Die Enthauptung des Bildes der Medusa: cerebrum/vertebrae (Introduction to 'The Shield of Perseus')

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Ulrich Meurer, Maria Oikonomou EINLEITUNG DIE ENTHAUPTUNG DES BILDES DER MEDUSA CEREBRUM / VERTEBRAE Dass es mit dem Mythos beginnt, ist eine lange bekannte Tatsache – dies bereits ein Paradoxon, denn die »bekannte Tatsache« und dasjenige, was mit dem Mythos beginnt (»Ge- schichte«), gehören schon dem Logos an und offenbaren, dass die Rede vom Mythos immer eine nachträgliche ist: Zwar mag alles mit dem Mythos beginnen, doch kann er nur mit dem erst darauf folgenden Logos zur Sprache kommen. Dieses Machtverhältnis zwischen den beiden Instanzen wird sowohl den Inhalt als auch die Ordnung der vorliegenden Sammlung von Texten zum griechischen Frauenbild im Film als Dominante durchlaufen. Dass es mit dem Mythos beginnt, begründet zudem oft ge- nug die Vermutung, er sei ein archaisches Modell zur Domes- tizierung der Schrecken der Realität (Blumenberg spricht von der Angst angesichts des »Absolutismus der Wirklichkeit«, von der Überführung numinoser Unbestimmtheit in die no- minale Bestimmtheit durch den Mythos und davon, dass er das Unheimliche vertraut und ansprechbar mache). 1 Damit erledigt die Mythologie dieselbe Aufgabe wie die Vernunft, sie übernimmt bei der Überwindung der Fremdheit der Welt wie des Anderen eine »vernünftige« Funktion. 2 Aber es bleibt der Verdacht, dass hierin vielleicht eine durch das niemals hinter- gehbare (Selbst-)Verständnis des Logos angeleitete und des-

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U l r i c h M e u r e r , M a r i a O i k o n om o u E I N L E I T U N G DIE ENTHAUPTUNG DES B I LDES DER MEDUSA

CEREBRUM / VERTEBRAE Dass es mit dem Mythos beginnt, ist eine lange bekannte Tatsache – dies bereits ein Paradoxon, denn die »bekannte Tatsache« und dasjenige, was mit dem Mythos beginnt (»Ge-schichte«), gehören schon dem Logos an und offenbaren, dass die Rede vom Mythos immer eine nachträgliche ist: Zwar mag alles mit dem Mythos beginnen, doch kann er nur mit dem erst darauf folgenden Logos zur Sprache kommen. Dieses Machtverhältnis zwischen den beiden Instanzen wird sowohl den Inhalt als auch die Ordnung der vorliegenden Sammlung von Texten zum griechischen Frauenbild im Film als Dominante durchlaufen.

Dass es mit dem Mythos beginnt, begründet zudem oft ge-nug die Vermutung, er sei ein archaisches Modell zur Domes-tizierung der Schrecken der Realität (Blumenberg spricht von der Angst angesichts des »Absolutismus der Wirklichkeit«, von der Überführung numinoser Unbestimmtheit in die no-minale Bestimmtheit durch den Mythos und davon, dass er das Unheimliche vertraut und ansprechbar mache).1 Damit erledigt die Mythologie dieselbe Aufgabe wie die Vernunft, sie übernimmt bei der Überwindung der Fremdheit der Welt wie des Anderen eine »vernünftige« Funktion.2 Aber es bleibt der Verdacht, dass hierin vielleicht eine durch das niemals hinter-gehbare (Selbst-)Verständnis des Logos angeleitete und des-

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halb projektive Fest-Stellung des Mythos aufscheinen könnte, denn eine solche Lektüre stellt ihn zwar, in seiner gleichsam prähistorischen Unfassbarkeit oder in der rohen Medialität des Oralen, als vorvergangen und rudimentär dar; zugleich jedoch misst sie ihm immer schon die zivilisierende Bedeu-tung des Symbols und der Schrift zu.3 Wäre stattdessen nicht auch nach dem Fabulieren jenseits aller Signifikanz oder – an-gesichts des weit verzweigten Paradigmas von unaufhörlich substituierbaren mythologischen Figuren und Begebenheiten – nach der dezentrierten und referenzlosen Strukturalität, wo-möglich nach einer ganz »unlogischen« und ganz »anderen« Seinsweise des Mythischen zu fragen? So jedenfalls entzöge sich der Mythos ein Stück weit seiner Interpretation als Er-klärungsmodell und würde in der Tat zum Anderen des fol-gerichtigen und hermeneutischen Denkens, das vom homo significans als überlegenes symbolisches System unermüdlich an ihn herangetragen wird.

Dass es mit dem Mythos beginnt, verleiht ihm schließlich ein »geschlechtliches« Gepräge. Denn er selbst schon ist aus frühen und späteren Sedimenten und Schichten aufgebaut, deren unterste den vorzivilisierten Zustand der Welt mit ei-nem unteilbaren, unzähmbaren und animalischen Schrecken des Weiblichen belegt (der grausame Block Medea; das opake Rätsel der Sphinx; die maßlose, sodomitische Pasiphae; der fein klingende Magnetismus der Sirenen), bevor dann auch der Mythos in die Phase der Kultur und des Diskurses ein-tritt; dafür aber gilt es, einen Drachentöter, einen Jason, Ödi-pus, Odysseus zu mobilisieren, der der furchtbaren Urbedro-hung entgegentritt und ihr im Namen der Polis und der anste-henden patriarchalen Ordnung – vorübergehend zumindest und unvollständig, da immer wieder etwas aus dem Dunkel auftauchen will – ein Ende macht. Insofern zeichnet sich im

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Bereich des Mythischen selbst ein Machtwechsel ab, der dem-jenigen ähnelt, welcher später dann den gesamten Mythos im Logos zu beschließen sucht (deshalb auch verwundert es kaum, wenn die in diesem Band besprochenen griechischen Frauenbilder meistenteils dem Mythos entstammen, auf ihn rekurrieren, ihn erneuern: sie unterliegen dem gleichen ord-nenden Gesetz und dem gleichen kadrierenden Blick, wie sie sich beidem ebenso entwinden und als subversive und subli-me Figuration wieder auftauchen). In jedem der drei angeführten Merkmale des Mythos – in seiner diskursiven Abhängigkeit vom Logos, der (für) ihn spricht; in seiner Rationalisierung als Deutungs- und Zei-chensystem; in seiner Verdrängung weiblicher Monstrosität durch die Regel des Symbolischen – äußert sich der An-spruch, in ihn ein Regime einzuführen oder über ihm eines zu errichten; manches Mal scheint es sogar darum zu gehen, den Mythos allererst zu phantasieren, nur um ihn daraufhin durch den Logos als seinen Sachwalter ersetzen zu können. Dies in ein Bild zu fassen, bietet sich aus vielerlei Gründen die ihrer-seits mythische Erzählung um Perseus und die Gorgo Medu-sa an (der dadurch gleichzeitig eine meta-mythische Funktion zukommt): Der argivische Heros macht sich im Auftrag von Polydektes, König von Seriphos, zum Rand der Welt auf, um das Haupt der Medusa zu erringen. Ausgestattet mit einer Auswahl magischer Instrumente, geflügelten Sandalen, einem diamantenen Sichelschwert, einer Tarnkappe und dem Schild der Athene, erreicht er die Wohnstätte der Gorgonen, köpft die Medusa, deren versteinernden Anblick er meidet, indem er lediglich ihr Spiegelbild in seinem blanken Schild fixiert, und entflieht mit seiner Trophäe über Libyen und Äthiopien zurück nach Seriphos.

