Cumulative Arrangements. Time, Space, and Local Identity in Seville (in German). In: Zentrum für...

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30.11 01.12.2012 Konrad Zuse-Straße 16 44801 Bochum www.zms.rub.de Ordnung und Chaos im Mittelmeerraum 3. Bochumer Nachwuchsworkshop für MediterranistInnen

Transcript of Cumulative Arrangements. Time, Space, and Local Identity in Seville (in German). In: Zentrum für...

30.11 – 01.12.2012

Konrad Zuse-Straße 16

44801 Bochum

www.zms.rub.de

Ordnung und Chaos im Mittelmeerraum

3. Bochumer Nachwuchsworkshop für MediterranistInnen

Impressum

Redaktion und Layout:

Urs Brachthäuser

Marcus Nolden

Stefan Riedel

Christine Isabel Schröder

Titelbild:

Constance von Rüden

Graffito in Kairo

Bochum 2012

Seite | 1

Inhalt Christine Isabel Schröder: Ordnung und Chaos im Mittelmeerraum. Einleitende Überlegungen ...... 2

Christine Isabel Schröder: Un- und Um-Ordnung von Gesellschaft .................................................... 9

David Wallenhorst: Montecassino zwischen Normannenexpansion und Investiturstreit - Die

normannische Eroberung Unteritaliens und die Leiden der Bevölkerung im Spiegel der

Privaturkunden Montecassinos ......................................................................................................... 10

Martina Clemen: Von Ordnungskonzepten und Problemlösestrategien: „generation-building“ in

Spanien (1914-1948) ......................................................................................................................... 15

Katharina Schembs: Der italienische Korporativstaat und seine Ausstrahlung auf Lateinamerika:

Der Arbeiter in der Bildpropaganda des faschistischen Italiens und des peronistischen Argentiniens

(1922-1955) ....................................................................................................................................... 22

Marcus Nolden: Identität & Alterität ................................................................................................ 30

Carolin Philipp: Spaces of Resistances – perceptions and practices in the cracks of 'capitalism in

crisis' .................................................................................................................................................. 31

Abdellatif Bousseta: Die Identitätsfrage im modernen arabischen Diskurs - Zwischen der

vermeintlichen Einheit und der realen Vielfalt ................................................................................. 39

Kristine Wolf: Grenzregime und gegenhegemoniale Mobilitätsprozesse im euro-mediterranen

Raum – Wirkmächtigkeiten selbstorganisierter Migrant/innen in Rabat ......................................... 51

Urs Brachthäuser: Erinnerung – Ordnung der Vergangenheit, ordnende Vergangenheit? .............. 58

Merryl Rebello: Ordnung schaffen mit Romulus: Cicero räumt auf.................................................. 60

Christiane Schwab: Kumulative Ordnungen: Zeit, Raum und Identitätskonstruktionen in Sevilla ... 64

Andrea Spans: Das perserzeitliche Jerusalem zwischen Wunsch und Wirklichkeit. - „Raum“ im

Medium „Text“ .................................................................................................................................. 68

Stefan Riedel: Wissen und Wissenskonzeption als ordnende Prinzipien .......................................... 74

Arne Franke: Ordnung durch Architektur: Entstehung und Rezeption gotischer Bauten auf Zypern

........................................................................................................................................................... 76

Ma ias oernes: eine arbaren me r ast s on Römer. Kulturelle Formierungsprozesse und

zivilisatorische Ordnung in Strabons Geographika ........................................................................... 80

Julia Linke: Der König als Hüter der Ordnung und Bezwinger des Chaos - Mythologische

Hintergründe des altorientalischen Konzeptes von Königtum und deren Auswirkungen im

archäologischen und philologischen Befund ..................................................................................... 85

TeilnehmerInnen des Workshops ..................................................................................................... 91

Seite | 2

Christine Isabel Schröder: Ord-

nung und Chaos im Mittelmeer-

raum. Einleitende Überlegungen1

Chaos und Ordnung – Meer und Land –

Leviathan und Behemoth

Beginnen möchte ich mit einigen, zunächst

vielleicht ungeordnet erscheinenden

Überlegungen zu den Verknüpfungen von

Mittelmeer, Chaos und Ordnung – und ich

möchte beginnen mit Fernand Braudel,

dem großen Mediterranisten des 20. Jahr-

hunderts.

»Jedermann sagt, jedermann weiß, daß

die ›An änge der Zivilisation‹ im östli en

Mittelmeerraum, im Vorderen Orient lie-

gen. Aber nicht gleich von Beginn an war

das Meer dafür verantwortlich – jahrtau-

sendelang blieb es leer, öder als selbst die

Wüste, Hindernis und nicht Verbindung

zwis en den Mens en […].«2

Mit diesen Worten eröffnet Braudel sei-

nen Essay Dämmerung in der Sammlung

Die Welt des Mittelmeers. »Die Anfänge«

– »von Beginn an«– »leer« – »öde« –

»Wüste« – »das Meer«. Auch wenn mir

nicht der französische Urtext vorliegt, so

stechen die Anleihen doch deutlich her-

vor: Braudel zitiert hier einen sehr be-

rühmten und sehr alten Text, der in der

weiteren Mittelmeerwelt entstanden ist

und in ihr und über sie hinaus zirkulierte:

der Schöpfungsbericht der hebräischen

Bibel in Genesis 1.

1 Ich danke Medardus Brehl, Jürgen Ebach und

Steffen Leibold für die hilfreichen Hinweise und Anmerkungen. 2 Braudel 1987, 63.

Die Bibel beginnt:

bere’schit bara’ ’älohim ’et haschamajim

we’et ha’aräz

In der Übersetzung nach Martin Luther

(1984):

»Am Anfang3 schuf Gott Himmel und Er-

de.«

weha’aräz hajetah tohu wavohu

»Und die Erde war wüst und leer,«4

wechoschäch ʽal-pene tehom

weruach ’älohim merachäfät ʽal-pene

hamajim

»und es war finster auf der Tiefe; und der

Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.«

Vor Gottes (ordnendem) Schöpfungshan-

deln und vor Beginn der menschlichen

»Zivilisation« war also Meer und Tohuwa-

bohu, eine lebensunfreundliche Unord-

nung, das Chaos.

Meer und Chaos, Mittelmeerwelt und Al-

ter Orient – das lässt an die Chaostiere der

altorientalischen Mythologie denken, in

der Bibel Leviathan und Behemoth ge-

nannt.5

Leviathan ist das Ungeheuer des Meers –

in Gestalt einer Schlange oder eines Dra-

chen, in ägyptischer Variante in der Ge-

stalt eines Krokodils; der Nilpferd-artige

Behemoth wird, obwohl auch ein dem

3 Es ließe sich z.B. auch »beim Beginn« lesen, um

noch weiter an das Braudel-Zitat anzuknüpfen. 4 Tohu wavohu wird von Martin Buber und Franz

Rosenzweig in ihrer Verdeutschung der Schrift übrigens mit »Irrsal und Wirrsal« wiedergegeben. 5 vgl. hierzu Ebach 1984.

Seite | 3

Wasser verbundenes Un/Wesen, mit der

Herrschaft des Chaos zu Land assoziiert.6

Auch in anderen antiken Texten wird der

sog. Chaoskampf mit dem Meer oder der

Flut als Inbegriff und Erfahrungswelt von

Chaos beschrieben.

Herrschen Behemoth und Leviathan, so ist

die Welt für den Menschen unwirtlich und

lebensbedrohlich, die göttliche Schöp-

fungsordnung ist in Gefahr, d.h.: Die alt-

orientalischen Metaphern von Chaos ste-

hen für die Gefährdung der Weltordnung.7

Die Bibel lässt im Hiobbuch Gott dazu Stel-

lung beziehen, der erklärt, dass es die

göttliche Macht sei, nicht etwa die

menschliche, die Leviathan und Behemoth,

die Chaosmächte, im Zaum halte.8

Im Traktat Avodah Sarah des Babyloni-

schen Talmud heißt es:

»Rabbi Jehuda sagte im Namen des Raw:

Der Tag besteht aus 12 Stunden; in den

ersten drei Stunden beschäftigt sich der

Heilige, gesegnet sei Er, mit der Torah; in

den zweiten drei Stunden sitzt er und hält

Gericht über die ganze Welt; während des

dritten Viertels ernährt er die ganze Welt

[…]; wä rend des vierten Viertels spielt er

mit dem Leviathan.«9

6 In der arabischen Tradition dagegen ist Bahamut

ein großer Fisch, der im Urmeer schwimmt und von Gott geschaffen wurde, um die Welt auf seinem Rücken zu tragen. 7 vgl. Bauks 2001; Ebach 1984.

8 vgl. Ebach 1984, 32; Ebach 2009, 140–154, insbe-

sondere 146 ff. 9 na Ps 104 26: „… der Leviat an den du gebildet

ast damit zu spielen.“

Und was – so möchte ich mit Jürgen Ebach

fragen –spielen die beiden wohl im Meer?

– Vermutlich Schiffe versenken.10

Die Erzählung von einem Gott, Herrscher

der Welt und Behüter der Weltordnung,

der mit der Chaosmacht spielt, wirft eine

Frage auf: Wessen Ordnung bedeutet

wessen Chaos?

Als 1651 T omas obbes’ Staatst eorie

Leviathan erschien, ist dessen Meeresun-

geheuer kein Chaosdrache mehr, sondern

positiv gewendet die Verkörperung des

allmächtigen, absolutistischen oder auch

»totalen« Staates, der für die richtige

Ordnung der Gesellschaft sorgt. Eine völlig

andere Perspektive, nicht ohne Sitz im

Leben: Hobbes schrieb das Werk während

des englischen Bürgerkriegs. 1668 ent-

stand der Gegenpart obbes’ Behemoth,

der den »Unstaat« als chaotischen »Na-

turzustand« beschreibt, der überwunden

werden müsse.

Fast 300 Jahre später veröffentlichte Franz

Neumann in Anlehnung an Hobbes 1942

im US-amerikanischen Exil sein Werk

Behemoth – Struktur und Praxis des Natio-

nalsozialismus. Darin erklärt er:

»Da wir glauben, daß der Nationalsozia-

lismus ein Unstaat ist oder sich dazu ent-

wickelt, ein Chaos, eine Herrschaft der

Gesetzlosigkeit und Anarchie, welche die

Re te wie die Würde des Mens en ›ver-

s lungen‹ at und dabei ist die Welt

durch die Obergewalt über riesige Land-

massen in ein Chaos zu verwandeln,

scheint uns dies der richtige Name für das

10

vgl. Ebach 2011, 36–38.

Seite | 4

nationalsozialistische System: Der

Behemoth.«11

Chaos, Ordnung und das mare nostrum

Wo hat nun also das Motto unseres Work-

shops seinen Sitz im Leben? – Tatsächlich

entstammt es dem Blick auf den Schreib-

tisch eines Doktoranden. Doch kommt

diese Assoziation: Ordnung – Chaos – Mit-

telmeer, nicht aus dem Nichts und sie

kommt nicht von ungefähr:

Chaos und Ordnung sind ‚mediterrane’

Begriffe, wenn man so will: Ordnung von

lateinisch ordo, Chaos von griechisch χάος.

»(unendlich) leerer Raum«, bzw. χάσμα

für »Kluft, Spalt«.

Das Mittelmeer – das Chaos = die Kluft

zwischen Europa und Nordafrika und Asi-

en?

‚Ordnung’ und ‚C aos’ sind Deutungsmus-

ter, das haben wir in der Ausschreibung

bereits benannt, die gerade in aktueller

Perspektive immer wieder auf den Mit-

telmeerraum angewendet werden, sei es

z.B. im Blick auf die gesellschaftlichen

Umwälzungen in Maghreb und Maschrek,

in der EU-Flüchtlingspolitik oder im Hin-

blick auf Naturereignisse und Umweltfra-

gen. Wir können täglich neue Meldungen

verfolgen, die den Mittelmeerraum und

das Meer selbst als Ort von Ausnahmezu-

ständen, Rebellion, Aufständen, Terroran-

schlägen, Kriegsdrohungen, Flucht und

Vertreibung, Hilflosigkeit und Umwälzung

präsentieren.

11

Neumann 1984, [Vorwort].

Gleichzeitig hören und lesen wir von dem

Bemühen um Wiederherstellung, Stabili-

tät, Einigung, aber auch von neuen Ord-

nungsentwürfen und deren Konsequen-

zen, wie die im Dienst der EU agierende

Grenzschutzagentur Frontex und die Pläne

zur Überwachung der europäischen Au-

ßengrenzen mithilfe von Drohnen.

Eine »Krise«, ein »Krisengebiet« wird

sichtbar, wenn der Blick aus dem Norden

auf die aus der Reihe tanzenden Mittel-

meerstaaten der EU gerichtet wird; »Cha-

os« beschreibt die Erfahrungswelt der

Flüchtlinge, die als so genannte »Illegale«

jenseits – oder auch aus unserer Perspek-

tive: diesseits – des Mittelmeeres Rettung

vor Armut und Krieg suchen und die oft-

mals (um es einmal in eine konventionelle

Kollektivmetapher zu fassen) vom Regen

in die Traufe geraten. Denn für Tausende

pro Jahr ist das Mittelmeer nicht nur eine

Gefahr, sondern die tödliche Chaosmacht:

das Meer als Ungeheuer, das die Men-

schen verschlingt: Fast 70.000 Menschen

haben 2011 die Flucht von Nordafrika

nach Europa über das Mittelmeer ver-

sucht. Mindestens 18.500 Flüchtlinge sol-

len laut Menschenrechtsorganisationen

seit 1988 an Europas Außengrenzen um-

gekommen sein; die meisten ertranken im

Mittelmeer.12 Nur zynisch ließe sich hier

das Bild des deus ludens, des mit seinem

Leviathan spielenden Gottes anbringen,

oder tatsächlich nur als Theodizee begrei-

fen. So schließen sich Fragen nach Macht-

verhältnissen, nach Recht und Gerechtig-

12

FR online, 24.09.2012 http://www.fr-online.de/politik/afrika-fluechtlinge-europa-macht-die-schotten-dicht,1472596,17895098.html (zu-letzt aufgerufen am 05.02.2013).

Seite | 5

keit, nach der Hierarchie von politischer

Ordnungsmacht und ethischen Grundre-

geln an.

Dass chaotische Zustände v. a. in größerer

historischer Perspektive als Auslöser und

Übergang zu einem Neuen, einer Neu-

schöpfung, einer Neuordnung erscheinen,

sehen wir zum Teil anhand der Umbrüche

in der arabischen Welt, aber immer noch

und gerade mit Blick auf Syrien oder Ägyp-

ten stellt sich die Frage, wie eine neue

Ordnung möglicherweise aussehen und

welche Konsequenzen sie für unterschied-

liche Akteure und Gruppen haben wird.

Wir wollen uns im Rahmen dieses Work-

shops sowohl mit diesen Bildern von Cha-

os und Ordnung in Geschichte und Ge-

genwart einer – wie auch immer konzi-

pierten – mediterranen Welt beschäftigen,

als auch der Frage nachgehen, wie diese

Blickwinkel, wie diese Ordnungsschemata

konfiguriert werden und in welche sozia-

len, kulturellen und historischen Kontexte

sie jeweils zu stellen sind.

So haben wir in der Ausschreibung für den

Workshop bereits darauf hingewiesen,

dass die Setzung der ategorie ‚Raum’

allein schon ein ordnungsmächtiger Akt

ist: der Raum hat ein Innen und ein Außen,

ein Dazugehören und ein Außenvorsein

und dazwischen eine signifikante Grenze,

die diskursiv gesetzt und militärisch ver-

teidigt wird.

Die Konstruktion dieses Raumes erfolgt

entlang normativer Setzungen kollektiver

Rede. Der Raum steht nicht für sich a prio-

ri oder als »Naturzustand«. Die Frage da-

nach, was der Raum eigentlich ist und wo,

wird entlang der Ordnungen eines Diskur-

ses immer wieder neu gestellt und ver-

handelt. Nicht nur das Mittelmeer selbst

ist (erdgeschichtlich) historisch, sondern v.

a. seine Wahrnehmung, Erfassung, die

Perspektive auf ihn, so wie die Begriffe

Mittelmeer und Raum selbst historisch,

sozial, kulturell d. h. nicht zuletzt wissens-

geschichtlich zu verorten sind. Wir möch-

ten nach den unterschiedlichen Perspekti-

ven auf den mediterranen Raum fragen,

nach ihren Rahmungen und Bedingungen

und nach den Auswirkungen dieses ord-

nenden Blicks auf eine spezifische Region.

Die Dialektik der Ordnung

Die Geschichte der Erforschung des Mit-

telmeerraums mäandert zwischen der

Suche nach der Einheit des Raums und der

Postulierung seiner unüberwindbaren Zer-

splitterung, zwischen der Suche nach dem

mediterranen Leitmotiv, der

Mediterranität, und der Bewahrung der

Vielfalt; zwischen aneignenden Diskursen

und Diskurspraktiken entlang kolonial-

exotisierender Hegemonien und postkolo-

nialen Selbstermächtigungen als einem

neuen »Mediterranismus«13. Es liegt nicht

fern, die jeweiligen Forschungsparadig-

men an and der ategorien ‚C aos’ und

‚Ordnung’ au zus lüsseln wurden do

lange Zeit, und werden auch immer wie-

der, Bilder von Ordnung, von Stabilität,

Begriffe wie »höhere Kultur« und »Zivilisa-

tion« eben als mit einer westlichen bzw.

(nord-/west-)europäischen Kultur-Leistung

assoziiert, während man Bilder von Chaos,

13

vgl. Giaccaria – Minca 2010.

Seite | 6

Unordnung, Unübersichtlichkeit, Planlo-

sigkeit, Wildheit, aber auch Exotik dem

Süden und spezifisch dem Mittelmeer-

raum zuordnete und weiterhin zuordnet.

Dies lässt sich nicht zuletzt immer noch im

gültigen populären Wissen nachweisen

(etwa im konventionellen Stereotyp vom

»hitzigen Südländer«).

