Dietrich, Wolf & Ulrich Hoinkes & Bàrbara Roviró & Matthias Warnecke (Hg.). 2006. Lexikalische...

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Wolf Dietrich u. a. (Hgg.). Lexikalische Semantik und Korpuslinguistik 25 Wimmer, Rainer. 2003. Sprachkritik in der Diskussion. In: Sprachreport, 2/2003, 26-29. Wolf Dietrich & Ulrich Hoinkes & Bàrbara Roviró & Matthias War- necke (Hg.). 2006. Lexikalische Semantik und Korpuslinguistik. Tübingen: Narr. 498 S. Jörg Kilian Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Germanistisches Seminar Leibnizstraße 8 D-24118 Kiel [email protected] Der Band, zugleich eine Gedenkschrift für den 2002 verstorbenen Roma- nisten und strukturellen Semantiker Horst Geckeler, setzt als dritter Teil eine Reihe von Publikationen fort, die Beiträge Münsteraner Fach- tagungen zur lexikalischen Semantik versammeln. Nachdem eine erste Fachtagung im Jahr 1995 Ansätze der lexikalischen Semantik erkundet hatte und im Rahmen einer zweiten Fachtagung im Jahr 2000 Ansätze der strukturellen Semantik gemeinsam mit „konkurrierenden Richtungen der kognitiven Semantik und Pragmatik“ (aus dem Vorwort zum vorliegenden Band) in den Blick genommen worden waren, widmete sich die in diesem Band dokumentierte dritte Fachtagung im Jahr 2004 der im Titel benann- ten Erweiterung dieses Blickes auf die Korpuslinguistik. Die Herausgeber versammeln insgesamt 22 Beiträge aus der romanis- tischen, germanistischen und allgemeinen Sprachwissenschaft in deut- scher, französischer, spanischer und italienischer Sprache in den vier Ka- piteln: „I. Zur Theorie der lexikalischen Semantik und ihrer Anwendung“ (acht Beiträge), „II. Syntaktische und syntagmatische Bezüge“ (drei Bei- träge), „III. Zur Theorie der Korpuslinguistik“ (drei Beiträge) und „IV. Korpuslinguistische Untersuchungen“ (acht Beiträge). Im Folgenden soll (und kann aus Raumgründen) nicht jeder einzelne Beitrag ausführlich abstrahiert und wissenschaftlich kritisch gewogen werden. Vielmehr sollen in der Folge und im jeweiligen Fokus der Kapitel die Untersuchungsergeb- _____________ 1 Vgl. Ulrich Hoinkes & Wolf Dietrich (Hg.). 1997. Kaleidoskop der lexikalischen Semantik. Tübingen: Narr. Der Tagungsband „Funktionelle und kognitive Linguistik in der Diskussi- on“ ist in Vorbereitung. ZRS, Band 1, Heft 1 © Walter de Gruyter 2009 DOI 10.15/zrs.2009.007 - 10.1515/zrs.2009.007 Downloaded from PubFactory at 09/03/2016 10:58:09AM via free access

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Wolf Dietrich u. a. (Hgg.). Lexikalische Semantik und Korpuslinguistik 25

Wimmer, Rainer. 2003. Sprachkritik in der Diskussion. In: Sprachreport,

2/2003, 26-29.

Wolf Dietrich & Ulrich Hoinkes & Bàrbara Roviró & Matthias War-

necke (Hg.). 2006. Lexikalische Semantik und Korpuslinguistik. Tübingen:

Narr. 498 S.

Jörg Kilian Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Germanistisches Seminar

Leibnizstraße 8

D-24118 Kiel

[email protected]

Der Band, zugleich eine Gedenkschrift für den 2002 verstorbenen Roma-

nisten und strukturellen Semantiker Horst Geckeler, setzt als dritter Teil

eine Reihe von Publikationen fort, die Beiträge Münsteraner Fach-

tagungen zur lexikalischen Semantik versammeln. Nachdem eine erste

Fachtagung im Jahr 1995 Ansätze der lexikalischen Semantik erkundet

hatte und im Rahmen einer zweiten Fachtagung im Jahr 2000 Ansätze der

strukturellen Semantik gemeinsam mit „konkurrierenden Richtungen der

kognitiven Semantik und Pragmatik“ (aus dem Vorwort zum vorliegenden

Band) in den Blick genommen worden waren,1 widmete sich die in diesem

Band dokumentierte dritte Fachtagung im Jahr 2004 der im Titel benann-

ten Erweiterung dieses Blickes auf die Korpuslinguistik.