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Herauszustellen ist an diesem Mythos hier zunächst, dass es ihm – genetisches Merkmal der gesamten »Gattung«? – an einer ursprünglichen und geschlossenen Form gebricht. Kein Text initiiert ihn; er existiert bestenfalls als Durchschnittsbild seiner Varianten und frühesten Versionen – von Homer und Hesiod über Lucan, Plinius und Pausanias. Seine Einheit stellt sich erst durch eine Paraphrase wie die hiesige ein, durch die Reduktion auf einen integrierenden Kern mittels des Logos, oder aber durch die neue, die immer nächste Bearbeitung, durch die Gestaltung also auf dem Boden eines Mediums. Jenes Prinzip unumgänglicher Vermittlung scheint jedoch schon der Mythos selbst zu besprechen: Das Archaische, die Medusa, bleibt konsequent unsichtbar; indem es sich zeigt, entzieht es sich augenblicklich und hat sich nie gezeigt, denn wer der Gorgo ansichtig wird, ob Mensch, Tier oder Pflanze, verwandelt sich auf der Stelle, ohne jedes zusammenfassende Erkennen und ohne alle noch so geringe Verzögerung, die ein Registrieren des Objekts verlangen müsste, zu Stein, so dass am Ende wieder niemand die Medusa je gesehen hat. Dazu be-darf es der Wiedergabe, es bedarf des Mediums als eines Drit-ten zwischen Blick und Angeblicktem, um überhaupt eine Form wahrzunehmen: der Schild, der die Medusa als Refle-xion sichtbar macht und damit zugleich die notwendige Re-präsentation des Mythischen durch ein diskursives Werkzeug reflektiert. In der Geschichte von Perseus und Medusa findet solcherart eine Verhandlung der Unerlässlichkeit des Media-len (und des Aisthetischen) statt, die den Mythos erst zum Vor-schein bringen. Wie sich in dieser Konstruktion des Urbilds durch das Abbild – in der, da die erste der beiden Instanzen für sich keine Realität besitzt, das jeweilige Präfix recht ei-gentlich seine Bedeutung verliert und nur das Bild bleibt – nun ein Machtverhältnis zeigt, belegt die Engführung jener

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Aufdeckung des Mythos mit seiner Zähmung; nicht nur wird das bedrohliche Vorzeitige zum ersten Mal sichtbar, es ver-liert in der Darstellung und Verarbeitung durch den Spiegel (vorerst) seine Kraft.4

Darüber hinaus birgt der Mythos Elemente, die man als Hypostase nicht nur im Allgemeinen eines Medialen oder einer Vermittlung, sondern im Besonderen des Filmischen lesen kann: Medusa nämlich ist die Figur der Stasis, ein »ei-gentlich ganz untätige[s] Wesen«,5 da seine Gefahr im bloßen Aussehen liegt, und dazu eines, das um sich herum alle Bewe-gung einfriert. Sie bedroht Himmel und Meer mit seltsamer Lähmung und zieht über die ganze Welt eine steinerne Krus-te. Vögel werden im Flug schwer und fallen herab, wildes Getier verharrt regungslos auf seinem felsigen Standplatz, zu marmornen Statuen wandeln sich ganze Völkerschaften im nahe gelegenen Äthiopien.6 Die Konstellation des Blicks, des Anblickens und Versteinerns aber ruft die Fotografie auf, in der es eine vergleichbare Stauung gibt, »Inbegriff eines Still-stands«,7 sobald sich das Objektiv des Objekts bemächtigt hat. Der fotografische Apparat erzeugt zufällige Standbilder, die gerade im Aufruf ihrer realen und atmenden Vorlage umso mehr deren Bewegungslosigkeit ausstellen. Und wenn Roland Barthes von der tragischen Verschränkung zweier Zeiten im Foto spricht, von dessen punctum, das da heißt: »das wird sein und das ist gewesen«, »dies ist tot und dies wird sterben«,8 so gleichen dem Lichtbild auch darin die von der Medusa petri-fizierten Körper. Einerseits sind sie dem vergangenen Leben ähnlich – eben keine Denkmäler, die als Synthesen auf die Person nur ideal verweisen – und vermögen als eine bis aufs Haar und bis auf die feine Muskelspannung treue Form das Dagewesensein des lebendigen Menschen in seinem toten Hiersein zu belegen. Andererseits tragen sie zugleich den ge-

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spenstischen futurischen Aspekt des Fotos in sich, denn wer die Medusa anschaut, erstarrt augenblicklich und in der Hal-tung, die er gerade einnimmt; er wird zum Bild seines aktiven Selbst und zum knappen Zeitschnitt, so dass man mit Fug über die Figur noch sagen könnte, gleich erst, jetzt wird sie sterben, da noch ein Rest von Verhalten in ihr ist.

Diese Starre aber zu verhindern, den gegenwärtigen Tod des Fotografischen zu überwinden und weiterhin Bewegung zu garantieren hat sich Perseus zur Aufgabe gemacht, die Fi-gur der Kinese, die mit den Flügelschuhen des Hermes Län-der durchquert und in unsichtbarem Flug den Schwestern seines Opfers, Stheno und Euryale, entkommt. Noch dazu ist es eine optische Anordnung, mit deren Hilfe er, während Me-dusa schläft, den Schrecken des Statischen beendet. Der po-lierte Schild – nach Remigius von Auxerre aus Kristall, dem Liber monstrorum zufolge aus Glas9 – dient als Reflektor, mit dessen allerdings seitenverkehrtem Bild Perseus für seinen Hieb Maß nimmt. Es ist das bildproduzierende Gerät, die von einem Schirm zurückgeworfene Repräsentation, welche die versteinernde Macht brechen und der Welt die Bewegung zurückerstatten, so dass dem Halsstumpf des toten Mons-trums fotogrammatischer Stasis die rege Imagination in Ge-stalt des geflügelten Pegasus entspringt.10

Schließlich steht der Mythos von der Enthauptung der Me-dusa nicht lediglich ein für die Unerlässlichkeit medialer Wie-dergabe oder für die Bewältigung des Stillstands durch eine (filmische) Optik, sondern führt dieses Repräsentationsregime ebenso als eng verflochten mit einem männlichen Diktat vor: Von Beginn an ist die Gorgo Medusa schuldlos unterworfen, wird zuerst von der auf ihre vormalige Schönheit eifersüchti-gen Athene – aus dem Kopf des Zeus entsprungen und (da-her) männlichste aller Frauen – in ein Ungeheuer verwandelt

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und später dann von Perseus wegen eines hohlen Verspre-chens ohne Not getötet. Hierdurch schon gibt sie sich als immer behandelte Figur zu erkennen, die der Willkür des männlichen Logos ausgeliefert scheint. Dazu aber gehört die Medusa jener schon erwähnten untersten Schicht oder Matrix des Mythischen an, die als unheimlicher und mit dem Weib-lichen untrennbar assoziierter Mutterboden aller späteren Zivilisationsbewegung innerhalb des mythischen Kosmos dient; sie ist eine Gestalt, die »im klassischen Altertum zur Repräsentantin des Fremden und Anderen wird und deren Schicksal ebenso wie das Medeas und Andromedas eng mit den Eroberungs- und Kolonisierungsunternehmen der grie-chischen Heroen verknüpft ist«.11 Entsprechend identifiziert sie etwa der schwärmerisch in der Archäologie dilettierende Wissenschaftsautor und exilierte deutsche Kaiser Wilhelm II. in seinen Studien zur Gorgo als Wesen einer finster-mütterli-chen Vorzeit, welche die Antike selbst zu überwinden sich anschickt.12 Desgleichen siedelt wenige Jahre zuvor auch Sig-mund Freud die Medusa – freilich in ganz anderer Absicht, nämlich als Bestätigung, die seine Theorie vom Kastrations-komplex durch das grauenvoll schlangenumwundene Gesicht (ein einziges weibliches Genital) erfährt13 – auf dem »dunklen Kontinent« der Sexualität der Frau an und deutet sie im Zu-sammenhang von Geschlecht und Macht.