Ordnungsentwürfe, Ordnung schaffen,

Ordnung suchen und sehen kann als

Selbstvergewisserung, als Identitätsent-

wurf gelesen werden; Zuschreibungen des

Chaotischen als Abgrenzung und othering

im Aushandeln von Identitäten. Zygmunt

Bauman hat diesen Zusammenhang, diese

wechselseitige Bedingtheit von Ordnung

und Chaos in dem Begriff der »Dialektik

der Ordnung« zu fassen gesucht: Das Cha-

os erscheine nicht zuletzt auch als ein Re-

flex, als eine Kreatur, vielleicht als die ne-

gative Projektion einer gesetzten Vorstel-

lung von Ordnung. Unordnung entsteht

also erst dann, wenn man einen Begriff

von Ordnung formuliert, weil dann alles,

was nicht Teil dieser Ordnung ist, als Un-

ordnung erscheint, als das andere, das

geordnet d.h. überwunden und eliminiert

werden muss.14 So schreibt Bauman über

die gesellschaftlichen Visionen von Ord-

nung:

»Sie spalten die menschliche Welt in eine

Gruppe, für die die ideale Ordnung errich-

tet werden soll, und eine andere, die in

dem Bild und der Strategie nur als ein zu

überwindender Widerstand vorkommt –

als das Unpassende, das Unkontrollierba-

re, das Widersinnige und das Ambivalente.

Dieses Andere, das aus der ‚S a ung von

14

Baumann 1992a.

Ordnung und armonie’ ervorgegangen

ist, das Überbleibsel des

klassifikatorischen Bestrebens, wird aus

jenem Universum der Verpflichtung

herausgeworfen, das die Mitglieder der

Gruppe bindet und ihr Recht anerkennt,

als Träger moralischer Rechte behandelt

zu werden.«15

Bedeutsam ist also die grundsätzliche Vor-

stellung einer diskreten Unterscheidung

zwischen Ordnung und Un-Ordnung, dem

was dazugehört und dem was nicht dazu

gehört, kurz: zwischen Identität und Alteri-

tät.

Es erscheint uns wichtig, nicht an der

Oberfläche stehen zu bleiben und sich das

vorzuspiegeln, was wir ohnehin schon zu

wissen glauben, sondern genauer hinzu-

sehen und zu fragen, in welchen Kontex-

ten welches Wissen, welche Bilder und

Narrative jeweils mit Chaos und Ordnung

konnotiert sind: Modernität und Rück-

ständigkeit, Aufbruch und

Festgefahrenheit, Vernunft und Gefühl,

männlich und weiblich, Nord und Süd, Ost

und West, und so weiter...

Den eigenen (wissenschaftlichen, for-

schenden) Blick zu schärfen, bedeutet so-

mit den eigenen Blick zu perspektivieren.

Perspektivität, oder: thinking outside the

box, bedeutet manchmal eine Herausfor-

derung liebgewonnener Ein-Sichten. Das

trifft vor allem dann zu, wenn wir die Ge-

genpole Ordnung und Chaos aufeinander

treffen lassen: Der spielende Gott tollt mit

dem Leviathan im Meer herum und das

klingt possierlich; doch die beiden spielen,

15

Bauman 1992b, 55.

Seite | 7

wie schon gesagt, Schiffe versenken und

dabei gehen Menschen zugrunde. Aber

auch: Der Neu-Ordnung einer Welt, einer

Gesellschaft, geht doch immer eine Um-

Ordnung und damit verbundene Un-

Ordnung der alten einher. Die Ordnung

der einen bedeutet das Chaos der ande-

ren, der Aufstieg, der Glanz, die Macht der

einen bedeutet den Niedergang, den Ver-

fall, die Ohnmacht der anderen. Die Stabi-

lität des Euro gegen den Klassenkampf in

Griechenland. Die Möglichkeiten der Glo-

balisierung gegen den Verlust Jahrhunder-

te alter Traditionen. Die Ordnung der

(modernen) Welt gegen die Weisungen

Gottes. Die Sicherheitsordnungen des mo-

dernen Nationalstaates gegen die Un-

Kalkulierbarkeit nomadischer Lebenswel-

ten usw.

Ordnung und Chaos sind somit Säulen ei-

nes antagonistischen Weltbildes und

Denksystems, das historisch weit zurück-

reicht, so weit wie die Geschichtsschrei-

bung selbst, und das tief in unserem

Sprachgebrauch verankert zu sein scheint.

Nun ist es die Frage, ob wir in Antagonis-

men (weiter-)denken müssen oder ob es

Alternativen gibt – in unserem Blick auf

unseren Forschungsgegenstand, in unse-

rem Sprachgebrauch. Das ist vielleicht

auch eine der Fragen, die zu diskutieren

wir morgen in der Abschlussdiskussion

Gelegenheit haben werden.

Bei Braudel klingt bspw. auch eine andere

Perspektive auf den Mittelmeerraum an,

die den Chaoskämpfen entgegensteht: das

Mittelmeer und seine Welt ist ihm eine

Welt der Verbindungen und Verbunden-

heit, der »Konnektivität« – bei allen Diffe-

renzen und Konflikten: eine Einheit in der

Vielfalt, nicht des »Clash of Civilizations«.

Abschließend noch einmal zurück zu den

Ausgangsfragen dieses Workshops, die uns

in den Diskussionen begleiten sollen:

Wie sind Konjunkturen von ordnenden

und »chaotisierenden« (Leit-)Bildern in

Bezug auf das Mittelmeer und seine Um-

welt in historischen und aktuellen Kontex-

ten zu verorten?

Inwiefern spiegeln die wissenschaftlichen

und politischen Diskurse über den Mittel-

meerraum das Bestreben wider, den Mit-

telmeerraum zu ordnen und zu systemati-

sieren? Sehen sich die Wissenschaften z.B.

einer chaotischen Natur gegenüber, die

mithilfe menschlicher Ordnungssysteme

und Modernisierungen bezwungen wer-

den muss? Oder sind es Menschen, die

eine »natürliche Ordnung« gefährden?

Welche Bilder und Erzählungen von Chaos

und Ordnung, von Meer und Land,

Mensch und Natur werden in den ver-

schiedenen Gruppen und Gesellschaften

tradiert, die den Mittelmeerraum prägten

und immer noch prägen? Welche Erinne-

rungsnarrative erzählen von Erfahrungen

von Ordnung und Chaos?

Sind ‚Ordnung’ und ‚C aos’ Topoi die ei-

ner kollektiven Erinnerung Struktur ge-

ben?

Was geschieht mit der Erinnerung an das

Chaos, wenn Ordnung herrscht, und um-

gekehrt? Was wird überliefert und wie?

Wo treffen wir vielleicht auf Leerstellen?

Seite | 8

Gibt es ein »mediterranes« Gedächtnis?

Gibt es spezifische »mediterrane« Erinne-

rungsorte? Und wie sind Erinnerungsorte

in den Prozess eingebunden, Stabilität zu

stiften?

Welche Erfahrungen von Migration, Ent-

wurzelung und Vertreibung, von Wider-

stand gegen und Unterwerfung unter

Mehrheitsordnungen werden in Überliefe-

rungen sinnstiftend eingebunden oder

fließen in materielle Kultur, Literatur,

Kunst und Musik ein?

Wie wird sich mit konkreten Ordnungen

wie etwa Geschlechterverhältnissen oder

Sesshaftigkeit auseinandergesetzt und wie

werden diese Entwürfe in Handlungen

übersetzt?

Welche Übergänge, Zwischenräume und

Alternativen zwischen Ordnung und Chaos

lassen sich erkennen?

Und vielleicht auch: Welche Zukunft lässt

sich denken, in oder jenseits von Chaos

und Ordnung?

Literatur

M. auks ‚C aos’ als Metap er ür die

Gefährdung der Weltordnung, in: B. Ja-

nowski – B. Ego (Hrsg.), Das biblische

Weltbild und seine altorientalischen Kon-

texte (Tübingen 2001) 431–464.

Z. Bauman, Dialektik der Ordnung. Die

Moderne und der Holocaust (Hamburg

1992a).

Z. Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das

Ende der Eindeutigkeit (Hamburg 1992b).

F. Braudel (Hrsg.), Die Welt des Mittel-

meeres (Frankfurt am Main 1987) [frz.: La

Méditerranée. L’espa e et l’ istoire les

ommes et l’ éritage Paris 1985–86].

J. Ebach, Leviathan und Behemoth. Eine

biblische Erinnerung wider die Kolonisie-

rung der Lebenswelt durch das Prinzip der

Zweckrationalität (Paderborn 1984).

J. Ebach, Streiten mit Gott. Hiob, 2 Bde.

³(Neukirchen-Vluyn 2007–2009).

J. Ebach, Schrift-Stücke. Biblische

Miniaturen (Gütersloh 2011).

P. Giaccaria – C. Minca, The Mediterra-

nean Alternative, Progress in Human Ge-

ography 35, 3, 2010, 345–365.

F. Neumann, Behemoth. Struktur und Pra-

xis des Nationalsozialismus 1933–1944

(Frankfurt am Main 1984) [dt. zuerst 1977;

engl. zuerst 1942 als: Behemoth. The

Structure and Practice of National

Socialism].

Seite | 9

Christine Isabel Schröder: Un- und

Um-Ordnung von Gesellschaft

Der diesjährige Workshop beginnt mit

einem Panel, das mit Un- und Um-

Ordnung von Gesellschaft betitelt worden

ist. Es wird also zunächst um das Chaos

gehen und Versuche seiner Bewältigung,

um politische und soziale Umwälzungen,

um Niedergang alter und Strukturen neuer

Ordnungen. Braudels oben genanntes Zi-

tat der »Zivilisation« – gleichwohl von ihm

in Anführungszeichen gesetzt, denn Brau-

del schreibt nicht ohne kritischen Kom-

mentar die Geschichte derselben – ist

wiederum selbst Teil einer Ordnung stif-

tenden Erzählung vom Mittelmeer, dem

ihm umgebenden Gebiet und seinen Be-

wohnern. Diese Erzählung, die so hartnä-

ckig, gerade im populären Diskurs, für das

sogenannte »europäisch-westliche«

Selbstverständnis steht, wird kontrastiert

mit den historischen und aktuellen Bildern

und Erfahrungen von Umwälzungen, Krieg,

Gewalt und Vertreibung – und dabei sind

es hauptsächlich »europäisch-westliche«

Ereignisse, Entwicklungen und Bewegun-

gen, die besonders in diesem ersten Panel

im Hinblick auf Un- und Umordnung von

Gesellschaften in den Fokus gerückt wer-

den: die Raubzüge der Normannen aus

dem Norden ins Mittelmeergebiet im Mit-

telalter, der italienische Faschismus und

der spanische Franquismus und ihre Ge-

waltverstrickungen im 20. Jahrhundert.

Zunächst richtet David Wallenhorst (Kiel)

einen sozialgeschichtlichen Blick auf das

Gebiet des italienischen Klosters

Montecassino im 11. und 12. Jahrhundert

zwischen der Expansion der Normannen

und dem Investiturstreit. Anschließend

werden wir in die Neuzeit springen und

zwei europäis e viellei t ‚mediterrane’

Diktaturen des 20. Jahrhunderts fokussie-

ren. Martina Clemen (Göttingen) wird die

Sinn- und damit Ordnungs-stiftenden Nar-

rative drei verschiedener spanischer Ge-

nerationen vom Niedergang alter Ordnun-

gen, dem Aufbruch in die Moderne bis hin

zur Ära Francos analysieren. Katharina

Schembs (Berlin) setzt sich schließlich mit

der italienisch-faschistischen Bildpropa-

ganda auseinander, die das Bild des Arbei-

ters in eine neue ästhetische Ordnung zu

übertragen suchte, und sie untersucht die

Wirkungsmacht dieser Neuordnung in

transmediterraner Perspektive, nämlich im

Vergleich mit dem peronistischen Argenti-

nien.

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David Wallenhorst: Montecassino

zwischen Normannenexpansion

und Investiturstreit - Die norman-

nische Eroberung Unteritaliens

und die Leiden der Bevölkerung

im Spiegel der Privaturkunden

Montecassinos

Die äußere Geschichte des Klosters

Montecassino bestimmten in der zweiten

Hälfte des 11. Jahrhunderts nicht nur die

Auseinandersetzungen um Investiturstreit

und Kirchenreform, sondern auch, in sei-

ner direkten Nachbarschaft, die militäri-

sche Expansion der Normannen. Zu Beginn

des Jahrhunderts waren die Krieger aus

der Normandie als Söldner ins Land geru-

fen worden. Am Ende des 11. Jahrhun-

derts kontrollierten sie als Vasallen des

Papstes den Großteil Süditaliens, nachdem

sie den Einfluss der Langobardenfürsten

und -grafen sowie der Byzantiner zurück-

gedrängt hatten; später sollten sie auch

die Araber verdrängen. Die Äbte

Montecassinos verstanden es, ihr Kloster

aus den verschiedenen Konflikten weitge-

hend herauszuhalten. Im Streit zwischen

geistlicher und weltlicher Macht vollbrach-

te etwa Abt Desiderius das Kunststück,

gleichzeitig dem Papst und dem Kaiser die

Treue zu halten – er meldete Gregor VII.

die nahende Befreiung und zugleich Hein-

rich IV. die nahende Gefahr, als 1084 die

Normannen auf Rom marschierten, um

ihrem Lehensherrn Gregor VII. zu Hilfe zu

kommen. Schon früh bemühten sich die

Äbte Montecassinos darum, mit diploma-

tischem Geschick Konflikte mit den nor-

mannischen Eroberern zu vermeiden, sie

mit der liturgischen und legitimitätsstif-

tenden Funktion des Klosters für sich zu

gewinnen und letztlich von den Norman-

nen und ihren zunehmenden Schenkungen

zu profitieren.

Leben und Besitz der Menschen im Um-

kreis des Klosters wurden jedoch von den

Normannenzügen durchaus in Mitleiden-

schaft gezogen, und die reiche chronikali-

sche und urkundliche Überlieferung

Montecassinos erlaubt es, Dinge in den

Blick zu nehmen, die von den mittelalterli-

chen Geschichtsschreibern nur selten be-

rücksichtigt werden: nämlich die Hand-

lungsmöglichkeiten und das Schicksal der-

jenigen, die nicht Politik machen, sondern

die der Politik und den Eroberungszügen

ausgeliefert sind.

Über die Geschichte des Klosters und sei-

ner Umgebung berichten zahlreiche erzäh-

lende Quellen, allen voran die Chronik von

Montecassino des Leo Marsicanus und

seiner Fortsetzer. Daneben verfügen wir

über Privaturkunden, die in recht ver-

streuten und zum Teil sehr alten Drucken

publiziert und nicht vollständig in moder-

nen Regestenwerken erfasst sind. Diese

Rechtsdokumente sind stark formalisiert

und oft nicht mehr als ein knapper Beleg

für einen rechtlichen Vorgang, der bereits

bei der Zuordnung von Orten und Perso-

nen Schwierigkeiten bereitet. Ihre große

Zahl erlaubt allerdings, sie vergleichend in

den Blick zu nehmen.

Trotz der hier nötigen Einschränkung auf

Urkunden, die einer geistlichen Einrich-

tung (Montecassino oder einer seiner De-

pendancen) den Erwerb durch Kauf oder

Schenkung beglaubigen, bietet das Urkun-

dencorpus wertvolle Ergänzungen zu dem,

Seite | 11

was sich den anderen Quellengattungen

entnehmen lässt. Welche Unruhe der

Vormarsch der Normannen in Süditalien

hervorrief, kann man den erzählenden

Quellen ebenso entnehmen wie zum Bei-

spiel den überlieferten Briefen, die aber

nur von wenigen Personen, etwa Papst

Gregor VII., erhalten sind. Dagegen ist das

Schicksal der von der politischen und mili-

tärischen Entwicklung betroffenen Bevöl-

kerung, die in der sonstigen Überlieferung

keine Erwähnung findet, in den Urkunden

ihrer Rechtsakte zu erahnen.

Die Not der Menschen lässt sich bereits an

der bloßen Vielzahl der Verkäufe und Stei-

gerung der Schenkungstätigkeit in den

späten 1060er Jahren ablesen, als die Ter-

ra Sancti Benedicti und das Fürstentum

Capua von den Normannen verwüstet

wurden: „Gerade in dem Ja rze nt in

dem die härtesten Kämpfe und Aufstände

in der Umgebung Montecassinos ausge-

tragen wurden, war die Schenkungsdichte

am größten!“1 Darüber hinaus enthalten

einige Urkunden deutliche und innerhalb

eines durchweg formelhaften und spröden

Rechtstextes umso bemerkenswertere

Aussagen über die Motive der betreffen-

den Rechtshandlung. 1068 wurde etwa

der Verkauf eines ausgesprochen kleinen

Grundstücks an das Kloster Montecassino

damit begründet, die minderjährigen Ver-

käufer seien in derart tiefe Not gestürzt,

dass sie nichts mehr zum Leben hätten;

mehrfach wiederholt der Urkundentext

die Wendung, der Verkauf solle Not und

Hungertod verhindern.2 Offenbart die Ur-

kunde auch in scheinbar drastischen Wor-

1 Dormeier 1979, 65 f.

2 Gattola 1733, 74.

ten den Grund ihrer Entstehung, so kann

sie in formaler Hinsicht als Beispiel dafür

gelten, wie die Menschen selbst in derart

unruhigen Zeiten Besitzveränderungen in

den üblichen Formen festzuhalten such-

ten: Vom Vorgehen der Verkäufer bis zur

Wortwahl des Richters, welcher die Ur-

kunde aufsetzt, entspricht das Formular

völlig dem im 11. Jahrhundert üblichen

Verfahren, das auf die Langobardenrechte

des 8. Jahrhunderts zurückgeht.3 Als Atta,

die Tochter des Paldus von Venafro und

Gattin des Johannes von Venafro, 1072

wort- und wiederholungsreich darlegt, wie

sorgfältig sie ihren Mann um die Erlaubnis

gebeten habe, dem Kloster Santa Maria in

Cingla etwas von ihrem Besitz schenken zu

dürfen, dann betont sie gleichfalls ganz

dem geltenden Re t entspre end: „dass

ich mich rechtlich von meinem Muntherrn

völlig ab ängig weiß.“4

Besonderer Wert kommt denjenigen

Rechtstexten zu, die der Form nicht ent-

sprechen oder über das Übliche hinausge-

hen. 1075 übertrug der Langobardengraf

Johannes Squintus von Pontecorvo einen

großen Teil seines Besitzes dem Kloster

Montecassino – „gemäß dem Gesetz“ und

„o ne irgendeinen Vorbe alt“ wie es dem

üblichen Formular entsprach.5 Dann

macht er aber doch einen Vorbehalt, der

so ungewöhnlich wie aufschlussreich ist:

„I be alte meinen re tmäßigen Erben

vor, dass, wenn bessere Zeiten kommen,

sie dann das Recht haben sollen, diesen

meinen esitz zurü kzukau en.“6 Zwar

wird nicht klar gesagt, warum die Zeiten

3 vgl. Fabiani 1968, I, 246.

