir stellen fest: Das Einsetzungsergebnis ist ein logisch falscher Satz.

Somit Antwort: Satz 6 ist ein analytisch falscher Satz rücksichtlich obiger Def-nition des generellen Namens ›tertiäres Medium‹.

Wissenschaftstheoretische Konsequenz: Eine empirische Überprüfung des Satzes 6auf faktische Wahrheit erübrigt sich; Satz 6 ist ein analytischer, kein faktischer Satz.

Nun ein scheinbar gleiches, aber schwierigeres Beispiel. Sollen wir den folgenden Satz 7ebenfalls als einen analytischen Satz einschätzen?

Satz 7: ›Das Plakat ist ein solches tertiäres Medium, das kein technisches Gerät auf derEmpfängerseite benötigt.‹

Frage: Ist Satz 7 analytisch rücksichtlich der obigen Defnition von ›tertiäres Me-dium‹?

Hinweis: Die Antwort ist ›Ja‹, wenn das Ergebnis der Einsetzung in den Satz 7 einlogisch falscher oder ein logisch wahrer Satz ist.

Setzen wir also im Satz 7 statt ›tertiäres Medium‹ grammatisch passend den Aus-druck ›Kommunikationsmittel, die zur Herstellung von Kommunikation zwischenmenschlichem Empfänger und menschlichem Sender sowohl mindestens ein technischesGerät auf der Empfänger- als auch mindestens eines auf der Senderseite benötigen‹ ein!

Als Einsetzungsergebnis ergibt sich der Satz ›Das Plakat ist ein solches Kommuni-kationsmittel, das zur Herstellung von Kommunikation zwischen menschlichem Em-pfänger und menschlichem Sender sowohl mindestens ein technisches Gerät auf derEmpfänger- als auch mindestens eines auf der Senderseite benötigt und das kein tech-nisches Gerät auf der Empfängerseite benötigt.‹.

Wir sind vielleicht geneigt festzustellen: Das Einsetzungsergebnis ist ein logischfalscher Satz. Aber diese Feststellung wäre vorschnell. Wir hätten uns durch die berüch-

74 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

tigten Mehrdeutigkeiten des bestimmten Artikels ›Das‹ täuschen lassen. Machen wir unsdiese Mehrdeutigkeit an den Beispielen 6 und 7 bewusst!

Am Anfang des Satzes 6 wird ›Das‹ als Einleitung einer Kennzeichnung verwendet.Der folgende Ausdruck

Das Plakat, das im Wallistrakt den Tag der offenen Tür am 29.4.2008 ankündigt

ist ja offensichtlich eine Kennzeichnung, mittels derer über ein ganz bestimmtes Plakatgeschrieben werden soll. ›Das‹ erfüllt hier die Funktion des eindeutigeren ›Jenes‹ in derfolgenden Paraphrasierung obiger Kennzeichnung:

Jenes Plakat, das im Wallistrakt den Tag der offenen Tür am 29.4.2008 ankündigt.

Am Anfang des Satzes 7 hingegen

Das Plakat ist ein solches tertiäres Medium, das kein technisches Gerät auf der Em-pfängerseite benötigt.

wird ›Das‹ als allquantorhafter Ausdruck verwendet. Obiger Satz soll uns ja nichts überein ganz bestimmtes Plakat sagen, sondern soll uns etwas über alle Plakate mitteilen, dasssie nämlich solche tertiären Medien sind, die kein technisches Gerät auf der Empfänger-seite benötigen. Wir hätten also unseren Satz 7 besser, weil unmissverständlich, von vorn-herein so hinschreiben sollen:

Satz 7*: ›Jedes Plakat ist ein solches tertiäres Medium, das kein technisches Gerät auf derEmpfängerseite benötigt.‹

Frage: Ist Satz 7* analytisch rücksichtlich der obigen Defnition von ›tertiäres Me-dium‹?

Hinweis: Die Antwort ist ›Ja‹, wenn das Ergebnis der Einsetzung in den Satz 7* einlogisch falscher oder ein logisch wahrer Satz ist; sonst ›Nein‹.

Setzen wir also im Satz 7* statt ›tertiäres Medium‹ grammatisch passend den Aus-druck ›Kommunikationsmittel, die zur Herstellung von Kommunikation zwischenmenschlichem Empfänger und menschlichem Sender sowohl mindestens ein technischesGerät auf der Empfänger- als auch mindestens eines auf der Senderseite benötigen‹ ein!

Als Einsetzungsergebnis ergibt sich der Satz ›Jedes Plakat ist ein solches Kom-munikationsmittel, das zur Herstellung von Kommunikation zwischen menschlichemEmpfänger und menschlichem Sender sowohl mindestens ein technisches Gerät auf derEmpfänger- als auch mindestens eines auf der Senderseite benötigt und das kein tech-nisches Gerät auf der Empfängerseite benötigt.‹.

Mit anderen Worten: Für alle Kommunikationsmittel x gilt: Wenn x ein Plakat ist,dann benötigt x zur Herstellung von Kommunikation zwischen menschlichem Empfängerund menschlichem Sender einerseits sowohl mindestens ein technisches Gerät auf derEmpfänger- als auch mindestens eines auf der Senderseite und benötigt x anderseits keintechnisches Gerät auf der Empfängerseite.

Nun gibt es offensichtlich kein einziges Kommunikationsmittel x, das zur Herstel-lung von Kommunikation einerseits mindestens ein technisches Gerät auf der Empfäng-erseite benötigt und anderseits kein technisches Gerät auf der Empfängerseite benötigt.Somit folgt logisch aus dem Einsetzungsergebnis in den Satz 7*, dass es kein Kommu-nikationsmittel gibt, das ein Plakat ist. Anderseits folgt unser Einsetzungsergebnis in denSatz 7* logisch aus eben dem Satz, dass es kein Kommunikationsmittel gibt, das einPlakat ist. Das Einsetzungsergebnis in den Satz 7* ist also logisch äquivalent mit dem

2014 3 AUSSAGESÄTZE, ARTEN UND BEZIEHUNGEN 75

Satz ›Es gibt kein Kommunikationsmittel, das ein Plakat ist.‹. Dieser Satz ist nun aberunzweifelhaft faktisch falsch.

Somit Antwort: Satz 7* und damit auch Satz 7 ist ein faktisch falscher Satz, alsokein analytischer Satz.

Wir führen zum Abschluss dieses Blocks eine zweite kommunikationswissen-schaftliche Defnition ein und fragen uns, ob die folgenden drei Sätze unter Berücksichti-gung beider Defnitionen faktisch oder analytisch sind.

Satz 8: ›Kein tertiäres Medium ist ein sekundäres Medium.‹

Frage: Ist Satz 8 analytisch wahr rücksichtlich obiger Defnition von ›tertiäres Me-dium‹ und der folgenden Defnition von ›sekundäres Medium‹?

Mit dem Ausdruck ›sekundäres Medium‹ seien solche und nur solche Kommunika-tionsmittel bezeichnet, die zur Herstellung von Kommunikation zwischen mensch-lichem Empfänger und menschlichem Sender mindestens ein technisches Gerät aufder Senderseite, aber keines auf der Empfängerseite benötigen.

Hinweis: Die Antwort ist ›Ja‹, wenn das Ergebnis der Einsetzung in den Satz 8 einlogisch wahrer Satz ist.

Setzen wir also im Satz 8 sowohl für ›sekundäres Medium‹ als auch für ›tertiäresMedium‹ unter Rückgriff auf die Defnitionen dieser beiden Ausdrücke grammatischpassend ein!

Als Einsetzungsergebnis ergibt sich der Satz ›Kein Kommunikationsmittel, das zurHerstellung von Kommunikation zwischen menschlichem Empfänger und menschlichemSender sowohl mindestens ein technisches Gerät auf der Empfänger- als auch mindestenseines auf der Senderseite benötigt, ist ein Kommunikationsmittel, das zur Herstellung vonKommunikation zwischen menschlichem Empfänger und menschlichem Sender mindes-tens ein technisches Gerät auf der Senderseite, aber keines auf der Empfängerseite benö-tigt.‹.

Wir stellen fest: Das Einsetzungsergebnis ist ein logisch wahrer Satz.

Somit Antwort: Satz 8 ist ein analytisch wahrer Satz rücksichtlich obiger Def-nitionen der generellen Namen ›tertiäres Medium‹ und ›sekundäres Medium‹.

Wissenschaftstheoretische Konsequenz: Satz 8 braucht nicht empirisch geprüft zuwerden.

Satz 9: ›Mindestens ein tertiäres Medium ist ein sekundäres Medium.‹

Frage: Ist Satz 9 analytisch falsch rücksichtlich der Defnitionen von ›tertiäresMedium‹ und ›sekundäres Medium‹?

Hinweis 1: Die Antwort ist ›Ja‹, wenn das Ergebnis der Einsetzung in den Satz 9 einlogisch falscher Satz ist.

Setzen wir also im Satz 9 sowohl für ›sekundäres Medium‹ als auch für ›tertiäresMedium‹ unter Rückgriff auf die Defnitionen dieser beiden Ausdrücke grammatisch pas-send ein!

76 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Als Einsetzungsergebnis ergibt sich der Satz ›Mindestens ein Kommunikations-mittel, das zur Herstellung von Kommunikation zwischen menschlichem Empfänger undmenschlichem Sender sowohl mindestens ein technisches Gerät auf der Empfänger- alsauch mindestens eines auf der Senderseite benötigt, ist ein Kommunikationsmittel, daszur Herstellung von Kommunikation zwischen menschlichem Empfänger und menschli-chem Sender mindestens ein technisches Gerät auf der Senderseite, aber keines auf derEmpfängerseite benötigt.‹.

Wir stellen fest: Das Einsetzungsergebnis ist ein logisch falscher Satz.

Somit Antwort: Satz 9 ist ein analytisch falscher Satz rücksichtlich obiger Def-nitionen der generellen Namen ›tertiäres Medium‹ und ›sekundäres Medium‹.

Wissenschaftstheoretische Konsequenz: Satz 9 braucht nicht empirisch geprüft zuwerden.

Hinweis 2: Die Antwort auf die Ausgangsfrage ist ›Ja‹, wenn Satz 9 nicht logischfalsch ist und mit mindestens einem analytisch wahren Satz logisch unverträglich ist.

(Wir nützen hier aus, dass allgemein gilt: Jeder Aussagesatz, der nicht logischfalsch ist, ist ein analytisch falscher Satz, wenn er mit mindestens einem analytischwahren Satz logisch unverträglich ist. Analog gilt: Jeder Aussagesatz, der nicht logischfalsch ist, ist ein analytisch wahrer Satz, wenn er mit mindestens einem analytisch fal-schen Satz logisch unverträglich ist.)

Wir stellen fest: Satz 9 ist nicht selber logisch falsch und er ist mit mindestenseinem analytisch wahren Satz (nämlich dem Satz 8) logisch unverträglich (denn Satz 8und Satz 9 können nicht beide wahr sein).

Somit gilt unter Ausnützung des Hinweises 2 wiederum: Satz 9 ist analytisch falschrücksichtlich obiger Defnitionen der generellen Namen ›tertiäres Medium‹ und ›sekun-däres Medium‹.

Satz 10: ›Jedes Flugblatt ist ein sekundäres, kein tertiäres Medium.‹

Frage: Ist Satz 10 faktisch rücksichtlich der Defnitionen von ›tertiäres Medium‹und ›sekundäres Medium‹?

Hinweis: Die Antwort ist ›Ja‹, wenn das Ergebnis der Einsetzung in den Satz 10weder ein logisch falscher noch ein logisch wahrer Satz ist.

Setzen wir also im Satz 10 sowohl für ›sekundäres Medium‹ als auch für ›tertiäresMedium‹ unter Rückgriff auf die Defnitionen dieser beiden Ausdrücke grammatisch pas-send ein!

Als Einsetzungsergebnis ergibt sich der Satz ›Jedes Flugblatt ist ein Kommunika-tionsmittel, das zur Herstellung von Kommunikation zwischen menschlichem Empfängerund menschlichem Sender mindestens ein technisches Gerät auf der Senderseite, aberkeines auf der Empfängerseite benötigt; und kein Flugblatt ist ein Kommunikationsmittel,das zur Herstellung von Kommunikation zwischen menschlichem Empfänger undmenschlichem Sender sowohl mindestens ein technisches Gerät auf der Empfänger- alsauch mindestens eines auf der Senderseite benötigt.‹.

Wir stellen fest: Das Einsetzungsergebnis ist weder ein logisch falscher noch einlogisch wahrer Satz.

2014 3 AUSSAGESÄTZE, ARTEN UND BEZIEHUNGEN 77

Somit Antwort: Satz 10 ist ein faktischer Satz rücksichtlich obiger Defnitionender generellen Namen ›tertiäres Medium‹ und ›sekundäres Medium‹.

Wissenschaftstheoretische Konsequenz: Satz 10 kann empirisch auf Wahrheit ge-prüft werden.

Man sieht: es ist schon schwierig genug, analytische Sätze in wissenschaftlichen Textenzu identifzieren, selbst wenn klar ist, auf welche Defnitionen man beim Ersetzungs-vorgang zurückgreifen darf. Normalerweise ist dies jedoch nicht klar, da nur selten inkultur- und gesellschaftswissenschaftlichen Texten deutlich und richtig defniert wird.Dann wird es ein Ratespiel, welche Sätze empirisch zu testen sind.

3.3 WICHTIGE LOGISCHE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN AUSSAGESÄTZEN

Im Folgenden seien fünf wichtige logische Beziehungen zwischen Aussagesätzen in-formell charakterisiert:

— die Beziehung der logischen Implikation (A impliziert logisch B)— die Beziehung der logischen Folge (A folgt logisch aus B)— die Beziehung der logischen Äquivalenz (A ist logisch äquivalent mit B)— die Beziehung der logischen Unverträglichkeit (A ist log. unverträglich mit B)— die Beziehung der logischen Verträglichkeit (A ist logisch verträglich mit B)

3.3.1 LOGISCHE IMPLIKATION UND LOGISCHE FOLGE

Intuitiv gesprochen impliziert ein Aussagesatz A logisch einen Aussagesatz B genau dann,wenn es unmöglich ist, dass A wahr und B falsch ist; oder, mit anderen Worten, wenn dieWahrheit von A die Wahrheit von B garantiert. Es gilt:

A impliziert logisch B genau dann, wenn der Und-Satz ›A und es ist nicht der Fall,dass B‹ logisch falsch ist.

A impliziert logisch B genau dann, wenn der Konditionalsatz ›Wenn A, dann B‹logisch wahr ist.

Beispiel 1: Der Allsatz ›Alles hat ein Ende.‹ impliziert logisch den Aussagesatz ›Die Erdehat ein Ende.‹, denn es ist unmöglich, dass ersterer Satz wahr, letzterer aber falsch ist. Mitanderen Worten: Der Konditionalsatz ›Wenn alles ein Ende hat, dann hat die Erde einEnde.‹ ist logisch wahr. Mit nochmals anderen Worten: Der Und-Satz ›Alles hat ein Ende,und die Erde hat kein Ende.‹ ist logisch falsch.

Beispiel 2: Der atomare Satz ›Graz liegt in Tirol.‹ impliziert logisch den molekularenSatz ›Graz liegt in Tirol oder in Slowenien.‹. Mit anderen Worten: Der Konditionalsatz›Wenn Graz in Tirol liegt, dann liegt Graz in Tirol oder in Slowenien.‹ ist logisch wahr.Mit nochmals anderen Worten: Der Und-Satz ›Graz liegt in Tirol und es nicht der Fall,dass Graz in Tirol oder in Slowenien liegt.‹ ist logisch falsch.

Man beachte: Das Wort ›impliziert‹ wird oft auch im Sinne von ›legt die Vermutungnahe, dass‹ verwendet; diese Verwendungsweise ist nicht die der Logik. Man kann etwazurecht sagen, die Äußerung der Sekretärin, ihr Chef sei heute nicht verspätet, impliziere(lege die Vermutung nahe), dass ihr Chef sich normalerweise verspätet. Das heißt aberkeineswegs, dass der Satz ›Der Chef ist heute nicht verspätet.‹ den Satz ›Der Chef ver-

78 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

spätet sich normalerweise.‹ logisch impliziert. Es ist ja durchaus möglich, dass der Satz›Der Chef verspätet sich normalerweise.‹ falsch ist, obschon der Satz ›Der Chef ist heutenicht verspätet.‹ wahr ist.

Weiters sagen wir:

B folgt logisch aus A genau dann, wenn A B logisch impliziert.

Z.B. folgt der atomare Aussagesatz ›Hans Huber war am 21.3.2002 appetitlos.‹ logischaus dem Und-Satz ›Alle äußerst erschöpften Lebewesen sind appetitlos, und Hans Huberwar am 21.3.2002 ein äußerst erschöpftes Lebewesen.‹, denn dieser Und-Satz impliziertlogisch jenen atomaren Aussagesatz.

3.3.2 LOGISCHE ÄQUIVALENZ

Intuitiv gesprochen ist ein Aussagesatz A logisch äquivalent mit einen Aussagesatz Bgenau dann, wenn es sowohl unmöglich ist, dass A wahr und B falsch ist, als auch un-möglich ist, dass A falsch und B wahr ist; oder, mit anderen Worten, wenn die Wahrheitvon A die Wahrheit von B garantiert und wenn die Wahrheit von B die Wahrheit von Agarantiert. Es gilt:

A ist logisch äquivalent mit B genau dann, wenn A B logisch impliziert und B Alogisch impliziert.

Beispiel 1: Der atomare Aussagesatz ›München liegt in Tirol.‹ ist logisch äquivalent mitdem molekularen Aussagesatz ›Es ist nicht der Fall, dass München nicht in Tirol liegt.‹.Denn der Satz ›München liegt in Tirol‹ impliziert logisch den Satz ›Es ist nicht der Fall,dass München nicht in Tirol liegt.‹, und umgekehrt.

Beispiel 2: Der Allsatz ›Jede an progressiver Paralyse erkrankte Person hat Syphilis.‹ istlogisch äquivalent mit dem verneinten Existenzsatz ›Es gibt keine Person, die an pro-gressiver Paralyse leidet, aber keine Syphilis hat.‹. Denn der Allsatz impliziert logischden verneinten Existenzsatz, und dieser wiederum impliziert logisch den Allsatz.

Zwei Beispiele für Aussagesätze, die nicht logisch äquivalent sind.

Beispiel 1: Der Existenzsatz ›Es gibt Vögel, die Raben und nicht schwarz sind.‹ ist nichtlogisch äquivalent mit dem Existenzsatz ›Es gibt Vögel, die schwarz und keine Rabensind.‹. Denn die Wahrheit des ersten Satzes garantiert nicht die des zweiten (und um-gekehrt).

Beispiel 2: Der Allsatz ›Jede an progressiver Paralyse erkrankte Person hat Syphilis.‹ istnicht logisch äquivalent mit dem Allsatz ›Jede Person, die Syphilis hat, ist an progressiverParalyse erkrankt.‹. Denn es ist möglich (und in der Tat der Fall), dass der erste Allsatzwahr, der zweite falsch ist.

3.3.3 LOGISCHE UNVERTRÄGLICHKEIT UND VERTRÄGLICHKEIT

Intuitiv gesprochen ist ein Aussagesatz A logisch unverträglich mit einen Aussagesatz Bgenau dann, wenn es unmöglich ist, dass sowohl A als auch B wahr ist; mit anderenWorten, zwei Aussagesätze sind genau dann logisch unverträglich, wenn sie nicht beidezusammen wahr sein können; mit nochmals anderen Worten: genau dann, wenn dieWahrheit des einen die Falschheit des anderen garantiert. Es gilt:

A ist logisch unverträglich mit B genau dann, wenn A nicht-B logisch impliziert(wobei ›nicht-B‹ kurz für ›Es ist nicht der Fall, dass B‹ steht).

2014 3 AUSSAGESÄTZE, ARTEN UND BEZIEHUNGEN 79

A ist logisch unverträglich mit B genau dann, wenn der Negationssatz ›Es ist nichtder Fall, dass B‹ logisch aus A folgt.

A ist logisch unverträglich mit B genau dann, wenn der Konditionalsatz ›Wenn A,dann ist es nicht der Fall, dass B‹ logisch wahr ist.

A ist logisch unverträglich mit B genau dann, wenn der Und-Satz ›A und B‹ logischfalsch ist.

Beispiel 1: Der Allsatz ›Alle Vögel, die Raben sind, sind schwarz.‹ ist logisch unverträg-lich mit dem molekularen Aussagesatz ›Vogel Nr. 453 ist ein Rabe und nicht schwarz.‹.Mit anderen Worten: ›Alle Vögel, die Raben sind, sind schwarz.‹ impliziert logisch ›Esist nicht der Fall, dass Vogel Nr. 453 ein Rabe und nicht schwarz ist.‹. Mit nochmals an-deren Worten: Der Und-Satz ›Alle Vögel, die Raben sind, sind schwarz, und Vogel Nr.453 ist ein Rabe und nicht schwarz.‹ ist logisch falsch.

Beispiel 2: Der molekulare Aussagesatz ›Schubert beeinfusste Bach und Mozart.‹ istlogisch unverträglich mit dem molekularen Aussagesatz ›Schubert beeinfusste nichtBach, sondern Mozart.‹. Beide Sätze können nicht zusammen wahr sein.

Man beachte: Aussagesätze, die miteinander logisch unverträglich sind, könnenzwar nicht zusammen wahr sein, sie können aber durchaus zusammen falsch sein. DieserFall ist durch obiges Schubert-Beispiel veranschaulicht. Ein weiteres Beispiel: Der Und-Satz ›Es gibt Raben, und alle Raben sind schwarz.‹ ist zwar logisch unverträglich mitdem verneinten Existenzsatz ›Kein Rabe ist schwarz.‹, aber beide Aussagesätze sindfaktisch falsch. Allgemein: Es gilt zwar, dass die Wahrheit von A die Falschheit von Bgarantiert, wenn A mit B logisch unverträglich ist; es gilt aber nicht, dass die Falschheitvon A die Wahrheit von B garantiert, wenn A mit B logisch unverträglich ist.

Wir halten noch fest:

A ist logisch verträglich mit B genau dann, wenn A nicht logisch unverträglich mitB ist.

Somit:

A ist logisch verträglich mit B genau dann, wenn der Und-Satz ›A und B‹ nichtlogisch falsch ist.

Weitere Beispiele:

›Alle Vögel, die Raben sind, sind schwarz.‹ ist logisch verträglich mit ›Vogel Nr. 453 istein schwarzer Rabe.‹.

›Graz liegt in Tirol.‹ ist logisch verträglich mit ›Rosenheim liegt in Slowenien.‹.

›Alle Vögel, die Raben sind, sind schwarz.‹ ist logisch unverträglich mit ›Es gibt mindes-tens einen Vogel, der ein Rabe, aber nicht schwarz ist.‹.

›Graz liegt in Tirol, nicht in Slowenien.‹ ist logisch unverträglich mit ›Graz liegt in Slo-wenien, nicht in Tirol.‹.

3.4 EMPFEHLUNGEN FÜRS WISSENSCHAFTLICHE ARBEITEN

Empfehlung 1: Bevor Sie einen Aussagesatz als wahr oder als falsch bewerten, sollten Siesich einigermaßen darüber im Klaren sein, was (alles) er bedeutet, und, wenn es die Lageerfordert, ausdrücklich in Form mehrerer Paraphrasen jene Interpretationen angeben, bei

80 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

denen Sie ihn als wahr bzw. als falsch ansehen. Lassen Sie dabei die Regel der barmher-zigen Auslegung walten und unterstellen Sie dem Produzenten des jeweiligen Satzes alsonicht von vornherein, dass er Unsinn oder Falsches mit seinem Satz ausdrücken wollte.

Empfehlung 2: Wenn Sie einen Text lesen, der wissenschaftlichen Anspruch erhebt, abervoll von quasi-generellen Sätzen ist, dann sollten Sie jene dieser fast nichts besagendenSätze, die zumindest dem Autor wichtig erscheinen, in diskutierbare generelle Aussage-sätze oder in Wahrscheinlichkeitssätze überführen und zu erraten versuchen, welche dervon Ihnen ausformulierten Lesarten die vermutlich passendste ist. Diese kann dann mitallfälligem Erkenntnisgewinn erörtert werden. Sie sollten allerdings damit rechnen, dassein angeblich wissenschaftlicher Text, in dem selbst die zentralen Thesen quasi-generellsind, nicht viel über seinen Gegenstandsbereich zu sagen hat und sich die Mühe der Aus-legung kaum lohnt.

Empfehlung 3: Wenn Sie einen Text mit wissenschaftlichem Anspruch schreiben, solltenzumindest jene Ihrer Aussagesätze, die Sie selber für wichtig halten, nicht quasi-generellsein. Es sollte vielmehr leicht erkennbar sein, ob diese Sätze singulär oder generell oderWahrscheinlichkeitssätze sind.

Empfehlung 4: Wenn Sie einen Text mit wissenschaftlichem Anspruch schreiben, solltenSie sich zumindest über den semantischen Status jener Aussagesätze klar zu werden ver-suchen, die Sie für wichtig halten. Wenn Sie selber keine Ahnung haben, welche dieserIhnen wichtigen Aussagesätze faktisch sind (und somit auf Wahrheit zu testen sind) undwelche analytisch sind (und somit bereits defnitionsgemäß wahr bzw. falsch sind), wiesollen sich dann Ihre Leser darüber klar werden?

Empfehlung 5: Wenn Sie einen Text mit wissenschaftlichem Anspruch schreiben, solltenSie sich zumindest über logische Beziehungen zwischen jenen Aussagesätzen klar zuwerden versuchen, die Sie selber für wichtig halten. Je mehr Ihnen klar wird, was Ihrezentralen Thesen logisch implizieren, desto mehr wird Ihnen klar, was sie bedeutenund was Sie behaupten.

3.5 LITERATURHINWEISE

*Rudolf CARNAP: Einführung in die symbolische Logik mit besonderer Berücksichtigungihrer Anwendungen. — Wien; New York: Springer, 31968.63

Harald FRICKE und Rüdiger ZYMNER: Einübung in die Literaturwissenschaft: Parodierengeht über Studieren. — Paderborn (u.a.): Schöningh, 52007. (Kapitel 6)

*Benson MATES: Elementare Logik. Prädikatenlogik der ersten Stufe. — Göttingen:Vandenhoeck und Ruprecht, 1997.

*Willard van Orman QUINE: Wort und Gegenstand. — Stuttgart: Reclam, 1980. (Vor allem

Kapitel IV und V)

Helmut SEIFFERT: Einführung in die Wissenschaftstheorie. Erster Band: Sprachanalyse— Deduktion — Induktion in Natur- und Sozialwissenschaften. — München: Verlag C. H.Beck, 132003. (Erster Teil)

63 Gesternte Literatur ist nicht elementar.

2014 3 AUSSAGESÄTZE, ARTEN UND BEZIEHUNGEN 81

3.6 ÜBUNGEN

1. Welche von den folgenden Ausdrücken (a) bis (l) sind für Sie Aussagesätze?

(a) Graz liegt in Bayern.

(b) 5+7 = 24

(c) Sei A ein beliebiger Aussagesatz!

(d) Du sollst nicht töten!

(e) Emma Bovary starb an einer Überdosis Arsen.

(f) Ein jeder Engel ist schrecklich.

(g) Berechne Mittelwert und Standardabweichung!

(h) Ich entziehe Ihnen das Wort.

(i) Der Satz (i) ist falsch.

(j) Der Bruder von Thomas Mann lebte einige Zeit in Los Angeles.

(k) E = mc2

(l) Liegt Graz in Bayern?

2. Die folgenden Sätze (a) bis (j) sind aus syntaktischen Gründen mehrdeutig. Machen Sie die

Mehrdeutigkeit jeweils durch mindestens zwei syntaktisch eindeutige Paraphrasen sichtbar!

(a) Hans kam unerwartet kurz auf Besuch.

(b) Visiting relatives can be boring.

(c) Ich danke Ihnen für die Ratschläge, die nützlich waren.

(d) Did you see the man with the binoculars?

(e) […] trinken Sie nicht mit all der Kraft, die Sie haben.64

(f) Dr. Tackett Gives Talk on Moon.

(g) Wenn ich mir überlege, was diese Architekten zum Beispiel beim Wiederaufbau von

Dubrovnik alles angestellt hätten, hätte man sie dazu eingeladen.65

(h) Yoko Ono will talk about her husband John Lennon who was killed in an interview

with Barbara Walters.

(i) Zum Nachtisch gibt es Sachertorte oder Bananensplit.

(j) Two cars were reported stolen by the Groveton police yesterday.

3. Welche der folgenden Aussagesätze (a) bis (z) sind atomar? Welche molekular? Welche

partikulär? Welche strikt universell? Welche quasi-universell? Welche quasi-generell? Welche

nichts von alledem?

(a) Eugène Ysaÿes Opus 27/2 ist eine Sonate in a-Moll für Violine Solo.

(b) Eugène Ysaÿes Opus 27/2 besteht aus vier Sätzen und zeichnet sich durch seine orga-

nische Verbindung von tiefem Ausdruck und virtuoser Form aus.

(c) In Eugène Ysaÿes Opus 27/2 gibt es eine Sarabande.

(d) Alle Sätze in Eugène Ysaÿes Opus 27/2 variieren das Dies-Irae-Thema.

(e) Die meisten Aufführungen von Ysaÿes a-Moll-Sonate dauern ca. 14 Minuten.

(f) Violinsolisten lieben und fürchten Ysaÿes a-Moll-Sonate.

(g) Keiner der Sätze in Ysaÿes a-Moll-Sonate ist ein Scherzo.

(h) Die allgemeine Auffassung in der britischen Literaturkritik ist, dass der in geschicht-

licher und psychologischer Hinsicht wichtigste Roman über den ersten Weltkrieg gegen

64 Vgl. Jerzy Pilch, Zum Starken Engel, p. 72. Dort ist dieser Satz aus dem Kontext eindeutig.65 Aus einem Leserbrief im Leseforum der Salzburger Nachrichten vom 28.4.2003.

82 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Ende des 20. Jahrhunderts geschrieben worden ist: Pat Barkers The Regeneration Trilogy,

deren letzter Teil The Ghost Road 1995 den Booker Preis gewann.

(i) Romane sind mögliche Welten.

(j) Die meisten Erzählungen von Saki haben Clovis als Hauptfgur.

(k) Unter allen kanadischen Schriftstellern ist Robertson Davies der bedeutendste.

(l) Fast alle Erzählungen Sakis nehmen eine überraschende Wendung.

(m) The Cornish Trilogy von Robertson Davies ist zwar ein Campus-Roman, doch einer

von der unüblichen Art.

(n) ›Saki‹ ist das Pseudonym von Hector Hugo Munro.

(o) Wolfgang Schüssel und Jörg Haider sind Österreicher.

(p) Wolfgang Schüssel und Jörg Haider sind Freunde.

(q) Wolfgang Schüssel und Jörg Haider sind nicht Freunde.

(r) Frauen werden normalerweise älter als Männer.

(s) Nicht alle, die frustriert werden, reagieren aggressiv.

(t) Der Versuchsperson 67 wurde der Kopierer abgeschaltet.

(u) Die Versuchsperson 67 gab dem Kopierer einen Schlag und fuchte.

(v) Heiligenlegenden gehören zur Erbauungsliteratur.

(w) Nicht nur alle Heiligenlegenden, sondern auch alle religiösen Traktate in volkstümli-

cher Sprache gehören zur Erbauungsliteratur.

(x) Die meisten Österreicher kennen Hermann Maier.

(y) Hermann Maier ist genau dann ein Junggeselle, wenn er männlich und erwachsen und

weder Ehemann noch Witwer noch geschieden ist.

(z) Für alle Gasmengen x und Zeitpunkte t gilt: wenn x zu Zeit t in einem starren Behälter

ist, dann ist der Druck von x zu Zeit t direkt proportional der Temperatur von x zu Zeit t.

4. Welche der folgenden Aussagesätze (a) bis (z) sind faktisch wahr, faktisch falsch, logisch

wahr, logisch falsch, analytisch wahr, analytisch falsch?

(a) Graz liegt westlich von Linz.

(b) Graz liegt nicht westlich von Linz.

(c) Graz liegt westlich von Linz, oder Graz liegt nicht westlich von Linz.

(d) Graz liegt westlich von Linz und Graz liegt nicht westlich von Linz.

(e) Wenn Graz westlich von Linz liegt, dann liegt Graz westlich von Linz.

(f) Wenn Graz westlich von Linz liegt, dann liegt Graz nicht westlich von Linz.

(g) Jede Sonate ist eine Instrumentalkomposition.

(h) Alle Instrumentalkompositionen sind Sonaten.

(i) Nicht jede Klaviersonate ist eine Sonate.

(j) D960 ist Franz Schuberts letzte Klaviersonate.

(k) Alle Kantaten sind Singstücke für Solo- oder Chorstimmen.

(l) Keine Kantate ist eine Sonate.

(m) Einige Kantaten haben Instrumentalbegleitung, einige nicht.

(n) Einige Sonaten sind Kantaten.

(o) Einige Sonaten sind keine Sonaten.

(p) Jedes Verbrechen ist mit mehr als dreijähriger oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe

bedroht.

(q) Jedes Verbrechen ist mit mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe bedroht.

(r) Es gibt Verbrechen, die weder mit einer mehr als dreijährigen noch mit einer lebens-

langen Freiheitsstrafe bedroht sind.

(s) Es gibt Verbrechen, die nicht mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe bedroht sind.

2014 3 AUSSAGESÄTZE, ARTEN UND BEZIEHUNGEN 83

(t) Jede mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedrohte Handlung ist ein Verbrechen.

(u) Wenn es Metalle gibt, die sich nicht bei Erwärmung ausdehnen, dann dehnen sich nicht

alle Metalle bei Erwärmung aus.

(v) Es gibt Metalle, die sich bei jeder Erwärmung ausdehnen, und es gibt Metalle, die sich

nicht bei jeder Erwärmung ausdehnen.

(w) Es gibt Metalle, die sich bei jeder Erwärmung ausdehnen und nicht bei jeder Erwär-

mung ausdehnen.

(x) Es gibt Aussagesätze, die atomar und molekular sind.

(y) Jeder atomare Aussagesatz ist singulär.

(z) Jeder singuläre Aussagesatz ist atomar.

5. Welche logischen Beziehungen bestehen innerhalb der folgenden Aussagesatzgruppen (a)

bis (e), (f) bis (n), sowie (o) bis (z)?

(a) Goethe hat Torquato Tasso verfasst.

(b) Goethe, nicht Schiller hat Torquato Tasso verfasst.

(c) Schiller hat Torquato Tasso verfasst.

(d) Weder Goethe noch Schiller haben Torquato Tasso verfasst.

(e) Es ist nicht so, dass Goethe oder Schiller Torquato Tasso verfasst haben.

(f) Alle gereimten Texte sind Gedichte.

(g) Es gibt reimlose Texte, die Gedichte sind.

(h) Es gibt gereimte Texte, die keine Gedichte sind.

(i) Wenn ein Text nicht gereimt ist, dann ist er kein Gedicht.

(j) Wenn ein Text kein Gedicht ist, dann ist er nicht gereimt.

(k) Die meisten gereimten Texte sind Gedichte.

(l) Der Text

In jedem Automaten

gibt es 10 Tomaten66

ist gereimt, aber kein Gedicht.

(m) Rilkes Erste Duineser Elegie ist ein gereimter Text, aber kein Gedicht.

(n) Rilkes Erste Duineser Elegie ist ein Gedicht, aber kein gereimter Text.

(o) Alle Klavierkonzerte beginnen mit Orchestereinsatz.

(p) Beethovens 4. Klavierkonzert beginnt nicht mit Orchestereinsatz.

(q) Fast alle Klavierkonzerte beginnen mit Orchestereinsatz.

(r) Kein Klavierkonzert beginnt mit Orchestereinsatz.

(s) Es gibt Klavierkonzerte, und jedes beginnt mit Orchestereinsatz.

(t) Es gibt Klavierkonzerte.

(u) Es gibt Klavierkonzerte, die mit Orchestereinsatz beginnen.

(v) Es gibt Klavierkonzerte, die nicht mit Orchestereinsatz beginnen.

(w) Es gibt keine Klavierkonzerte.

(x) Es gibt keine Klavierkonzerte, die mit Orchestereinsatz beginnen.

(y) Es gibt keine Klavierkonzerte, die nicht mit Orchestereinsatz beginnen.

(z) Klavierkonzerte beginnen mit Orchestereinsatz.

6. Bitte stellen Sie logische Beziehungen in einem Textausschnitt aus Ihrem Fach fest.

7. Bitte stellen Sie analytische Sätze in einem Textausschnitt aus Ihrem Fach fest.

66 In ›AUTOMATEN‹ hingegen gibt es nicht nur ›TEN‹ und ›TOMATEN‹, sondern auch ›AUTO‹, ›TOM‹,›OMA‹, ›MATE‹ UND ›ATE‹.

84 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

3.7 LÖSUNGEN DER ÜBUNGEN ZUM 3. KAPITEL

1. Für die meisten Mitglieder der deutschen Sprachgemeinschaft dürften die folgenden Sätze

Aussagesätze sein:

(a) (b)

(e) (f)

(j) (k)

2. Paraphrasen:

(a) Hans kam unerwartet auf einen kurzen Besuch zu uns. — Hans kam zu uns auf Besuch. Sein

Besuch war allerdings kürzer als erwartet.

(b) Verwandte zu besuchen kann langweilig sein. — Verwandte auf Besuch können langweilig

sein.

(c) Ich danke Ihnen für Ihre Ratschläge; sie waren alle nützlich. — Ich danke Ihnen für jene

Ratschläge, die nützlich waren.

(d) Hast Du den Mann, der ein Fernglas bei sich hatte, gesehen? — Hast Du den Mann mit

Deinem Fernglas gesehen?

(e) Sammeln Sie all die Kraft, die Sie noch haben, und trinken Sie nicht! — Trinken Sie, aber

nicht mit all der Kraft, die Sie haben!

(f) Dr. Tackett hält einen Vortrag über den Mond. — Dr. Tackett hält einen Vortrag auf dem

Mond.

(g) Wenn ich mir überlege, was diese Architekten zum Beispiel beim Wiederaufbau von Du-

brovnik alles angestellt hätten, hätte man sie zur Teilnahme am Wiederaufbau dieser Stadt

eingeladen! — Wenn ich mir überlege, was diese Architekten zum Beispiel beim Wiederaufbau

von Dubrovnik alles angestellt hätten, hätte man sie dazu eingeladen, einiges beim Wiederauf-

bau dieser Stadt anzustellen!

(h) Yoko Ono wird über ihren Ehemann John Lennon sprechen, der in einem Interview mit

Barbara Walters getötet worden ist. — Yoko Ono wird in einem Interview mit Barbara Walters

über ihren ermordeten Ehemann John Lennon sprechen.

(i) Zum Nachtisch gibt es Sachertorte oder Bananensplit oder beides. — Zum Nachtisch gibt es

entweder Sachertorte oder Bananensplit, nicht beides. — Vielleicht gibt es zum Nachtisch

Sachertorte, vielleicht Bananensplit, ich bin nicht sicher.

(j) Die Polizei von Hainstadt hat gestern zwei Autos als gestohlen gemeldet. — Es wurde be-

richtet, dass zwei Autos gestern von der Polizei Hainstadts gestohlen wurden.

3. Antworten:

(a) atomar (b) molekular

(c) partikulär (d) strikt universell

(e) quasi-universell (f) quasi-generell

(g) nichts von alledem (h) nichts von alledem

(i) quasi-generell (j) quasi-universell

(k) strikt universell (l) quasi-universell

(m) molekular (n) atomar

(o) molekular (p) atomar

2014 3 AUSSAGESÄTZE, ARTEN UND BEZIEHUNGEN 85

(q) molekular (r) quasi-universell

(s) nichts von alledem (t) atomar

(u) molekular (v) quasi-generell

(w) nichts von alledem (x) quasi-universell

(y) molekular (z) strikt universell

4. Lösungen:

(a) Graz liegt westlich von Linz.

FAKTISCH FALSCH (Man muss Beobachtungen machen, um draufzukommen, dass Satz (a) falsch

ist.)

(b) Graz liegt nicht westlich von Linz.

FAKTISCH WAHR (Man muss Beobachtungen machen, um draufzukommen, dass Satz (b) wahr ist.)

(c) Graz liegt westlich von Linz, oder Graz liegt nicht westlich von Linz.

LOGISCH WAHR (Kann nicht falsch sein. Logische Form: A, oder nicht A.)

(d) Graz liegt westlich von Linz und Graz liegt nicht westlich von Linz.

LOGISCH FALSCH (Kann nicht wahr sein. Logische Form: A und nicht A.)

(e) Wenn Graz westlich von Linz liegt, dann liegt Graz westlich von Linz.

LOGISCH WAHR (Kann nicht falsch sein. Logische Form: Wenn A, dann A.)

(f) Wenn Graz westlich von Linz liegt, dann liegt Graz nicht westlich von Linz. SCHWIERIG

FAKTISCH WAHR. Denn (f) bedeutet nach klassischer logischer Auffassung der Wenn-dann-Sätze

nichts anderes als (f*), nämlich: ›Graz liegt nicht westlich von Linz, oder Graz liegt nicht westlich von

Linz.‹; und (f*) bedeutet offensichtlich nichts anderes als (f**), nämlich: ›Graz liegt nicht westlich

von Linz.‹. (f**) — und damit (f) — ist aber faktisch wahr.

Ein anderer Zugang: Gemäß klassischer Auffassung wird ›Wenn A, dann B.‹ als logisch äquivalent mit

›Es ist nicht der Fall, dass (A und nicht B).‹ betrachtet. Zum Beispiel wird ›Wenn Franz zur Party

kommt, dann kommt Frieda zur Party.‹ als logisch äquivalent mit ›Es ist nicht der Fall, dass (Franz zur

Party kommt und Frieda nicht zur Party kommt).‹ betrachtet. Somit wird gemäß klassischer Auffas-

sung ›Wenn A, dann nicht A.‹ als logisch äquivalent mit ›Es ist nicht der Fall, dass (A und nicht nicht

A).‹ betrachtet. ›nicht nicht A‹ heißt aber offensichtlich soviel wie ›A‹; etwa heißt ›Frieda kommt nicht

nicht zur Party.‹ soviel wie ›Frieda kommt zur Party.‹. Also dürfen wir statt ›Es ist nicht der Fall, dass

(A und nicht nicht A).‹ genauso gut schreiben: ›Es ist nicht der Fall, dass (A und A).‹. Nun, ›A und A.‹

ist logisch äquivalent mit ›A‹; etwa heißt ›Frieda kommt zur Party und Frieda kommt zur Party.‹ soviel

wie ›Frieda kommt zur Party.‹. Also dürfen wir statt ›Es ist nicht der Fall, dass (A und A).‹. genauso

gut schreiben ›Es ist nicht der Fall, dass A.‹. Folglich: ›Wenn A, dann nicht A.‹ ist logisch äquivalent

mit ›Es ist nicht der Fall, dass A.‹. Wir bekommen also ›Es ist nicht der Fall, dass Graz westlich von

Linz liegt.‹ aus ›Wenn Graz westlich von Linz liegt, dann liegt Graz nicht westlich von Linz.‹ mittels

folgender miteinander logisch äquivalenter Umformungsergebnisse: Ausgangssatz: ›Wenn Graz

westlich von Linz liegt, dann liegt Graz nicht westlich von Linz.‹; 1. Umformungsergebnis: ›Es ist

86 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

nicht der Fall, dass (Graz westlich von Linz liegt und Graz nicht nicht westlich von Linz liegt).‹; 2.

Umformungsergebnis: ›Es ist nicht der Fall, dass (Graz westlich von Linz liegt und Graz westlich von

Linz liegt).‹; 3. Umformungsergebnis und gleichzeitig Endergebnis: ›Es ist nicht der Fall, dass Graz

westlich von Linz liegt.‹.

(g) Jede Sonate ist eine Instrumentalkomposition.

Satz (g) ist ANALYTISCH WAHR rücksichtlich der folgenden Defnition:

Unter ›Sonate‹ sei eine mehrsätzige Instrumentalkomposition für mindestens ein Instrument

und höchstens ein Dutzend Instrumente verstanden.

Denn das Einsetzungsergebnis in (g) ist ein logisch wahrer Satz, nämlich:

Jede mehrsätzige Instrumentalkomposition für mindestens ein Instrument und höchstens ein

Dutzend Instrumente ist eine Instrumentalkomposition.

(h) Alle Instrumentalkompositionen sind Sonaten.

Satz (h) ist FAKTISCH FALSCH rücksichtlich obiger Defnition von ›Sonate‹, denn das Ein-

setzungsergebnis in (h), nämlich:

Alle Instrumentalkompositionen sind mehrsätzige Instrumentalkompositionen für mindestens

ein Instrument und höchstens ein Dutzend Instrumente.

ist ein faktisch falscher Satz.

Zum Beispiel sind Anton Bruckners Symphonien zwar mehrsätzige Instrumentalkompositionen, aber

nicht für höchstens ein Dutzend Instrumente. Und es gibt beispielsweise auch Instrumentalkomposi-

tionen, die zwar Instrumentalkompositionen für mindestens ein Instrument und höchstens ein Dutzend

Instrumente, aber nicht mehrsätzig sind; etwa hat Domenico Scarlatti mehr als 500 einsätzige Instru-

mentalkompositionen fürs Cembalo geschrieben.

(i) Nicht jede Klaviersonate ist eine Sonate. SCHWIERIG

Satz (i) ist ANALYTISCH FALSCH rücksichtlich obiger Defnition von ›Sonate‹ und folgender

Defnition von ›Klaviersonate‹:

Unter ›Klaviersonate‹ sei eine mehrsätzige Instrumentalkomposition für Klavier und nur für

Klavier verstanden.

denn das Einsetzungsergebnis in (i) ist ein logisch falscher Satz, nämlich:

Nicht jede mehrsätzige Instrumentalkomposition für Klavier und nur für Klavier ist eine mehr-

sätzige Instrumentalkomposition für mindestens ein Instrument und höchstens ein Dutzend

Instrumente.

Satz (i) ist hingegen FAKTISCH WAHR rücksichtlich obiger Defnition von ›Sonate‹ und folgender

alternativer Defnition von ›Klaviersonate‹:

Unter ›Klaviersonate‹ sei eine Instrumentalkomposition für Klavier und nur für Klavier ver-

standen.

denn das Einsetzungsergebnis in (i) ist nun ein faktisch wahrer Satz, nämlich:

Nicht jede Instrumentalkomposition für Klavier und nur für Klavier ist eine mehrsätzige Instru-

mentalkomposition für mindestens ein Instrument und höchstens eine Dutzend Instrumente.

Zum Beispiel ist Franz Liszts Klaviersonate in h-moll einsätzig.

2014 3 AUSSAGESÄTZE, ARTEN UND BEZIEHUNGEN 87

Satz (i) ist aber ANALYTISCH FALSCH rücksichtlich beider oben gebrachter Defnitionen von

›Klaviersonate‹ und der folgenden neuen, liberaleren Defnition von ›Sonate‹:

Unter ›Sonate‹ sei eine Instrumentalkomposition für mindestens ein Instrument und höchstens

ein Dutzend Instrumente verstanden.

denn beide Einsetzungsergebnisse in (i) sind logisch falsch, nämlich sowohl:

Nicht jede mehrsätzige Instrumentalkomposition für Klavier und nur für Klavier ist eine Instru-

mentalkomposition für mindestens ein Instrument und höchstens eine Dutzend Instrumente.

als auch:

Nicht jede Instrumentalkomposition für Klavier und nur für Klavier ist eine Instrumentalkom-

position für mindestens ein Instrument und höchstens eine Dutzend Instrumente.

(j) D 960 ist Franz Schuberts letzte Klaviersonate.

FAKTISCH WAHR. Gleichgültig, ob ›Klaviersonate‹ gemäß erster oder zweiter Defnition verstanden

wird. Denn sowohl ›D 960 ist Franz Schuberts letzte Instrumentalkomposition für Klavier und nur für

Klavier.‹ als auch ›D 960 ist Franz Schuberts letzte mehrsätzige Instrumentalkomposition für Klavier

und nur für Klavier.‹ sind beide faktisch wahr.

(k) Alle Kantaten sind Singstücke für Solo- oder Chorstimmen.

Satz (k) ist ANALYTISCH WAHR rücksichtlich folgender Defnition von ›Kantate‹:

Unter ›Kantate‹ sei ein Singstück für Solo- oder Chorstimmen verstanden.

denn das Einsetzungsergebnis in (k) ist ein logisch wahrer Satz, nämlich:

Alle Singstücke für Solo- oder Chorstimmen sind Singstücke für Solo- oder Chorstimmen.

(l) Keine Kantate ist eine Sonate. SCHWIERIG

Wenn man in Satz (l) unter Rückgriff auf unsere obige Defnition von ›Kantate‹ und unsere ursprüng-

liche, nicht-liberale Defnition von ›Sonate‹ einsetzt, erhält man:

Kein Singstück für Solo- oder Chorstimmen ist eine mehrsätzige Instrumentalkomposition für

mindestens ein Instrument und höchstens ein Dutzend Instrumente.

Dieses Einsetzungsergebnis in (l) ist weder ein logisch wahrer noch ein logisch falscher Satz. Trotz-

dem würde unser Urteil, bei (l) handle es sich um einen faktischen Satz, vorschnell sein, denn es ist

keine ausgemachte Sache, was unter ›Singstück‹ und was unter ›Instrumentalkomposition‹ zu ver-

stehen ist. Wir sollten auch noch klarstellen, wie diese generellen Namen defniert sind.

Angenommen, sie sind wie folgt defniert:

Unter ›Singstück‹ sei eine Komposition für Solo- oder Chorstimmen und Instrumente oder für

Solo- oder Chorstimmen allein verstanden.

Unter ›Instrumentalkomposition‹ sei eine Komposition für Instrumente und nicht für Solo- oder

Chorstimmen verstanden.

Dann erhalten wir durch grammatisch passende, allerdings stilistisch holprige Einsetzung in das erste

Einsetzungsergebnis dieses zweite Einsetzungsergebnis:

Keine Komposition für Solo- oder Chorstimmen und Instrumente oder für Solo- oder Chorstim-

men allein ist eine mehrsätzige Komposition für Instrumente (und zwar für höchstens ein

Dutzend Instrumente) und nicht für Solo- oder Chorstimmen.

88 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Das zweite Einsetzungsergebnis ist ein logisch wahrer Satz. Eine seiner logischen Formen ist nämlich

diese:

Es gibt keine Komposition x, für die gilt: (((x ist ein S und ein I) oder (x ist ein S und nicht ein

I)) und (x ist ein M und x ist ein I und x ist ein H und x ist kein S))

Wenn man sich nun klar macht, dass ›(x ist ein S und ein I) oder (x ist ein S und nicht ein I))‹ unter

denselben Bedingungen wahr ist wie ›x ist ein S‹, dann wird aus obiger logischer Form die folgende,

etwas weniger undurchsichtige:

Es gibt keine Komposition x, für die gilt: (x ist ein S und x ist ein M und x ist ein I und x ist ein

H und x ist kein S).

Nun leuchtet ein, dass es keine Komposition x geben kann, die sowohl ein S (das heißt eine Kompo-

sition für Solo- oder Chorstimmen) ist als auch kein S ist. Dass also das zweite Einsetzungsergebnis in

der Tat logisch wahr ist und Satz (l) rücksichtlich unserer hier gewählten Defnitionen von ›Kantate‹,

›Sonate‹, ›Singstück‹ und ›Instrumentalkomposition‹ ein ANALYTISCH WAHRER Satz ist.

Moral: Erst wenn wir innerhalb der jeweiligen Theorie solange einsetzen, bis alle defnierten Aus-

drücke durch undefnierte ersetzt sind, können wir — streng genommen — ein endgültiges Urteil da-

rüber fällen, ob der betrachtete Satz rücksichtlich aller Defnitionen, auf die zurückgegriffen wurde,

analytisch ist.

(m) Einige Kantaten haben Instrumentalbegleitung, einige nicht. SCHWIERIG

Wenn man in Satz (m) unter Rückgriff auf unsere obigen Defnitionen von ›Kantate‹ und ›Singstück‹

einsetzt, erhält man:

Einige Kompositionen für Solo- oder Chorstimmen und Instrumente oder für Solo- oder Chor-

stimmen allein haben Instrumentalbegleitung, einige Kompositionen für Solo- oder Chorstimm-

en und Instrumente oder für Solo- oder Chorstimmen allein haben keine Instrumentalbeglei-

tung.

Dieses Einsetzungsergebnis ist nicht nur sprachlich schwerfällig, es befremdet auch dadurch, dass

Kompositionen Instrumentalbegleitung zugeschrieben wird. Was soll es vereinbarungsgemäß heißen,

eine Komposition habe Instrumentalbegleitung? Vielleicht dieses:

Unter ›eine Komposition hat Instrumentalbegleitung‹ sei eine Komposition für Solo- oder

Chorstimmen und begleitende Instrumente verstanden.

Unter zusätzlichem Rückgriff auf diese Defnition erhält man nun:

Einige Kompositionen für Solo- oder Chorstimmen und Instrumente oder für Solo- oder

Chorstimmen allein sind Kompositionen für Solo- oder Chorstimmen und begleitende Instru-

mente, einige Kompositionen für Solo- oder Chorstimmen und Instrumente oder für Solo- oder

Chorstimmen allein sind keine Kompositionen für Solo- oder Chorstimmen und begleitende

Instrumente.

Dieses Einsetzungsergebnis ist weder logisch wahr noch falsch, Satz (m) ist somit FAKTISCH

rücksichtlich unserer Defnitionen von ›Kantate‹, ›Singstück‹ und ›eine Komposition hat Instru-

mentalbegleitung‹.

In der Tat ist Satz (m) faktisch wahr, denn es gibt einerseits Kompositionen für Solo- oder Chor-

stimmen und Instrumente, die Kompositionen für Solo- oder Chorstimmen und begleitende Instru-

mente sind (man denke etwa an Bachsche Kantaten), und es gibt anderseits Kompositionen für Solo-

oder Chorstimmen allein, die keine Kompositionen für Solo- oder Chorstimmen und begleitende

Instrumente sind (man denke etwa an Janaceks Stücke für Männerchor).

2014 3 AUSSAGESÄTZE, ARTEN UND BEZIEHUNGEN 89

(n) Einige Sonaten sind Kantaten.

Satz (n) ist ANALYTISCH FALSCH rücksichtlich unserer Defnitionen von ›Kantate‹, ›Sonate‹,

›Singstück‹ und ›Instrumentalkomposition‹, denn erstens ist Satz (n) nicht logisch falsch, zweitens ist

Satz (n) mit Satz (l) logisch unverträglich, drittens ist Satz (l) rücksichtlich unserer Defnitionen von

›Kantate‹, ›Sonate‹, ›Singstück‹ und ›Instrumentalkomposition‹ analytisch wahr (siehe oben) und

viertens gilt ja, dass jeder Aussagesatz analytisch falsch ist, wenn er nicht logisch falsch ist und mit

einem analytisch wahren Aussagesatz logisch unverträglich ist.

(o) Einige Sonaten sind keine Sonaten.

LOGISCH FALSCH (Logische Form: Es gibt mindestens zwei P, die keine P sind).

(p) Jedes Verbrechen wird mit mehr als dreijähriger oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht.

Satz (p) ist ANALYTISCH WAHR rücksichtlich der Defnition

Unter ›Verbrechen‹ sei eine Handlung verstanden, die mit mehr als dreijähriger oder mit lebens-

langer Freiheitsstrafe bedroht wird.

denn das Einsetzungsergebnis in (j) ist ein logisch wahrer Satz, nämlich:

Jede Handlung, die mit mehr als dreijähriger oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht wird,

wird mit mehr als dreijähriger oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht.

(q) Jedes Verbrechen ist mit mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe bedroht.

Satz (q) ist FAKTISCH rücksichtlich obiger Defnition von ›Verbrechen‹, denn das Einsetzungs-

ergebnis in (q) ist ein weder logisch wahrer noch ein logisch falscher Satz:

Jede Handlung, die mit mehr als dreijähriger oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht wird,

wird mit mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe bedroht.