Dies, die befremdende Weiblichkeit, die einem ausgreifend systematisierenden patriarchalen Regime anheim fällt, lässt sich jedoch erst durch Luce Irigarays Geschlechterkonzept von Reflexion und Mimese mit dem Aspekt einer nicht zu-letzt medialen Verdoppelung zusammenführen, und dabei vollzieht sich eine seltsame Umkehrung: Irigaray verficht die bewusste mimetische Wiederholung der marginalen Position, die der herrschende Diskurs dem Weiblichen zuweist, durch

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die Frau selbst als einzig mögliches Verfahren, eben diesen Diskurs zu unterminieren:

Es existiert, zunächst vielleicht, nur ein einziger »Weg«, derjenige, der historisch dem Weiblichen zugeschrieben wird: die Mimetik. Es geht darum, diese Rolle freiwillig zu übernehmen. Was schon heißt, eine Subordination umzu-kehren in Affirmation, und von dieser Tatsache aus zu beginnen, jene zu vereiteln. [...] Mimesis zu spielen bedeu-tet also für eine Frau den Versuch, den Ort ihrer Ausbeu-tung durch den Diskurs wiederzufinden, ohne sich darauf einfach reduzieren zu lassen. Es bedeutet [...], sich wieder den »Ideen«, insbesondere der Idee von ihr, zu unterwer-fen, so wie sie in/von einer »männlichen« Logik ausge-arbeitet wurden; aber, um durch einen Effekt spielerischer Wiederholung das »erscheinen« zu lassen, was verborgen bleiben mußte.14

Nun scheint in dem von Irigaray auch im Folgenden verwen-deten Wortfeld – von der Mimesis und dem Spiel über die Wiederholung, das Erscheinen, das speculum und die Reflexion bis hin zum Anderen, zum Wider-Schein und zur re-semblance – zu-nächst der Spiegel auf, der in der Hand des Perseus das My-thische sicht- und behandelbar macht. Jener Spiegel ist, wie gesagt, Synekdoche des Mediums, des optischen Gerätes, führt mithin die Fotografie wie auch den Film als Repräsen-tationssysteme vor, denen der Mythos und das archaische Frauenbild, um das es hier geht, ihre Wahrnehmbarkeit und Objektivität verdanken. Aber es ist, als entwinde Irigaray die-sen Spiegel seinem Besitzer, um ihn dem Opfer zu überant-worten. Darin liegt die seltsame Umkehrung (von der Sub-ordination zur Affirmation); war es zuvor der Okkupator des Diskurses, der ihn ganz für sich beansprucht und in der Ver-doppelung der Medusa durch das Bild seine Macht durchge-

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setzt hat, so ist es jetzt die Frau, ist es Medusa selbst, die sich des Spiegels bedient, sich seiner Macht willentlich auszusetzen scheint und sie, indem sie sich der Verbildlichung hingibt, be-wusst reproduziert. Hat bisher der Held mit Hilfe seines Schildes das Bild des Weiblichen erzeugt, wie es sein Blick und seine Waffe zu domestizieren suchen, so dient das reflek-tierte Bild gerade in seiner Treue zur männlichen Idee und sogar in seiner Eigenschaft als Mordwerkzeug nun unverse-hens der Gorgo Medusa dazu, sich als verstummtes und ver-stümmeltes Wesen zu sehen und ihrem Gegenüber darzustel-len. Die Mimese ist auf ihrer Seite. In der Bestätigung des überkommenen Machtverhältnisses läge also dessen Destabi-lisierung; die Gorgo ließe sich ansehen, ordnete sich so dem ihr aufgezwungenen Blick unter, und wäre doch zugleich an-derswo – ein Anderswo, das sie sich schafft »zum Preis einer erneuten Durchquerung des Spiegels, der alle Spekulation auf-rechterhält«.15

Eine solche subversive Taktik der Unterlegenen mag erklä-ren, weshalb das abgeschlagene Haupt der Medusa weiterhin fast ungebrochen wirksam bleibt. Auf seinem Weg nach Seri-phos verwandelt Perseus mit dessen Hilfe zuerst Atlas, der ihm die Gastfreundschaft versagt, in ein Gebirge; genauso er-starren Phineus, der mit dem griechischen Heros um Andro-meda konkurriert, samt seinen zweihundert Gefolgsleuten, dann König Polydektes und sein Hofstaat beim Anblick des Kopfes, den Pallas Athene schließlich als mächtige Waffe in die Mitte ihres Schildes setzt. Zumindest also muss ein Rest bleiben, der sich dem Regime der symbolischen Ordnung entzieht (beziehungsweise in deren bewusster Anerkenntnis und Mimese jene Ordnung verdoppelt, bestätigt, entkräftet). Das Ende des Weiblichen ist vorübergehend, eben weil es den Nacken beugt und sich dem Tod ausliefert; etwas taucht

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wieder auf, was unbewältigt im Verborgenen nur darauf ge-wartet hat und immer noch darauf wartet – wohlverwahrt im verschnürten Beutel Perseus’, begraben unter einem Erdhügel in Argos.

Diese Subversion des Mythos von der Gorgo Medusa wirkt mutatis mutandis offenbar ebenso in der Darstellung des Weiblichen in einem Medium, das man ableiten kann aus jener ersten Erzählung einer Überwindung der Stasis durch eine bildgebende Optik: Die Reflexion in Perseus’ Schild, der sich die wissende Medusa aussetzt, weist voraus auf die Re-präsentation der Frau, auf die »griechischen Frauenbilder im Film«, wie sie dieser Band versammelt. Stets hat es auch hier den Anschein, als konzentrierten sich die männlichen An-schauungen und Ideen vom Weiblichen im Hohlspiegel kinematografischer Imagination, und ebenso beharrlich befreit sich das Weibliche aus der reinen Betrachtung und Bespiegelung, just indem es sich ihr scheinbar naiv anheim gibt. Insofern wiederholen die Filme ihr mythisches Vorbild, zuweilen indem die Frauenfiguren bewusst die ihnen im Dis-kurs zugewiesenen Positionen einnehmen und dadurch am Ende doch immer schon ihren autonomen Raum, ihr Wollen und Handeln durchgesetzt haben – vom Hirtenmädchen, hinter dessen ausgestelltem nacktem Körper und hysteri-schem Gefühlshaushalt ein ungeahnt erfahrenes Selbstver-trauen aufscheint (Daphnis und Chloe), bis hin zur Griechin in Chicago, die sich dem väterlichen und dem Familienwillen unterstellt und eben dadurch den eigenen Willen erst realisiert (My Big Fat Greek Wedding). Ein anderes Mal erweist sich die emanzipatorische Macht der Niederlage, indem etwa Brigitte Bardot in ihrem banalen Sterben (Le Mépris) oder auch Melina Merkouri in ihrer blutigen Selbstopferung (Stella) die Gewalt des Blicks und der Männerliebe längst bereits in den Grenzen