4 Gattola 1733, 45 f.

5 Gattola 1734, 169.

6 Gattola 1734, 169 f.

Seite | 12

schlecht seien. Der Schenkgeber legt aber

fest: Falls sie noch schlechter werden,

dann soll derjenige all sein restliches Ver-

mögen er alten wel er „uns il e leisten

oder uns ein Ort sein soll, an den wir flie-

hen können oder wo wir uns aufhalten

können: das besagte und obengenannte

heilige Kloster; und wir behalten uns vor,

wenn solche Dinge irgendwann gegen un-

seren Willen geschehen sollten, dann [im

Kloster] das Leben der Seele wie des Kör-

pers zu aben.“ Die Sorge um das Seelen-

heil ist in vielen Urkunden als Grund der

Stiftung angeführt, und auch einen Eintritt

in den Konvent erstrebten viele Menschen

im Interesse von Seelenheil und Totenge-

dächtnis.7 Den Wunsch, ins Kloster eintre-

ten oder sich dort zumindest aufhalten zu

dürfen, mit dem Ziel der körperlichen Un-

versehrtheit zu verbinden, ist hingegen

ungewöhnlich und deutet darauf hin, dass

der Langobardengraf sein Leben außer-

halb der Klostermauern in Gefahr sah.

Die Normannen erwähnt der

Langobardengraf zwar nicht, aber dass nur

sie die Ursache seiner Ängste sein können,

ergibt sich aus der Parallelüberlieferung

der erzählenden Quellen, die von fort-

schreitendem Landgewinn der Norman-

nen berichten. Die Chronik von

Montecassino hebt zugleich den Besitzzu-

wachs des Klosters durch die Schenkung

des Grafen hervor, ohne freilich auf Ver-

sorgungsanspruch und Rückkaufvorbehalt

einzugehen.8

Im selben Kapitel zählt Leo Marsicanus

zudem auf, was Paldus von Venafro dem

7 vgl. Dormeier 1979.

8 Chronik III, 17

Kloster als Großteil seines Besitzes über-

tragen hat. Der Stifter, der nicht das Klos-

ter Montecassino, sondern den heiligen

Benedikt als den eigentlichen Empfänger

anspricht, fügt zwischen Pertinenz- und

Pönformel den Wunsch ein, das erhaltene

Gut möge Benedikts Vertretern weder

Streit bringen noch Gewalt.9 Davon hatte

er selbst genug erfahren, und indem er

weite Teile seines Besitzes dem Kloster

übertrug, gab er seinen Widerstand gegen

die normannischen Eroberer auf. Wie aus-

sichtslos dieser war, musste auch sein

Verwandter, Landulf von Venafro, erleben,

der vergeblich Widerstand leistete und

letztlich alles verlor. Die Datierung der

1064 ausgestellten Urkunde nach den Re-

gierungsjahren Richards von Capua unter-

streicht die alleinige Herrschaft des Nor-

mannenfürsten, und Richard selbst bestä-

tigt den politischen Wechsel in dieser Re-

gion in der Narratio einer Urkunde von

1065. Dort heißt es, die langobardischen

Grafen von Venafro hätten sich gegen ihn

verschworen und Feinde in sein Land „ein-

geladen und ereinge ü rt“; da er sei

ihnen all ihr Gut entzogen worden – ge-

mäß dem langobardischen Recht.10 Nun

aber wolle er Teile dieses Gutes dem Klos-

ter Montecassino übertragen: Er habe

eingesehen, dass, wer Gottes Besitz ein-

nehme, von Gott zerstört werde (Ps

83,14). Der biblische Ausdruck könnte auf

Abt Desiderius zurückgehen, über den die

Chronik von Montecassino berichtet, er

allein habe mit Geschenken und Bitten

erreicht, dass Richard der Übertragung u.

a. einer urg „überaus reudig zu-

9 Gattola 1734, 168.

10 Gattola 1734, 164 f.

Seite | 13

stimmt“.11 Laut Richards Urkunde hatte

den Anstoß allerdings ein Fürbitter gege-

ben der mit den Worten „einstmals Graf

von Teano“ benannt wird.

Nachdem die Normannen die angestamm-

ten Langobardengrafen verdrängt hatten,

übernahmen sie nicht nur hergebrachtes

Recht, sie förderten auch die Kirche, wie

es ihre Vorgänger getan hatten. Schließlich

wurden sie gar zu Verfechtern der Kir-

enre orm wie jener Gilbert „aus dem

Volk der Normannen“ der 1070 eine klei-

ne Kirche an Santa Maria in Cingla gab. Er

selbst hatte sie zuvor „entspre end unse-

ren räu en“ von Ri ard von Caiazzo

erhalten, als er dessen Schwester geheira-

tet hatte. Da sie nun ohne Leitung und

ohne Regel darniederliege, so heißt es in

der Urkunde, hoffe er, dass von Santa Ma-

ria in Cingla aus der Konvent wieder auf-

gerichtet werden könne.12 1094 fürchtete

Robert von Caiazzo um sein Seelenheil,

weil im vorher so vorbildlichen Kloster

Santa Maria in Cingla der Gottesdienst

nachlässig abgehalten und das zugehörige

Kloster schlecht und weltlich geführt wer-

de. Da es früher zu Montecassino gehört

habe, gebe er es nunmehr zurück.13 Als

„zurü kgegeben“ bezei net es au der

Cassineser Chronist, und er erwähnt 1105

ausdrücklich, die Intervention Roberts von

Caiazzo habe Fürst Richard (II.) von Capua

dazu gebracht, auch den Großteil von

Pontecorvo an Montecassino zu übertra-

gen.14

11

Chronik III, 16 12

Gattola 1733, 42. 13

Gattola 1734, 713 f. 14

Chronik IV, 16/25.

Es zeigt sich also nicht nur, wie rasch die

Normannen die Herrschaft übernommen

haben, sondern auch, wie gut sie sich in

die bestehende rechtliche und soziale

Ordnung eingefügt und ihre verdrängten

Vorgänger regelrecht ersetzt haben. Dass

die ansässigen Menschen auf ihre Not re-

agierten, indem sie ihre Güter dem schüt-

zenden Kloster übergaben – mitunter auch

sich selbst –, hatte einen nicht zu unter-

schätzenden Anteil an dem Aufschwung,

welchen Montecassino nahm. Es erhielt

Zuwendungen der ansässigen Menschen,

die von den Normannen heimgesucht

wurden, und es erhielt Zuwendungen der

Normannen, die, einmal angekommen,

Legitimität und Seelenheil suchten.

Die Privaturkunden Montecassinos und

seiner Dependancen bilden ein Corpus,

das nicht nur aufgrund seines Umfangs

weitere Ergebnisse verspricht, sondern

auch inhaltlich besonders aufschlussreich

ist, weil der Kreis der Verkäufer und

Schenker ausgesprochen groß ist und bei

unterschiedlicher sozialer Stellung Einhei-

mische wie Invasoren umfasst.

Quellen und Literatur

H. Bloch, Monte Cassino in the Middle

Ages, 3 Bde. (Cambridge/MA 1986).

M. Dell’Omo Monte assino. Un’abbazia

nella storia (Cinisello Balsamo 1999).

M. Dell’Omo Il Registrum di Pietro Di-

acono (Montecassino, Archivio

dell’Abbazia Reg. 3). Commentario odi-

cologico, paleografico, diplomatico (Mon-

tecassino 2000).

Seite | 14

H. Dormeier, Montecassino und die Laien

(Stuttgart 1979).

L. Fabiani, La Terra di S. Benedetto. Studio

storico-giuridi o sull’Abbazia di Monte-

assino dall’VIII al XIII se olo 2 de (Mon-

tecassino 1968).

E. Gattola istoria abbatiae Cassinensis …

distributa (Venedig 1733).

E. Gattola, Ad Historiam abbatiae

Cassinensis Accessiones (Venedig 1734).

H. Hoffmann (Hrsg.), Die Chronik von

Montecassino, MGH SS 34 (Hannover

1980).

G. A. Loud, Conquerors and Churchmen in

Norman Italy (Aldershot 1999).

Seite | 15

Martina Clemen: Von Ordnungs-

konzepten und Problemlösestra-

tegien: „generation-building“ in

Spanien (1914-1948)

Einleitung

Der Vortrag analysiert spanische Genera-

tionenkonstruktionen der ersten Hälfte

des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Unter-

suchung der generationell argumentie-

renden Akteure als politische bzw. kultu-

relle Eliten, ihre diskursive Stilisierung zu

einer Generation sowie die Analyse ihrer

sinnstiftenden Ordnungsentwürfe liefern

neue Erkenntnisse für die spanische Gene-

rationenforschung: Es wird gezeigt, in wel-

chem konstitutiven Verhältnis die Para-

digmen Generation und Nation, im Sinne

einer „imagined ommunity“1 stehen.

Zunächst zur ordnenden Funktion des Ge-

nerationenbegriffs: Seine Verwendung

kann insbesondere in politisch instabilen

Zeiten sowie Zeiten der Beschleunigung

strukturstiftend wirken; sozusagen als

identitärer „Rettungsanker in risenzei-

ten“.

Zudem erlauben es generationelle Zu-

schreibungen, historischen Wandel kollek-

tiv wahrnehmbar und erfahrbar zu ma-

chen.2

Wer waren die Akteure, die auf dieses

Interpretationskonstrukt rekurrierten? In

Spanien waren es primär Personen geho-

bener sozialer Schichten, die vorwiegend

dem Bildungsbürgertum zuzurechnen wa-

ren. Man könnte sie als „Intellektuelle“ 1 s. Anderson 1993.

2 s. Jureit, 3.

bezeichnen, die sich zu den verschiedens-

ten Themen des öffentlichen Lebens ihrer

Zeit äußerten und daneben oftmals Ämter

in erzieherischen sowie politischen Institu-

tionen bekleideten.

Dabei standen sie mit Gleichgesinnten

ihrer Zeit in engem Kontakt: die Zeugnisse

regelmäßiger Treffen, Briefkorresponden-

zen sowie publizistischer Initiativen be-

kräftigen dies; symptomatisch ist auch das

hohe Maß an Selbstreferenz sowie patrio-

tischem Veränderungsbewusstsein.3

Die Bestandsaufnahme eines diagnosti-

zierten „Spanienproblems“ ging dem

Wunsch nach Um-Ordnung und Struktu-

rierung voraus. Ziel war die Lösung dieses

Problems und die Formierung einer jeweils

neu erdachten spanischen Nationsprojek-

tion.

Im Folgenden möchte ich in Anlehnung an

Ulrich Herbert4 und Ulrike Jureit5 vom

onstrukt der „politis en Generationen“

sprechen: Die in Spanien durch den Gene-

rationenbegriff evozierte Imagination ei-

nes „Wir-Ge ü ls“ ist nämli dadur

politisch konnotiert, dass sie primär auf

Staatlichkeit ausgerichtet war. Obwohl in

Spanien insi tli der „politis en Ge-

nerationen ormationen“ immer wieder

Re erenzen au „Vorgängergenerationen“

Konjunktur hatten, ist doch zu beobach-

ten, dass diese Handlungsgemeinschaften

3 Insbesondere charakteristisch für die politische

Generation der „1936er“ in Spanien ist die Au as-

sung der eigenen Generation als „Trägergruppe mit

besonderen Au gaben“: ierzu (S. 152) und zur

ategorie der Generation als „Selbstermä ti-

gungs“-Kategorie, s. Dabag 2006. 4 s. Herbert 2003.

5 s. Jureit 2006.

Seite | 16

zukunftsorientiert agierten; die Reklama-

tion eines Generationenwechsels wird

dabei insbesondere zu Krisenzeiten gesell-

schaftsfähig.6

Das prägende Jahr 1898, in dem Spanien

im Krieg mit den USA seine letzten über-

seeischen Kolonien verlor, ging als „natio-

nale Demütigung“ in die spanis e Ge-

schichtsschreibung ein. Das

„Sonderwegsnarrativ“ Spanien unter-

scheide sich in seinen Grundfesten von

anderen europäischen Nationen und die

damit einhergehende Annahme, dass Spa-

nien spätestens seit dem 18. Jahrhundert

im Verfall begriffen sei, führte zu vehe-

menten Klagen insbesondere auf Seiten

der kulturellen Elite. Eine Lösung für das

„Problem“ wurde einge ordert mit ande-

ren Worten: die Errettung des Landes aus

einem emp undenen „C aos“.

Ausweg aus der Krise 1:

Spanien braucht ein (-europäisches-)

Rückgrat!

Waren die An änger der „1898er-

Generation“ als erste „politis e Genera-

tion“ der klassis en Moderne no als

„introspektiv-pessimistis “ zu bes rei-

ben, so änderte sich dies grundlegend mit

der generationellen Konzeption des groß-

bürgerlichen Philosophen José Ortega y

Gasset (1883-1955), der die kulturpoliti-

sche Elite in seiner Konferenz Vieja y

nueva política (Teatro de la Comedia von

Madrid, März 1914) zu mehr Initiative auf-

forderte.7 Genauer: Die „privilegierten

6 Jureit 2006, 39.

7 Ortega y Gasset 1966.

Männer der ungere ten Gesells a t“8

seiner Zeit sollten Spanien als neue Gene-

ration ein Rückgrat verleihen, indem sie

gezielt und verantwortungsvoll die politi-

sche Neuordnung der Nation herbeiführ-

ten.

Warum aber dieser energische Appell zur

gesellschaftlichen Um-Ordnung – was war

die Antriebskraft für diesen politischen

Mobilmachungsakt?

Ohne Zweifel sind die Gründe im spani-

schen fin de siècle zu sehen: die geschei-

terte Revolution von 1868 und die Etablie-

rung der nicht von Erfolg gekrönten Ersten

Republik von 1874/75, die schließlich die

Restauration der Bourbonendynastie zu

Folge hatte mit einem politisch äußerst

instabilen System der Oligarchie und des

Kazikentums.9 Die sogenannten „nationa-

len risen aktoren“ kulminierten (s.o.) im

Jahr 1898.

Ortega y Gasset s rieb 1914: „Quisiera

gritar lo menos posible“ – „I mö te so

wenig wie mögli s reien“ denn Ge-

schrei, so der Essayist in Anlehnung an da

Vin is „dove si grida non è vera s ienza“

zeugte von Unwissenheit. Seine Generati-

on sollte nach außen orientiert sein; Län-

der wie England, Frankreich oder Deutsch-

land sollten Spanien als Vorbilder dienen.

Ortega forderte die Integration europäi-

scher Wissenschaft und Kulturen, um sys-

tematis eine dynamis e „vitale“ Nati-

8 „[M]e dirijo a los nuevos ombres privilegiados

de la injusta sociedad – a médicos e ingenieros, profesores y comerciantes, industriales y técnicos –; me dirijo a ellos y les pido su olabora ión.” Or-tega y Gasset 1966, 286. 9 s. Bernecker – Pietschmann 2005, 278–283.

Seite | 17

on zu konstruieren und das Land somit aus

der beklagten Stagnation zu erretten. Dem

Politikverständnis des Philosophen liegen

deutlich kulturelle Prämissen zugrunde:

nur durch pädagogische Intervention und

kulturelle Integration sei die Neuordnung

des Landes und im Zuge dessen die For-

mierung einer „organisierten“10 Nation

überhaupt möglich.

Der Aufruf Ortegas von 1914 war folgen-

reich: Obgleich das von ihm verfolgte Pro-

jekt einer „Liga der Politis en Erzie ung“

(„Liga de la Edu a ión Políti a“) nur von

kurzer Dauer war, können sowohl er als

Sprecher als auch seine Anhänger als fun-

damentale Akteure im Prozess der refor-

merischen Neuordnungen im Zuge der

Zweiten Spanischen Republik (1931-

1936/39) gesehen werden.

Ausweg aus der Krise 2:

Politische Ordnung durch Besinnung auf

europäische Hochkulturen und Katholi-

zismus

Ganz anders sah Jahre später der Lösungs-

vors lag des „Spanienproblems“ ür die

siegreich aus dem spanischen Bürgerkrieg

hervorgehenden Franquisten bzw. Falan-

gisten aus: die Lösung für die national-

10

Wenn Ortega von „Nationalisierung“ spri t

geht es ihm semantisch hauptsächlich um Organi-

sation und Strukturierung des Landes: „Señores la

obra más característica que quisiéramos realizar

[…] onsiste en poner junto a aquella a irma ión

genéri a de liberalismo […] el prin ipio de la orga-

niza ión de España” s. Ortega y Gasset 1966 292.

katholis e „Generationsein eit“11 der

„Generation von 1936“ lag so einer i rer

wohl profiliertesten Sprecher, dem Histo-

riker Pedro Laín Entralgo (1908-2001),

allein in der Verbreitung des Katholischen

Glaubens sowie der Able nung „blinder

Wissenschaftsgläubigkeit“ der „1914er“.