Die Herausgeber versammeln insgesamt 22 Beiträge aus der romanis-

tischen, germanistischen und allgemeinen Sprachwissenschaft in deut-

scher, französischer, spanischer und italienischer Sprache in den vier Ka-

piteln: „I. Zur Theorie der lexikalischen Semantik und ihrer Anwendung“

(acht Beiträge), „II. Syntaktische und syntagmatische Bezüge“ (drei Bei-

träge), „III. Zur Theorie der Korpuslinguistik“ (drei Beiträge) und „IV.

Korpuslinguistische Untersuchungen“ (acht Beiträge). Im Folgenden soll

(und kann aus Raumgründen) nicht jeder einzelne Beitrag ausführlich

abstrahiert und wissenschaftlich kritisch gewogen werden. Vielmehr sollen

in der Folge und im jeweiligen Fokus der Kapitel die Untersuchungsergeb-

_____________ 1 Vgl. Ulrich Hoinkes & Wolf Dietrich (Hg.). 1997. Kaleidoskop der lexikalischen Semantik.

Tübingen: Narr. Der Tagungsband „Funktionelle und kognitive Linguistik in der Diskussi-

on“ ist in Vorbereitung.

ZRS, Band 1, Heft 1 © Walter de Gruyter 2009 DOI 10.15/zrs.2009.007

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eichler
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nisse vor dem Hintergrund des Rahmenthemas zur Geltung kommen.

Wenn dabei einzelne Beiträge näher in den Blick rücken, während andere

nur eine kursorische Erwähnung erfahren, so ist dies nicht wertend auf die

Einzelbeiträge zu beziehen, sondern der an den Erkenntnisinteressen des

Bandes orientierten Perspektive geschuldet.

„Ziel [der in diesem Band dokumentierten Fachtagung, J. K.] war es,

die bisher erreichten theoretischen Erkenntnisse und Erfahrungen zu

verbinden, die aus dem Umgang mit großen Corpora im Bereich der lexi-

kalischen Semantik bereits gewonnen wurden“, notieren die Herausgeber

in ihrem Vorwort (S. 7), und sie fügen offen hinzu, dass diese „Verbin-

dung“ von den Beiträgerinnen und Beiträgern mit unterschiedlicher Inten-

sität durchgeführt wurde. Zum einen näherten sie sich überhaupt in unter-

schiedlichem Maße „der Korpuslinguistik als eigenständigem

Forschungsbereich“, zum anderen legten sie zum Teil eher „theoretische

Arbeiten“ und zu einem anderen Teil eher „praktische Untersuchungen“

vor (S. 8). Blickt man nach der Lektüre der im Einzelfall und insgesamt

anregenden nachdenkenswerten Beiträge zurück auf dieses Vorwort, so

kommt man nicht umhin, der Herausgeberin und den drei Herausgebern

Respekt zu zollen für diese in wissenschaftlichen Sammelbänden nicht

eben selbstverständliche Offenheit, und man vermeint zu spüren, dass es

nicht einfach war, die mitunter thematisch doch recht disparaten und

eigentlich doch weniger durch den Bezug zum Thema der Fachtagung

(und des Bandes) als vielmehr durch den Bezug zu Horst Geckelers For-

schungen zur lexikalischen Semantik verbundenen Beiträge in vier Kapi-

teln zu ordnen und diesen zuzuweisen.