Es ist ja möglich, dass es mindestens eine Handlung gibt, die derzeit in Österreich zwar mit lebens-

langer Freiheitsstrafe, aber nicht mit einer defnitiv mehr als dreijährigen Freiheitsstrafe bedroht wird.

Es ist in Österreich gemäß Strafgesetzbuch derzeit aber faktisch so (es könnte auch anders sein, aber

es ist nun mal so), dass jede Handlung, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht wird (z.B. Mord

oder schwerer Raub mit Todesfolge), alternativ auch mit einer Freiheitsstrafe zwischen 10 und 20

Jahren bedroht wird. Somit ist Satz (q) FAKTISCH WAHR. (Sollte es in Zukunft jedoch auch nur eine

einzige Handlung geben, die gemäß zukünftigem österreichischen Strafrecht zwar mit lebenslanger

Freiheitsstrafe, aber nicht mit einer defnitiv mehr als drei-jährigen Freiheitsstrafe bedroht wird, dann

wird Satz (q) zu dieser zukünftigen Zeit FAKTISCH FALSCH sein.)

(r) Es gibt Verbrechen, die weder mit einer mehr als dreijährigen noch mit einer lebenslangen Frei-

heitsstrafe bedroht werden.

Satz (r) ist ANALYTISCH FALSCH rücksichtlich obiger Defnition von ›Verbrechen‹, denn das

Einsetzungsergebnis in (r) ist ein logisch falscher Satz, nämlich:

Es gibt Handlungen, die mit mehr als dreijähriger oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe und

weder mit einer mehr als dreijährigen noch mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe bedroht

werden.

Wir könnten auch folgende Begründung geben: Satz (r) ist ANALYTISCH FALSCH rücksichtlich

obiger Defnition von ›Verbrechen‹, denn (r) ist nicht logisch falsch, (r) ist logisch unverträglich mit

(p), und (p) ist analytisch wahr.

90 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

(s) Es gibt Verbrechen, die nicht mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe bedroht werden.

Satz (s) ist FAKTISCH WAHR rücksichtlich obiger Defnition von ›Verbrechen‹, denn das Ein-

setzungsergebnis in (s) ist ein faktisch wahrer Satz, nämlich:

Es gibt Handlungen, die mit mehr als dreijähriger oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht

werden, und die nicht mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht werden.

Dieses etwas umständliche Einsetzungsergebnis ist bedeutungsgleich mit dem weniger umständlichen

Satz ›Es gibt Handlungen, die mit mehr als dreijähriger, aber nicht mit lebenslanger Freiheitsstrafe

bedroht werden.‹. Dieser Satz ist faktisch wahr. So wird zum Beispiel erpresserische Entführung mit

10 bis 20 Jahren, aber nicht mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht.

(t) Jede mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedrohte Handlung ist ein Verbrechen.

Satz (t) ist ANALYTISCH WAHR rücksichtlich obiger Defnition von ›Verbrechen‹, denn das Ein-

setzungsergebnis in (t) ist ein logisch wahrer Satz, nämlich:

Jede mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedrohte Handlung wird mit mehr als dreijähriger oder mit

lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht.

(u) Wenn es Metalle gibt, die sich nicht bei Erwärmung ausdehnen, dann dehnen sich nicht alle

Metalle bei Erwärmung aus.

LOGISCH WAHR (Kann nicht falsch sein. Logische Form: Wenn es Dinge gibt, die nicht die Eigen-

schaft P haben, dann haben nicht alle Dinge die Eigenschaft P.)

(v) Es gibt Stoffe, die sich bei jeder Erwärmung ausdehnen, und es gibt Stoffe, die sich nicht bei jeder

Erwärmung ausdehnen.

FAKTISCH WAHR (Könnte falsch sein, ist es aber nicht. Logische Form: Es gibt Dinge, welche die

Eigenschaft P haben, und es gibt Dinge, welche nicht die Eigenschaft P haben.)

(w) Es gibt Stoffe, die sich bei jeder Erwärmung ausdehnen und nicht bei jeder Erwärmung aus-

dehnen.

LOGISCH FALSCH (Kann nicht wahr sein. Logische Form: Es gibt Dinge, die haben die Eigen-

schaft P und haben sie nicht.)

(x) Es gibt Aussagesätze, die atomar und molekular sind.

Satz (x) ist ANALYTISCH FALSCH rücksichtlich der folgenden beiden Defnitionen:

Unter ›atomarer Aussagesatz‹ sei ein solcher Aussagesatz verstanden, der keinen (echten) Teil-

satz und keinen quantorhaften Ausdruck enthält. Unter ›molekularer Aussagesatz‹ sei ein sol-

cher Aussagesatz verstanden, der mindestens einen (echten) Teilsatz und keinen quantorhaften

Ausdruck enthält.

denn das Einsetzungsergebnis in (x) ist ein logisch falscher Satz, nämlich:

Es gibt Aussagesätze, die keinen Teilsatz und keinen quantorhaften Ausdruck enthalten und die

mindestens einen Teilsatz und keinen quantorhaften Ausdruck enthalten.

(y) Jeder atomare Aussagesatz ist singulär.

Satz (y) ist ANALYTISCH WAHR rücksichtlich folgender Defnition von ›singulärer Aussagesatz‹:

2014 3 AUSSAGESÄTZE, ARTEN UND BEZIEHUNGEN 91

Unter ›singulärer Aussagesatz‹ sei ein solcher Aussagesatz verstanden, der atomar oder mole-

kular ist.

denn das Einsetzungsergebnis in (y) ist ein logisch wahrer Satz, nämlich:

Jeder atomare Aussagesatz ist atomar oder molekular.

(z) Jeder singuläre Aussagesatz ist atomar.

Satz (z) ist FAKTISCH FALSCH rücksichtlich obiger Defnition von ›singulär‹. Wir erhalten unter

Rückgriff auf die Defnition von ›singulär‹ das folgende Einsetzungsergebnis in (z):

Jeder atomare oder molekulare Aussagesatz ist atomar.

Dieses Einsetzungsergebnis ist logisch äquivalent mit dem Satz:

Jeder molekulare Aussagesatz ist atomar.

Es gibt jedoch Aussagesätze, die molekular, aber nicht atomar sind; etwa ist ›Linz ist eine Stadt, und

Tirol ist ein Bundesland.‹ ein solcher Aussagesatz.

5. Antworten:67

LOGISCHE BEZIEHUNGEN INNERHALB DER AUSSAGESATZGRUPPE (a) BIS (e):

Logische Implikation:

(a) impliziert logisch (a).

(a) impliziert logisch weder (b) noch (c) noch (d) noch (e).

(b) impliziert logisch (a). (b) impliziert logisch (b).

(b) impliziert logisch weder (c) noch (d) noch (e).

(c) impliziert logisch (c).

(c) impliziert logisch weder (a) noch (b) noch (d) noch (e).

(d) impliziert logisch (d). (d) impliziert logisch (e).

(d) impliziert logisch weder (a) noch (b) noch (c).

(e) impliziert logisch (d). (e) impliziert logisch (e).

(e) impliziert logisch weder (a) noch (b) noch (c).

67 Wenn Sie noch keinen Grundkurs in Logik besucht haben, dann werden wohl weit mehr als ein Dutzendder folgenden Antworten nicht mit Ihrer Intuition übereinstimmen. Bitte seien Sie dadurch nicht irritiert!Logisch korrektes Schließen lässt sich so wenig auf nur intuitiver Basis durchführen wie z.B. Malnehmenoder Wurzelziehen. Von einem allgemeinen Standpunkt aus betrachtet ist es auffallend, dass sich jeder anRechenfehlern in wissenschaftlichen Arbeiten stößt, doch fast niemand an logischen Fehlern. Einer derHauptgründe hierfür ist ebenso banal wie fatal: Während jeder Akademiker irgendwann im Verlauf seinerAusbildung das Zusammenzählen, Wegzählen, Malnehmen, Teilen und einige weitere nützliche mathe-matische Techniken erlernt hat, hat fast niemand selbst die simpelsten logischen Techniken erlernt — manstößt sich an den logischen Fehlern einfach deshalb so selten, weil man sie so selten erkennt. Es ist auswissenschaftstheoretischer Sicht bedenklich, dass den meisten Studierenden im Verlauf ihrer Ausbildungniemals die Gelegenheit geboten wird zu erlernen, wie man logische Beziehungen zwischen Sätzen fest-stellt und wie man logisch korrekt schließt.

92 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Logische Folge:

(a) folgt logisch aus (a).

Weder (b) noch (c) noch (d) noch (e) folgen logisch aus (a).

(a) folgt logisch aus (b). (b) folgt logisch aus (b).

Weder (c) noch (d) noch (e) folgen logisch aus (b).

(c) folgt logisch aus (c).

Weder (a) noch (b) noch (d) noch (e) folgen logisch aus (c).

(d) folgt logisch aus (d). (e) folgt logisch aus (d).

Weder (a) noch (b) noch (c) folgen logisch aus (d).

(d) folgt logisch aus (e). (e) folgt logisch aus (e).

Weder (a) noch (b) noch (c) folgen logisch aus (e).

Logische Äquivalenz:

(a) ist logisch äquivalent mit (a).

(a) ist weder mit (b) noch mit (c) noch mit (d) noch mit (e) logisch äquivalent.

(b) ist logisch äquivalent mit (b).

(b) ist weder mit (a) noch mit (c) noch mit (d) noch mit (e) logisch äquivalent.

(c) ist logisch äquivalent mit (c).

(c) ist weder mit (a) noch mit (b) noch mit (d) noch mit (e) logisch äquivalent.

(d) ist logisch äquivalent mit (d). (d) ist logisch äquivalent mit (e).

(d) ist weder mit (a) noch mit (b) noch mit (c) logisch äquivalent.

(e) ist logisch äquivalent mit (d). (e) ist logisch äquivalent mit (e).

(e) ist weder mit (a) noch mit (b) noch mit (c) logisch äquivalent.

Logische Unverträglichkeit und Verträglichkeit:

(a) ist logisch verträglich mit (a), (b) und (c).68

68 Dass (a) mit (c) logisch verträglich sein soll, mag befremden. Denn wir neigen dazu, uns noch zweiSätze zu (a) und (c) hinzuzudenken, nämlich: (1) ›Goethe ist nicht identisch mit Schiller.‹; und (2) ›Für allePersonen x und y sowie für alle Texte z gilt: wenn x z verfasst hat und wenn y z verfasst hat, dann ist x mit yidentisch.‹. In der Tat ist jener Satz, den wir erhalten, wenn wir (a) mit (1) und (2) mittels jeweils einem›und‹ verbinden, mit dem Satz (c) logisch unverträglich. Aber unsere Aufgabe war es nicht, zu beurteilen,ob der Satz ›Goethe hat Torquato Tasso verfasst und Goethe ist nicht identisch mit Schiller und für allePersonen x und y sowie für alle Texte z gilt: wenn x z verfasst hat und wenn y z verfasst hat, dann ist x mit yidentisch.‹ mit dem Satz ›Schiller hat Torquato Tasso verfasst.‹ logisch unverträglich ist. Unsere Aufgabewar vielmehr, zu beurteilen, ob der Satz ›Goethe hat Torquato Tasso verfasst.‹ mit dem Satz ›Schiller hatTorquato Tasso verfasst.‹ logisch unverträglich ist. Diese beiden Sätze sind aber in dem prinzipiell mögli-chen Fall zusammen wahr, in dem der Eigenname ›Goethe‹ dieselbe Person bezeichnet wie der Eigenname›Schiller‹. (Nehmen wir z.B. statt (c) den Satz (c*): ›Der Ehemann von Christiane Vulpius hat TorquatoTasso verfasst.‹. Zwar ist in (c*) der singuläre Name ›der Ehemann von Christiane Vulpius‹ ebenso wie in

2014 3 AUSSAGESÄTZE, ARTEN UND BEZIEHUNGEN 93

(a) ist logisch unverträglich mit (d) und (e).

(b) ist logisch verträglich mit (a) und (b).

(b) ist logisch unverträglich mit (c), (d) und (e).

(c) ist logisch verträglich mit (a) und (c).

(c) ist logisch unverträglich mit (b), (d) und (e).

(d) ist logisch verträglich mit (d) und (e).

(d) ist logisch unverträglich mit (a), (b) und (c).

(e) ist logisch verträglich mit (d) und (e).

(e) ist logisch unverträglich mit (a), (b) und (c).

LOGISCHE BEZIEHUNGEN INNERHALB DER AUSSAGESATZGRUPPE (f) BIS (n):

Logische Implikation:

(f) impliziert logisch (f). (f) impliziert logisch (j).

(f) impliziert logisch weder (g) noch (h) noch (i) noch (k) noch (l) noch (m) noch (n).

(g) impliziert logisch (g).

(g) impliziert logisch weder (f) noch (h) noch (i) noch (j) noch (k) noch (l) noch (m) noch (n).

(h) impliziert logisch (h).

(h) impliziert logisch weder (f) noch (g) noch (i) noch (j) noch (k) noch (l) noch (m) noch (n).

(i) impliziert logisch (i).

(i) impliziert logisch weder (f) noch (g) noch (h) noch (j) noch (k) noch (l) noch (m) noch (n).

(j) impliziert logisch (f). (j) impliziert logisch (j).

(j) impliziert logisch weder (g) noch (h) noch (i) noch (k) noch (l) noch (m) noch (n).

(k) impliziert logisch (k).

(k) impliziert logisch weder (f) noch (g) noch (h) noch (i) noch (j) noch (l) noch (m) noch (n).

(l) impliziert logisch (h). (l) impliziert logisch (l).

(l) impliziert logisch weder (f) noch (g) noch (i) noch (j) noch (k) noch (m) noch (n).

(m) impliziert logisch (h). (m) impliziert logisch (m).

(m) impliziert logisch weder (f) noch (g) noch (i) noch (j) noch (k) noch (l) noch (n).

(n) impliziert logisch (g). (n) impliziert logisch (n).

(n) impliziert logisch weder (f) noch (h) noch (i) noch (j) noch (k) noch (l) noch (m).

(c) der singuläre Name ›Schiller‹ verschieden von dem in (a) verwendeten singulären Namen ›Goethe‹,aber diesmal denken wir uns nicht zu (a) und (c*) hinzu, dass Goethe verschieden von dem Ehemann vonChristiane Vulpius ist, und haben deshalb keine Schwierigkeit anzuerkennen, dass (a) und (c*) zusammenwahr sein können.)

94 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Logische Folge:

(f) folgt logisch aus (f). (j) folgt logisch aus (f).

Weder (g) noch (h) noch (i) noch (k) noch (l) noch (m) noch (n) folgen logisch aus (f).

(g) folgt logisch aus (g).

Weder (f) noch (h) noch (i) noch (j) noch (k) noch (l) noch (m) noch (n) folgen logisch aus (g).

(h) folgt logisch aus (h).

Weder (f) noch (g) noch (i) noch (j) noch (k) noch (l) noch (m) noch (n) folgen logisch aus (h).

(i) folgt logisch aus (i).

Weder (f) noch (g) noch (h) noch (j) noch (k) noch (l) noch (m) noch (n) folgen logisch aus (i).

(f) folgt logisch aus (j). (j) folgt logisch aus (j).

Weder (g) noch (h) noch (i) noch (k) noch (l) noch (m) noch (n) folgen logisch aus (j).

Und so weiter und so weiter. Die Lösungen ergeben sich eindeutig aus den Lösungen zur logischen

Implikation nach dem Schema ›B folgt logisch aus A gdw A B logisch impliziert.‹.

Logische Äquivalenz:

(f) ist logisch äquivalent mit (f). (f) ist logisch äquivalent mit (j).

(f) ist mit keinem weiteren Satz in dieser Aussagesatzgruppe logisch äquivalent.

(g) ist logisch äquivalent mit (g).

(g) ist mit keinem weiteren Satz in dieser Aussagesatzgruppe logisch äquivalent.

(h) ist logisch äquivalent mit (h).

(h) ist mit keinem weiteren Satz in dieser Aussagesatzgruppe logisch äquivalent.

(i) ist logisch äquivalent mit (i).

(i) ist mit keinem weiteren Satz in dieser Aussagesatzgruppe logisch äquivalent.

(j) ist logisch äquivalent mit (f). (j) ist logisch äquivalent mit (j).

(j) ist mit keinem weiteren Satz in dieser Aussagesatzgruppe logisch äquivalent.

(k) ist logisch äquivalent mit (k).

(k) ist mit keinem weiteren Satz in dieser Aussagesatzgruppe logisch äquivalent.

(l) ist logisch äquivalent mit (l).

(l) ist mit keinem weiteren Satz in dieser Aussagesatzgruppe logisch äquivalent.

(m) ist logisch äquivalent mit (m).

(m) ist mit keinem weiteren Satz in dieser Aussagesatzgruppe logisch äquivalent.

(n) ist logisch äquivalent mit (n).

(n) ist mit keinem weiteren Satz in dieser Aussagesatzgruppe logisch äquivalent.

2014 3 AUSSAGESÄTZE, ARTEN UND BEZIEHUNGEN 95

Logische Unverträglichkeit und Verträglichkeit:

(f) ist logisch verträglich mit (f), (g), (i), (j), (k) und (n).

(f) ist logisch unverträglich mit (h), (l) und (m).

(g) ist logisch verträglich mit (f), (g), (h), (j), (k), (l), (m) und (n).

(g) ist logisch unverträglich mit (i).

(h) ist logisch verträglich mit (g), (h), (i), (k), (l), (m) und (n).

(h) ist logisch unverträglich mit (f) und (j).

(i) ist logisch verträglich mit (f), (h), (i), (j), (k), (l) und (m).

(i) ist logisch unverträglich mit (g) und (n).

(j) ist logisch verträglich mit (f), (g), (i), (j), (k) und (n).

(j) ist logisch unverträglich mit (h), (l) und (m).

(k) ist mit jedem Satz in dieser Aussagesatzgruppe logisch verträglich.

(l) ist logisch verträglich mit (g), (h), (i), (k), (l), (m) und (n).

(l) ist logisch unverträglich mit (f) und (j).

(m) ist logisch verträglich mit (g), (h), (i), (k), (l) und (m).

(m) ist logisch unverträglich mit (f), (j) und (n).

(n) ist logisch verträglich mit (f), (g), (h), (j), (k), (l) und (n).

(n) ist logisch unverträglich mit (i) und (m).

LOGISCHE BEZIEHUNGEN INNERHALB DER AUSSAGESATZGRUPPE (o) BIS (z):

Vorbemerkung: Wegen der syntaktisch bedingten Vieldeutigkeit des quasi-generellen Satzes (z) kann

nicht entschieden werden, ob irgendein Satz in dieser Aussagesatzgruppe (also auch (z) selbst) in

irgendeiner logischen Beziehung zu (z) steht. Am Beispielsatz (z) zeigt sich ein großer rhetorischer

Vorteil und ein großer wissenschaftlicher Nachteil eines jeden quasi-generellen Satzes: man kann nicht

herausfnden, welche Sätze er logisch impliziert, aus welchen Sätzen er logisch folgt, mit welchen

Sätzen er logisch äquivalent ist und mit welchen Sätzen er logisch verträglich oder unverträglich ist.

Wir werden deshalb (z) im Folgenden nicht mehr betrachten und es, streng genommen, nur mehr mit

der Aussagesatzgruppe (o) bis (y) zu tun haben.

Logische Implikation:

(o) impliziert logisch (o). (o) impliziert logisch (y).

(o) impliziert logisch keinen weiteren Satz in der Aussagesatzgruppe (o) bis (y).

(p) impliziert logisch (p). (p) impliziert logisch (v).

(p) impliziert logisch keinen weiteren Satz in der Aussagesatzgruppe (o) bis (y).

(q) impliziert logisch (q). (q) impliziert logisch (t). (q) impliziert logisch (u). (q) impliziert logisch (v).

96 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

(q) impliziert logisch keinen weiteren Satz in der Aussagesatzgruppe (o) bis (y).

(r) impliziert logisch (r). (r) impliziert logisch (x).

(r) impliziert logisch keinen weiteren Satz in der Aussagesatzgruppe (o) bis (y).

(s) impliziert logisch (o). (s) impliziert logisch (s). (s) impliziert logisch (t). (s) impliziert logisch (u).

(s) impliziert logisch (y).

(s) impliziert logisch keinen weiteren Satz in der Aussagesatzgruppe (o) bis (y).

(t) impliziert logisch (t).

(t) impliziert logisch keinen weiteren Satz in der Aussagesatzgruppe (o) bis (y).

(u) impliziert logisch (t). (u) impliziert logisch (u).

(u) impliziert logisch keinen weiteren Satz in der Aussagesatzgruppe (o) bis (y).

(v) impliziert logisch (t). (v) impliziert logisch (v).

(v) impliziert logisch keinen weiteren Satz in der Aussagesatzgruppe (o) bis (y).

(w) impliziert logisch (o). (w) impliziert logisch (r). (w) impliziert logisch (w). (w) impliziert logisch

(x). (w) impliziert logisch (y).

(w) impliziert logisch keinen weiteren Satz in der Aussagesatzgruppe (o) bis (y).

(x) impliziert logisch (r). (x) impliziert logisch (x).

(x) impliziert logisch keinen weiteren Satz in der Aussagesatzgruppe (o) bis (y).

(y) impliziert logisch (o). (y) impliziert logisch (y).

(y) impliziert logisch keinen weiteren Satz in der Aussagesatzgruppe (o) bis (y).

Logische Folge:

Die Lösungen ergeben sich eindeutig aus den Lösungen zur logischen Implikation nach dem Schema

›B folgt logisch aus A gdw A B logisch impliziert.‹.

Logische Äquivalenz:

(o) ist logisch äquivalent mit (o). (o) ist logisch äquivalent mit (y).

(o) ist logisch äquivalent mit keinem weiteren Satz in der Aussagesatzgruppe (o) bis (y).

(p) ist logisch äquivalent mit (p).

(p) ist logisch äquivalent mit keinem weiteren Satz in der Aussagesatzgruppe (o) bis (y).

(q) ist logisch äquivalent mit (q).

(q) ist logisch äquivalent mit keinem weiteren Satz in der Aussagesatzgruppe (o) bis (y).

(r) ist logisch äquivalent mit (r). (r) ist logisch äquivalent mit (x).

(r) ist logisch äquivalent mit keinem weiteren Satz in der Aussagesatzgruppe (o) bis (y).

(s) ist logisch äquivalent mit (s).

2014 3 AUSSAGESÄTZE, ARTEN UND BEZIEHUNGEN 97

(s) ist logisch äquivalent mit keinem weiteren Satz in der Aussagesatzgruppe (o) bis (y).

(t) ist logisch äquivalent mit (t).

(t) ist logisch äquivalent mit keinem weiteren Satz in der Aussagesatzgruppe (o) bis (y).

(u) ist logisch äquivalent mit (u).

(u) ist logisch äquivalent mit keinem weiteren Satz in der Aussagesatzgruppe (o) bis (y).

(v) ist logisch äquivalent mit (v).

(v) ist logisch äquivalent mit keinem weiteren Satz in der Aussagesatzgruppe (o) bis (y).

(w) ist logisch äquivalent mit (w).

(w) ist logisch äquivalent mit keinem weiteren Satz in der Aussagesatzgruppe (o) bis (y).

(x) ist logisch äquivalent mit (r). (x) ist logisch äquivalent mit (x).

(x) ist logisch äquivalent mit keinem weiteren Satz in der Aussagesatzgruppe (o) bis (y).

(y) ist logisch äquivalent mit (o). (y) ist logisch äquivalent mit (y).

(y) ist logisch äquivalent mit keinem weiteren Satz in der Aussagesatzgruppe (o) bis (y).

Logische Unverträglichkeit und Verträglichkeit:

(o) ist logisch verträglich mit (o), (r), (s), (t), (u), (w), (x) und (y).

(o) ist logisch unverträglich mit (p), (q) und (v).

(p) ist logisch verträglich mit (p), (q), (r), (t), (u), (v) und (x).

(p) ist logisch unverträglich mit (o), (s), (w) und (y).

(q) ist logisch verträglich mit (p), (q), (t), (u) und (v).

(q) ist logisch unverträglich mit (o), (r), (s), (w), (x) und (y).

(r) ist logisch verträglich mit (o), (p), (r), (t), (v), (w), (x) und (y).

(r) ist logisch unverträglich mit (q), (s) und (u).

(s) ist logisch verträglich mit (o), (s), (t), (u) und (y).

(s) ist logisch unverträglich mit (p), (q), (r), (v), (w) und (x).

(t) ist logisch verträglich mit (o), (p), (q), (r), (s), (t), (u), (v), (x) und (y).

(t) ist logisch unverträglich mit (w).

(u) ist logisch verträglich mit (o), (p), (q), (s), (t), (u), (v) und (y).

(u) ist logisch unverträglich mit (r), (w) und (x).

(v) ist logisch verträglich mit (p), (q), (r), (t), (u), (v) und (x).

(v) ist logisch unverträglich mit (o), (s), (w) und (y).

(w) ist logisch verträglich mit (o), (r), (w), (x) und (y).

(w) ist logisch unverträglich mit (p), (q), (s), (t), (u) und (v).

(x) ist logisch verträglich mit (o), (p), (r), (t), (v), (w), (x) und (y).

98 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

(x) ist logisch unverträglich mit (q), (s) und (u).

(y) ist logisch verträglich mit (o), (r), (s), (t), (u), (w), (x) und (y).

(y) ist logisch unverträglich mit (p), (q), und (v).

6. SIE sind am Zug.

7. SIE sind am Zug.

2014 4 DEFINIEREN 99

4 DEFINIEREN

›Defnieren‹ heißt ›eine Defnition angeben‹. Was (alles) bedeutet aber das Wort ›De-fnition‹? Leider höchst Unterschiedliches. Das Wort ›Defnition‹ hat — ähnlich wie dasWort ›Begriff‹ — so viele verschiedene Bedeutungen, dass seine unrefektierte oderunerläuterte Verwendung bestenfalls uninformativ, im Normalfall jedoch nur verwirrendist. Im Folgenden greife ich jene zwei Verwendungsweisen des Wortes ›Defnition‹heraus, die vermutlich im alltäglichen wie auch im wissenschaftlichen Sprachgebraucham häufgsten und insofern am wichtigsten sind. Gemäß der ersten dieser beiden Ver-wendungsweisen sind Defnitionen wahre oder falsche Mitteilungen darüber, in welchenBedeutungen von welchen Leuten bestimmte Ausdrücke einer bestimmten Gestalt ver-wendet wurden oder werden; gemäß der zweiten sind sie zweckmäßige oder unzweck-mäßige Vorschläge, bestimmte Ausdrücke einer bestimmten Gestalt in einer bestimmtenBedeutung zu verwenden. Erstere Defnitionen werden meist ›lexikalische‹ oder ›fest-stellende Defnitionen‹, letztere ›stipulative‹ oder ›festsetzende Defnitionen‹ genannt. Dajedoch in Lexika nicht nur über die Verwendungsweisen von Wörtern berichtet, sondernmanchmal auch Wortverwendungsweisen bewertet, abgelehnt, oder begrüßt werden, undda zudem in Lexika oft Worterläuterung mit Behauptungen über die gemeinte Sache ver-mischt werden, sei hier — einem weniger häufgen Sprachgebrauch folgend — statt ›lexi-kalisch‹ das Wort ›reportiv‹ (im Sinne von ›berichtend‹, ›feststellend‹) gebraucht.

4.1 REPORTIVE DEFINITIONEN

Mit dem Wort ›reportive Defnition‹ seien hier solche Aussagesätze bezeichnet, diemindestens eine Bedeutung (eine Verwendungsweise, einen Gebrauch) von Ausdrückenderselben Gestalt angeben. Solche Angaben können wahr oder falsch sein. Ein Beispielfür eine reportive Defnition, die wahr ist, ist der folgende Aussagesatz (1):

(1) ›Anästhesie‹ wird meist im Sinn von ›Schmerzausschaltung‹ und ›Schmerz-vorbeugung‹, aber auch im Sinn von ›Schmerzunempfndlichkeit‹ gebraucht.

Der folgende Aussagesatz (2) ist ein Beispiel für eine reportive Defnition, die falsch ist:

(2) ›Anästhesie‹ wird meist im Sinn von ›schmerzstillendes Mittel‹ gebraucht,manchmal auch im Sinn von ›Wissenschaft von der Schmerzbetäubung‹.

Eine falsche reportive Defnition ist doppelt unerwünscht: nicht nur, weil sie in uns einenIrrtum darüber erzeugen kann, worauf sich bestimmte Leute mit bestimmten schrift- oderlautsprachlichen Ausdrücken beziehen, sondern auch, weil sie keinen Erläuterungswerthat. Der zweite Zweck einer reportiven Defnition ist jedoch die Erläuterung eines Wortesfür einen Sprachbenutzer, der mit dem Wort zunächst nichts oder nur wenig anfangenkann. Versetzen wir uns in die Situation eines Sprachbenutzers, der mit dem Wort ›An-ästhesie‹ noch nicht vertraut gemacht worden ist. Angenommen, unser Sprachbenutzerstößt in einem Text auf die folgenden zwei wahren Sätze:

(3) Eine der wichtigsten Methoden der Anästhesie ist die Narkose.(4) Alle leprosen Patienten weisen eine Anästhesie der Haut auf.

In diesem Fall hilft ihm die falsche reportive Defnition (2) nicht, diese Sätze zu ver-stehen. Denn Satz (3) bedeutet weder soviel wie der unsinnige Satz (3a):

100 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

(3a) Eine der wichtigsten Methoden der schmerzstillenden Mittel ist die Narkose.

noch bedeutet Satz (3) soviel wie der falsche Satz (3b):

(3b) Eine der wichtigsten Methoden der Wissenschaft von der Schmerzbetäubungist die Narkose.69

Und Satz (4) bedeutet weder soviel wie der unsinnige Satz (4a):

(4a) Alle leprosen Patienten weisen ein schmerzstillendes Mittel der Haut auf.

noch bedeutet Satz (4) soviel wie der ebenfalls unsinnige Satz (4b):

(4b) Alle leprosen Patienten weisen eine Wissenschaft von der Schmerzbetäubungauf.

Die wahre reportive Defnition (1) hingegen kann den Erläuterungszweck erfüllen undwird diesem Zweck auch bei allen einigermaßen kompetenten Benützern der deutschenSprache gerecht. Unser Sprachbenützer kann unter Rückgriff auf Defnition (1) den Satz(3) verstehen, da er ja den Satz (3c) versteht:

(3c) Eine der wichtigsten Methoden der Schmerzvorbeugung und -ausschaltung istdie Narkose.

und er kann nun den Satz (4) verstehen, da er ja den Satz (4c) versteht:

(4c) Alle leprosen Patienten weisen eine Schmerzunempfndlichkeit der Haut auf.

Nur wahre reportive Defnitionen erfüllen den Erläuterungszweck. Dies heißt jedochnicht, dass jede wahre reportive Defnition automatisch den Erläuterungszweck erfüllt.Die folgende reportive Defnition (5) etwa ist wahr:

(5) Der Terminus ›ist falsifzierbar‹ bedeutet bei Karl Popper meist soviel wie ›hateinen potentiellen Falsifkator‹.

aber diese Defnition besitzt für niemanden einen Erläuterungswert, der nicht schon mitdem Wort ›potentieller Falsifkator‹ vertraut gemacht worden ist. Wenn zum Zielpubli-kum der reportiven Defnition (5) auch solche Personen gehören, denen der Terminus ›hateinen potentiellen Falsifkator‹ nichts sagt, dann ist die Defnition (5), obwohl sie wahrist, insofern misslungen, als sie den Zweck der Erläuterung des Fachausdruckes ›falsif-zierbar‹ für dieses Zielpublikum verfehlt.

Allgemein sei gesagt:

Eine reportive Defnition ist in Bezug auf den Adressaten x gelungen gdw sie wahrist und den Erläuterungszweck für x erfüllt.

Eine reportive Defnition ist in Bezug auf den Adressaten x misslungen gdw sie inBezug auf x nicht gelungen ist.70

Wer also eine reportive Defnition eines Ausdrucks zu geben wünscht, kann (min-destens) zwei Fehler machen:

(1) er kann etwas Falsches über die Gebrauchsweisen dieses Ausdrucks mitteilen,

oder

(2) er kann zwar etwas Wahres darüber mitteilen, jedoch so, dass die Empfänger derMitteilung den fraglichen Ausdruck so wenig verstehen wie zuvor.

69 Die Narkose ist ein Forschungsgegenstand der Anästhesiologie, nicht eine Forschungsmethode dieserWissenschaft.70 Also gdw sie falsch ist oder den Erläuterungszweck für x verfehlt.

2014 4 DEFINIEREN 101

4.2 STIPULATIVE DEFINITIONEN

Mit dem Ausdruck ›stipulative Defnition‹ seien hier Vorschläge und Absichtserklä-rungen bezeichnet, bestimmte Ausdrücke einer bestimmten Gestalt in einer bestimmtenBedeutung zu verwenden. Typische Schemata für die Formulierung von stipulativen Def-nitionen innerhalb natürlicher Sprachen sind z.B.:

Ein beliebiges x sei N genannt gdw … Mit dem Wort N seien (ausschließlich) die und die Dinge bezeichnetDas Wort N sei hier im Sinne von (der Wendung) W verstandenDer folgende Satz sei vereinbarungsgemäß als wahr betrachtet: … .Der Ausdruck N diene als Abkürzung für (die Wendung) WN stehe kurz für W

Beispiele:

Eine beliebige Relation R sei ›refexiv in der Menge M‹ genannt gdw für alle Dinge z ausM gilt: z steht in der Relation R zu z.

Mit dem Wort ›ist verifzierbar‹ seien im Folgenden ausschließlich solche Aussagesätzebezeichnet, die aus mindestens einem Beobachtungssatz logisch folgen.

Das Wort ›Rezession‹ sei hier im Sinne von ›mindestens 4 Monate währender ständigerRückgang der Konjunktur‹ verstanden.

Der folgende Satz sei vereinbarungsgemäß als wahr betrachtet: ›Ein Roman ist genaudann ein Frauenroman, wenn seine Hauptfgur eine Frau ist.‹.

Der Ausdruck ›Zylinder‹ diene als Abkürzung für ›Körper, dessen beide von gekrümmtenLinien begrenzte Grundfächen parallel, eben, kongruent und durch eine Mantelfächemiteinander verbunden sind‹.

›H2O‹ stehe kurz für ›Molekül, das aus zwei Wasserstoffatomen und einem Sauerstoff-atom besteht‹.

Stipulative Defnitionen können zweckmäßig oder unzweckmäßig sein. Es ergibtkeinen Sinn, von ihnen zu sagen, sie seien wahr oder falsch. Das Urteil, ob eine stipu-lative Defnition zweckmäßig ist, hängt davon ab, welche Zwecke oder Ziele man mit ihrerreichen will. Üblicherweise werden mehrere der folgenden vier Zwecke oder Ziele beider Aufstellung einer stipulativen Defnition angestrebt:

(1) Ermöglichung einer kurzen Ausdrucksweise

Eine kurze Ausdrucksweise ist nicht nur aus Raum- und Zeitgründen unerlässlich, son-dern auch aus psychologischen Gründen: Wenn wir in unseren Sätzen die kurzen def-nierten Wörter durch jene langen Phrasen ersetzten, welche durch die defnierten Wörtervereinbarungsgemäß abgekürzt werden, dann entstünden sehr schnell sehr lange Satz-ungetüme, die wir nur noch mühsam oder gar nicht verstehen könnten.

Zwei Beispiele:

Ein so leicht verständlicher Satz wie ›Jede asymmetrische Relation ist irrefexiv.‹ würdezu dem nur noch mit großer Mühe les- und verstehbaren Satzungetüm: ›Jede Relation R,für die gilt, dass sie so beschaffen ist, dass für alle Objekte x und y gilt, dass wenn x inder Relation R zu y steht, y nicht in der Relation R zu x steht, ist auch eine Relation, dieso beschaffen ist, dass für alle x gilt, dass x nicht in der Relation R zu x steht.‹.

102 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Der einsichtige Satz ›Keine Ode ist eine Satire.‹ könnte — je nach stipulativer Defnitionvon ›Ode‹ und ›Satire‹ — etwa zu einem Satzungetüm wie diesem werden: ›Kein lyri-scher, auf ein verehrungswürdiges Du gerichteter, in gehobener, weihevoller, feierlich-erhabener und schwungvoll-gedanklicher Sprache verfasster Text von gezügeltem Pathosist eine verspottende sprachliche Darstellung und Entlarvung des Kleinlichen, Schlechten,Ungesunden im Menschen, in der Gesellschaft und in deren kulturellen Produkten mitdem Ziel der Beseitigung der angeprangerten Missstände und der Schädigung ihrer Ver-ursacher.‹.

(2) Prägung eines neuen Ausdrucks für eine Sache, für die einen eigenen Namen zuhaben sich kommunikativ lohnen dürfte

Fünf Beispiele:

›Agrapha‹ für solche Aussprüche Jesu, die nicht in den vier Evangelien verzeichnet sind;

›Bustrophedon‹ für Texte, deren Zeilen abwechselnd von links nach rechts und von rechtsnach links geschrieben sind;

›falsifzierbar‹ für solche Sätze und Satzmengen, die mit mindestens einem Beobach-tungssatz logisch unverträglich sind;

›pandemisch‹ für solche Seuchen, die ganze Erdteile oder den Globus selbst heimsuchen;

›verifzierbar‹ für solche Sätze, die aus einem Beobachtungssatz logisch folgen.

(3) Einschränkung der Mehrdeutigkeit eines Ausdrucks im Rahmen eines Textes

Drei Beispiele:

Unter ›Theorie‹ sei im Folgenden ausschließlich eine logisch abgeschlossene Menge vonAussagesätzen verstanden, niemals irgendein Aussagesatz allein.

Insbesondere möchte ich keineswegs unter ›Theorie‹ eine geordnete Menge von Hand-lungsanweisungen zur Erreichung eines bestimmten Zielzustandes verstanden wissen;hierfür sei (in Übereinstimmung mit dem gängigen wissenschaftlichen Sprachgebrauch)das Wort ›Methode‹ reserviert.

Unter ›Frauenliteratur‹ möchte ich im Weiteren nur noch solche Literatur verstandenwissen, die folgende vier Bedingungen erfüllt: sie stammt von Frauen, sie richtet sich anFrauen, ihre Hauptfguren sind Frauen, sie dient der Frauenemanzipation.

(4) Minderung des Vagheitsbereiches eines Ausdrucks

Zwei Beispiele:

Es sei im Zielpublikum unklar, ob der Vortragende Tintenfsche zu den Fischen rechnet.Dann mindert seine stipulative Defnition ›Mit dem Wort ›Fisch‹ möchte ich solcheWirbeltiere bezeichnen, die wechselwarm sind, Kiemen haben und hauptsächlich imWasser leben.‹ für jene Menschen im Zielpublikum die Vagheit des Wortes ›Fisch‹, denenbekannt ist, dass kein Tintenfsch ein Wirbeltier ist.

Es sei im Zielpublikum unklar, ob eine über die Reformation vortragende Historikerinauch solche protestantische Schriften zur Reformationsliteratur rechnet, die auf Franzö-sisch verfasst sind. Dann beseitigt ihre folgende stipulative Defnition allfällige Unklar-heiten: ›Mit (dem singulären Namen) ›die Reformationsliteratur‹ sei hier das gesamtedurch die lutherische Reformation hervorgerufene Schrifttum zwischen 1517 und 1555bezeichnet, das auf Lateinisch oder auf Deutsch verfasst wurde und sich in deutlicherForm für oder gegen diese Reform einsetzt.‹.

2014 4 DEFINIEREN 103

Man darf vermuten, diese vorbildlich defnierende Historikerin verfügt nicht nur übergermanistische, sondern auch über wissenschaftstheoretische Zusatzkenntnisse. Imnächsten Abschnitt sehen wir uns an, wie man Defnitionen nicht angeben sollte, und wieviel Verwirrung daraus resultiert, dass man sie gemeinhin so angibt, wie man sie nichtangeben sollte.

4.3 DEFINITIONEN ANGEBEN, ERKENNEN, BEWERTEN

4.3.1 SPRACHLICHE VERWISCHUNGEN

In jeder Wissenschaft werden Behauptungen über einen Gegenstandsbereich aufgestellt.Solche Gegenstandsbereiche können z.B. die Menge aller Nadelbäume, die Menge allerSchulkinder, die Mengen aller Zeitungen, die Menge aller Nationen, die Menge allerRomane usw. usw. sein. Alle Behauptungen werden in Aussagesätzen formuliert. AlleAussagesätze bestehen aus Ausdrücken, insbesondere aus singulären und generellenNamen für die Dinge, über die etwas — wenn möglich Wahres und Informatives — aus-gesagt werden soll. Offenbar ist es von allergrößter Wichtigkeit, dass diese Aussagesätzeklar als solche erkennbar sind. In der Mathematik ist es deshalb allgemein üblich und inden Naturwissenschaften weit verbreitet, die sprachlichen Formulierungen der Behaup-tungen, die man über den jeweiligen Gegenstandsbereich macht, mit ›Satz 1‹, ›Satz 2‹,›Satz 3‹ usw. durchzunummerieren. Auf diese Weise läuft niemand Gefahr, sie mitanderen Sätzen, die nicht vom Gegenstandsbereich handeln, aber in derselben Abhand-lung stehen, zu verwechseln. Solche Sätze, die nicht vom Gegenstandsbereich handeln,sind z.B. Sätze, die Behauptungen über logische Beziehungen zwischen jenen Sätzenausdrücken, die sich auf den Gegenstandsbereich beziehen. Wenn etwa ein Wissen-schaftler schreibt, Satz 17 folge logisch aus der Konjunktion der Sätze 5 und 9, dannbehauptet er nichts über den Gegenstandsbereich, den er untersucht, sondern über dreiAussagesätze, mittels derer er etwas über eben diesen Gegenstandsbereich behauptet.Auch die reportiven und stipulativen Defnitionen von Ausdrücken, die ein Wissen-schaftler in seiner Abhandlung angibt, gehören nicht zu den Aussagesätzen, mittels dererer etwas über den Gegenstandsbereich seiner Untersuchung behauptet.

Zunächst zu den reportiven Defnitionen! Sie sind zwar auch Aussagesätze, drückenaber keine Behauptungen über den Gegenstandsbereich aus, sondern drücken meistBehauptungen darüber aus, wie bestimmte Kolleginnen oder Kollegen des Wissen-schaftlers bestimmte singuläre oder generelle Namen gebrauchen, die er ebenfalls inseinen Aussagesätzen über den Gegenstandsbereich verwendet, manchmal in der gleichenBedeutung wie die Kolleginnen und Kollegen, manchmal in anderer Bedeutung wie sie.Dies eben möchte er klarstellen. Indem er das tut, schreibt er gerade nicht über seinenGegenstandsbereich (sagen wir über Novellenromane), sondern über die Wörter, die er inSätzen über den Gegenstandsbereich verwendet (er schreibt z.B., dass das Wort ›Novel-lenroman‹ bei ihm etwas anderes bedeutet als bei Frau NN oder Herrn NN). Nochmalsund allgemeiner: Wenn jemand über Wörter schreibt, die in Sätzen vorkommen, dieBehauptungen über einen Gegenstandsbereich ausdrücken, dann teilt er nichts über dieDinge in diesem Gegenstandsbereich mit, sondern er teilt etwas über die Wörter mit, diesich auf diese Dinge beziehen. Diese Wörter haben normalerweise ganz andere Eigen-schaften als jene Dinge. Deshalb ist es entscheidend, dass er sich so ausdrückt, dass dieLeser wissen, ob er ihnen etwas Wahres über ein Wort oder über die Dinge, auf die sich

104 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

dieses Wort bezieht, mitteilen will; ob er ihnen beispielsweise etwas Wahres über dasWort ›Novellenroman‹ oder ob er Ihnen etwas Wahres über Novellenromane mitteilenwill.71 Wenn wir nun Aussagesätze der Form lesen wie ›Jeder Novellenroman ist — imGegensatz zur Auffassung von Frau NN — ein P und kein Q.‹, dann ist genau passiert,was nicht passieren sollte: wir wissen nicht, ob uns der Autor etwas über seinen Gegen-standsbereich mitteilen will, nämlich:

Jeder Novellenroman hat die Eigenschaft P.Kein Novellenroman hat die Eigenschaft Q.

oder ob er uns etwas über einen Unterschied zwischen seinem Gebrauch des Wortes›Novellenroman‹ und dem der Kollegin NN mitteilen will, nämlich vielleicht dieses:

Mein Gebrauch des Wortes ›Novellenroman‹ unterscheidet sich von dem der Kol-legin NN unter anderem dadurch, dass sich bei mir das Wort ›Novellenroman‹ aufsolche Romane bezieht, welche die Eigenschaft P und nicht die Eigenschaft Qhaben, während ihr Gebrauch des Terminus ›Novellenroman‹ es zulässt, dass sichdieser Terminus auch auf Romane bezieht, welche die Eigenschaft P nicht, dieEigenschaft Q hingegen sehr wohl haben.

Nun zu den stipulativen Defnitionen! Da sie keine Aussagesätze sind, kann manmit ihnen weder etwas über die Dinge aus dem jeweiligen Gegenstandsbereich behauptennoch über die Wörter, die in den Sätzen vorkommen, mittels derer Behauptungen überden Gegenstandsbereich ausgedrückt werden. Es sollte also, so möchte man meinen,keinerlei Gefahr bestehen, stipulative Defnitionen mit reportiven Defnitionen einerseitsund mit Aussagesätzen über den Gegenstandsbereich anderseits zu verwechseln. Dochsind diese Verwechslungen selbst in solchen Texten, mit denen sich ein wissenschaft-licher Anspruch verbindet, geradezu die Regel. Wodurch werden sie hervorgerufen? Sehreinfach dadurch, dass die Autoren sprachlich keinen Unterschied zwischen reportivenDefnitionen, stipulativen Defnitionen und Aussagesätzen über den Gegenstandsbereichmachen. Sie begehen gewohnheitsgemäß zwei ebenso banale wie katastrophale Fehler:

1. Sie formulieren stipulative Defnitionen als Indikativsätze, ebenso wie sie (zu-recht) reportive Defnitionen und Aussagesätze über den jeweiligen Gegenstands-bereich als Indikativsätze formulieren; damit wird, selbst wenn sie Anführungs-zeichen zur Bildung von Anführungsnamen für die defnierten Wörter verwenden,der Unterschied zwischen stipulativen und reportiven Defnitionen verwischt.2. Sie verwenden Anführungszeichen zur Bildung von Anführungsnamen der def-nierten Wörter entweder überhaupt nicht oder, was fast noch verwirrender ist, malschon, mal nicht; damit ist nun nicht nur der Unterschied zwischen den stipulativenund den reportiven Defnitionen verwischt, sondern auch der zwischen allen dreiKlassen von Sätzen: den stipulativen Defnitionen, den reportiven Defnitionen undden Aussagesätzen über den jeweiligen Gegenstandsbereich.

Diese Verwischung ist verheerend für das Verstehen, die Bewertung und die Überprüfungder Sätze in einer wissenschaftlichen Abhandlung. Wenn man aus dem Text nicht erken-nen kann, welche Sätze als Aussagesätze über den jeweiligen Gegenstandsbereich ge-meint sind, wie sollen dann diese Aussagesätze durch Untersuchung des Gegenstands-bereichs gestützt oder geschwächt werden? Wenn man nur raten kann, welche Sätze alsstipulative Defnitionen gemeint sind, wie sollen dann diese Sätze auf ihre Zweckmäßig-

71 Bei der Lektüre kultur- und gesellschaftswissenschaftlicher Abhandlungen kann man sich des Eindrucksnicht erwehren, dass der Autor oft selbst nicht weiß, was er will. Möglicherweise ist ihm das Problem über -haupt nicht bewusst. Aber wer ein Problem nicht sieht, hat es nicht deshalb schon gelöst.

2014 4 DEFINIEREN 105

keit hin beurteilt und die analytischen von den synthetischen Sätzen der jeweiligenTheorie unterschieden werden? Schließlich, wenn unklar bleibt, welche Sätze als repor-tive Defnitionen gemeint sind, wie sollen wir dann wissen, ob wir diese Sätze durchUntersuchung des Sprachgebrauchs von Kollegen des Autors zu prüfen haben statt durchUntersuchung des jeweiligen Gegenstandsbereichs?72

Halten wir fest: Dadurch, dass ein Autor reportive Defnitionen, stipulative Defni-tionen und Aussagesätze über seinen Gegenstandsbereich in dasselbe sprachliche Kleiddes Indikativsatzes steckt und Anführungszeichen inkonsequent gebraucht, müssen seineLeser (und muss er vielleicht auch selbst) unsicher bleiben, ob sie es mit einer Mitteilungüber Bedeutungen eines Ausdrucks zu tun haben, oder ob sie es mit einer Mitteilung überEigenschaften der Dinge, auf die sich der fragliche Ausdruck bezieht, zu tun haben, oderob sie es vielleicht eher mit einer Vereinbarung oder einem Vorschlag zu tun haben, denfraglichen Ausdruck in einem bestimmten Sinn zu verstehen. Die wichtigsten Mittel zurBegehung dieses Fehlers sind also die inkonsequente Verwendung von Anführungs-zeichen und die Verwendung des Indikativs statt eines Optativs bei der Angabe von stipu-lativen Defnitionen.

4.3.2 DEFINITIONEN UND WAS-IST-FRAGEN

In den Kultur- und Gesellschaftswissenschaften werden gerne Was-ist-Fragen gestellt:

Was ist Wahrheit?Was ist der Mensch?Was ist Kirche?Was ist Demokratie?Was ist Toleranz?Was ist Literatur?Was ist gut?Was ist wirklich?usw. usw.

Und die Antworten beginnen bezeichnenderweise so:

Wahrheit ist ... (z.B. die Übereinstimmung des Satzes mit der Wirklichkeit).Der Mensch ist … (z.B. das Lebewesen mit Verstand).Kirche ist … (z.B. der Ort Gottes in der Menschheit).Demokratie ist … (z.B. die am wenigsten schlechte Staatsform).Toleranz ist … (z.B. die freiwillige Duldung von für unrichtig Gehaltenem).Literatur ist … (z.B. die Gesamtheit aller Sprachkunstwerke).Gut ist … (z.B. was von allen gewünscht wird).Wirklich ist … (z.B. was Wirkung eines Ereignisses ist).

Aus wissenschaftstheoretischer Sicht sind diese Fragen und ihre Antworten zumindestdreideutig. Diese Dreideutigkeit erkennt man leicht, wenn man Diskussionen über Was-ist-Fragen zuhört und die wichtige wissenschaftstheoretische Unterscheidung der Sätze in

72 Der Fehler der sprachlichen Verwischung zwischen diesen drei wissenschaftlich wichtigen Satzarten istin den Kultur- und Gesellschaftswissenschaften so weit verbreitet, dass man in zynischen Momenten zuschreiben geneigt ist, er erfreue sich größter Beliebtheit; in der Tat hat er große rhetorische Vorteile: wernicht erkennen lässt, ob er etwas über den Gegenstandsbereich behauptet, oder über die Wörter, die sich aufden Gegenstandsbereich beziehen, oder ob er bloß einen Vorschlag gemacht hat, ein Wort in einer be-stimmten Bedeutung zu gebrauchen, ist offenkundig kaum zu widerlegen. — Allerdings: Man kann zwarsagen, seine Ausführungen seien über jede Kritik erhaben; aber auch, sie seien unter jeder Kritik.

106 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

reportive Defnitionen, stipulative Defnitionen und Aussagesätze über den jeweiligenGegenstandsbereich im Hinterkopf behält. Greifen wir die erste Frage als Beispiel her-aus!

Angenommen, A antwortet auf die Frage ›Was ist Wahrheit?‹ mit ›Wahrheit ist dieÜbereinstimmung des Satzes mit der Wirklichkeit.‹. Weiters angenommen, seineGesprächspartner B, C und D weisen seine Antwort wie folgt zurück. B entgegnet: ›Dasstimmt nicht. Einige große Philosophen behaupten, dass Wahrheit Nützlichkeit ist.‹. Centgegnet A ganz anders: ›So würde ich das nicht sagen. Das bringt nichts zum Ver-ständnis der Problematik. Ich würde eher vorschlagen, das Wort ›Wahrheit‹ durch deneinstelligen Namen ›x ist wahr‹ zu ersetzen und dann zu probieren, ob sich eine weder zuenge noch zu weite Defnition dieses Namens zustandebringen lässt.‹. D entgegnet Ahingegen: ›Falsch! Dass 7 plus 5 gleich 12 ist, ist zwar wahr, hat aber nichts mit derWirklichkeit zu tun.‹. Wir erkennen unschwer:

B hat A’s Antwort als reportive Defnition aufgefasst, die sich so formulieren lässt:›Alle großen Philosophen haben das Wort ›Wahrheit‹ (bzw. das jeweilige Äqui-valent in ihrer Sprache) im Sinne von ›Übereinstimmung des Satzes mit der Wirk-lichkeit‹ aufgefasst.‹. B bestreitet, dass diese reportive Defnition zutrifft. B’s Ent-gegnung zeigt, dass er offenbar die Ausgangsfrage ›Was ist Wahrheit?‹ so ver-standen hat: ›Haben alle großen Philosophen das Wort ›Wahrheit‹ (bzw. das je-weilige Äquivalent in ihrer Sprache) im Sinne von ›Übereinstimmung des Satzesmit der Wirklichkeit‹ aufgefasst?‹.

C hat A’s Antwort als stipulative Defnition aufgefasst, die sich so formulieren lässt:›Mit dem Wort ›Wahrheit‹ sei die Übereinstimmung eines Satzes mit der Wirklich-keit bezeichnet.‹. C hält diesen Vorschlag für unzweckmäßig, weil er glaubt, dassder Vorschlag die Mehrdeutigkeit und Vagheit der Wörter ›Wahrheit‹ und ›wahr‹nicht mindert. C’s Entgegnung zeigt, dass er offenbar die Ausgangsfrage ›Was istWahrheit?‹ so verstanden hat: ›Ist der Vorschlag, mit dem Wort ›Wahrheit‹ dieÜbereinstimmung eines Satzes mit der Wirklichkeit zu bezeichnen, dem Zweck derMehrdeutigkeits- und Vagheitsminderung dieses Wortes dienlich?‹.

D hat A’s Antwort als Aussagesatz über den einschlägigen Gegenstandsbereichaufgefasst, d.h. hier als einen Aussagesatz, der eine Behauptung über alle jeneDinge ausdrückt, die wahr sind. Man beachte: D setzt voraus, dass es bereits klarist, welche Dinge zur Menge der wahren Dinge zu zählen sind! D’s Auffassung vonA’s Antwort lässt sich vielleicht so formulieren: ›Für alle Dinge x gilt: wenn x wahrist, dann stimmt x mit der Wirklichkeit überein.‹. D bestreitet, dass diese Antwortzutrifft, indem er auf ein wahres Ding verweist (nämlich die Behauptung, dass 7plus 5 gleich 12 ist), das seiner Ansicht nach wahr ist, ohne mit der (physischen)Wirklichkeit übereinstimmen zu müssen.73 D’s Entgegnung zeigt, dass er offenbardie Ausgangsfrage ›Was ist Wahrheit?‹ so verstanden hat: ›Gilt für alle Dinge x:wenn x wahr ist, dann stimmt x mit der Wirklichkeit überein?‹.

Wenn Sie es mit einer Was-ist-Frage zu tun haben, dann sollten Sie sich also dessenbewusst sein, dass sie zumindest dreideutig ist. Paraphrasieren Sie deshalb eine Frage derForm ›Was ist P?‹ durch drei Fragen:

73 Wohlgemerkt: D verweist nicht wie B auf einen Sprachgebrauch von Philosophen, sondern auf ein Dingaus dem Gegenstandsbereich, über den mittels des Wortes ›Wahrheit‹ geredet wird; das Wort ›Wahrheit‹gehört nicht zu diesem Gegenstandsbereich, sondern bezieht sich auf seine Elemente.