Das Werk „Spanien als Problem“ von

194912 war Laín Entralgos Versuch, die

erange ensweise „seiner“ Generation

retrospektiv zu rechtfertigen.

Laín bezei nete seine „Generationsein-

eit“ als „ ra ión atóli a y na ional“ der

mit Ende des Kriegs die Aufgabe der Lö-

sung des „Spanienproblems“ au getragen

wurde.13

In Abgrenzung zur Generation um Ortega

wird taktisch auf den Ersten Weltkrieg

verwiesen, der den Menschen gezeigt ha-

ben sollte, dass Wissenschaft, nun unmo-

ralisch und ketzerisch, das Anathema von

Sicherheit und Glückseligkeit darstelle. Die

Lösung sah Laín schließlich im christlichen

Glauben, wobei er diesen auf den katholi-

schen reduzierte. Dieser wäre Schlüssel für

die Konstruktion eines vorbildhaften und

reinen Spaniens; die Konzentration auf

europäische Hochkulturen Garant für die

11

Zum analytischen Konzept der Generationen

“Generationslagerung” “Generationszusammen-

ang” und “Generationsein eit” s. Mann eim

1970, hier 547 ff. 12

s. Laín Entralgo 2006. 13

Laín Entalgo 2006 386: „Sólo un amino vimos

muchos abierto: intervenir con alma limpiamente

católica y anchamente nacional en la ya iniciada

tragedia de España; intentar resolver – con ánimo

más generoso y resuelto que nunca, pensamos – el

problema de España que al despertar a la vida

histórica encontramos tan acerba, tan cruelmente

planteado.”

Seite | 18

politische Einheit des Landes. Die Zielset-

zungen der neuen „Generationsein eit“

wurden besonders im Bereich der Schul-

bildung instrumentalisiert, um eine staats-

konsolidierende Elite „ eranzuzü ten“.

Der spanischen Jugend wurde eine Missi-

on angetragen: sie sollte dem Vaterland

Ruhm und Ehre verschaffen, wie einst die

onquistadoren und Gebildeten des „Gol-

denen Zeitalters“.14

Insbesondere in den Kriegs- und Nach-

kriegsjahren beherrschte dieser Diskurs

das öffentliche Leben. Doch mit der deut-

schen Kapitulation 1945 begannen sich

einige Vertreter der regimekonsolidieren-

den „1936er Generation“ von i rem in den

Gründungsjahren überschwänglichen fa-

s istis en „Ei er“ zu distanzieren. In

manchen Fällen schlossen sie sich sogar

der im Exil aktiven Opposition an. So am

Beispiel Pedro Laíns, Dionisio Ridruejos

oder auch Antonio Tovars zu beobachten,

die allesamt der kulturtragenden Elite des

Landes angehörten.

Pedro Laín Entralgo diagnostizierte dem-

zufolge am Ende der 1940er Jahre: Das

„aktuelle“ Spanienproblem beste e darin

dass Politik und Gesells a t der „Zwei

Spanien“ der zwei gegenüberste enden

Lager, es nicht vermögen, sich anzunähern

und zu versöhnen.

Dem kollektiven Au ru zu diesem „kultu-

rellen rü kenbau“15, einer Integration der

14

s. hierzu bspw. die Oberstufenreform Ley de 20 de septiembre de 1938 (B.O.E. 23-IX) des Nationa-len Bildungsministeriums (Ministerio de Educación Nacional). 15

So betont der Philosoph und Essayist José Luis López-Aranguren au der legendären “Generatio-nenkon erenz” der University o Syra use NY im

Antinomien, sollte ihn, wie auch anderen

Intellektuellen mit diesem „Sinneswan-

del“ zu eginn der 1950er Ja re den Le r-

stuhl kosten.

Nach 1945 kann also in Spanien die Ten-

denz einer politisch-kulturellen Unsicher-

heit einiger Vertreter der im Land geblie-

benen Intelligentsia ausgemacht werden.

So verwundert es nicht weiter, dass in

diesen Jahren einer beginnenden politi-

schen Instabilität erneut Legitimations-

maßnahmen ergriffen wurden, die wieder

„Ordnung“ in ein wenn auch nicht offen-

si tli es so do internes „C aos“ brin-

gen sollten.

Ausweg aus der Krise 3: Ein „katholisches

Rückgrat“ für den „chaotischen Konti-

nent“!

Der dritte generationelle Ordnungsent-

wurf als Gegenstand des Vortrags ist der-

jenige der „Generation von 1948“.16

Protagonist und Sprecher dieser Formati-

on war Rafael Calvo Serer (1916-1988),

seines Zeichens katholischer Schriftsteller

und Opus-Dei-Mitglied. Seine Botschaft:

Spanien hätte kein, wie die Gruppe um

Laín Entralgo Ende der 40er Jahre diagnos-

tizierte „Integrationsproblem“ der „zwei

Spanien“. Vielme r war „Spanien o ne

Problem“ – so der vielsagende Titel seines

Buches.17 Dieses neue Deutungsangebot

Ja r 1967: „[ ]emos servido de puente simbóli-camente; pero toda la generación ha sido un puen-te entre los unos y los otros, entre los que nos pre edieron y los que nos siguen.” zit. na Schmidt 1972, 316. 16

vgl. zu dieser Generationenformation die Studien von Prades Plaza 2007 und Díaz Hernández 2008. 17

s. Calvo Serer 1949.

Seite | 19

als Appell nationaler Einheit präsentierte

Calvo Serer zudem in dem Au satz „Eine

neue spanische Generation“ in der von

i m begründeten Zeits ri t „Arbor“ des

„Obersten Rates für wissenschaftliche For-

schung“ (CSIC).18

Calvo Serer grenzte sich hier mit Gleichge-

sinnten wie Florentino Pérez Embid und

Ángel López-Amo deutlich von der

„1936er-Generationsein eit“ um Ridruejo

Tovar und Laín ab – ihre kulturellen Ord-

nungsentwür e galten als „ges eitert“.

Ziel „seiner Generation“ sollte vielme r

sein, eine solide Grundlage für eine kultu-

relle Vormachtstellung zu konstruieren,

um die genuin spanis e „nationale Struk-

tur“ wiederzuerlangen.19

Konkret hieß dies: Abwendung von einem

Kastilien-zentrierten Spanienbild und An-

erkennung der regionalen Diversität des

Landes. Den Zentralismus verortete Serer

als klares Erbe der Französischen Revolu-

tion, die zutiefst häretisch und daher von

„seiner Generation“ abgele nt wurde. Es

galt, so der verklärte Ton des Manifests, zu

einer paradiesis anmutenden „mittelal-

terli en Tradition“ zurü kzuke ren. Zum

generationellen Vorbild und Lehrer wurde

der Kulturwissenschaftler Marcelino Me-

néndez y Pelayo (1856-1912) stilisiert,

Verfasser der mehrbändigen Anklage-

s ri t „Ges i te der spanis en ete-

rodoxen“.20 Die „ eterodoxie“ der ver-

gangenen Jahrhunderte wurde von der

18

s. Calvo Serer 1947. 19

s. Calvo Serer Ra ael: “Los intentos de una es-tru tura na ional ” A C 4. August 1953; zitiert in Juliá 2005, 359. 20

Menéndez Pelayo 1978.

„neuen Generation“ als das zentrale Ele-

ment eines empfundenen „Ver alls“ der

spanischen Nation angesehen. Der katho-

lische Glaube wurde zum glorreichen All-

heilmittel stilisiert und sämtliche liberale

Tendenzen zurückgewiesen.

Interessant: Calvo Serer drehte den Aufruf

Ortega y Gassets von 1914 in sein Gegen-

teil um, wobei er das gleiche Verb

„vertebrar“ zu Deuts „stabilisieren“

„ein Rü kgrat geben“ verwendete: wäh-

rend die „Generation von 1914“ pro-

grammatisch den Blick nach Europa richte-

te, das Spanien mit seiner wissenschaftli-

chen Fortschrittlichkeit strukturieren und

stärken sollte, war es nun die katholische

Struktur des Landes, welche dem Konti-

nent als Vorbild diente.21

Fazit: „Unsere Generation“ schafft Ord-

nung! Ein rekursives Deutungsmuster als

Leitmotiv der Intellektuellen im Spanien

des 20. Jahrhunderts

21

„De aquí la gran misión en la ora angustiosa de

la Europa moderna, ya que ésta, aunque más des-

viada y dañada por sus pecados, necesita de la

misma uente de vida.” s. Calvo Serer 1947 345.

Seite | 20

Das Generationen-Konzept erfreute sich in

der spanischen Kulturgeschichte des

zwanzigsten Jahrhunderts großer Beliebt-

heit. Ortegas Konferenz von 1914 hat auf

die folgenden Vergemeinschaft-ungen,

wenngleich deren Deutungsangebote

stark divergieren, Einfluss ausgeübt; dies

ist an strukturellen und formellen Elemen-

ten nachzuzeichnen. Allen kommentierten

Generationenformationen ist die Kompo-

nente einer aktiven, politischen Herbei-

führung neuer gesellschaftlicher und kul-

tureller Ordnungssysteme gemein. Deren

Akteure wandten sich als Repräsentanten

der kulturellen Elite des Landes stellver-

tretend ür „i re“ Generation in ange-

nommenen Krisenzeiten an die Öffentlich-

keit und betonten die Rolle der Bildung zur

Durchsetzung ihrer Programmatik. In ei-

nem Vergleich wird selbstverständlich ihre

ideologische Disparität offenbar: jeweils

neue Ideale lehnen das bis dato Gültige als

„überkommen“ ab um die neu ange-

nommene „generationelle“ Identität zu

legitimieren.

Literatur

B. Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur

Karriere eines erfolgreichen Konzepts 2(Frankfurt am Main 1993).

W. L. Bernecker – H. Pietschmann, Ge-

schichte Spaniens 4(Stuttgart 2005).

R. Calvo Serer, Una Nueva Generación

Española, Arbor 8, 24, 1947, 333-348.

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drid 1949).

M. Dabag, Gestaltung durch Vernichtung.

Politische Visionen und generationale

Selbstermächtigung in den Bewegungen

der Nationalsozialisten und der Jungtür-

ken, in: M. Dabag – K. Platt (Hrsg.), Die

Machbarkeit der Welt. Wie der Mensch

sich selbst als Subjekt der Geschichte ent-

deckt (München 2006), 142–171.

O. Díaz Hernández, Rafael Calvo Serer y el

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Katharina Schembs: Der italieni-

sche Korporativstaat und seine

Ausstrahlung auf Lateinamerika:

Der Arbeiter in der Bildpropagan-

da des faschistischen Italiens und

des peronistischen Argentiniens

(1922-1955)

In der Zwischenkriegszeit wurde in einigen

südeuropäischen Staaten mit der Adopti-

on des Korporativismus eine Reformierung

der Wirtschafts- und Arbeitsordnung vor-

genommen, wobei das faschistische Italien

ab 1922 eine Pionierrolle einnahm. Nicht

nur wirtschaftliches Reformprogramm,

sondern auch hoch ideologisiert, sollten

durch das korporativistische Modell über-

kommene Klassenkonflikte harmonisiert

und im internationalen System ein „Dritter

Weg“ beansprucht werden.1 In der erst-

maligen Nutzung der modernen Massen-

medien diente die Propaganda um den

Korporativismus als aktiv erzieherisches

Mittel, die neuartige korporative Arbeits-

und Gesellschaftsordnung zu verbreiten

und Konsens in der Bevölkerung zu erzie-

len. In Anlehnung an Massentheorien des

ausgehenden 19. Jahrhunderts sahen die

Faschisten Bilder im Allgemeinen als be-

sonders geeignet an, die größtenteils

illiterate Masse zu beeindrucken. Die Bild-

propaganda sollte als Träger einer innova-

tiven, dem Faschismus eigenen Ästhetik

mit identitätsstiftender Wirkung fungie-

ren.2 Zentral waren das Thema der Arbeit

und die Figur des Arbeiters, der zum

exemplarischen Bürger stilisiert und zur

1 Santomassino 2006, 9.

2 Falasca-Zamponi 1997, 20.

Konstruktion eines Neuen Italiens aufgeru-

fen wurde.3

Der Korporativismus war jedoch nicht nur

für das italienische Inland relevant, son-

dern Gegenstand aktiver Auslandspropa-

ganda und als sol er „wi tigste[r] ideo-

logis e[r] Exportartikel“ des italienischen

Faschismus, dessen Ausstrahlungskraft gar

die Existenz des Regimes überdauerte.4 So

orientierte sich Juan Domingo Perón, von

1946 bis 1955 Präsident des sich zu gro-

ßen Teilen aus italienischen Einwanderern

konstituierenden Argentiniens, vor allem

unter dem Eindruck seines Italienaufent-

haltes 1939-41 am italienischen Korpora-

tivstaat und dessen Propagandaapparat.5

Auch im peronistischen Projekt nationaler

Erneuerung wurde der Arbeiter zum nati-

onalen Helden erklärt, von dem die Zu-

kunft der Nation abhinge, und im Rahmen

des alten rieges eine „Dritte Position“

postuliert.6 Die Ausstrahlung des italieni-

schen Korporativismus auf Argentinien ist

insofern repräsentativ für die Inspirations-

kraft südeuropäischer Korporativstaaten

auf Lateinamerika, als sich beispielsweise

auch der brasilianische Präsident Getúlio

Vargas (1930-1945) in seinem Bestreben,

einen korporativistis en ‚Estado Novo‘ zu

errichten, am salazaristischen Portugal

orientierte.7

Die bisher in der historischen Forschung

unterbelichtete faschistische und peronis-

tische Bildpropaganda mit ihrem Fokus auf

dem Thema der Arbeit wird in diesem Bei-

3 Gagliard 2010, 5.

4 Nützenadel 2005, 345.

5 Galasso 2005, 122 f.

6 vgl. Perón 1974.

7 Marques Santos 2006, 1.

Seite | 23

trag nicht nur als Visualisierung der neuen

korporativen Ordnung konzipiert, sondern

ihrerseits als Aktivposten, die wesentlich

deren Errichtung begünstigte. Nach der

Erläuterung der kulturpolitischen Rah-

menbedingungen und personellen Verbin-

dungen zwischen beiden Ländern liegt der

Fokus auf dem vorrangig inhaltlichen Ver-

gleich von propagandistischen Bildsujets.

Ziel ist es, sowohl nationale Spezifika als

auch transnationale Verflechtungen in der

propagandistischen Inszenierung des

korporatistischen Ordnungsmodells als

einem wesentlichen Stabilisator der bei-

den Regime zu verdeutlichen.

Kulturpolitik und Propaganda im faschis-

tischen Italien und im peronistischen Ar-

gentinien

Im Hinblick auf die mit der korporativen

Umgestaltung einhergehende Kulturpolitik

im faschistischen Italien sollten ministeria-

le Neugründungen oder Erweiterungen

wie der Presseabteilung 1922 (Ufficio

Stampa del Capo del Governo) oder des

Ministeriums für Populärkultur 1937

(Ministero della Cultura Populare) eine

zentralisierte Koordination und Kontrolle

von Propaganda und Kulturpolitik garan-

tieren.8 Im Zentrum der Propaganda um

den neuen Korporativstaat stand die Figur

des Arbeiters in verschiedenen Varianten:

zum einen als Nutznießer der faschisti-

schen Reformen im Arbeitsbereich, zum

anderen als zukunftsorientierter aktiver

Erbauer des neuen Vaterlandes.

8 Tranfaglia 2005, 18.

Auch der gesamte Kulturbereich wurde

nach korporativen Leitlinien reorganisiert,

was eine intensivierte staatliche Interven-

tion ermöglichte. Die Mitgliedschaft bil-

dender Künstler in den 18 provinziell or-

ganisierten Gewerkschaften war Voraus-

setzung für die Teilnahme an öffentlichen

Ausstellungen und im großen Stil vom Re-

gime lancierten Wettbewerben um staatli-

che Aufträge und Stipendien. Mussolini

forderte, dass auch die künstlerische Pro-

duktion zur wieder beanspruchten Größe

Italiens beizutragen habe. Zu diesem

Zweck sollte eine neue, vermeintlich origi-

när faschistische Kunst geschaffen wer-

den. Aufgrund des Ausbleibens konkreter

ästhetischer Direktiven herrschte in stilis-

tischer Hinsicht jedoch weitgehender Plu-

ralismus und so unterschiedliche künstle-

rische Gruppierungen wie Novecento, Fu-

turismus und Strapaese kollaborierten eng

mit dem Regime.9 Somit wurde das fa-

schistische Regime zu einer der ersten

Nationalregierungen weltweit, die Avant-

garde-Kunstrichtungen in Dienst nahm

und massiv finanziell förderte. Die politi-

sche Mobilisierung dieser als neu dekla-

rierten Ästhetik wurde als faschistische

Innovation ausgewiesen und als Mecha-

nismus der Abgrenzung von der Kulturpo-

litik der liberalen Ära genutzt.10 Während

in den 1920er Jahren der Fokus auf der

korporativen Organisation des kulturellen

Bereichs lag und wenige thematische und

inhaltliche Vorgaben von Seiten des Re-

gimes gemacht wurden, gab es in der Fol-

gedekade durchaus konkretere Anweisun-

gen, die um Themenkomplexe wie Arbeit,

Produktion und Konstruktion kreisten.