Kapitel I versammelt Beiträge, die eher der semantischen Theorie ge-

widmet sind und Blicke werfen auf mögliche Anschlussstellen zur Kor-

puslinguistik; die Beiträge in Kapitel II bilden gleichsam eine Untergruppe

dazu insofern, als hier der Ausgang von syntaktischen bzw. syntag-

matischen „Aspekten“ der lexikalischen Semantik genommen wird. Im

III. Kapitel, das in einem engeren Sinne die theoretischen der „verbinden-

den“ Beiträge bietet, wird aus unterschiedlichen Perspektiven der Frage

nachgegangen, ob und inwiefern aus dem Bereich der Semantik heraus

eine Theorie der Korpuslinguistik zum Zweck der „semantische[n] Analy-

se von Textcorpora geschriebener und gesprochener Sprache“ (S. 8) zu

entwickeln sei, während im IV. Kapitel Arbeiten vorgelegt werden, die

eher aus der Praxis der lexikalischen Semantikforschung heraus den Ge-

winn korpuslinguistischer Fundierungen für lexikalisch-semantische Un-

tersuchungen aufzeigen. „Insgesamt“, so schließen die Herausgeberin und

ihre drei Mitherausgeber das Vorwort, „bietet dieser Sammelband einen

repräsentativen Überblick über den Forschungsstand, der sowohl das

schon Erreichte als auch die Desiderata zu erkennen gibt.“ (S. 9) Das und

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im Titel, so darf man nach der Lektüre dieser Feststellung bestätigend hin-

zufügen, scheint denn auch noch eher ein additives denn ein integratives.

Im Folgenden wird gleichsam der Semantik dieses und nachgespürt.

Die Beiträge des ersten Kapitels sind, wie es der Titel des Kapitels

(„Zur Theorie der lexikalischen Semantik und ihrer Anwendung“) auch

nicht anders verspricht, eingängige semantiktheoretische Studien, die im

Großen und Ganzen ohne Korpuslinguistik auskommen. So geht Migue l

Casas Gómez der Frage nach dem Verhältnis von lexikalischer Seman-

tik und Terminologielehre nach und sucht letztere als Teilgebiet der lexi-

kalischen Semantik genauer zu bestimmen, ohne dass Korpuslinguistik in

diesem Zusammenhang eine bemerkenswerte Rolle spielte. Desgleichen

bleibt auch der Beitrag Georges Kle ibers dem zweiten Teil des Sam-

melbandtitels relativ fern. Ein Phänomen (vermeintlich) der Polysemie,

auf das Cruse aufmerksam gemacht und es als „sub-sense“ (frz. „micro-

sens“) benannt hat, wird von Kleiber der Untersuchung zugeführt. Es

geht um die Frage, ob und inwieweit es ein Fall von Polysemie sei, wenn

ein Wort sowohl hyponymische („La boîte contenait une collection de

conteaux de plusieurs sortes“) wie auch hyperonymische („As-tu un con-

teau?“) Lesarten zeige. Dies sei, so schließt Kleiber nach ausgiebiger Kritik

der Interpretation Cruses, nicht Polysemie, sondern eher Unterdetermi-

niertheit, die kontextuell eingefangen werde. Zwischen diesen beiden eher

korpusfernen Beiträgen eröffnet Hara ld Thun Blicke auf die Reich-

weite von Korpora und Erhebungsmethoden. Ausgehend von Coserius

Ansatz der „funktionellen Sprache“, also gleichsam eines in sich homoge-

nen (Sub-) Systems, und der Erörterung von Problemen, die dieser Ansatz

bereitet (wie u. a. die Abgrenzung dieser [Sub-]Systeme voneinander, so-

dann die Abgrenzung der „Gesamtheit der Äußerungen eines Sprechers“

als „Parole“ von der „Norm“ und gar dem „System“), stellt Thun fest,

dass die strukturelle Semantik die Entscheidung darüber, ob das Wortma-

terial, mit dem sie arbeitet, a) überhaupt repräsentativ ist und b) für welche

Ebene („Parole“, „Norm“, „System“), im Grunde delegiert habe an die

Lexikographie und die Sprachgeographie. Am Beispiel moderner Ansätze

der Sprachgeographie, insbesondere der „pluridimensionalen Dialektogra-

phie“, wird aufgezeigt, wie dieselbe als „Hilfswissenschaft“ der struktu-

rellen Semantik „sprachliche Grenzen“ zu markieren vermag. Bedauer-

licherweise ist die Karte, die den Ausführungen zugrunde liegt, nicht mit

abgedruckt; dennoch erhält man einen Eindruck davon, auf welche Weise

der strukturellen Semantik mit Hilfe der Sprachgeographie das korpus-

linguistische Bett aufgeschüttelt werden könnte.