2014 4 DEFINIEREN 107

Erstens: Was verstehen die und die Leute unter dem Ausdruck P? (Ihre Antwortbesteht in — hoffentlich gelungenen — reportiven Defnitionen über Gebrauchs-weisen des Ausdrucks P.)

Zweitens: Was möchte ich (oder — etwas kühner — was sollte man) unter demAusdruck P verstehen? (Ihre Antwort besteht in einer — hoffentlich zweckmäßigen— stipulativen Defnition des Ausdrucks P.)

Drittens: Welche informativen Eigenschaften haben alle (fast alle, die meisten, sound so viel Prozent, einige) Dinge, welche die Eigenschaft P haben? (Ihre Antwortbesteht in — hoffentlich möglichst vielen und überraschenden und lehrreichen undwahren — Aussagesätzen über jene Dinge, welche die Eigenschaft P haben.)

4.3.3 DEFINITIONEN UND WISSENSCHAFTLICHES ARBEITEN

Wenn Ihre Dissertation an einer Was-ist-Frage festgemacht ist, dann liefert obige Abfolgevon Paraphrasen der Was-ist-Frage auch gleich eine brauchbare Grobgliederung IhrerArbeit:

Erster Teil: Aufistung, Vergleich und Bewertung der vorhandenen einschlägigenreportiven und stipulativen Defnitionen

Zweiter Teil: Entwicklung und Beurteilung der eigenen einschlägigen stipulativenDefnitionen auf der Basis der Ergebnisse des ersten Teils

Dritter Teil: Aufstellung der Hypothesen über den Gegenstandsbereich (unter Rück-griff auf die selber defnierten Ausdrücke bei der Formulierung der Hypothesen)und anschließende Prüfung der Hypothesen

Im ersten Teil zeigen Sie, dass Sie die Literatur zum Thema kennen, indem Sie die ver-schiedenen Defnitionsversuche jener Leute, die sich mit dem Thema abgegeben und sichdabei einen mehr oder minder guten Namen gemacht haben, kritisch vorstellen. AlsKultur- oder Gesellschaftswissenschaftler wissen Sie natürlich, dass Sie nicht damitrechnen dürfen, dass diese Leute zwischen ihren reportiven und stipulativen Defnitionenund ihren Aussagesätzen über den jeweiligen Gegenstandsbereich klar unterschiedenhaben. Das ist teilweise Ihr Problem, weil Sie sich gewöhnlich mühsam und mit oftbeträchtlicher verbleibender Unsicherheit aus verschiedensten Textstellen ein Urteil bil-den müssen, wie die jeweiligen Damen und Herren das fragliche Wort verstanden haben;das wird teilweise zu deren Problem, weil Sie — hoffentlich — jeden Text, der Anspruchauf Wissenschaftlichkeit erhebt, zurecht kritisieren werden, wenn Sie beklagenswerter-weise entdecken müssen, dass er die Unterschiede zwischen reportiven Defnitionen,stipulativen Defnitionen und Aussagesätzen über den Gegenstandsbereich fast un-entwirrbar oder vielleicht sogar gänzlich unentwirrbar verwischt.

Im zweiten Teil machen Sie Ihre eigenen Defnitionsvorschläge und beurteilen sie. AlsBeurteilungskriterien bieten sich zunächst die bereits skizzierten vier Zweckmäßigkeits-überlegungen an:

(1) Erfüllen Ihre stipulativen Defnitionen den Zweck der Abkürzung?(2) Erfüllen Ihre stipulativen Defnitionen den Zweck der Einschränkung der Mehr-deutigkeit (des jeweiligen schon im Gebrauch befndlichen Ausdrucks)?(3) Erfüllen Ihre stipulativen Defnitionen den Zweck der Minderung der Vagheit(des jeweiligen schon im Gebrauch befndlichen Ausdrucks)?

108 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

(4) Für den Fall, dass Sie einen Neologismus prägen: ist die Sache, auf die Sie mitdem jeweiligen neuen Wort Bezug nehmen wollen, so wichtig, dass sich die Ein-führung eines eigenen Namens für sie lohnt, oder bläht der Neologismus nur dieFachsprache weiter auf, ohne einen deutlichen Nutzen für die Erkenntnisgewinnungin Ihrem Fachgebiet zu bringen? (Die zweite Möglichkeit wird wahrscheinlich dannverwirklicht werden, wenn schon Sie selbst den Neologismus im weiteren VerlaufIhrer Arbeit nur noch selten oder gar nicht mehr benötigen.)

Zwei wichtige weitere Bewertungskriterien kommen nun hinzu:

(5) Sind Ihre stipulativen Defnitionen (technisch) korrekt?(6) Sind Ihre stipulativen Defnitionen (inhaltlich) adäquat?

Zunächst ein paar Bemerkungen zur technischen Korrektheit. Eine stipulative Defnitionsollte, wie wir wissen, den Abkürzungszweck erfüllen: der defnierte Ausdruck sollte nurein bequemes Kürzel für den langen Ausdruck sein, mittels dessen er defniert worden ist(dieser vergleichsweise lange Ausdruck wird ›Defniens‹ genannt). Hinter dem Abkür-zungszweck steckt ein tieferer Zweck: In jedem Satz Ihrer Theorie, in dem der defnierteAusdruck vorkommt, sollte man stets den defnierten Ausdruck mittels der wie eine Sub-stitutionsregel zu handhabenden jeweiligen stipulativen Defnition durch das Defniensersetzen können.74 Andernfalls ist die stipulative Defnition (technisch) unkorrekt. Willman unkorrekte Defnitionen vermeiden, dann muss man ein halbes Dutzend Regelnbeachten. Leider lassen sich diese Regeln erst hinreichend genau angeben, wenn dieSprache, in der man schreibt, logisch reglementiert ist. Doch wäre schon viel geholfen,wenn sich die Autoren vor Angabe einer stipulativen Defnition (vor allem in Anlehnungan Unterabschnitt 2.4.2) die folgenden Punkte überlegten:

(a) Zu welcher Art von Ausdrücken gehört das Wort, das ich defnieren will? (b) Ist es ein singulärer oder ein genereller Name?(c) Wenn es ein genereller Name ist, wie viele Stellen hat er?(d) Strebe ich die Defnition eines klassifkatorischen Begriffs an?(e) Strebe ich die Defnition eines komparativen Begriffs an?(f) Strebe ich die Defnition eines metrischen Begriffs an?(g) Sind die Ausdrücke, die ich für die Defnition des zu defnierenden Ausdrucksverwenden möchte, selbst defnitionsbedürftig?(h) Führt meine Defnition möglicherweise zu einem Zirkel? (Das heißt: bin ichdabei, ein Wort zu defnieren, das ich im Defniens einer früheren Defnition schonverwendet habe?)

Das Bewertungskriterium der inhaltlichen Adäquatheit lässt sich so spezifzieren:

(6a) Ist Ihre Defnition eines bereits gebräuchlichen und möglicherweise bereitsvielfach defnierten Terminus nicht nur weniger vage, sondern auch weder zu engnoch zu weit im Vergleich zu den wichtigsten früheren stipulativen Defnitionendieses Terminus?

74 Erinnern Sie sich: Entsteht dabei ein logisch wahrer Satz, dann ist der Ausgangssatz analytisch wahr(rücksichtlich der verwendeten Defnition); entsteht ein logisch falscher Satz, dann ist der Ausgangssatzanalytisch falsch; entsteht jedoch ein Satz, der weder logisch wahr noch logisch falsch ist, dann ist derAusgangssatz (normalerweise) nicht analytisch, sondern synthetisch, das heißt: faktisch wahr oder faktischfalsch. Nur die synthetischen Sätze brauchen empirisch untersucht zu werden. Wenn man allerdings diestipulativen Defnitionen in einer Abhandlung nicht erkennen kann, weiß man nie mit Sicherheit, ob man esbei einem Aussagesatz über den Gegenstandsbereich mit einem analytischen oder mit einem synthetischenSatz zu tun hat. Allein deshalb schon sind korrekte stipulative Defnitionen von größter Wichtigkeit fürzielgerichtete empirische Theorienprüfung.

2014 4 DEFINIEREN 109

(6b) Ist Ihre Defnition des Terminus theoretisch fruchtbarer als seine wichtigstenfrüheren stipulativen Defnitionen?

Bleiben wir zur Veranschaulichung von (6a) bei dem Ausdruck ›Novellenroman‹! An-genommen, der wichtigste bisherige Defnitionsvorschlag für dieses Wort erlaubt es dereinschlägigen Forschergemeinde nicht, von jedem oder fast jedem vorgegebenen Romanzweifellos zu entscheiden, ob das Wort ›Novellenroman‹ auf ihn zutrifft oder nicht. DieMenge jener Romane, von denen die Forschergemeinde im Zweifel ist, ob das Wort›Novellenroman‹ gemäß bisherigem Defnitionsvorschlag auf sie zutrifft, ist also (vgl. S.29) der Vagheitsbereich des Wortes ›Novellenroman‹ (aus der Sicht eben dieser For-schergemeinde). Die Menge jener Romane, von denen die Forschergemeinde sicher ist,dass das Wort ›Novellenroman‹ gemäß bisherigem Defnitionsvorschlag auf sie zutrifft,ist die Kernextension des Wortes ›Novellenroman‹. Die Menge jener Romane, von denendie Forschergemeinde sicher ist, dass das Wort ›Novellenroman‹ gemäß bisherigemDefnitionsvorschlag nicht auf sie zutrifft, ist die Gegenextension des Wortes ›Novellen-roman‹. Wenn Ihnen nun eine solche stipulative Defnition von ›Novellenroman‹ geglücktist, dass der Vagheitsbereich dieses Wortes gemäß Ihrem Defnitionsvorschlag kleiner istals der gemäß dem ausgewählten bisherigen Defnitionsvorschlag, dann ist Ihnen eineVagheitsminderung des Wortes ›Novellenroman‹ geglückt. So weit, so gut. Es könnteallerdings sein, dass Ihnen die Forschergemeinde vorwirft oder später vorwerfen wird,Ihre Defnition sei zwar löblicherweise vagheitsmindernd, doch sei sie inadäquat, weil siezu weit oder zu eng oder sogar beides ist. Was bedeuten diese negativen Bewertungen?Sie lassen sich wie folgt verstehen:

Ihr Defnitionsvorschlag ist zu weit gdw mindestens ein Roman, der gemäß bis-herigem dominierenden Defnitionsvorschlag zur Gegenextension des Wortes ›No-vellenroman‹ gehört, nun zum Vagheitsbereich oder gar zur Kernextension desWorts ›Novellenroman‹ gemäß Ihrem neuen Defnitionsvorschlag gehört.75

Ihr Defnitionsvorschlag ist zu eng gdw mindestens ein Roman, der gemäß bis-herigem dominierenden Defnitionsvorschlag zur Kernextension des Wortes ›No-vellenroman‹ gehört, nun zum Vagheitsbereich oder gar zur Gegenextension desWorts ›Novellenroman‹ gemäß Ihrem neuen Defnitionsvorschlag gehört.76

Somit gilt, kurz gesagt:

Ihr Defnitionsvorschlag ist weder zu weit noch zu eng gdw er die frühere Kern-extension zu einer Teilmenge der neuen Kernextension und die frühere Gegenex-tension zu einer Teilmenge der neuen Gegenextension macht.

Ihr Defnitionsvorschlag ist sowohl zu weit als auch zu eng gdw er die frühereKernextension zu keiner Teilmenge der neuen Kernextension und die frühereGegenextension zu keiner Teilmenge der neuen Gegenextension macht.

Eine stipulative Defnition kann auch als inadäquat beurteilt werden, wenn sie nichttheoretisch fruchtbarer als die alte ist, das heißt, wenn sich für die durch die neue Def-nition festgelegte Kernextension nicht weit mehr informative und bestätigte striktuniverselle oder quasi-universelle Hypothesen aufstellen lassen, als für die durch die alteDefnition festgelegte Kernextension vorhanden sind. Die exakteste und weder zu engenoch zu weite Defnition ist nämlich wissenschaftlich nutzlos, wenn sich durch Rückgriff

75 Das wäre etwa der Fall, wenn es gemäß Ihrer stipulativen Defnition nicht mehr sicher ist, dass DerZauberberg von Thomas Mann kein Novellenroman ist.76 Das wäre etwa der Fall, wenn es gemäß Ihrer stipulativen Defnition nicht mehr sicher ist, dass Hamletoder Die lange Nacht nimmt ein Ende von Alfred Döblin ein Novellenroman ist.

110 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

auf sie keine oder fast keine informativen Hypothesen formulieren lassen, die im Lauf derZeit gut bestätigt werden. Ob sich Ihre stipulativen Defnitionen als theoretisch frucht-barer herausstellen werden als die einschlägigen früheren Defnitionen, können Sie natür-lich beim Formulieren der Defnitionen noch nicht wissen. Erst im Verlauf des weiterenForschungsprozesses wird sich diese Frage beantworten lassen.

Für den dritten Teil müssen Sie Hypothesen über Ihren Gegenstandsbereich aufstellenund sie wenn möglich gleich auch prüfen, indem Sie zusätzliche Elemente des Gegen-standsbereichs studieren. Angenommen, Ihr Gegenstandsbereich ist die Menge allerNovellenromane, und zwar jene Menge, die durch Ihre relativ exakte, weder zu engenoch zu weite stipulative Defnition des einstelligen generellen Namens ›Roman x ist einNovellenroman‹ bestimmt wurde (das heißt, Sie selbst und Ihre fachkundigen Lesersollten nach Studium Ihrer Defnition von ›x ist ein Novellenroman‹ imstande sein, vonjedem oder fast jedem vorgegebenen Roman zu entscheiden, ob er gemäß Ihrer Defnitionein Novellenroman ist). Sie sehen sich als erstes alle jene Romane, die gemäß Ihrer stipu-lativen Defnition Novellenromane sind und auf die sie leicht zugreifen können, daraufhinan, welche Eigenschaften sie gemeinsam haben.77 Dann generalisieren Sie Ihre Ent-deckungen zu strikt universellen oder zu quasi-universellen Hypothesen der Form:

Alles, was (gemäß meiner Defnition von ›Novellenroman‹) ein Novellenroman ist,hat (überraschenderweise auch) die Eigenschaft P.Fast alles, was (gemäß meiner Defnition von ›Novellenroman‹) ein Novellenromanist, hat (überraschenderweise auch) die Eigenschaft P.Die meisten Romane, die (gemäß meiner Defnition von ›Novellenroman‹) Novel-lenromane sind, haben (überraschenderweise auch) die Eigenschaft P.So und so viel Prozent jener Romane, die (gemäß meiner Defnition von ›Novel-lenroman‹) Novellenromane sind, haben (überraschenderweise auch) die Eigen-schaft P.

Dann prüfen Sie, wenn es Ihre Zeit und Mittel erlauben, Ihre Hypothesen auf Wahrheit,indem Sie zusätzliche, Ihnen bisher noch nicht zugängliche Romane studieren, die gemäßIhrer Defnition Novellenromane sind, um herauszufnden, ob sie das Merkmal P auf-weisen. Tun sie es, ist dies eine Stützung Ihrer Allhypothese, alle Novellenromane hättendie Eigenschaft P; tut es einer nicht, ist dies eine Widerlegung Ihrer Allhypothese. Ver-schweigen Sie bitte ein solches, dummerweise oft als negativ abgewertetes Ergebnisnicht! Es ist eine ebenso wichtige Information für die einschlägige Forschergemeinde,dass eine Hypothese sich als falsch erwiesen hat, wie dass sie gestützt worden ist. Imübrigen ist die Erkenntnis einer Falschheit immer auch die Erkenntnis einer Wahrheit: dieErkenntnis, dass ein Satz falsch ist, geht ja mit der Erkenntnis einher, dass die Negationdieses Satzes wahr ist.78 Und schließlich bedeutet die Widerlegung einer Allhypothesekeineswegs, dass auch ihre quasi-universellen Varianten falsch sind. Wenn nicht alleNovellenromane die interessierende Eigenschaft P haben, dann ist es durchaus noch

77 Diese Novellenromane haben natürlich bereits alle jene Eigenschaften gemeinsam, die im DefniensIhrer stipulativen Defnition von ›Novellenroman‹ erwähnt werden. Diese Eigenschaften zählen hier nicht.Gefragt sind vielmehr jene übrigen informativen Eigenschaften, die allen oder fast allen oder zumindestden meisten der von Ihnen studierten Novellenromane nachprüfbarerweise sonst noch zukommen. ZurNachprüfung entsprechender Behauptungen muss man sich dann weitere Novellenromane anschauen.78 Es ist bestürzend, dass mehr als 70 Jahre nach dem Erscheinen von Karl Poppers Logik der Forschung,des als besonders einfussreich geltenden wissenschaftstheoretischen Standardwerks des 20. Jh.s, Falsif-zierungen von Hypothesen oft als Peinlichkeiten behandelt werden, die zu verheimlichen sind. Der Leer-lauf, der durch eine solche Verheimlichungspraxis in der Forschung entsteht, dürfte gewaltig sein.

2014 4 DEFINIEREN 111

immer möglich, dass fast alle oder zumindest die meisten sie haben — auch dies kanninformativ sein.

Zum Abschluss könnten Sie für den Fall, dass einige interessante Hypothesen denPrüfungsprozess heil überstanden haben, zu erklären versuchen, warum die durch dieseHypothesen beschriebenen Regelmäßigkeiten bestehen. Zu diesem Zweck müssten Sienoch allgemeinere (oft ›theoretisch‹ genannte) Hypothesen fnden, aus denen die betrach-teten Hypothesen unter Verwendung von Hilfsannahmen ableitbar sind. Dies wäre derÜbergang von der empirischen zur theoretischen Forschung, es entstünde der Anfangeiner Theorie der Novellenromane (vgl. Abschnitt 1.1).

Im Verlauf der Arbeit am dritten Teil werden Sie gewöhnlich zu Modifkationen aneinigen Ihrer stipulativen Defnitionen veranlasst werden, denn unschwer kann man in diefolgende Lage geraten: Eine Hypothese stellt sich als falsch heraus. Man schreibt dies indie Arbeit hinein. Aber man gibt die Grundidee hinter der Hypothese noch nicht auf. Alsoändert man die ursprüngliche Hypothese ab. Hierzu bieten sich grundsätzlich zwei Mög-lichkeiten an.

Die erste Möglichkeit besteht darin, die logischen Ausdrücke, die in der ursprüngli-chen Hypothese vorkommen, zu ändern, darunter insbesondere die junktor- und quantor-haften Ausdrücke. Dadurch entsteht normalerweise eine logisch abgeschwächte, mit demDatenmaterial verträglich Version der ursprünglichen Hypothese.

Die zweite besteht darin, die stipulative Defnition mindestens eines singulären odergenerellen Namens, der in der ursprünglichen Hypothese vorkommt, so zu ändern, dassdie ursprüngliche Hypothese rücksichtlich dieser Defnition(en) nun wieder mit demDatenmaterial übereinstimmt. Diese zweite Möglichkeit ist allerdings mit einem Opti-mierungsproblem behaftet, für das es keine Lösungsalgorithmen gibt. Denn Sie wollen jaeinerseits möglichst allgemeine, möglichst informative, möglichst bestätigbare Hypo-thesen aufstellen, anderseits wollen Sie in Ihren stipulativen Defnitionen nicht allzu weitvom gängigen Sprachgebrauch des Alltags oder Ihres Faches abweichen.

Was unser Novellenroman-Beispiel angeht, so könnte ein durchaus berichtenswer-tes Ergebnis der Feinarbeit an den stipulativen Defnitionen sein, dass sich einfach keineinformativen und bestätigbaren Hypothesen über Novellenromane aufstellen lassen, wennman ›Novellenroman‹ mittels solcher stipulativen Defnitionen defniert, die weder zu engnoch zu weit sind. In diesem Fall empfehlt es sich, Novellenromane im herkömmlichenSinn des Wortes nicht weiter zu untersuchen, sondern solche stipulative Defnitionen zuriskieren, die zwar zu eng oder zu weit oder beides sind, die aber — und das ist aus-schlaggebend — die Formulierung erfolgsversprechender Hypothesen erlauben. Auskommunikativen Gründen mag es dann sogar ratsam sein, in Anbetracht der beträcht-lichen Abweichung vom üblichen Sprachgebrauch auf das Wort ›Novellenroman‹ zuverzichten und einen neuen Terminus zu prägen. Man eröffnet mit der stipulativenDefnition dieses neuen Terminus gleichzeitig einen neuen Blick auf eine möglicherweisezu Unrecht bisher vernachlässigte Teilmenge literarischer Texte, die vielleicht erstaunlichviele bemerkenswerte Eigenschaften gemeinsam haben und in vielfältigen unerwartetenBeziehungen zu anderen literarischen Texten stehen. Nichts Besseres kann einem kreati-ven und neugierigen Wissenschaftler passieren.

112 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

4.4 LITERATURHINWEIS

Eike von SAVIGNY: Grundkurs im wissenschaftlichen Defnieren: Übungen zum Selbst-studium. — München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 51980.79

4.5 EMPFEHLUNGEN FÜRS WISSENSCHAFTLICHE ARBEITEN

Empfehlung 1: Wenn Sie eine stipulative Defnition machen wollen, dann verwenden Siebitte eine optative Satzart und setzen Sie bitte das defnierte Wort unter solche Anfüh-rungszeichen, die Sie ausschließlich für die Bildung von Anführungsnamen reservierthaben!

Empfehlung 2: Wenn Sie eine reportive Defnition machen wollen, dann verwenden Siebitte den Indikativ und setzen Sie bitte das Wort, über dessen Gebrauch Sie berichten,unter solche Anführungszeichen, die Sie ausschließlich für die Bildung von Anführungs-namen reserviert haben!

Empfehlung 3: Wenn Sie eine Behauptung über die Objekte in Ihrem Gegenstandsbereichaufstellen wollen, dann formulieren Sie sie bitte so und geben nötigenfalls noch einenzusätzlichen Hinweis, dass Ihr Leser oder Hörer merkt: nun bekomme ich (endlich) etwasWahres oder Falsches über Objekte aus dem Gegenstandsbereich zu lesen oder zu hören(und weder Vorschläge für den Gebrauch eines Wortes noch Berichte und Klagen darüber,wie andere Leute gewisse Wörter verwenden).

4.6 ÜBUNGEN

1. Welche von den folgenden Sätzen sind (vermutlich) reportive Defnitionen? Welche

stipulative Defnitionen? (Bitte geben Sie im Zweifelsfall klare Reformulierungen!) Welche der

reportiven Defnitionen sind gelungen? (Sie selber sind das Zielpublikum.) Welche der stipula-

tiven Defnitionen erfüllen welche Zwecke, denen stipulative Defnitionen dienen sollten?

(a) Der Terminus ›Die Wissenschaftlichkeit eines Textes x‹ sei wie folgt verstanden. Die

Wissenschaftlichkeit von x ist identisch mit w gdw gilt: es gibt natürliche Zahlen n und m

derart, dass m die Anzahl der Seiten von x ist, n die Anzahl der Fußnoten in x ist und w =

n/m.80

(b) Mit dem Wort ›Frauenroman‹ werden in der Germanistik solche Romane bezeichnet,

welche die gesellschaftliche Rolle der Frau aus feministischer Sicht bewusst machen.

(c) Ein Frauenroman ist ein solcher Roman, dessen Hauptfgur eine Frau ist.

(d) Frauenromane sind Romane, die von Frauen für Frauen über Frauen geschrieben wor-

den sind.

(e) Frauenromane dienen der Aussöhnung der Frauen mit ihrer gesellschaftlichen Unter-

drückung durch die pfichtethische sowie romantisierende Überhöhung ihrer gesellschaft-

lichen Rollen.

79 Das Buch ist für das Selbststudium geeignet. Die Aneignung der für erkenntnisgerichtetes geistigesArbeiten hilfreichen Defnitionstechniken würde ungefähr 20 bis 30 Arbeitsstunden kosten, das ist weniger,als nötig ist, den Parallelschwung in einem einwöchigen Schikurs zu erlernen … . 80 Etwa ist die Wissenschaftlichkeit eines Textes mit 10 Seiten, der 30 Fußnoten aufweist, gleich 3, wäh-rend die Wissenschaftlichkeit eines Textes, der 100 Seiten bei nur 200 Fußnoten aufweist, bloß 2 ist.

2014 4 DEFINIEREN 113

(f) Unter ›Depression‹ versteht man in den Wirtschaftswissenschaften eine traurige Grund-

stimmung.

(g) Depressionen sind Einsenkungen, Einstülpungen oder Vertiefungen in Knochen oder

Gewebe.

(h) Die Geographen verwenden das Wort ‚Depression‘ zur Bezeichnung von Festland-

gebieten, deren Oberfäche unter dem Meeresspiegel liegt.

(i) Mit “Depression” seien im Folgenden Tiefdruckgebiete bezeichnet.

(j) Mit dem Wort Depression seien im Folgenden energische Maßnahmen gegen Pressions-

versuche jeder Art verstanden.

(k) Depressionen sind Niedergangsphasen im Konjunkturverlauf.

(l) Meiosis ist in der Literaturwissenschaft dasselbe wie Litotes.

(m) Ein Uhu81 ist im Sprachgebrauch vieler Jugendlicher ein Mensch über 39, aber noch

unter 100, ein Grufti ein Mensch über 49, und ein Komposti ein Grufti, der ein Grüner ist.

(n) Nicht jeder Komposti ist ein Grufti.

(o) Unter Hypostase versteht man in den Geisteswissenschaften unter anderem die Personi-

fzierung religiöser Vorstellungen.

(p) Alle Erzengel sind Hypostasen.

(q) Im Folgenden stehe ›Hypostase‹ kurz für ›ist Ergebnis der Verselbständigung eines

Wortes im Zuge der permanenten Änderung seiner syntaktischen Funktion‹.

(r) Das Adverb „mittags“ ist eine Hypostase, gebildet aus dem Genetiv des Substantivs

„Mittag“.

(s) In der Medizin bedeutet Hypostase soviel wie übermäßige Anfüllung der tiefer liegen-

den Teile eines Organs mit Blut oder übermäßige Anfüllung der unteren Extremitäten mit

Blut.

(t) Die Patientin Melanie Matt leidet unter einer Hypostase der Lungen.

(u) “Pause” ist in der Arbeitspsychologie die für die Erholung bestimmte Unterbrechung

einer Arbeit.

(v) Im Bürodeutsch bedeutet Pause soviel wie „mithilfe von Pauspapier hergestellte Kopie

eines Schriftstückes“.

(w) Wann immer Lisi Locker eine Pause macht, macht sie keine Pausen.

(x) Die Sekretärin Lisi Locker macht gerade eine Pause.

(y) Im Folgenden stehe ›Pause‹ kurz für ›Taktteil innerhalb eines Musikwerkes, der nicht

durch Töne ausgefüllt ist‹.

(z) Die meisten Pop-Songs enthalten keine Pausen.

2. Was ist in den folgenden Dialogen schiefgelaufen?

(a) Gemäß Popper sind Szientisten solche Personen, die keinen Zweifel an wissenschaft-

lichen Ergebnissen dulden. — — Falsch! Ein Szientist ist jemand, der wünscht, die Geis-

teswissenschaftler sollten die Methoden der Naturwissenschaftler übernehmen.

(b) Es ist nicht alles defnierbar. — — Richtig! Defnierbar ist nur das, was keine Ge-

schichte hat. So hat es uns schon Nietzsche gelehrt.

(c) Für mich ist jedes Kochbuch Literatur. — — Du Banause hast keine Ahnung davon,

was Literatur ist.

(d) Nach langer Erforschung der Sprache bin ich zu dem Ergebnis gelangt: Sprache ist die

Transzendenz des Immanenten zum Du hin. — — Das ist ein bemerkenswerter, wenn auch

nicht völlig unproblematischer Defnitionsvorschlag!

81 Zu verstehen als eine Abkürzung für ›unter hundert‹.

114 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

3. Bitte notieren Sie mindestens eine Textpassage aus einem Werk in Ihrem Fach, in der es

Ihrer Ansicht nach besonders klar ist, welche Sätze vom Gegenstandsbereich handeln und welche

Sätze reportive oder stipulative Defnitionen von solchen Wörtern sind, die sich auf den Gegen-

standsbereich beziehen.

4. Bitte notieren Sie mindestens eine Textpassage aus einem Werk in Ihrem Fach, in der es

Ihrer Ansicht nach besonders unklar ist, welche Sätze vom Gegenstandsbereich handeln und

welche Sätze reportive oder stipulative Defnitionen von solchen Wörtern sind, die sich auf den

Gegenstandsbereich beziehen.

5. Bitte veranschaulichen Sie an einem Beispiel aus Ihrem Fach, wann eine stipulative Def-

nition relativ zu einer bestimmten dominierenden Defnition (a) zu eng und nicht zu weit, (b) zu

weit und nicht zu eng, (c) sowohl zu eng als auch zu weit, (d) weder zu eng noch zu weit ist.

6. Wenn Sie eine Was-ist-Frage in Ihrer Dissertation zu beantworten haben, wie war Ihre

Vorgangsweise? Zu welchen Ergebnissen sind Sie bisher gelangt?

4.7 LÖSUNGEN DER ÜBUNGEN ZUM 4. KAPITEL

1. (a) Der Terminus ›Die Wissenschaftlichkeit eines Textes x‹ sei wie folgt verstanden. Die

Wissenschaftlichkeit von x ist identisch mit w gdw gilt: es gibt natürliche Zahlen n und m derart, dass

m die Anzahl der Seiten von x ist, n die Anzahl der Fußnoten in x ist und w = n/m.

Text (a) ist eine stipulative Defnition des metrischen Begriffes ›die Wissenschaftlichkeit von Text x‹.

Eine etwas weniger pedantisch formulierte Fassung würde lauten:

(a1) Unter ›die Wissenschaftlichkeit von Text x‹ sei der Quotient aus der Fußnotenanzahl von x

und der Seitenanzahl von x verstanden.

Der so defnierte metrische Begriff ist zwar objektiv und reliabel, aber nicht valide, d.h. er misst nicht

den Ausprägungsgrad der intendierten Eigenschaft. Fußnoten allein, auch wenn sie gehäuft auftreten,

garantieren nicht Wissenschaftlichkeit. Dieser metrische Begriff ist somit fachlich unbrauchbar. Da

nützt es auch nichts, dass seine Defnition mehrdeutigkeits- und vagheitsbeseitigend ist und den

Abkürzungszweck erfüllt.

(b) Mit dem Wort ›Frauenroman‹ werden in der Germanistik solche Romane bezeichnet,

welche die gesellschaftliche Rolle der Frau aus feministischer Sicht bewusst machen.

Satz (b) ist unschwer als eine reportive Defnition des einstelligen Prädikates ›Roman x ist ein

Frauenroman‹ erkennbar. Das ist als positiv hervorzuheben. Ist die reportive Defnition (b) wahr? Dies

ist bei weitem schwieriger zu entscheiden, denn (b) ist aus syntaktischen und semantischen Gründen

vieldeutig. Einige mögliche Paraphrasen von (b) sind z.B.:

(b1) Mit ›Frauenroman‹ werden in der Germanistik ausnahmslos solche und nur solche Romane

bezeichnet, welche die hauptsächlichen gesellschaftlichen Rollen der Frauen aus feministischer

Sicht bewusst machen.

(b2) Mit ›Frauenroman‹ werden in der Germanistik meist solche und nur solche Romane

bezeichnet, welche die hauptsächlichen gesellschaftlichen Rollen der Frauen aus feministischer

Sicht bewusst machen.

2014 4 DEFINIEREN 115

(b3) Mit ›Frauenroman‹ werden in der Germanistik bisweilen solche und nur solche Romane

bezeichnet, welche die hauptsächlichen gesellschaftlichen Rollen der Frauen aus feministischer

Sicht bewusst machen.

Die reportive Defnition (b1) ist falsch, die reportive Defnition (b3) ist wahr, die reportive Defnition

(b2) ist vielleicht ebenfalls wahr. In allen drei Paraphrasen wurde die unrefektiert gebrauchte Phrase

›die gesellschaftliche Rolle der Frau‹ vermieden. Diese Phrase macht die offensichtlich falsche Vor-

aussetzung, dass alle Frauen zusammengenommen genau eine gesellschaftliche Rolle spielen. Wenn

die reportive Defnition (b3) einen Erläuterungswert für Sie hat, dann ist (b3) eine in Bezug auf Sie

gelungene reportive Defnition.

(c) Ein Frauenroman ist ein solcher Roman, dessen Hauptfgur eine Frau ist.

Satz (c) ist ein typisches Beispiel für einen Satz, wie er in keiner wissenschaftlichen Abhandlung

stehen sollte: er ist erstens ein quasi-genereller Satz, der zweitens noch dazu so formuliert ist, dass

unklar bleiben muss, ob er als eine reportive Defnition oder als eine stipulative Defnition oder als ein

Satz über den Gegenstandsbereich gemeint ist.

Wenn Satz (c) als eine reportive Defnition gemeint ist, dann könnte er unter anderem soviel bedeuten

wie eine der drei folgenden Paraphrasen:

(c1) Mit ›Frauenroman‹ werden in der Germanistik ausnahmslos solche und nur solche Romane

bezeichnet, deren Hauptfgur eine Frau ist.

(c2) Mit ›Frauenroman‹ werden in der Germanistik meist solche und nur solche Romane

bezeichnet, deren Hauptfgur eine Frau ist.

(c3) Mit ›Frauenroman‹ werden in der Germanistik mindestens einmal solche und nur solche

Romane bezeichnet, deren Hauptfgur eine Frau ist.

Die reportive Defnition (c1) ist praktisch sicher falsch, die reportive Defnition (c2) ist vielleicht

wahr, die reportive Defnition (c3) ist praktisch sicher wahr. Wenn die reportive Defnition (c3) einen

Erläuterungswert für Sie hat, dann ist (c3) eine bezüglich Sie gelungene reportive Defnition.

Wenn Satz (c) als eine stipulative Defnition gemeint ist, dann könnte er unter anderem so reformuliert

werden:

(c4) Mit ›Frauenroman‹ sollten in der Germanistik ausnahmslos solche und nur solche Romane

bezeichnet werden, deren Hauptfgur eine Frau ist.

Von der stipulativen Defnition (c4) kann nicht sinnvoll gesagt werden, sie sei wahr oder falsch. (c4)

drückt ja keine Aussage über den Sprachgebrauch der Germanisten aus, sondern einen an die Germa-

nisten gerichteten Vorschlag, das Wort ›Frauenroman‹ nur noch im Sinne von ›Roman, dessen Haupt-

fgur eine Frau ist‹ zu gebrauchen. Dieser Vorschlag erfüllt (in jeweils bescheidenem Maße) den

Abkürzungszweck, den Zweck der Vagheitsminderung und den Zweck der Mehrdeutigkeitsminde-

rung. Ob sich mit dem so defnierten generellen Namen ›ist ein Frauenroman‹ informative und wahre

Hypothesen aufstellen oder interessante Klassifkationen der Romane bilden lassen (mit anderen

Worten, ob sich die stipulative Defnition (c4) als theoretisch fruchtbar erweisen würde, wenn sie von

den Germanisten übernommen würde), bleibt allerdings offen und erscheint fürs Erste eher unwahr-

scheinlich.

Wenn Satz (c) schließlich als Aussagesatz über den Gegenstandsbereich gemeint ist (dieser Bereich

bestünde wohl aus der Menge aller Romane), dann haben wir es nicht mit einer Defnition des Wortes

›Frauenroman‹ zu tun, sondern es wird schon vorausgesetzt, dass wir die intendierte Bedeutung dieses

Wortes kennen und wir durch Satz (c) etwas über Frauenromane und nicht über Bezeichnungen für

Frauenromane erfahren. Was wir da genau erfahren, bleibt allerdings auch insofern im Dunkeln, als ja

(c) quasi-generell und somit aus syntaktischen Gründen äußerst vieldeutig ist. Einige mögliche Para-

phrasen von (c) als Aussagesatz über den Gegenstandsbereich sind zum Beispiel:

116 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

(c5) Jeder Frauenroman ist ein Roman, dessen Hauptfgur eine Frau ist.

(c6) Jeder Roman, dessen Hauptfgur eine Frau ist, ist ein Frauenroman.

(c7) Jeder Frauenroman ist ein Roman, dessen Hauptfgur eine Frau ist, und auch umgekehrt ist

jeder Roman, dessen Hauptfgur eine Frau ist, ein Frauenroman.

(c8) Fast jeder Frauenroman ist ein Roman, dessen Hauptfgur eine Frau ist.

(c9) Fast jeder Roman, dessen Hauptfgur eine Frau ist, ist ein Frauenroman.

(c10) Fast jeder Frauenroman ist ein Roman, dessen Hauptfgur eine Frau ist, und auch

umgekehrt ist fast jeder Roman, dessen Hauptfgur eine Frau ist, ein Frauenroman.

(c11) Die meisten Frauenromane sind Romane, deren Hauptfgur eine Frau ist.

(c12) Die meisten Romane, deren Hauptfgur eine Frau ist, sind Frauenromane.

(c13) Die meisten Frauenromane sind Romane, deren Hauptfgur eine Frau ist, und auch

umgekehrt sind die meisten Romane, deren Hauptfgur eine Frau ist, Frauenromane.

(c14) Frauenromane sind normalerweise Romane, deren Hauptfgur eine Frau ist.

(c15) Romane, deren Hauptfgur eine Frau ist, sind normalerweise Frauenromane.

(c16) Frauenromane sind normalerweise Romane, deren Hauptfgur eine Frau ist, und auch

umgekehrt sind Romane, deren Hauptfgur eine Frau ist, normalerweise Frauenromane.

(c17) Mindestens drei Frauenromane sind Romane, deren Hauptfgur eine Frau ist.

(c18) 68% der Frauenromane haben als Hauptfgur eine Frau.

(c19) 91% der Romane, die als Hauptfgur eine Frau haben, sind Frauenromane.

Et cetera, et cetera ad infnitum

Welche von den Sätzen (c5) bis (c19) sind analytisch wahr, welche faktisch wahr? Diese Frage können

wir erst beantworten, wenn wir gesagt bekommen, was das Wort ›Frauenroman‹ in allen diesen Sätzen

bedeutet. Angenommen, das Wort ›Frauenroman‹ ist in diesen Sätzen in dem Sinne von ›Roman, der

von einer Frau geschrieben worden ist‹ zu verstehen. Dann sehen wir, auch ohne Germanistik studiert

zu haben, auf den ersten Blick, dass keiner der Sätze (c5) bis (c19) analytisch ist, und wir erkennen

auch sofort, dass etwa der Satz (c5) faktisch falsch ist: So hat z.B. keiner der zahlreichen Hercule-

Poirot-Romane von Agatha Christie eine Frau als Hauptfgur (sondern den kleinen, klugen Privat -

detektiv Poirot mit seinen stets glänzenden Lackschuhen). Wir sehen weiters, dass etwa der Satz (c17)

faktisch wahr ist, z.B. wegen Ingeborg Bachmanns Malina, Karen Duves Taxi und Brigitte Schwaigers

Wie kommt das Salz ins Meer?. Herauszufnden, welche der übrigen Sätze faktisch wahr sind, über-

lassen wir der germanistischen Forschung.

Benützen wir abschließend (c) noch für ein kleines, aber lehrreiches Gedankenexperiment. Ange-

nommen, der Kontext, in dem (c) steht, lässt nur drei Möglichkeiten offen, in denen das Wort ›Frauen-

roman‹ in (c) verstanden, und nur 15 Möglichkeiten, in denen ein quantorhafter Ausdruck in (c)

ergänzt werden kann. Dann hat (c), aufgefasst als Aussagesatz über einen Gegenstandsbereich,

immerhin noch 45 verschiedene Bedeutungen. Angenommen, der Absatz, in dem (c) vorkommt,

enthält sieben weitere Aussagesätze, von denen jeder mindestens vier Bedeutungen hat. Dann hat

allein schon dieser kleine Absatz in dem betreffenden wissenschaftlichen Werk allermindestens 3 mal

15 mal 7 mal 4 Bedeutungen, das sind immerhin 1260 Bedeutungen. Jemand, der eine gründliche

Kritik nur dieses kleinen Absatzes versuchte, müsste ihn also 1260fach reformulieren. Man stelle sich

nun vor, ein ganzes sogenanntes wissenschaftliches Buch sei in dieser lockeren Art geschrieben, also

voll von semantisch und syntaktisch bedingten Mehrdeutigkeiten. Man kann dann leicht nachweisen,

dass ein Buch in dieser allzu verbreiteten Schreibart Trillionen, Quadrillionen, ja Quintillionen von

Bedeutungen hat. Kaum je wird bedacht, dass in einem zusammenhängenden Text alle Mehrdeutig-

keiten einander multiplizieren.

(d) Frauenromane sind Romane, die von Frauen für Frauen über Frauen geschrieben worden

sind.

2014 4 DEFINIEREN 117

Für Satz (d) gilt analog das zu Satz (c) Bemerkte. Auch (d) ist wieder ein quasi-genereller Satz, der so

formuliert ist, dass unklar bleiben muss, ob er als eine reportive Defnition oder als eine stipulative

Defnition oder als ein Satz über den Gegenstandsbereich gemeint ist.

Wenn Satz (d) als eine reportive Defnition gemeint ist, dann könnte er unter anderem soviel bedeuten

wie eine der drei folgenden Paraphrasen:

(d1) Mit ›Frauenroman‹ werden in der Germanistik ausnahmslos solche und nur solche Romane

bezeichnet, die von Frauen für Frauen über Frauen geschrieben worden sind.

(d2) Mit ›Frauenroman‹ werden in der Germanistik meist solche und nur solche Romane

bezeichnet, die von Frauen für Frauen über Frauen geschrieben worden sind.

(d3) Mit ›Frauenroman‹ werden in der Germanistik mindestens einmal solche und nur solche

Romane bezeichnet, die von Frauen für Frauen über Frauen geschrieben worden sind.

Die reportive Defnition (d1) dürfte faktisch falsch sein und wäre dann in Bezug auf jede Person miss -

lungen. Die reportive Defnition (d3) ist ziemlich sicher faktisch wahr und somit in Bezug auf jede

Person, für die (d3) einen Erläuterungswert hat, gelungen.

Wenn Satz (d) als eine stipulative Defnition gemeint ist, dann könnte er unter anderem so reformuliert

werden:

(d4) Mit ›Frauenroman‹ seien im Folgenden solche und nur solche Romane bezeichnet, die von

Frauen für Frauen über Frauen geschrieben worden sind.

Dieser Vorschlag erfüllt eindeutig den Abkürzungszweck und den Zweck der Mehrdeutigkeitsmin-

derung; der Zweck der Vagheitsminderung wird hingegen in nur bescheidenem Maße erfüllt, man

würde sich noch weitere Erläuterungen insbesondere dazu erwarten, was es nun genau heiße, ein

Roman sei für Frauen geschrieben worden.

Wenn Satz (d) schließlich als Aussagesatz über den Gegenstandsbereich gemeint ist, dann ist (d) aus

semantischen Gründen unklar (weil ohne Kontext unklar ist, wie ›Frauenroman‹ zu verstehen ist) und

aus syntaktischen Gründen unklar (weil (d) ja quasi-generell ist). Wieder bieten sich ganz analog zu

(c) mindestens ein Dutzend Paraphrasen an. Wir tun uns das nicht mehr an, die Sache wird langweilig.

(e) Frauenromane dienen der Aussöhnung der Frauen mit ihrer gesellschaftlichen Unter-

drückung durch die pfichtethische sowie romantisierende Überhöhung ihrer gesellschaftlichen

Rollen.

Satz (e) ist ein quasi-genereller Aussagesatz über den Gegenstandsbereich (hier wohl: die Menge der

Romane und Menschen). Wieder ist, da ja (e) quasi-generell und somit extrem syntaktisch mehrdeutig

ist, eine —streng genommen unendliche — Palette von Auslegungsmöglichkeiten gegeben, von dem

kühnen strikt universellen Satz

(e1) Alle Frauenromane dienen der Aussöhnung der Frauen mit ihrer gesellschaftlichen Unter-

drückung durch die pfichtethische sowie romantisierende Überhöhung ihrer gesellschaftlichen

Rollen.

bis beispielsweise zu dem trivialen Existenzsatz

(e2) Mindestens zehn Frauenromane dienen der Aussöhnung der Frauen mit ihrer gesell-

schaftlichen Unterdrückung durch die pfichtethische sowie romantisierende Überhöhung ihrer

gesellschaftlichen Rollen.

Man kann nur hoffen, dass der Kontext jeweils klar macht, welche Auslegungsmöglichkeiten die

plausibelsten sind. Weiters ist zu hoffen, dass sich die semantisch bedingten Mehrdeutigkeiten in

überschaubaren Grenzen halten, insbesondere dass die intendierte Bedeutung des Wortes ›Frauen-

roman‹ in (e) im Vorlauf zu (e) ausreichend klargemacht worden ist. Wenn beide Hoffnungen ent-

täuscht werden, ist (e) unter jeder Kritik.

118 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

(f) Unter ›Depression‹ versteht man in den Wirtschaftswissenschaften eine traurige Grund-

stimmung.

Satz (f) ist eine falsche und damit in Bezug auf jede Person misslungene reportive Defnition des

Wortes ›Depression‹.

(g) Depressionen sind Einsenkungen, Einstülpungen oder Vertiefungen in Knochen oder

Gewebe.

Satz (g) ist ein quasi-genereller Satz, der wahrscheinlich als reportive Defnition fungieren soll. Wenn

er das soll, dann sollte er besser etwa so reformuliert werden:

(g1) Mit dem Wort ›Depression‹ bezeichnet man in der Medizin unter anderem Einsenkungen,

Einstülpungen oder Vertiefungen in Knochen oder Gewebe.

Satz (g1) ist eine wohl in Bezug auf die meisten Personen gelungene reportive Defnition von ›Depres-

sion‹.82

(h) Die Geographen verwenden das Wort ‚Depression‘ zur Bezeichnung von Festlandgebieten,

deren Oberfäche unter dem Meeresspiegel liegt.

Satz (h) ist mühelos als reportive Defnition erkennbar. Sie ist zudem wahr und hat wohl für fast jeden

Menschen Erläuterungswert; somit ist sie in Bezug auf fast alle Personen gelungen. Satz (h) weist

jedoch zwei kleine grammatische Mängel auf. Erstens werden die schon vom DUDEN besetzten

einfachen deutschen Anführungszeichen zur Bildung von Anführungsnamen benutzt; es wäre leser-

freundlicher, hierfür irgendwelche andere, ausdrücklich vereinbarte Anführungszeichen zu verwenden.

Zweitens ist ›Die‹ in ›Die Geographen‹ mehrdeutig: heißt es soviel wie ›Alle‹ oder ›Die meisten‹ oder

etwas anderes?

(i) Mit “Depression” seien im Folgenden Tiefdruckgebiete bezeichnet.

Satz (i) ist lobenswerterweise mühelos als stipulative Defnition erkennbar. Sie hat einen höchst

bescheidenen Abkürzungswert, erfüllt jedoch vorbildlich den Zweck der Mehrdeutigkeitsbeseitigung:

wir wissen, wenn jemand mit (i) einen Vortrag oder eine Abhandlung beginnt, dass er oder sie über

Tiefdruckgebiete und zum Beispiel nicht über krankhafte Niedergeschlagenheit, Wirtschaftsfauten

oder sich unter der Höhe des Meeresspiegels befndliche Festlandgebiete reden oder schreiben will.

(Wieder wären jedoch statt der doppelten deutschen Anführungszeichen besser andere Arten von

Anführungszeichen zur Bildung von Anführungsnamen verwendet worden, z.B. wie im Skriptum die

französischen Anführungszeichen.)

(j) Unter dem Wort Depression seien im Folgenden energische Maßnahmen gegen Pressions-

versuche jeder Art verstanden.

Satz (j) ist ebenfalls mühelos als stipulative Defnition erkennbar. Sie erfüllt den Zweck der Abkür-

zung und der Mehrdeutigkeitsbeseitigung. Allerdings halst sie dem sowieso schon von Bedeutungen

überlasteten Wort ›Depression‹ eine neue und damit zusätzliche Bedeutung auf. Es darf bezweifelt

werden, ob dies kommunikativ hilfreich ist. Ein kleiner grammatischer Mangel von (j) ist, dass der

defnierte Ausdruck nicht unter Anführungszeichen gesetzt worden ist. Wenn man pedantisch genau

ist, dann wäre statt (j) besser (j1) oder besser und bündiger (j2) geschrieben worden:

(j1) Unter dem Wort ›Depression‹ seien im Folgenden energische Maßnahmen gegen Pres-

sionsversuche jeder Art verstanden.

82 Es sei allerdings festgehalten, dass insbesondere die Anatomen eher das Wort ›Impression‹ als das Wort›Depression‹ zur Bezeichnung von Einsenkungen, Einstülpungen oder Vertiefungen in Knochen oder Ge-webe verwenden; damit überlassen sie das Wort ›Depression‹ in der Medizin wohlweislich den Psychiatern.

2014 4 DEFINIEREN 119

(j2) Mit ›Depression‹ seien im Folgenden energische Maßnahmen gegen Pressionsversuche

jeder Art bezeichnet.

(k) Depressionen sind Niedergangsphasen im Konjunkturverlauf.

Der quasi-generelle Satz (k) soll vermutlich als reportive Defnition verstanden werden. Vielleicht ist

ungefähr Folgendes gemeint:

(k1) ›Depression‹ bedeutet in den Wirtschaftswissenschaften dasselbe wie ›Niedergangsphase

im Konjunkturverlauf‹.

Satz (k1) ist eine wahre reportive Defnition und ist in Bezug auf jede Person gelungen, für die er

einen Erläuterungswert besitzt.

(l) Meiosis ist in der Literaturwissenschaft dasselbe wie Litotes.

Der Satz (l) soll offenbar eine reportive Defnition sein; sie wäre besser z.B. so zu formulieren:

(l1) ›Meiosis‹ bedeutet in der Literaturwissenschaft stets dasselbe wie ›Litotes‹.

Satz (l1) ist eine wahre reportive Defnition, die vermutlich für die meisten Adressaten keinen Er-

läuterungswert besitzt; insofern ist (l1) in Bezug auf die Mehrzahl der Adressaten misslungen.83

(m) Ein Uhu ist im Sprachgebrauch vieler Jugendlicher ein Mensch über 39, aber noch unter

100, ein Grufti ein Mensch über 49, und ein Komposti ein Grufti, der ein Grüner ist.

Der Satz (m) umfasst drei reportive Defnitionen, die sich vielleicht so ausformulieren lassen:

(m1) Es gab in Deutschland zwischen 1980 und 2007 Zehntausende Jugendliche, die das Wort

›Uhu‹ unter anderem zur Bezeichnung von solchen und nur solchen Menschen verwendeten,

die über 39 Jahre und unter 100 Jahre alt sind.84

(m2) Es gab in Deutschland zwischen 1980 und 2007 Zehntausende Jugendliche, die das Wort

›Grufti‹ zur Bezeichnung von solchen und nur solchen Menschen verwendeten, die über 49

Jahre alt sind.

(m3) Es gab in Deutschland zwischen 1980 und 2007 Zehntausende Jugendliche, die das Wort

›Komposti‹ zur Bezeichnung von solchen und nur solchen Menschen verwendeten, die über 49

Jahre alt und Anhänger grüner politischer Richtungen sind.

Ob die drei reportiven Defnitionen wahr sind, wäre durch eine sprachsoziologische Erhebung zu

überprüfen. Ein Blick ins Internet legt jedenfalls nahe, dass — was ›Uhu‹ angeht — die angegebene

Untergrenze von 39 Jahren seitens einiger Nutzer deutlich nach unten verlegt wird: gemäß diesen

Nutzern ist ein Uhu schon mal auch jemand, der älter als circa 25 (aber noch unter 100) ist.

(n) Nicht jeder Komposti ist ein Grufti.

Satz (n) ist keine Defnition, sondern ein Aussagesatz über den Gegenstandsbereich (hier wohl die

Menge aller Menschen), und zwar ein analytisch falscher Aussagesatz rücksichtlich der Defnitionen

(m2) und (m3), denn bei Einsetzung in (n) durch Rückgriff auf (m2) und (m3) entsteht der logisch

falsche Satz ›Nicht jeder Mensch, der über 49 Jahre alt und Anhänger grüner politischer Richtungen

ist, ist über 49 Jahre alt.‹.

83 Eine Litotes ist zum Beispiel die leicht ironische Verwendung von ›nicht der dümmste‹ anstelle von›ziemlich klug‹, oder von ›nicht unwahrscheinlich‹ anstelle von ›hochwahrscheinlich‹, oder von ›nicht ohneWitz‹ anstelle von ›geistreich‹.84 Von ›Uhu‹ ist übrigens ›uhu‹ scharf zu unterscheiden: wenn jemand schreibt, er sei nun endlich uhu,dann meint er nicht, er sei nun endlich über 39 und noch unter 100 Jahre alt, sondern er verkündet mit Stolzund Erleichterung, er wiege nun endlich unter 100 Kilo.

120 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

(o) Unter Hypostase versteht man in den Geisteswissenschaften unter anderem die Personi-

fzierung religiöser Vorstellungen.

Satz (o) ist eine reportive Defnition, an der nur auszusetzen ist, dass jener sich in (o) befndliche

Ausdruck, der gestaltgleich mit ›Hypostase‹ ist, nicht unter die für die Bildung von Anführungsnamen

jeweils reservierten Anführungszeichen gesetzt wurde.

(p) Alle Erzengel sind Hypostasen.

Satz (p) ist keine Defnition, sondern ein Aussagesatz über den Gegenstandsbereich (hier wohl die

Menge der literarischen Figuren). Satz (p) ist rücksichtlich Defnition (o) ein faktischer Satz, denn wir

erhalten bei Einsetzung in (p) durch Rückgriff auf (o) den weder logisch wahren noch logisch falschen

Satz ›Alle Erzengel sind Personifzierungen religiöser Vorstellungen.‹.

(q) Im Folgenden stehe ‚Hypostase‘ kurz für ‚ist Ergebnis der Verselbständigung eines Wortes

im Zuge der permanenten Änderung seiner syntaktischen Funktion‘.

Satz (q) ist eine fast perfekte stipulative Defnition, der zur Vollkommenheit nur noch solche Anfüh-

rungszeichen abgehen, die nicht schon durch den DUDEN in Beschlag genommen worden sind.

(r) Das Adverb „mittags“ ist eine Hypostase, gebildet aus dem Genetiv des Substantivs „Mit-

tag“.

Satz (r) ist keine Defnition, denn weder wird berichtet, was unter ›mittags‹ verstanden wird, noch

wird vorgeschlagen, was unter ›mittags‹ verstanden werden soll. Satz (r) ist vielmehr ein faktisch

wahrer sprachwissenschaftlicher Satz, der sich unter Rückgriff auf die stipulative Defnition (q) in

folgenden weder logisch wahren noch logisch falschen Satz übersetzen lässt: ›Das Adverb ›mittags‹,

gebildet aus dem Genetiv des Substantivs ›Mittag‹, ist ein Ergebnis der Verselbständigung eines Wor-

tes im Zuge der permanenten Änderung seiner syntaktischen Funktion.‹.

(s) In der Medizin bedeutet Hypostase soviel wie übermäßige Anfüllung der tiefer liegenden

Teile eines Organs mit Blut oder übermäßige Anfüllung der unteren Extremitäten mit Blut.

Satz (s) ist eine fast perfekt formulierte wahre reportive Defnition, der zur Vollkommenheit nur fehlt,

dass das in (s) defnierte Wort und der mit ihm gleichbedeutende Ausdruck nicht unter Anführungs-

zeichen gesetzt worden sind.

(t) Die Patientin Melanie Matt leidet unter einer Hypostase der Lungen.

Satz (t) ist keine Defnition, sondern ein faktischer Aussagesatz, der nichts über Ausdrücke besagt,

sondern eine medizinische Diagnose ausdrückt: im unteren Teil von Melanie Matts Lungen befndet

sich zu viel Blut (vgl. Defnition (s)).

(u) Pause ist in der Arbeitspsychologie die für die Erholung bestimmte Unterbrechung einer

Arbeit.