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der bloßen Filmhandlung zurückgelassen, ihre Rolle überstie-gen haben und jenseits des vom Plot vorgeschriebenen Todes zum Leinwand-Mythos geworden sind. Und schließlich ist da Medea, die kolchische Zauberin, deren Name an den der Me-dusa anschließt und sie – wie diese – als »mächtige Gestalt der Vorzeit« ausweist.16 Ob sie nach dem Kindsmord das eigene Haus in einem Flammensturm versinken lässt und Jason da-mit die Bestattung seiner Söhne verwehrt (so endet Pasolinis Version der Geschichte) oder ob sie sich, während ihr Mann bis zur Erschöpfung im Kreis jagt, mit der ruhigen Flut ein-schifft (Lars von Triers Version) – in jedem Fall entkommt sie dem strafenden, symbolischen Gesetz der Zivilisation, dem sie zuvor in hoffnungsloser Selbstaufgabe sich unterstellt hat, weil sie sich ihm unterstellt hat, und dadurch jetzt dessen xenophobes Gerüst freizulegen vermag. Ihre vernichtende Zauberkraft ist ungebrochen, sie nimmt sie mit sich, und we-der die Mythologie noch das Kino weiß etwas von ihrem Ab-leben.17 Aber im Bild des Medusenhauptes, das auch dann noch seine unheilvolle Kraft übt, wenn es vom Leib, seinen Blut- und Nervenbahnen, seinem Atem und Herzschlag getrennt wurde, offenbart sich nicht nur der unheimliche Erfolg jener von Iri-garay vertretenen Strategie, sich der »männlichen« Idee und ihren Bildproduktionen zu unterwerfen und in diesem mime-tischen Akt deren Herrschaft zu untergraben. Es tritt darin nämlich zugleich ein Konzept zu Tage, das man neuerlich als Machtkonstellation beschreiben muss, die alle Politik, Philo-sophie, Physiologie, alles abendländische Denken durchläuft und wiederum von einem Modell patriarchaler Signifikanz begleitet wird: Es ist der instrumentale Blick, es ist der Kopf – und er allein –, der als Sitz eines wenn auch nur mehr rudi-

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mentären Willens agiert. In ihm wohnt die Bedrohung, er ist Zentrum und einziger General der Kraft, während ihr die körperliche Peripherie der ansonsten bedeutungslosen Glied-maßen bestenfalls einen größeren Bewegungs- und Aktions-radius gewähren darf. Mit diesem durchweg intellektuellen Schema, das die Idee, das Erkennen, die Optik, das Wollen und die Macht im Kopf ansiedelt und den Körper als Abfall am Rand der Welt zurücklässt, wird die Gorgo (nachdem sie sich zuerst Perseus und dessen Reflexion hingegeben und so nicht den Sieg des Helden, sondern sich selbst affirmiert hat) letzten Endes doch wieder in die Strukturen des Sehens, in die Hierarchien eines männlichen Logos und in den Idealis-mus eingespannt. Eine fatale Kehre nach der anderen – der Mythos von der Überwindung Medusas wird zum Mythos ihrer ungebrochenen Macht gewendet, der jedoch, indem er ausschließlich vom Kopf erzählt, diese vorzeitliche Macht ein zweites Mal zu brechen versteht; am Ende gilt wie zuvor cerebrum statt vertebrae, Kopf statt Körper, Logos statt Mythos, Blick statt Wahrnehmung.

Für das Kino und seine Theorien legt Heide Schlüpmann exemplarisch dar, wie vor allem die feministische Debatte der siebziger und achtziger Jahre, der auch Irigaray zuzurechnen ist, diese letzte Wendung ignoriert und gerade in ihrer Kritik des männlichen Blicks auf der Leinwand unwillkürlich dessen Ideal des Sehens und des hegemonialen Logos folgt. Daher habe die eingeschränkte Fixierung auf das begehrende Auge schließlich jene feministische Auseinandersetzung mit dem Kino in sich zusammenfallen lassen.18 Stattdessen gelte es, in der Theorie von der Konzentration auf das Haupt, das objek-tivierende Sehen und die Technik der Kinematografie Ab-stand zu gewinnen und sich einem anderen, eher vegetativen Teil des Filmerlebens zuzuwenden. Denn »[schließen] die

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Blickkonstruktionen den weiblichen Standpunkt aus, bleibt die Frage nach einer Wahrnehmung, die nicht im Blick auf-geht«.19 Dieser Begriff – die Wahrnehmung – ist es nun, den Schlüpmann gegen den Blick ins Feld führt, um, wie sie sagt, mit seiner Hilfe die Liebe der Theoretikerinnen zum Kino aus ihrer Blindheit zu befreien. Dabei stützt sie sich grundlegend auf die Schriften Friedrich Nietzsches, auf dessen Kritik am Projekt der Aufklärung, auf dessen Preisgabe des Idealismus und der »›Weisheit‹ als Qualität der männlichen Existenz« so-wie auf dessen Versuch, »dem in der philosophischen Tradi-tion verborgenen ›Realismus der Wahrnehmung‹ Geltung zu verschaffen«.20 Folgerichtig bezieht sich auch das häufig wie-derholte Leitmotiv ihres Buchs auf eine Formel Nietzsches – am Leitfaden des Leibes.

Um nun die mit feministischer Argumentation durchwobe-ne Einleitung des vorliegenden Buchs, die Rede über die grie-chischen Frauenbilder im Film und den Mythos der Medusa nicht ebenso der Blindheit und dem Zusammenfall auszu-setzen, indem man sie auf die – sicherlich nicht nur assoziativ miteinander verknüpften – Elemente des Blicks, des Gehirns und des Kopfs reduzierte, bedarf es also der Hinwendung zum Leib. Auf diese Weise erfährt der Mythos vom Kampf des Perseus gegen die Gorgo seine dritte Wendung, allerdings nachdem der Heros bereits den Ort seiner Heldentat mit dem verschnürten Haupt verlassen hat. Auf dem Wüstenboden ist zurückgeblieben, was für Perseus, für den gesamten Kreis der mythischen Erzählungen, die philosophische Tradition und die Theorie des Kinos nicht von Interesse ist: der kopf- und blicklose Körper, vertebrae statt cerebrum. Der Körper ohne re-gierende und integrierende Instanz lässt nun die Haupt-Sache vermissen, in der sich das hergebrachte idealistische Denken abgespielt hat; er stellt stattdessen die Verkörperung der Din-

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ge, des Materials und des Leibes dar. Etwa für Gilles Deleuze gerät dies zum Bild eines fundamentalen Wechsels im Den-ken: »Die abendländische Philosophie war das Hirn oder der väterliche Geist, der sich in der Welt als Totalität und in einem erkennenden Subjekt als Eigentümer verwirklichte.« Derweil sei der Pragmatismus, der sich gegen eine solche patriarchale Philosophie aufrichte, »[die] Affirmation einer Welt als Prozeß, als Archipel […], bewegliche Punkte und ge-wundene Linien, denn die Wahrheit hat immer ›zerrissene Ränder‹. Nicht ein Hirn, sondern eine Wirbelkette, ein Rü-ckenmark«.21 In Analogie zu diesem Schema, das der pragma-tischen Philosophie erlaubt, sich des alten Geistes zu entle-digen, das ohne ein zentrales und regelndes Prinzip, das ohne Kopf auskommt, entzieht sich auch der Körper der Medusa endgültig dem Zugriff Perseus’, erübrigt sich also die Mimese der Idee, die der männliche Diskurs laut Irigaray vom Weib-lichen entwirft. Desgleichen befreit das Konzept des Leibes, enerviert allein durch das Rückenmark und seine Verzweigun-gen, das Kino und seine Theorie vom Primat des Blicks. In den hier behandelten Filmen tritt daher bisweilen das Ungese-hene und Verborgene an seine Stelle, etwa in Theo Angelo-poulos’ Adaption des Atriden-Mythos, dessen alles initiie-rende Tat – der Mord am heimkehrenden Agamemnon – der Kamera entzogen hinter verschlossener Tür geschieht; ein andermal sieht sich der Blick ersetzt durch die (moralische) Stimme, die Antigone noch in ihrer dunklen Kammer Gehör verschafft, schließlich versagt seine zusammenfassende Kraft vollends vor der anatomischen Zerstückelung, die der Avant-garde-Film am medialen Körper des Prometheus exerziert.