Die folgenden Beiträge dieses ersten Kapitels sowie die drei Beiträge

des zweiten Kapitels sind wiederum keine korpuslinguistischen Studien im

engeren Sinne. Sie sind, wie die Kapiteltitel es auch verheißen, eher se-

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mantiktheoretische Arbeiten, die gleichwohl auch Blicke auf die Arbeit mit

Korpora werfen – und dies sind keineswegs unkritische Blicke. So widmet

sich Gerd Wot j ak in seinem Beitrag im Wesentlichen der Frage nach

einer theoretischen Fassung für Spezifikationen der semantischen Analyse

lexikalischer Einheiten auf den Ebenen von „System“, „Norm“ und „Re-

de“ im Sinne Coserius. Auf besonderes Interesse stoßen dabei die

„Redebedeutungen“, die Wotjak zu Recht als mentale Größen – und

keinesfalls als materialisierte oder auch nur materialisierbare – identifiziert.

In diesem Zusammenhang wird dann in gewisser Hinsicht der Gewinn

der Nutzung von Korpora für die semantische Analyse eingeschränkt: In

Bezug auf die Analyse der Redebedeutung seien Korpora bereits zu weit

entfernt von den Äußerungskontexten, als dass sämtliche kotextuellen,

konzeptuellen, kommunikativ-pragmatischen u. a. Aspekte ohne Rekurs

auf eine Normbedeutung rekonstruiert werden könnten; die Norm- sowie

gar erst die Systembedeutungen seien indes gar nicht allein aus Korpora

zu gewinnen, sondern „letztlich nur über eine Introspektions- bzw.

Intuitionsanalyse“ zugänglich (S. 82). Von sich aus teilen Korpora eben

gar nichts mit, sondern allein aufgrund hypothesengeleiteter Anfrage. Der

darauf folgende Beitrag S i lke J ansens blickt im Grunde in dieselbe

Richtung. Sie stellt eine hypothesengeleitete Anfrage an ein Textkorpus

französischsprachiger Zeitungen, um zu ermitteln, ob und wann im

Sprachkontakt ein Lexem a) wörtlich übersetzt, b) als Lehnwort über-

nommen oder c) durch eine neue Eigenbildung ersetzt wird. Statt der

lesenswerten historisch-lexikologischen Einzelergebnisse und deren

sprachwandeltheoretischer Verortung sei hier nur das – eigentlich kaum

überraschende – korpuslinguistische Ergebnis erwähnt: Der besondere

Nutzen von Korpora wird darin gesehen, dass sie „über die Betrachtung

von Einzelphänomenen hinaus eine Zusammenschau der großen Ent-

wicklungstendenzen ermöglichen“ (S. 115).

Dieses Ergebnis fasst gleichsam den Zweck des Zugriffs auf Korpora

auch der drei noch verbleibenden Beiträge dieses ersten Kapitels sowie

der drei Beiträge des zweiten Kapitels zusammen – womit wiederum über

die in jedem Einzelfall lesenswerten Untersuchungen und deren lexika-

lisch-semantische Einzelergebnisse keine Aussage verbunden sei: Sei es,

dass Gi l l es Roques die Wortbedeutungsentwicklungen von bruire und

seinem Partizip bruyant nachzeichnet; sei es, dass Me ike Mel i s s sich mit

einer „modular-integrativen Wortfeldstudie“ zu deutschen „Geräusch-

Verben“ befasst; oder sei es, dass Hara ld Weydt die scheinbar mäan-

dernde Semantik von über im Konzept einer einheitlichen Bedeutung mit

zwei Merkmalen erfasst; sei es – im zweiten Kapitel „Syntaktische und

syntagmatische Bezüge“ –, dass Mar i a I l i e scu auf der Grundlage von

Beispielen „aus der Fachliteratur“ (S. 189) der Differenzierung von kon-

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vergierenden und divergierenden Kollokationen nachspürt, dass Franz

Hundsnurscher an zwei Textbeispielen Wortbedeutung (und vor allem

den Wortartenstatus) „als den Beitrag eines Wortes zur Satzbedeutung“

(S. 209) erweist, oder dass Georgia Veldre sich auf der Grundlage des

Online-Korpus FRANTEXT der systematischen Erschließung der Kate-

gorie der assoziativen Anapher widmet – die Verfasserinnen und Ver-

fasser kommen entweder ohne Korpus im engeren Sinne zu ihren Ergeb-

nissen (Weydt, Hundsnurscher) oder aber belegen, dass und inwiefern die

Arbeit mit Korpora und Wörterbüchern die erwähnte „Zusammenschau“

ermöglicht, die auch zu Korrekturen der hypothesengeleiteten Anfragen

führen können (Roques, Meliss, Iliescu, Veldre). Das ist nicht wenig, indes

auch, wie erwähnt, nicht überraschend. Die je konkreten Erkenntnisinte-

ressen und Ergebnisse sind es, die die Beiträge zur anregenden Lektüre

machen.