9 Sedita 2010, 181.

10 Stone 1993, 228.

Seite | 24

Traditionell bestanden enge personelle

Verbindungen zwischen Italien und Argen-

tinien als einem der außereuropäischen

Länder mit der größten Konzentration an

italienischen Immigranten, die zusammen

mit ihren Nachkommen bis zu 50% der

argentinischen Bevölkerung stellten.11 In

italiani all’estero, also Italiener im Aus-

land, umdefiniert und als solche weiterhin

Gegenstand faschistischer Politik waren

die italienischen Immigrantengemeinden

in Argentinien Zielscheibe intensiver Aus-

landspropaganda.12 Ziel war es, die fa-

schistische Ideologie auch unter ihnen zu

verbreiten, sie letztendlich zu repatriieren

oder doch zumindest im Kriegsfall aus der

„patria di riserva“ dem Reservevaterland,

einzuziehen.13 So meldeten sich im Äthio-

pienkrieg 1935 tatsächlich einige hundert

Italo-Argentinier als Freiwillige.14 Im Zuge

der Auslandspropaganda spielten neben

der faschistischen Auslandsorganisation

Fasci italiani all’estero ebenso die zahlrei-

chen italienischen Kulturinstitute und As-

soziationen italienischer Migranten in Ar-

gentinien eine wichtige Rolle.15 Diese be-

stellten auch aktiv Propagandamaterial

aus Italien vorrangig über die „großen

Leistungen“ des Fas ismus wie den or-

porativstaat. Hierbei wurde Bildmaterial

besonders geschätzt, um den visuellen

Kontakt zwischen Italienern im Ausland

und dem Mutterland aufrechtzuerhalten,

wie es in einer Anfrage des italienischen

11

Newton 1994, 41. 12

Guerrini / Pluviano 1994, 381 f. 13

vgl. Bertagna 2006. 14

Grillo 2006, 249. 15

Devoto 2006, 344.

Kulturinstituts Dante Alighieri in der ar-

gentinischen Stadt Rosario heißt.16

Was den kulturellen Bereich angeht, reis-

ten Exponenten der vom Faschismus pro-

tegierten Kunstbewegungen wie Futuris-

mus und Novecento nach Südamerika, so

Filippo Tommaso Marinetti und Margheri-

ta Sarfatti in den 1920er und -30er Jah-

ren.17 Auf argentinischer Seite stellte in

Künstlerkreisen im Rahmen der nahezu

obligatorischen Bildungsreise nach Europa

Italien ein begehrtes Ziel dar, wo zur Zeit

des Faschismus die staatlich geförderten

Kunstrichtungen rezipiert wurden.18

Nicht zuletzt hatte Perón selbst während

seines zweijährigen Europaaufenthaltes ab

1939 als Emissär des argentinischen Mili-

tärs Italien als Basis gewählt, dort u. a. an

Kursen über Syndikalismus teilgenommen

und sich insgesamt von Mussolinis Ar-

beitsreformen und Propagandamaschine-

rie äußerst beeindruckt gezeigt. Nach sei-

ner Rückkehr nach Argentinien und Wahl

zum Präsidenten 1946 stellte der italieni-

sche Korporativstaat für die Umgestaltung

der argentinischen Wirtschaft sowie die

Organisation der staatlichen Propaganda

ein wirkmächtiges Modell dar.19 Während

Peróns Regierungszeit bis 1955 wurde

Argentinien zu einem der ersten Wohl-

fahrtsstaaten Lateinamerikas ausgebaut,

eine umfangreiche Sozial- und Arbeitsge-

setzgebung verabschiedet und die Rechte

des Arbeiters in der neuen Verfassung

16

uste „Propaganda as ista in Argentina” Ar i-vio Centrale dello Stato, Rom. 17

Schnapp – de Castro 1996, 106; Tadeu 2003, 27. 18

vgl. López Anaya 1997. 19

Galasso 2005, 122 f.

Seite | 25

1949 verankert.20 Begleitet wurden diese

Reformen von einem enormen propagan-

distischen Aufwand, der von der neu ge-

gründeten Subsecretaría de Informaciones

y Prensa (1943) koordiniert wurde. Im

Gegensatz zur Vergabe staatlicher Aufträ-

ge über öffentliche Ausschreibungen und

Wettbewerbe im faschistischen Italien,

beschäftigte die peronistische Propagan-

dadirektion ein festes Team von Graphi-

kern.21 Innerhalb der peronistischen Kul-

turpolitik blieben Bestrebungen von Re-

gierungsseite, Intellektuelle und Künstler

nach korporativem Muster zu organisieren

oder über Assoziationen Einfluss zu neh-

men, jedoch weitgehend erfolglos. In sti-

listischer Hinsicht herrschte ein ähnlicher

Pluralismus wie im faschistischen Italien,

wenn auch tendenziell realistische Darstel-

lungsweisen bevorzugt wurden.22

Zentrales neues Element innerhalb des

propagandistischen Diskurses war auch im

peronistischen Argentinien die Figur des

Arbeiters, die erstmals in die Selbstreprä-

sentation des Staates integriert wurde und

in diesem Zuge eine enorme semantische

Aufwertung erfuhr.23 Auch im argentini-

schen Kontext sind verschiedene Rollen

auszumachen, in denen der Arbeiter in der

Propaganda auftaucht: Neben der Darstel-

lung als Hauptadressat bereits von statten

gegangener Sozial- und Arbeitsreformen

wurde ebenso die zukunftsträchtige Rolle

an ihn herangetragen, aktiv ein Neues Ar-

gentinien zu schaffen.

20

James 1988, 11 f. 21

Gené 2004, 329. 332. 334. 22

Giunta 1999, 59 f. 23

James 1988, 14.

Class, gender und race in der Bildpropa-

ganda des faschistischen Italiens und des

peronistischen Argentiniens

Außer den zeitlichen Wandel der Bildpro-

paganda zu erfassen, sind Leitfragen, die

an einen Vergleich des konkreten Bildma-

terials herangetragen werden können,

welcher Typus Arbeiter vom jeweiligen

Regime im Verhältnis zur verfolgten Wirt-

schafspolitik propagiert wurde. Die spärli-

che bestehende Forschung befindet, dass

im peronistischen Argentinien der Fokus

eindeutig auf dem städtischen Industrie-

arbeiter gelegen habe, während im fa-

schistischen Italien in etwas anachronisti-

scher Weise der Landarbeiter in Überein-

stimmung mit der vom Regime vertrete-

nen Ruralismus-Ideologie verherrlicht

worden sei.24 Diesen Befund gilt es zu

überprüfen, da sich Gegenbeispiele in bei-

den Fällen finden. So stellte auch der In-

dustriearbeiter einen Gegenstand der

Bildpropaganda im faschistischen Italien

dar, beispielsweise markiert durch rau-

chende Fabrikschlote im Hintergrund

(Abb.1). Umgekehrt war der Landarbeiter

in der peronistischen visuellen Propagan-

da vor dem Hintergrund der entschiede-

nen Aufwertung manueller Arbeit im All-

gemeinen keineswegs absent. Vielfach

wird gerade auf die Harmonisierung und

Vereinheitlichung von Arbeitern verschie-

dener Klassenzugehörigkeit abgehoben

oder Industrie und Landwirtschaft als na-

hezu gleichwertig integrale Bestandteile

der argentinischen Wirtschaft dargestellt.

So findet auf einem Propagandaplakat

anlässlich des Zweiten Fünfjahresplanes

neben der prominenten industriellen Pro-

24

Gené 2005, 95 f.

Seite | 26

duktionsstätte im Hintergrund auch noch

der landwirtschaftliche Betrieb Platz (Abb.

2).

Abb. 1: „Die faschistische Regierung Abb. 2: „Man muss den zweiten Fün -

hat mir meine Würde als Arbeiter und Ja resplan in ewegung setzen“

als Italiener zurü kgegeben“ Italien 1925(?) Argentinien ca. 1952.

Gender ist eine weitere Kategorie, die für

den Vergleich sehr fruchtbar zu machen

ist. Vor dem Hintergrund der offenkundi-

gen Dominanz von männlichen Arbeiterfi-

guren in der visuellen Propaganda beider

Länder, stellt sich die Frage nach den

Frauen zugeschriebenen gesellschaftlichen

Rollen. In der graphischen Propaganda des

faschistischen Italiens tauchen Frauen,

abgesehen von großangelegten Kampag-

nen wie den Getreide- oder Geburten-

schlachten oder der Kriegswirtschaft im

Allgemeinen, zumeist in traditionellen

Rollen als Hausfrauen und Mütter auf

(Abb. 3). Ein ähnlich reaktionäres Bild

wird in der peronistischen Propaganda

vermittelt. Zwar wurden die politischen

Rechte der Frau in Form des Wahlrechts

entscheidend erweitert und diese Errun-

genschaft war auch Gegenstand von Pro-

pagandakampagnen. Was jedoch typische

Tätigkeitsprofile angeht, blieben sie ideal-

erweise auf ihre Mutterrolle sowie sanitä-

re und pädagogische Berufe beschränkt

(Abb. 4).1

1 Gené 2005, 130 f. 134.

Seite | 27

Abb. 3: „Nationaler Wettbewerb. Der Sieg Abb. 4: „ rankens westers ule“

des Getreides“ Italien 1922-43. Argentinien 1950.

Im Hinblick auf race gilt es zu fragen, wel-

che Konzeption von nationaler Identität,

von italianità bzw. argentinidad, über die

Identifikation mit der Figur des Arbeiters

konstruiert wird und wie diese formal

oder inhaltlich kodiert wird. Dies kann

entweder über Abgrenzung zu anderen,

der Schaffung von Feindbildern oder offe-

nen Rassismus passieren, wie in Italien

spätestens seit den Rassegesetzen 1938

üblich,1 oder aber über die Nationalfarben

wie im argentinischen Fall, das Inkarnat

der Figuren oder landestypische Kleidung

(Abb. 6).

Einhergehend mit der Phasenverschiebung

des Vergleichsarrangements liegt ein gro-

ßer Unterschied zwischen beiden Regimen

in der fehlenden militärisch-expansiven

Note im peronistischen Argentinien. Im

Gegensatz hierzu stehen die umfassenden

Mobilisierungskampagnen im Umfeld des

1 vgl. Guiman – Parodo 2011.

Äthiopienkriegs und des Zweiten Welt-

kriegs im faschistischen Italien. Interessant

ist, wie im propagandistischen Diskurs die

Arbeitsthematik mit dem Kriegsaufwand

verknüpft wird (Abb. 5). Das peronistische

Regime hingegen unternahm lediglich ei-

nige Anstrengungen in Richtung wirt-

schaftlicher Integration mit den Nachbar-

ländern und förderte den kulturellen Aus-

tausch mit ihnen.2 Die in der peronisti-

s en Doktrin verkörperte „Dritte Positi-

on“ sollte ledigli als Art moralis er

Leu tturm „zur Er ellung der Welt“ die-

nen, wurde jedoch nicht aggressiv zu ver-

breiten versucht.3

2 Rapoport – Spiguel 2005, 37.

3 Subsecretaría de Informaciones: La Nación Argen-

tina, Justa, Libre y Soberana, Buenos Aires 1950, 476.

Seite | 28

Abb. 5: „Arbeiten und kämp en ür das Abb. 6: „Die argentinis e Arbeit im

Dienst Vaterland ür den Sieg“ Italien der Amerikas“ Argentinien 1946-1955.

1922-1943.

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30 | S e i t e

Marcus Nolden: Identität & Alteri-

tät

Identität ist ein zentraler kulturtheoreti-

scher Begriff, der Anknüpfungsmöglichkei-

ten in vielerlei Richtungen eröffnet und

der gemeinsam mit dem Begriff der Alteri-

tät, ein philosophiegeschichtlich bedeut-

samer Begriff, auf die spannende Dicho-

tomie von Alterität und Identität als ei-

nander bedingende Momente verweist.

Identitäten werden demnach durch Ab-

grenzung und Ausgrenzung konstruiert

und auch stabilisiert. Das 'konstitutive

Außen' ist dabei nicht nur die Bedingung

der Möglichkeit von Identität, sondern

zugleich immer auch Teil derselben. Das

Zentrum und der Rand sind somit intrin-

sisch miteinander verwoben. Soll daher

Andersheit gedacht werden, bedeutet der

Begriff nicht, dem Selbstidentischen des-

sen komplementäres Gegenteil entgegen-

zusetzen, sondern das angeblich Mit-sich-

selbst-Identische in seiner Angewiesenheit

auf und Kontaminierung durch sein ver-

meintlich Anderes zu lesen. So wird z.B. in

Edward Saids Studie Orientalism der Be-

griff des Anderen als Beschreibungskate-

gorie des Orientalischen genutzt, das als

das irrationale Andere dem rationalen

Selbst europäischer Identität gegenüber-

gestellt wird. Durch diese Prozesse des

othering, durch die dem Anderen vor der

Folie des "weißen, männlichen, heterose-

xuellen" Subjekts jede Identität abgespro-

chen werden, wird, so Saids Analyse und

Kritik, die europäische Identität erst er-

zeugt und bestätigt.

Auch im mittelmeerischen Diskurs wird

das „Andere“ o t der aotis en Sp äre

und das „Eigene“ dem erei der Ord-

nung zugewiesen. Aus dieser Dichotomie

von Chaos und Ordnung entwickeln sich

Fragen wie das „Andere“ kontrolliert

werden soll und wie diese Praxis der Kon-

trolle sich z.B. auf Migrationsbewegungen

im Mittelmeerraum auswirkt. Weiterhin

entspannen sich Fragen, die sich den aus

dieser Dichotomie entwickelnden – evtl.

auch neuem – Praktiken widmen.

Im folgenden Kapitel wird zuerst der Bei-

trag von Kristine Wolf vorgestellt. Ihr Pro-

motionsprojekt widmet sich den Vorstel-

lungen, dem Wissen und den Interaktio-

nen von MigrantInnen und Einheimischen

in euro-mediterranen Grenzräumen. Ihr

Beitrag wird sich hier nun den Fragen der

„Grenzregime und gegen egemonialen

Mobilitätsprozessen im euro-

mediterranen Raum“ widmen. Der zweite

Beitrag in diesem Kapitel stammt von Ca-

rolin Phillip. Sie konzentriert sich im Rah-

men ihres Promotionsvorhabens auf das

Verhältnis von Theorie und Praxis aus der

Sicht politisch aktiver Menschen im ge-

genwärtigen Athen im Kontext der Krise.

Ihr Beitrag beschäftigt sich daher folge-

richtig mit den Fragen wie Menschen in

wirtschaftlichen, politischen und sozialen

Krisensituationen Möglichkeitsräume für

alternative Denk- und Handlungsweisen

schaffen können. Der letzte Beitrag

stammt von Abdellatif Bousseta der sich in

seinem Promotionsvorhaben mit Interkul-

turellen Lebensläufen u.a. am Beispiel von

Taha Hussein und Elias Canetti auseinan-

dersetzt. Sein in dieser Publikation vorlie-

gender Beitrag beschäftigt sich mit der

kulturellen Identität im modernen arabi-

schen Diskurs.

31 | S e i t e

Carolin Philipp: Spaces of Re-

sistances – perceptions and prac-

tices in the cracks of 'capitalism in

crisis'

Einleitung

Da die 'Brüche des Kapitalismus'1 in Kri-

senzeiten besonders sichtbar werden, ha-

be ich den Fokus meiner Forschung

'Spaces of Resistances – perceptions and

practises in the cracks of 'capitalism in

crisis'' auf Athen gerichtet, dem geogra-

phischen Symbol der sogenannten Euro-

Krise2. Hier untersuche ich das Verhältnis

von Diskursen und Praxen aus der Per-

spektive der Menschen, die in den 'Brü-

chen' aktiv sind. Im Folgenden möchte ich

versuchen, erste Eindrücke aus den sieben

bereits geführten problemzentrieren eth-

nographischen Interviews zu verarbeiten,

die ich mit politisch aktiven 'Subjektivitä-

ten' im alternativen Athener Spektrum

geführt habe: im linken, migrantischen,

anti-nationalistischen und anti-

rassistischen Raum.

Hintergrund

Im dominanten Diskurs werden meist en-

dogene Ursachen für die Krise in Griechen-

land verantwortlich gemacht: Steuerhin-

terziehung, die verkrustete politische Ord-

nung, Korruption, Vetternwirtschaft und

Familiendynastien in Politik und Wirt-

schaft.

1 Holloway 2010.

2 Žižek 2012.

EU-Institutionen sind angetreten um das

Chaos zu beenden und Griechenland

durch europäische Ordnungsmechanis-

men wieder 'auf Kurs' bringen. Diese ba-

sieren auf den lange in Ländern des Globa-

len Südens angewendeten Strukturanpas-

sungsmaßnahmen des Internationalen

Währungsfonds, die nun durch die Troika

aus EU-Kommission, Europäischer Zentral-

bank und IWF nach Griechenland gebracht

werden3. Dass der starke Druck, der Wirt-

schaftsreformen hauptsächlich an die Un-

ter- und Mittelschichten weitergeleitet

wird, kritisiert der Historiker Antonis Lia-

kos als 'Social Engineering'4: „Die rise ist

ein Instrument zur Veränderung der Ge-

sellscha ten“ zur Etablierung neuer Ord-

nungen im „ risenlabor Grie enland“5.

Maßnahmen wie Privatisierungen, Kür-

zungen von Renten, Abbau von Gesund-

heits- und Sozialsystemen, Entlassungen

im öffentlichen Dienst und die Senkung

der gesetzlichen Mindestlöhne versetzten

Teile der evölkerung in eine Art „S o k-

starre“6.

Die Krisenpolitiken des griechischen Staa-

tes sowie der EU werden aber auch auf

vielfältige Weise ideologisch sowie prak-

tisch herausgefordert. Eine Krise kann

auch Möglichkeitsräume eröffnen, nicht

nur, um neoliberale Experimente im Inte-

resse der „ errs enden Eliten“ dur zu-

führen7. Die Räume werden auch von

rechten und linken sozialen Bewegungen

genutzt, um alte Ordnungen in Frage zu

stellen, Machtpositionen durch Anti-

3 Caffentzis 2012.

4 Liakos 2011.

5 Hartmann – Malamatinas 2011.

6 Klein 2007.

7 Hartmann – Malamatinas 2011.

32 | S e i t e

Logiken herauszufordern und durch ge-

genhegemoniale Projekte aufzubrechen8.