Und wie der Korpus der Filme wird ebenso dieser Band, dessen Teile sich aus gänzlich unterschiedlichen theoretischen und stilistischen Richtungen wie auch in immer wechselndem

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Umfang und Anspruch ihrem Gegenstand nähern, in seiner Ordnung vom abwesenden Regelsystem, vom Fehlen des Blicks und des Haupts und vom Modell der Wirbelkette angeleitet: Anstatt die Beiträge zu Organen zu degradieren, die dem Diktat eines einzigen Programms gehorchten – der methodischen Unterscheidung etwa zwischen Mythosbear-beitung und modernem Stoff, dem Prinzip historischer Pro-gression –, anstatt sie der zentralen Gesetzgabe eines Kopfes (kephale) zu unterstellen, bilden die Kapitel (kephalaia) eine vielköpfige beziehungsweise kopflose Verknüpfung von Isolaten und flottierenden Relationen, in der »jedes Element für sich allein steht und gleichwohl in Beziehung zu den an-deren«.22 Es geht darum, die Struktur durch eine lose Serie der Texte zu ersetzen, so dass zwar eine lockere Koppelung zweier benachbarter Knoten noch auszumachen ist, eine Art intervertebrale Bandscheibe oder faserknorplige, flexible Ver-bindung zwischen den Wirbeln, nicht mehr aber ein kodiertes und womöglich baum- oder pyramidenförmiges System. Ein-zig der Aufsatz Angie Voelas über das Filmexperiment Prome-theus Retrogressing, der am entschiedensten ein »weibliches« Kino vom Bild der Frau oder der Bildproduktion durch die Frau löst, nimmt eine in gewisser Weise noch selbstreflexive oder bündelnde Position ein: Er entdeckt in der fragmentie-renden, einer triebhaften Wiederholung hingegebenen und vernunftlosen Ästhetik des Avantgarde-Films anstelle der symbolischen eine im Sinne Julia Kristevas semiotische Dar-stellungsweise, setzt sie – unabhängig vom Bildgegenstand – dem kontrollierenden und zentrierenden Panoptikon des klassischen Kinos entgegen und scheint damit zugleich die möglichst kontingente und alineare Verfertigung dieses Ban-des zur Sprache zu bringen; insofern bildet Voelas Beitrag ein Ganglion im Nervengespinst der Texte, eine flüchtige Kon-

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zentration und auch eine Metaisierung in deren Rede, die im-mer erneut abbricht und anhebt. Zwar taucht er deshalb an choratischem Ort in der Mitte des Buchs auf, geht jedoch zu-gleich in dessen Serie gleichberechtigter und autonomer Elemente auf, indem er eben weder an programmatischer Stelle dem Übrigen vorangeht noch die Wirbelkette synthe-tisierend abschließt ...

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Der von Irini Stathi und Angie Voela gemeinsam verfasste erste Beitrag betrachtet das griechische Kino anhand zahl-reicher Fallbeispiele zum einen als Reflexionsfläche, zum anderen als Produktionsstätte eines Frauenbildes, das bis in die Gegenwart immer neue Umschichtungen und Konzeptu-alisierungen erfährt. Dominiert bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts die oftmals in Stereotypen befangene Marginalisierung des Weiblichen als Objekt eines ihm auf-gedrängten Begehrens oder als Träger eines Familienideals, so zeichnet sich nach Stathi/Voela daraufhin – gerade im Ver-such einer Reduktion der Komplexität des modernen Ge-schlechterverhältnisses im realitätsfreien heterotopischen Raum der Mythosverarbeitung – seine zunehmende Proble-matisierung ab. Im Hinblick auf das in den Achtzigern zu verzeichnende Anwachsen feministischen Bewusstseins und nach der darauf antwortenden und zusehends rigideren Ten-denz einer (psychosozialen, medizinischen, politischen, religi-ösen, künstlerischen und kinematografischen) Kontrolle und Domestizierung der Frau und ihrer zuweilen gar zerstöreri-schen Abweichung mündet der Prozess in eine verunsicherte Selbstbefragung des Mannes und die Destabilisierung seines Rollenverständnisses auf der Leinwand. Jene Erschütterung der bisher überaus wirksamen gynophoben Strategien des Kinos, die jetzt auf den Mann zurückfällt, veranschaulichen Stathi/Voela schließlich an drei Versionen des Orpheus-Mythos, Me ton Orfea ton Avgousto (Mit Orpheus im August, George Zervoulakos 1996), Adis (Hades, Stelios Haralambo-poulos 1997) und Kamia sympatheia gia ton diavolo (No Sympathy for the Devil, Dimitris Athanitis 1998): Stets erfährt sich hier »Orpheus« als isoliert, dem Leben entsetzt und büßt, nach-dem die Rettung aus der Unterwelt ein um das andere Mal misslingt, am Ende seine Identität ein. Derweil ist es Eury-

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dike, die in der Unterwelt ihr Zuhause findet (ein Echo noch auf die Heterotopie, die dem Weiblichen zugewiesen wird) und indifferent dem Scheitern der männlichen Logik und stringenten Narration beiwohnt. Der anschließende knappe Essay des Roman- und Drehbuch-autors Petros Markaris stellt statt eines solchen diachronen Wandels des Frauenbilds im griechischen Kino dessen Kon-stanz in den Vordergrund (dies – die Frage nach der Histori-zität von Weiblichkeitskonzepten – die »Bandscheibe« zwi-schen den ersten beiden vertebrae des Textkorpus): Das Werk Theo Angelopoulos’ rekurriere seit dessen kargem und lako-nischem Spielfilmdebüt Anaparastasi (Rekonstruktion, 1970) unablässig auf die antike Tragödie und besonders auf deren Bearbeitungen des Atriden-Mythos. Auf dessen Boden und als Spiegel der durch Krieg, Bürgerkrieg und Diktatur gepräg-ten Geschichte des Landes entwerfe Angelopoulos durch-gängig den Typus der leidenden und opferwilligen Frauen-figur, der spätestens mit To vlemma tou Odyssea (Der Blick des Odysseus, 1995) archetypische Bedeutung für den gesamten Kulturraum des Balkans zukomme. Während allerdings dieser Typus einerseits regressive Züge aufweist, da er eine Kontinu-ität des Musters passiver und niedergehaltener Weiblichkeit vom Altertum bis in die jüngste Gegenwart postuliert und darin alles nonkonforme und transgressive Potential sowohl der mythologischen Frauengestalten als auch der modernen Emanzipationsbewegung leugnet, ist er Markaris zufolge an-dererseits als »sozialrealistisch« zu verstehen, indem er die ungebrochen patriarchalen Verhältnisse der griechischen Ge-sellschaft repräsentiere.