„Zur Theorie der Korpuslinguistik“ ist das dritte Kapitel überschrie-

ben. Es schließt mit seinen drei Beiträgen inhaltlich folgerichtig an die

vorangehenden Arbeiten insofern an , als nun der durch die Nutzung von

Korpora im Rahmen lexikalisch-semantischer Analysen erzielte Gewinn

der „Zusammenschau“ vertiefend – und kritisch – in den Blick genom-

men wird. François Rastier belegt eindrucksvoll, dass große Korpora er-

lauben, semantische Strukturen nicht allein „in den Wörtern“, sondern

„zwischen den Wörtern“, mehr noch: in übergreifenden diskursiven Zu-

sammenhängen zu entdecken und sucht dieselben zwischen Langue und

Parole zu verorten. Johannes Kabatek zeichnet an Beispielen aus der

Geschichte romanischer Sprachen den „Bedeutungsausbau“ im Sinne der

inneren Entlehnung nach und kommt in Bezug auf eine korpuslinguisti-

sche Theoriebildung zu dem Schluss, dass Korpora zunächst nur aus-

drucksseitige Zugriffe zulassen. Es müsse semantisch annotierte Korpora

geben, zumindest eine Systematik semantisch kodierter Abfragemodi bei

der Nutzung gängiger Korpora, wenn man den „Bedeutungsausbau“ einer

Sprache untersuchen wolle – doch sei es gar fraglich, „ob es hier über-

haupt sinnvoll ist, die Corpuslinguistik zu bemühen.“ (S. 294f.) Fast noch

kritischer fällt das Urteil Chr i s toph Schwarzes aus, der als unhinter-

gehbare Voraussetzung semantischer Studien kulturelles, philologisches

und soziolinguistisches Wissen anführt und hinzufügt: „Il est évident que

cela vaut aussi pour la ,linguistique de Corpus‘.“ (S. 311) Die Korpus-

linguistik erscheint hier, wie mittelbar schon bei Wotjak und anderen

Beiträgerinnen und Beiträgern dieses Sammelbandes, als bedeutsame

Hilfswissenschaft der Semantik, deren Nutzung indes stets hermeneutisch

flankiert sein muss.

Die acht „Korpuslinguistischen Untersuchungen“ des den Band be-

schließenden vierten Kapitels veranschaulichen diese Nutzung aus unter-

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schiedlichen Richtungen. Mar i a Grossmann prüft im Anschluss an

Arbeiten Geckelers zu Adjektiven aus dem Sinnbezirk des „Alters“, dass

und inwiefern die Untersuchungen durch Heranziehung von CD-ROM-

und Online-Korpora optimiert werden können. Hi l t raud Dupuy-

Enge lhard t erörtert am Beispiel einer „korpusgestützte[n] lexemati-

sche[n] Analyse des deutschen Wortfeldes des Hörbaren“ Probleme der

Korpora-Nutzung insbesondere in Bezug darauf, aus „Rede“-

Bedeutungen des Korpus „System“-Bedeutungen zu erschließen. Die

„monosemierende Funktion des Kontextes“ (S. 363), wie sie in Korpora

immer wieder deutlich wird, erlaubten eine Präzisierung, doch scheinen

Korpora nur bis zu einer „distributionsbestimmten Normbedeutung“ zu

führen (S. 363). Dieses Ergebnis bestätigt grosso modo die Einschätzung

Wotjaks. C laud ia Glanemann sucht in ihrem Beitrag das Problem der

semantischen Analyse primärer Farbwörter, die sich den Ansätzen der

systembezogenen strukturellen Semantik im Sinne Coserius und Geckelers

verschließen, in den Griff zu bekommen, indem sie in (Zeitungs-)Text-

korpora am Beispiel des Farbwortes weiß (bzw. frz. blanc und ital. bianco)