Gerade durch die radikale und gewaltvolle

Performanz von griechischer Bewegung

und Staatsmacht sind diese zum Sinnbild

der Auseinandersetzungen in Südeuropa

geworden. Die massivsten Zusammenstö-

ße von Staat und Protestbewegungen so-

wie die gewalttätigsten Konflikte inner-

halb verschiedener Bewegungen – etwa

zwischen Neo-Nazis versus Linken, Anti-

Autoritären und Migrant_innen – finden in

Athen und seinen Außenbezirken statt.

In den letzten vier Jahren finden konstant

Aushandlungsprozesse statt, die von den

Vertreter_innen der alternativen sozialen

Bewegung in den Interviews auf verschie-

dene Höhe- und Wendepunkte konzent-

riert werden9. Die vier Ereignisse haben

jeweils räumliche, diskursive und prakti-

sche Facetten, die At en als „divided ity“

(geteilte Stadt) manifestieren.

1# Dezember Revolte 2008

2# Platzbesetzung der Indignad@s in Syn-

tagma Mai – Juli 2011

3# Ausschreitungen um zweites Memo-

randum im Februar 2012

4# Einzug der Neo-Nazi-Partei Xrysh Augh

(„Goldene Morgenröte“) ins Parlament im

Mai & Juni 2012

8 Holloway 2010.

9Aufgrund der angespannten und gewalttätigen

Situation in Athen, kann ich mich meine Interview-

daten nur in der alternativen Athener Szene sam-

meln.

1#

Abbildung 1

Soziale Bewegungen haben in Griechen-

land traditionell eine stark linke, marxisti-

sche Prägung. In den letzten 10 – 15 Jah-

ren entwickelte sich eine stärker anarchis-

tisch, anti-autoritär ausgerichtete Jugend-

bewegung. Das Zentrum, der Dreh-, An-

gelpunkt und Rückzugspunkt dieser Bewe-

gung liegt im zentralen Athener Stadtteil

Exarchia.

„Exarchia if we look back in the years,

since ever(!), it has always been the Left-

ists, the Anarchists, the Gay, the every-

thing Other.“ (Int. 1)

Der tödliche Schuss auf Alexis Grigoropou-

los am 6. Dezember 2008, der die Dezem-

ber Revolte auslöste, fiel in einer Fußgän-

gerzone in ebendiesem Viertel. Noch am

selben Abend begannen Proteste gegen

Polizeigewalt, die bis Januar 2009 andau-

erten. Obwohl es Demonstrationen und

Solidaritätsaktionen in ganz Griechenland

und im Ausland gab, blieb das Zentrum

der Ereignisse konzentriert auf Exarchia.

33 | S e i t e

Abbildung 2

Der Massenprotest, den Costas Douzinas

in Referenz zur Pariser '68er Revolte als

„grie is en Mai“ bezei net war getra-

gen von Schüler_innen und Student_innen

und geprägt von der totalen Opposition

gegen dem Staat10. Thematisch ging der

Protest weit über Widerstand gegen Poli-

zeigewalt hinaus. Die Folge war eine all-

gemeine Politisierung der jungen Genera-

tion und ein Erstarken der anarchistischen

Jugend der „ inder des Dezember.“ (Int.

3)

“... It's like one of the things that haunts

you for your whole life. ...(10:00) ... you

know I had like that point when you com-

pare everything with that. That was De-

cember 2008 for me. (11:00) After that you

had like this thing in Syntagma and I can

totally see the huge differences between

this two things and yeah, I'm still for De-

cember 2008. … That it was something

with no demands. It was something that it

couldn't be manipulated ... And you can

see the kind of people that participated in

that thing (12:00) you had like immigrants,

students, minors, hooligans. ... It was

something ... like it said a dilemma: either

you are with us or you are not. And if you

are not with us then you support like …

Greece in a way. Like it was something

10

Douzinas 2010.

caused, no caused: it was performed by

outcasts in many ways. (13:00) And it

aimed the order of Greek society. But in a

very deep level. You know, not something

superficial, like we close the street because

we demand that. No. It was something

chaotic, something ... something very

nice.” (Int. 2)

2#

Mit der gewaltlosen Besetzung des zentra-

lem Syntagma-Platzes von Mai bis Juli

2011 erreichten die Proteste gegen das

Krisenmanagement einen Höhepunkt.

Menschen aus vielen Schichten und mit

unterschiedlichen politischen

Abbildung 3

Hintergründen versammelten sich täglich

vor dem griechischen Parlament. In den

meisten Analysen zur griechischen in-

dignad@-Bewegung wird der Platz in eine

obere und untere Hälfte eingeteilt11. Die

obere Hälfte der Protestierenden wendete

sich dem Parlament: oft patriotisch mit

griechischen Flaggen, empört vom politi-

schen Establishment. In den Versammlun-

gen und Massendiskussionen der eher

links-liberal bis radikal geprägten unteren

11

vgl. Papadpopoulos – Tsianos – Tsomou 2012.

34 | S e i t e

Hälfte ging es eher darum, Alternativen zu

finden.

Im Herbst 2011 fand eine Diffusion der

„oberen re ten“ sowie „unteren linken“

Versammlung in die Stadtteile statt. Nach-

barschaftskomittees und lokale Initiativen

wurden gegründet, die versuchen, die

Auswirkungen der Krise u.a. durch die

Gründung von Gesundheits- und Sozial-

zentren aufzufangen.

“… for example my suburb this is very im-

pressive, because it's a middle-class sub-

urb (…) So seeing that over the past two

years, especially last one year, they started

some local assemblies where that were

open, not only to the people only that had

this left background, anarchist background

but they could co-exist with people coming

from a different background, political

backgrounds... because of same needs and

the same problems, facing the same reali-

ty.” (Int. 1)

Abbildung 4

Obwohl die Bewegung eher von Empörung

(indignad@s, αγανακτισμένοι) geprägt

war und kein klares Ziel hatte12 konnte

man thematisch eine Eingrenzung gegen-

über Dezember 2008 beobachten. Sie

konzentrierte sich auf die Krise, das Kri-

12

Papadpopoulos – Tsianos – Tsomou 2012.

senmanagement und seine Alternativen13.

Im Gegensatz zur Dezember-Revolte war

Syntagma trotz genereller Ablehnung der

repräsentativen Demokratie14 mit Forde-

rungen verbunden, die eine Reform des

staatlichen Rahmens anvisierten: direkte

Demokratie15, eine neue Verfassung, här-

tere Besteuerung von Reichen.16 Vom

Staat wurde verlangt, seine Funktion als

Ordnungsmacht auszufüllen, wenn auch

auf eine sozial verträglichere Weise.

Die Zusammenarbeit unterschiedlicher

sozialer Schichten und politischer Richtun-

gen, die sich mit denselben Problemen

konfrontiert sahen, verband Griechinnen

und Griechen in ihrer Prekarität gegen die

griechische Elite und die EU-

Ordnungskräfte. Viele sahen im Austritt

aus der Europäischen Union und in einer

nationalen Unabhängigkeit einen Ausweg

aus der Krise17. Besonders in der griechi-

schen Indignad@-Bewegung waren patrio-

tische Tendenzen zu beobachten, Mit dem

Slogan „We are all Greeks“ wurden soziale

und politische Barrieren überwunden.

Allerdings war die Kehrseite des Ein-

schlussprozesses unter dem Banner der

nationalen Einheit der Ausschluss der

migrantischen Bevölkerung. Im Gegensatz

zum Dezember 2008 bemängeln migranti-

sche Gruppen fehlende Solidarität, nicht

erst nach wiederholten gewalttätigen Aus-

schreitungen gegen Migrant_innen in Syn-

tagma.

13

Cossar-Gilbert 2012. 14

Tzanetti 2011. 15

http://real-democracy.gr, http://amesi-

dimokratia.org/,

http://www.amesidimokratia.com. 16

Versammlung in Syntagma am 27.05.2011. 17

Gerbaudo 2011.

35 | S e i t e

3#

Als am 12. Februar 2012 das zweite Spar-

paket im Parlament verabschiedet werden

sollte, wurde eine Teilnahme von Vielen

als so selbstverständlich angesehen, dass

organisierte Massenmobilisierung kaum

nötig war. Es kam zur letzten Großde-

monstration (Stand 2/2013) mit 80.000–

500.000 Teilnehmern und massiven Kra-

wallen. Räumlich konzentrierte sich der

Protest um das debattierende Parlament

am Syntagma Platz. Im Gegensatz zur

Platzbesetzung von 2011 zerstreuten sich

die Aktionen allerdings in die umliegenden

Gassen, da die Ordnungskräfte die aufge-

brachte Menge nicht auf den Platz vorrü-

cken ließ. Aus Protest wurden Dutzende

Gebäude, hauptsächlich Banken und in-

ternationale Ketten in Brand gesetzt. Die

Demonstration war eine Manifestation der

Zerstörung der „absoluten Verweige-

rung“18 gegen das Sparpaket ohne sich in

die Position der Fordernden zu begeben,

eine Zurückweisung jeglicher Politiken von

Markt und Staat.

Abbildung 5

Nachdem während der Indignad@-

Proteste erstmals konservative, patrioti-

sche und nationalistische Gruppen auf

18

Hatzopoulos – Marmaras – Parsanoglou 2012.

dem gleichen Platz mit links-liberalen, -

radikalen und anti-autoritären protestier-

ten, beobachtete ein Interviewpartner am

12. Februar 2012 erstmals, wie neben

Anarchisten, die sich Auseinandersetzun-

gen mit der Polizei lieferten auch schwarz

vermummte Faschisten Jagd auf

Migrant_innen machten (Int. 3).

4#Ereignis

Bei den Parlamentswahlen kommt es ne-

ben dem Erstarken der linksradikalen Syri-

za als zweitstärkste Partei hinter der kon-

servativen Nea Dimokratia zum Einzug der

faschistischen Xrysh Augh. Die Popularität

von Xrysh Augh kann unter anderem dar-

auf zurückgeführt werden, dass sie sich als

tatkrä tige „mikro- as istis e“ Na bar-

schafts-Ordnungsmacht19 mit guten Ver-

bindungen zur lokalen Polizei etabliert

haben20. Ausgehend von Agios Pantelei-

monas, einem ehemals bürgerlichen

Stadtteil mit heute sehr großem Anteil

armer migrantischer Bevölkerung, weite-

ten sie ihre Aktivitäten auf andere Bezirke

aus.

19

Parsanoglou 2012. 20

Lampropoulos 2012.

36 | S e i t e

Abbildung 6

Abbildung 7

Sie besetzten öffentliche Plätze, verriegel-

ten einen Kinderspielplatz, den hauptsäch-

lich Kinder mit Migrationshintergrund be-

suchten, und hissten die griechische Flag-

ge. Auf dem Wochenmarkt patrouillieren

Neo-Nazis und schikanieren die migranti-

schen Verkäufer. Diese und andere Aktio-

nen trugen dazu bei, Stadtteile in Ghettos

zu verwandeln in denen man sich in stän-

diger Angst vor Übergriffen bewegen

muss:

„Even our way home everyday is a form of

resistance for us migrants nowadays. We

have to be constantly aware of the danger

of verbal or physical attack.“ (Int. 4)

Die gesellschaftlichen Folgen der zuge-

spitzten Krise erweisen sich als Nährboden

ür ein a e „Lösungen“ von re tsextre-

men Nachbarschaftsinitiativen, Xrysh

Augh und anderen gewalttätigen gewalt-

tätige Neo-Nazi-Gruppen. Ein Interview-

partner erzählt, dass nach Dezember 2008

die anarchistische Jugendkultur tonange-

bend war eute dagegen sei es „in“

rechtsradikal zu sein „Let's say it's trendy,

it's „pop“ nowadays to beat up migrants“

(Int. 3). Somit eröffnet sich für die extreme

Rechte ein Möglichkeitsraum, um ihre

Werte und Diskurse als neue gesellschaft-

liche Ordnung und Normalität zu etablie-

ren.

Denn der Rechtsruck spiegelt sich im ge-

nerellen Diskurs wieder: in der zentralen

Wahlkampfrede von Präsident Samaras

„I werde die illegalen Migranten aus

unserem Land schmeißen. Sie sind zu Ty-

rannen unserer Gesellschaft gewor-

den!“21, in der Gesetzgebung (Zurücknah-

me des Einbürgerungsgesetzes

3838/2010) und bei den Exekutivorganen

(massive Misshandlungen von Migranten

durch die Polizei22 und Räumung von al-

ternativen Sozialzentren seit Ende 201223).

Fazit

Die diskursive Wende hat wiederum Ein-

fluss auf die Diskurs- und Aktionsräume

alternativer sozialer Bewegungen:

“... So we used to do demonstrations in

order to say, well what is happening in the

center and they arrest people because

they are black ... And we would, you know,

try to put these in light because they were

in a sense down in the shadows... But now,

they [the government, C.P.] are advertising

this things. So, you know, they leave you

no room to scandalize it. We have to find

other ways to interact, to make our ac-

tion.” (Int. 5)

Von thematischer Vielfalt und Kooperatio-

nen über linke, migrantische und anti-

autoritäre Gruppengrenzen hinweg (2008)

21

Antonis Samaras auf dem Syntagma Platz am

15.06.2012. 22

Amnesty International 2012. 23

Aldermann 2013.

37 | S e i t e

konzentrierten sich die Bewegungen mit

der verstärkten Krise sehr auf ökonomi-

sche Thematiken und direkt-

demokratische Prozesse (2011). Die abso-

lute Zurückweisung alles Staatlichen wäh-

rend der Februar-Ausschreitungen 2012

hatte eine weitere Radikalisierung der

Gesellschaft im rechten und linken Spekt-

rum zur Folge. Durch das Erstarken des

gewaltbereiten rechten Spektrums ver-

breitet sich in der von mir untersuchten

alternativen Bewegungen der Eindruck,

dass ihre Aktionen reduziert ist auf Reak-

tionen.

“... what is the main goal and what are the

short term goals, you understand? It is

very important to look also at other prob-

lems of the society, but someone has to

fight the fascism in the neighborhoods and

this has to happen now!” (Int. 3)

Von Exarchia über Syntagma hat sich das

räumliche Zentrum von alternativer Aktion

nach Agios Panteleimonas und die umlie-

genden Bezirke verlagert. Hier fanden En-

de 2012 viele antifaschistische Aktionen

statt (z.B. wiederholt auf der Platia Ameri-

kis), sowie die Konflikte gegen die Räu-

mung von drei besetzten Häusern Anfang

2013 (Villa Amalias, Lela Karagiannis, Ska-

ramaga).

Abbildung 8

Mit den Auseinandersetzungen um kon-

kreten (Frei-)Raum in der 'devided city'

bekommen abstrakte Krisendiskurse wie-

der eine Kontur. Durch die empfundene

Dringlichkeit konzentrieren sich linken,

anti-autoritären, migrantischen sozialen

Bewegung auf die Bekämpfung faschisti-

scher Gruppen sowie auf die Rückerobe-

rung von Raum. Sie bewegen sich aus ih-

rem angestammten Bezirk heraus in

Nachbarschaften, die geprägt sind von den

Ordnungsversuchen der rechten sozialen

Bewegungen und der Raumnahme durch

den als repressiv empfundenen Staat.

Dies schafft, trotz aller problematischen

Aspekte, die die Konzentration auf ein

Thema mit sich bringt, auch Möglichkeits-

räume für neue Allianzen und die Über-

brückung ideologischer Differenzen.

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39 | S e i t e

Abdellatif Bousseta: Die Identitäts-

frage im modernen arabischen

Diskurs - Zwischen der vermeintli-

chen Einheit und der realen Viel-

falt

Es unterliegt keinem Zweifel, dass die

französische Spedition nach Ägypten

(1798–1801) unter der Führung von Napo-

leon Bonaparte einen entscheidenden

Punkt in der Geschichte der modernen

arabischen Welt bildete und lange ihre

Wahrnehmung des Selbst und des Ande-

ren prägte. Die rasch erfolgte Eroberung

(vom 1. bis zum 20. Juli) Alexandrias und

Kairos sowie die enorme zivilisatorische

Kluft zwischen Ägypten und dem europäi-

schen Eroberer waren ein großer Schock

und vor allem eine große Herausforderung

für die ägyptische Nation, die sich ge-

zwungen sah, aus ihrem Begriffssystem

über das Selbst, die Geschichte und die

Zivilisation auszutreten. Und in eine neue

geistige Dynamik einzusteigen, deren Mit-

telpunkt der andere, politisch militärisch

und zivilisatorisch fortgeschrittene Westen

ist.

Was waren die politischen und geistigen

Fragestellungen, die dieses geschichtliche

Ereignis aufgeworfen hat? Wie und unter

welchen Voraussetzungen wurde die Fra-

ge der Identität in verschiedenen Zeitab-

schnitten gestellt und von verschiedenen

Eliten beantwortet? Inwieweit stellt die

Identitätsfrage ein Hindernis vor dem

Fortschritt und der Öffnung einer perma-

nent veränderbaren Welt gegenüber dar?

Diese wären die wichtigsten Fragen, die

wir in diesem Artikel zu beantworten ver-

suchen werden.

Bevor wir uns der Beantwortung dieser

Fragen widmen, möchten wir betonen,

dass die Frage der Identität in einem Konf-

rontationskontext (Imperialismus dann

Kolonialismus) auf drängender Weise ent-

standen ist. Außerdem erfolgte die Diskus-

sion um die eigene kulturelle Identität und

um den Anderen durch Begriffe wie: Tradi-

tion, Moderne, Authentizität usw. und in

verschieden Wissensbereichen wie: der

Geschichte, der Kulturwissenschaft, der

Politikwissenschaft, Soziologie Literatur

usw., was jedem Forscher erschwert, eine

deutliche umfassende Konzeption des

Selbst und des Anderen herauszubilden.

Wir versuchen daher die Komplexität des

Themas abzubauen, indem wir die Frage

der Identität im Hinblick auf die Diskussion

über die Tradition und Moderne erörtern.