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Gegen jenes Schema einer in und an der Symbolwelt lei-denden Weiblichkeit stellen sich nun die Frauenbilder in Lars von Triers Medea (1988) und Dogville (2003): Virginia Richter legt anschaulich dar, wie stets der Mythos von Medea nach der Erfüllung seiner grundlegenden dreigliedrigen »Formel« verlangt, welche die Figur als Magierin, Fremde und Kinds-mörderin identifiziert; hierdurch aber ist sie dem Diskurs nicht mehr (oder bestenfalls als dessen Grenze) einzuordnen und überschreitet – ob in der Überzeichnung des Barbari-schen oder in dessen moderner Kritik – in allen Versionen seit Euripides immer wieder die Demarkationen des Mensch-lichen, der Polis und ihrer Moral. Dabei handelt Trier jenen Grundkonflikt nicht zuletzt auf der formal-ästhetischen Ebe-ne seiner Verfilmung ab, indem er den dialogischen discours und die histoire der klassischen Tragödie in einer metamedialen Betonung des Kinematografischen auflöst – das körnige Filmmaterial, der expressive Kontrast und die verfremdende Farbgebung leiten die Bilder hin zum Abstrakten, während die Entschleunigung der Handlung, der Einsatz der Pause und eine zirkuläre Erzählstruktur das zielgerichtete Narrativ in Frage stellen. Da auf diese Weise einerseits die Geschichte zum Träger des Formexperiments gerät, andererseits jedoch der Medea-Stoff immer seine formelhafte Bestätigung fordert, da die autoreflexive Kreisbewegung (Medea) und die lineare Handlung (Jason) sich derart ergänzen und zugleich aneinan-der reiben, lässt sich von einer Verlagerung jener beiden kolli-dierenden Prinzipien des Mythos in die Gestaltung des Films sprechen. Ähnlich verfährt auch Dogville, wenn er die Dyna-mik des Aktionsbildes im Tableau und im Theatralen zurück-nimmt. Hier ist es die Hauptfigur Grace, die das Moment der Transgression markiert; ihre Opferrolle wie auch die Rache an der Dorfgemeinschaft stellen ein unmäßiges Handeln dar, das

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sie in die Nähe des moralischen Problems Medea versetzt. Und wie schon dort das Dilemma als Frage nach der Form des Erzählens aufscheint, begegnet man hier dem Ethischen wiederum im Ästhetischen: Der Antirealismus bühnenhafter Inszenierung verwandelt den Film in eine vor allem experi-mentelle Auseinandersetzung zwischen christlicher und an-tiker Weltordnung, die Lars von Trier allerdings in den for-malen Bedingungen seines Werks als aporetisch ausstellt: Wird bereits die Bekräftigung der Rache als Handlungsmaxi-me in beiden Filmen paradox formuliert – ein zweites Un-recht tilgt nicht das erste, aber der Bruch mit der Norm wirkt dennoch befreiend –, so weist die explizit künstliche und de-konstruierte Handlungsgestalt ein weiteres Mal auf dieses pre-käre Verhältnis von Opfer und Rache, das in jeder Bearbei-tung immer erneut diskutiert, niemals aber zum Abschluss gebracht werden kann. Auch Aristotelis Chaitidis widmet sich dem »Problem Me-dea«, nun allerdings mit Blick auf die eingangs verhandelte Dialektik von Mythos und Logos: Wie schon Cherubinis Oper alle Handlung vom Wort in den Gesang verlege, trans-poniere seinerseits Pier Paolo Pasolini die Tragödie ins Bild – ein Analogon, das die Wahl der gleichsam archaisch-instinkt-haft anmutenden Hauptdarstellerin Maria Callas für seine Medea-Adaption (1969) motiviere. Auf diese Weise vom sprachlichen Ausdruck weitgehend gereinigt, strebt Pasolinis Film laut Chaitidis die Präsentation des Mythischen vor des-sen Umwandlung durch Symbol und Logos an. Im zeichen-freien Bild des Realen, das der Regisseur am klarsten noch in der Einstellungssequenz verwirklicht sieht, die dem Gesche-hen der Welt ihre unendliche Linearität beiordnet, kann das Kino die Entfremdung des Mythos durch den Eingriff der

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Vernunft rückgängig machen. Um also die psychologisch lesbare und intentionale Darstellung zu Gunsten des Passiven und Meditativen zurückzudrängen, bringt Pasolini die unter-schiedlichsten Verfahren ins Spiel: er de-individuiert die Cha-raktere und untergräbt damit die Einfühlung auf der her-kömmlichen Affektbasis, handhabt die Kamera distanziert und gestaltet den Bildraum flächig, bevorzugt die schlichte Bewegung und »unlogische« Verkettung der Sequenzen. Ent-sprechend lässt sich die Topologie des Films als Ausdruck jener konkurrierenden Konzepte von Mythos und Logos lesen. Während das vorzivilisierte Kolchis den Raum des Kollektivs, des Rituals, der Natur und der zirkulären Zeit-struktur bildet und damit Medea als prärationale mythische Figur ausweist, ist die Welt Jasons ein vernunftgeprägter Kul-turraum, in dem das Individuum, das gerichtete Handeln, die Instrumentalisierung des Menschen und seiner Umgebung herrschen. In Medea, die die Grenze zwischen Barbarei und Polis überschreitet, kollidieren daraufhin beide Sphären, was deren katastrophale Reaktion zur Folge hat; die Reise Medeas vom Mythos zum Logos endet nicht in harmonischer Syn-these, sondern in der Zersetzung des zivilisatorischen An-spruchs Korinths durch das fremde Weibliche. Tritt demnach Medea als ein mythisches Prinzip auf, das sich gleichsam in Pasolinis Bildraum und Ästhetik hinein verlän-gert, führt derweil der Beitrag zu Jean-Luc Godards Le Mépris (Die Verachtung, 1963) aus, inwiefern hier umgekehrt die von Brigitte Bardot verkörperte Penelope-Figur nun als Hypostase einer filmischen Form fungiert, welche die Textur des Erzäh-lens zusehends auflöst und dabei dessen mediale Bedingun-gen freilegt. Für Michel Serres stellt Penelope noch die »Theoretikerin« des Epos und seines Diskurses dar, indem sie

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die Verknüpfung der Raumteile, die Odysseus’ Irrfahrt voll-zieht, an ihrem Webstuhl nachvollzieht. Diesen Anspruch eines theoretischen Reflexes auf inhaltlicher Ebene scheint Godard aufzugreifen, jetzt allerdings als Explikation des formkritischen, nicht mehr synthetisierenden, sondern fragmentierenden Blicks der nouvelle vague. Im Bild der Prota-gonistin, die sich allenthalben in reiner Farbe auflöst, sich unentschlossen der Handlung entzieht und dem Standbild eher als der Bewegung zuneigt, will sich das neue Kino nicht mehr als episch erweisen. An Camille/Bardot/Penelope wird der Chromatismus anstelle des Realitäts- oder Symbolgehalts der Farbe, die Pose oder Verhaltensweise anstelle der klassi-schen Aktion und desgleichen die Materialität und Technik des Filmischen anstelle seiner Verdrängung durch die Wahr-nehmungsillusion vorgeführt – da Penelope zu weben auf-gehört hat, treten die Kettfäden des Kinos, das Fotogramm, der Bildkader, die Montage, der Bewegungsapparat nunmehr unverbunden zu Tage. Daraufhin löst Angie Voela das »Weibliche« gänzlich von einer Figur, vom erzählbaren Inhalt oder Objekt eines Films, um es fast ausschließlich in der Bildästhetik anzusiedeln – deshalb gerät Costas Sfikas’ Promitheus enandiodromon (Prome-theus Retrogressing, 1998), obwohl er sich scheinbar ganz dem männlichen Körper widmet, nichtsdestotrotz zum Exempel einer femininen Wahrnehmung: An Prometheus, Mittler zwischen menschlicher und göttlicher Sphäre wie auch zwi-schen vergangener Tat und augurischem Wissen um die Zukunft, veranschaulicht der Film das Interstitium zwischen Stasis und Bewegung, Bild und Ton sowie Subjektivität und Objektivität des Blicks. Mehr noch: in der Dekonstruktion seines gefesselten Leibes durch Collage und elektronische