Der Satz (u) soll vermutlich eine reportive Defnition sein; sie wäre bei weitem klarer z.B. so zu

formulieren:

(u1) Mit dem Wort ›Pause‹ bezeichnet man in der Arbeitspsychologie stets eine solche und nur

eine solche Unterbrechung der Arbeit, die für die Erholung bestimmt ist.

Satz (u1) ist eine wahre reportive Defnition, die wohl für die meisten Personen einen Erläuterungs-

wert besitzt; insofern ist (u1) in Bezug auf die Mehrzahl der des Deutschen mächtigen Menschen

gelungen.

2014 4 DEFINIEREN 121

(v) Im Bürodeutsch bedeutet Pause soviel wie „mithilfe von Pauspapier hergestellte Kopie

eines Schriftstückes“.

Der Satz (v) ist eine wahre reportive Defnition von ›Pause‹. Eine ganz korrekte Formulierung würde

z.B. lauten:

(v1) Im Bürodeutsch bedeutet ›Pause‹ soviel wie ›mithilfe von Pauspapier hergestellte Kopie

eines Schriftstückes‹.

(w) Wann immer Lisi Locker eine Pause macht, macht sie keine Pausen.

Der Satz (w) ist keine Defnition, denn weder wird er benützt, um über Bedeutungen eines Wortes zu

berichten, noch wird er benützt, um einen Vorschlag zu machen, ein Wort in einer bestimmten Bedeu-

tung zu verwenden. Satz (w) ist vielmehr ein faktischer Aussagesatz über einen Gegenstandsbereich

(hier vielleicht: die Menge der Sekretärinnen). Satz (w) lässt sich unter Rückgriff auf die Defnitionen

(u1) und (v1) in den folgenden (weder logisch wahren noch logisch falschen) Satz übersetzen: ›Wann

immer Lisi Locker eine für ihre Erholung bestimmte Arbeitsunterbrechung macht, macht sie keine

mithilfe von Pauspapier hergestellte Kopien eines Schriftstückes.

(x) Die Sekretärin Lisi Locker macht gerade eine Pause.

Der Satz (x) ist keine Defnition, denn weder wird er benützt, um über Bedeutungen eines Wortes zu

berichten, noch wird er benützt, um einen Vorschlag zu machen, ein Wort in einer bestimmten

Bedeutung zu verwenden. Satz (x) ist vielmehr ein zweideutiger faktischer Aussagesatz über einen

Gegenstandsbereich (hier vielleicht: die Menge der Sekretärinnen). Satz (x) lässt sich unter Rückgriff

auf die Defnition (u1) in den folgenden weder logisch wahren noch logisch falschen Satz übersetzen:

›Die Sekretärin Lisi Locker macht gerade eine für ihre Erholung bestimmte Arbeitsunterbrechung.‹.

Satz (x) lässt sich jedoch auch zwanglos unter Rückgriff auf die Defnition (v1) in den folgenden

(ebenfalls weder logisch wahren noch logisch falschen) Satz übersetzen: ›Die Sekretärin Lisi Locker

macht gerade eine mithilfe von Pauspapier hergestellte Kopie eines Schriftstückes.‹.

(y) Im Folgenden stehe ›Pause‹ kurz für ›Taktteil innerhalb eines Musikwerkes, der nicht durch

Töne ausgefüllt ist‹.

Der Satz (y) ist eine (im Rahmen einer nicht logisch reglementierten Sprache) perfekte stipulative

Defnition von ›Pause‹.

(z) Die meisten Pop-Songs enthalten keine Pausen.

Der Satz (z) ist keine Defnition, denn weder wird er benützt, um über Bedeutungen eines Wortes zu

berichten, noch wird er benützt, um einen Vorschlag zu machen, ein Wort in einer bestimmten Bedeu-

tung zu verwenden. Satz (z) ist vielmehr ein faktisch wahrer musikwissenschaftlicher Aussagesatz

über einen Gegenstandsbereich (hier vermutlich: die Menge der Musikstücke). Satz (z) lässt sich unter

Rückgriff auf die Defnition (y) in den folgenden weder logisch wahren noch logisch falschen Satz

übersetzen: ›Die meisten Popsongs enthalten keinen Taktteil, der nicht durch Töne ausgefüllt ist.‹.

2. (a) Gemäß Popper sind Szientisten solche Personen, die keinen Zweifel an wissenschaftlichen

Ergebnissen dulden. — — Falsch! Ein Szientist ist jemand, der wünscht, die Geisteswissen-

schaftler sollten die Methoden der Naturwissenschaftler übernehmen.

Im Dialog (a) teilt der erste Diskutant dem zweiten wahrheitsgemäß mit, dass Popper den Fachtermi-

nus ›Szientist‹ zur Bezeichnung von solchen und nur von solchen Personen verwendet, die keinen

122 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Zweifel an wissenschaftlichen Ergebnissen dulden. Wir fassen also die Äußerung des ersten Disku-

tanten als eine reportive Defnition auf, die er besser z.B. so formuliert hätte:

(0) [Der deutschsprachige Philosoph Karl] Popper bezeichnet mit ›Szientist‹ solche und nur

solche Personen, die keinen Zweifel an wissenschaftlichen Ergebnissen dulden.

Der zweite Diskutant antwortet zunächst mit ›Falsch!‹. Das deutet darauf hin, dass der zweite Disku-

tant das, was der erste Diskutant behauptet hat, für falsch hält. Der zweite Diskutant setzt jedoch nicht

damit fort, dass er den ersten Diskutanten auf einige Textstellen in Poppers Werk hinweist, an denen

Popper offensichtlich ›Szientist‹ nicht im Sinne von ›Person, die keinen Zweifel an wissenschaftlichen

Ergebnissen duldet‹ verwendet. Sondern er setzt verwirrenderweise mit einem quasi-generellen Satz

fort, von dem darüber hinaus unklar bleibt, ob er als eine reportive Defnition, als eine stipulative

Defnition oder als ein Satz, der keine Defnition ist, verstanden werden soll.

Angenommen, wir nehmen den Satz ›Ein Szientist ist jemand, der wünscht, die Geisteswissenschaftler

sollten die Methoden der Naturwissenschaftler übernehmen.‹ wörtlich. Dann ist er keine Defnition,

sondern ein Aussagesatz über den Gegenstandsbereich (hier wohl die Menge der Menschen), der

vielleicht wie folgt reformuliert werden kann:

(1) Für alle Menschen x gilt: x ist genau dann ein Szientist, wenn x wünscht, die Geistes-

wissenschaftler sollten die Methoden der Naturwissenschaftler übernehmen.

Satz (1) besagt nichts über Wörter, sondern über Menschen; er steht mit dem vom ersten Diskutanten

geäußerten Satz nicht im logischen Widerspruch. Doch der zweite Diskutant wollte, wie sein ›Falsch!‹

anzeigt, dem ersten Diskutanten klar machen, dass er, der erste Diskutant, etwas Falsches gesagt hat.

Dieser Nachweisversuch wäre jedoch mit (1) gänzlich misslungen. Wir nehmen daher unter Befolgung

der Regel der barmherzigen Auslegung85 an, dass der zweite Diskutant mit seinem Satz ›Ein Szientist

ist jemand, der wünscht, die Geisteswissenschaftler sollten die Methoden der Naturwissenschaftler

übernehmen.‹ höchstwahrscheinlich nicht das behaupten wollte, was durch (1) ausgedrückt wird.

Unterstellen wir also im nächsten Verstehensanlauf, dass der zweite Diskutant seinen Satz doch als

Defnition sieht, und zwar vielleicht als stipulative Defnition von ›Szientist‹, die dann besser etwa so

zu formulieren wäre:

(2) Unter ›Szientist‹ möchte ich solche und nur solche Personen verstanden wissen, die wün-

schen, die Geisteswissenschaftler sollten die Methoden der Naturwissenschaftler übernehmen86

[und niemand, auch Herr Popper nicht, darf es wagen, diesen Terminus in einem anderen Sinn

zu gebrauchen].

Aber Satz (2), der ja kein Aussagesatz ist, kann nicht einmal in das Verhältnis der logischen Unver-

träglichkeit zu dem Aussagesatz (0) treten.87 Wenn man die Äußerung des zweiten Diskutanten im

Sinne von (2) auffasst, dann widerspricht also der zweite Diskutant wieder trotz seines ›Falsch!‹ dem

ersten nicht. Nach der Regel der barmherzigen Auslegung verwerfen wir deshalb unsere Vermutung,

der zweite Diskutant habe mit seiner Äußerung so etwas gemeint, wie es von (2) ausgedrückt wird.

Nehmen wir schließlich im dritten Anlauf an, der zweite Diskutant wollte eine reportive Defnition

von ›Szientist‹ geben. Da ja der Satz ›Ein Szientist ist jemand, der wünscht, die Geisteswissenschaftler

85 Diese schon auf den Seiten 47 und 80 erwähnte Regel (auch ›Regel der wohlwollenden Interpretation‹,engl. ›charity principle‹ genannt) lautet in ihrer einfachsten Form: ›Lege einen Satz wenn irgend möglich soaus, dass er als wahr (bzw. richtig) oder doch zumindest als sinnvoll herauskommt!‹.86 Wir erkennen nebenbei, dass der Aussagesatz (1) rücksichtlich dieser stipulativen Defnition (2) analy-tisch wahr ist. Das erklärt, warum uns (1) „irgendwie wahr“ vorkommt.87 Erinnern Sie sich: Zwei Aussagesätze sind nach unserer Defnition von ›logisch unverträglich‹ genaudann logisch unverträglich, wenn sie nicht zusammen wahr sein können. Jedoch ist keine stipulative Def-nition ein Aussagesatz. Der Terminus ›Aussagesatz A ist logisch unverträglich mit der stipulativen Defni-tion B‹ ist in der Logik nicht erläutert.

2014 4 DEFINIEREN 123

sollten die Methoden der Naturwissenschaftler übernehmen.‹ nichts darüber aussagt, wer aller das

Wort ›Szientist‹ in seinem Sinn versteht, bieten sich mehrere Auslegungen an, etwa diese drei:

(3) Die meisten deutschsprachigen Menschen bezeichnen mit dem Namen ›Szientist‹ solche

und nur solche Personen, die wünschen, die Geisteswissenschaftler sollten die Methoden der

Naturwissenschaftler übernehmen.

(4) Fast alle deutschsprachigen Menschen bezeichnen mit dem Namen ›Szientist‹ solche und

nur solche Personen, die wünschen, die Geisteswissenschaftler sollten die Methoden der Natur-

wissenschaftler übernehmen.

(5) Alle deutschsprachigen Menschen bezeichnen mit dem Namen ›Szientist‹ solche und nur

solche Personen, die wünschen, die Geisteswissenschaftler sollten die Methoden der Naturwis-

senschaftler übernehmen.

Satz (3) dürfte faktisch wahr sein. Aber Satz (3) ist nicht logisch unverträglich mit Satz (0). Satz (4) ist

vermutlich faktisch falsch. Auch Satz (4) ist nicht logisch unverträglich mit Satz (0). Da der zweite

Diskutant den ersten offensichtlich widerlegen wollte, müssten jedoch die Sätze (3) und (4) nicht nur

wahr sein, sondern auch mit Satz (0) logisch unverträglich sein. Zumindest Letzteres sind sie aber

nicht. Also verwerfen wir gemäß der Regel der barmherzigen Auslegung auch die Lesarten (3) und

(4). Bleibt Satz (5). Er ist höchstwahrscheinlich faktisch falsch. Aber er ist — endlich! — logisch

unverträglich mit Satz (0). Sollen wir deshalb Satz (5) als die vermutlich richtige Lesart akzeptieren?

Die Regel der barmherzigen Auslegung hilft hier nicht weiter, denn einerseits rät sie zur Verwerfung

der Lesart (5), weil diese ja praktisch sicher falsch ist, und anderseits rät sie zur Akzeptierung der

Lesart (5), weil diese ja als einzige unter allen Lesarten mit dem Satz (0) logisch unverträglich ist.

Wir halten fest: Wenn das, was der zweite Diskutant ausdrücken wollte, tatsächlich durch Lesart (5)

wiedergegeben wird, dann hat er auf tief verschleierte Weise eine reportive Defnition von ›Szientist‹

angegeben, die zwar so gut wie sicher faktisch falsch (und somit misslungen) ist, die aber wenigstens

im logischen Widerspruch zu dem steht, was der Diskutant 1 gesagt hat. Hätte es sich bei den zwei

Diskutanten um Personen gehandelt, welche in allen erkenntnisgerichteten Gesprächen ihre Sätze so

formulieren, dass klar ist, ob diese Sätze jeweils eine reportive Defnition, eine stipulative Defnition

oder keine Defnition sind; und hätte es sich beim zweiten Diskutanten um eine Person gehandelt,

welche in allen erkenntnisgerichteten Gesprächen zur Vermeidung von syntaktisch bedingter Mehr-

deutigkeit auf quasi-generelle Sätze verzichtet, dann hätten sie (und wir) sofort gewusst, was der andre

jeweils ausdrücken will, ihrem Aneinandervorbeireden wäre vorgebeugt und unsere Strapazierung der

Regel der barmherzigen Auslegung wäre unnötig gewesen.

(b) Es ist nicht alles defnierbar. — — Richtig! Defnierbar ist nur das, was keine Geschichte

hat. So hat es uns schon Nietzsche gelehrt.

Im Dialog (b) teilt der erste Diskutant dem zweiten wahrheitsgemäß, aber schlampig mit, dass nicht

jeder Name (ohne in einen Defnitionszirkel zu geraten) defnierbar ist. Der zweite Diskutant stimmt

mit seinem ›Richtig!‹ dem ersten nur scheinbar zu. Denn der zweite Diskutant verwendet in seiner

Begründung das Wort ›defnierbar‹ in einem ganz anderen Sinne als der erste Diskutant. Er meint

vermutlich mit ›Defnierbar ist nur das, was keine Geschichte hat.‹ ungefähr das, was der Satz ›Das

unveränderliche Wesen eines veränderlichen Dinges kann nicht angegeben werden.‹ besagt. Der

zweite Diskutant bezieht sich also überhaupt nicht auf die Defnierbarkeit von Wörtern, sondern auf

die Möglichkeit, das Wesen solcher Dinge anzugeben, die sich mit der Zeit verändern. Somit: In (b)

wird völlig aneinander vorbeigeredet.

(c) Für mich ist jedes Kochbuch Literatur. — — Du Banause hast keine Ahnung davon, was

Literatur ist.

124 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Im Dialog (c) ist sowohl unklar, was der erste Diskutant sagen will, als auch unklar, was der zweite

Diskutant sagen will. Das, was der erste Diskutant sagen will, könnte eine wahre Mitteilung über seine

Verwendung des Wortes ›Literatur‹ sein, die dann besser etwa so zu formulieren gewesen wäre: ›So,

wie ich das Wort ›Literatur‹ verwende, fallen alle Kochbücher unter dieses Wort.‹. Es könnte aber

auch ein Vorschlag sein, das Wort ›Literatur‹ möge so verwendet werden, dass unter anderem jedes

Kochbuch darunter fällt. Das, was der zweite Diskutant sagen will, könnte eine Mitteilung über den

ersten Diskutanten und das Wort ›Literatur‹ sein und wäre dann z.B. besser so zu formulieren

gewesen: ›Du Banause hast keine Ahnung davon, wie [alle?, fast alle?, die meisten?, mehrere?]

Literaturwissenschaftler [Literaturkritiker? Akademiker? Leute mit Allgemeinbildung?] das Wort

›Literatur‹ verwenden.‹. Es könnte aber auch eine Mitteilung über den ersten Diskutanten und über

Literatur sein und wäre dann besser etwa so zu formulieren gewesen: ›Du Banause hast keine Ahnung

davon, was das Wesen der Literatur ist.‹. Diese letztere Mitteilung ist keine Mitteilung über irgend-

welche Gebrauchsweisen des Wortes ›Literatur‹, sondern eine über Literatur selbst. Der zweite

Diskutant setzt also stillschweigend voraus, dass im Gespräch schon klar ist, was der Name ›Literatur‹

benennt. Wenn die erste Auffassungsweise dessen, was der erste Diskutant ausdrücken wollte, zutrifft,

dann würde die erste Auffassungsweise dessen, was der zweite Diskutant ausdrücken wollte, eine

Entgegnung sein, die zwar logisch verträglich mit dem vom ersten Diskutanten Gesagten ist, aber

wenigstens insofern inhaltliche Relevanz hat, als der zweite Diskutant den Sprachgebrauch des ersten

Diskutanten als von jenem Sprachgebrauch abweichend rügt, den er — der zweite Diskutant — für

den üblichen hält. Die anderen Kombinationsmöglichkeiten der Auffassungsweisen haben inhaltlich so

gut wie nichts mehr miteinander zu tun.

(d) Nach langer Erforschung der Sprache bin ich zu dem Ergebnis gelangt: Sprache ist die

Transzendenz des Immanenten zum Du hin. — — Das ist ein bemerkenswerter, wenn auch

nicht völlig unproblematischer Defnitionsvorschlag!

Im Dialog (d) missversteht der zweite Diskutant die Äußerung des ersten Diskutanten als eine stipu-

lative Defnition von ›Sprache‹. Der erste Diskutant wollte jedoch einen Aussagesatz äußern, der das

Ergebnis seines langjährigen Nachdenkens über das Wesen der Sprache zusammenfasst. Ob ihm das

geglückt ist, darf bezweifelt werden.

3., 4. SIE sind am Zug.

5. Im Folgenden zwei Beispielsgruppen:

Beispielsgruppe 1:

Angenommen, die folgende stipulative Defnition des generellen Namens ›Österreicher‹ ist in der

studierten Fachliteratur dominant:

Unter ›Österreicher‹ seien solche und nur solche Menschen verstanden, welche Staatsange-

hörige der ersten oder der zweiten Republik Österreich waren oder sind.

Dann gilt:

Die folgende stipulative Defnition von ›Österreicher‹ ist im Vergleich zur dominierenden Defnition

zu eng und nicht zu weit:

Unter ›Österreicher‹ seien solche und nur solche Menschen verstanden, welche Staatsange-

hörige der ersten oder der zweiten Republik Österreich waren oder sind und innerhalb des

Staatsgebiets der ersten oder der zweiten Republik Österreich geboren und aufgewachsen sind.

2014 4 DEFINIEREN 125

Die folgende Defnition ist im Vergleich zur dominierenden Defnition zu weit und nicht zu eng:

Unter ›Österreicher‹ seien solche und nur solche Menschen verstanden, welche Staatsange-

hörige der ersten oder der zweiten Republik Österreich waren oder sind oder innerhalb des

Staatsgebiets der ersten oder der zweiten Republik Österreich geboren und aufgewachsen sind.

Die folgende Defnition ist im Vergleich zur dominierenden Defnition sowohl zu eng als auch zu weit:

Unter ›Österreicher‹ seien solche und nur solche Menschen verstanden, welche die folgenden

zwei Bedingungen erfüllen:

erstens: sie sind oder waren Staatsangehörige der ersten oder der zweiten Republik Österreich

oder sie sind innerhalb des Staatsgebiets der ersten oder der zweiten Republik Österreich gebo-

ren und aufgewachsen;

zweitens: sie haben die meiste Zeit ihres Lebens innerhalb des Staatsgebiets der ersten oder der

zweiten Republik Österreich verbracht.

Die folgende Defnition ist im Vergleich zur dominierenden Defnition weder zu eng noch zu weit

(sondern nur vagheitsmindernd):

Unter ›Österreicher‹ seien solche und nur solche lebend zur Welt gekommenen Menschen ver-

standen, welche Staatsangehörige der ersten oder der zweiten Republik Österreich waren oder

sind.

Beispielsgruppe 2:

Angenommen, die folgende stipulative Defnition des generellen Namens ›Landwirt‹ ist in der studier-

ten Fachliteratur dominant:

Unter ›Landwirt‹ seien solche und nur solche Menschen verstanden, welche einen Hof samt

Feld in Pacht oder Eigentum haben und auf dem Hof oder auf dem Feld körperlich arbeiten.

Dann gilt:

Die folgende stipulative Defnition von ›Landwirt‹ ist im Vergleich zur dominierenden Defnition zu

eng und nicht zu weit:

Unter ›Landwirt‹ seien solche und nur solche Menschen verstanden, welche einen Hof samt

Feld in Eigentum haben und auf dem Hof oder auf dem Feld körperlich arbeiten.

Die folgende Defnition ist im Vergleich zur dominierenden Defnition zu weit und nicht zu eng:

Unter ›Landwirt‹ seien solche und nur solche Menschen verstanden, welche einen Hof samt

Feld in Pacht oder Eigentum haben und auf dem Hof oder auf dem Feld arbeiten.

Die folgende Defnition ist im Vergleich zur dominierenden Defnition sowohl zu eng als auch zu weit:

Unter ›Landwirt‹ seien solche und nur solche Menschen verstanden, welche einen Hof samt

Feld in Eigentum haben und auf dem Hof oder auf dem Feld arbeiten.

Die folgende Defnition ist im Vergleich zur dominierenden Defnition weder zu eng noch zu weit

(sondern nur vagheitsmindernd):

Unter ›Landwirt‹ seien solche und nur solche Menschen verstanden, welche einen Hof samt

Feld in Pacht oder Eigentum haben und unter normalen Umständen an wenigstens 100 Tagen

im Jahr auf dem Hof oder auf dem Feld körperlich arbeiten.

6. SIE sind am Zug.

126 KLEINE EINFÜHRUNG 2014

5 THEORETISIEREN

5.1 NATÜRLICHSPRACHLICHE THEORIEN

Das Wort ›Theorie‹ wird in einer Vielzahl von Bedeutungen verwendet. Im Alltagbedeutet es oft nur soviel wie ›spekulative Vermutung‹. In den Gesellschaftswissen-schaften scheint diese leicht abwertende Gleichsetzung bei der verbreiteten Gegen-überstellung von Theorien und Modellen mitzuschwingen: Worauf z.B. ein Sozial-wissenschaftler das Wort ›Theorie‹ anzuwenden geneigt ist, ist normalerweise eher etwasSpekulatives, Vages, schlecht Überprüfbares, während das, was er als ›Modell‹ bezeich-net, eher etwas Handfestes, Exaktes, gut Überprüfbares ist. In den Kulturwissenschaftendagegen scheint es modern zu sein, unter ›Theorie‹ eher etwas Tiefes, Komplexes, zwarUnverständliches, aber Erklärungskräftiges und Wirkungsmächtiges zu verstehen. Wieauch immer — das meiste, das in Wissenschaften mit dem Wort ›Theorie‹ bezeichnetwird, lässt sich jeweils unschwer als ein Text auffassen, der in einer durch Fachausdrückeergänzten natürlichen Sprache formuliert ist. Wohl alle Kultur- und Gesellschaftswis-senschaftler würden allerdings übereinstimmen, dass nicht jede beliebige Ansammlungvon natürlichsprachlichen, mit Fachausdrücken versetzten Aussagesätzen eine Theorieist, selbst wenn man ›Theorie‹ sehr weit verstehen möchte. Meist verbindet sich miteinem ›Theorie‹ genannten Text in der Tat ein wichtiger Anspruch, nämlich dass der Textallgemeine, wahre und informative Aussagesätze enthält, mittels derer sich einiges er-klären oder retrodizieren oder prognostizieren lässt. Und das, so sei hier vereinbart, istauch schon alles, was wir von einer Satzmenge verlangen, damit sie ›eine natürlich-sprachliche Theorie‹ genannt werden darf: es genüge, dass sie eine Ansammlung vonnatürlichsprachlichen Aussagesätzen über einen Gegenstandsbereich ist, von der jemand(gewöhnlich zumindest ihr Verfasser) den Anspruch erhebt, sie enthalte allgemeine,informative Wahrheiten, mittels derer sich einiges erklären oder vorhersagen oder zu-rücksagen lässt.

In der Wissenschaftstheorie gibt es bei weitem strengere Defnitionsvorschläge für das Wort

›Theorie‹. Gemäß dem strengsten kommen Theorien als axiomatische, interpretierte formale Kalküle

heraus, die bei der intendierten Interpretation empirisch gehaltvoll, bewährt sowie erklärungs-,

retrodiktions- oder vorhersagekräftig sind. Um diesem Anspruch zu genügen, müssen die Theorien als

axiomatische Erweiterungen logisch-mathematischer Kalküle entwickelt werden. Dies geschieht

außerhalb der Naturwissenschaften kaum. Wer außerhalb der Naturwissenschaft informative,

erklärungskräftige Texte zu schreiben versucht, der bedient sich eben meist einer natürlichen Sprache

wie zum Beispiel Deutsch oder Englisch und keines Kalküls wie zum Beispiel eines prädikaten-

logischen Systems oder einer formalen, axiomatischen Mengenlehre.

Natürlichsprachliche Theorien sind also Teile von Texten, üblicherweise Teile vonwissenschaftlichen Abhandlungen. Die logische und empirische Beurteilung natürlich-sprachlicher Theorien wird nun durch zwei Fakten außerordentlich erschwert: die Un-klarheit darüber, welche Sätze der jeweiligen Abhandlung überhaupt zur Theorie gehö-ren; und die Unklarheit darüber, wie der logische Zusammenhang zwischen den Aus-sagesätzen der Theorie aussieht. Ich gehe im Folgenden kurz auf diese zwei wichtigenProbleme ein, die sowohl für die Aufstellung als auch für die Beurteilung von Theorienrelevant sind.

2014 THEORETISIEREN 127

5.2 DAS PROBLEM DES IDENTIFIZIERENS NATÜRLICHSPRACHLICHER THEORIEN, TEIL 1

Eine Forschergemeinde, die eine natürlichsprachliche Theorie testen und weiterent-wickeln will, steht gewöhnlich vor dem Problem, aus den wissenschaftlichen Texteneines Autors jene Aussagesätze zusammenstellen zu müssen, die vermutlich zu seinerTheorie gehören. Fast jeder Forscher wird von einigen Sätzen sicher sein, dass sie zurTheorie gehören, von anderen wird er sicher sein, dass sie nicht dazugehören, von denmeisten wird er unsicher sein, ob sie dazugehören. Erschwerend kommt hinzu, dass nichtalle Forscher von denselben Sätzen sicher sein werden, dass sie zur Theorie gehören; vondenselben Sätzen sicher sein werden, dass sie nicht zur Theorie gehören; und von den-selben Sätzen unsicher sein werden, ob sie zur Theorie gehören. Es wird also in derForschergemeinde nicht nur Unsicherheit, sondern auch Unstimmigkeit darüber herr-schen, welche Sätze zur Theorie gehören, an der sie arbeiten wollen.

Worauf beruhen nun diese Unsicherheit und Unstimmigkeit? Wieso sind wir oftunsicher, ob ein fraglicher Aussagesatz wirklich zu der natürlichsprachlichen Theoriegehört, mit der wir uns beschäftigen möchten? Und wieso stimmen wir oft in unserenMeinungen über die Zugehörigkeit eines Satzes zu einer Theorie mit unseren Kollegenund Kolleginnen nicht überein?

Diese Unsicherheit und Unstimmigkeit beruhen vor allem auf zwei Sachverhalten:1. der verwirrenden Darstellungsart natürlichsprachlicher Theorien, 2. der sehr be-schränkten Fähigkeit selbst hochbegabter Menschen, von natürlichsprachlichen Aus-sagesätzen auf andere natürlichsprachliche Aussagesätze ohne logische Hilfsmittel kor-rekt zu schließen. Die verwirrende Darstellungsart ihrerseits manifestiert sich haupt-sächlich in zwei Erscheinungen: erstens in der uns schon bekannten fehlenden sprachli-chen Unterscheidung zwischen Aussagesätzen über den Gegenstandsbereich (sie gehörenzur Theorie), reportiven Defnitionen (also Berichten darüber, wie gewisse Leute gewisseAusdrücke, die in der Theorie vorkommen, verwenden — solche Berichte gehören nichtzur Theorie) und insbesondere stipulativen Defnitionen (also Vorschlägen, gewisseWörter, die in der Theorie verwendet werden, eine gewisse Bedeutung zuzuordnen —solche Vorschläge gehören auch nicht zur Theorie, weil sie nichts über den Gegen-standsbereich behaupten); zweitens im Unerwähntlassen von Sätzen, die der Autor zwarzur Theorie rechnet, aber nur stillschweigend.

5.2.1 URSACHE 1: MANGELNDE SPRACHLICHE UNTERSCHEIDUNGEN

Zunächst zum ersten Grund, der fehlenden sprachlichen Unterscheidung zwischen Aus-sagesätzen der Theorie und Defnitionen im Text. Die Autoren von Texten, die Theorienenthalten, gehen nur in den seltensten Fällen so vor, wie die Logiker empfehlen, nämlichdass sie die Aussagesätze, die sie behaupten wollen, der Reihe nach aufisten, sie dannerläutern, um möglichen syntaktischen und semantischen Mehrdeutigkeiten vorzubeugen,und schließlich auf eine logisch korrekte Weise Aberdutzende informativer Schluss-folgerungen aus ihnen ziehen. Vielmehr werden die behaupteten Aussagesätze in einemMischmasch von Erläuterungen, Einschränkungen, Erweiterungen, Polemiken gegenandere Autoren, defnitorischen Vereinbarungen, Zitaten, Ableitbarkeitsbehauptungenund Quellenverweisen dargestellt. Am verwirrendsten wirkt sich hierbei erfahrungs-gemäß die Unfähigkeit der Autoren aus, sprachlich sauber zwischen den Aussagesätzenihrer Theorie und den defnitorischen Vereinbarungen im Text zu unterscheiden. Ableit-

128 KLEINE EINFÜHRUNG 2014

barkeitsbehauptungen und Polemiken etc. mögen mit einiger Sicherheit von den Aus-sagesätzen der Theorie abhebbar sein; defnitorische Vereinbarungen, die im sprachlichenKleid von unmarkierten Aussagesätzen formuliert sind, können aber nicht mehr mitSicherheit von den behaupteten Aussagesätzen selbst unterschieden werden.

Zunächst ein einfaches Beispiel aus der Psychologie. In einem Buch, in dem eineTheorie über die Entstehung von Neurosen entwickelt wird, stehe folgender Satz: ›Neu-rosen sind Funktionsstörungen, denen keine Schädigung des Nervensystems entspricht.‹.Handelt es sich hier um eine sprachlich verschleierte defnitorische Vereinbarung überden Gebrauch des Wortes ›Neurose‹? Wenn nein, dann gehört der Satz als faktisch wahreroder falscher Aussagesatz zur Theorie der Neurosenentstehung und wäre besser etwa sozu formulieren: ›Für alle Funktionsstörungen x gilt: wenn x eine Neurose ist, dann ent-spricht diesem x keine Schädigung des Nervensystems.‹. Wenn ja, dann gehört der frag-liche Satz nicht zur Theorie der Neurosenentstehung und ist vermutlich überhaupt keinAussagesatz, sondern eine das Wort ›Neurose‹ betreffende Vereinbarung, die besser etwaso zu formulieren wäre: ›Mit dem Wort ›Neurose‹ will ich im Folgenden solche Funk-tionsstörungen bezeichnen, denen keine Schädigung des Nervensystems entspricht.‹.88

Aufgrund dieser Vereinbarung ist dann der Aussagesatz ›Für alle Funktionsstörungen xgilt: x ist eine Neurose gdw dem x keine Schädigung des Nervensystems entspricht.‹ indieser Theorie der Neurosenätiologie ein analytisch wahrer Satz, der als solcher zu mar-kieren ist. Wer die betrachtete Theorie der Neurosenentstehung empirisch untersuchenmöchte, weiß dann zumindest, dass dieser als analytisch wahr markierte Satz defnitions-gemäß wahr ist und sicher nicht empirisch überprüft werden muss.

Nun ein weniger einfaches Beispiel aus der Wirtschaftswissenschaft. In einer Ab-handlung, in der eine Theorie über Wirtschaftswachstum entwickelt wird, stehe folgenderSatz, der nach unserer bisherigen Analyse der Abhandlung — sagen wir — der sechsteSatz der Theorie sein könnte:

(6) Eine wachsende Wirtschaft erhält fortlaufend zusätzliche Produktionskapazi-täten; dies steigert normalerweise ihren Produktionsertrag.

Sollen wir Satz (6) zur Theorie rechnen? Auf welche Weisen können wir ihn plausibler–weise auffassen? Leider auf alle drei möglichen Weisen, in denen Sätze, die wie Defni-tionen aussehen, verstanden werden können. Die erste: (6) ist eine reportive Defnitiondes Ausdrucks ›ist eine wachsende Wirtschaft‹, die sich fürs erste so reformulieren lässt:

(6a) (Alle?, Fast alle?, Die meisten?, Der und der Prozentsatz der?, Einige?) Wirt-schaftswissenschaftler bezeichnen mit dem Ausdruck ›wachsende Wirtschaft‹(stets?, fast immer?, meistens?, so und so oft?, bisweilen?) eine solche Wirtschaft,die fortlaufend zusätzliche Produktionskapazitäten erhält.

oder vielleicht auch so, wenn wir den zweiten Satz in (6) zur reportiven Defnition dazu-rechnen:

88 Natürlich besteht — je nach Kontext — auch noch eine mehr oder minder große Wahrscheinlichkeit,dass der betrachtete Satz keine sprachlich verschleierte stipulative Defnition, sondern eine sprachlich ver-schleierte reportive Defnition ist; in diesem Fall wäre er besser, ungefähr so zu formulieren: ›In der Psy-chologie bezeichnet man mit ›Neurose‹ (stets?) solche Funktionsstörungen, denen keine Schädigung desNervensystems entspricht.‹. Die Wahrheit oder Falschheit dieses Satzes überprüft man nicht, indem mannach Neurosen sucht, die doch mit einer Schädigung des Nervensystems einhergehen, sondern indem manz.B. eine repräsentative Stichprobe von Psychologen befragt, ob sie, wenn sie berufich (noch) das Wort›Neurose‹ gebrauchen, damit (stets) solche Funktionsstörungen meinen, denen keine Schädigung desNervensystems entspricht.

2014 THEORETISIEREN 129

(6b) (Alle?, Fast alle?, Die meisten?, Der und der Prozentsatz der?, Einige?) Wirt-schaftswissenschaftler bezeichnen mit dem Ausdruck ›wachsende Wirtschaft‹(stets?, fast immer?, meistens?, so und so oft?, bisweilen?) eine solche Wirtschaft,die fortlaufend zusätzliche Produktionskapazitäten erhält und dabei ihren Produk-tionsertrag steigert.

Angenommen, wir liegen mit irgendeiner Version von (6a) richtig. Dann gibt uns (6)zwei verschiedene Auskünfte. Erstens eine darüber, wie Wirtschaftswissenschaftlerüblicherweise (?) den Ausdruck ›wachsende Wirtschaft‹ verwenden, nämlich im Sinnevon ›Wirtschaft, die fortlaufend zusätzliche Produktionskapazitäten erhält‹, das heißtwohl soviel wie ›Wirtschaft, in die ständig mehr investiert wird‹. Diese Auskunft wäre,wenn sie wahr ist, für den wirtschaftswissenschaftlichen Laien insofern aufschlussreich,als er ja in seinem alltäglichen Sprachgebrauch das Wort ›wirtschaftliches Wachstum‹anders verwendet, nämlich im Sinne von ›Wirtschaft, in der fortlaufend mehr produziertwird‹. Diese erste Auskunft ist also eine wahre oder falsche Mitteilung über Wirtschafts-wissenschaftler und ihren Umgang mit der Sprache. Zweitens erhalten wir durch (6) auchnoch eine ganz andere Auskunft, die eine wahre oder falsche Mitteilung über Wirtschafts-systeme selbst ist: Wirtschaften, die wachsen, produzieren normalerweise fortlaufendmehr. Oder vielleicht besser: Wirtschaften, in die fortlaufend investiert wird, produzierennormalerweise ständig mehr. Demnach wäre dieser letzte Satz zur Theorie zu rechnen,während der Satz über den Sprachgebrauch gewisser Wirtschaftswissenschaftler nichtdazugerechnet werden darf (es soll ja eine Theorie über Wirtschaftswachstum, nicht überdas Sprachverhalten von Wirtschaftswissenschaftlern aufgestellt werden).

Aber natürlich könnte es auch sein, dass (6) uns keinesfalls über den Umgang vonWirtschaftswissenschaftlern mit gewissen Druckerschwärzegebilden informieren soll,sondern — wie man es auch in einem wirtschaftswissenschaftlichen Text durchaus er-warten darf — ausschließlich über Wirtschaftssysteme. Dann bedeutet (6) vielleichtsoviel wie die beiden folgenden, unter (6c) stehenden, als faktisch wahr oder falsch zubetrachtenden Sätze über Wirtschaftssysteme; somit gehören diese beiden Sätze zurTheorie:

(6c) Jede Wirtschaft, die wächst, erhält fortlaufend mehr Produktionskapazitäten.Wirtschaften, die fortlaufend mehr Produktionskapazitäten erhalten, bringen nor-malerweise mehr Produktionsertrag.

Ob (6c) faktisch wahr ist, kann empirisch überprüft werden, indem man sich wachsendeWirtschaftssysteme daraufhin anschaut, ob sie tatsächlich, wie behauptet, fortlaufendmehr Produktionskapazitäten erhalten und normalerweise mehr Produktionsertragbringen.

Schließlich bleibt noch eine dritte Möglichkeit, (6) zu verstehen, nämlich als eineVereinbarung oder als einen Vorschlag, das Wort ›wachsende Wirtschaft‹ in einem be-stimmten Sinn zu verstehen, vielleicht so:

(6d) Mit dem Ausdruck ›wachsende Wirtschaft‹ sei im Folgenden stets eine solche Wirtschaft bezeichnet, die fortlaufend mehr Produktionskapazitäten erhält.

oder vielleicht auch so:

(6e) Mit dem Ausdruck ›wachsende Wirtschaft‹ sei im Folgenden stets eine solche Wirtschaft bezeichnet, die fortlaufend mehr Produktionskapazität erhält und deren Produktionsertrag zunimmt.

130 KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Wenn wir mit (6e) richtig liegen, dann wird mit (6) nichts Wahres oder Falschesbehauptet (sei es nun über Sprachgebräuche oder über Wirtschaftssysteme), sondern einemehr oder minder zweckmäßige Vereinbarung getroffen, bestimmte Ausdrücke derGestalt des Ausdrucks ›wachsende Wirtschaft‹ in einem bestimmten Sinn zu verwenden.

Wenn wir jedoch mit (6d) richtig liegen, dann wird mit dem ersten Teilsatz von (6)eine Vereinbarung getroffen, ein Wort in einer bestimmten Bedeutung zu verwenden,während mit dem zweiten Teilsatz von (6) eine Behauptung über Wirtschaftssystemeaufgestellt wird, und (6) läse sich dann wie (6f):

(6f) Mit dem Ausdruck ›wachsende Wirtschaft‹ sei im Folgenden stets eine solcheWirtschaft bezeichnet, die fortlaufend mehr Produktionskapazitäten erhält. In einerwachsenden Wirtschaft nimmt normalerweise der Produktionsertrag ständig zu.

Man beachte auch folgenden Punkt, der für eine allfällige empirische Überprüfung von(6) wichtig ist. Wenn (6f) die richtige Lesart von (6) ist, dann ist der Satz

(6g) Jede Wirtschaft, die wächst, erhält fortlaufend mehr Produktionskapazitäten.

analytisch wahr und nicht falsifzierbar, denn er lässt sich ja durch Rückgriff auf diestipulative Defnition in (6f) in den folgenden logisch wahren Satz (6h) übersetzen:

(6h) Jede Wirtschaft, die fortlaufend mehr Produktionskapazitäten erhält, erhältfortlaufend mehr Produktionskapazitäten.

Hingegen ist der mit (6g) gestaltgleiche Satz in (6c) faktisch wahr oder falsch und em-pirisch überprüfbar, kurz: er ist synthetisch.

Spätestens nach der Analyse des Satzes (6) ist also die vorliegende Theorie inmindestens fünf verschiedene Theorien aufzuspalten:

— In Theorie 1 ist nichts mehr vom Satz (6) enthalten, weil (6) im Sinne von (6b)als eine reportive Defnition aufgefasst wird.

— In Theorie 2 bleibt der zweite Teilsatz von (6) als faktisch wahrer oder falscherSatz erhalten, während der erste Teilsatz, aufgefasst als reportive Defnition (6a), nichtzur Theorie 2 gehört.

— In Theorie 3 bleiben beide Teilsätze von (6) als synthetische Sätze erhalten (vgl.(6c)).

— In Theorie 4 bleibt wie in Theorie 2 der zweite Teilsatz von (6) als synthetischerSatz erhalten; zusätzlich zu Theorie 2 enthält Theorie 4 auch noch den rücksichtlich derstipulativen Defnition (6d) analytisch wahren Satz (6g) und seine Umkehrung (beidedurch Einsetzung gewonnen aus folgendem logischen Theorem der Theorie 4: ›EineWirtschaft wächst gdw sie wächst.‹).

— In Theorie 5 schließlich wird (6) zu einem rücksichtlich der stipulativen Def-nition (6e) analytisch wahren Satz, nämlich zu ›Eine Wirtschaft wächst gdw sie fort-laufend mehr Produktionskapazität erhält und ihr Produktionsertrag zunimmt.‹.

In (6) ist also mit höchst bescheidenen Mitteln ein beachtlicher Verwirrungserfolg bei derDarstellung einer Theorie innerhalb eines natürlichsprachlichen Textes erzielt worden. InIhrer Fachliteratur können Sie Hunderte weiterer Beispiele fnden. Die Mittel sind fastimmer dieselben und erstaunlich simpel:

(1) dem Leser sprachlich nicht merken lassen, ob man ein Wort zur Bezeichnungseiner selbst verwendet oder zur Bezeichnung dessen, worauf es sich normaler-weise bezieht (hierzu ist das Vermeiden von Anführungszeichen höchst hilfreich);

2014 THEORETISIEREN 131

(2) dem Leser sprachlich nicht merken lassen, ob man etwas Wahres oder Falschesbehaupten möchte oder ob man Vorschläge machen oder Vereinbarungen treffenmöchte (hierzu ist das Vermeiden optativer Satzmodi höchst hilfreich).

5.2.2 URSACHE 2: STILLSCHWEIGENDE VORAUSSETZUNGEN

Nun zum zweiten Grund, dem Nichterwähnen (oft nicht) selbstverständlicher Voraus-setzungen. Die traditionelle Darstellung von Theorien kann nämlich auch in der Hinsichtverwirrend sein, dass nicht genau angegeben, gewöhnlich kaum angedeutet wird, welcheAussagesätze als „trivial“ vorausgesetzt werden. Solche Aussagesätze werden nicht hin-geschrieben, sondern stillschweigend zur Theorie hinzugezählt. Stillschweigende Vor-aussetzungen können sehr wichtig werden, wenn man aus der Theorie Schlussfol-gerungen ziehen will. Dürfen wir z.B. aus unserer oben skizzierten Neurosenätiologieschlussfolgern, dass der Verfolgungswahn durch frühkindliche Traumata verursachtwird? Ja, wenn der Autor stillschweigend voraussetzt, dass der Verfolgungswahn zu denNeurosen zählt. Nein, wenn der Autor diese Voraussetzung nicht macht oder sogarvoraussetzt, dass der Verfolgungswahn keine Neurose ist. So bleibt es unsicher, ob nunder Satz ›Der Verfolgungswahn ist eine Neurose.‹ zur Theorie gehört, oder ob er nichtdazu gehört oder ob im Gegenteil der Satz ›Der Verfolgungswahn ist keine Neurose.‹ zurTheorie gehört. Ein unzumutbarer Zustand für jeden, der die Theorie empirisch unter-suchen möchte.

Die traditionelle Darstellungsart von Theorien erzeugt also Unsicherheit undUnstimmigkeit darüber, welche Sätze zur fraglichen Theorie zu zählen sind, indem siezwischen den Aussagesätzen der Theorie und den Defnitionen im Text keine deutlichensprachlichen Unterschiede macht und indem sie darauf verzichtet, die Menge der still-schweigenden Voraussetzungen der Theorie zu minimieren. Aber selbst wenn ein Autorvorbildlich schreibt und keinen Zweifel daran lässt, welche Sätze er zu seiner natürlich-sprachlichen Theorie rechnet, kann es immer noch zu ernsthaften Unsicherheiten undUnstimmigkeiten darüber kommen, ob alle Sätze, die er ausdrücklich zu seiner Theorierechnet, tatsächlich zu ihr gehören.

5.3 DAS PROBLEM DES IDENTIFIZIERENS NATÜRLICHSPRACHLICHER THEORIEN, TEIL 2

Wir sind in vielen Fällen auch deshalb unsicher, ob ein vorliegender Aussagesatz zurfraglichen Theorie gehört, weil wir uns ohne logische Hilfsmittel keine Sicherheitdarüber verschaffen können, ob dieser Aussagesatz aus gewissen anderen Aussagesätzen,die zweifelsfrei zur Theorie gehören, wirklich logisch folgt. Es mag zwar sein, dass derAutor eine Ableitbarkeitsbehauptung aufgestellt hat, aber es kann durchaus sein, dass sienicht intuitiv nachvollziehbar ist. Sollen wir nun von dem betreffenden Satz annehmen,dass er zur Theorie gehört? Es ist ja nicht auszuschließen, dass der Autor sich geirrt hatund der betreffende Aussagesatz nicht aus den anderen Sätzen der Theorie folgt. Manch-mal, in einfachen Fällen, mag es vorkommen, dass wir unschwer ohne jede logischeHilfsmittel erkennen können, ob die Ableitbarkeitsbehauptung des Autors wahr oderfalsch ist. Wenn etwa ein Autor behauptet, aus seinen beiden Aussagesätzen

132 KLEINE EINFÜHRUNG 2014

1. Jeder Staat, in dem die Höhe der hinterzogenen Steuern größer ist als die Hälftedes Bruttosozialprodukts, hat ein Budgetdefzit über 3%. 2. Deutschland hatte 2003 ein Budgetdefzit über 3%.

sei der Satz ableitbar oder folge logisch der Satz:

3. Deutschland ist ein Staat, in dem 2003 die Höhe der hinterzogenen Steuerngrößer war als die Hälfte des Bruttonationalprodukts.

dann werden wir mühelos seine Ableitbarkeitsbehauptung als falsch zurückweisen und 3.nicht zu seiner Theorie rechnen;89 während wir, wenn er behauptet, aus 1. und

4. In Deutschland war 2003 die Höhe der hinterzogenen Steuern größer als dieHälfte des Bruttosozialprodukts.

folge 2., ihm sofort zustimmen werden (und ihm zusätzlich einräumen, dass seine Theo-rie 2. erklärt, sofern 1. und 4. wahr sind). Aber im wissenschaftlichen Alltag sind Ableit-barkeitsbehauptungen bei weitem schwieriger überprüfbar, wie vielleicht das folgende,realitätsnähere Beispiel andeutet.90

Es sei T eine wirtschaftswissenschaftliche Theorie, die zweifellos folgende fünfSätze umfasst:

1. Wenn das nominelle Niveau der Löhne und Preise absinkt, geht der Transak-tionsbedarf an Geld zurück.2. Wenn der Transaktionsbedarf an Geld zurückgeht, werden, vorausgesetzt, dasskeine Liquiditätsfalle vorliegt, die Wirtschaftssubjekte ihre Portefeuilles zugunstenvon Wertpapieren umschichten.3. Eine derartige Umschichtung führt zu höheren Wertpapierkursen und zu niedri-gerem Marktzins.4. Ist die Zinselastizität der Investitionsnachfrage nicht zu gering, so bewirkt einniedriger Marktzins eine erhöhte Nachfrage nach Investitionsgütern.5. Erhöhte Nachfrage nach Investitionsgütern induziert mehr Einkommen, mehrKonsum und damit mehr Beschäftigung.

Angenommen, der Autor versichert uns, der folgende Satz:

6. Wenn die Zinselastizität der Investitionsnachfrage nicht zu gering ist und über-dies keine Liquiditätsfalle vorliegt, dann führt ein Absinken des nominellen Ni-veaus der Löhne und Preise zu einer Zunahme der Beschäftigung.

folge logisch aus den Sätzen 1 bis 5 seiner Theorie T und müsse deshalb auch zu Tgezählt werden. Hier bleiben wir ohne logische Hilfsmittel wohl unsicher, ob wir ihmglauben sollen. (Wir sollten, wie sich auf elementarer junktorenlogischer Ebene etwa mitder Wahrheitstafelmethode oder der Beth-Tableaux-Methode oder einem Herleitungs-baum leicht zeigen lässt.) Dabei bilden jedoch so logisch durchsichtige Formulierungenwie die in 1. bis 5. eine Ausnahme.

89 Wenn wir die Ableitbarkeitsbehauptung als falsch nachweisen, haben wir natürlich nicht die Theorie alsfalsch nachgewiesen. Die Ableitbarkeitsbehauptung gehört ja nicht zur Theorie, denn sie sagt nichts überden Gegenstandsbereich der Theorie, sondern etwas über die Sätze der Theorie aus. Die Ableitbarkeits-behauptung in unserem Beispiel sagt zwar etwas über Sätze aus, die sich auf Staaten beziehen, aber dieseSätze sind keineswegs selber Staaten, so dass unsere Ableitbarkeitsbehauptung nichts über Staaten aussagtund somit nicht zur Theorie gehört.90 Ich habe dieses auf eine Theorie von Keynes zurückgehende Beispiel aus Reinhard Kamitzs sehrlesenswerter Abhandlung„Was kann die Anwendung der formalen Logik auf eine Wissenschaft zumFortschritt der Erkenntnis beitragen?“ (S. 26) übernommen. Für Literaturangabe siehe 5.4.

2014 THEORETISIEREN 133

Zum Schluss eine wissenschaftstheoretische Gretchenfrage:

Wieso soll man sich überhaupt bemühen, natürlichsprachliche Theorien in wissen-schaftlichen Texten anderer zu identifzieren, und wieso soll man versuchen,Theorien in eigenen Texten von vornherein so anzugeben, dass keine Zweifel ent-stehen, welche Sätze im Text zur Theorie gehören und was sie bedeuten?

Die üblichen Texte haben ja offenbar den Vorteil, dass derjenige, der in ihnen vage eineTheorie entwickelt, fast immer recht behalten wird, wenn Einwände gegen seine Theoriekommen. Einem Einwand, z.B. dass Satz A seiner Theorie faktisch falsch ist, kann erunschwer entgegenhalten, dass A natürlich analytisch wahr ist und überhaupt nicht hätteempirisch untersucht werden dürfen; oder dass A zwar in der Tat ein synthetischer Satzseiner Theorie ist, aber natürlich nicht so logisch stark aufgefasst werden darf, wie es dieempirischen Forscher getan haben (wozu war denn der Satz vorsichtshalber quasi-ge-nerell formuliert worden?); oder dass A überhaupt nicht zur Theorie gehört, etwa weil Ain Wirklichkeit natürlich eine Defnition ist oder weil A natürlich vom Autor nicht still-schweigend vorausgesetzt worden ist oder weil A natürlich nur dann eine logische Folgeder Theorie ist, wenn man die und die stillschweigenden Voraussetzungen macht, dieman natürlich nicht hätte machen dürfen.

Aber eben das ist der Punkt. Ziel der wissenschaftlichen Forschung ist nicht dieImmunisierung von Theorien gegen Kritik, sondern die Kritik von Theorien durch raff-nierte logische und empirische Untersuchungen; erst Theorien, die solchen Überprü-fungen immer wieder standgehalten haben, gelten als bewährt, nicht solche, die es zudiesen Überprüfungen durch die bewusste oder unbewusste Schlampigkeit ihrer Formu-lierung überhaupt nicht kommen lassen; und erst mit bewährten Theorien lässt sich dermit ihnen verbundene Anspruch einlösen, Phänomene zu erklären, vorherzusagen undzurückzusagen. Solange die meisten Abhandlungen in einem Fach so geschrieben wer-den, dass Unsicherheit und Unstimmigkeit darüber herrschen müssen, woraus die angeb-lich in diesen Abhandlungen formulierten Theorien bestehen, solange wird es enttäu-schend wenige Theorien in diesem Fach geben, die den mit ihnen verbundenen Ansprucheinlösen.

5.4 LITERATURHINWEISE

Reinhard KAMITZ: „Was kann die Anwendung der formalen Logik auf eine Wissenschaftzum Fortschritt der Erkenntnis beitragen?“. — In: Reinhard Kamitz (Hg.): Logik undWirtschaftswissenschaft. — Berlin: Duncker & Humblot, 1979, pp. 21–128. [Teilweise

schwierig.]

Ernest NAGEL: The Structure of Science. Problems in the Logic of Scientifc Explanation.— Cambridge: Hackett Publ. Comp., 1979. [Kapitel 5, 6, 13–15; Kapitel 5 und 6 sind

schwierig.]

Karl-Dieter OPP: Methodologie der Sozialwissenschaften. Einführung in Probleme ihrerTheoriebildung und praktischen Anwendung. — Wiesbaden: VS Verlag für Sozial-wissenschaften, 62005. [Elementar, allzu vereinfachend.]

Rolf ZIEGLER: Theorie und Modell. Der Beitrag der Formalisierung zur soziologischenTheoriebildung. — Wien; München: Oldenbourg Verlag, 1972. [Teilweise schwierig.]

134 KLEINE EINFÜHRUNG 2014

5.5 EMPFEHLUNGEN FÜRS WISSENSCHAFTLICHE ARBEITEN

Empfehlung 1: Wenn Sie eine natürlichsprachliche Theorie darstellen und beurteilenmüssen, dann schreiben Sie bitte nicht über die Theorie, bevor Sie nicht ernsthaft ver-sucht haben, sie aufzuschreiben, das heißt, eine Liste von syntaktisch und semantischmöglichst eindeutigen Aussagesätzen aufzustellen, die höchstwahrscheinlich zur Theoriezu zählen sind. Wenn dabei augenscheinlich wird, wie inhaltlich dürftig die Theorie istoder wie wenig logischen Zusammenhang sie aufweist oder wie empirisch gehaltlos sieist, dann ist das nicht Ihre Schuld, sondern Ihr Verdienst. Wenn es sich gar als unmöglicherweist, eine Liste zentraler Aussagesätze der Theorie zusammenzustellen, dann ist dieTheorie unter jeder Kritik.

Empfehlung 2: Wenn Sie selber eine natürlichsprachliche Theorie aufstellen wollen, dannsollten Sie eine Entscheidung treffen, ob Sie Ihre Theorie in essayistischer Form imjeweils in Ihrem Fachgebiet gerade obligaten Jargon und Stil darstellen wollen, oder obSie Ihre Theorie so darstellen wollen, dass Sie selbst und Ihre Leser stets wissen:

— die und die Aussagesätze gehören zur Theorie, sind faktisch wahr oder falschund wären, wenn es zu empirischen Untersuchungen kommt, zu testen;

— die und die Aussagesätze gehören zur Theorie, sind aufgrund stipulativer Defni-tionen analytisch wahr und brauchen nicht empirisch getestet zu werden;

— die und die der aufgelisteten und durchnummerierten Aussagesätze der Theoriefolgen logisch aus den und den weiter oben in der Liste stehenden Aussagesätzender Theorie.

Zudem sollten die folgenden zwei Kriterien erfüllt sein:

— jede wichtige stipulative Defnition, auf die Sie bei der Markierung eines Aus-sagesatzes als analytisch zurückgreifen, wird angeführt;

— jede nicht sofort einsichtige Ableitbarkeitsbehauptung wird — zumindest skiz-zenhaft — bewiesen.

Da diese Darstellungsart geistig aufwendig und ihr Ergebnis meist stilistisch unelegantist, ist es verständlich, wenn Sie die traditionelle essayistische Form wählen. Aber dieseForm zwingt Sie nicht notwendigerweise zur Erkenntnis- und Kritikblockade. Falls Sie inIhrer Arbeitsdatei oder auch bloß auf Ihren Schmierblättern die Aussagesätze IhrerTheorie aufgelistet, durchnummeriert und als faktisch bzw. analytisch markiert haben,dann können Sie bei einigem sprachlichen Geschick Ihre Theorie in Ihrer Abhandlungimmer noch so darstellen, dass der Leser mitkriegt, aus welchen Sätzen sie besteht, auchwenn Sie dort, in der veröffentlichten Abhandlung, aufs Durchnummerieren und Mar-kieren und Beweisen und ähnliche Pedanterien verzichten (müssen). Vielleicht sollten Siediesen Kompromiss aus Klarheit und Gefälligkeit anstreben.