Eine Diskussion, deren Schatten in allen

Lebensbereichen vorzufinden sind. Die

Frage der Identität ist in dieser Hinsicht

ein Versuch einer neuen Positionierung

des Selbst und des Anderen im eigenen

Vorstellung- und Wertsystem.

I. Die Selbstwahrnehmung:

Im Hinblick auf die Diskussion über die

Tradition und Moderne, die Renaissance

und Dekadenz lassen sich im modernen

arabischen Diskurs drei wichtige Strömun-

gen oder Abdullah Laaroui folgend drei

Wahrnehmungsmodelle unterscheiden:

Der salafistische, der liberale und der

technokratische Diskurs.

40 | S e i t e

a. Der salafistische Diskurs:

Es ist hier notwendig, den salafistischen

Diskurs von der religiös-politischen Bewe-

gung des Salafismus, die als Teil des

salafistischen Denkens gelten kann, zu

unterscheiden.

Mit dem salafistischen Diskurs meinen wir

die geistige Richtung des Salafismus, wie

sie sich nach der Begegnung mit dem Wes-

ten in den Schriften des Reformators Mo-

hammad Abdoh (1849–1905) und seiner

Schülerschaft kristallisiert hat und die sich

vor allem dadurch auszeichnet, dass sie

zwischen dem Islam und den errungenen

Leistungen der Moderne vor allem in der

Politik und der Technologie (moderne

Wissenschaften) zu vermitteln versucht

hat.

Ein Versuch, der schon durch Rifaa Rafi At-

tahatawi (1801–1873) angebahnt wurde.

Er s rieb: „Wenn Europa von der islami-

schen Zivilisation gelernt hat. Was verbie-

tet denn, dass wir uns wieder in Verbin-

dung setzen mit unseren Vorfahren durch

den Westen?“

Als Motto salafistischen Denkens gilt der

auf den Imam Malik (starb 795 n. Chr.)

zurü kge ü rte Satz: „Die Situation der

Nation kann sich bessern, nur durch die

geistige Rückbesinnung auf die Altvorde-

ren (arab. Sala ‚Vor a ren‘).“

Trotz der Aufforderung, sich auf die Alt-

vorderen zurückzubesinnen, unternahmen

die Vertreter dieser Strömung gewaltige

Bemühungen, zwischen dem Islam und

dem Westen zu vermitteln. Ihre Haltung

impliziert, dass die Zivilisation eins ist, und

dass die Wendung zu Europa eine Wen-

dung zur eigenen Kultur und Zivilisation

ist, wie es uns das folgende Zitat vom

Cheikh Mohammad Abdoh verrät:

„Ein Funke vom Islam at den Westen

beleuchtet .Wie man sagen könnte: Das

gewaltige Licht und die große Sonne sind

im Orient aber die Orientalen leben blind

in der Finsternis.“1

Der westliche Fortschritt könnte demnach

auf den Islam zurückgeführt werden. Die-

selbe Idee finden wir beim marokkani-

schen Denker und Schriftsteller Allal Al

Fassi:

„Die universalen Ideen der Frei eit an die

wir heute glauben, haben ihre Wurzeln in

der ersten Revolution des Islams; Aber der

Aberglaube und die Abweichungen haben

sie bede kt.“2

Die Gründe der Dekadenz liegen daher,

dem salafististischen Diskurs nach, in der

Unfähigkeit der Muslime den wahren Is-

lam zu verstehen und in der politischen

Zerrissenheit der Nation, welche dem

westlichen Einmarsch Gelegenheit gibt.

So schreibt Jamal Ed-Dine al Afghani

(Ǧamāl ad-Dīn al-A ġānī 1838–1897 ):

„... Und der Orient i setzte mein Ge irn

dafür ein, seine Krankheiten zu diagnosti-

zieren und Heilmittel zu suchen. Ich fand

die Krankheiten in der Zerrissenheit seiner

Einwohner und in der Zersplitterung ihrer

Meinungen… i tat sie um ein Wort zu

sammeln und sie auf die westliche Gefahr

au merksam zu ma en.“3

1 Abdoh 1976, 156.

2 Zitiert nach Laaroui 1970, 75.

3 Ad-dine Al Afghani – Abdoh 1970, 13.

41 | S e i t e

Al Afghani sieht die Erlösung in der Rück-

kehr zu den ersten wahren Grundsätzen

des Islams und in der politischen Einheit.

So fährt er fort:

„I re Arznei (die erkrankte Nation) ist die

Rückkehr in die Gebote der Religion und

ihrer Folge leisten, wie sie (die religiösen

Gebote)am Anfang waren. Darüber hinaus

die Anleitung der Pöbel durch ihre wichti-

gen Lehren, die Verbesserung der Manie-

ren, das Anfachen der Vaterlandsliebe und

die Aufopferung der Seelen zum Wohler-

ge en der Nation.“4

Seinerseits fordert Mohammad Abdoh:

Erstens den Einsatz der Vernun t zur „Er-

neuerung der Religion, sowie die Wieder-

belebung der philosophischen Studien und

die Durchführung einer geistigen Revolu-

tion, wodurch unser kulturelles Erbe über-

prü t und aussortiert wird“.

Und zweitens die politische Befreiung

„vom olonialismus der si in die Region

vordringt, ihm zivilisatorisch entgegenwir-

ken und widerstehen durch die Verkörpe-

rung der Prinzipien des islamischen Den-

kens in konstitutionellen und modernen

parlamentarischen Institutionen und

durch die Eingrenzung der Regierungs-

macht durch die Verfassungen und die

Gesetze“.5

Wichtig ist es aber der Frage nachzugehen,

was Mohammad Abdoh unter der Ver-

nunft versteht? Er nennt seine reformisti-

s e Au gabe olgendermaßen: „Die e-

freiung des Denkens von den Fesseln der

Imitation (Tradition), das Verständnis der

4 Ad-dine Al Afghani – Abdoh 1970, 61.

5 Amara 1972, 37.

Religion nach der Art und Weise der Vor-

deren, bevor es zum Zwiespalt kam. Und

das Erwerben ihrer Erkenntnisse (die Reli-

gion) durch das Zurückgreifen auf die ers-

ten Quellen. Außerdem sollte die Religion

zu den Maßen der menschlichen Vernunft

gehören, die Gott erschaffen hat, um sie

(die Vernunft) zu zähmen, und ihre Irrtü-

mer zu verringern.“6

In dem vorausgegangenen Zitat betont

Mohammad Abdoh, dass die Offenbarung

der Vernunft weit überliegt , und dass die-

se letzte au dieser Weise „wissens a ts-

freundlich wird, anregend dazu, die Welt-

geheimnisse zu erforschen, veranlassend

zum Respekt fester Wahrheiten und sie

beachtend zur Verbesserung der Seele

und Veredelung der Taten“7.

urzum verste t er darunter „die Vernun t

der Vergangenheit, doch die sunnitische

Vernunft, welche die Vernunft der

Mu’atazila (eine rationalistis ausgeri h-

tete Schule innerhalb der islamischen

Theologie. Dieser Vernunft verdankt die

islamische Zivilisation ihre größten Philo-

sophen und Wissenschaftler) gebannt und

unterdrü kt at“8.

Neben der Einheit der Zivilisation und der

Vernunft oder der Wahrheit (vertreten im

wahren Glauben und in der wahren Scha-

ria), ruft der salafistische Denker zu einer

Einheit des Staates seinen falls des Kali-

fats. In diesem Zusammenhang schreibt Al

Afghani:

6 Zitiert nach Amine o. A., 327.

7 Amine o. A., 327.

8 Abid Al Jabri 1982.

42 | S e i t e

„Der Orient wird nie lebendig werden

wenn er nicht einen starken gerechten

Mann kennt, der ihn beherrscht in Ab-

stimmung mit seinen Einwohnern und

o ne despotis e Mittel.“9

Seinerseits duldet Mohammad Abdoh so-

gar die despotischen Mittel, wenn diese

die Einheit unter den Muslimen hervor-

bringen, und aus ihnen wieder eine starke

Nation machen können. Er schreibt:

„Der Orient kann nur durch einen gerech-

ten Alleinherrscher wieder aufsteigen, der

die nicht Befriedeten dazu zwingt, sich

gegenseitig kennen zu lernen… be errs t

die Menschen zu ihrem Vorteil nach seiner

Meinung mit Willkür, wenn sie sich nicht

frei entschließen können, zu dem, was

i nen Glü k bringt.“10

Die erwünschte Einheit zwischen der Au-

torität und der Wahrheit prägte lange das

arabisch islamische Denken und bildete

den Rahmen aller Identitätsüberlegungen.

In diesem Sinne schlussfolgert ein nach

den theoretischen Grundsätzen im Den-

ken von Mohamed Abdoh und Al Afghani

su ender Fors er: „Aus dem Vor erge-

sagten, können wir resultieren, dass sich

die Struktur des arabisch- islamischen

Denkens um die Idee der Einheit dreht:

Die Einheit der Sprache, der Scharia, der

Wahrheit und der Macht bzw. das Fortbe-

ste en des Staates…. Die Ein eit verkör-

pert sich natürlich im Staatsystem wo sich

die Wahrheit und die Macht treffen: Die

9 Zitiert nach Laaroui 1970, 61.

10 Zitiert nach Al Jundi o. A., 52.

Macht schützt die Wahrheit, und die

Wa r eit ist die asis der Ma t.“11

b. Der Verwestlichungsdiskurs:

Die reformistischen Gedanken des Imams

ebneten den Weg für die nächsten Gene-

rationen, die liberalistische Tendenzen

gezeigt haben. Der renommierteste Ver-

treter dieser Strömung war Ahmed Lutfi El

Sayed(1872–1963). Er erfasste in der eu-

ropäischen Zivilisation ihre nationale Art.

Und formulierte deshalb seine politische

P ilosop ie unter dem Leitspru : „Ägyp-

ten ür die Ägypter“. Ein Satz der gegen

die vom Sultan Abdulhamid aufgerufene

Solidarität unter den Muslimen (gegen das

Kalifat) und gegen die englische Okkupati-

on wirken sollte. Er war der Meinung, dass

Ägypten schon lange vor dem Islam eine

unabhängige Nation bildete und positio-

nierte daher den Islam in der Identitätsbil-

dung nicht im Vorrang. Er sagte in einer

Rede:

„Die ö entli e Meinung kann eine starke

Wirkkraft haben, nur wenn sie auf Solida-

rität zwischen allen Bürgern und auf den

völligen Bedarf nach dieser Solidarität ba-

siert. Getrieben vom Gefühl der Nationali-

tät und dem gemeinschaftlichen Nutzen

und nicht von anderen Faktoren wie die

der Religion oder der Rasse.“12

Andernorts: „I zwei le ni t daran dass

der religiöse Glaube ein Grund für das Zu-

gehörigkeitsgefühl und die Solidarität zwi-

schen den Individuen ist. Aber ich lehne

entscheidend ab, dass er als Basis für poli-

11

Morched o. A., 57. 12

Lutfi El Sayed 1908.

43 | S e i t e

tische Aktionen gelten darf. Da diese auf

die Nutzen basieren und nicht auf den

religiösen Glauben. Denn ansonsten wä-

ren die Engländer und die Deutschen eine

Nation gewesen.“13

Seine Forderungen nach den europäischen

Grundsätzen der Zivilisation: Nach der

Freiheit, der Gleichheit, der Verfassung

oder dem Gesellschaftsvertrag und der

objektiven positivistischen Weltanschau-

ung stellten eine Abkehr von den vermit-

telnden Bemühungen seines Lehrers Mo-

hammad Abdoh dar und waren eine muti-

ge Hinwendung zu Europa und der Mo-

derne.

In diesem Kontext der Suche nach der kul-

turellen Identität Ägyptens lassen sich die

Ideen des Pharaonismus (Taoufiq Al Ha-

kim), und des Mediterranismus (Taha Hus-

sein) einordnen. Der Mediterranismus von

Taha Hussein z. B. war ein Versuch, sich

von der fesselnden Wirkung der sunniti-

schen Vernunft (As-Salafija) zu befreien

(zugunsten des griechischen Rationalis-

mus) und zugleich gegen die Termini wie

Orient, Okzident gerichtet.

In diesem Zusammenhang schreibt er in

seiner Charta über die kulturelle Identität

Ägyptens: „Sollte der ägyptische Logos von

etwas geprägt worden sein, dann vom

Mittelmeer. Sollte er Güteraustausch ver-

schiedener Art geführt haben, dann mit

den Völkern am Mittelmeer.“14

Der Wunsch vom Khediv Ismail (1830–

1895) aus Ägypten ein Stück Europa zu

13

Lutfi El Sayed 1908. 14

Hussein 1938.

machen, wird von den Liberalen aufgefan-

gen und im politischen Programm verkör-

pert. Das europäische Modell sollte als

Beispiel in der Politik, Erziehung und der

Kultur dienen. So schreibt Taha Hussein:

„Wir müssen den Europäern na ei ern

um ihnen ebenbürtige Partner in der Zivili-

sation werden zu können.“15

c. Der technokratische Diskurs:

Die liberalistischen Forderungen dieser

Generation krönten sich mit der Revoluti-

on von 1919 und ihren wichtigen Errun-

genschaften (die Abschaffung des briti-

schen Protektorats; Die erste Verfassung

Ägyptens 1923). Doch die Verbundenheit

reaktionärer Kräfte, vertreten im König-

tum und Feudalherrscher, mit dem Kolo-

nialismus hinderten die politischen Be-

strebungen der Liberalen und führten in

die politische Szene einen neuen Diskurs

ein: Der technokratische Diskurs.

Seinerseits sieht der Technokrat die Kluft

zwischen Europa und der arabischen Welt

nur in der Technologie. So wendet sich

Salama Moussa Im Jahre 1930 in der gro-

ßen Aula der Universität Kairo an die Stu-

denten mit der Frage:

„Der Orient und der Okzident. Ist das eine

geographische Wahrheit? Nein, eine

ethnologische auch nicht. Und ich glaube

nicht dass mir einer sagen würde, dass der

Unterschied in der Religion liegt. Seit über

25 Jahren ist mir nur eine einzige Wahr-

heit in den Sinn gekommen. Diese ist, dass

der Unterschied zwischen uns und den

15

Hussein 1938, 45.

44 | S e i t e

zivilisierten Europäern die Industrie ist. die

Industrie und nichts Anderes als die In-

dustrie.“16

„Die Zivilisation ist nun die Industrie Und

die Kultur dieser Zivilisation ist die Wis-

senschaft. Während die Kultur der Agrar-

gesellschaft, die Literatur, die Religion und

die P ilosop ie seien.“ Mit diesem Zitat

wird deutlich, dass der Technologie- Uto-

pist völlig die eigene Kultur und Geschich-

te als Kultur der vorindustriellen Gesell-

schaft ablegt und sich der Aneignung der

neuen Technologien zuwendet. Und

zwingt somit dem modernen Araber eine

ihm Völlig fremde kulturelle Identität an.

So formuliert Salama Moussa sein Ziel:

„Die erausbildung eines modernen Ara-

bers, dessen Geschichte nicht tiefer als

500 Jahre in die Geschichte zurückreicht.

Jene Zeit, zu der die Europäer anfingen,

wissenschaftliches Wissen statt vererbtes

Glauben zu bea ten.“17

Ein Modell, das seine Verkörperung im

arabischen Nationalstaat (nach der Unab-

hängigkeit: Nassers Ägypten, Ben Bellas

Algerien, Bourgibas Tunesien usw.) findet.

Und in dem die Kultur dem politischen

Programm der Modernisierung sich unter-

ordnen musste. Entweder in Form einer

transnationalen arabischen Kultur (Pana-

rabismus) oder eines laizistischen Moder-

nismus.

II. Wahrnehmung des Anderen:

16

Zitiert. nach Laaroui 1970, 55. 17

Zitiert nach Abid Al Jabri 1982, 41.

Die Identitätserfahrung wie wir im vorigen

Kapitel sehen konnten war immer von

einem angestrebten Modell vorbestimmt.

Das Modell könnte in der frühen Vergan-

genheit des Islams, in der Philosophie der

Aufklärung oder im technischen Fort-

schritt liegen. Die Alteritätserfahrung war

auch nach diesem Modell determiniert. So

verkörperte alles, was nicht dem er-

wünschten Modell entspricht den Frem-

den/Anderen. So war der Andere für den

salafistischen Diskurs manchmal das eige-

ne Kulturerbe des mu‘atazilis en Den-

kens, ein anderes Mal der europäische

Westen besonders sein Materialismus. Für

den Verwestlichungsdikurs bildete

manchmal das eigene Kulturerbe den

Fremden, den man bekämpfen sollte.

Manchmal der europäische Imperialismus

selbst und immer das osmanische Reich.

Wie Mohammed Abid Al Jabri bemerkt

verschweigen die beiden Diskurse des

Salafismus und des Modernismus eine

wichtige Tatsache: Diese ist, dass das Ver-

schwinden bzw. Vernichten des Anderen,

eine Voraussetzung für den eigenen Ge-

deih ist18.

„Es ist erstaunli wie si der arabis e

Intellektuelle jedes Mal und dauernd fragt:

„Was ne men wir vom eigenen ulturer-

be? Was vom Westen?“ Aber er ragt si

nie: „Wer und was bin i jetzt?“. Wir ra-

gen uns, was wir vom eigenen Kulturerbe

nehmen, als hätten wir bisher nichts ge-

nommen, und was wir vom Westen neh-

men, als wären wir ihm nicht verbunden

und in seiner Zivilisation integriert?.“19

18

Abid Al Jabri 1982, 60. 19

Abid Al Jabri 1982, 61.

45 | S e i t e

Da der moderne arabische Diskurs über

die Identität sich in der Konfrontation mit

dem Kolonialismus befand, wetteiferte er

sich zuerst darin die ihm aufgezwungen

Eigenschaften, sogenannten historischen

Bestimmungen zu widerlegen. So finden

wir zum Beispiel im Vermittlungsdiskurs

des Salafismus, dass die Vorteile des Wes-

tens: Die Arbeit und die Freiheiten nicht

dem Christentum entspringen, der immer

ein Synonym für die Unterdrückung war.