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Verfremdung überschreitet die Repräsentation die bipolare Scheidung von einheitlichem Sehen und Gesehenwerden und somit zugleich die sadomasochistische Ordnung, wie Voela im Rückgriff auf die Lacansche Psychoanalyse erklärt, um in der autoreflexiven Rückwendung des Blicks und des Triebs auf sich selbst ein neues Bewusstsein zu schaffen. Dieses Bewusstsein äußert sich – nun jenseits traditioneller Macht-konstellationen – in einer avantgardistischen Ästhetik des Dazwischen, die durch ihr relativierendes und ordnungs-kritisches Potential unweigerlich mit einer feministischen Perspektive und Ablösung dominanter Symbolordnung durch die »Chora« einhergeht. Als Gegenteil des Willens zur Macht, der für gewöhnlich im sinntragenden, linearen und beherr-schenden Bild und Phonotext seinen Ausdruck findet, erzeugt Sfikas in repetitiven Bildschleifen, arbiträren Kamerafahrten und im poetisch-musikalischen Genotext des Voice-over – Aischylos’ Tragödientext im altgriechischen Original, der hier, von einer Frauenstimme vorgetragen, Prometheus Körper bewohnt – eine alternative und spezifisch weibliche Logik. Von Heterogenität geprägt, unterläuft Promitheus enandiodromon jeden Kontrollwahn durch ein Prinzip der Lücke und Leer-stelle, das männlich-ideologische (Selbst-)Projektionen ent-hüllt und sie in die reine jouissance an Bild und Klang über-führt. Eine der diversen Varianten jener Zwischenstellung, die An-gie Voela als Ort einer kritischen Ästhetik benennt, kenn-zeichnet auch die Verarbeitung des Antigone-Mythos durch den Essayfilm Deutschland im Herbst (Rainer Werner Fass-binder, Alexander Kluge, Edgar Reitz, Volker Schlöndorff u. a., 1978). Während Antigone von alters her der Veranschau-lichung einer Dialektik von Staatsräson und höherer Moral

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dient und sich in diesem Sinne immer wieder als Personifi-zierung des politischen Widerstands gegen alle Autorität funktionalisiert sieht, ist es neuerlich Lacan, der sie aus der bloßen Gegensätzlichkeit in den Raum zwischen Leben und Tod oder Wille und Unterwerfung versetzt. Diese depolarisie-rende Geste findet ihre Entsprechung, wenn auch der Terro-rismus, dessen Verhältnis zum Staat Deutschland im Herbst diskutiert, nicht als das böse Andere aus dem Bereich einer Gesellschaft ausgeschieden, sondern als deren innere Essenz und unheimliches Double erkannt wird. Dass der Film über weite Strecken seiner Argumentation gleichsam abstrakt und in einer seiner Episoden schließlich explizit Antigone als Kristallisationspunkt oder Agentin einer politischen Debatte und als Spiegelfläche des Terrors der Roten Armee Fraktion in den späten siebziger Jahren einführt, bewirkt demnach die Relativierung der Gegensätze und die Installierung eines Zwi-schenraums, in dem staatliche und kriminelle Gewalt engge-führt werden können (freilich ohne sie polemisch gleichzu-setzen). Vor allem inszeniert Deutschland im Herbst diesen unentschiedenen Ort als Dialog oder Stimmenvielfalt, die sich oftmals von den Sprechern und ihren Körpern löst, so dass die »Polyphonie« des Films und seine Stimmen (zwischen Sprache und Physis, Wort und Klang, Außen und Innen) das zuvor in strengen Oppositionen gegliederte politische Für und Wider nun in all seiner Komplexität aufzufächern ver-steht. Von solcher Vermittlung zur Entgegensetzung, von der Stim-me zur Schrift: Der filmphilologische Beitrag Klaus Kanzogs untersucht Max Frischs Roman Homo Faber als Vorlage der Verfilmung Schlöndorffs (1991) und bestimmt dabei deren Abweichungen vom Text als Tendenz zum Melodramati-

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schen, das seinerseits allerdings durch die weibliche Haupt-figur einer »Dekonstruktion« unterzogen wird. Mit Anspie-lungen auf den griechischen Mythenkreis durchsetzt, wobei im Motiv eines Informationsdefizits des Protagonisten und in dem des Inzests vor allem Ödipus als Folie zu dienen scheint, wirft zunächst das Buch – nicht zuletzt vor einem stark ak-zentuierten zeitgeschichtlichen Hintergrund (die Handlung setzt kurz vor dem zweiten Weltkrieg ein; die Geliebte Fa-bers, Hanna, ist Halbjüdin) – die Frage nach persönlicher Verantwortung und Schuld auf. In der filmischen Aufberei-tung des Romans für den amerikanischen Markt sieht sich Schlöndorff daraufhin genötigt, die Komplexität des Kon-flikts, der Abstammungsproblematik und der mythischen Matrix der Erzählung zu reduzieren. Jene Vereinfachung bewirkt, das Elemente des Mythos bestenfalls noch als An-deutung in das Bild eingestreut sind; zugleich jedoch geht mit der narrativen Zuspitzung der Charaktere (und der intensiven Darstellung Barbara Sukowas) ein deutlicher Konturgewinn der nunmehr überaus situationsmächtigen und unabhängigen Hanna einher, die zudem als Mitschuldige neben Faber ihre Profilierung als tragische Figur erfährt. Gleichfalls an der Textvorlage, an Longos’ antikem Hirten-roman, orientiert sich Elisa-Anna Delveroudis Untersuchung der historisch changierenden Konstruktion von Liebes-modellen durch zwei griechische Verfilmungen, Orestis Laskos’ Daphnis kai Chloi (Daphnis and Chloe, 1931) und Nikos Koundouros’ Mikres Aphrodites (Young Aphrodites, 1963). Dabei lässt die von der Titelgebung über den Einsatz narrativer Hauptmerkmale bis hin zu ihrer Thematik jugendlich un-verständiger Liebe vergleichsweise »treue« frühe Adaption bei genauer Betrachtung einen Subtext zeitgenössischer eroti-

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scher Diskurse erkennen: Unter dem Einfluss des klassischen Hollywood-Kinos wie auch der Hysterieforschung der zwan-ziger und dreißiger Jahre kommt es zu einer Stereotypisierung und sexuellen Überzeichnung der Charaktere, die letzten Endes hinleitet zur Inszenierung des voyeuristischen Schau-wertes des weiblichen Körpers in der – wie Laskos selbst betont – ersten Nacktszene der Filmgeschichte. Derweil nimmt das in archaischer Zeit- und Ortlosigkeit angesiedelte Werk Koundouros’ für sich in Anspruch, Liebe als überhisto-risches Instrument sozialer Unterdrückung auszuweisen. Auf der Basis vorgeblich archetypischer oder auch darwinistischer Machtrelationen errichtet die Filmhandlung in einer vorzivili-sierten Hirtengemeinschaft eine nach Geschlecht und Le-bensalter gestaffelte Gewalthierarchie. Während diese dem Regisseur zufolge einer ursprünglich biologischen Gesetz-mäßigkeit entspringt, welche die Frau und mehr noch das junge Mädchen allen sexuellen Übergriffen ausliefert, legt hingegen Delveroudi in Mikres Aphrodites dominante Züge der Sexualmoral der sechziger Jahre frei, so dass hier offenbar neuerlich die Projektion eines modernen Liebesdiskurses auf die antike Textvorlage stattfindet. Daraufhin widmet sich Raoul Eshelman der sprachlichen, ethnischen und geschlechtlichen Identität im Ausgang der Postmoderne. Entgegen deren unaufhörlicher Subjekt- und Zeichenzerstreuung sieht Eshelman in Joel Zwicks My Big Fat Greek Wedding (2002) ein Paradigma performativer Kommuni-kation und monistischer Individualität verwirklicht, für das die griechische Sprache und kulturelle Abstammung ein grundsätzlich konsensbildendes Terrain abgeben: die Sprach-grenzen zwischen dem amerikanischen Einheimischen und dem Einwanderer sind im »ostensiven«, sozial versöhnenden