5.6 ÜBUNGEN

1. Angenommen, jemand schreibt in einer Abhandlung über Neurosen den folgenden Satz:

Da ja jede Neurose durch ein frühkindliches Trauma verursacht ist und alle Phobien

Neurosen sind, gibt es keine Phobie, die nicht durch ein frühkindliches Trauma verursacht

ist.

2014 THEORETISIEREN 135

(a) Bitte listen Sie die drei Aussagesätze auf, die offenbar zur in der Abhandlung versteckten

natürlichsprachlichen Theorie der Neurosen gehören, und nummerieren Sie sie in der im Satz an-

gedeuteten Reihenfolge durch!91

(b) Der Beispielsatz deutet zusätzlich an, dass der dritte Aussagesatz aus den ersten zwei Aus-

sagesätzen logisch folgt. Ist der Aussagesatz ›Der dritte Aussagesatz folgt logisch aus dem zwei-

ten und ersten.‹ ein Satz der in der Abhandlung versteckten Neurosentheorie?

(c) Halten Sie den ersten Aussagesatz für einen faktisch wahren oder falschen Satz?

(d) Halten Sie den zweiten Aussagesatz für einen faktisch wahren oder falschen Satz?

(e) Halten Sie den dritten Aussagesatz für einen faktisch wahren oder falschen Satz?

(f) Gehört der Beispielsatz zu der in der Abhandlung versteckten Theorie der Neurosen?

2. Angenommen, eine Psychologin beginnt, eine Theorie der Träume zu entwickeln, und

tastet sich mal vor, indem sie sich für den Anfang eine stipulative Defnition notiert, nämlich:

Unter ›Kompensierungstraum‹ möchte ich in meiner Theorie der Träume einen solchen

Traum verstanden wissen, der ein Wunscherfüllungs- oder ein Angstabbautraum ist.

und dann die ersten fünf Sätze, die zu ihrer Theorie gehören sollen, aufistet:

1. Jeder Traum ist genau dann ein Kompensierungstraum, wenn er ein

Wunscherfüllungstraum oder ein Angstabbautraum ist. (Analyt. wahr rücksichtl. stip. Def.)

2. Jeder Traum ist ein Kompensierungstraum. (Faktisch)

3. Kein Angstabbautraum ist ein Wunscherfüllungstraum. (Faktisch)

4. Es gibt Angstabbauträume. (Faktisch)

Nun macht sie eine Nachdenkpause und schreibt sich ein paar Folgerungen aus den ersten 4

Sätzen auf:

5. Jeder Wunscherfüllungstraum ist ein Kompensierungstraum. (Aus 1.; analyt. wahr)

6. Jeder Angstabbautraum ist ein Kompensierungstraum. (Aus 1.; analyt. wahr)

7. Jeder Traum, der kein Wunscherfüllungstraum ist, (Aus 1. und 2.; faktisch)

ist ein Angstabbautraum.

8. Es gibt Träume, die keine Wunscherfüllungsträume sind. (Aus 3. und 4.; faktisch)

9. Es gibt keine Träume, die weder Wunscherfüllungs- (Aus 2. und 1.; faktisch)

noch Angstabbauträume sind.

(a) Kann unsere Psychologin, ohne ihre Theorie widersprüchlich zu machen, den folgenden Satz

zu ihrer Theorie hinzufügen?

10. Es gibt Wunscherfüllungsträume. (Faktisch)

(b) Kann unsere Psychologin, ohne ihre Theorie widersprüchlich zu machen, die folgende These

zu ihrer Theorie hinzufügen?

11. Jeder Traum ist ein Wunscherfüllungstraum. (Faktisch)

(c) Kann irgendjemand den 6. Satz der Theorie als falsch nachweisen?

(d) Welche Sätze der Theorie können prinzipiell durch empirische Untersuchungen auf Wahrheit

geprüft werden?

91 Wenn Sie sehr unsicher sind, um welche Aussagesätze es sich in welcher Reihenfolge hierbei handelt,dann lesen Sie die Fußnote zu Ende, bevor Sie mit der Beantwortung der Fragen (b) bis (f) fortfahren. Diedrei Aussagesätze sind:

1. Jede Neurose ist durch ein frühkindliches Trauma verursacht.

2. Alle Phobien sind Neurosen.

3. Es gibt keine Phobie, die nicht durch ein frühkindliches Trauma verursacht ist.

136 KLEINE EINFÜHRUNG 2014

(e) Welche Sätze der Theorie sind verifzierbar, aber nicht falsifzierbar? (Ein Satz ist genau dann

verifzierbar, wenn er aus mindestens einem Beobachtungssatz logisch folgt. Ein Satz ist genau

dann falsifzierbar, wenn er mindestens einen Beobachtungssatz logisch ausschließt.)

(f) Welche Sätze der Theorie sind zwar falsifzierbar, aber nicht verifzierbar?

(g) Gehören die Nummern jener Sätze, die zur Theorie gehören, zur Theorie?

(h) Gehören die rechts neben den Sätzen in Klammern stehenden Markierungen und Anmer-

kungen zur Theorie?

3. Wenn Sie im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit eine natürlichsprachliche Theorie

darzustellen und zu bewerten haben, dann berichten Sie bitte darüber.

5.7 LÖSUNGEN DER ÜBUNGEN ZUM 5. KAPITEL

1. Übung (Neurose)

(a)1. Jede Neurose ist durch ein frühkindliches Trauma verursacht.

2. Alle Phobien sind Neurosen.

3. Es gibt keine Phobie, die nicht durch ein frühkindliches Trauma verursacht ist.

(b) Nein (sondern ein Satz der Metatheorie der Neurosentheorie).

(c) Ja, denn der 1. Satz ist einerseits weder ein logisch wahrer noch ein logisch falscher Satz und

anderseits weder ein analytisch wahrer noch ein analytisch falscher Satz rücksichtlich aller mir

bekannten Defnitionen des Wortes ›Neurose‹. Der 1. Satz wäre zwar analytisch wahr rücksichtlich

jeder Defnition von ›Neurose‹, in deren Defniens ›durch ein frühkindliches Trauma verursacht‹ als

eine Defnitionsbedingung vorkommt. Der erste Satz wäre also z.B. rücksichtlich folgender stipu-

lativer Defnition analytisch wahr:

Unter ›Neurose‹ seien solche und nur solche psychische Erkrankungen verstanden, denen keine

organische Erkrankung zugrunde liegt und die durch ein frühkindliches Trauma verursacht

sind.

Denn wenn man im 1. Satz ›Neurose‹ durch das Defniens obiger Defnition grammatisch korrekt

ersetzt, dann erhält man einen logisch wahren Satz, nämlich:

Jede psychische Erkrankung, der keine organische Erkrankung zugrunde liegt und die durch ein

frühkindliches Trauma verursacht ist, ist durch ein frühkindliches Trauma verursacht.

Aber eine Defnition dieser Art ist aus der mir bekannten Fachliteratur nicht herauszulesen.

(d) Ja, wenn man feststellt, dass in der Metatheorie dieser Neurosentheorie das Wort ›Phobie‹ nicht

mittels des Wortes ›Neurose‹ defniert wird. Der 2. Satz ist jedoch als analytisch wahr zu betrachten,

wenn in der Metatheorie das Wort ›Phobie‹ z.B. nach folgendem Schema defniert ist:

Unter ›Phobie‹ sei eine solche Neurose verstanden, die ... .

Denn dann entsteht aus dem 2. Satz durch Einsetzung ein logisch wahrer Satz, der unter das folgende

Schema fällt:

Alle solchen Neurosen, die ... , sind Neurosen.

Solange es also unklar bleibt, wie die stipulative Defnition von ›Neurose‹ im Beispielsfall aussieht,

solange bleibt es unklar, ob ›Alle Phobien sind Neurosen.‹ analytisch wahr oder faktisch ist.

2014 THEORETISIEREN 137

(e) Ja, denn der 3. Satz ist nicht logisch wahr und ›Phobie‹ wird nirgends in der mir bekannten Fach-

literatur mittels ›durch ein frühkindliches Trauma verursacht‹ defniert.

(f) Nein, denn der Beispielsatz besagt im Wesentlichen, dass ein bestimmter Satz aus zwei anderen

bestimmten Sätzen logisch folgt.

2. Übung (Anfang einer Theorie der Träume)

(a) Kann unsere Psychologin, ohne ihre Theorie widersprüchlich zu machen, den folgenden Satz zu

ihrer Theorie hinzufügen?

10. Es gibt Wunscherfüllungsträume. (Faktisch)

JA.

(b) Kann unsere Psychologin, ohne ihre Theorie widersprüchlich zu machen, die folgende These zu

ihrer Theorie hinzufügen?

11. Jeder Traum ist ein Wunscherfüllungstraum. (Faktisch)

NEIN, DENN SOFORT LOGISCHER WIDERSPRUCH ZU 8. SATZ.

(c) Kann irgendjemand den 6. Satz der Theorie als falsch nachweisen? NEIN.

(d) Welche Sätze der Theorie können prinzipiell durch empirische Untersuchungen auf Wahrheit

geprüft werden? DIE FAKTISCHEN.

(e) Welche Sätze der Theorie sind zwar verifzierbar, aber nicht falsifzierbar?

JENE, DIE FAKTISCHE EXISTENZSÄTZE SIND (Z.B. 8.).

(f) Welche Sätze der Theorie sind zwar falsifzierbar, aber nicht verifzierbar?

JENE, DIE FAKTISCHE ALLSÄTZE SIND ODER MIT FAKTISCHEN ALLSÄTZEN LOGISCH

ÄQUIVALENT SIND (Z.B. 7. UND 9.).

(g) Gehören die Nummern jener Sätze, die zur Theorie gehören, zur Theorie?

NEIN. SIE SIND SINGULÄRE NAMEN FÜR DIESE SÄTZE.

(h) Gehören die rechts neben den Sätzen in Klammern stehenden Markierungen und Anmerkungen

zur Theorie?

NEIN. SIE SIND ABKÜRZUNGEN FÜR SÄTZE ÜBER DIE THEORIE.92

3. SIE sind am Zug.

92 Ein Beispiel: ›(Aus 1.; analyt. wahr)‹ steht kurz für: ›Der betreffende Satz ist analytisch wahr und folgtlogisch aus dem 1. Satz der Theorie.‹.

138 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

6 ARGUMENTE UND ARGUMENTSHIERARCHIEN AUS LOGISCHER UND

EPISTEMISCHER SICHT

6.1 ARGUMENTE

6.1.1 VERWENDUNG VON ›ARGUMENT‹ GEMÄSS HERKÖMMLICHEM LOGISCHEN

SPRACHGEBRAUCH

Sätze wie zum Beispiel der folgende werden oft ›Argumente‹ genannt: ›Nietzsche hatteSyphilis, denn er ist an Gehirnerweichung erkrankt und jeder, der an Gehirnerweichungerkrankt, hat Syphilis.‹. Der Satzteil vor dem ›denn‹ wird ›die Konklusion‹ des Argumen-tes genannt, der Satzteil nach dem ›denn‹ wird ›Prämisse‹ genannt. Das ›denn‹ fungiertals sogenannter Konklusions- und Prämissenindikator, es deutet der Leserin oder demLeser an: vor mir steht der Satz, für dessen Wahrheit argumentiert wird, das ist dieKonklusion, nach mir kommen die Sätze, die für die Wahrheit der Konklusion sprechensollen, das sind die Prämissen.

In der Logik bringt man Sätze der obigen Art in eine einheitliche Form, eine sog.Standardform, und solche in Standardform gebrachte Sätze nennt man häufg ›deskriptiveArgumente in Standardform‹, ›deskriptiv‹ deshalb, weil Argumente wie das obige nur ausAussagesätzen bestehen und Aussagesätze in der Logik ja oft auch ›deskriptive Sätze‹heißen. Wir schließen uns folgender Vereinbarung an:

A ist ein deskriptives Argument in Standardform gdw gilt: Es gibt mindestens einenatürliche Zahl n und Aussagesätze A1, A2, A3, … , An sowie C derart, dass A identischmit

A1 A2 A3 … An Daher: C

ist. Kurz: Ein deskriptives Argument in Standardform ist eine Folge von deskriptivenSätzen, deren letzter mit ›Daher:‹ eingeleitet wird.

Der auf Standardform gebrachte obige Beispielsatz sieht nun so aus:

Nietzsche ist an Gehirnerweichung erkrankt, und jeder, der an Gehirnerweichungerkrankt, hat Syphilis. Daher: Nietzsche hatte Syphilis.

Wir bemerken, dass der auf die Standardform eines Argumentes gebrachte Satz keinAussagesatz ist. Das obige deskriptive Argument in Standardform ist vielmehr eineSatzreihe, die aus zwei Aussagesätzen besteht, deren letzter mit ›Daher:‹ beginnt. Das giltfür alle deskriptiven Argumente in Standardform: Sie sind nicht Sätze, sondern Satz-reihen, genauer: sie sind Aneinanderreihungen von mindestens zwei Aussagesätzen.

Führen wir nun ausdrücklich ein paar nützliche Termini ein. Es sei A im Weiterenstets ein deskriptives Argument in Standardform und identisch mit der Satzreihe:

A1 A2 A3 … An Daher: C.

Vereinbarungsgemäß soll gelten:

Die Aussagesätze A1, A2, A3 bis An sind die Prämissen von A.Die Menge {A1, A2, A3, … , An} ist die Prämissenmenge von A.Der Ausdruck ›Daher:‹ ist der Konklusionsindikator von A.Der Aussagesatz C ist die Konklusion von A.

2014 ARGUMENTE UND ARGUMENTSHIERARCHIEN 139

Der Konjunktionssatz ›A1 und A2 und A3 und … und An‹ ist die Konjunktion derPrämissen (kurz: die Prämissenkonjunktion) von A.93

Ein Aussagesatz B gehört zum deskriptiven Argument A in Standardform genaudann, wenn B eine Prämisse von A ist oder wenn B identisch mit der Konklusionvon A ist.

Es gilt für alle deskriptiven Argumente A in Standardform:

A ist kein Aussagesatz, sondern eine Aneinanderreihung von Aussagesätzen.A hat mindestens eine Prämisse und genau eine Konklusion.

Man beachte: Da A kein Aussagesatz ist, ist es irreführend zu sagen oder zu schreiben, Asei wahr oder falsch. Von As Prämissen und von As Konklusion kann sinnvoll gesagtwerden, sie seien wahr oder falsch; es ergibt jedoch keinen Sinn, von A zu sagen, A seiwahr oder falsch. Wir werden sehen, dass in Logik, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorieandere Prädikate auf A angewendet werden als ›wahr‹ und ›falsch‹, nämlich die Prädikate›logisch gültig‹, ›logisch ungültig‹ und ›stichhaltig‹ sowie die Prädikate ›stark (bei derrationalen Glaubensgradverteilung p)‹ und ›schwach (bei der rationalen Glaubensgrad-verteilung p)‹.

Im Folgenden vier einfache Beispiele für deskriptive Argumente in Standardform. Wirwerden noch einige Male auf sie zurückkommen.

Deskriptives Argument (1) in Standardform:Linz hatte 2001 mehr als 100.000 Einwohner. Graz hatte 2001 mehr als 100.000Einwohner. Salzburg hatte 2001 mehr als 100.000 Einwohner. Daher: Jede öster-reichische Landeshauptstadt hatte 2001 mehr als 100.000 Einwohner.

Deskriptives Argument (2) in Standardform:Jede österreichische Landeshauptstadt hatte 2001 mehr als 100.000 Einwohner.Eisenstadt ist eine österreichische Landeshauptstadt. Daher: Eisenstadt hatte 2001mehr als 100.000 Einwohner.

Deskriptives Argument (3) in Standardform:Alle äußerst erschöpften Lebewesen sind appetitlos. Hans Huber war am 21.3.2002ein äußerst erschöpftes Lebewesen. Daher: Hans Huber war am 21.3.2002 appetit-los.

Deskriptives Argument (4) in Standardform:Fritz hat 50 mal Lotto gespielt und kein einziges Mal sechs Richtige gehabt. Daher:Fritz wird beim 51. Mal auch keine sechs Richtigen haben.

Manche deskriptive Argumente in Standardform sind sinngleich oder inhaltsgleich oderlogisch äquivalent mit anderen deskriptiven Argumenten in Standardform. Wir legen fest:

A ist logisch äquivalent' mit A* gdw gilt: erstens, die Prämissenkonjunktion von Aist logisch äquivalent mit der Prämissenkonjunktion von A*; zweitens, die Konklu-sion von A ist logisch äquivalent mit der Konklusion von A*.94

Etwa ist das folgende deskriptive Argument in Standardform

Hans Huber war am 21.3.2002 ein äußerst erschöpftes Lebewesen. Es gibt keinäußerst erschöpftes Lebewesen, das nicht appetitlos ist. Daher: Hans Huber war am21.3.2002 appetitlos.

93 Ein Konjunktionssatz ist ein solcher Und-Satz, der genau dann wahr ist, wenn alle seine mit ›und‹verbundenen Teilsätze wahr sind. — Hat das Argument nur eine einzige Prämisse, dann ist seine Prä-missenkonjunktion die Prämisse selbst.94 Zur logischen Äquivalenz von Aussagesätzen siehe Seite 78.

140 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

logisch äquivalent' mit dem obigen deskriptiven Argument (3) in Standardform.

Im Alltag und in den Wissenschaften werden oft Sätze ›Argumente‹ genannt, die(noch) nicht auf die Standardform für Argumente gebracht worden sind. Das ist keinAnlass für ein Kommunikationsproblem, denn es dürfte kaum verwirrend sein, wennSätze, die zwar noch nicht auf die Standardform für Argumente gebracht worden sind,aber sich unschwer auf die Standardform bringen lassen, als ›Argumente‹ bezeichnetwerden. Nennen wir solche Sätze etwas genauer ›deskriptive Argumente im weiterenSinn des Wortes‹ und nennen wir solche Texte, die entweder deskriptive Argumente imweiteren Sinn des Wortes sind oder die deskriptive Argumente in Standardform sind, kurz›deskriptive Argumente‹. Das Nietzsche-Beispiel auf Seite 138 war ein deskriptivesArgument im weiteren Sinn des Wortes, das wir sogleich und mühelos auf Standardformgebracht und somit in ein sinngleiches deskriptives Argument in Standardform überführthaben. Auch der folgende Satz ist ein deskriptives Argument im weiteren Sinn des Wor-tes: ›Fritz hat 50 mal Lotto gespielt und kein einziges Mal sechs Richtige gehabt, er wirddaher auch beim 51. Mal keine sechs Richtigen haben.‹. Als eine auf Standardform ge-brachte Version dieses deskriptiven Argumentes im weiteren Sinn des Wortes lässt sichdas obige deskriptive Argument (4) in Standardform auffassen. Beide kurzen Texte, so-wohl der Satz ›Fritz hat 50 mal Lotto gespielt und kein einziges Mal sechs Richtige ge-habt, er wird daher auch beim 51. Mal keine sechs Richtigen haben.‹ als auch die Satz-reihe ›Fritz hat 50 mal Lotto gespielt und kein einziges Mal sechs Richtige gehabt. Da-her: Fritz wird beim 51. Mal auch keine sechs Richtigen haben.‹ sind deskriptive Argu-mente.

Machen wir uns im Folgenden klar, dass das Wort ›Argument‹ außerhalb der her-kömmlichen Logik und Wissenschaftstheorie auch in anderen Bedeutungen als in jenendrei verwendet wird, die oben für ›deskriptives Argument in Standardform‹, für ›deskrip-tives Argument im weiteren Sinn des Wortes‹ und für ›deskriptives Argument‹ festgelegtwurden.

6.1.2 VIER WICHTIGE ANDERE VERWENDUNGSWEISEN VON ›ARGUMENT‹

6.1.2.1 Argumente als Begründungen

In der herkömmlichen Logik werden manchmal Texte ›Argumente‹ genannt, die imAlltag und in den Wissenschaften nicht ›Argumente‹ genannt würden. Gemäß her-kömmlichem logischen Sprachgebrauch muss nämlich die Konklusion eines Argumentesnicht unbedingt inhaltlich etwas mit seinen Prämissen zu tun haben, gemäß alltäglichemSprachgebrauch schon. Im Alltag und auch in den Wissenschaften würde man z.B. ›Fritzist Wiener. Daher: Franz ist Grazer.‹ kein ›Argument‹ nennen, obschon diese Aneinan-derreihung von zwei Aussagesätzen gemäß logischem Sprachgebrauch eines ist, undzwar ein deskriptives Argument in Standardform. Damit man eine Satzreihe ›ein Argu-ment‹ nennen dürfe, müssen, so sagt man oft, die angeblichen Prämissen für die Wahrheitder angeblichen Konklusion sprechen; ›argumentieren‹ heiße doch, gute Gründe anzu-geben, also mittels der Prämissen die Konklusion zu begründen. In der Logik macht manhier jedoch meist eine kleine, aber wichtige Differenzierung: Wenn eine Person ein Argu-ment vorbringt, dann mag es zwar gewöhnlich der Fall sein, dass sie mit den Prämissenihres Argumentes die Konklusion ihres Argumentes stützen will, aber es könne vorkom-men, dass sich bei der Bewertung des vorgebrachten Argumentes herausstellt, dass seine

2014 ARGUMENTE UND ARGUMENTSHIERARCHIEN 141

Prämissen nicht im geringsten seine Konklusion stützen, ja dass sie vielleicht sogargegen die Wahrheit der Konklusion sprechen. Sollte man dann sagen, das vorgebrachteArgument sei nun plötzlich keines mehr? Oder sollte man nicht eher dem logischenSprachgebrauch folgen und sagen, ja, es liege ein Argument vor, aber seine Bewertunghabe ergeben, dass es nichts taugt? Denken wir etwa an unser Lotto-Beispiel, das ist dasobige deskriptive Argument (4) in Standardform. Eine nähere Untersuchung von (4)würde zeigen, dass seine Prämisse weder für noch gegen seine Konklusion spricht; (4) isttrotzdem ein deskriptives Argument in Standardform, aber eben ein schlechtes, wertloses,miserables, lausiges (oder welche negativen Prädikate sonst noch im Umgangsdeutschenfür schwache Argumente gebraucht werden).

Halten wir fest: Nicht jedes deskriptive Argument, sei es nun in Standardform odernicht, ist eine Begründung.95

6.1.2.2 Präskriptive bzw. normative Argumente

Im Alltag und in den Wissenschaften werden oft ethische und juristische Begründungen›Argumente‹ genannt. Diese Argumente bestehen entweder nur aus präskriptiven Sätzenoder mischen deskriptive mit präskriptiven Sätzen. Ein einfaches Beispiel für den erstenFall ist: ›Es ist verboten, Sklaven zu halten oder zu kaufen oder zu verkaufen. Daher: Esist nicht erlaubt, Sklaven zu verkaufen.‹. Ein einfaches Beispiel für den zweiten Fall: ›Eskommt immer wieder in Mordprozessen zur Verurteilung Unschuldiger. Daher: Die To-desstrafe soll endlich abgeschafft werden!‹. Beide Beispiele werden in der sog. deonti-schen oder normativen Logik ohne weiteres und völlig zurecht als (normative oder prä-skriptive) Argumente (in Standardform) anerkannt. Diese Satzreihen sind allerdings keinedeskriptiven Argumente in Standardform, weil jeweils mindestens einer der Sätze, ausdenen sie bestehen, nicht deskriptiv ist. Unsere Defnition von ›deskriptives Argument‹passt gut und reicht aus, wenn man sich — wie in diesem Skriptum — auf die logischeund wissenschaftstheoretische Untersuchung von Erfahrungswissenschaften beschränkt;sie müsste jedoch entsprechend ergänzt werden, wenn man auch die normativen Argu-mente in Jurisprudenz und Ethik untersuchen möchte.96

6.1.2.3 Argumente im Sinne von ›Prämissen von Argumenten‹

Der folgende Unterschied zwischen logischem und alltäglichem Sprachgebrauch pro-voziert unentwegt Missverständnisse und bedarf eigener terminologischer Erläuterungenund Zusatzregelungen. Im üblichen außerlogischen Sprachgebrauch werden nämlich

95 Noch ist übrigens jede Begründung ein Argument. Denn ganze Argumentshierarchien (siehe 6.3) könnenals Begründungen fungieren, auch Beweise können Begründungen sein. Somit: Der Begriff der Begrün-dung überschneidet sich zwar mit dem des Argumentes, doch ist er von dem des Argumentes verschiedenund weder weiter noch enger als dieser.96 Eine solche Ergänzung würde nicht nur aus Defnitionen von ›präskriptives Argument in Standardform‹,›präskriptives Argument im weiteren Sinn des Wortes‹ und ›präskriptives Argument‹ bestehen müssen,sondern auch in der wesentlich schwierigeren Erläuterung dessen, wie die Fachtermini ›ein präskriptivesArgument in Standardform ist logisch gültig‹, ›ein präskriptives Argument in Standardform ist logischungültig‹, ›ein präskriptives Argument in Standardform ist stark bei einer rationalen Glaubensgrad-verteilung‹, ›ein präskriptives Argument in Standardform ist schwach bei einer rationalen Glaubensgrad-verteilung‹ am besten zu verstehen sind. Derzeit gibt es bei weitem zu viele Erläuterungen für die erstenbeiden Termini, nämlich theoretisch unendlich viele, und (zumindest nach meinem Kenntnisstand) beiweitem zu wenige Erläuterungen für die letzten beiden Termini, nämlich praktisch keine.

142 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

auch die Prämissen eines Argumentes als ›Argumente‹ bezeichnet, während gemäßlogischem Sprachgebrauch kein Aussagesatz ein Argument und somit keine Prämisseeines Argumentes ein Argument ist.97 Etwa könnte in einer Diskussion über den Lebens-wandel Nietzsches Diskutant 1 ein deskriptives Argument in Standardform vorbringen:

Jeder, der an progressiver Paralyse erkrankt, hat Syphilis. Nietzsche ist an progres-siver Paralyse erkrankt. Daher: Nietzsche hatte Syphilis.

Diskutant 2 könnte entgegnen, das Argument, Nietzsche sei an progressiver Paralyse er-krankt, sei falsch. Hier meint Diskutant 2 mit ›Argument‹ nicht das deskriptive Argumentin Standardform des Diskutanten 1, sondern bezieht sich auf dessen zweite Prämisse.Diskutant 3 könnte ergänzen, auch das Argument, wer an progressiver Paralyse leide,habe Syphilis, sei schon längst durch die medizinische Forschung widerlegt.98 Diskutant3 bezieht sich ebenfalls mit ›Argument‹ nicht auf das deskriptive Argument in Standard-form des Diskutanten 1, sondern auf dessen erste Prämisse. Diskutant 2 und 3 könntenabschließend betonen, das Argument des Diskutanten 1 sei also sehr schwach — jetztbeziehen sie sich mit ›Argument‹ nicht mehr auf die eine oder andere Prämisse des Argu-mentes des Diskutanten 1, sondern sie meinen es selbst! Die Diskutanten 2 und 3 bewer-ten das vom Diskutanten 1 vorgebrachte deskriptive Argument in Standardform als sehrschwach mit der Begründung, seine Prämissen seien (aus ihrer Sicht) eindeutig falsch.

Es kann verwirrend sein, ›Argument‹ einmal zur Bezeichnung deskriptiver Argu-mente, ein andermal zur Bezeichnung der Prämissen solcher Argumente zu verwenden.99

Die folgenden drei Faustregeln sollen helfen, der Verwirrung Herr zu werden.

Faustregel 1: Leute, die das Wort ›Argument‹ im herkömmlichen logischen Sinndes Wortes verwenden, nennen gewöhnlich (so wie wir hier) jene Aussagesätze, die vordem Konklusionsindikator ›Daher:‹ stehen, ›die Prämissen des Arguments‹ und jenenAussagesatz, der nach ihm steht, ›die Konklusion des Argumentes‹. Und umgekehrt:Leute, welche die Wörter ›Prämisse‹ und ›Konklusion‹ verwenden, meinen mit dem Wort›Argument‹ gewöhnlich keine Aussagesätze, sondern (so wie wir hier) solche Aneinan-derreihungen von Sätzen, deren letzter durch ein ›Daher:‹ oder sonst einen Konklusions-indikator eingeleitet wird. M.a.W.: In der herkömmlichen logischen Terminologie gehö-ren die Wörter ›Argument‹, ›Prämisse‹ und ›Konklusion‹ inhaltlich zusammen: ein Argu-ment besteht aus Prämissen und der Konklusion.

Faustregel 2: Leute, die das Wort ›Argument‹ im üblichen außerlogischen Sinn desWortes verwenden, nennen gewöhnlich das, was die Logiker als ›Prämissen‹ bezeichnen,›Argumente‹; sie nennen das, was die Logiker als ›Argumente‹ bezeichnen, ›Argumenta-

97 Erinnern wir uns: Alle deskriptiven Argumente in Standardform bestehen zwar aus Aussagesätzen, siesind aber keine; ähnlich wie zum Beispiel alle Buchstabenreihen zwar aus Buchstaben bestehen, ohneselber Buchstaben zu sein. Der Ausdruck ›Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitänstochter‹ z.B. isteine Buchstabenreihe, aber kein Buchstabe. Jede Buchstabenreihe hat ganz andere Eigenschaften als dieBuchstaben, aus denen sie besteht. Ähnlich hat jedes deskriptive Argument in Standardform ganz andereEigenschaften als die Aussagesätze, aus denen es besteht. Insbesondere sind die Sätze, aus denen eindeskriptives Argument in Standardform besteht, wahr oder falsch, während kein deskriptives Argument inStandardform wahr oder falsch ist.98 Übrigens eine höchstwahrscheinlich falsche Behauptung. Dass jeder Mensch, der an progressiverParalyse leidet, (eine unbehandelte oder ungenügend behandelte) Syphilis (im vierten und gleichzeitigletzten Stadium) hat, ist durch die Forschung nicht widerlegt, sondern bestätigt worden.99 Manche Leute füllen den sowieso schon verwirrenden Schatz an Mehrdeutigkeit des Wortes ›Argument‹noch dadurch an, dass sie sich mit diesem Wort hie und da auch auf die Konklusion eines Argumentes imlogischen Sinn des Wortes beziehen. Das kommt zum Glück selten vor.

2014 ARGUMENTE UND ARGUMENTSHIERARCHIEN 143

tionen‹; und sie nennen das, was die Logiker als ›Konklusionen‹ bezeichnen, ›Thesen‹.Umgekehrt: Leute, welche die Wörter ›Argumentation‹ und ›These‹ verwenden, meinenmit dem Wort ›Argument‹ meist keine Aneinanderreihungen von Sätzen, deren letzterdurch ein ›Daher:‹ eingeleitet wird, sondern sie meinen mit ›Argument‹ jene Sätze, die ineiner solchen Satzreihe vor dem ›Daher:‹ stehen. M.a.W.: In der üblichen außerlogischenTerminologie gehören die Wörter ›Argumentation‹, ›Argument‹ und ›These‹ inhaltlichzusammen: eine Argumentation besteht aus Argumenten und der These.

Faustregel 3: Leute, die das Wort ›Argument‹ im logischen Sinn des Wortes ge-brauchen, vermeiden es gewöhnlich, das Wort ›wahr‹ oder ›falsch‹ auf Argumente anzu-wenden, da ja Argumente im logischen Sinn des Wortes keine Aussagesätze, sondernAneinanderreihungen von Aussagesätzen sind; Argumente im logischen Sinn des Wortessind nicht wahr oder falsch, sondern gültig oder ungültig, schwach oder stark, undanderes mehr. Wenn also jemand z.B. schreibt oder sagt, dieses Argument sei gültig,jenes sei schwach, dann können Sie mit ein wenig Optimismus vermuten, er oder sieverstehe das Wort ›Argument‹ im logischen Sinn des Wortes. Wenn sie oder er jedochkundgibt, dieses Argument sei wahr, jenes falsch, dann liegt die Vermutung nahe, dasWort ›Argument‹ werde hier im üblichen außerlogischen Sinn zur Bezeichnung einesAussagesatzes verwendet, der im Zuge einer Argumentation zur Begründung einer Theseeingesetzt wird.

Wenden wir die beiden Terminologien auf einen uns schon bekannten Text an:

Linz hatte 2001 mehr als 100.000 Einwohner. Graz hatte 2001 mehr als 100.000Einwohner. Salzburg hatte 2001 mehr als 100.000 Einwohner. Daher: Jede öster-reichische Landeshauptstadt hatte 2001 mehr als 100.000 Einwohner.

In der logischen Terminologie würde man sagen: Dieser Text ist ein (deskriptives) Argu-ment (in Standardform), das aus drei Prämissen und einer Konklusion besteht. Alle dreiPrämissen sind wahr, die Konklusion ist allerdings falsch. Das Argument ist logischungültig. In der außerlogischen Terminologie würde man hingegen sagen: Dieser Text isteine Argumentation, die aus drei Argumenten und einer These besteht. Alle drei Argu-mente sind wahr, die These ist allerdings falsch. Die Argumentation ist logisch ungültig.

Wenn wir der in 2.3.3 empfohlenen sorgfältigen Ausformulierung von generellenNamen folgen, dann erkennen wir zusätzlich: Das Wort ›Argument‹ ist im logischenSprachgebrauch ein einstelliger, im üblichen außerlogischen Sprachgebrauch ein zwei-stelliger genereller Name. Gemäß logischem Sprachgebrauch handelt es sich bei ›Argu-ment‹ um einen einstelligen generellen Namen, den man wie folgt ausformulieren kann:›(die Satzreihe) x ist ein Argument‹. Einige Satzreihen wie etwa der obige Beispielstextsind Argumente, andere nicht. So ist etwa dieser Absatz, den Sie gerade lesen, zwar eineSatzreihe, aber kein Argument im logischen Sinn des Wortes. Gemäß üblichem außer-logischen Sprachgebrauch handelt es sich bei ›Argument‹ hingegen nicht um einen ein-,sondern um einen zweistelligen generellen Namen: ›(der Aussagesatz) x ist ein Argumentin (der Argumentation y)‹. Der Teil ›in der Argumentation y‹ wird zwar aus schreib-ökonomischen Gründen gewöhnlich weggelassen, weil ja (hoffentlich) meist klar ist, vonwelcher Argumentation gerade die Rede ist, aber er ist mitzudenken.

Es besteht also die folgende Entsprechung, die man sich einprägen sollte:

Logischer Sprachgebrauch Üblicher außerlogischer SprachgebrauchArgument ArgumentationPrämissen des Argumentes Argumente der ArgumentationKonklusion des Argumentes These der Argumentation

144 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

6.1.2.4 Argumente für und gegen

Zum Abschluss sei wegen seiner Wichtigkeit noch ein weiterer Sprachgebrauch erwähnt,gemäß dem das Wort ›Argument‹ ebenfalls ein zweistelliger Name ist, der nun aber nichteine Beziehung zwischen Aussagesätzen und Argumentationen, sondern zwischen Aus-sagesätzen untereinander ausdrückt. Halten wir auch diesen sehr häufgen Sprachge-brauch fest:

›Ein Aussagesatz B ist ein Argument für einen Aussagesatz C‹ bedeutet soviel wie›B spricht für C‹ oder ›B macht C irgendwie plausibler‹.

›Ein Aussagesatz B ist ein Argument gegen einen Aussagesatz C‹ bedeutet sovielwie ›B spricht gegen C‹ oder ›B macht C irgendwie weniger plausibel‹.

Etwa ist der Aussagesatz ›Bert Baldur lebt in Bern.‹ ein Argument für den Aussagesatz›Bert Baldur ist Schweizer.‹ und gegen den Aussagesatz ›Bert Baldur ist Belgier.‹. Undbeispielsweise ist der Aussagesatz ›Max Moll ist Musiker.‹ ein Argument für den Aus-sagesatz ›Max Moll ist Mitglied eines Orchesters oder einer Band.‹ und gegen den Aus-sagesatz ›Max Moll ist Maurer‹.

Es gilt für alle Aussagesätze B und C:

Wenn B gegen C spricht, genau dann spricht B für die Negation von C.

Es gilt hingegen NICHT für alle Aussagesätze B und C sowie für alle deskripitven Argu-mente in Standardform A:

Wenn B eine Prämisse von A ist und wenn C die Konklusion von A ist, dann ist Bein Argument für C.100

Wie schon hervorgehoben worden ist, kann es ja durchaus vorkommen, dass ein Argu-ment Prämissen enthält, die seine Konklusion nicht stützen, obschon der Vorbringer einesArguments natürlich üblicherweise wünscht, dass jede Prämisse seines Argumentes fürdie Wahrheit seiner Konklusion spricht. Beim Argumentieren pfegen aber diesbezüglicheWünsche nicht immer in Erfüllung zu gehen.

Auch sollte beachtet werden, dass C keineswegs aus B logisch zu folgen braucht,wenn B ein Argument für C ist — es ist durchaus möglich, dass C nicht aus B logischfolgt, obwohl B in der Tat ein Argument für C ist. Etwa ist es durchaus möglich, dassBert Baldur zwar in Bern lebt, aber doch kein Schweizer ist. Das heißt mit anderen Wor-ten, wie wir im nächsten Abschnitt deutlicher sehen werden: ein deskriptives Argumentin Standardform mit der Prämisse B und der Konklusion C braucht zwar nicht logischgültig zu sein, wenn B für C spricht; doch es muss (wie näher ausgeführt werden wird)stark sein, wenn B tatsächlich ein Argument für C ist.

6.2 BEURTEILUNG VON ARGUMENTEN

6.2.1 BEURTEILUNG HINSICHTLICH LOGISCHER GÜLTIGKEIT

Intuitiv gesprochen ist ein Argument genau dann logisch gültig, wenn die Wahrheit seinerPrämissen die Wahrheit seiner Konklusion garantiert; mit anderen Worten: wenn seine

100 Diese Behauptung lässt sich auch in der hauptsächlichen außerlogischen Terminologie formulieren: Esgilt NICHT für alle Aussagesätze B und C sowie für alle Argumentationen A: Wenn B ein Argument derArgumentation A ist und wenn C die These von A ist, dann ist B ein Argument für C.

2014 ARGUMENTE UND ARGUMENTSHIERARCHIEN 145

Konklusion wahr sein muss, falls alle seine Prämissen wahr sind; mit nochmals anderenWorten: wenn es unmöglich ist, dass zwar alle seine Prämissen wahr sind, aber seineKonklusion falsch ist.101

Es sei A ein beliebiges deskriptives Argument in Standardform. Wir sagen:

A ist logisch gültig genau dann, wenn die Konklusion von A aus der Konjunktionder Prämissen von A logisch folgt.A ist logisch ungültig genau dann, wenn A nicht logisch gültig ist.

Es sei A ein deskriptives Argument in Standardform mit den Prämissen B1 B2 B3 … Bnund der Konklusion C.

Es gilt offenbar:

A ist logisch gültig genau dann, wenn der Implikationssatz ›Wenn B1 und B2 undB3 und … und Bn, dann C.‹ logisch wahr ist.102

A ist logisch ungültig genau dann, wenn es möglich ist, dass der Konjunktionssatz›B1 und B2 und B3 und … und Bn‹ wahr, C jedoch falsch ist.

Beispiele:

Deskriptives Argument (1'):Linz hatte 2001 mehr als 100.000 Einwohner. Graz hatte 2001 mehr als 100.000Einwohner. Salzburg hatte 2001 mehr als 100.000 Einwohner. Daher: Jede öster-reichische Landeshauptstadt hatte 2001 mehr als 100.000 Einwohner.

Das deskriptive Argument (1') ist logisch ungültig, denn es ist möglich (und in der Tat derFall), dass seine Prämissenkonjunktion wahr, aber seine Konklusion falsch ist.

Deskriptives Argument (2'):Jede Stadt, die 2001 eine österreichische Landeshauptstadt war, hatte 2001 mehr als100.000 Einwohner. Eisenstadt war 2001 eine österreichische Landeshauptstadt.Daher: Eisenstadt hatte 2001 mehr als 100.000 Einwohner.

Das deskriptive Argument (2') ist logisch gültig, denn seine Konklusion folgt logisch ausder Konjunktion seiner Prämissen. Da (2') zwar logisch gültig, aber seine Konklusionfalsch ist, muss mindestens eine seiner Prämissen falsch sein; in der Tat ist seine erstePrämisse falsch.

Deskriptives Argument (3'):Alle äußerst erschöpften Lebewesen sind appetitlos. Hans Huber war am 21.3.2002ein äußerst erschöpftes Lebewesen. Daher: Hans Huber war am 21.3.2002 appetit-los.

Das deskriptive Argument (3') ist logisch gültig. Es ist unmöglich, dass beide Prämissendes Argumentes (3') wahr sind, aber die Konklusion des Argumentes (3') falsch ist.

101 In der alternativen Terminologie könnten wir genau so gut sagen: Intuitiv gesprochen ist eine Argu-mentation genau dann logisch gültig, wenn die Wahrheit ihrer Argumente die Wahrheit ihrer These garan-tiert; mit anderen Worten: wenn ihre These wahr sein muss, falls alle ihre Argumente wahr sind; mit noch-mals anderen Worten: wenn es unmöglich ist, dass zwar alle ihre Argumente wahr sind, aber ihre Thesefalsch ist.102 Ein Implikationssatz ist ein solcher Wenn-dann-Satz (nicht-irrealer Konditionalsatz), der genau dannfalsch ist, wenn sein Wenn-Teil wahr und sein Dann-Teil falsch ist. Er ist also genau dann wahr, wenn seinWenn-Teil falsch oder sein Dann-Teil wahr ist. Z.B. ist ›Wenn Graz in der Steiermark liegt, dann liegtTriest in Slowenien.‹, aufgefasst als Implikationssatz, falsch, während ›Wenn Graz in Kärnten liegt, dannliegt Triest in Slowenien.‹, aufgefasst als Implikationssatz, wahr ist.‹.

146 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Deskriptives Argument (4'):Fritz hat 50 mal Lotto gespielt und kein einziges Mal sechs Richtige gehabt. Daher:Fritz wird beim 51. Mal auch keine sechs Richtige haben.

Das deskriptive Argument (4') ist logisch ungültig. Es ist möglich, dass die Prämisse von(4') wahr, aber die Konklusion von (4') falsch ist.

Dieselben Bewertungen gelten auch für die deskriptiven Argumente (1) bis (4) auf Seite139, vorausgesetzt die Namen in diesen Argumenten bezeichnen jeweils dieselben Dingewie in den gestaltgleichen Argumenten (1') bis (4') auf dieser und der vorigen Seite.

Terminologischer Hinweis: Statt des Ausdrucks ›logisch gültig‹ verwendet man oft auchden Ausdruck ›logisch korrekt‹, manchmal auch die Ausdrücke ›deduktiv gültig‹ und›deduktiv‹. Statt des Ausdrucks ›logisch ungültig‹ gebraucht man oft auch den Ausdruck›logisch unkorrekt‹, manchmal auch die Ausdrücke ›deduktiv ungültig‹ und ›nicht deduk-tiv‹. — Ein logisch gültiges Argument, dessen Prämissen allesamt wahr sind, wird imEnglischen ›sound‹ genannt, im Deutschen bisweilen ›(semantisch) perfekt‹ oder ›stich-haltig‹.103 Das deskriptive Argument (2') etwa ist ein Argument, das zwar logisch gültig,aber nicht stichhaltig ist. Würde man in (2') statt ›100.000‹ z.B. ›20.000‹ schreiben,entstünde ein semantisch perfektes Argument.104

Psychologischer Hinweis: Die Identifzierung eines Argumentes als logisch gültig oderals logisch ungültig ist normalerweise nicht einfach und erfordert gewöhnlich den Einsatzvon logischen Techniken. Der logische Laie neigt insbesondere zu den folgenden beidenFehlern:(a) Er neigt dazu, deskriptive Argumente mit offensichtlich wahren Konklusionen fürlogisch gültig zu halten.(b) Er neigt dazu, deskriptive Argumente mit offensichtlich falschen Konklusionen fürlogisch ungültig zu halten.Deshalb sei betont: Erstens: Dass ein deskriptives Argument eine offensichtlich wahre Konklusion hat, reichtallein nicht dafür aus, dass es logisch gültig ist. Das folgende deskriptive Argument hatzwar eine offensichtlich wahre Konklusion, ist aber logisch ungültig:

Deskriptives Argument (5):Wenn Toni Sailer ein Tiroler ist, dann ist Toni Sailer ein Österreicher. Toni Sailer istein Österreicher. Daher: Toni Sailer ist ein Tiroler.

Man kann sich die logische Ungültigkeit von (5) plausibel machen, indem man ein de-skriptives Argument konstruiert, das dieselbe Form wie (5) hat, aber bei ebenfalls wahrenPrämissen nun eine offensichtlich falsche Konklusion hat und somit logisch ungültig ist.Ein solches logisch ungültiges deskriptives Argument mit derselben Form wie (5) könntezum Beispiel sein:

Deskriptives Argument (6):Wenn Toni Sailer ein Sachse ist, dann ist Toni Sailer ein Europäer.105 Toni Sailer istein Europäer. Daher: Toni Sailer ist ein Sachse.

103 Es gibt auch folgenden alternativen Sprachgebrauch, gemäß dem die logisch gültigen Argumente ›lo-gisch korrekt‹ und die semantisch perfekten Argumente ›logisch gültig‹ genannt werden. 104 Ein Argument kann semantisch perfekt sein, ohne pragmatisch perfekt zu sein, das heißt, ohne einehohe Überzeugungskraft zu haben. Umgekehrt gibt es natürlich eine Unmenge von pragmatisch perfektenArgumenten, die nicht semantisch perfekt sind.105 Dieser Satz, aufgefasst als Implikationssatz, ist wahr. Zur Erinnerung: Ein Implikationssatz ist schondann wahr, wenn sein Wenn-Teil falsch ist (vgl. Fußnote 102 auf Seite 145).

2014 ARGUMENTE UND ARGUMENTSHIERARCHIEN 147

Man sollte deshalb im Kopf behalten: Dass ein deskriptives Argument eine wahre Kon-klusion hat, genügt nicht dafür, dass es logisch gültig ist. Hinzukommen muss, dass dieWahrheit der Konklusion durch die der Prämissen garantiert ist (m.a.W. dass die Prämis-senkonjunktion die Konklusion logisch impliziert).

Zweitens: Dass ein deskriptives Argument eine falsche Konklusion hat, reicht allein nichtdafür aus, dass es logisch ungültig ist. Das folgende deskriptive Argument hat zwar einefalsche Konklusion, ist aber logisch gültig:

Deskriptives Argument (7):Wenn Bill Clinton ein Tiroler ist, dann ist Bill Clinton ein Österreicher. Bill Clintonist ein Tiroler. Daher: Bill Clinton ist ein Österreicher.

Hinzukommen muss, dass alle seine Prämissen wahr sind. Aber das ist hier nicht der Fall:die zweite Prämisse von (7) ist falsch (und somit ist (7) nicht semantisch perfekt). Beieinem logisch gültigen deskriptiven Argument ist nur garantiert, dass seine Konklusionwahr sein muss, wenn alle seine Prämissen wahr sind. Wenn nicht alle seine Prämissenwahr sind, kann die Konklusion falsch sein, obschon das Argument logisch gültig ist.Was ist, wenn wir herausfnden, dass — wie etwa im Fall der deskriptiven Argumente (2)und (7) — ein deskriptives Argument logisch gültig ist, aber eine falsche Konklusionhat? Dann wissen wir, dass mindestens eine seiner Prämissen falsch sein muss; es giltallgemein für jedes deskriptive Argument A:

Wenn A logisch gültig ist und wenn die Konklusion von A falsch ist, dann ist min-destens eine Prämisse von A falsch.

Dieser Satz ist von großer praktischer Wichtigkeit für rationales Argumentieren im Alltagund in der Wissenschaft: wenn zwei Diskussionspartner sich dessen versichert haben,dass das in Frage stehende deskriptive Argument logisch gültig ist, aber eine falscheKonklusion hat, dann können sie sofort ihre Aufmerksamkeit darauf richten heraus-zufnden, welche der Prämissen falsch sind, denn sie wissen nun, dass mindestens eineder Prämissen falsch sein muss.

6.2.2 BEURTEILUNG HINSICHTLICH STÄRKE

Ob ein deskriptives Argument logisch gültig oder ungültig ist, lässt sich normalerweisemittels logischer Techniken einigermaßen objektiv entscheiden; ob es schwach oder starkist, (bisher) nicht. Dies rührt daher, dass wir bei der Einschätzung der Stärke einesdeskriptiven Argumentes zumindest drei subjektive Faktoren einfießen lassen: erstensunseren Grad des Glaubens an die Wahrheit der Prämissen; zweitens unseren Grad desGlaubens daran, dass die Konklusion wahr ist unter der Annahme, dass alle Prämissenwahr sind; drittens unseren Grad des Glaubens, dass die Konklusion wahr ist unter derAnnahme, dass nicht alle Prämissen wahr sind. Wir können deshalb nicht einen Defni-tionsvorschlag dafür machen, wann ein deskriptives Argument stark ist, sondern nurdafür, wann es aus der Sicht einer Person oder einer Personengruppe stark ist. Bevor wirzu den Defnitionen kommen, drei einfache Beispiele für den Einfuss der genanntensubjektiven Faktoren.

Beispiel 1: Wir halten das folgende deskriptive Argument (8) zurecht für schwach, ob-wohl es logisch gültig ist:

Deskriptives Argument (8):Alle Österreicher sind großartige Schifahrer. Stephan Eberharter ist Österreicher.Daher: Stephan Eberharter ist ein großartiger Schifahrer.

148 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Wieso halten wir (8) für schwach? Ganz offensichtlich wegen des ersten subjektivenFaktors: das ist unser Grad des Glaubens an die Wahrheit der Prämissen. Der ist nämlichpraktisch 0. Mit anderen Worten, wir sind praktisch sicher, dass die Konjunktion der Prä-missen falsch ist, weil wir praktisch sicher sind, dass der erste Teilsatz dieser Konjunk-tion, nämlich die Prämisse ›Alle Österreicher sind großartige Schifahrer.‹, falsch ist, undsomit der ganze Konjunktionssatz falsch ist, da ja ein Konjunktionssatz genau dannfalsch ist, wenn mindestens einer seiner Teilsätze falsch ist. Aus wissenschaftstheoreti-scher Sicht kann gleich hinzugefügt werden: wir würden deshalb auch niemals dasdeskriptive Argument (8) als eine Erklärung der Tatsache gelten lassen, dass StephanEberharter ein großartiger Schifahrer ist. Da erwarten wir uns mehr als ein logisch gülti-ges deskriptives Argument, da erwarten wir uns auch, dass wir die Prämissen eines Argu-mentes, das den Namen ›Erklärung‹ verdient, für höchstwahrscheinlich wahr haltenkönnen.

Beispiel 2: Wir halten das folgende deskriptive Argument (9) zurecht für schwach, ob-wohl wir — im Gegensatz zu Argument (8) — glauben, dass seine Prämissen allesamtwahr sind:

Deskriptives Argument (9):Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand an progressiver Paralyse erkrankt, gegebenden Fall, dass er eine unbehandelte Syphilis hat, liegt unter 0,2. Friedrich Nietzschehatte eine unbehandelte Syphilis. Daher: Friedrich Nietzsche erkrankte an progres-siver Paralyse.

Wieso halten wir (9) für schwach? Offenbar wegen des zweiten subjektiven Faktors: dasist unser Grad des Glaubens daran, dass die Konklusion wahr ist unter der Annahme, dassalle Prämissen wahr sind. Wir verlangen von einem deskriptiven Argument, das ›stark‹genannt zu werden verdient, dass uns seine Konklusion im Lichte seiner Prämissen alshochwahrscheinlich vorkommt. Aber der Grad unseres Glaubens an die Wahrheit derKonklusion von (9) ist sehr gering, wenn wir diese Konklusion im Lichte der beidenPrämissen von (9) betrachten. Nehmen wir versuchsweise an, dass die beiden Prämissenvon (9) wahr sind, und tun wir auch so, als wüssten wir nichts sonst über Nietzsche,Syphilis und progressive Paralyse. In welchem Ausmaß glauben wir dann vernünftiger-weise an die Wahrheit der Konklusion? Nun, im Lichte der beiden Prämissen ist esoffenbar unwahrscheinlich, dass Nietzsche an progressiver Paralyse erkrankte, selbstwenn er an unbehandelter Syphilis litt. Die erste Prämisse besagt ja, dass weniger als20% aller unbehandelten Syphilitiker an progressiver Paralyse erkranken. Wenn also, wiewir in unserem Gedankenexperiment annehmen, Nietzsche tatsächlich eine unbehandelteSyphilis hatte, dann wäre es immer noch angesichts der ersten Prämisse erstaunlich, dasser an progressiver Paralyse erkrankte. Wir würden im Lichte der beiden Prämissen vieleher erwarten, dass Nietzsche nicht an progressiver Paralyse erkrankte, da ja ein unbe-handelter Syphilitiker eine zumindest 80prozentige Chance hat, nicht an progressiverParalyse zu erkranken. Unser Glaube daran, dass die Konklusion von (9) wahr ist unterder Annahme, dass die beiden Prämissen wahr sind, ist deshalb sehr gering und daher (9)aus unserer Sicht nicht stark, sondern schwach. Vom wissenschaftstheoretischen Stand-punkt aus kann gleich hinzugefügt werden: wir würden deshalb auch zögern, das de-skriptive Argument (9) als eine Erklärung dafür gelten zu lassen, dass Nietzsche an pro-gressiver Paralyse erkrankte. Da erwarten wir uns eigentlich mehr als höchstwahr-scheinlich wahre Prämissen, da erwarten wir uns auch, dass es hochwahrscheinlich istoder doch zumindest wahrscheinlich ist, dass die Konklusion unter der Annahme, dass

2014 ARGUMENTE UND ARGUMENTSHIERARCHIEN 149

alle Prämissen wahr sind, selber wahr ist. Allgemeiner: wenn B die Prämissenkonjunk-tion eines deskriptiven Argumentes A mit der Konklusion C ist und p unsere Verteilungvon Glaubensgraden auf B und C usw. ist, dann ist aus unserer Sicht A nur dann stark,wenn p(C, B) allermindestens größer 0,5 ist. Da im Falle des deskriptiven Argumentes(9) p(C, B) kleiner 0,5 ist, ist (9) aus unserer Sicht schwach, obwohl für sich betrachtetp(B) weit größer als 0,5 und auch p(C) weit größer als 0,5 sein mögen.

Beispiel 3: Wir halten das folgende deskriptive Argument (10) für schwach, obwohl wires für hochwahrscheinlich halten, dass seine Konklusion wahr ist unter der Annahme,dass seine Prämisse wahr ist:

Deskriptives Argument (10):Fritz hat 50 mal [österreichisches] Lotto gespielt und kein einziges Mal sechs Rich-tige gehabt. Daher: Fritz wird beim 51. Mal auch keine sechs Richtige haben.