deren Norm- und Redebedeutungen nachspürt. Der korpuslinguistische

Zugriff wird jedoch nicht näher erörtert, verbleibt auch eher im Hinter-

grund, weshalb dieser Beitrag ebenso gut auch im ersten Kapitel seinen

Platz hätte finden können. Dieselbe Feststellung ist mutatis mutandis auch

für E lmar Egger t s Untersuchungen zu „semantischen Prozessen bei

der Ableitung von Ortsnamen zu treffen, denen „Wörterbucheinträge

einiger ausführlicher Ortsnamenableitungen“ (S. 404) zugrunde liegen.

Eggert schließt jedoch seinen Beitrag mit einem „Ausblick und Bezug zur

Korpuslinguistik“, das in die korpuslinguistische Grundmelodie zahlrei-

cher Beiträge dieses Sammelbandes insofern einstimmt, als auch Eggert

der Korpuslinguistik eine bedeutsame hilfswissenschaftliche Rolle im

Rahmen der lexikalischen Semantik zuspricht, wenn denn vor der jeweili-

gen Analyse und bezogen auf dieselbe „Kriterien für die Erstellung des

Korpus erarbeitet worden sind“ (S. 415). Er ic Sonntag führt diesen

Gedanken gleichsam fort, wenn er Kriterien für eine korpusgestützte Un-

tersuchung zur Gebräuchlichkeit und zur Lexikalisierung von Diminutiva

diskutiert. Während in Wörterbüchern grundsätzlich nur lexikalisierte

Diminutiva gebucht werden, könne mit Hilfe von Korpora die Gebräuch-

lichkeit diminutivischer Ausdrücke im Allgemeinen statistisch erhoben,

mithin ihre „Üblichkeit“ erfasst werden. Die Lexikalisierung erscheine

somit „als Herausforderung für die Korpuslinguistik“ (S. 420). In dieselbe

Richtung führt auch der Beitrag Bruno St a ibs : Während Elativbildun-

gen auf -issime im Französischen lexikologisch und lexikographisch als

marginal und unproduktiv gelten, kann Staib mit Hilfe des historischen

Textkorpus FRANTEXT zeigen, dass dieser Bildungstyp zwar im großen

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Ganzen in der Tat nicht sehr produktiv ist, gleichwohl für einzelne Basis-

lexeme im Laufe der französischen Sprachgeschichte unterschiedlich hohe

Vorkommen festzustellen sind. Auch Staib betont und belegt indes, dass

das Korpus vor der Analyse qualitativ zu bearbeiten, insbesondere durch

systematische Kriterien zu reduzieren ist, da eine rein „mechanische Aus-

wertung“ (S. 442) lediglich ausdrucksseitig verfährt und zu falschen Resul-

taten führt (u. a. -issime in Eigennamen oder lat. Zitaten). Nad iane

Kre ip l s Beitrag über eine Frequenzanalyse zur Untersuchung polysemer

Strukturen von Konnektoren, die sie onomasiologisch als „Ausdrucks-

arten von Sinnrelationen“ fasst, wird explizit als „Bericht aus der Praxis

der Korpuslinguistik“ eingeführt (S. 455). Untersucht werden Konnekto-

ren in einem Korpus wirtschaftssprachlicher Fachtexte, dem ein Korpus

literatursprachlicher Texte vergleichend gegenübergestellt wird. Der Kor-

puslinguistik, so darf man zusammenfassen, wird hier dieselbe Rolle für

lexikalisch-semantische Analysen zugesprochen wie in anderen Beiträgen

auch: Sie ergänze und erweitere „den häufig allzu sehr verkürzten Aus-

schnitt aus der sprachlichen Realität“ (S. 459), bedürfe allerdings einer

zuvor erstellten genauen Beschreibung des Gesuchten, um Fehler zu ver-

meiden und eine Vergleichbarkeit der Daten zu gewährleisten. Ein „Plä-

doyer für einen intelligenten Umgang mit Korpusmaterialien“ (S. 479) aus

der Feder Wul f Oeste r re i chers beschließt dieses vierte Kapitel und

den Sammelband und bringt dessen korpuslinguistische Grundmelodie

noch einmal zum Erklingen: Korpuslinguistik sei „ein fundamental herme-

neutisch zu verstehendes Geschäft“ und dürfe sich nicht mit der bloßen

„Multiplikation der Datenmengen“ zufrieden geben. Zu der mittlerweile

bekannten Unterscheidung von (authentischen) A-Daten, (modifizierten)