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Zeichen aufgehoben (jeder englische Begriff ist in My Big Fat Greek Wedding von einer griechischen Wurzel herleitbar und stiftet durch solche fiktive Etymologie eine Einheit jenseits linguistischer Differenzkonzepte); die griechische Migranten-Gemeinschaft wird, statt selbst ihre Integration betreiben zu müssen, als vitaler Mikrokosmos dargestellt, der aus der Peri-pherie der Gesellschaft in deren Mitte rückt und nun seiner-seits zur Assimilation der entkräfteten, eigenschaftsarmen und – im Falle des männlichen Protagonisten – zum Femininen tendierenden Angelsachsen einlädt. Dieser Rollentausch stabi-lisiert alle Identität, die zuvor, so Eshelman, in der postmo-dernen Diskursabhängigkeit ihr Zentrum einzubüßen drohte, auf dem Boden von Kultur, Sprache und Vererbung (was sich ebenso am Geschlechterbild in Jeffrey Eugenides’ Roman Middlesex ablesen lasse); von dort aus sei nun eine Wahlfrei-heit in der Lebens- und Persönlichkeitsgestaltung möglich, die sich den postmodernen De(kon)struktionen entwunden habe. Abschließend – als letztes Glied der Wirbelkette – erläutert die Dokumentarregisseurin Eva Stefani, wie ihr Kurzfilm Moiroloi (Klagelied, 1991) dem Monolog der darin porträtier-ten New Yorker Straßenverkäuferin Chrissoula einen adäqua-ten ästhetischen Rahmen zu verleihen sucht. Im Gegensatz zu Eshelmans Entwurf einer gelungenen Integration griechischer Immigranten entsetzt sich Chrissoula durch das Erzählen unablässig ihrer Gegenwart, so dass ihr Diskurs der Erinne-rung an ihre Herkunft von den Motiven des ponos (Schmerz) und der xenitia (Fremdheit) getragen ist. Hierin wie auch in den Formmerkmalen des Zeitsprungs, der Redepause und der ritornellhaften Wiederholung gleicht ihr Sprechen traditio-nellen griechischen Klageliedern, die sich im Ausdruck des Verlusts zugleich als Selbstversicherung des Sozialen und als

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gemeinschaftsbildender Dialog verstehen. Insofern also der Monolog die Armut und Arbeit des Jetzt ausspart und sich liedhaft der Vergangenheit zukehrt, vollzieht er eine subver-sive und im Aufrufen von Gedächtnisbildern disruptive Bewegung, die sich gegen die Isolation und Stasis unaus-gefüllter Realität richtet. Jener Bewegung folgt Stefanis Film zum einen im Wechsel real-dokumentarischer und imaginativ-fiktionaler Erzählmittel, zum anderen geraten Kamera und Tonanlage zum Analogon der für die moiroloia unerlässlichen »Antiphonie«, zum aktivierenden Zuhörer und Adressaten des Gesangs, ohne dabei eine erläuternde, komplettierende oder versöhnende Funktion erfüllen zu wollen. Auf diese Weise gelingt es dem Film, der brüchigen Heteroglossie der Frau in der Fremde, die durch das Sprechen ihren Stillstand in den Straßen der amerikanischen Großstadt transgressiv über-windet, ein Bild zu geben. 1 Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt/M. 1979, S. 32. 2 Vgl. ebd., 56. 3 Daran ändert auch Cassirers Hinweis auf die besondere Nähe zwischen Wirklichkeit und mythischer Symbolfunktion wenig (»Wo nicht über den Mythos reflektiert wird, sondern wo wahrhaft in ihm gelebt wird, da gibt es noch keinen Riß zwischen der ›eigentlichen‹ Wahrnehmungswirklich-keit und der Welt der mythischen ›Phantasie‹.« (Ernst Cassirer: Philoso-phie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis. Darmstadt 1982, S. 72). Auch hier geht es um eine Zeichenbeziehung des Mythischen zur Realität.

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4 Vgl. Hans K. Lücke / Susanne Lücke: Antike Mythologie. Ein Handbuch. Der Mythos und seine Überlieferung in Literatur und bildender Kunst. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 545: »Daß es sich hier um ein ästhetisches Phäno-men handelt, zeigt der Umstand, daß das Spiegelbild die Macht des Ur-bildes bricht.« 5 Ebd., 540. 6 Vgl. Marcus Annaeus Lucanus: Pharsalia 9, 647-651: »hoc [monstrum] potuit caelo pelagoque minari / torporem insolitum mundoque obdu-cere terram. / E caelo uolucres subito cum pondere lapsae, / in scopulis haesere ferae, uicina colentes / Aethiopum totae riguerunt marmore gentes.« 7 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt/ M. 1985, S. 101. 8 Ebd., 106. 9 Vgl. Lücke/Lücke: Mythologie, 634. 10 Jenem Widerstreit zwischen fotogrammatischem und kinetischem Prinzip, der in der Opposition wie auch in der gegenseitigen Ergänzung mythischer Figuren Form gewinnt, wird man – nun am Beispiel des Odysseus und der Penelope – im Beitrag zu Godards Le Mépris wieder begegnen. 11 Inge Stephan: Musen und Medusen, Mythos und Geschlecht in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Köln u. a. 1997, S. 61. 12 »Wir sind es gewöhnt, die griechischen Götter in der Vollendung des Weges von Myron und Polyklet über Phidias herüber bis Praxiteles und Lysipp zu sehen. Unter der gewöhnlichen Kultur verstehen wir Gestalt und Wesen harmonischer Dichtung. Nun hat die Gorgo mit diesen Herrlichkeiten des klassischen Hellas weder als Form noch als Wesen irgend etwas zu tun. Dieses grausige Geschöpf, dieser blutige Leib [...] gehört in die gleiche Schicht urgewaltiger Riesengötter wie Chronos selbst.« (Kaiser Wilhelm II.: Studien zur Gorgo. Berlin 1936, S. 14.) 13 Vgl. Stephan: Musen, 66 ff. Inge Stephan bezieht sich hier auf Freuds 1922 verfassten skizzenhaften Aufsatz »Das Medusenhaupt«, der erst postum veröffentlicht wurde (Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse und Imago. XXV. 1940. S. 105-106). 14 Luce Irigaray: Das Geschlecht, das nicht eins ist. Berlin 1979, S. 78. 15 Ebd., 79. 16 Vgl. Stephan: Musen, 61.

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17 Vgl. hierzu etwa das Lemma »Medea« in: Edward Tripp: Crowell’s Handbook of Classical Mythology. New York 1970. 18 Vgl. Heide Schlüpmann: Abendröthe der Subjektphilosophie. Eine Ästhetik des Kinos. Basel u. a. 1998, S. 15. 19 Ebd., 12. 20 Ebd., 17. 21 Gilles Deleuze: Bartleby oder die Formel. Berlin 1994, S. 51. 22 Ebd.