Wieso halten wir (10) für schwach? Offenbar wegen des dritten subjektiven Faktors: dasist unser Grad des Glaubens daran, dass die Konklusion wahr ist unter der Annahme, dassdie Prämisse falsch ist. Überlegen wir zuerst, in welchem Ausmaß wir vernünftigerweiseglauben sollten, dass die Konklusion von (10) wahr ist unter der Annahme, dass diePrämisse wahr ist. Unser Glaubensgrad p(C, B) ist sehr hoch, circa 1 minus 8 Millionstel(wenn er sich rationalerweise an der objektiven Chance orientiert, im österreichischenLotto einen Sechser zu kreuzeln). Überlegen wir dann (und hier kommt jetzt der drittesubjektive Faktor ins Spiel), in welchem Ausmaß wir vernünftigerweise glauben sollten,dass die Konklusion von (10) wahr ist unter der Annahme, dass die Prämisse falsch ist.Das Ergebnis ist dasselbe: circa 1 minus 8 Millionstel. Denn ob Fritz beim 51. Mal(keine) sechs Richtige haben wird, ist völlig unabhängig davon, dass er bisher 50 malLotto gespielt und kein einziges Mal sechs Richtige gehabt hat. In (10) spricht die Prä-misse nicht stärker für die Wahrheit der Konklusion als ihre Negation, sie ist, wie manauch sagt, für die Wahrheit der Konklusion irrelevant, und ein deskriptives Argument,dessen Prämissen für die Wahrheit der Konklusion irrelevant sind, sehen wir als schwachan. Allgemeiner: wenn B die Konjunktion der Prämissen eines deskriptiven Argumentes Amit der Konklusion C ist und p unsere Verteilung von Glaubensgraden auf B und C usw.ist, dann ist aus unserer Sicht A nur dann stark, wenn p(C, B) größer als p(C, nicht-B) ist,selbst wenn — wie beim deskriptiven Argument (10) — p(C, B), p(C) und p(B) äußersthoch sind. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht kann gleich hinzugefügt werden: wirwürden uns weigern, nach der Lotto-Ziehung das Argument (10) als eine Erklärung dafürgelten zu lassen, dass Fritz auch beim 51. Mal keine sechs Richtige gehabt hat. Daerwarten wir uns nämlich mehr als höchstwahrscheinlich wahre Prämissen und mehr alseine hohe Wahrscheinlichkeit der Konklusion im Lichte der Prämissen, da erwarten wiruns auch, dass die Prämissenkonjunktion aus unserer Sicht die Konklusion wahrscheinli-cher macht, als es die Negation der Prämissenkonjunktion tut. Diese Erwartung ist zumBeispiel beim folgenden deskriptiven Argument (11) erfüllt:

Deskriptives Argument (11):Fritz hielt sich zur Tatzeit am Tatort auf. Er hasste das Mordopfer Franz. Daher:Fritz war der Mörder von Franz.

Unser Grad des Glaubens daran, dass Fritz der Mörder von Franz war, unter der An-nahme, dass Fritz sich zur Tatzeit am Tatort aufhielt und er das Mordopfer Franz hasste,ist vernünftigerweise größer als der Grad unseres Glaubens daran, dass Fritz der Mördervon Franz war, unter der Annahme, dass es nicht der Fall ist, dass Fritz sich zur Tatzeitam Tatort aufhielt und er das Mordopfer Franz hasste.

150 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Die Gesamtheit unserer Grade des Glaubens an die Wahrheit der uns bekannten Sätze,kurz: unsere Glaubensgradverteilung, sollte in sich stimmig oder kohärent sein. DieseForderung läuft darauf hinaus, dass wir bei der Verteilung von Glaubensgraden dieRegeln des Wahrscheinlichkeitskalküls beachten sollten. Gemäß diesen Regeln solltenwir etwa jedem logisch wahren Satz den höchsten Glaubensgrad 1 und jedem logischfalschen Satz den niedrigsten Glaubensgrad 0 zuordnen. Eine weitere (nicht unbedingtnötige, aber sehr plausible) Forderung ist, keinen anderen als den logisch falschen bzw.den logisch wahren Sätzen die 0 bzw. die 1 zuzuordnen. Eine Glaubensgradverteilung,die den Regeln des Wahrscheinlichkeitskalküls gehorcht und in der zusätzlich keinenSätzen außer den logisch falschen bzw. den logisch wahren die 0 oder die 1 zugeordnetist, heißt ›eine reguläre subjektive Wahrscheinlichkeitsverteilung‹. Von einer Person, dieein Argument auf Stärke beurteilt, verlangen wir, dass ihre einschlägige Glaubensgrad-verteilung den Ansprüchen an eine reguläre Wahrscheinlichkeitsverteilung gerecht wird,also eine subjektive Wahrscheinlichkeitsverteilung ist Dies ist unsere Rationalitätsfor-derung.

Nun zu den Defnitionen.

Es sei A ein deskriptives Argument mit den Prämissen B1 B2 B3 … Bn und der Konklu-sion C und es sei B identisch mit der Prämissenkonjunktion von A. Es sei x eine beliebigePerson und es sei px eine subjektive Wahrscheinlichkeitsverteilung von x, wobei px unteranderem jeder Prämisse von A sowie der Konklusion von A eine subjektive Wahrschein-lichkeit (also eine Zahl zwischen 0 und 1) zuordnet.

Wir sagen:

A ist stark bei px genau dann, wenn px(B) 0,5 und px(C, B) 0,5 und px(C, B) px(C, nicht-B).106

A ist schwach bei px genau dann, wenn px(B) ≤ 0,5 oder px(C, B) ≤ 0,5 oder px(C, B)≤ px(C, nicht-B).

Wir sind nun auch in der Lage, die zweistelligen generellen Namen ›Aussagesatz B istein Argument für den Aussagesatz C‹ sowie ›Aussagesatz B ist ein Argument gegen denAussagesatz C‹ wie folgt als vierstellige generelle Namen zu explizieren:

Aussagesatz B ist bei px ein Argument für den Aussagesatz C gdw das ent-sprechende deskriptive Argument, dessen Prämisse B und dessen Konklusion C ist,ein starkes Argument bei px ist.Aussagesatz B ist bei px ein Argument gegen den Aussagesatz C gdw das ent-sprechende Argument, dessen Prämisse B und dessen Konklusion die Negation vonC ist, ein starkes Argument bei px ist.

Diese Explikation erlaubt uns, einen Aussagesatz der Form ›Aussagesatz B ist ein Argu-ment für den Aussagesatz C‹ auf Wahrheit zu prüfen, indem wir den entsprechendenAussagesatz der Form

Das Argument B Daher: C ist gemäß der Glaubensgradverteilung p des Argu-mentbewerters x ein starkes Argument.

auf Wahrheit prüfen, also prüfen, ob B Daher: C bei px stark ist.

106 ›A ist stark bei px‹ steht kurz für: ›das deskriptive Argument A ist stark bei der subjektiven Wahrschein-lichkeitsverteilung p der Person x‹.

2014 ARGUMENTE UND ARGUMENTSHIERARCHIEN 151

Und sie erlaubt uns, einen Aussagesatz der Form ›Aussagesatz B ist ein Argument gegenden Aussagesatz C‹ auf Wahrheit zu prüfen, indem wir den entsprechenden Aussagesatzder Form

Das Argument B Daher: nicht-C ist gemäß der Glaubensgradverteilung p desArgumentbewerters x ein starkes Argument.

auf Wahrheit prüfen, also prüfen, ob B Daher: nicht-C bei px stark ist.

Ein einfaches Beispiel: Der folgende Satz

›Der CO2-Ausstoß wird weltweit bis 2040 zunehmen.‹ ist gemäß der Glaubens-gradverteilung von Max Moll ein Argument für ›Es wird in der zweiten Hälfte des21. Jahrhunderts eine weltweite Klimakatastrophe geben.‹.

bedeutet (gemäß obiger Analyse) soviel wie dieser Satz:

Das Argument ›Der CO2-Ausstoß wird weltweit bis 2040 zunehmen. Daher: Eswird in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts eine weltweite Klimakatastrophegeben.‹ ist gemäß der Glaubensgradverteilung von Max Moll stark.

Und obiger Satz wiederum bedeutet gemäß der von uns erarbeiteten Defnition

A ist stark bei px genau dann, wenn px(B) 0,5 und px(C, B) 0,5 und px(C, B) px(C, nicht-B).

soviel wie der folgende Satz:

Der Grad des Glaubens von Max Moll, dass der CO2-Ausstoß weltweit bis 2040zunehmen wird, ist größer als 0,5; und der Grad des Glaubens von Max Moll, dasses in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts eine weltweite Klimakatastrophegeben wird, gegeben den Fall, dass der CO2-Ausstoß weltweit bis 2040 zunehmenwird, ist größer als 0,5; und der Grad des Glaubens von Max Moll, dass es in derzweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts — gegeben den Fall, dass der CO2-Ausstoßweltweit bis 2040 zunehmen wird — eine weltweite Klimakatastrophe geben wird,ist größer als der Grad des Glaubens von Max Moll, dass es in der zweiten Hälftedes 21. Jahrhunderts — gegeben den Fall, dass der CO2-Ausstoß nicht weltweit bis2040 zunehmen wird — eine weltweite Klimakatastrophe geben wird.

6.3 ARGUMENTSHIERARCHIEN

6.3.1 MEHRSTUFIGE BEGRÜNDUNGSPROZESSE

Wenn wir eine zentrale Behauptung im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit zu be-gründen versuchen, dann begnügen wir uns gewöhnlich nicht damit, dass wir diese Be-hauptung als Konklusion A eines aus unserer Sicht starken deskriptiven Argumentes inStandardform A niederschreiben, das drei, vier oder vielleicht sogar zehn Prämissen hat.Die Prämissenkonjunktion von A erscheint uns zwar als wahr (täte sie es nicht, würdenwir A ja nicht als stark betrachten), aber wird sie auch unseren Lesern als wahr erschei–nen? Wir sehen uns also die Prämissen von A der Reihe nach durch (sagen wir, es hat die5 Prämissen B1 bis B5) und kommen zu dem Ergebnis, das B2 und B5 jedem halbwegsvernünftigen Menschen als wahr einleuchten müssten. Bleiben somit noch drei Prämis-sen, von denen man nicht ohne weiteres voraussetzen darf, dass sie für wahr erachtetwerden. Diese drei Prämissen bedürfen selbst wieder der Begründung.

152 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Das heißt aber, dass wir an das schon vorhandene deskriptive Argument in Stan-dardform A auf einer zweiten Ebene oder Stufe drei uns als stark erscheinende deskripti-ve Argumente in Standardform BI, BII und BIII anknüpfen müssen, von denen das ersteB1 als Konklusion, das zweite B3 als Konklusion und das dritte B4 als Konklusion hat.Der Aussagesatz B1 ist also sowohl eine Prämisse von A als auch die Konklusion von BI;der Aussagesatz B3 ist sowohl eine Prämisse von A als auch die Konklusion von BII; derAussagesatz B4 ist sowohl eine Prämisse von A als auch die Konklusion von BIII.Schauen wir uns nun auch diese drei deskriptiven Argumente der zweiten Ebene darauf-hin an, ob ihre jeweiligen Prämissen als wahr einleuchten! BI habe die Prämissen C1, C2und C3. Es komme uns vor, dass C1 und C3 jedem Leser als wahr einleuchten müsstenund daher keiner weiteren Begründung mehr bedürfen, C2 hingegen so manchem durch-aus problematisch erscheinen mag. BII habe die Prämissen C4 und C5, beide erscheinenuns als nicht begründungsbedürftig. BIII schließlich habe die Prämissen C6 bis C11,wovon die Prämisse C9 als zweifelhaft erscheinen mag. Also sind wir mit der Begrün-dungsarbeit leider noch nicht fertig.

Zwei weitere, uns als stark erscheinende deskriptive Argumente in Standardform CIund CII sind zu zimmern, das Argument CI habe als Konklusion den Aussagesatz C2,das Argument CII habe als Konklusion den Aussagesatz C9. Wieder sind auch diesebeiden deskriptiven Argumente der dritten Ebene daraufhin zu überprüfen, ob ihre Prä-missen begründungsbedürftig sind. CI habe als Prämissen die Aussagesätze D1 bis D4,CII habe als Prämissen die Aussagesätze D5 bis D7. Angenommen, die Prämissen D3,D6 und D7 erscheinen uns als begründungsbedürftig. Dann geht die Arbeit weiter.

Drei uns stark erscheinende deskriptive Argumente in Standardform DI , DII undDIII sind auf der vierten Ebene oder Stufe unserer mehrstufgen Begründung zu bilden, DImit D3, DII mit D6, und DIII mit D7 als Konklusion. DI habe E1 bis E4 als Prämissen,DII E5 und E6, DIII E7 bis E9. Und wieder sind die Prämissen dieser drei deskriptivenArgumente in Standardform danach zu beurteilen, ob sie nicht nur uns, sondern auchunseren Lesern als wahr einleuchten. Wenn wir glauben, dass alle Prämissen E1 bis E9auch unseren Lesern als wahr erscheinen müssten und dass auch unsere Leser diedeskriptiven Argumente DI, DII und DIII für stark erachten müssten, dann dürfen wir denBegründungsprozess abbrechen, wir sind mit der Arbeit fertig; wenn wir hingegen anneh-men müssen, dass zumindest eine der auf der vierten Ebene verwendeten neun Prämissenfür eher unwahrscheinlich als wahrscheinlich gehalten wird, dann geht die Begründungs-arbeit auf der fünften Ebene weiter.

Das Ergebnis eines mehrstufgen Begründungsprozesses wie des gerade skizziertensei ›eine Argumentshierarchie‹ genannt. Besteht die Argumentshierarchie, wie im obigenBeispiel unterstellt, ausschließlich aus deskriptiven Argumenten in Standardform, genaudann sei sie ›eine deskriptive Argumentshierarchie in Standardform‹ genannt. Besteht sieausschließlich aus präskriptiven Argumenten in Standardform, genau dann sei sie ›einepräskriptive Argumentshierarchie in Standardform‹ genannt. Wir bleiben hier bei dendeskriptiven Argumentshierarchien in Standardform und gehen auf ihre präskriptivenEntsprechungen nicht näher ein (vgl. auch die Bemerkungen in 6.1.2.2 auf Seite 141).

Um sich den Platz eines Argumentes innerhalb einer Argumentshierarchie undderen Aufbau zu veranschaulichen, ist es nützlich, Argumentshierarchien graphischdarzustellen. Der Aufbau unseres oben skizzierten schematischen Beispiels für einedeskriptive Argumentshierarchie in Standardform wird aus dem Diagramm auf dernächsten Seite auf einen Blick klar:

2014 6 ARGUMENTE UND ARGUMENTSHIERARCHIEN 153

4.7.1 EIN BEISPIEL FÜR EINE ARGUMENTSHIERARCHIE AUS DEM ALLTAG

Das erste Beispiel ist aus Medienberichten im September 2004 zusammengestellt:

Bush wird die Wahl gewinnen. Denn sollte es tatsächlich noch zu einem Terroranschlag

mittlerer Größe in den USA kommen, würde das seine Chancen keineswegs beeinträch-

tigen: die Entrüstung über den Anschlag ginge mit der Empörung über die demokratischen

Warner vor der Beschneidung der Grundrechte einher; nichts verbindet ja mehr als die

gemeinsame Jagd auf vermeintliche Nestbeschmutzer und Verräter. Am wichtigsten aber

ist Bushs gnadenloser Einsatz seines Propaganda-Etats, der den Kerrys weit übertrifft. Die

Verleumdungskampagnen gegen Kerry konnten deshalb großzügig fnanziert werden und

haben vorzüglich gewirkt. Weiters hat Ralph Nader seine Kandidatur erklärt, und es sieht

derzeit so aus, als könne er diesmal Kerry mehr Stimmen abnehmen, als er dazumal Gore

abgenommen hat, da er ja den Irak-Krieg klar ablehnt, was Kerry nicht tut. Schließlich

steht das republikanische Lager spätestens seit dem New Yorker Parteitag geschlossen hin-

ter Bush, nicht zuletzt wegen der dortigen öffentlichen Unterstützung durch den kaliforni-

schen Gouverneur und der mitreißenden Brandrede des demokratischen [!] Senators Zell

Miller aus Georgia. Das demokratische Lager spaltet sich hingegen in Kriegsbefürworter

und -gegner auf. Es hilft nichts: Bush wird die Wahl gewinnen.

Hier eine mögliche Ausformulierung zu einer Argumentshierarchie:

Erste Ebene: Argument A:Sollte es zu einem Terroranschlag mittlerer Größe in den USA kommen, würde diesBushs Chancen nicht beeinträchtigen. Die Verleumdungskampagnen gegen Kerry habenvorzüglich gewirkt. Es sieht derzeit so aus, als könne diesmal Ralph Nader Kerry mehrStimmen abnehmen, als er dazumal Gore abgenommen hat. Das republikanische Lagersteht spätestens seit dem New Yorker Parteitag geschlossen hinter Bush. Das demokrati-sche Lager spaltet sich hingegen in Kriegsbefürworter und -gegner auf. Daher: Bush wirddie Wahl gewinnen.

Zweite Ebene: Argument BI: Die Entrüstung über einen Terroranschlag mittlerer Größe in den USAginge mit der Empörung über die demokratischen Warner vor der Beschneidung derGrundrechte einher. Daher: Sollte es zu einem Terroranschlag mittlerer Größe in denUSA kommen, würde dies Bushs Chancen nicht beeinträchtigen. Argument BII: Die Verleumdungskampagnen gegen Kerry konnten großzügig fnanziertwerden. Daher: Die Verleumdungskampagnen gegen Kerry haben vorzüglich gewirkt. Argument BIII: Ralph Nader hat seine Kandidatur erklärt. Er lehnt den Irak-Krieg klarab. Kerry lehnt den Irak-Krieg nicht klar ab. Daher: Es sieht derzeit so aus, als könnediesmal Ralph Nader Kerry mehr Stimmen abnehmen, als er dazumal Gore abgenommenhat. Argument BIV: Der kalifornische Gouverneur hat auf dem New Yorker Parteitag Bushöffentlich unterstützt. Der demokratische [!] Senator Zell Miller aus Georgia hat dort einemitreißende Brandrede gehalten. Daher: Das republikanische Lager steht spätestens seitdem New Yorker Parteitag geschlossen hinter Bush.

Dritte Ebene:Argument CI: Nichts verbindet mehr als die gemeinsame Jagd auf vermeintliche Nest-beschmutzer und Verräter. Daher: Die Entrüstung über einen Terroranschlag mittlererGröße in den USA ginge mit der Empörung über die demokratischen Warner vor der Be-schneidung der Grundrechte einher.

154 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

— unsere Argumentshierarchie besteht aus neun Argumenten;

— die neun Argumente verteilen sich, horizontal betrachtet, auf 4 Ebenen oder Stufen;

— — die erste (die oberste) Ebene besteht aus dem Argument A;

— — die zweite Ebene besteht aus den drei Argumenten BI bis BIII;

— — die dritte Ebene besteht aus den zwei Argumenten CI und CII;

— — die vierte (die unterste) Ebene besteht aus den drei Argumenten DI bis DIII;

— die neun Argumente gliedern sich, vertikal betrachtet, in vier Argumentstränge;— von links nach rechts und von unten nach oben betrachtet, ergibt sich:

— — der erste Argumentstrang besteht aus der Reihe DI–CI–BI–A;

— — der zweite Argumentstrang besteht aus der Reihe BII–A;

— — der dritte Argumentstrang besteht aus der Reihe DII–CII–BIII–A;

— — der vierte Argumentstrang besteht aus der Reihe DIII–CII–BIII–A.

Es gelte vereinbarungsgemäß:

— Eine Argumentshierarchie ist logisch gültig gdw jedes Argument in der Hierarchie lo-gisch gültig ist.

— Eine Argumentshierarchie ist logisch ungültig gdw mindestens ein Argument in derHierarchie logisch ungültig ist.

— Eine Argumentshierarchie ist semantisch perfekt gdw jedes Argument in der Hierar-chie semantisch perfekt ist.

— Eine Argumentshierarchie ist stark bei px gdw jedes Argument in der Hierarchie starkbei px ist.

— Eine Argumentshierarchie ist schwach bei px gdw mindestens ein Argument in derHierarchie schwach bei px ist.

— Eine Argumentshierarchie ist sichtbar zirkelhaft gdw es mindestens einen Argument-strang in der Hierarchie gibt, in dem mindestens ein Argument vorkommt, das mindes-tens eine Prämisse enthält, die gestaltgleich mit seiner eigenen Konklusion oder mit derKonklusion mindestens eines Argumentes “darüber” im selben Strang ist. (Wäre etwaPrämisse C8 gestaltgleich mit Konklusion B4 oder wäre zum Beispiel Prämisse E1gestaltgleich mit Konklusion B1, dann wäre unsere Argumentshierarchie sichtbar zirkel-haft.)

Im Normalfall kommen mehrstufge Begründungen als sog. Schachtelargumente vor,die man, sofern sie allesamt aus deskriptiven Argumenten bestehen, erst in deskriptiveArgumentshierarchien in Standardform überführen muss, um sie kritisch würdigen zukönnen (ähnlich wie man die deskriptiven Argumente im weiteren Sinn des Wortes übli-cherweise erst auf Standardform bringen muss, um sie besser beurteilen zu können).107

Sehen wir uns zum Abschluss von 6.3 zwei solche Schachtelargumente an und versuchenwir, sie zu deskriptiven Argumentshierarchien in Standardform auszuformulieren unddann zu beurteilen.

107 Es gibt natürlich auch in der Ethik und Jurisprudenz Schachtelargumente, die zum Zweck ihrergründlichen Bewertung als präskriptive Argumentshierarchien in Standardform auszuformulieren sind(falls sich der Aufwand lohnt).

2014 6 ARGUMENTE UND ARGUMENTSHIERARCHIEN 155

6.3.2 EIN BEISPIEL FÜR EINE ARGUMENTSHIERARCHIE AUS DEM ALLTAG

Dieses Beispiel ist textnah aus Medienberichten im September 2004 zusammengestellt:

Bush wird die Wahl gewinnen. Denn sollte es tatsächlich noch zu einem Terroranschlag

mittlerer Größe in den USA kommen, würde das seine Chancen keineswegs beeinträch-

tigen: die Entrüstung über den Anschlag ginge mit der Empörung über die demokratischen

Warner vor der Beschneidung der Grundrechte einher; nichts verbindet ja mehr als die

gemeinsame Jagd auf vermeintliche Nestbeschmutzer und Verräter. Am wichtigsten aber

ist Bushs gnadenloser Einsatz seines Propaganda-Etats, der den Kerrys weit übertrifft. Die

Verleumdungskampagnen gegen Kerry konnten deshalb großzügig fnanziert werden und

haben vorzüglich gewirkt. Weiters hat Ralph Nader seine Kandidatur erklärt, und es sieht

derzeit so aus, als könne er diesmal Kerry mehr Stimmen abnehmen, als er dazumal Gore

abgenommen hat, da er ja den Irak-Krieg klar ablehnt, was Kerry nicht tut. Schließlich

steht das republikanische Lager spätestens seit dem New Yorker Parteitag geschlossen hin-

ter Bush, nicht zuletzt wegen der dortigen öffentlichen Unterstützung durch den kaliforni-

schen Gouverneur und der mitreißenden Brandrede des demokratischen [!] Senators Zell

Miller aus Georgia. Das demokratische Lager spaltet sich hingegen in Kriegsbefürworter

und -gegner auf. Es hilft nichts: Bush wird die Wahl gewinnen.

Hier eine mögliche Ausformulierung zu einer deskriptiven Argumentshierarchie in Stan-dardform:

Erste Ebene: Argument A:

Sollte es zu einem Terroranschlag mittlerer Größe in den USA kommen, würde diesBushs Chancen nicht beeinträchtigen. Die Verleumdungskampagnen gegen Kerry habenvorzüglich gewirkt. Es sieht derzeit so aus, als könne diesmal Ralph Nader Kerry mehrStimmen abnehmen, als er dazumal Gore abgenommen hat. Das republikanische Lagersteht spätestens seit dem New Yorker Parteitag geschlossen hinter Bush. Das demokrati-sche Lager spaltet sich hingegen in Kriegsbefürworter und -gegner auf. Daher: Bush wirddie Wahl gewinnen.

Zweite Ebene:

Argument BI: Die Entrüstung über einen Terroranschlag mittlerer Größe in den USAginge mit der Empörung über die demokratischen Warner vor der Beschneidung derGrundrechte einher. Daher: Sollte es zu einem Terroranschlag mittlerer Größe in denUSA kommen, würde dies Bushs Chancen nicht beeinträchtigen.

Argument BII: Die Verleumdungskampagnen gegen Kerry konnten großzügig fnanziertwerden. Daher: Die Verleumdungskampagnen gegen Kerry haben vorzüglich gewirkt.

Argument BIII: Ralph Nader hat seine Kandidatur erklärt. Er lehnt den Irak-Krieg klarab. Kerry lehnt den Irak-Krieg nicht klar ab. Daher: Es sieht derzeit so aus, als könnediesmal Ralph Nader Kerry mehr Stimmen abnehmen, als er dazumal Gore abgenommenhat.

Argument BIV: Der kalifornische Gouverneur hat auf dem New Yorker Parteitag Bushöffentlich unterstützt. Der demokratische [!] Senator Zell Miller aus Georgia hat dort einemitreißende Brandrede gehalten. Daher: Das republikanische Lager steht spätestens seitdem New Yorker Parteitag geschlossen hinter Bush.

[Fortsetzung des Textes auf Seite 157]

156 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

6.3.3 EIN BEISPIEL FÜR EINE ARGUMENTSHIERARCHIE AUS DER PHILOS

2014 6 ARGUMENTE UND ARGUMENTSHIERARCHIEN 157

Dritte Ebene:

Argument CI: Nichts verbindet mehr als die gemeinsame Jagd auf vermeintliche Nest-beschmutzer und Verräter. Daher: Die Entrüstung über einen Terroranschlag mittlererGröße in den USA ginge mit der Empörung über die demokratischen Warner vor der Be-schneidung der Grundrechte einher.

Argument CII: Bush setzt seinen Propaganda-Etat gnadenlos ein. Dieser Etat übertrifftden Kerrys bei weitem. Daher: Die Verleumdungskampagnen gegen Kerry konnten groß-zügig fnanziert werden.

Wie das Diagramm des Bush-Beispiels auf Seite156 veranschaulicht, hat die von unsherausgearbeitete deskriptive Argumentshierarchie in Standardform drei Ebenen und vierArgumentstränge:

erste Ebene: Azweite Ebene: BI BII BIII BIVdritte Ebene: CI CIIerster Strang: CI-BI-Azweiter Strang: CII-BII-Adritter Strang: BIII-Avierter Strang: BIV-A.

Weiters ist sie logisch ungültig und nicht sichtbar zirkelhaft; Sie müssen für sich heraus-fnden, ob sie aus Ihrer Sicht stark ist.

6.3.3 EIN BEISPIEL FÜR EINE ARGUMENTSHIERARCHIE AUS DER PHILOSOPHIE

Dieses Beispiel kommt aus dem 3. Kapitel der Cartesischen Meditationen:

Was nun die Vorstellungen anbetrifft, so können sie, wenn man sie nur an sich betrachtet

und sie nicht auf irgendetwas anderes bezieht, nicht eigentlich falsch sein; denn ob mir

eine Einbildung nun eine Ziege oder eine Chimäre vorstellt — so ist es doch ebenso wahr,

dass ich mir die eine, wie dass ich mir die andere vorstelle. Auch im Willen selbst oder in

den Gemütsbewegungen hat man keine Falschheit zu fürchten; denn möchte ich etwas

noch so Verkehrtes, ja etwas, was es in aller Welt nicht gibt, wünschen, so bleibt es nichts-

destoweniger wahr, dass ich es wünsche. Es bleiben demnach nur die Urteile übrig, bei de-

nen ich mich vor Irrtum zu hüten habe.

Hier eine mögliche Ausformulierung zu einer deskriptiven Argumentshierarchie in Stan-dardform:

Erste Ebene: Argument A:Was nun die Vorstellungen anbetrifft, so können sie, wenn man sie nur an sich betrachtetund sie nicht auf irgendetwas anderes bezieht, nicht eigentlich falsch sein. Auch imWillen selbst oder in den Gemütsbewegungen hat man keine Falschheit zu fürchten.Daher: Es bleiben nur die Urteile übrig, bei denen ich mich vor Irrtum zu hüten habe.

Zweite Ebene: Argument BI: Ob mir eine Einbildung nun eine Ziege oder eine Chimäre vorstellt — soist es doch ebenso wahr, dass ich mir die eine, wie dass ich mir die andere vorstelle.Daher: Was nun die Vorstellungen anbetrifft, so können sie, wenn man sie nur an sichbetrachtet und sie nicht auf irgendetwas anderes bezieht, nicht eigentlich falsch sein.

158 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Argument BII: Möchte ich etwas noch so Verkehrtes, ja etwas, was es in aller Welt nichtgibt, wünschen, so bleibt es nichtsdestoweniger wahr, dass ich es wünsche. Daher: Auchim Willen selbst oder in den Gemütsbewegungen hat man keine Falschheit zu fürchten.

Die von uns herausgearbeitete deskriptive Argumentshierarchie in Standardform hat zweiEbenen und zwei Argumentstränge:

erste Ebene: Azweite Ebene: BI BII

erster Strang: BI-Azweiter Strang: BII-A.

Weiters ist sie logisch ungültig und nicht sichtbar zirkelhaft; Sie müssen für sich heraus-fnden, ob sie aus Ihrer Sicht stark ist.

6.4 EMPFEHLUNGEN FÜRS WISSENSCHAFTLICHE ARBEITEN

6.4.1 FALL 1: SIE SELBST GEBRAUCHEN DAS WORT ›ARGUMENT‹

Wenn Sie einen Text mit wissenschaftlichem Anspruch schreiben oder wenn Sie dieseltene Gelegenheit haben sollten, an einem Gespräch teilzunehmen, das hauptsächlicherkenntnisgerichtet ist, und Sie gebrauchen dabei für etwas, das Sie geschrieben odergeäußert haben, das Wort ›Argument‹, dann sollten Sie die folgende Frageliste im Kopfdurchgehen.

(1) Argumentidentifzierung

(1.1) Verstehe ich hier das Wort ›Argument‹ im logischen Sinn des Wortes als eineFolge von Aussagesätzen, bestehend aus Prämissen, Konklusionsindikator undKonklusion? Wenn ja, kann die fachlich geschulte Leser- oder Hörerschaft ausmeiner Schreibe oder Rede unschwer erkennen, was die Prämissen meines Argu-mentes sind und was seine Konklusion ist?108

(1.2) Wenn ich hier das Wort ›Argument‹ jedoch nicht im logischen Sinn des Wor-tes gebrauche, verstehe ich es in seiner hauptsächlichen außerlogischen Bedeutung,das heißt im Sinne von ›Prämisse eines Argumentes im logischen Sinn des Wor-tes‹? Wenn ja, habe ich so klar geschrieben oder mich geäußert, dass die fachlichgeschulte Leser- oder Hörerschaft aus meiner Schreibe oder Rede unschwer erken-nen kann, von welchem Argument im logischen Sinn des Wortes der ›Argument‹genannte Aussagesatz eine Prämisse ist?

(1.3) Wenn ich hier das Wort ›Argument‹ weder im logischen Sinn des Wortesgebrauche noch damit die Prämisse eines Argumentes im logischen Sinn des Wor-tes meine, verstehe ich damit einen Aussagesatz, der einen anderen plausibler oderweniger plausibel macht? Wenn ja, kann die fachlich geschulte Leser- oder Hörer-schaft aus meiner Schreibe oder Rede leicht erkennen, um welche beiden Aussage-sätze es sich handelt, von denen der eine angeblich ein Argument für oder gegenden anderen ist?

108 Wenn nicht, dann ist Ihr Argument, streng genommen, unter jeder Kritik, denn wenn man nicht weiß,woraus es besteht, kann man es auch nicht kritisch erörtern.

2014 6 ARGUMENTE UND ARGUMENTSHIERARCHIEN 159

(1.4) Wenn ich hier das Wort ›Argument‹ weder im logischen Sinn des Wortesgebrauche noch damit die Prämisse eines Argumentes im logischen Sinn desWortes meine und ich mich auch nicht auf zwei Aussagesätze beziehe, von denender eine angeblich ein Argument für oder gegen den anderen ist, was könnte ichhier mit dem Wort ›Argument‹ gemeint haben? Vielleicht habe ich es einfach imSinne von ›Aussagesatz‹ verwendet? Oder vielleicht habe ich es gemäß einemSprachgebrauch der Mathematiker zur Bezeichnung von Gegenständen aus demDefnitionsbereich einer Funktion verwendet? Oder vielleicht habe ich es in einerder Bedeutungen des Wortes ›Argumentation‹ verwendet, etwa zur Bezeichnungeiner Diskussion, eines Diskussionsergebnisses oder einer mehrstufgen Begrün-dung? Oder vielleicht in sonst noch einer Bedeutung? Wenn ja, kann die fachlichgeschulte Leser- oder Hörerschaft aus meiner Schreibe oder Rede unschwer erken-nen, welche dieser möglichen weiteren Bedeutungen des Wortes ›Argument‹ ichdem von mir produzierten Ausdruck›Argument‹ zugeordnet habe?

(2) Argumentbewertung

Angenommen, es ist meinen Lesern oder Zuhörern und auch mir selbst klar, welcheAussagesätze die Prämissen meines Argumentes sind und welcher Aussagesatz seineKonklusion ist. Dann wird die Bewertung meines deskriptiven Argumentes möglich.

(2.1) Bewertung bezüglich logischer Gültigkeit und Stichhaltigkeit

(2.1.1) Ist mein deskriptives Argument logisch gültig? Das heißt, garantiert dieWahrheit seiner Prämissen die seiner Konklusion?109

(2.1.2) Wenn mein Argument logisch gültig ist, ist es darüber hinaus stichhaltig(semantisch perfekt)? Das heißt, sind zusätzlich alle seine Prämissen wahr?

(2.2) Bewertung bezüglich Stärke

(2.2.1) Ist mein Argument aus meiner Sicht stark? Die Antwort lautet Ja, wenn ichalle drei folgenden Fragen positiv beantworte. (Es sei B die Konjunktion der Prä-missen meines Argumentes, C seine Konklusion und p meine Verteilung von Wahr-scheinlichkeitswerten auf alle in Frage kommenden Aussagesätze.)— p(B) 0,5 ?— p(C, B) 0,5 ?— p(C, B) p(C, nicht-B) ?

(2.2.2) Ist mein Argument aus meiner Sicht schwach? Die Antwort lautet Ja, wennich mindestens eine der drei folgenden Fragen positiv beantworte. — p(B) ≤ 0,5 ?— p(C, B) ≤ 0,5 ?— p(C, B) ≤ p(C, nicht-B) ?

Angenommen jedoch, es ist meinen Lesern oder Zuhörern und auch mir selbst klar,dass ich hier mit ›Argument‹ nicht ein einzelnes Argument im logischen Sinn des Wortes,sondern eine ganze Hierarchie solcher Argumente meine, dann kann und sollte ich, wennmir mein Schachtelargument wichtig erscheint, es in eine Argumentshierarchie ausfor-

109 Wenn ja, dann können Sie sicher sein, dass die Konklusion Ihres Argumentes wahr ist, sofern alle seinePrämissen wahr sind; und dass mindestens eine der Prämissen Ihres Argumentes falsch ist, wenn seineKonklusion falsch ist.

160 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

mulieren und die gesamte Hierarchie bezüglich Gültigkeit, Stärke und sichtbarer Zirkel-haftigkeit bewerten.110

6.4.2 FALL 2: JEMAND ANDERES GEBRAUCHT DAS WORT ›ARGUMENT‹

Wenn Sie einen Text, dessen Autorin oder dessen Autor wissenschaftlichen Ansprucherhebt, lesen oder wenn Sie einen Vortrag gleichen Anspruchs hören und Sie stoßen dabeiauf das Wort ›Argument‹ als Bezeichnung für etwas, das geschrieben oder geäußertwurde, dann sollten Sie die folgende Frageliste durchgehen, falls Ihnen das, was ›Argu-ment‹ genannt wurde, so wichtig vorkommt, dass Sie glauben, die (oft beträchtliche)Mühe der Argumentidentifzierung und -bewertung lohne sich.

(1) Argumentidentifzierung

(1.1) Versteht die betreffende Person das Wort ›Argument‹ im logischen Sinn desWortes? Wenn ja, kann ich aus ihrer Schreibe oder Rede erkennen, was die Prämis-sen ihres Argumentes sind und was seine Konklusion ist? Wenn ja, dann kann ichzur Argumentbewertung übergehen. Wenn nein, dann halte ich in meiner Seminar-,Diplom- oder Doktorarbeit oder in meinem Diskussionsbeitrag fest, dass ihr Argu-ment, wenn es denn als ein Argument im logischen Sinn des Wortes intendiert war,streng genommen unter jeder Kritik ist.

(1.2) Wenn die betreffende Person das Wort ›Argument‹ jedoch nicht im logischenSinn des Wortes gebraucht, versteht sie es in seiner hauptsächlichen außerlogischenBedeutung, also im Sinne von ›Prämisse eines Argumentes im logischen Sinn desWortes‹? Wenn ja, hat sie so klar geschrieben oder sich geäußert, dass ich aus ihrerSchreibe oder Rede erkennen kann, von welchem Argument im logischen Sinn desWortes der ›Argument‹ genannte Aussagesatz eine Prämisse ist?

(1.3) Wenn die betreffende Person das Wort ›Argument‹ weder im logischen Sinndes Wortes gebraucht noch damit die Prämisse eines Argumentes im logischen Sinndes Wortes meint, versteht sie darunter vielleicht einen Aussagesatz, der einenanderen irgendwie plausibler oder weniger plausibel macht? Wenn ja, kann ich ausihrer Schreibe oder Rede erkennen, um welche beiden Aussagesätze es sich han-delt, von denen der eine angeblich ein Argument für oder gegen den anderen ist?Wenn ja, dann kann ich beide Aussagesätze in ein Argument im logischen Sinn desWortes umschreiben (der erste wird Prämisse, der zweite Konklusion) und zurBewertung dieses Argumentes übergehen. Wenn nein, dann ist die betreffende Text-oder Redestelle, streng genommen, unter jeder Kritik.

(1.4) Wenn die betreffende Person das Wort ›Argument‹ weder im logischen Sinndes Wortes gebraucht noch damit eine Prämisse eines Argumentes im logischenSinn des Wortes meint und sie sich auch nicht auf zwei Aussagesätze bezieht, vondenen der eine angeblich ein Argument für oder gegen den anderen ist, was könntesie mit dem Wort ›Argument‹ gemeint haben? Vielleicht hat sie es einfach im Sinnevon ›Aussagesatz‹ verwendet? Oder vielleicht hat sie es gemäß einem Sprach-gebrauch der Mathematiker zur Bezeichnung von Gegenständen aus dem Defni-

110 Schon bei der Entwicklung einer im Rahmen Ihrer Arbeit wichtigen mehrstufgen Begründung mag eslohnend sein, den Text, in dem die Begründung verschriftlicht wird, durch auf Schmierzettel gezeichneteDiagramme zu begleiten, mittels derer Sie sich die Ebenen und Argumentstränge Ihrer Begründung ver-anschaulichen, so dass Sie selber stets wissen, wo Sie in Ihrer Begründung gerade stehen. Man kann ineiner längeren Arbeit durchaus den Überblick über die eigene Begründung verlieren.

2014 6 ARGUMENTE UND ARGUMENTSHIERARCHIEN 161

tionsbereich einer Funktion verwendet? Oder vielleicht hat sie es in einer der Be-deutungen des Wortes ›Argumentation‹ verwendet, etwa zur Bezeichnung einerDiskussion oder eines Diskussionsergebnisses oder einer mehrstufgen Begrün-dung? Oder in sonst noch einer Bedeutung? Wenn ja, kann ich aus ihrer Schreibeoder Rede erkennen, welche dieser möglichen weiteren Bedeutungen des Wortes›Argument‹ sie dem von ihr produzierten Ausdruck ›Argument‹ zugeordnet hat?Wenn nein, lohnt es sich, weiter nachzubohren, was sie meint, wenn sie das Wort›Argument‹ gebraucht?

(2) Argumentbewertung

Angenommen, es ist mir gelungen herauszufnden, welche Aussagesätze diePrämissen des Argumentes der betreffenden Person sind und welcher Satz seine Konklu-sion ist. Dann kann ich ihr Argument auf logische Gültigkeit, auf Stichhaltigkeit (seman-tische Perfektheit) und auf Stärke prüfen.

(2.1) Bewertung bezüglich logischer Gültigkeit und Stichhaltigkeit

(2.1.1) Ist ihr Argument logisch gültig?

(2.1.2) Wenn ihr Argument logisch gültig ist, ist es auch stichhaltig (semantischperfekt)?

(2.2) Bezüglich Stärke

(2.2.1) Ist ihr Argument aus meiner Sicht stark? Die Antwort lautet Ja, wenn ichalle drei folgenden Fragen positiv beantworte. (Es sei B die Konjunktion der Prä-missen ihres Argumentes, C seine Konklusion und p meine einschlägige Verteilungvon Wahrscheinlichkeitswerten.)— p(B) 0,5 ?— p(C, B) 0,5 ?— p(C, B) p(C, nicht-B) ?

(2.2.2) Ist ihr Argument aus meiner Sicht schwach? Die Antwort lautet Ja, wenn ichmindestens eine der folgenden drei Fragen positiv beantworte.— p(B) ≤ 0,5 ?— p(C, B) ≤ 0,5 ?— p(C, B) ≤ p(C, nicht-B) ?

Angenommen jedoch, es ist mir gelungen herauszufnden, dass die betreffendePerson das Wort ›Argument‹ im Sinne von ›Schachtelargument‹ oder ›mehrstufge Be-gründung‹ verwendet. Wendungen wie ›ich entwickle mein Argument (meine Argumen-tation) in mehreren Schritten‹ oder ›mein Argument (meine Argumentation) besteht ausmehreren Teilen‹ sind gute Indikatoren dafür, dass hier mit ›Argument‹ (oder ›Argumen-tation‹) so etwas wie mehrstufge Begründungen gemeint sein könnte. Dann kann ich ihremehrstufge Begründung (sofern sich der Aufwand zu lohnen scheint) zu einer sinnglei-chen deskriptiven Argumentshierarchie in Standardform umzuformulieren versuchen unddiese dann bewerten.

6.5 LITERATURHINWEISE

Jeder einführende Text in die Junktoren- und Quantorenlogik einerseits und in die sog.induktive Logik anderseits ist zugleich auch ein weiterführender Text zu unserem Kapitel

162 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

über Argumente und Argumentshierarchien. Es gibt Aberdutzende solcher Einführungen,die wenigsten sind allerdings wegen der Schwierigkeit der Materie für das Selbststudiumgeeignet. Es ist daher i.a. anzuraten, sich den Stoff, den diese Texte vermitteln sollen,innerhalb eines Logik- oder Statistikkurses anzueignen.

Eine praxisnahe, für das Selbststudium allenfalls geeignete Einführung in die de-duktive Logik ist:

Ernest LEPORE und Sam CUMMING: Meaning and Argument. An Introduction to Logicthrough Language. — Chichester, U.K.; Malden, MA: Wiley-Blackwell, 22009.

Eine praxisnahe, für das Selbststudium allenfalls geeignete Einführung in die in-duktive Logik und elementare Wahrscheinlichkeitstheorie ist:

Brian SKYRMS: Einführung in die induktive Logik. — Frankfurt am Main (u.a.): VerlagPeter Lang, 1989.

Für eine Aufsatzsammlung über und für eine praxisnahe Einführung in die Argu-mentationslehre siehe:

Günther KREUZBAUER und Georg DORN (Hg.): Argumentation in Theorie und Praxis:Philosophie und Didaktik des Argumentierens. — Wien: LIT, 2006.

Christoph LUMER: Praktische Argumentationstheorie. Theoretische Grundlagen, prakti-sche Begründung und Regeln wichtiger Argumentationsarten. — Braunschweig: VerlagVieweg, 1990.

6.6 ÜBUNGEN

1. Bitte bringen Sie das folgende, sich auf die 1980er Jahre beziehende deskriptive Argument

auf Standardform und beschreiben Sie es zuerst in der logischen, dann in der hauptsächlichen

außerlogischen Terminologie! Halten Sie das Argument für logisch gültig?

Russland zieht sich nicht aus Afghanistan zurück, und die USA gefährden sowohl ihre

eigene Erdölversorgung als auch die Existenz Israels. Die Gründe: Erstens, Russland zieht

sich nicht aus Afghanistan zurück, es sei denn, die USA verbünden sich mit China.

Zweitens, wenn die USA sich nicht mit China verbünden, dann verlieren sie die Kontrolle

über die Golfstaaten. Drittens, mit dem Verlust dieser Kontrolle gefährden sie nicht nur

ihre eigene Erdölversorgung, sondern auch die Existenz Israels. Viertens, wenn sich jedoch

die USA mit China verbünden, dann geben sie Taiwan auf. Fünftens und am wichtigsten:

sie geben Taiwan nicht auf.

2. Es sei A ein deskriptives Argument in Standardform. Welche von den folgenden Behaup-

tungen sind falsch? Warum?

(a) A besteht aus mindestens zwei Aussagesätzen.

(b) A besteht aus höchstens drei Aussagesätzen.

(c) A hat mindestens eine Prämisse.

(d) A hat mindestens eine Konklusion.

(e) A hat höchstens eine Prämisse.

(f) A hat höchstens eine Konklusion.

(g) A hat mindestens zwei Prämissen.

2014 6 ARGUMENTE UND ARGUMENTSHIERARCHIEN 163

(h) A hat mindestens zwei Konklusionen.

(i) A ist eine Aneinanderreihung von Aussagesätzen.

(j) A ist ein Aussagesatz.

(k) A ist eine Aneinanderreihung von normativen Sätzen.

(l) Wenn ein Satz zu A gehört, dann ist er wahr.

(m) Wenn jede Prämisse von A wahr ist, dann ist die Konklusion von A wahr.

(n) Wenn jede Prämisse von A falsch ist, dann ist die Konklusion von A falsch.

(o) Die Konklusion von A ist der erste Satz, aus dem A besteht.

(p) Die Konklusion von A ist der letzte Satz, aus dem A besteht.

(q) Der erste Satz, aus dem A besteht, ist immer eine Prämisse von A.

(r) Der zweite Satz, aus dem A besteht, ist immer eine Prämisse von A.

(s) Der zweite Satz, aus dem A besteht, ist immer die Konklusion von A.

(t) Die Prämissenmenge von A ist weder leer, noch unendlich.

(u) A kann sinnvollerweise als ›wahr‹ bezeichnet werden.

(v) A kann logisch gültig sein.

(w) A kann semantisch perfekt sein, ohne logisch gültig zu sein.

(x) A kann aus der Sicht einer Person stark sein, ohne stichhaltig zu sein.

(y) A kann stark aus meiner Sicht, schwach aus Ihrer Sicht sein.

(z) Die Konklusion von A kann logisch falsch sein.

3. Welche von den folgenden kurzen Texten sind deskriptive Argumente in Standardform?

Welche lassen sich leicht zu deskriptiven Argumenten in Standardform umformulieren? Welche

lassen sich nicht zu deskriptiven Argumenten in Standardform umformulieren? Warum nicht?

(a) Logische Beziehungen bestehen nur zwischen Sätzen. Kein Sinneseindruck ist ein Satz.

Daher: Nichts steht zu Sinneseindrücken in logischen Beziehungen.

(b) Nichts steht zu Sinneseindrücken in logischen Beziehungen, denn logische Beziehun-

gen bestehen nur zwischen Sätzen, und kein Sinneseindruck ist ein Satz.

(c) Toni Sailer ist Tiroler. Paris liegt in Frankreich. Daher: 7+5 = 12.

(d) Wenn jene, die viel besitzen, jenen, die wenig besitzen, nichts von ihrem Besitz

abgeben, werden jene, die wenig besitzen, jene, die viel besitzen, zu berauben versuchen.

Dies führt zu sozialen Unruhen. Soziale Unruhen sind zu vermeiden. Daher: Jene, die viel

besitzen, müssen jenen, die wenig besitzen, einen Anteil von ihrem Besitz abgeben.

(e) Alle Professoren sind geistesabwesend, und da Dr. Klug ein Professor ist, muss er geis-

tesabwesend sein.

(f) Kandidat Holzheim ist sicher, die Wahl zu gewinnen. Denn die Leute, die hinter ihm

stehen, haben mehr Geld als die, welche seinen Gegenkandidaten unterstützen; darüber

hinaus ist Holzheim auf dem Lande populärer.

(g) Wenn Eisenstücke ins Wasser gelegt werden, treiben sie normalerweise nicht auf der

Wasseroberfäche. Das spezifsche Gewicht des Wassers ist nämlich geringer als das des

Eisens.

(h) In der Vergangenheit ist jedes Vorkommen von Rauch mit dem Brennen eines Feuers

einhergegangen, also wird das nächste Vorkommen von Rauch ebenfalls mit dem Brennen

eines Feuers einhergehen.

164 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

(i) Alle Menschen sind sterblich. Daher: Es gibt einige unsterbliche Menschen.

(j) Bisher ist noch jeder Mensch gestorben. Also wird auch in Zukunft jeder Mensch ster-

ben.

(k) Alle Menschen sind sterblich. Folglich gibt es einige sterbliche Menschen.

(l) Gemäß mittäglichem Wetterbericht aus München bewegt sich rasch ein Tiefdruckgebiet

auf Salzburg zu. Die Wetterberichte aus München sind recht verlässlich. Der Himmel über

Salzburg ist grau und bedeckt. Fast alle Leute auf der Straße führen einen Regenschirm mit

sich. Daher: Es wird heute Nachmittag in Salzburg regnen.

(m) Kein Feinschmecker fndet Gefallen an Bananen-Thunfsch-Souffés in Schokoladen-

sauce. Toni fndet Gefallen an Bananen-Thunfsch-Souffés in Schokoladensauce. Daher:

Toni ist kein Feinschmecker.

(n) Toni ist ein Bruder von Anni. Daher: Anni ist eine Schwester von Toni.

(o) Du hast eine unbehandelte Lungenentzündung. Du hast hohes Fieber.

(p) Du hast hohes Fieber. Du darfst nicht in der Sonne liegen.

(q) Kein Kind hat die Pficht zu arbeiten. Wenn jemand nicht die Pficht hat, etwas zu tun,

dann hat er das Recht, es nicht zu tun. Doch hat nicht jeder, der das Recht hat, etwas nicht

zu tun, nicht das Recht, es zu tun. Daher: Einige Kinder haben das Recht zu arbeiten,

obwohl alle Kinder das Recht haben, nicht zu arbeiten.

(r) Wenn David Hume recht hat, dass es keine rationale Begründung induktiver Argumente

gibt, dann sind die Konklusionen induktiver Argumente ebenfalls nicht rational begründ-

bar. Alle naturwissenschaftlichen Gesetze sind aber Konklusionen induktiver Argumente.

Daher: Alle naturwissenschaftlichen Gesetze sind rational unbegründbar, sofern David

Hume recht hat.

(s) Wenn alle naturwissenschaftlichen Gesetze rational unbegründbar sind, dann gibt es

keinen Unterschied zwischen Wissenschaft, Aberglauben und Märchen; und wenn es kei-

nen solchen Unterschied gibt, dann ist der Anspruch auf die Überlegenheit der Naturwis-

senschaften aufzugeben.

(t) Kein Mensch kann das Wesen der Dinge erkennen. Also enthalte er sich des Urteils und

lebe friedlich mit ruhigem Gemüte!

4. Es sei A ein deskriptives Argument in Standardform. Welche von den folgenden Behaup-

tungen sind falsch? Warum?

(a) Wenn A logisch gültig ist, dann ist die Konklusion von A wahr.

(b) Wenn A semantisch perfekt ist, dann ist die Konklusion von A wahr.

(c) Wenn A logisch gültig ist, dann sind alle Prämissen von A wahr.

(d) Wenn A stichhaltig ist, dann sind alle Prämissen von A wahr.

(e) Wenn A logisch gültig ist, dann ist A semantisch perfekt.

(f) Wenn A semantisch perfekt ist, dann ist A logisch gültig.

(g) Wenn A logisch gültig ist und wenn die Konklusion von A falsch ist, dann ist die

Konjunktion der Prämissen von A falsch.

(h) Wenn A logisch gültig ist und wenn die Konjunktion der Prämissen von A wahr ist,

dann ist die Konklusion von A wahr.

(i) Wenn A logisch gültig ist und wenn mindestens eine Prämisse von A falsch ist, dann ist

die Konklusion von A falsch.

2014 6 ARGUMENTE UND ARGUMENTSHIERARCHIEN 165

(j) Wenn A logisch gültig ist und wenn jede Prämisse von A falsch ist, dann ist die Kon-

klusion von A falsch.

(k) Wenn A logisch ungültig ist, dann ist die Konklusion von A falsch.

(l) Wenn A nicht stichhaltig ist, dann ist die Konklusion von A falsch.

(m) Wenn A logisch ungültig ist, dann sind alle Prämissen von A falsch.

(n) Wenn A nicht semantisch perfekt ist, dann sind nicht alle Prämissen von A wahr.

(o) Wenn A logisch ungültig ist, dann ist A nicht semantisch perfekt.

(p) Wenn A nicht stichhaltig ist, dann ist A logisch ungültig.

(q) Wenn A logisch ungültig ist und wenn die Konklusion von A wahr ist, dann ist die

Konjunktion der Prämissen von A falsch.

(r) Wenn A logisch ungültig ist und wenn die Konjunktion der Prämissen von A wahr ist,

dann ist die Konklusion von A falsch.

(s) Wenn A logisch ungültig ist und wenn mindestens eine Prämisse von A falsch ist, dann

ist die Konklusion von A wahr.

(t) Wenn A logisch ungültig ist und wenn jede Prämisse von A falsch ist, dann ist die Kon-

klusion von A wahr.

5. Welche von den folgenden 6 deskriptiven Argumenten in Standardform sind stichhaltig

(semantisch perfekt)? Welche logisch gültig?

(a) Goethe, nicht Schiller hat Torquato Tasso verfasst. Daher: Schiller hat Torquato Tasso

nicht verfasst.

(b) Bisher ist noch an jedem Tag die Sonne aufgegangen. Daher: Die Sonne wird morgen

aufgehen.

(c) Alle Menschen sind sterblich. Daher: Es gibt mindestens einen Menschen, der sterblich

ist.

(d) Fast alle Menschen sind sterblich. Bush ist ein Mensch. Daher: Bush ist sterblich.

(e) Menschen, die frustriert werden, reagieren normalerweise aggressiv. Daher: Hermann

Maier ist ein Mensch, der, wenn er frustriert wird, normalerweise aggressiv reagieren wird.

(f) Alle Menschen, die frustriert werden, reagieren aggressiv. Daher: Wenn Hermann Maier

ein Mensch ist und frustriert wird, dann reagiert er aggressiv.

6. Sei A ein deskriptives Argument in Standardform, B die Konjunktion der Prämissen von A,

C die Konklusion von A, und p Ihre jeweilige einschlägige rationale Glaubensgradverteilung (=

Ihre subjektive Wahrscheinlichkeitsverteilung):

(1) p(B) = 0,9; p(C, B) = 0,8; p(C, nicht-B) = 0,7;

(2) p(B) = 0,6; p(C, B) = 0,9; p(C, nicht-B) = 0,3;

(3) p(B) = 0,6; p(C, B) = 0,7; p(C, nicht-B) = 0,8;

(4) p(B) = 0,7; p(C, B) = 0,5; p(C, nicht-B) = 0,3;

(5) p(B) = 0,1; p(C, B) = 1; p(C, nicht-B) = 0,4.

In welchen Fällen ist das jeweilige Argument A aus Ihrer Sicht stark, in welchen Fällen ist

es aus Ihrer Sicht schwach?

7. Bitte überführen Sie die folgende mehrstufge Begründung (sie bezieht sich auf die Jahre

2004 und 2005) in eine deskriptive Argumentshierarchie in Standardform und diskutieren

Sie diese!

166 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Der Goldpreis steigt, es sei denn, die politische Weltlage beruhigt sich. Wenn aber der

Goldpreis steigt, dann kommt es zu einer Höherbewertung des Dollars. Fort Knox hat in

einer solchen Situation den Amerikanern noch immer geholfen. Die Statistiken sprechen

hier eine deutliche Sprache. Die Annahme, dass die politische Weltlage sich beruhigt, ist

allerdings falsch, denn die in Afghanistan, im Irak und in den USA bevorstehenden Wah-

len, die zunehmenden Bemühungen Irans und Nord-Koreas um die eigene Atombombe

sowie die Internationalisierung des Tschetschenienkonfikts werden die politische Weltlage

weiter destabilisieren. Woraus klar folgt: Der Dollar wird an Wert gewinnen.

8. Bitte suchen Sie in Ihrer Fachliteratur oder in Ihrer Doktorarbeit nach wenigstens ein

Dutzend Wörter, die mit ›Argument‹ gestaltgleich sind und geben Sie an, in welcher Bedeutung

sie dort verwendet worden sind.