M-Daten und (introspektiven) I-Daten müsse eine Differenzierung nach

variations- und diskurslinguistischen Kriterien treten, auch in Form geziel-

ter Manipulationen. Probleme, die sich daraus für die Korpuslinguistik ins-

besondere im Rahmen der historischen Lexikologie ergeben, werden so-

dann an Beispielen aus dem amerikanischen Spanisch des 16. Jahrhunderts

diskutiert. Blickt man am Ende der Lektüre zurück auf den gesamten

Band, so ist eine Lesereise zurückgelegt, die an verschiedenen Orten und

Stationen Halt gemacht und den Reisenden auf den neuesten Stand ge-

bracht hat darüber, welche Leistungen die moderne strukturelle Semantik

zu erbringen im Stande ist und auf welche Weise sie sich neuen Heraus-

forderungen stellt. Zunächst eher zögerlich kommt dabei die Korpuslingu-

istik in den Blick, nimmt sodann zunehmend mehr Raum ein; der erste

und der letzte Beitrag des Bandes sind gleichsam komplementäre Pole auf

einer Skala des Zusammenwirkens von „Lexikalischer Semantik und Kor-

puslinguistik“. Als wohl wichtigstes Ergebnis ist festzuhalten, dass die

lexikalische Semantik, insofern sie Systembedeutungen nachspürt, ohne

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Elisabeth Berner 32

Korpuslinguistik im engeren Sinne auskommt; dass sie aber, sobald sie

Normbedeutungen und gar Redebedeutungen zu ermitteln sucht, Korpora

heranziehen kann, gar sollte oder müsste. Diese Korpora indes müssen

mit kritisch-philologischem Sachverstand vorstrukturiert werden, sollen

sie nicht rein quantitative Datenmengen sein und sollen sie einer semanti-

schen Analyse gute Dienste leisten können. Eine Schwierigkeit ist nach

wie vor – und auch dies macht dieser Band wieder bewusst –, dass eine

semantische Vorstrukturierung (ganz anders als etwa eine bloß ausdrucks-

seitig alphabetische) bereits den erkenntnis- und interessegeleiteten struk-

turellen Semantiker ins Spiel bringt, bevor das Korpus zusammengestellt

ist. Aber vielleicht finden lexikalische Semantik und Korpuslinguistik eben

dort zusammen, wo sie beide „fundamental hermeneutisch“ zu verstehende

Geschäfte sind.

Dana Janetta Dogaru. 2006. Rezipientenbezug und -wirksamkeit in der Syntax

der Predigten des siebenbürgisch-sächsischen Pfarrers Damasus Dürr (ca. 1535-1585)

(Documenta Linguistica Studienreihe 7). Hildesheim, Zürich, New York:

Georg Olms Verlag. xvi, 434 S.

Elisabeth Berner Universität Potsdam

Institut für Germanistik

PF 601553

D-14415 Potsdam

[email protected]

Mit dem insgesamt 1.108 Seiten umfassenden Manuskript der Predigten

des siebenbürgisch-sächsischen Pfarrers Damasus Dürr liegt der Arbeit

ein Text zugrunde, der zu den eher seltenen Überlieferungen der gebilde-

ten Siebenbürger Sachsen gehört und auch vom Umfang her ein Glücks-

fall für die Erforschung der Entwicklung des Schriftdeutschen jener Zeit

im Allgemeinen sowie der syntaktisch-strukturellen Ausdrucksweise im

Besonderen ist. Da Predigten aufgrund ihrer Textsortenzugehörigkeit für

den mündlichen Vortrag konzipiert sind, bietet sich die Möglichkeit, in

der Ausformung der einzelnen Satzbauelemente zugleich „deutlich er-

kennbare Kennzeichen der Hörerzugewandtheit“ (S. 1) zu ermitteln. Ob-

gleich nur in schriftlicher Form vorliegend und insofern Ausdruck des

Schriftdeutschen jener Zeit, wird in ihnen zugleich der predigende Autor

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