6.7 LÖSUNGEN DER ÜBUNGEN ZUM 6. KAPITEL

1. Russland zieht sich nicht aus Afghanistan zurück, es sei denn, die USA verbünden sich mit

China. Wenn die USA sich nicht mit China verbinden, dann verlieren sie die Kontrolle über die

Golfstaaten. Mit dem Verlust dieser Kontrolle gefährden sie nicht nur ihre eigene Erdölversorgung,

sondern auch die Existenz Israels. Wenn sich jedoch die USA mit China verbünden, dann geben sie

Taiwan auf. Sie geben aber Taiwan nicht auf. Daher: Russland zieht sich nicht aus Afghanistan

zurück, und die USA gefährden sowohl ihre eigene Erdölversorgung als auch die Existenz Israels.

Logische Sprechweise: Es handelt sich um ein (deskriptives) Argument (in Standardform) mit fünf

Prämissen. Seine Konklusion lautet: ›Russland zieht sich nicht aus Afghanistan zurück, und die USA

gefährden sowohl ihre eigene Erdölversorgung als auch die Existenz Israels.‹

Außerlogische Sprechweise: Es handelt sich um eine Argumentation mit fünf Argumenten. Ihre These

lautet: ›Russland zieht sich nicht aus Afghanistan zurück, und die USA gefährden sowohl ihre eigene

Erdölversorgung als auch die Existenz Israels.‹.

Das Argument ist logisch gültig.

2. (b), (e), (g), (h), (j), (k), (l), (m), (n), (o), (r), (s), (u), (w).

3. Deskriptive Argumente in Standardform: (a), (c), (i), (l), (m), (n), (r). — Die folgenden

deskriptiven Argumente im weiteren Sinn des Wortes lassen sich leicht zu deskriptiven Argumenten in

Standardform umformulieren: (b), (e), (f), (g), (h), (j), (k), (o). — Die folgenden Argumente lassen

sich nicht zu deskriptiven Argumenten in Standardform umformulieren, weil sie nicht oder nicht nur

aus Aussagesätzen bestehen: (d), (p), (q)111, (s)112, (t).

111 Argument (q) ist ein Streitfall. Wer die Ansicht vertritt, die Sätze in (q) sind deskriptiv, wird (q) zu dendeskriptiven Argumenten in Standardform zählen; wer die Ansicht vertritt, die Sätze in (q) sind präskriptiv,wird (q) als ein normatives oder präskriptives Argument in Standardform betrachten.112 Hinweis zu (s): Bei dem Satz ›Und wenn es keinen solchen Unterschied gibt, dann ist der Anspruch aufdie Überlegenheit der Naturwissenschaften aufzugeben.‹ handelt es sich nicht um einen Aussagesatz, son-dern um einen gemischten Satz, dessen Wenn-Teil ein deskriptiver und dessen Dann-Teil ein präskriptiverSatz ist. Auch gemischte Sätze sind keine Aussagesätze.

2014 6 ARGUMENTE UND ARGUMENTSHIERARCHIEN 167

4. (a), (c), (e), (i), (j), (k), (l), (m), (n), (p), (q), (r)113, (s), (t).

5. Semantisch perfekt: (a). — Logisch gültig: (a), (f).

6. Aus Ihrer Sicht stark: (1), (2); aus Ihrer Sicht schwach: (3), (4), (5).

7. Die entsprechende deskriptive Argumentshierarchie in Standardform:

Erste Ebene:

Argument A: Der Goldpreis steigt, es sei denn, die politische Weltlage beruhigt sich. Wenn aber der

Goldpreis steigt, dann kommt es zu einer Höherbewertung des Dollars. Die Annahme, dass die poli -

tische Weltlage sich beruhigt, ist allerdings falsch. Daher: Der Dollar wird an Wert gewinnen.

Zweite Ebene:

Erstes Argument BI auf der zweiten Ebene: Fort Knox hat in einer solchen Situation den Amerikanern

noch immer geholfen. Daher: Wenn aber der Goldpreis steigt, dann kommt es zu einer Höherbewer-

tung des Dollars.

Zweites Argument BII auf der zweiten Ebene: Die in Afghanistan, im Irak und in den USA bevor-

stehenden Wahlen, die zunehmenden Bemühungen Irans und Nord-Koreas um die eigene Atombombe

sowie die Internationalisierung des Tschetschenienkonfikts werden die politische Weltlage weiter

destabilisieren. Daher: Die Annahme, dass die politische Weltlage sich beruhigt, ist allerdings falsch.

Dritte Ebene:

Argument CI: Die Statistiken sprechen hier eine deutliche Sprache. Daher: Fort Knox hat in einer

solchen Situation den Amerikanern noch immer geholfen.

Zwei Argumentstränge: Erster Argumentstrang: CI, BI, A; zweiter Argumentstrang: BII, A.

Die deskriptive Argumentshierarchie in Standardform ist logisch ungültig und nicht sichtbar zirkel-

haft; Sie müssen für sich herausfnden, ob Sie jedes Argument in der Hierarchie für stark halten.

8. SIE sind am Zug.

113 Hinweis zu (r): Es kann zwar durchaus der Fall sein, dass bei einem logisch ungültigen Argument mitwahrer Prämissenkonjunktion seine Konklusion falsch ist, aber dies muss nicht der Fall sein; es ist auchmöglich, dass die Konklusion in solchen Fällen wahr ist. Lediglich bei einem logisch gültigen Argument istes unmöglich, dass alle seine Prämissen wahr sind und seine Konklusion dennoch falsch ist.

168 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

7 ERKLÄRUNG, VORHERSAGE, ZURÜCKSAGE

7.1 DIE KLASSISCHE AUFFASSUNG DER ERKLÄRUNG, VORHERSAGE UND

ZURÜCKSAGE

7.1.1 DEDUKTIV-NOMOLOGISCHE ERKLÄRUNG VON EREIGNISSEN

Die klassische semantische Defnition des Wortes ›Erklärung‹ geht auf Carl GustavHEMPEL zurück. Er begann 1942 die wissenschaftstheoretische Debatte um den Erklä-rungsbegriff mit seiner Abhandlung „The Functions of General Laws in History“, in derer Erklärungen als eine bestimmte Art semantisch perfekter Argumente aufzufassenvorschlug. Er hat dann diesen Vorschlag in der zusammen mit Paul Oppenheim ver-fassten, 1948 erschienenen Abhandlung „Studies in the Logic of Explanation“ ausge-arbeitet. Dieser ausgearbeitete Vorschlag ist unter den folgenden Bezeichnungen in dieGeschichte der Wissenschaftstheorie eingegangen: ›Deduktiv-nomologisches Modell derErklärung‹ (kurz: ›D-N-Modell‹), ›Hempel-Oppenheim-Schema der Erklärung‹ (kurz:›H-O-Schema‹), ›Covering-Law-Modell der Erklärung‹, und ›Subsumtionsmodell der Er-klärung‹. Die von Hempel ausgearbeitete Grundidee war von bestechender Einfachheit:114

ein Ereignis oder eine Tatsache erklären heißt nichts weiter als den Satz, der das Ereignisoder die Tatsache beschreibt, aus einem deterministischen Gesetz und aus einer wahrenBeschreibung einschlägiger anderer Ereignisse oder Tatsachen logisch korrekt folgern.115

Wenn z.B. ein Physiker erklären soll, wieso sich der Würfel, den er gerade mit einemBunsenbrenner erhitzt hat, sich dabei ausgedehnt hat, kann er auf das deterministischeGesetz ›Alle Kupferstücke, die erwärmt werden, dehnen sich aus.‹ verweisen sowie aufden wahren singulären Satz ›Dieser Würfel da ist ein Kupferstück, das gerade ebenerwärmt wurde.‹ und aus beiden Sätzen korrekt folgern ›Dieser Würfel dehnte sich ge-rade eben aus.‹. M.a.W., das folgende stichhaltige Argument ist eine Erklärung:

Alle Kupferstücke, die erwärmt werden, dehnen sich aus.Dieser Würfel da ist ein Kupferstück, das gerade eben erwärmt wurde.Daher: Dieser Würfel dehnte sich gerade eben aus.

Die erste Prämisse ist das in der Erklärung verwendete strikt universelle Gesetz, diezweite ist ein singulärer Aussagesatz, der den relevanten Anwendungsfall des Gesetzesbeschreibt. Die Konklusion beschreibt das zu erklärende Ereignis. Das Argument istlogisch gültig. Beide Prämissen müssen wahr sein, damit das Argument eine Erklärungist. Wäre z.B. der singuläre Aussagesatz falsch, etwa weil der betrachtete Würfel nichtaus Kupfer ist oder nicht erwärmt wurde, dann wäre dieses Argument keine Erklärung.Ist zum Beispiel die erste Prämisse (also der in einer Erklärung stets nötige strikt univer-selle Aussagesatz) falsch und somit kein Gesetz, dann liefert das folgende Argument trotzseiner logischen Gültigkeit keine (deduktiv-nomologische) Erklärung für das durch seineKonklusion beschriebene Ereignis:

114 Diese Grundidee war nicht Hempels Erfndung, sondern lässt sich bis auf Aristoteles zurückverfolgen. 115 Man beachte die inhaltliche Ähnlichkeit dieser Formulierung mit der des bedeutenden Wissenschafts-theoretikers Karl Raimund Popper. Er schreibt im Abschnitt 12 seiner 1935 erschienenen StandardwerksLogik der Forschung: „Einen Vorgang ›kausal erklären‹ heißt, einen Satz, der ihn beschreibt, aus Gesetzenund Randbedingungen deduktiv ableiten“.

2014 7 ERKLÄRUNG, VORHERSAGE, ZURÜCKSAGE 169

Alle Stoffe, die erwärmt werden, dehnen sich aus.116

Dieser Liter Wasser da ist ein Stoff, der gerade eben erwärmt wurde.Daher: Dieser Liter Wasser da ist ein Stoff, der sich gerade eben ausdehnte.

Unter dem Ausdruck ›deterministische Gesetze‹ seien hier wahre, falsifzierbare All-implikationen verstanden, die nicht logisch äquivalent mit singulären Sätzen sind. All-implikationen sind Allsätze, die sich auf folgende Form bringen lassen: Für alle x gilt:wenn Ax, dann Bx. Allimplikationen haben einen Wenn-Teil, ›Antezedens‹ genannt, undeinen Dann-Teil, ›Konsequens‹ genannt, wie aus der ausformulierten Fassung von All-implikationen deutlich wird. Etwa lässt sich die Allimplikation ›Alle Kupferstücke, dieerwärmt werden, dehnen sich aus.‹ ausformulieren zu: ›Für alle festen Körper x und füralle Zeitpunkte t gilt: wenn x zu Zeit t ein Kupferstück ist und x zu Zeit t erwärmt wird,dann dehnt sich x zu Zeit t aus.‹.

Wir sehen: Der singuläre Satz ›Dieser Würfel da ist ein Kupferstück, das geradeeben erwärmt wurde.‹ ist nichts weiter als eine Einsetzung in das Antezedens der All-implikation, nämlich in ›x ist zu Zeit t ein Kupferstück und x wird zu Zeit t erwärmt.‹;aus diesem Grund nennt man diesen singulären Satz ›eine Antezedensinstanz [desGesetzes]‹. Wir sehen weiters: Der Satz, der das zu erklärende Ereignis beschreibt (dasist in unserem Beispiel der singuläre Satz ›Dieser Würfel dehnte sich gerade eben aus.‹),ist nichts weiter als eine Einsetzung in das Konsequens der Allimplikation, nämlich in ›xdehnt sich zu Zeit t aus.‹; aus diesem Grund nennt man diesen singulären Satz ›eineKonsequensinstanz [des Gesetzes]‹. Eine Erklärung besteht also im einfachsten Fall auseinem deterministischen Gesetz, einer wahren Antezedensinstanz dieses Gesetzes (dieden konkreten Anwendungsfall des Gesetzes beschreibt117) und einer wahren Konse-quensinstanz (die das zu erklärende Ereignis beschreibt).

Wir betrachten im Folgenden fast nur einfache deduktiv-nomologische Erklärungen (sowie auch

später nur einfache deduktiv-nomologische Vorhersagen und Zurücksagen), um Hempels Grundidee

einer Erklärung (Vorhersage, Zurücksage) von Ereignissen zu verdeutlichen. Komplexe deduktiv-

nomologische Erklärungen (Vorhersagen, Zurücksagen) sind allerdings im Normalfall, so sei betont,

nicht viel schwieriger aufgebaut als einfache deduktiv-nomologische Erklärungen (Vorhersagen,

Zurücksagen). Während in einfachen deduktiv-nomologischen Erklärungen (Vorhersagen, Zurück-

sagen) die Prämissenmenge nur aus deterministischen Gesetzen und ihren Antezedens- sowie Kon-

sequensinstanzen besteht, kommen in komplexen deduktiv-nomologischen Erklärungen (Vorhersagen,

Zurücksagen) zusätzlich auch manchmal wahre mathematische Aussagesätze sowie manchmal analy-

tisch wahre Aussagesätze und oft sogenannte Bedeutungspostulate vor. Diese Postulate sind strikt uni-

verselle Sätze, die abstrakte, theoretische Prädikate (z.B. ›x agiert aggressiv gegen y‹) mit konkreten,

beobachtungssprachlichen Prädikaten (z.B. ›x schlägt y die Zähne ein‹) verknüpfen, beispielsweise so:

›Wann immer eine Person einer Person die Zähne einschlägt, dann agiert erstere gegen letztere aggres-

siv.‹. Praktisch betrachtet, müsste man offensichtliche Sätze wie diesen nicht unbedingt in eine deduk-

tiv-nomologische Erklärung (Vorhersage, Zurücksage) hineinschreiben, aber theoretisch ist ihre

Hinzufügung nützlich, um die logische Gültigkeit des jeweiligen Arguments, das als deduktiv-nomo-

logische Erklärung (Vorhersage, Zurücksage) intendiert ist, außer Zweifel zu stellen. (Wir machen

diese selbstverständlichen Hinzufügungen ohne weiteres Aufheben in Beispielen ab Seite 176.)

116 Dieser Allsatz ist falsch. Wasser — das bekannteste Gegenbeispiel — zieht sich beim Erwärmen von 0°C auf 3,98 °C immer mehr zusammen, statt sich auszudehnen. Ähnliches gilt für einige Kunststoffe.117 Ein Ereignis, das durch eine Antezedensinstanz beschrieben wird, wird oft ›Antezedensbedingung‹oder ›Anfangsbedingung‹ oder ›Randbedingung‹ genannt; es sollte nicht — wie es leider manchmal sogarin der Fachliteratur geschieht — mit dem es beschreibenden Satz verwechselt werden.

170 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Defnitionsschema: Es gelte vereinbarungsgemäß:

A ist zu Zeit t eine deduktiv-nomologische Erklärung des Ereignisses e mittels der SätzeL1, L2, L3, …, Ln sowie der Sätze C1, C2, C3, …, Cm und E gdw die folgenden 6Bedingungen erfüllt sind:

(1) A ist ein logisch gültiges Argument mit den Prämissen L1, L2, L3, …, Ln sowieC1, C2, C3, …, Cm und mit der Konklusion E;(2) für alle Argumente A’: wenn A’ aus A dadurch entsteht, dass man mindestenseine Prämisse von A streicht, dann ist A’ logisch ungültig;118

(3) L1, L2, L3, …, Ln sind deterministische Gesetze;(4) C1, C2, C3, …, Cm, sind wahre Antezedensinstanzen von L1, L2, L3, … , Ln;(5) E beschreibt e;(6) e hat früher als zu Zeit t stattgefunden119, aber nicht früher als irgendeines derdurch C1, C2, C3, …, Cm beschriebenen Ereignisse120.

Beispiel: Das folgende Argument ist, sofern alle seine Prämissen wahr sind, nach dem16.3.2002 10 Uhr 52 eine deduktiv-nomologische Erklärung des Ereignisses, dass Hansam 16.3.2002 um 10 Uhr 52 appetitlos ist, und zwar mittels der folgenden Aussagesätze(S1), (S2) und (S3):

(S1) Für alle Menschen x und in Minuten gemessenen Zeitstrecken t gilt: wenn x zut äußerst erschöpft ist, dann ist x zu t appetitlos.(S2) Hans ist am 16.3.2002 um 10 Uhr 52 äußerst erschöpft.Daher: (S3) Hans ist am 16.3.2002 um 10 Uhr 52 appetitlos.

Unser obiges, sorgfältig ausformuliertes Prädikat ›A ist zu Zeit t eine deduktiv-nomologi-sche Erklärung des Ereignisses e mittels der Sätze L1, L2, L3, …, Ln sowie der Sätze C1,C2, C3, …, Cm und E ‹ hat ungewöhnlich viele Stellen, nämlich nicht weniger als n+m+4Stellen. Im üblichen Sprachgebrauch verwendet man das Wort ›deduktiv-nomologischeErklärung‹ mit bloß drei oder zwei Stellen oder nur einer Stelle. Diese handlicheren Prä-dikate lassen sich auf der Basis des obigen Defnitionsschemas nun leicht wie folgt def-nieren:

A ist zu t eine deduktiv-nomologische Erklärung von e gdw es m, n und E gibt derart,dass A zu Zeit t eine deduktiv-nomologische Erklärung des Ereignisses e mittels derSätze L1, L2, L3, …, Ln sowie C1, C2, C3, …, Cm und E ist.

A ist eine deduktiv-nomologische Erklärung von e gdw es mindestens einen Zeitbereich tgibt derart, dass A zu t eine deduktiv-nomologische Erklärung von e ist.

A ist eine deduktiv-nomologische Erklärung gdw es mindestens ein Ereignis e gibt derart,dass A eine deduktiv-nomologische Erklärung von e ist.

Das durch die Konklusion einer deduktiv-nomologischen Erklärung beschriebene Ereig-nis nennt man üblicherweise ›das Explanatum‹ (›das erklärte Ereignis‹). Genauer seigesagt:

118 Diese Bedingung stellt (fast) sicher, dass in A keine überfüssigen Prämissen vorkommen.119 Ansonsten wäre ja E ein Satz, der vorhersagt, dass e erst in der Zukunft eintreten wird.120 Ansonsten wäre ja E ein Satz, der durch Rückgriff auf Ereignisse, die nach e geschehen sind, zurück-sagt, dass e vor diesen Ereignissen stattgefunden hat. Doch ein Ereignis e kann nur durch Rückgriff aufEreignisse erklärt werden, die vor e oder zumindest nicht später als e stattgefunden haben.

2014 7 ERKLÄRUNG, VORHERSAGE, ZURÜCKSAGE 171

e ist identisch mit dem Explanatum von A, wenn A eine einfache deduktiv-nomologi-sche Erklärung von e ist.

Die Gesamtheit der Prämissen einer deduktiv-nomologischen Erklärung nennt man oft›das Explanans‹ (›die erklärenden Sätze‹). Das Explanans umfasst also im einfachstenFall die Gesetze und ihre Antezedensinstanzen. Genauer:

S ist identisch mit dem Explanans von A, wenn A eine deduktiv-nomologische Erklärungist und S identisch mit der Menge der Prämissen von A ist.

Sofern die Prämissen des folgenden Argumentes

(S1) Für alle Menschen x und in Minuten gemessenen Zeitstrecken t gilt: wenn x zut äußerst erschöpft ist, dann ist x zu t appetitlos.(S2) Hans ist am 16.3.2002 um 10 Uhr 52 äußerst erschöpft.Daher: (S3) Hans ist am 16.3.2002 um 10 Uhr 52 appetitlos.

wahr sind, dann ist dieses Argument also derzeit eine deduktiv-nomologische Erklärungdafür, dass Hans am 16.3.2002 um 10 Uhr 52 appetitlos war. Das Explanans dieserdeduktiv-nomologischen Erklärung besteht aus den beiden Sätzen (S1) und (S2), dasExplanatum aus der erklärten Tatsache, dass nämlich Hans am 16.3.2002 um 10 Uhr 52appetitlos war.

7.1.2 POTENTIELLE DEDUKTIV-NOMOLOGISCHE ERKLÄRUNG VON EREIGNISSEN

Ob ein Argument tatsächlich eine deduktiv-nomologische Erklärung ist, wissen wir niemit Sicherheit, weil wir nie mit Sicherheit wissen, ob alle seine Prämissen wahr sind. Esist deshalb üblich und zweckmäßig, von Erklärungen die Erklärungsversuche zu unter-scheiden, das heißt hier: einen Unterschied zu machen zwischen den deduktiv-nomo-logischen Erklärungen einerseits und den potentiellen deduktiv-nomologischen Erklä-rungen anderseits. Im folgenden Defnitionsschema wird durch Hinzufügungen in ecki-gen Klammern hervorgehoben, wo es zu keinen Änderungen und wo es zu Änderungenim Vergleich zum Defnitionsschema auf Seite 170 gekommen ist.

Defnitionsschema: Es gelte vereinbarungsgemäß:

A ist zu Zeit t eine potentielle deduktiv-nomologische Erklärung des Ereignisses emittels der Sätze L1, L2, L3, …, Ln sowie der Sätze C1, C2, C3, …, Cm und E bezüglichder Menschengruppe M gdw die folgenden 7 Bedingungen erfüllt sind:

(1) A ist ein logisch gültiges Argument mit den Prämissen L1, L2, L3, …, Ln sowieC1, C2, C3, …, Cm und mit der Konklusion E; [WIE GEHABT]

(2) für alle Argumente A’: wenn A’ aus A dadurch entsteht, dass man mindestenseine Prämisse von A streicht, dann ist A’ logisch ungültig; [WIE GEHABT]

(3) die Konjunktion der Prämissen von A ist weder logisch falsch noch analytischfalsch; [NEU HINZUGEKOMMENE BEDINGUNG!]

(4) L1, L2, L3, …, Ln sind Allimplikationen, die zu Zeit t in der Menschengruppe Mals Gesetze gelten;121 [ÄNDERUNG!]

(5) C1, C2, C3, …, Cm sind Antezedensinstanzen von L1, L2, L3, … , Ln, und allediese Antezedensinstanzen gelten zu Zeit t in der Menschengruppe M als wahr;[ÄNDERUNG!]

121 Mit anderen Worten: die Allimplikationen L1, L2, L3, …, Ln werden zu Zeit t von den Mitgliedern derGruppe M für erfahrungswissenschaftliche Gesetze gehalten.

172 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

(6) E gilt zu Zeit t in der Menschengruppe M als eine wahre Beschreibung desEreignisses e; [ÄNDERUNG!]

(7) die Menschengruppe M hält es zu Zeit t für wahr, dass e früher als zu Zeit tstattgefunden hat, aber nicht früher als irgendeines der durch C1, C2, C3, …, Cmbeschriebenen Ereignisse. [ÄNDERUNG!]

Beispiel: Das folgende Argument ist etwa am 1.6.2006 bezüglich jeder Menschengruppe,welche die drei im Argument vorkommenden Sätze an diesem Tag für wahr hält, einemittels eben dieser drei Sätze erbrachte potentielle deduktiv-nomologische Erklärung desEreignisses, dass Hans am 16.3.2002 um 10 Uhr 52 appetitlos war:

Für alle Menschen x und in Minuten gemessenen Zeitstrecken t gilt: wenn x zu täußerst erschöpft ist, dann ist x zu t appetitlos. Hans ist am 16.3.2002 um 10 Uhr52 äußerst erschöpft. Daher: Hans ist am 16.3.2002 um 10 Uhr 52 appetitlos.

Wieder hat unser defniertes Prädikat ungewöhnlich viele Stellen, nämlich nicht wenigerals n+m+5 Stellen. Im üblichen Sprachgebrauch verwendet man das Wort ›potentielleeinfache deduktiv-nomologische Erklärung‹ jedoch mit bloß vier, drei oder zwei Stellenoder mit nur einer Stelle. Diese handlicheren Prädikate lassen sich auf der Basis unseresobigen Defnitionsschemas nun wieder leicht defnieren. Wir begnügen uns hier mit dendrei folgenden stipulativen Defnitionen.

Es gelte vereinbarungsgemäß:

A ist zu t eine potentielle deduktiv-nomologische Erklärung von e bezüglich M gdw es m,n und E gibt derart, dass A zu Zeit t eine potentielle deduktiv-nomologische Erklärungdes Ereignisses e mittels der Sätze L1, L2, L3, …, Ln sowie C1, C2, C3, …, Cm und Ebezüglich der Menschengruppe M ist.

A ist eine potentielle deduktiv-nomologische Erklärung von e gdw es mindestens einenZeitbereich t und mindestens eine Menschengruppe M gibt derart, dass A zu t eine poten-tielle deduktiv-nomologische Erklärung von e bezüglich M ist.

A ist eine potentielle deduktiv-nomologische Erklärung gdw es mindestens ein Ereignis egibt derart, dass A eine potentielle deduktiv-nomologische Erklärung von e ist.

Zusammenhänge:

—— Ist ein Argument logisch ungültig, dann ist es weder eine potentielle deduktiv-no-mologische Erklärung noch eine deduktiv-nomologische Erklärung.

—— Enthält ein Argument mindestens eine überfüssige Prämisse, dann ist es weder einepotentielle deduktiv-nomologische Erklärung noch eine deduktiv-nomologische Erklä-rung.

—— Ist die Prämissenkonjunktion eines Argumentes logisch oder analytisch falsch, dannist es weder eine potentielle deduktiv-nomologische Erklärung noch eine deduktiv-nomo-logische Erklärung.

— — Enthält ein Argument keine Allimplikationen, dann ist es weder eine potentiellededuktiv-nomologische Erklärung noch eine deduktiv-nomologische Erklärung.

—— Enthält ein Argument keine Antezedensinstanzen von in ihm vorkommenden All-implikationen, dann ist es weder eine potentielle deduktiv-nomologische Erklärung nocheine deduktiv-nomologische Erklärung.

2014 7 ERKLÄRUNG, VORHERSAGE, ZURÜCKSAGE 173

Es gilt jedoch nicht:

Ist ein Argument eine deduktiv-nomologische Erklärung, dann ist es auch eine potentiellededuktiv-nomologische Erklärung.

Denn es ist wegen der menschlichen Fehlbarkeit faktisch möglich, dass zwar eine deduk-tiv-nomologische Erklärung vorliegt, aber keine einzige Menschengruppe alle in der Er-klärung vorkommenden Sätze für wahr hält.

Noch gilt:

Ist ein Argument eine potentielle deduktiv-nomologische Erklärung, dann ist es auch einededuktiv-nomologische Erklärung.

Denn wieder ist es wegen der menschlichen Fehlbarkeit faktisch möglich, ja hochwahr-scheinlich, dass so manches Argument vorliegt, das zwar alle sieben Bedingungen, die aneine potentielle deduktiv-nomologische Erklärung gestellt werden, erfüllt, das aber trotz-dem mindestens einen falschen Satz enthält und somit keine deduktiv-nomologische Er-klärung ist.

7.1.3 DEDUKTIVE ERKLÄRUNG VON STRIKTEN REGEL- ODER GESETZMÄSSIGKEITEN

Die meisten Laien und Wissenschaftler sind zweifellos an der Erklärung von Ereignisseninteressiert, doch was fast alle Wissenschaftler — im Gegensatz zu den Laien — in er-kenntnismäßiger Hinsicht besonders anstreben, sind nicht Erklärungen von Ereignissen,sondern Erklärungen von Regel- oder Gesetzmäßigkeiten.122 In der Physik ist man nor-malerweise bei weitem weniger daran interessiert zu erklären, warum ein bestimmtesKupferstück sich zu der und der Zeit ausgedehnt hat, als vielmehr daran, warum sich alleKupferstücke bei Erwärmung ausdehnen. In der Botanik ist man beispielsweise beiweitem weniger daran interessiert zu erklären, warum ein bestimmter Tümpel sich zu derund der Zeit bei der und der Temperatur und der und der Lichtstärke grün gefärbt hat, alsvielmehr daran, warum sich alle Tümpel bei einer gewissen Temperatur und einer gewis-sen Lichtstärke in einem gewissen Zeitraum grün färben. In der Physiologie ist man übli-cherweise bei weitem weniger daran interessiert zu erklären, warum ein bestimmterMensch zu einer bestimmten Zeit die Symptomatik Nageleinriss, Hautekzeme, Haaraus-fall, Tagesmüdigkeit und Infektionsanfälligkeit gezeigt hat, als vielmehr daran, warumalle Menschen mit extremem Zinkmangel diese Symptomatik aufweisen. Und in derPsychologie ist man etwa bei weitem weniger daran interessiert zu erklären, warum einbestimmter Mensch zu einer bestimmten Zeit Aggression zeigte, als vielmehr daran,warum fast alle Menschen, die weder schwer depressiv noch medikamentös ruhig gestelltsind, Aggression zeigen, wenn sie frustriert werden. Fast alle Wissenschaftler suchenweniger nach der Erklärung von Ereignissen, sondern viel mehr nach der Erklärung vonGesetzmäßigkeiten. Was versteht man nun unter ›deduktive Erklärung einer [strikten]Gesetzmäßigkeit‹? Im Grunde dieses:

Defnitionsschema: Es gelte vereinbarungsgemäß:

A ist eine deduktive Erklärung der [strikten] Gesetzmäßigkeit g mittels der Sätze L1, L2,L3, …, Ln sowie der Sätze B1, B2, B3, …, Br, und G gdw die folgenden 6 Bedingungenerfüllt sind:

122 Gesetzmäßigkeiten können strikt sein (in diesem Fall werden sie durch deterministische Gesetzeangegeben) oder sie können nicht strikt sein (in diesem Fall werden sie durch statistische Gesetze an-gegeben). Hier seien nur die strikten Gesetzmäßigkeiten betrachtet.

174 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

(1) A ist ein logisch gültiges Argument mit den Prämissen L1, L2, L3, …, Ln sowieallenfalls B1, B2, B3, …, Br und mit der Konklusion G; (2) für alle Argumente A’: wenn A’ aus A dadurch entsteht, dass man mindestenseine Prämisse von A streicht, dann ist A’ logisch ungültig;(3) G ist weder mit der gesamten Prämissenkonjunktion von A noch mit irgend-einem Teil der Prämissenkonjunktion von A logisch äquivalent;(4) L1, L2, L3, …, Ln sind deterministische Gesetze;(5) B1, B2, B3, …, Br sind mathematische oder analytisch wahre Sätze;(6) G ist ein deterministisches Gesetz, das die Gesetzmäßigkeit g beschreibt.

Beispiel: Das folgende Argument ist, sofern seine ersten drei Prämissen Gesetze sind,eine deduktive Erklärung der Gesetzmäßigkeit, dass jeder Mensch, der äußerst erschöpftist, keinen Appetit hat. In diesem Beispiel kommt nur ein (zudem höchst trivialer) analy-tisch wahrer Satz vor, nämlich (S4).

(S1) Jeder Mensch, der äußerst erschöpft ist, hat keine Zwölffngerdarmkontrak-tionen. (S2) Jeder Mensch, der keine Zwölffngerdarmkontraktionen hat, erhält aus seinem Organismus keine Hungersignale ans Hirn. (S3) Jeder Mensch, der aus seinem Organismus keine Hungersignale ans Hirn er-hält, ist appetitlos. (S4) Jeder Mensch, der appetitlos ist, hat keinen Appetit. Daher: (S5) Jeder Mensch, der äußerst erschöpft ist, hat keinen Appetit.

Es ist typisch für die wissenschaftliche Forschung, dass sie, wenn es ihr gelungen ist,eine deduktive Erklärung einer Gesetzmäßigkeit zu liefern, bald zu fragen beginnt, wa-rum die Gesetze, die in der deduktiven Erklärung der Gesetzmäßigkeit als Prämissenherangezogen wurden, selber gelten. Mit anderen Worten, die Wissenschaftler beginnennun, deduktive Erklärungen für jene Gesetze zu suchen, die sie als Prämissen in derjeweiligen deduktiven Erklärung von Gesetzmäßigkeiten verwendet haben. Auf dieseWeise entsteht eine Argumentshierarchie, und zwar eine Hierarchie deduktiver Erklä-rungen von Gesetzmäßigkeiten.

Für unser Beispiel würde dies bedeuten, dass sich die Forschung den folgendenFragen zuwenden wird:

Bezüglich (S1): Warum haben alle äußerst erschöpften Menschen keine Zwölf-fngerdarmkontraktionen?Bezüglich (S2): Warum erhält das Hirn eines Menschen, der keine Zwölffnger-darmkontraktionen hat, keine Hungersignale?Bezüglich (S3): Warum ist ein Mensch appetitlos, wenn sein Hirn keine Hunger-signale aus dem Darmbereich erhält?

Die Antworten auf diese Fragen bestehen in deduktiven Erklärungen dieser Gesetzmä-ßigkeiten.

7.1.4 SÄTZE ALS DEDUKTIV-NOMOLOGISCHE ERKLÄRUNGEN VON EREIGNISSEN

Gemäß der klassischen Theorie der Erklärung sind Erklärungen nicht Aussagesätze, son-dern Argumente. Gemäß alltäglichem und auch wissenschaftlichem Sprachgebrauch sagtman jedoch nicht nur von bestimmten Argumenten, sondern auch von bestimmten Aus-sagesätzen, sie seien Erklärungen. So würde man z.B. im alltäglichen und auch im wis-senschaftlichen Sprachgebrauch sagen, das Gesetz ›Für alle Menschen x und Zeitpunkte t

2014 7 ERKLÄRUNG, VORHERSAGE, ZURÜCKSAGE 175

gilt: wenn x zu t äußerst erschöpft ist, dann ist x zu t appetitlos.‹ und der singuläre Satz›Hans war am 16.3.2002 um 10 Uhr 52 äußerst erschöpft.‹ bilden zusammen eine Erklä-rung dafür, dass Hans am 16.3.2002 um 10 Uhr 52 appetitlos war.

Dieser Fall ist ähnlich dem der logischen und der umgangssprachlichen Verwen-dungsweise des Wortes ›Argument‹: gemäß der logischen Verwendungsweise sind Argu-mente Satzreihen, bestehend aus Prämissen und Konklusion, gemäß der umgangssprach-lichen Verwendungsweise sind Argumente Prämissen in solchen Satzreihen. Was dieVerwendungsweisen des Wortes ›Erklärung‹ angeht, so sind gemäß der herkömmlichenwissenschaftstheoretischen Verwendungsweise Erklärungen spezielle Argumente, gemäßder umgangssprachlichen Verwendungsweise sind Erklärungen Aussagesätze, die sich alsPrämissen von Erklärungen im herkömmlichen wissenschaftstheoretischen Sinn des Wor-tes auffassen lassen. Kurz: in der Umgangssprache und im wissenschaftlichen Sprach-gebrauch bedeutet ›Erklärung‹ ungefähr soviel wie ›Explanans‹.123

Wir können den genauen Zusammenhang zwischen beiden Verwendungsweisen desWortes ›Erklärung‹ durch folgendes zusätzliche Defnitionsschema leicht herstellen:

Die Aussagesätze L1, L2, L3, …, Ln, C1, C2, C3, …, Cm bilden zusammen zu Zeit teine deduktiv-nomologische Erklärung für das Ereignis e gdw gilt: das mit derSatzreihe

L1, L2, L3, …, Ln, C1, C2, C3, …, Cm Daher: E

identische Argument ist zu Zeit t eine deduktiv-nomologische Erklärung des Ereignissese mittels der Sätze L1, L2, L3, …, Ln sowie C1, C2, C3, …, Cm und E.

7.1.5 DEDUKTIV-NOMOLOGISCHE VORHERSAGE VON EREIGNISSEN

Defnitionsschema: Es gelte vereinbarungsgemäß:

A ist zu Zeit t eine deduktiv-nomologische Vorhersage des Ereignisses e mittels derSätze L1, L2, L3, …, Ln sowie der Sätze C1, C2, C3, …, Cm und E gdw die folgenden 6Bedingungen erfüllt sind:

(1) A ist ein logisch gültiges Argument mit den Prämissen L1, L2, L3, …, Ln sowieC1, C2, C3, …, Cm und mit der Konklusion E;(2) für alle Argumente A’: wenn A’ aus A dadurch entsteht, dass man mindestenseine Prämisse von A streicht, dann ist A’ logisch ungültig;(3) L1, L2, L3, …, Ln sind deterministische Gesetze;(4) C1, C2, C3, …, Cm sind wahre Antezedensinstanzen von L1, L2, L3, … , Ln;(5) E beschreibt e;(6) e hat zu Zeit t noch nicht stattgefunden124 und die durch C1, C2, C3, …, Cmbeschriebenen Ereignisse haben früher als zu Zeit t stattgefunden.125

123 Bloß ungefähr, denn erstens gibt es auch Erklärungen, die nicht deduktiv-nomologisch sind, undzweitens fehlen in den meisten laienhaften Erklärungen die Gesetze: sie werden schlicht und einfach nichterwähnt, sondern stillschweigend vorausgesetzt. So sieht eine umgangssprachliche Erklärung dafür, dassMax Moll am 18.6.2005 um circa 09:20 gestorben ist, zum Beispiel so aus: ›Max Moll hat am 18.6.2005um 09:16 10 Gramm Zyankali zu sich genommen.‹. Es wird also nur auf die einschlägige Randbedingungverwiesen, das einschlägige deterministische Gesetz muss man sich dazu denken, etwa: ›Alle Menschen,die 10 Gramm Zyankali zu sich nehmen, sterben innerhalb von 5 Minuten.‹.124 Das ist der erste Unterschied zur deduktiv-nomologischen Erklärung.125 Woraus folgt: e trifft später (und nicht bloß nicht früher) als irgendeines der durch C1, C2, C3, …, Cmbeschriebenen Ereignisse ein. Das ist der zweite Unterschied zur deduktiv-nomologischen Erklärung.

176 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Beispiel: Jedes Argument, das mit dem folgenden Argument gestaltgleich ist und am1.5.2002 nach erfolgtem Schlaganfall sowie vor dem 2.5.2002 vorgebracht wurde, ist,sofern seine Prämissen wahr sind, bis zum Beginn des 2.5.2002 eine mittels der Sätze(S1), (S2) und (S3) erbrachte deduktiv-nomologische Vorhersage des Ereignisses, dassHans am 2.5.2002 arbeitsunfähig sein wird:

(S1) Für alle Menschen x und Tage t gilt: wenn x am Tag t einen Schlaganfall erlei-det, dann ist x am Tag t+1 arbeitsunfähig.(S2) Hans erleidet am 1.5.2002 einen Schlaganfall [und 1.5.2002 + 1 = 2.5.2002].Daher: (S3) Hans ist am 2.5.2002 arbeitsunfähig.

Jedes Argument, das mit dem obigen Argument gestaltgleich ist, ist, sofern seine Prä-missen wahr sind, nach dem 2.5.2002 eine ebenfalls mittels der Sätze (S1), (S2) und(S3) erbrachte deduktiv-nomologische Erklärung dafür, dass Hans am 2.5.2002 arbeits-unfähig war.

Kürzere Prädikate (gewonnen in der nun schon vertrauten Abfolge und Art):

A ist zu t eine deduktiv-nomologische Vorhersage von e gdw es m, n und E gibt derart,dass A zu Zeit t eine deduktiv-nomologische Vorhersage des Ereignisses e mittels derSätze L1, L2, L3, …, Ln sowie C1, C2, C3, …, Cm und E ist.

A ist eine deduktiv-nomologische Vorhersage von e gdw es mindestens einen Zeitbereicht gibt derart, dass A zu t eine deduktiv-nomologische Vorhersage von e ist.

A ist eine deduktiv-nomologische Vorhersage gdw es mindestens ein Ereignis e gibt der-art, dass A eine deduktiv-nomologische Vorhersage von e ist.

Wie das obige Beispiel nahelegt, gilt ganz offensichtlich für alle A, t und e: Wenn A zu teine deduktiv-nomologische Vorhersage von e ist, dann gibt es genau einen Zeitpunkt t’(nämlich den Zeitpunkt des Eintretens von e), sodass für alle Zeitpunkte t* nach t’ gilt: Aist zu t* eine deduktiv-nomologische Erklärung von e. Kurz: Jede deduktiv-nomologische Vorhersage wird nach dem Eintreten des vorher-gesagten Ereignisses zu einer deduktiv-nomologischen Erklärung dieses Ereignisses.

Kein Argument, das die Gestalt des folgenden Argumentes hat, ist jedoch, auch wenn alleseine Prämissen wahr sind, zu irgendeiner Zeit eine deduktiv-nomologische Vorhersagedes Ereignisses, dass Hans am 16.3.2002 um 10 Uhr 52 appetitlos ist:

Für alle Menschen x und in Minuten gemessenen Zeitstrecken t gilt: wenn x zu täußerst erschöpft ist, dann ist x zu t appetitlos.Hans ist am 16.3.2002 um 10 Uhr 52 äußerst erschöpft.Daher: Hans ist am 16.3.2002 um 10 Uhr 52 appetitlos.

Denn das in diesen Argumenten verwendete Gesetz ist ein sogenanntes ›Koexistenz-gesetz‹, das heißt ein Gesetz, das die Gleichzeitigkeit der durch den Wenn-Teil beschrie-benen Ereignisse mit den jeweiligen durch den Dann-Teil beschriebenen Ereignissenbehauptet. Das obige Gesetz behauptet, dass Appetitlosigkeit mit extremer Erschöpfungeinhergeht; es behauptet nicht, dass sich, nachdem sich extreme Erschöpfung eingestellthat, erst nach einer gewissen Zeit Appetitlosigkeit einstellt. Koexistenzgesetze erlaubenniemals Vorhersagen (wohl aber Erklärungen).

Gesetze, die behaupten, dass immer wenn ein Ereignis A eintritt, vorher ein Ereig-nis B eingetreten ist oder später ein Ereignis B eintreten wird, heißen ›Sukzessions-gesetze‹. Damit ein Argument eine deduktiv-nomologische Vorhersage sein kann, muss

2014 7 ERKLÄRUNG, VORHERSAGE, ZURÜCKSAGE 177

es mindestens ein Sukzessionsgesetz enthalten und in jenem Zeitraum vorgebracht wor-den sein, der zwischen dem Eintritt der Antezedensbedingungen und dem Eintreten desvorhergesagten Ereignisses liegt. Ein Argument, das an Gesetzen ausschließlich Ko-existenzgesetze enthält, kann keine deduktiv-nomologische Vorhersage sein, denn im Falleines Koexistenzgesetzes vergeht keine Zeit zwischen dem Eintritt des durch die Ante-zedensinstanz beschriebenen Ereignisses und dem Eintreten des durch die Konsequens-instanz beschriebenen Ereignisses, in der die Vorhersage gemacht werden könnte.

Terminologischer Hinweis: Statt ›deduktiv-nomologische Vorhersage‹ wird selbst in derFachliteratur oft auch kurz ›Vorhersage‹ verwendet. Man beachte, dass ›Vorhersage‹ imalltäglichen und auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch jedoch etwas anderes als›deduktiv-nomologische Vorhersage‹ bedeutet. Gemäß alltäglichem und wissenschaftli-chem Sprachgebrauch bedeutet ›Vorhersage‹ ungefähr soviel wie ›Aussagesatz, der etwasüber die Zukunft besagt‹. So ein Aussagesatz kann die Konklusion eines deduktiv-nomo-logischen Vorhersage-Arguments sein, muss es aber nicht sein. Er kann ein molekularerBeobachtungssatz sein, muss es aber nicht sein. Insbesondere kann er ein Wenn-dann-Satz sein, wie es die folgenden zwei Beispielsätze sind:

(1) Wenn der weltweite Kohlendioxydausstoß sich bis 2040 nicht verringert, dannwird es spätestens bis 2100 zu einer weltweiten Klimakatastrophe kommen. (Be-dingte Vorhersage, gemacht im Jahr 2014)(2) Wenn der Iran das Projekt der Urananreicherung im Jahr 2015 weitertreibt,dann wird es spätestens 2018 zu kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem Irankommen. (Bedingte Vorhersage, gemacht im Jahr 2014)

Solche Wenn-dann-Sätze werden, wie in den obigen zwei Beispielen bereits in Klam-mern angemerkt, bisweilen ›bedingte Vorhersagen‹ genannt; sie sind im Alltag und inden Wissenschaften von großer Wichtigkeit und zeichnen sich inhaltlich dadurch aus,dass sowohl das durch den Wenn-Teil beschriebene Ereignis als auch das durch denDann-Teil beschriebene Ereignis in der Zukunft liegt, wobei dieses Ereignis normaler-weise in fernerer Zukunft liegt als jenes. Einige bedingte Vorhersagen lassen sich alsInstanzen von universellen Hypothesen auffassen, andere als Theoreme von wissen-schaftlichen Theorien; falls diese Hypothesen bzw. Theorien wahr sind, begründen siededuktiv die bedingten Vorhersagen, die aus ihnen logisch folgen. Solche bedingtenVorhersagen jedoch, die keine Theoreme hochbestätigter wissenschaftlicher Theoriensind, werden oft ›(reine) Spekulationen‹ oder ›unwissenschaftlich‹ genannt, da es wegenfehlender Theorie oder fehlenden Datenmaterials sehr unsicher ist, ob sie wahr sind;nichtsdestoweniger können sie sich natürlich als wahr herausstellen. Hier sei nur festge-halten, dass alle deduktiv-nomologischen Vorhersagen Argumente sind, während Vorher-sagen, seien sie nun bedingt oder unbedingt, Aussagesätze sind.

Wer (erfahrungsgemäß zurecht) fürchtet, dass der Terminus ›deduktiv-nomolo-gische Vorhersage‹ den Gesprächspartner oder Leser eher an Aussagen über zukünftigeEreignisse als an semantisch perfekte Argumente eines bestimmten Typs denken lässt,sollte besser statt ›deduktiv-nomologische Vorhersage‹ die etwas umständlicheren, aberMissverständnissen vorbeugenden Termini ›deduktiv-nomologisches Vorhersage-Argu-ment‹ oder ›deduktiv-nomologisches Prognose-Argument‹ verwenden. Ähnliches gilt fürdie Verwendung des wissenschaftstheoretischen Fachausdrucks ›deduktiv-nomologischeErklärung‹ gegenüber wissenschaftstheoretischen Laien: wer fürchtet, dass der Terminus›deduktiv-nomologische Erklärung‹ den Gesprächspartner oder Leser eher an erklärendeSätze als an semantisch perfekte Argumente eines bestimmten Typs denken lässt, sollte

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besser statt ›deduktiv-nomologische Erklärung‹ den etwas umständlicheren, aber Miss-verständnissen vorbeugenden Terminus ›deduktiv-nomologisches Erklärungsargument‹verwenden.

7.1.6 POTENTIELLE DEDUKTIV-NOMOLOGISCHE VORHERSAGE VON EREIGNISSEN

Was für die deduktiv-nomologischen Erklärungen gegolten hat, gilt auch für die deduk-tiv-nomologischen Vorhersagen: Ob ein gegebenes Argument tatsächlich eine deduktiv-nomologische Vorhersage ist, wissen wir nie mit Sicherheit, weil wir nie mit Sicherheitwissen, ob seine Prämissen und da insbesondere die verwendeten Allimplikationen wahrsind. Es ist deshalb üblich und zweckmäßig, einen Unterschied zu machen zwischen dendeduktiv-nomologischen Vorhersagen einerseits und den potentiellen deduktiv-nomo-logischen Vorhersagen anderseits.

Defnitionsschema: Es gelte vereinbarungsgemäß:

A ist zu Zeit t eine potentielle deduktiv-nomologische Vorhersage des Ereignisses emittels der Sätze L1, L2, L3, …, Ln sowie der Sätze C1, C2, C3, …, Cm und E bezüglichder Menschengruppe M gdw die folgenden 7 Bedingungen erfüllt sind:

(1) A ist ein logisch gültiges Argument mit den Prämissen L1, L2, L3, …, Ln sowieC1, C2, C3, …, Cm und mit der Konklusion E;(2) für alle Argumente A’: wenn A’ aus A dadurch entsteht, dass man mindestenseine Prämisse von A streicht, dann ist A’ logisch ungültig;(3) die Konjunktion der Prämissen von A ist weder logisch noch analytisch falsch;(4) L1, L2, L3, …, Ln sind Allimplikationen, die zu Zeit t in der Menschengruppe Mals Gesetze gelten;(5) C1, C2, C3, …, Cm sind die Antezedensinstanzen von L1, L2, L3, … , Ln, undalle diese Antezedensinstanzen gelten zu Zeit t in der Menschengruppe M als wahr;(6) E beschreibt e;(7) die Menschengruppe M hält es zu Zeit t für wahr, dass e später als zu Zeit tstattfnden wird und die durch C1, C2, C3, …, Cm beschriebenen Ereignisse früherals zu Zeit t stattgefunden haben.

Beispiel: Jedes Argument, das mit dem folgenden Argument gestaltgleich ist und am1.5.2002 nach erfolgtem Schlaganfall vorgebracht wurde, ist bis zum Beginn des2.5.2002 eine mittels der Sätze (S1), (S2) und (S3) erbrachte potentielle deduktiv-nomo-logische Vorhersage des Ereignisses, dass Hans am 2.5.2002 arbeitsunfähig ist, und zwarfür jede Menschengruppe M, welche die in den obigen Bedingungen (4), (5) und (7) ge-forderten Glaubensleistungen aufbringt:

(S1) Für alle Menschen x und Tage t gilt: wenn x am Tag t einen Schlaganfall er-leidet, dann ist x am Tag t+1 arbeitsunfähig.(S2) Hans erleidet am 1.5.2002 einen Schlaganfall [und 1.5.2002 + 1 = 2.5.2002].(S3) Daher: Hans ist am 2.5.2002 arbeitsunfähig.

Kürzere Prädikate ergeben sich ganz analog zu jenen, die im Abschnitt über potentiellededuktiv-nomologische Erklärungen aufgestellt wurden:

A ist zu t eine potentielle deduktiv-nomologische Vorhersage von e für M gdw es m, nund E gibt derart, dass A zu Zeit t eine potentielle deduktiv-nomologische Vorhersage desEreignisses e mittels der Sätze L1, L2, L3, …, Ln sowie C1, C2, C3, …, Cm und E bezüg-lich der Menschengruppe M ist.

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A ist eine potentielle deduktiv-nomologische Vorhersage von e gdw es mindestens einenZeitbereich t und mindestens eine Menschengruppe M gibt derart, dass A zu t eine poten-tielle deduktiv-nomologische Vorhersage von e für M ist.

A ist eine potentielle deduktiv-nomologische Vorhersage gdw es mindestens ein Ereignise gibt derart, dass A eine potentielle deduktiv-nomologische Erklärung von e ist.

Zusammenhänge:

— — Ist ein Argument logisch ungültig, dann ist es weder eine potentielle deduktiv-nomologische Vorhersage noch eine deduktiv-nomologische Vorhersage.

—— Enthält ein Argument mindestens eine überfüssige Prämisse, dann ist es weder einepotentielle deduktiv-nomologische Vorhersage noch eine deduktiv-nomologische Vor-hersage.

—— Ist die Prämissenkonjunktion eines Argumentes logisch oder analytisch falsch, dannist es weder eine potentielle deduktiv-nomologische Vorhersage noch eine deduktiv-nomologische Vorhersage.

— — Enthält ein Argument keine Allimplikationen, dann ist es weder eine potentiellededuktiv-nomologische Vorhersage noch eine deduktiv-nomologische Vorhersage.

—— Enthält ein Argument keine Antezedensinstanzen von in ihm vorkommenden All-implikationen, dann ist es weder eine potentielle deduktiv-nomologische Vorhersagenoch eine deduktiv-nomologische Vorhersage.

Es gilt jedoch nicht:

Ist ein Argument eine deduktiv-nomologische Vorhersage, dann ist es auch eine po-tentielle deduktiv-nomologische Vorhersage.

Denn es ist wegen der menschlichen Fehlbarkeit faktisch möglich, dass zwar eine deduk-tiv-nomologische Vorhersage vorliegt, aber keine Menschengruppe alle in dem Vorher-sage-Argument vorkommenden Sätze für wahr hält.

Noch gilt:

Ist ein Argument eine potentielle deduktiv-nomologische Vorhersage, dann ist es aucheine deduktiv-nomologische Vorhersage.

Denn wieder ist es wegen der menschlichen Fehlbarkeit faktisch möglich, ja hochwahr-scheinlich, dass zwar so manches Argument vorliegt, das alle sieben Bedingungen, die aneine potentielle deduktiv-nomologische Vorhersage gestellt werden, erfüllt, aber trotzdemmindestens einen falschen Satz enthält und somit keine deduktiv-nomologische Vor-hersage ist.

Man beachte: Während für deduktiv-nomologische Erklärungen und Vorhersagen gilt,dass das erklärte Ereignis eingetreten ist bzw. das vorhergesagte Ereignis eintreten wird,gilt dies für potentielle deduktiv-nomologische Erklärungen und Vorhersagen nicht. Dennzwar sind sowohl deduktiv-nomologische Erklärungen und Vorhersagen einerseits alsauch potentielle deduktiv-nomologische Erklärungen und Vorhersagen anderseits logischgültig, doch nur von den deduktiv-nomologischen Erklärungen und Vorhersagen istdefnitionsgemäß sichergestellt, dass alle ihre Prämissen wahr sind, während von denpotentiellen deduktiv-nomologischen Erklärungen und Vorhersagen bloß gefordert wird,dass die Konjunktion ihrer Prämissen weder logisch noch analytisch falsch ist und dassalle ihre Prämissen von der jeweiligen Menschengruppe für wahr gehalten werden; dieaber kann sich irren und in diesem Fall ist mindestens eine Prämisse falsch und somitmöglicherweise auch die Konklusion des jeweiligen potentiellen Erklärungs- oder Vor-

180 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

hersage-Argumentes. Mit anderen Worten, es ist möglich, dass die Konklusion einerpotentiellen deduktiv-nomologischen Erklärung oder einer potentiellen deduktiv-nomo-logischen Vorhersage falsch ist, da es ja möglich ist, dass mindestens eine der Prämissendes jeweiligen Argumentes falsch ist, obgleich sie für wahr gehalten wird. Zwar sindauch alle potentiellen deduktiv-nomologischen Erklärungen und Vorhersagen logischgültige Argumente, aber erinnern Sie sich: dass ein Argument logisch gültig ist, heißt janur, dass seine Konklusion wahr sein muss, sofern alle seine Prämissen wahr sind; esheißt nicht, dass seine Konklusion wahr sein muss, wenn nicht alle seine Prämissen wahrsind. Kurz: Während deduktiv-nomologische Erklärungen und Vorhersagen keine falscheKonklusion haben können, weil sie semantisch perfekt sind, kann jede potentielle deduk-tiv-nomologische Erklärung und Vorhersage eine falsche Konklusion haben, weil zwaralle potentiellen deduktiv-nomologischen Erklärungen und Vorhersagen logisch gültigeArgumente sind, aber falsche Prämissen haben können.

7.1.7 DEDUKTIV-NOMOLOGISCHE ZURÜCKSAGE (RETRODIKTION) VON EREIGNISSEN

Alle deduktiv-nomologischen Erklärungen haben mit allen deduktiv-nomologischenVorhersagen gemeinsam, dass sie semantisch perfekte Argumente sind und dass dasEreignis, das erklärt oder vorhergesagt wird, nicht vor den Antezedensbedingungeneintritt. Der Hauptunterschied zwischen deduktiv-nomologischen Erklärungen und Vor-hersagen besteht darin, dass eine deduktiv-nomologische Vorhersage eines Ereignissessolange keine deduktiv-nomologische Erklärung dieses Ereignisses sein kann, solange esnoch nicht eingetreten ist. Unmittelbar nach dem Eintreten des vorhergesagten Ereignis-ses wird jede deduktiv-nomologische Vorhersage dieses Ereignisses zur deduktiv-nomo-logischen Erklärung eben dieses Ereignisses.

Alle deduktiv-nomologischen Zurücksagen (Retrodiktionen) sind wie die deduktiv-nomologischen Erklärungen und Vorhersagen semantisch perfekte Argumente. DieEigenart der deduktiv-nomologischen Zurücksagen besteht nun darin, dass das Ereignis,das zurückgesagt (retrodiziert) wird, vor den Antezedensbedingungen eingetreten ist.M.a.W.: für die deduktiv-nomologischen Retrodiktionen ist es charakteristisch, dass diedurch die Antezedensinstanzen beschriebenen Ereignisse allesamt zeitlich nach demdurch die Konklusion beschriebenen Ereignis liegen. Keine deduktiv-nomologischeRetrodiktion kann deshalb eine deduktiv-nomologische Erklärung oder eine deduktiv-nomologische Vorhersage sein.

Defnitionsschema: Es gelte vereinbarungsgemäß:

A ist zu Zeit t eine deduktiv-nomologische Zurücksage des Ereignisses e mittels derSätze L1, L2, L3, …, Ln sowie der Sätze C1, C2, C3, …, Cm und E gdw die folgenden 6Bedingungen erfüllt sind:

(1) A ist ein logisch gültiges Argument mit den Prämissen L1, L2, L3, …, Ln sowieC1, C2, C3, …, Cm und mit der Konklusion E;(2) für alle Argumente A’: wenn A’ aus A dadurch entsteht, dass man mindestenseine Prämisse von A streicht, dann ist A’ logisch ungültig;(3) L1, L2, L3, …, Ln sind deterministische Gesetze;(4) C1, C2, C3, …, Cm, sind wahre Antezedensinstanzen von L1, L2, L3, … , Ln;(5) E beschreibt e;

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(6) e hat früher als jedes der durch C1, C2, C3, …, Cm beschriebenen Ereignissestattgefunden, und die durch C1, C2, C3, …, Cm beschriebenen Ereignisse habenfrüher als zu Zeit t stattgefunden.126

Beispiel: Das folgende Argument ist, sofern alle seine Prämissen wahr sind, derzeit einededuktiv-nomologische Zurücksage des Ereignisses, dass Friedrich Nietzsche sich we-nigstens 20 Jahre vor 1889 mit Syphilis infziert hat, mittels der Sätze (S1), (S2) und(S3):

(S1) Alle Menschen, die an progressiver Paralyse leiden, haben sich wenigstens 20Jahre vorher mit Syphilis infziert.(S2) Friedrich Nietzsche litt im Jahr 1889 an progressiver Paralyse.Daher: (S3) Friedrich Nietzsche hat sich wenigstens 20 Jahre vor 1889 mit Syphilisinfziert.

Beachten Sie insbesondere, dass das zu retrodizierende Ereignis, nämlich die Syphilis-infektion Nietzsches, früher als das Antezedens-Ereignis, nämlich Nietzsches Erkrankungan progressiver Paralyse, eingetreten ist und dass dieses Ereignis wiederum früher als dieNiederschrift des Retrodiktions-Argumentes stattgefunden hat (das fragliche Argumentist ja auf der Seite vor Ihnen entstanden, als es auf diese Seite ausgedruckt wurde, daswar zu einem Zeitpunkt nach 1889). Bei der Aufstellung eines Retrodiktions-Argumentesunterscheiden wir also drei Ereignisklassen in folgender zeitlicher Abfolge: als erstes dasin der Konklusion des Retrodiktions-Argumentes retrodizierte Ereignis (es liegt am wei-testen zurück); dann die Antezedens-Ereignisse (sie liegen weniger weit als das retrodi-zierte Ereignis zurück); und schließlich das Ereignis der Herstellung des Retrodiktions-Argumentes (es liegt am wenigstens weit zurück). Vom Aufsteller eines Retrodiktions-Argumentes aus betrachtet kommt zeitlich zunächst die Herstellung seines Argumentes,dann die Klasse der Antezedens-Ereignisse, schließlich das retrodizierte Ereignis: diesesliegt immer zeitlich am weitesten zurück.

Wir gewinnen wieder in gewohnter Weise wenigerstellige Retrodiktionsprädikate:

A ist zu t eine deduktiv-nomologische Zurücksage von e gdw es m, n und E gibt derart,dass A zu Zeit t eine deduktiv-nomologische Zurücksage des Ereignisses e mittels derSätze L1, L2, L3, …, Ln sowie C1, C2, C3, …, Cm und E ist.

A ist eine deduktiv-nomologische Zurücksage von e gdw es mindestens einen Zeitbereicht gibt derart, dass A zu t eine deduktiv-nomologische Zurücksage von e ist.

A ist eine deduktiv-nomologische Zurücksage gdw es mindestens ein Ereignis e gibt der-art, dass A eine deduktiv-nomologische Zurücksage von e ist.

7.1.8 POTENTIELLE DEDUKTIV-NOMOLOGISCHE ZURÜCKSAGE VON EREIGNISSEN

Was für die deduktiv-nomologischen Erklärungen und Vorhersagen gegolten hat, giltauch für die deduktiv-nomologischen Zurücksagen: Ob ein gegebenes Argument tat-sächlich eine deduktiv-nomologische Zurücksage ist, wissen wir nie mit Sicherheit, weilwir nie mit Sicherheit wissen, ob seine Prämissen und da insbesondere die verwendetenAllimplikationen wahr sind. Es ist deshalb üblich und zweckmäßig, einen Unterschied zumachen zwischen den deduktiv-nomologischen Zurücksagen und den potentiellen deduk-tiv-nomologischen Zurücksagen von Ereignissen.

126 Woraus folgt, dass auch e früher als zum Zeitpunkt t stattgefunden hat.

182 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Defnitionsschema: Es gelte vereinbarungsgemäß:

A ist zu Zeit t eine potentielle deduktiv-nomologische Zurücksage des Ereignisses emittels der Sätze L1, L2, L3, …, Ln sowie der Sätze C1, C2, C3, …, Cm und E bezüglichder Menschengruppe M gdw die folgenden 7 Bedingungen erfüllt sind:

(1) A ist ein logisch gültiges Argument mit den Prämissen L1, L2, L3, …, Ln sowieC1, C2, C3, …, Cm und mit der Konklusion E;(2) für alle Argumente A’: wenn A’ aus A dadurch entsteht, dass man mindestenseine Prämisse von A streicht, dann ist A’ logisch ungültig;(3) die Konjunktion der Prämissen von A ist weder logisch noch analytisch falsch;(4) L1, L2, L3, …, Ln sind Allimplikationen, die zu Zeit t in der Menschengruppe Mals Gesetze gelten;(5) C1, C2, C3, …, Cm sind die Antezedensinstanzen von L1, L2, L3, … , Ln, undalle diese Antezedensinstanzen gelten zu Zeit t in der Menschengruppe M als wahr;(6) E beschreibt e;(7) die Menschengruppe M hält es zu Zeit t für wahr, dass die durch C1, C2, C3, …,Cm beschriebenen Ereignisse vor t und später als e stattgefunden haben.

Beispiel: Jedes Argument, das mit dem folgenden Argument gestaltgleich ist, ist nachdem 14.6.2006 eine mittels der Sätze (S1), (S2) und (S3) erbrachte potentielle deduktiv-nomologische Zurücksage des Ereignisses, dass sich Melanie Matt zwischen dem 1. unddem 5.6.2006 mit Masernviren infziert hat, und zwar bezüglich jeder MenschengruppeM, welche die in den obigen Bedingungen (4), (5) und (7) geforderten Glaubensleistun-gen aufbringt:

(S1) Für alle Menschen x und Tage t gilt: wenn bei dem Menschen x am Tag t dieMasern ausbrechen, dann infzierte sich x zwischen t–13 und t–9 mit Masernviren.(S2) Bei Melanie Matt brachen am 14.6.2006 die Masern aus [und 14.6.2006 – 13= 1.6.2006 und 14.6.2006 – 9 = 5.6.2006].Daher: (S3) Melanie Matt hatte sich zwischen 1. und 5.6.2006 mit Masernvireninfziert.

Kürzere Prädikate:

A ist zu t eine potentielle deduktiv-nomologische Zurücksage von e für M gdw es m, nund E gibt derart, dass A zu Zeit t eine potentielle deduktiv-nomologische Zurücksagedes Ereignisses e mittels der Sätze L1, L2, L3, …, Ln sowie C1, C2, C3, …, Cm und Ebezüglich der Menschengruppe M ist.A ist eine potentielle deduktiv-nomologische Zurücksage von e gdw es mindestens einenZeitbereich t und mindestens eine Menschengruppe M gibt derart, dass A zu t eine poten-tielle deduktiv-nomologische Zurücksage von e für M ist.A ist eine potentielle deduktiv-nomologische Zurücksage gdw es mindestens ein Ereignise gibt derart, dass A eine potentielle deduktiv-nomologische Zurücksage von e ist.

Zusammenhänge:—— Ist ein Argument logisch ungültig, dann ist es weder eine potentielle deduktiv-no-mologische Zurücksage noch eine deduktiv-nomologische Zurücksage.—— Enthält ein Argument mindestens eine überfüssige Prämisse, dann ist es weder einepotentielle deduktiv-nomologische Zurücksage noch eine deduktiv-nomologische Zu-rücksage.

2014 7 ERKLÄRUNG, VORHERSAGE, ZURÜCKSAGE 183

—— Ist die Prämissenkonjunktion eines Argumentes logisch oder analytisch falsch, dannist es weder eine potentielle deduktiv-nomologische Zurücksage noch eine deduktiv-no-mologische Zurücksage.— — Enthält ein Argument keine Allimplikationen, dann ist es weder eine potentiellededuktiv-nomologische Zurücksage noch eine deduktiv-nomologische Zurücksage.—— Enthält ein Argument keine Antezedensinstanzen von in ihm vorkommenden All-implikationen, dann ist es weder eine potentielle deduktiv-nomologische Zurücksagenoch eine deduktiv-nomologische Zurücksage.

Es gilt jedoch nicht: Ist ein Argument eine deduktiv-nomologische Zurücksage, dann ist es auch eine po-tentielle deduktiv-nomologische Zurücksage. — Denn es ist wegen der menschlichenFehlbarkeit faktisch möglich, dass zwar eine deduktiv-nomologische Zurücksage vor-liegt, aber keine Menschengruppe alle in dem Zurücksage-Argument vorkommendenPrämissen für wahr hält.

Noch gilt:Ist ein Argument eine potentielle deduktiv-nomologische Zurücksage, dann ist es aucheine deduktiv-nomologische Zurücksage. — Denn wieder ist es wegen der menschlichenFehlbarkeit faktisch möglich, ja hochwahrscheinlich, dass zwar so manches Argumentvorliegt, das alle sieben Bedingungen, die an eine potentielle deduktiv-nomologischeZurücksage gestellt werden, erfüllt, aber trotzdem mindestens einen falschen Satz enthältund somit keine deduktiv-nomologische Zurücksage ist.

Man beachte wieder: Während für deduktiv-nomologische Zurücksagen gilt, dass daszurückgesagte Ereignis eingetreten ist, gilt dies für potentielle deduktiv-nomologischeZurücksagen nicht; es ist möglich, dass die Konklusion einer potentiellen deduktiv-no-mologischen Zurücksage falsch ist, denn es ist ja möglich, dass mindestens eine der Prä-missen des jeweiligen Argumentes falsch ist.

7.1.9 DEDUKTIV-NOMOLOGISCHE ERKLÄRUNG, VORHER- UND ZURÜCKSAGE IMVERGLEICH

Zunächst einige vergleichende Theoreme, dann ein schematischer Vergleich.

Vergleichende Theoreme:

Es gilt: Wenn ein Argument nur wahre Prämissen hat und zu Zeit t eine potentielle de-duktiv-nomologische Erklärung (Vorhersage, Zurücksage) des Ereignisses e ist, dann istes auch zu t eine deduktiv-nomologische Erklärung (Vorhersage, Zurücksage) von e.

Es gilt jedoch nicht (wegen der Fehlbarkeit der Menschen): Wenn ein Argument zu t einededuktiv-nomologische Erklärung (Vorhersage, Zurücksage) von e ist, dann ist es auchzu t eine potentielle deduktiv-nomologische Erklärung (Vorhersage, Zurücksage) diesesEreignisses.

Es gilt: Wenn ein Argument zu t eine deduktiv-nomologische Erklärung von e ist undwenn es erst nach dem Eintreten von e aufgestellt wurde, dann ist es zu keinem Zeitpunkteine deduktiv-nomologische Vorhersage von e.

Es gilt jedoch nicht: Wenn ein Argument zu t eine deduktiv-nomologische Erklärungeines Ereignisses ist, dann war es auch zu mindestens einem früheren Zeitpunkt als t einededuktiv-nomologische Vorhersage von e. Denn einerseits ist es möglich, dass das betref-fende Argument erst nach dem Eintreten von e aufgestellt worden ist, anderseits ist es

184 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

möglich, dass das betreffende Argument an Gesetzen ausschließlich Koexistenzgesetzeenthält.

Es gilt: Wenn ein Argument zu irgendeinem Zeitpunkt eine deduktiv-nomologischeZurücksage von e ist, dann ist es zu keinem Zeitpunkt eine deduktiv-nomologische Er-klärung oder Vorhersage von e. Und umgekehrt: Wenn ein Argument zu irgendeinemZeitpunkt eine deduktiv-nomologische Erklärung oder Vorhersage von e ist, dann ist eszu keinem Zeitpunkt eine deduktiv-nomologische Zurücksage von e. Denn e tritt beieiner deduktiv-nomologischen Zurücksage vor, bei einer deduktiv-nomologischen Erklä-rung oder Vorhersage nicht vor den Antezedensbedingungen ein.

Schematischer Vergleich

Es seien t1, t2 und t3 Zeitpunkte. Zeitpunkt t1 liege vor t2, Zeitpunkt t2 vor t3.

Deduktiv-nomologische Vorhersage und Erklärung

Schema (einfachster Fall):

Wenn A zu t1, dann B zu t3.A zu t1. Zu t2 Vorhersage.Daher: B zu t3. Nach t3 Erklärung.

Beispiel (a): (Vorhergesagt wird zu t2, dass Typhus zu t3 sein wird.)

Wenn Infektion zu t1, dann Typhus zu t3.Infektion war zu t1. Zu t2 gemacht.Daher: Typhus wird zu t3 sein.

Beispiel (b): (Erklärt wird nach t3, dass Typhus zu t3 war.)

Wenn Infektion zu t1, dann Typhus zu t3.Infektion war zu t1. Nach t3 gemacht.Daher: Typhus war zu t3.

Deduktiv-nomologische Zurücksage

Schema (einfachster Fall):

Wenn A zu t2, dann B zu t1.A zu t2. Zu t3 Zurücksage.Daher: B zu t1.

Beispiel: (Zurückgesagt wird zu t3, dass Infektion zu t1 gewesen war.)

Wenn Typhus zu t2, dann Infektion zu t1.Typhus war zu t2. Zu t3 gemacht.Daher: Infektion war zu t1 gewesen.

2014 7 ERKLÄRUNG, VORHERSAGE, ZURÜCKSAGE 185

7.2 INTENTIONALE ERKLÄRUNG UND VORHERSAGE

Unter dem Terminus ›intentionale Erklärungsargumente‹ (kurz: ›intentionale Erklä-rungen‹) versteht man, grob gesagt, solche Antworten auf die Frage ›Warum hat Lebe-wesen x die Handlung h ausgeführt?‹, in denen auf Ansichten und Absichten (Intentio-nen) von x Bezug genommen wird. Unter dem Terminus ›intentionale Vorhersage-Argu-mente‹ (kurz: ›intentionale Vorhersagen‹) versteht man, grob gesagt, solche Antwortenauf die Frage ›Wird Lebewesen x die Handlung h ausführen?‹, in denen auf Ansichtenund Absichten (Intentionen) von x Bezug genommen wird.

Intentionale Erklärungen und Vorhersagen werden vor allem (und zwar ganz „auto-matisch“) im Alltag verwendet und gelten daher bisweilen als vorwissenschaftlich; siekommen aber auch in Psychologie, Biologie und den Sozialwissenschaften einschließlichder Geschichtswissenschaft vor. Ob sie in den Wissenschaften besser vermieden werdensollten, ist strittig. Es scheint derzeit, dass eine Wissenschaft, die Durchführungen vonHandlungen (= zielgerichteten Verhaltensweisen) vorherzusagen und zu erklären bemühtist, auf Intentionen und Meinungen der Handelnden Bezug nehmen muss. Es kommt fürdie Wissenschaftlichkeit solcher Erklärungen und Vorhersagen allerdings darauf an, wannund mit welcher Zuverlässigkeit sich die Wissenschaftler in Kenntnis der einschlägigenAbsichten und Ansichten setzen.

Zunächst ein fktives Beispiel aus dem Alltag: Zu erklären sei im Juni 2006, warumRudi Räuber im Mai 2006 eine Bank überfallen hat. Unsere Antwort könnte lauten: WeilRudi bis Ende Mai wenigstens 100.000 Euro besitzen wollte, zudem glaubte, ein Bank-überfall sei dafür sehr förderlich, ferner glaubte, er sei in der Lage, einen Banküberfalldurchzuführen, und der Mai 2006 sei für dieses Vorhaben besonders geeignet, und weil erschließlich glaubte, dass der Banküberfall keines seiner übrigen wichtigen Lebenszieleernsthaft gefährden wird. Wir haben also eine Handlung von Rudi Räuber zu erklärenversucht, indem wir auf eine Absicht von Rudi und auf mehrere Ansichten von Rudi hin-gewiesen haben. Wären wir uns etwa schon im April 2006 über Rudis Absicht und ein-schlägige Ansichten klar gewesen, hätten wir mit diesem Wissen im April vorhersagenkönnen, dass Rudi im Mai eine Bank überfallen wird.

Unser Beispiel legt nahe, dass intentionale Erklärungen und Vorhersagen vonHandlungen Argumente sind, die unter das folgende Argumentschema fallen:

(1) Person x strebt das Ziel z an. (2) Person x glaubt, dass die Handlung h sehr förderlich für die Erreichung desZieles z ist.(3) Person x glaubt, dass sie in der Lage ist, die Handlung h durchzuführen, undzwar am günstigsten zu Zeit t.(4) Person x glaubt, dass die Durchführung der Handlung h die Erreichung keinesanderen Zieles z* ernsthaft gefährdet, dessen Erreichung der Person x mindestensso wichtig ist wie die Erreichung des Zieles z.(5) Daher: Person x hat die Handlung h zu Zeit t durchgeführt.Beziehungsweise:(5*) Daher: Person x wird die Handlung h zu Zeit t durchführen.

Formulieren wir nun unser Beispiel, diesem Schema folgend, als ein intentionales Erklä-rungsargument bzw. als ein intentionales Vorhersageargument aus:

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(1) Rudi Räuber strebte das Ziel an, bis Ende Mai 2006 wenigstens 100.000 Eurozu besitzen.(2) Rudi glaubte, dass ein Banküberfall sehr förderlich für die Erreichung seinesZieles ist.(3) Rudi glaubte, dass er in der Lage ist, einen Banküberfall durchzuführen, unddass der Mai 2006 eine besonders günstige Zeit dafür ist.(4) Rudi glaubte, dass die Durchführung des Banküberfalls die Erreichung keinesZieles ernsthaft gefährdet, dessen Erreichung ihm mindestens so wichtig ist wie dieErreichung des Zieles, bis Ende Mai 2006 wenigstens 100.000 Euro zu besitzen.(5) Daher: Rudi Räuber hat im Mai 2006 einen Banküberfall verübt.Beziehungsweise (wenn der Mai noch nicht zu Ende und der Banküberfall nochnicht verübt worden ist):(5*) Daher: Rudi Räuber wird im Mai 2006 einen Banküberfall verüben.

Zwei gewöhnlich als negativ beurteilte Punkte fallen am Schema und Beispiel auf.

Erstens: Das Schema für intentionale Erklärungen und Vorhersagen ist nicht lo-gisch gültig, jede Einsetzung in dieses Schema, also jedes intentionale Erklärungs- undVorhersage-Argument, ist ebenfalls logisch ungültig. Mit anderen Worten: Selbst wenn(wie wir stillschweigend vorausgesetzt haben) alle Prämissen unseres obigen Beispielsfür ein intentionales Erklärungs- bzw. Vorhersage-Argument wahr sind, ist dies keine Ga-rantie dafür, dass auch die Konklusion wahr ist. Insbesondere sei beachtet: Während dieKonklusion eines deduktiv-nomologischen Vorhersage-Argumentes wahr sein muss (weilja ein solches Argument defnitionsgemäß semantisch perfekt ist), kann die Konklusioneines intentionalen Vorhersage-Argumentes falsch sein, obwohl alle seine Prämissenwahr sind (weil ja ein intentionales Vorhersageargument stets logisch ungültig ist).

Zweitens: Nur die Konklusion eines intentionalen Erklärungs- oder Vorhersage-argumentes beschreibt etwas möglicherweise direkt Beobachtbares (nämlich die Durch-führung einer Handlung), die Prämissen hingegen beschreiben nichts direkt Beobacht-bares. Ab- und Ansichten einer Person müssen aus ihrem Verhalten oft mühsam erschlos-sen werden; sie kann keine Angaben oder bewusst falsche Angaben über ihre Ziele undMeinungen machen, weshalb es gewöhnlich schwierig ist, sich über das Zutreffen derPrämissen eines Argumentes klar zu werden, das als intentionales Erklärungs- oder Vor-hersage-Argument offeriert wird. Insbesondere sei beachtet: die Versuchung, von derWahrheit der Konklusion eines intentionalen Erklärungsargumentes auf die Wahrheit derPrämissen zu schließen, ist groß, wenn die Datenlage schlecht ist. Wer dieser Versuchungnachgibt, erklärt nicht, warum eine Person so und so gehandelt hat, sondern retrodiziertauf Grund der Tatsache, dass sie so und so gehandelt hat, dass sie die und die Ansichtenund die und die Absichten gehabt haben „muss“. Wenn etwa jemand von der Tatsache,dass Rudi Räuber im Mai 2006 einen Banküberfall verübt hat, darauf schließt, dass RudiRäuber die Absicht gehegt hatte, sich bis Ende Mai in den Besitz einer großen Geld-menge zu setzen, und der Ansicht war, er könne dies durch einen Banküberfall bewerk-stelligen, dann erklärt er uns nicht, warum es zu dem Banküberfall gekommen ist, son-dern er retrodiziert aus dem Banküberfall (auf nicht deduktiv-nomologische Weise), dassRudi Räuber vor dem Banküberfall ein bestimmtes Ziel verfolgt und bestimmte Ansich-ten darüber gehabt hatte, welche Mittel ihm zur Erreichung des Zieles dienlich seien. DieVerwechslung von intentionaler Erklärung einer Handlung mit der Retrodiktion der An-und Absichten, die zur Handlung geführt haben, ist ein schwerer methodologischer Feh-ler.

2014 7 ERKLÄRUNG, VORHERSAGE, ZURÜCKSAGE 187

Geben wir nun ein wenig genauer an, was unter den Termini ›intentionales Erklä-rungsargument‹ und ›intentionales Vorhersageargument‹ verstanden werden kann.

Zunächst drei Hilfsdefnitionen. Es gelte vereinbarungsgemäß:

Eine Handlung h ist notwendig für die Erreichung des Zieles z einer Person x gdw gilt:wenn x h niemals durchführt, dann erreicht x niemals z. — Wenn es z.B. das Ziel einerPerson x ist, die 100 Meter unter 10 Sekunden zu laufen, dann ist die Handlung, dasSprinten zu trainieren, notwendig für die Erreichung dieses Zieles von x, denn wenn xniemals das Sprinten trainiert, erreicht x niemals ihr Ziel, 100 Meter unter 10 Sekundenzu laufen.

Eine Handlung h ist hinreichend für die Erreichung des Zieles z einer Person x gdw gilt:immer wenn x h durchführt, dann erreicht x z. — Wenn es z.B. das Ziel einer Person x ist,ihren Pulsschlag zu erhöhen, dann ist die Handlung, 100 Meter unter 10 Sekunden zulaufen, hinreichend (aber keineswegs notwendig) für die Erreichung dieses Zieles von x,denn immer wenn x 100 Meter unter 10 Sekunden läuft, erhöht sich der Pulsschlag von xund erreicht x somit ihr Ziel, ihren Pulsschlag zu erhöhen.

Eine Handlung h ist sehr förderlich für die Erreichung des Zieles z einer Person xgdw gilt: die objektive Wahrscheinlichkeit, dass x z erreicht im Falle, dass x h durchführt,ist größer/gleich 0,99.127 — Wenn es z.B. das Ziel einer Person x ist, innerhalb von längs-tens 6 Stunden von Salzburg nach München zu kommen, dann ist die Handlung, miteinem Schnellzug von Salzburg nach München zu fahren, sehr förderlich (aber wedernotwendig noch hinreichend) für die Erreichung dieses Zieles von x, denn die objektiveWahrscheinlichkeit, dass x innerhalb von längstens 6 Stunden von Salzburg nach Mün-chen gelangt, im Falle, dass x einen Schnellzug von Salzburg nach München nimmt, istgrößer/gleich 0,99.

Defnition: Es gelte vereinbarungsgemäß:

A ist zu Zeit t3 eine intentionale Erklärung mittels der Sätze G1 bis G4 und D unterRückgriff auf Ziel z dafür, dass Person x die Handlung h zu Zeit t2 durchführt, gdw diefolgenden 7 Bedingungen erfüllt sind:

(1) A ist ein Argument mit den Prämissen G1 bis G4 und mit der Konklusion D;(2) t2 ist vor t3, und es gibt mindestens eine Zeitstrecke t1, so dass gilt: t2 ist End-punkt von t1, und:(3) G1 ist identisch mit: Person x strebt während t1 das Ziel z an.(4) G2 ist identisch mit: Person x glaubt während t1, dass die Handlung h notwen-dig oder hinreichend oder sehr förderlich für die Erreichung des Zieles z von x ist.(5) G3 ist identisch mit: Person x glaubt während t1, dass x in der Lage ist, dieHandlung h zu Zeit t2 durchzuführen, und dass t2 der günstigste Zeitpunkt für dieDurchführung von h ist.(6) G4 ist identisch mit: Person x glaubt während t1, dass die Durchführung derHandlung h die Erreichung keines anderen Zieles z* ernsthaft gefährdet, dessenErreichung der Person x mindestens so wichtig ist wie die Erreichung des Zieles z.(7) D ist identisch mit: Person x führt die Handlung h zu t2 durch.

127 Es gilt: Wenn Handlung h hinreichend für die Erreichung des Zieles z der Person x ist, dann ist h auchsehr förderlich für die Erreichung des Ziels z der Person x. Die Umkehrung gilt nicht.

188 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

Defnition: Es gelte vereinbarungsgemäß:

A ist zu Zeit t2 eine intentionale Vorhersage mittels der Sätze G1 bis G4 und D unterRückgriff auf Ziel z dafür, dass Person x die Handlung h zu Zeit t3 durchführt, gdw diefolgenden 7 Bedingungen erfüllt sind:

(1) A ist ein Argument mit den Prämissen G1 bis G4 und mit der Konklusion D;(2) t2 ist vor t3, und es gibt mindestens eine Zeitstrecke t1, so dass gilt: t3 ist End-punkt von t1, und:(3) G1 ist identisch mit: Person x strebt während t1 das Ziel z an.(4) G2 ist identisch mit: Person x glaubt während t1, dass die Handlung h notwen-dig oder hinreichend oder sehr förderlich für die Erreichung des Zieles z von x ist.(5) G3 ist identisch mit: Person x glaubt während t1, dass x in der Lage ist, dieHandlung h zu Zeit t3 durchzuführen, und dass t3 der günstigste Zeitpunkt für dieDurchführung von h ist.(6) G4 ist identisch mit: Person x glaubt während t1, dass die Durchführung derHandlung h die Erreichung keines anderen Zieles z* ernsthaft gefährdet, dessenErreichung der Person x mindestens so wichtig ist wie die Erreichung des Zieles z.(7) D ist identisch mit: Person x führt die Handlung h zu t3 durch.

Wie ausgeführt, sind die intentionalen Erklärungen und Vorhersagen zwar Argumente,aber im Gegensatz zu den deduktiv-nomologischen Erklärungen und Vorhersagen sindsie nicht logisch gültig. Das liegt hauptsächlich daran, dass intentionale Erklärungen undVorhersagen keine Allimplikationen enthalten. Damit erhebt sich die Frage: Lassen sichzumindest einige, vielleicht sogar alle intentionalen Erklärungen und Vorhersagen durchgeeignete Ergänzungen zu deduktiv-nomologischen Erklärungen und Vorhersagen um-formen? Die Antwort lautet ›höchstwahrscheinlich nein‹. Denn die Allimplikation, dieman benötigt, müsste ungefähr so wie diese aussehen und noch dazu wahr sein — wassie höchstwahrscheinlich nicht ist:

Für alle Personen x, Ziele z und Handlungen h gilt: Wenn x z anstrebt und wenn xglaubt, dass h notwendig oder hinreichend oder sehr förderlich für die Erreichungvon z ist, und wenn x glaubt, dass x in der Lage ist, h zu einem von x für am güns-tigsten gehaltenen Zeitpunkt durchzuführen, und wenn x glaubt, dass die Durchfüh-rung von h die Erreichung keines Zieles z* von x ernsthaft gefährdet, dessen Errei-chung x mindestens so wichtig ist wie die Erreichung von z, dann führt x h durch.

Die intentionalen Erklärungen und Vorhersagen lassen sich deshalb bestenfalls zu in-duktiv-statistischen Erklärungen und Vorhersagen umformen. Auf diesen (schwierigenund umstrittenen) Erklärungs- und Vorhersagetyp werden wir jedoch in dieser elemen-taren Vorlesung nicht mehr eingehen.

7.3 RELEVANZSTATISTISCHE ERKLÄRUNG

Eine Wissenschaft kann nur dann deduktiv-nomologische Erklärungen von Ereignissengeben, wenn sie über deterministische Gesetze verfügt. Außerhalb von Physik und Che-mie sind deterministische Gesetze allerdings unbekannt. Informative Allimplikationenkönnen natürlich in Biologie, Psychologie oder Soziologie formuliert werden, aber sieentpuppten sich bisher stets als falsch, sodass sie niemals den Rang eines determinis-tischen Gesetzes erhalten haben. In den Bio- und Sozialwissenschaften, aber auch in

2014 7 ERKLÄRUNG, VORHERSAGE, ZURÜCKSAGE 189

Physik und Chemie muss man sich normalerweise mit schwächeren Arten von Erklä-rungen begnügen. Die schwächste davon ist der Typ der relevanzstatistischen Erklärung.Mit einem Blick auf diesen Erklärungstyp, der im Kontrast zum stärksten Erklärungstypsteht, nämlich der deduktiv-nomologischen Erklärung, schließen wir dieses Kapitel ab.

Wir benötigen ein klein wenig wahrscheinlichkeitstheoretischen Jargon. Wir lesen›p(x ist H zu t)‹ als ›die (objektive) Wahrscheinlichkeit, dass das Objekt x die EigenschaftH zu Zeit t hat‹. Wir lesen ›p(x ist G zu t2, x ist F zu t1)‹ als ›die Wahrscheinlichkeit, dassdas Objekt x die Eigenschaft G zu Zeit t2 hat, gegeben den Fall, dass x die Eigenschaft Fzu Zeit t1 hat‹. Wir setzen stets voraus: 0 p(x ist F zu t1) 1.

Hilfsdefnition: Es gelte vereinbarungsgemäß:Die Eigenschaft F ist positiv statistisch relevant für die Eigenschaft G gdw gilt:p(x ist G zu t2, x ist F zu t1) ist größer als p(x ist G zu t2, x ist nicht F zu t1).

Beispiel: Die Eigenschaft, im Jahr 2001 täglich mehr als 5000 Kalorien zu sich ge-nommen zu haben, ist positiv statistisch relevant für die Eigenschaft, im Januar 2002Übergewicht zu haben, denn die Wahrscheinlichkeit, im Januar 2002 Übergewicht zuhaben, gegeben den Fall, dass man im Jahr 2001 täglich mehr als 5000 Kalorien zu sichgenommen hat, ist größer als die Wahrscheinlichkeit, im Januar 2002 Übergewicht zuhaben, gegeben den Fall, dass man im Jahr 2001 nicht täglich mehr als 5000 Kalorien zusich genommen hat. In ähnlicher Weise sagt man etwa, dass Rauchen (die Eigenschaft,Tabak zu rauchen) positiv statistisch relevant für Krebs ist (für die Eigenschaft, an Krebszu erkranken); oder dass Bluthochdruck positiv statistisch relevant für Herzinfarkt ist;oder dass Abendrot positiv statistisch relevant für Schönwetter ist. Dieses letzte Beispielmacht uns darauf aufmerksam, dass positive statistische Relevanz zwischen zwei Eigen-schaften bestehen kann, ohne dass eine Ursache-Wirkung-Beziehung zwischen ihnen be-steht.

Defnition: Es gelte vereinbarungsgemäß:Ein Aussagesatz der Form

Objekt d hat zu Zeit t1 die Eigenschaft Fist zu Zeit t3 eine relevanzstatistische Erklärung fürden durch einen Aussagesatz der Form

Objekt d hat zu Zeit t2 die Eigenschaft Gausgedrückten Sachverhalt genau dann, wenn die folgenden vier Bedingungenerfüllt sind:(1) beide Aussagesätze sind wahr;(2) F ist positiv statistisch relevant für G;(3) t3 ist später als t2;(4) t2 ist nicht früher als t1.

Beispiel 1:Der Aussagesatz ›Atom 13864 war ein U-238-Atom bis 17.4.2002, 21 Uhr 32.‹ ist am23.4.2002 eine relevanzstatistische Erklärung dafür, dass Atom 13864 am 17.4.2002 um21 Uhr 32 zerfel, denn die Wahrscheinlichkeit, dass ein beliebiges Atom x am 17.4.2002um 21 Uhr 32 zerfällt, gegeben den Fall, dass x bis dahin ein U-238-Atom war, ist größerals die Wahrscheinlichkeit, dass x am 17.4.2002 um 21 Uhr 32 zerfällt, gegeben den Fall,dass x bis dahin kein U-238-Atom war. — Stünde im obigen Beispiel statt ›ist am23.4.2002‹ etwa ›ist am 16.4.2002‹, dann handelte es sich nicht um eine relevanz-statistische Erklärung: das zu erklärende Ereignis wäre ja noch gar nicht eingetroffen. Eskönnte übrigens auch nicht in irgendeinem Sinn des Wortes als vorhergesagt betrachtet

190 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

werden. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass gerade Atom 13864 am 17.4.2002 um 21 Uhr32 zerfällt, gegeben den Fall, dass es bis dahin ein U-238-Atom war, ist unbekannt undbewegt sich vermutlich unterhalb des Quadrillionstelbereichs.

Beispiel 2:Der Aussagesatz ›Melanie Matt hatte im Jahr 2001 eine latente Syphilis.‹ ist im Jahr 2002eine relevanzstatistische Erklärung dafür, dass Melanie Matt im Jahr 2001 an progres-siver Paralyse erkrankte, denn die Wahrscheinlichkeit, dass ein beliebiger Mensch x imJahr 2001 an progressiver Paralyse erkrankte, gegeben den Fall, dass x in diesem Jahreine latente Syphilis hatte, ist größer als die Wahrscheinlichkeit, dass x im Jahr 2001 anprogressiver Paralyse erkrankte, gegeben den Fall, dass x in diesem Jahr keine latenteSyphilis hatte. — Stünde im obigen Beispiel statt ›im Jahr 2002‹ etwa ›im Jahr 1998‹,dann handelte es sich nicht um eine relevanzstatistische Erklärung: das zu erklärendeEreignis wäre ja noch gar nicht eingetroffen. Es könnte auch schwerlich als vorhergesagtbetrachtet werden. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass gerade Melanie Matt im Jahr 2001an progressiver Paralyse erkrankt, gegeben den Fall, dass Melanie Matt in diesem Jahreine latente Syphilis hat, ist unbekannt und liegt vermutlich im Zehntausendstelbereichoder darunter.

Beispiel 3:Der Aussagesatz ›Fritz Froh erhielt vom 3.2.2002 bis 7.2.2002 hochdosierte Ampicillin-gaben.‹ ist am 10.2.2002 eine relevanzstatistische Erklärung dafür, dass Fritz Froh am9.2.2002 von seiner Streptokokkeninfektion befreit war, denn die Wahrscheinlichkeit,dass ein beliebiger Mensch x in sieben Tagen von seiner Streptokokkeninfektion befreitwird, gegeben den Fall, dass x während der ersten 5 Tage hochdosierte Ampicillingabenerhält, ist größer als die Wahrscheinlichkeit, dass ein beliebiger Mensch x in sieben Tagenvon seiner Streptokokkeninfektion befreit wird, gegeben den Fall, dass x während derersten 5 Tage keine hochdosierten Ampicillingaben erhält.

Beispiel 4:Der Aussagesatz ›Fritz Froh ging vom 3.2.2002 bis 7.2.2002 jeden Abend in die Disco.‹ist am 10.2.2002 keine relevanzstatistische Erklärung dafür, dass Fritz Froh am 9.2.2002von seiner Streptokokkeninfektion befreit war, denn die Wahrscheinlichkeit, dass einbeliebiger Mensch x in sieben Tagen von seiner Streptokokkeninfektion befreit wird,gegeben den Fall, dass x während der ersten 5 Tage jeden Abend in die Disco geht, istnicht größer als die Wahrscheinlichkeit, dass ein beliebiger Mensch x in sieben Tagenvon seiner Streptokokkeninfektion befreit wird, gegeben den Fall, dass x nicht währendder ersten 5 Tage jeden Abend in die Disco geht.

Beispiel 5:Der Aussagesatz ›Helga Huber hatte 2001 einen österreichischen Pass.‹ ist 2002 einerelevanzstatistische Erklärung dafür, dass Helga Huber im Jahr 2001 80 wurde, denn dieWahrscheinlichkeit, dass eine Frau x im Jahr 2001 80 Jahre alt wurde, gegeben den Fall,dass x 2001 einen österreichischen Pass hatte, ist größer als die Wahrscheinlichkeit, dasseine Frau x im Jahr 2001 80 Jahre alt wurde, gegeben den Fall, dass x 2001 keinenösterreichischen Pass hatte. (Wieder ist intuitiv deutlich, dass eine relevanzstatistischeErklärung keine Kausalerklärung sein muss. Auf Kausalerklärungen, insbesonderekausalstatistische Erklärungen, gehen wir hier aber wegen ihrer Schwierigkeit nicht mehrein.)

2014 7 ERKLÄRUNG, VORHERSAGE, ZURÜCKSAGE 191

7.4 EMPFEHLUNGEN FÜRS WISSENSCHAFTLICHE ARBEITEN

Fall 1: Sie schreiben einen wissenschaftlichen Text:Wenn Sie einen wissenschaftlichen Text schreiben und Sie gebrauchen darin für etwas,das Sie geschrieben haben, das Wort ›Erklärung‹, sollten Sie sich als erstes klar machen,was es ist, das Sie angeblich erklärt haben: ist es ein Ereignis oder ist es eine Regel-mäßigkeit? Als nächstes sollten Sie prüfen, ob das Ereignis, dessen Erklärung Sie ver-sucht haben, wirklich stattgefunden hat, bzw. ob die Regelmäßigkeit, deren Erklärung Sieversucht haben, tatsächlich besteht. Denn Ereignisse, die nicht stattgefunden haben, undRegelmäßigkeiten, die nicht bestehen, können nicht erklärt werden. Wenn es sich um einEreignis handelt, sollten Sie sich fragen, ob Ihr Erklärungsversuch eine (potentielle)deduktiv-nomologische oder eine intentionale oder eine relevanzstatistische Erklärungoder nichts davon ist.

Fall 2: Sie studieren einen wissenschaftlichen Text:Wenn Sie einen wissenschaftlichen Text studieren und Sie lesen darin für etwas, das derAutor geschrieben hat, das Wort ›Erklärung‹, sollten Sie sich als erstes klar machen, wases ist, das der Autor angeblich erklärt hat: ist es ein Ereignis oder ist es eine Regel-mäßigkeit? Als nächstes sollten Sie prüfen, ob das Ereignis, dessen Erklärung er versuchthat, wirklich stattgefunden hat, bzw. ob die Regelmäßigkeit, deren Erklärung er versuchthat, tatsächlich besteht. Wenn es sich um ein Ereignis handelt, sollten Sie sich fragen, obsein Erklärungsversuch eine (potentielle) deduktiv-nomologische oder eine intentionaleoder eine relevanzstatistische Erklärung oder nichts davon ist.

7.5 WEITERFÜHRENDE LITERATUR

*Carl G. HEMPEL: Aspekte wissenschaftlicher Erklärung. — Berlin (u.a.): Walter deGruyter, 1977. [Der Klassiker zur Erklärungsproblematik]128

*Wesley C. SALMON: Causality and Explanation. — Oxford (u.a.): Oxford UniversityPress, 1998. [Der Band vereinigt die wichtigsten Abhandlungen Salmons zur Erklärungs-

problematik. Diese Abhandlungen wurden in lebendiger und konstruktiver geistiger Ausein-

andersetzung mit anderen Wissenschaftstheoretikern geschrieben — darunter natürlich Carl

Gustav Hempel — und sind voll von Einsichten.]

*Gerhard SCHURZ (Hg.): Erklären und Verstehen in der Wissenschaft. — München:Oldenbourg, 1990.

*Paul WEINGARTNER: Wissenschaftstheorie I. Einführung in die Hauptprobleme. —Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog, 21978. [Abschnitt 5.55]

*Paul WEINGARTNER „Zur Einführung teleologischer Argumente in den wissenschaft-lichen Diskurs“. — In: Paul WEINGARTNER: Logisch-philosophische Untersuchungen zuWerten und Normen. Werte und Normen in Wissenschaft und Forschung. — Frankfurt amMain (u.a.): Peter Lang, 1996, pp. 23–46. [Ergänzung zum Abschnitt über intentionale

Erklärungen]

128 Gesternte Literatur ist nicht elementar.

192 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

7.6 ÜBUNGEN

1. Was ist eine deduktiv-nomologische Erklärung eines Ereignisses? (Bitte ausführliche Def-

nition und eigenes Beispiel!)

2. Was ist eine potentielle deduktiv-nomologische Erklärung eines Ereignisses? (Bitte aus-

führliche Defnition und eigenes Beispiel!)

3. Was ist eine deduktive Erklärung (Begründung) einer Gesetzmäßigkeit? (Bitte ausführliche

Defnition und eigenes Beispiel!)

4. Gemäß der klassischen Theorie der Erklärung sind Erklärungen nicht Aussagesätze, sondern

Argumente. Trotzdem sagt man sowohl in der Umgangssprache wie auch in der wissenschaft-

lichen Sprache oft von Aussagesätzen, dass sie Erklärungen seien. Wie lässt sich diese Redeweise

aus Sicht der klassischen Theorie der Erklärung verstehen? Bitte veranschaulichen Sie die Def-

nition durch ein eigenes Beispiel!

5. Was ist eine deduktiv-nomologische Vorhersage eines Ereignisses? (Bitte ausführliche De-

fnition und eigenes Beispiel!)

6. Was ist eine potentielle deduktiv-nomologische Vorhersage eines Ereignisses? (Bitte aus-

führliche Defnition und eigenes Beispiel!)

7. Was ist eine deduktiv-nomologische Zurücksage eines Ereignisses? (Bitte ausführliche

Defnition und eigenes Beispiel!)

8. Was ist eine potentielle deduktiv-nomologische Zurücksage eines Ereignisses? (Bitte aus-

führliche Defnition und eigenes Beispiel!)

9. Bitte geben Sie das Schema für intentionale Erklärungen und Vorhersagen an und veran-

schaulichen Sie es durch je ein eigenes Beispiel.

10. Was heißt es, dass eine Eigenschaft F positiv statistisch relevant ist für eine Eigenschaft G?

Bitte veranschaulichen Sie Ihre Defnition durch ein eigenes Beispiel.

11. Was ist eine relevanzstatistische Erklärung? Bitte veranschaulichen Sie die Defnition durch

ein eigenes Beispiel.

12. Welche Fragen sollten Sie im Kopf durchspielen, wenn Sie einen Text mit wissenschaft-

lichem Anspruch schreiben und Sie wenden auf etwas, das Sie geschrieben haben, den Ausdruck

›Erklärung‹ an?

13. Welche Fragen sollten Sie im Kopf durchspielen, wenn Sie einen fremden Text, der wis-

senschaftlichen Anspruch erhebt, studieren und Sie lesen darin für etwas, das der Autor oder die

Autorin geschrieben hat, das Wort ›Erklärung‹? Bitte eigene Beispiele!

14. Warum sind die folgenden Argumente keine potentiellen deduktiv-nomologischen Erklä-

rungen?

(a)

Alle Kupferstücke, die erwärmt werden, dehnen sich aus.

Dieses Stück Kreide da ist ein Kupferstück, das am 2.9.2007 um 14 Uhr 55 erwärmt wird.

Daher: Dieses Stück Kreide dehnt sich am 2.9.2007 um 14 Uhr 55 aus.

(b)

Herr Huber erhielt seit der Krebsdiagnose im Oktober 2007 5 Gramm Vitamin C täglich.

Vitamin C macht jene Zellen, die es massiv speichern, überdurchschnittlich abwehrkräftig.

Circa 80% der Krebszellen Herrn Hubers speicherten Vitamin C massiv.

2014 7 ERKLÄRUNG, VORHERSAGE, ZURÜCKSAGE 193

Circa 50% dieser Krebszellen widerstanden den Abtötungsversuchen durch Bestrahlungs- und

Chemotherapie.

Daher: Krebspatient Huber sprach im Herbst 2007 kaum auf die Bestrahlungs- und Chemo-

therapie an.

(c)

Für fast alle Menschen x und Zeitpunkte t gilt: wenn x zu t äußerst erschöpft ist, dann ist x

zu t appetitlos.

Max Moll war am 16.3.2002 um 10 Uhr 52 äußerst erschöpft.

Daher: Max Moll war am 16.3.2002 um 10 Uhr 52 appetitlos.

(d)

Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand seit 2 Jahren immer stärker Karies hat, gegeben den Fall,

dass er seit über zwei Jahren täglich mehr als ein Kilo Obst isst, ist größer als 0,5.

Hans isst seit drei Jahren täglich mehr als ein Kilo Obst.

Daher: Hans hat seit 2 Jahren immer stärker Karies.

(e)

Alle Kupferstücke, die erwärmt werden, dehnen sich aus.

Dieses Stück Blei wurde am 2.9.2007 um 13 Uhr 30 erwärmt.

Daher: Dieses Stück Blei dehnte sich am 2.9.2007 um 13 Uhr 30 aus.

(f)

Alle Filmschauspielerinnen sind magersüchtig.

Calista Flockhart ist im Juli 2003 eine Filmschauspielerin.

Daher: Calista Flockhart ist im Juli 2003 magersüchtig.

(g)

90% der erwachsenen Chinesen bilden in ihrem Körper das Enzym Lactase nicht oder kaum.

Ohne das Enzym Lactase kann aber der in der Milch enthaltene Milchzucker nicht aufgespalten

werden und wird als unverdaulich möglichst rasch durch Erbrechen oder Darmkrämpfe ausge-

schieden.

Wer nach dem Genuss von Milch an Erbrechen oder Darmkrämpfen leidet, verträgt Milch nicht.

Daher: 90% der erwachsenen Chinesen vertragen keine Milch.

(h)

Alle Verbrechen sind Straftaten.

Die Ermordung von John F. Kennedy ist ein Verbrechen.

Daher: Die Ermordung von John F. Kennedy ist eine Straftat.

(i)

Alle Primzahlen größer 2 sind ungerade.

3 ist eine Primzahl größer 2.

Daher: 3 ist ungerade.

(j)

Alle Lebewesen sind sterblich.

Alle Menschen sind Lebewesen.

Daher: Alle Menschen sind sterblich.

15. Welche von den folgenden Texten können deduktiv-nomologische Erklärungen sein?

Welche deduktiv-nomologische Vorhersagen? Welche deduktiv-nomologische Zurücksagen?

Welche deduktive Erklärungen von Gesetzmäßigkeiten? Welche intentionale Erklärungen?

Welche intentionale Vorhersagen? Welche relevanzstatistische Erklärungen?

194 DORN: KLEINE EINFÜHRUNG 2014

(a) Die Erklärung dafür, dass der österreichische Schalterbeamte Maier im Winter 2001/2002 an

keinem grippalen Infekt erkrankte, besteht darin, dass er täglich 1 Gramm Vitamin C zu sich

nahm. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein österreichischer Schalterbeamter im Winter an keinem

grippalen Infekt erkrankt, gegeben den Fall, dass er täglich ein Gramm Vitamin C zu sich nimmt,

ist nämlich größer als die Wahrscheinlichkeit, dass er an keinem grippalen Infekt erkrankt,

gegeben den Fall, dass er nicht täglich ein Gramm Vitamin C zu sich nimmt.

(b) Wenn ein Heer, das eine Stadt belagert, durch eine Infektionskrankheit zu mehr als 80%

vernichtet wird, dann gelingt ihm nicht die Einnahme der Stadt. Das Heer Ludwig IX. von

Frankreich wurde, als es 1270 die Stadt Tunis belagerte, durch eine Infektionskrankheit zu mehr

als 80% vernichtet. Daher: Dem Heer Ludwig IX. von Frankreich gelang 1270 die Einnahme der

Stadt Tunis nicht.

(c) Wenn Luft in einem starren Behälter erhitzt wird, dann steigt der Druck im Behälter. Jeder

vollgepumpte Fahrradreifen ist ein starrer Behälter. Wenn auf einen Fahrradreifen die pralle

Sonne scheint, dann wird die Luft im Reifen erhitzt. Daher: Wenn auf einen vollgepumpten Fahr-

radreifen die pralle Sonne scheint, dann erhöht sich der Druck im Reifen.

(d) Barbarossa strebte seit dem Reichstag zu Besancon im Jahr 1157 offen die Dominanz über

das Papsttum an. Er war überzeugt, dass die Unterwerfung der lombardischen Städte notwendig

war, um sein Ziel zu erreichen, und er war zuversichtlich, dass er diese Städte, insbesondere

Mailand, unterwerfen könne, wenn er sie baldmöglichst angreife. Auch glaubte er, dass sein An-

griff auf die lombardischen Städte kein anderes Ziel ernsthaft gefährden würde, dessen Erreic-

hung ihm mindestens so wichtig war wie die Dominanz über das Papsttum. Daher: Barbarossa

begann bald nach dem Reichstag zu Besancon einen Krieg gegen die Städte der Lombardei.

(e) Alle Menschengruppen, die außergewöhnliche kulturelle Leistungen zustande gebracht haben,

waren in den Jahrzehnten davor harten Überlebensbedingungen ausgesetzt gewesen. Die Athener

haben im 5. Jahrhundert vor Christus außergewöhnliche kulturelle Leistungen zustande gebracht.

Daher: Die Athener waren Ende des 6., Anfang des 5. Jahrhunderts vor Christus harten Über-

lebensbedingungen ausgesetzt gewesen.

(f) Lisi Locker möchte die Vorlesung „Einführung in die Wissenschaftstheorie“ im Oktober 2008

positiv abschließen. Lisi Locker glaubt im August 2008, dass die Erledigung der Übungsaufgaben

vor der Prüfung im Oktober notwendig für einen positiven Abschluss ist und dass sie fähig ist,

die Übungsaufgaben zu erledigen. Sie glaubt zudem, dass sie durch die Erledigung der Übungs-

aufgaben an der Erreichung keines Zieles gehindert wird, das ihr mindestens so wichtig ist wie

ein positiver Abschluss der „Einführung in die Wissenschaftstheorie“. Daher: Lisi Locker wird

die Übungsaufgaben vor der Prüfung im Oktober erledigen.

(g) Alle Menschen, die an extremem Zinkmangel leiden, weisen nach etwa 3 Monaten zahlreiche

Hautekzeme auf. Max Moll ist ein Mensch, der im Juli 2003 an extremem Zinkmangel leidet.

Daher: Max Moll wird etwa 3 Monate nach Juli 2003 zahlreiche Hautekzeme aufweisen.

(h) Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Mensch, der an progressiver Paralyse leidet, wenigstens

20 Jahre vor dem Auftreten des Leidens mit Syphilis infziert hat, ist größer als 0,9. Friedrich

Nietzsche ist ein Mensch, der im Jahr 1889 an progressiver Paralyse litt. Daher: Friedrich

Nietzsche hat sich wenigstens 20 Jahre vor 1889 mit Syphilis infziert.

16. Um aus einer intentionalen Erklärung eine deduktiv-nomologische zu machen, bedarf es

einer Allimplikation, wie im Text auf Seite 187 ausgeführt. Angenommen, jemand macht gegen

diese Allimplikation die folgenden Einwände:

2014 7 ERKLÄRUNG, VORHERSAGE, ZURÜCKSAGE 195

Wir führen bisweilen Handlungen durch, von denen wir nicht glaubten, dass wir sie durchführen

können; wir führen oft Handlungen durch, ohne dass wir sie zur Erreichung eines unserer Ziele

für notwendig, hinreichend oder sehr förderlich halten; wir führen manchmal Handlungen durch,

von denen wir fürchten, dass sie wichtigere Ziele von uns ernsthaft gefährden.

Diese Einwände sind wohl wahr. Sind sie aber relevant? Wenn nein, warum nicht?

7.7 LÖSUNGEN DER ÜBUNGEN ZUM 7. KAPITEL

1.–13. SIE sind am Zug.

14.

(a) Antezedensinstanz gilt als falsch.

(b) Keine Allimplikation, keine Antezedensinstanzen, Argument nicht logisch gültig.

(c) Nicht logisch gültig. — (d): wie (b). — (e): wie (c).

(f) Allimplikation kein Gesetz.

(g) Argument logisch ungültig; Konklusion beschreibt kein Ereignis, sondern eine Regelmäßigkeit.

(h) Allimplikation ist analytisch wahr, somit kein Gesetz.

(i) Die Konklusion beschreibt kein Ereignis.

(j) Keine Antezedensinstanzen, die Konklusion beschreibt eine Gesetzmäßigkeit.

15. (a) Relevanzstatist. Erkl. — (b) Ded.-nomol. Erkl. — (c) Ded. Erkl. einer Gesetzmäßigkeit. —

(d) Intent. Erkl. — (e) Ded.-nomol. Zurücksage. — (f) Intent. Vorhersage. — (g) Ded.-nomol.

Vorhersage. — (h) Gehört zu keiner der angeführten Erklärungs-, Vorhersage- und Zurücksage-Arten

(sondern ist eine induktiv-statistische Retrodiktion).

16. Sie sind irrelevant. Die Allimplikation hat die Form ›Für alle x: Wenn A[x] und B[x] und …,

dann Z[x].‹. Weder wird durch die Einwände die Falschheit noch die Trivialität der Allimplikation

nachgewiesen. Die Falschheit dieser Allimplikation kann nicht dadurch nachgewiesen werden, dass

gilt: Es gibt einige x mit nicht-A[x], und es gibt einige x mit nicht-B[x] … ; vielmehr wäre zu zeigen,

dass dies wahr ist: ›Es gibt mindestens ein x mit A[x] und B[x] und … und mit nicht-Z[x].‹. Die

Trivialität der Allimplikation wäre erst gezeigt, wenn nachgewiesen werden könnte, dass der Ante-

zedensteil der Allimplikation auf keine oder fast keine Objekte zutrifft. Es reicht nicht, darauf hin-

zuweisen, dass er auf einige Objekte aus dem Gegenstandsbereich nicht zutrifft.

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Georg J. W. Dorn: Kleine Einführung in die allgemeine Wissenschaftstheorie für Doktorandinnen und

Doktoranden in den Kultur- und Gesellschaftswissenschaften. Sommersemester 2011. Verbesserte und

ergänzte Fassung 2014.—Salzburg: Skriptum der Paris-Lodron-Universität, 22014.

© Georg J. W. Dorn, Salzburg 2011, 2014

Ich danke Herrn David Hargassner, Frau Stefanie Orter, BA, Frau Mag. Dr. Astrid Spatzier und Herrn

MMag. Dr. Alexander Zimmermann für konstruktive Kritik an einer früheren Fassung dieses Skriptums.

Univ.-Doz. Dr. Georg J. W. Dorn E-Post: [email protected]

Fachbereich Philosophie (KGW), Zimmer 3.04 Netz: http://sbg.academia.edu/GeorgJWDorn

Paris-Lodron-Universität Salzburg

Franziskanergasse 1

5020 Salzburg

Österreich