Oder, dass die Dekadenz, Passivität oder

die Demut nicht vom Islam kommen, son-

dern als ihm fremde Elemente zu bezeich-

nen sind. In diesem Bezug schreibt Allal Al

Fassi: „Die universalen Ideen der Freiheit,

an die wir heute glauben, haben ihre Wur-

zeln in der ersten Revolution des Islams;

Der Aberglaube und die Abweichungen

aben sie bede kt.“

So wäre jeder Fortschritt, jede Entwick-

lung ein Fortschreiten in die Richtung zum

wahren Islam. Der Islam würde uns nie an

dem Forts ritt indern“. Der Vermittler

bedient sich bei seiner Auseinanderset-

zung mit dem Westen eines religiösen

Bewusstseins, wenn er seine eigene Ge-

sellschaft kritisiert, aber eines liberalen

Bewusstseins/Diskurses bei der Analyse

und Kritik der westlichen Zivilisation. (So

verurteilt z.B. der Cheikh die Ausbeutung

der Frau im Westen ausgehend von west-

lichen Berichten über Frauenarbeit, wäh-

rend er völlig über den Missbrauch der

Frauenrechte in seiner Gesellschaft

schweigt).

„Dieses Grei en au die zweierlei Maßstä-

be bei der Bewertung des Anderen defi-

niert immer noch die Bewusstseinszustän-

de in jeder Interaktions- und wechselseiti-

gen Durchdringungsphase zwischen dem

Westen und dem Osten.“20

Auch der Westen wendet diese Strategie

an: „Der westli e ürger weiß genau

dass keine Gesellschaft ausschließlich nach

ihrem religiösen Bewusstsein definiert

werden kann. Aber er beschränkt sich

trotzdem in seiner Wahrnehmung des

Arabers ausschließlich auf den Glauben

und die islamischen Rituale.“21

Versagen der einheitlichen Identität:

Aus dem vorhergesagten können wir be-

merken, dass die verschiedenen Denkrich-

tungen vor allem darum bemüht waren

(zumindest auf Diskursebne) eine kollekti-

ve Identität auf religiöser oder nationaler

Basis herzustellen, während die Realität

zunehmende Gruppierungen und Spaltun-

gen kannte. So sind aus der Schule des

Imams Mohammad Abdoh viele Strömun-

gen entstanden, die sich wiederum in an-

dere politische und philosophische Grup-

pierungen spalteten.

Die Diskurse der Vereinheitlichung kultu-

reller Identität scheiterten daran, vor al-

lem vor politischen und wirtschaftlichen

Herausforderungen, denen die arabisch-

islamische Welt nach der Unabhängigkeit

ausgesetzt war, die in der Gesellschaft

innewohnenden wirkenden Differenzen zu

minimieren oder zu neutralisieren. Im Ge-

gensatz dazu blieb die Frage der kulturel-

len Identität eine Streitfrage der politi-

schen Wahlkampagnen und nicht der poli-

tischen Ausübung.

20

Laaroui 1970, 73. 21

Laaroui 1970, 76.

46 | S e i t e

Tatsache, die uns erklärt, warum in der

arabischen kulturellen Identität, anstelle

der Dialektik, ein (dialogisch) totes stati-

sches, adynamisches Aufeinandertreffen

zwischen dem Islam und dem Westen, der

Authentizität und der Moderne fortlebt

und andauert.

Eine Doppelhaftigkeit, die bedeutet die

Errungenschaften der Moderne, abgese-

hen von ihren philosophischen Inhalten,

zu konsumieren22.

III. Abdelkebir Khatibi: Die Alteri-

tät denken:

atibi ängt sein Werk „Double Critique“

mit der Bemerkung an, dass die arabische

Welt als Zivilisation große Umwälzungen

erkannt hat und dass sie eine große Viel-

falt kennt, die sich in allen Formen der

Akkulturation und Assimilierung manifes-

tiert.

„Die arabis e Welt ist also eine Viel alt.

Sie bildet – auf keinen Fall – eine Einheit

oder eine feste harmonische Ganzheit, die

wir in ein einziges System einordnen kön-

nen.“23

Er geht von der realen Vielfalt der arabi-

schen Gesellschaften aus, um der Ideolo-

gie der Einheit, religiösen Ursprungs24, zu

widerlegen. Er schreibt:

„Ne men wir das eispiel vom Araber

und noch genauer bestimmt vom Marok-

kaner, so merken wir, dass er in seinem

Innern seine ganze anteislamische, islami-

22

Choukri 1978, 279. 23

Khatibi 2000, 11. 24

Khatibi 2000, 16

sche, berberische, arabische und westliche

Vergangenheit trägt. Das Wichtigste ist,

dass wir diese vielfältige Identität, welche

diesen Menschen formt, nicht vernachläs-

sigen. Andererseits sollten wir an eine

mögliche Einheit all dieser Elemente den-

ken. Sie sollte aber keine theologische,

metaphysische Einheit sein, damit es je-

dem Element sein Recht auf Andersheit

und dem Ganzen die Bewegungsfreiheit

gewä rt wird.“25

Khatibi unterzieht sowohl die westliche als

auch die arabisch- islamische Zivilisation

einer Kritik, die sich als Ziel setzt, die Ideo-

logie der Einheit und der Totalität zu de-

konstruieren:

„I ru e zu einer doppelten ritik au zu

einer Kritik, die sowohl uns als auch den

Westen zum Objekt hat. Und die zwischen

ihm und uns urteilt. Sie setzt sich als Ziel,

den Begriff der Einheit und der Totalität,

der als Bürde auf unseren Schultern liegt,

zu dekonstruieren. Sie zielt darauf, die

Metaphysik und die zur absoluten Einheit

rufenden Ideologie zu zerstören.“26

Als geschlossene Metaphysik bezeichnet

Khatibi die arabisch- islamische Zivilisati-

on, da sie seiner Ansicht nach unfähig ist,

si als „ein eitli es Denken“ zu erneu-

ern oder zu regenerieren. Ausgenommen

mithilfe eines inneren Aufstandes des auf

Alterität beruhenden Denkens: Ein Den-

ken, das im permanenten Dialog mit den

sich weltweit abspielenden Veränderun-

gen steht.

25

Khatibi 2000, 50. 26

Khatibi 2000, 11.

47 | S e i t e

Darüber hinaus sieht er dass, die westliche

(griechischen Ursprungs und Essenz) und

die islamische Metaphysik unterschiedli-

che Ausdrucksformen derselben Weltan-

schauung sind, die auf drei Prinzipien be-

ruht: Die Prinzipien des Einen, Ganzen und

des Identischen. Er ist der Meinung, dass

die Metap ysik die von der „Erri tung

des Göttlichen in den Herzen von Men-

schen und i ren Geistern“ spri t eine

gewaltige Macht auf uns ausübt. Daher

sind ihre Kritik und ihre Befragung ein Auf-

stand gegen diesen metaphysischen Tod,

der uns unaufhörlich vernichtet und ein-

zäunt.

„Wir können unserem Leben und Tod ge-

wachsen sein, nur indem wir die um die

Metaphysik trauern. Diese Trauer würde

uns dazu motivieren, die Frage der unter-

drückten Gewohnheiten anders zu stel-

len.“27

Die Trauer um die Metaphysik ist die

Trauer um die Idee der Vergangenheit:

Das Kulturerbe unserer Vorfahren als

Quelle für die Erneuerung und Wiederge-

burt:

„Das ulturerbe (das Gedä tnis die Erde

die Sprache) beleuchtet den Menschen

nur in dem Maße, dass dieser seinen Tod

unter den Verstorbenen verdient.“28

Zur Überholung der Vergangenheit fordert

Khatibi eine neue Interpretation des Kul-

turerbes. Sowie die Dekonstruktion seiner

totalitären Einheit und die Aufdeckung

und Betonung seiner unterdrückten Rän-

der und Außenseiter. Er bezeichnet als

27

Khatibi 2000. 28

Khatibi 2000, 13.

„gewaltsame Di erenz“ jenes Identitäts-

verständnis, das den Anderen in eine ab-

solute Externe schleudert. Dieses Ver-

ständnis vergisst, dass der Andere –

vertreten im Westen – in uns wohnt und

für uns eine Herausforderung darstellt, die

wir verantwortungsbewusst (ohne Ableh-

nung oder Abhängigkeit) wahrnehmen

müssen.

Die islamische Metaphysik behauptet, so

Khatibi, sie sei immer pur gewesen, aber

sie hat seiner Meinung nach in sich immer

i re „Ränder“ oder i re „Außenseiter“

enthalten, die ihre vermeintliche Einheit

und Ihre pure Identität belästigten. Die

Kopten, die Kurden, die Berber waren die

Außenseite und der Rand aller Ränder war

au „die Frau“. Darüber inaus er u r die

arabische islamische Nation die Auflösung

in Völker, Sekten, und Sozialklassen usw.

Kahtibi sieht keinen Ausweg aus dem Ge-

fängnis der Vergangenheit und des kultu-

rellen Erbe nur in dem Zuhören, Aushor-

chen auf die Stimmen, welche diese ver-

meintliche Einheit belästigen und stören.

Und au im Er inden des „Unwa ren

(Verwandelten) Fremden und Entstellten“

und das kann nur die Kunst und das Alteri-

tätsdenken. Nur so wird die Alterität der

Araber ihr Dasein und nicht ihre vermeint-

liche Identität.

Er schenkt deswegen in seinem literari-

schen und philosophischen Werk der Idee

der Differenz eine besondere prioritäre

Aufmerksamkeit: Die Differenz, die ständig

präsent und vor allem resistent war, in

drei Fachbereichen der arabisch islami-

schen Kultur: Im Sufismus, im Körper (Tä-

48 | S e i t e

towierungen, Kalligraphie usw.) und im

mündlichen Kulturerbe.

„Das Zu ören au die unbewussten stellen

die Ausdrücke des Imaginären und die

Erzeugnisse der Volkskultur und auf die

spontanen Ausdrucksformen, die sich der

Strenge der Vernunft nicht anpassen und

ständig am Rande des herrschenden kultu-

rellen Diskurses waren.“29

Die Moderne ist bei Khatibi keine Konfron-

tation zwischen Orient und Okzident. Sie

ist vielmehr eine Konfrontation zwischen

Gesellschaften, die folgende Mängel auf-

weisen:

- Eine schwache Zivilgesellschaft

- Diktatorische politische Systeme

- Unzureichende Kenntnis im Be-

reich der modernen Wissenschaf-

ten und neuen Technologien

- Die ungeheure Macht der Meta-

physik, die jede Unterscheidung

zwischen dem Staat und der Religi-

on verhindert

- Das beeinträchtigte Bild, das die

arabische Welt von sich hat

All das in Konfrontation nicht mit der Mo-

derne, sondern mit dieser drolligen Mi-

schung zwischen der Metaphysik und der

Wissenschaft, die der Westen uns vermit-

telt hat. Diese Mischung nennt Khatibi

„die neue Tradition“.

Diese neue Tradition besteht, seiner Mei-

nung nach, aus: Entdeckungen, Erfindun-

gen und Werten (bildeten sicher die Basis

29

Afaya 1988, 10.

einer starken technologischen Zivilisation),

die uns unaufhörlich erobern und unsere

Beziehung zur eigenen Kultur und unseren

Gewohnheiten ständig umbauen, indem

sie unsere Sitten aussortieren und sie in

Vergessenheit drängen30.

Aus dem Vorhergesagten schließen wir

dass es eine Konfrontation innerhalb der

Metap ysik gibt zwis en einer „alten

Tradition“ (das ultuerbe) und einer „neu-

en“ die si als (Moderne) bezei net.

Denn die echte Moderne liegt in der Zu-

kunft und nicht in der Vergangenheit.

In dieser insi t betri t die „Double

Critique“ sowo l die Traditionalisten als

auch die Modernisten. Und ist eine Über-

holung des manichäischen Zwiespalts zwi-

schen der Tradition und der Moderne, weil

diese Trennung nicht die Komplexität un-

seres Daseins berücksichtigt.

„Modernisten und islamistische Tenden-

zen ernähren und unterstützen sich ge-

genseitig: Die Eine hält die Andere zu-

glei ür eindli und verbündet“.

Es ist daher realistisch die Hybridität zwi-

schen der alten und der neuen Tradition

zu bemerken um endlich mit den Einbil-

dungen des „Ursprungs“ (Sala ismus) und

der „endgültige ru mit der Vergangen-

eit“ (Modernismus) de initiv zu bre-

chen31.

IV. Schlussfolgerung:

30

Khatibi 2002, 106. 31

Al Chaikh o. A., 72.

49 | S e i t e

Das philosophische Projekt von Abdelkebir

Khatibi erlangt in den aktuellen Entwick-

lungen in den arabischen Ländern seine

Bedeutung, da es der realen ständig zu-

nehmenden Vielfalt der arabisch islami-

schen Welt entgegenkommt, und somit

der Alterität und der hybriden Identität

Platz im modernen arabischen poltischen

Diskurs einräumt. Denn so Moncef Al

Marzouki:

„Die Gesells a ten bestehen seit lange

aus Schichten, Sozialklassen und unter-

schiedlichen Interessen und Meinungen.

Aber da dieses Phänomen der Pluralität

wegen Der Bildung und der gesellschaftli-

chen Entwicklungen ständig zunimmt,

kann offenbar keine religiöse oder ideolo-

gische Partei, einheitlicher Natur, solche

Gesellschaften führen, außer durch Ver-

nachlässigung dieser Pluralität, ihre Un-

terdrückung durch Gewalt und ihre ver-

eerenden Folgen.“32

Außerdem überwindet Khatibis philoso-

phisches Projekt vor allem diesen ideologi-

schen Zwiespalt zwischen der Tradition

und der Moderne. Und somit auch die

Gegensätzlichkeit zwischen Europa und

der arabischen Welt. Dagegen plädiert er

2001 für einen Euromediterranen Raum

und einen polyzentrischen Universalismus:

„Géopolitiquement dans le voisinage ara-

bo- européen, naitra peut être de la nou-

velle méditerranée cet espace, ou, en uto-

pie, chaque partenaire apporterait sa part

d’ umanité et de ivilisation. En ore au-

dra-t- il le bâtir sur des lois d’ ospitalité

qui devront au de là de l’utilitarisme se

32

Al Mazouki.

frayer un chemin vers un universalisme

polycentrique. »33

Als „pro essioneller Fremder“ d. jemand

der aus den Fragen der übergangsorte und

der Resistenz zwischen den Zivilisationen

eine Aufgabe der alltäglichen Arbeit in

seiner Heimat und in der Fremde macht,

ragt si atibi: „Pourquoi nous ne

devrions pas être omme n’importe quel

umain les ôtes du utur?“34.

Literatur

M. Abdoh, Rissalat At-tawhid (Beirut

1976).

M. Abid Al Jabri, Der zeitgenössische ara-

bische Diskurs (Beirut 1982).

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al Outhqa (Beirut 1970).

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Moderne (o. A.).

A. Al Jundi, Ach-chrak fi fajr al jakada (o.

A.).

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Abdelkebir atibi: l’universalisme et l’invention du futur (considérations sur le monde arabe) In : les ivilisations dans le regard de l’autre. A tes du colloque international Paris 2001. UNESCO 2002 S.180 34

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50 | S e i t e

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Pensée Arabe Moderne – Étude Critique

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Nasser (Beirut 1978).

T. Hussein, Mostakbal al-thakafa fi Misr =

L'Avenir de la Culture en Égypte (Kairo

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critique (Rabat 2000).

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2002).

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Ideologie (Beirut 1970).

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1908 (zitiert in: Ri ’at As-Sai’id Al A ram

19.September 2009).

M. Morched: Auf der Suche nach den the-

oretischen Grundsätzen des Denkens von

Abdoh und Al Afghani (o. A.).

51 | S e i t e

Kristine Wolf: Grenzregime und ge-

genhegemoniale Mobilitätsprozesse

im euro-mediterranen Raum –

Wirkmächtigkeiten selbstorganisier-

ter Migrant/innen in Rabat

Einleitende Überlegungen aus der Perspek-

tive einer reflexiven postkolonialen Migrati-

onsforschung

Eine kritische Beschäftigung mit facheigenen

Paradigmen, entlarvt die in vielen Untersu-

chungen noch häufig zugrunde gelegte Kon-

struktion des mediterranen Raums als (neo-

)koloniales und hegemoniales Verhältnis. Es

ist das Bild einer einheitlichen, das vermeint-

li e „Zentrum“ von der „Perip erie“ klar

voneinander trennenden Pufferzone und

zeugt von einer dominanten eurozentrischen

(Macht-)Vorstellung wel e die „ remden

Anderen“ systematisiert ordnet und kontrol-

liert.

Auch das EU-Grenzregime im euro-

mediterranen Raum – polemisch gar als

„neues System der Apart eid“ de iniert1 –

kann als (vor-)herrschendes Ordnungssystem

identifiziert werden; als ein System, das mit

seinem ambivalenten Interesse, Migrations-

bewegungen zu kontrollieren, zu steuern, zu

erzwingen oder zu verhindern sucht, einen

neokolonialen Konsens herstellt und damit

europäisch-imperiale Muster kolonialer Herr-

schaft fortsetzt.

Mobilitäten stehen hier für ein hegemoniales

Feld, in dem unterschiedliche Mobilitätsord-

nungen und Grenzregime herrschen und in-

einander verwoben sind. „Migration“ wird

darin ein politisch-rechtlicher Sonderstatus

1 Balibar 2006.

zugeschrieben, der seit der Entstehung west-

licher Nationalstaaten sowie ihrer Einbettung

in die Mechanismen europäischer Koloniali-

sierung kontinuierlich Grenzen und Aus-

schlüsse produziert, insbesondere im Sinne

einer naturalisierten Unterscheidung von

Subjekt im Verhältnis zu Staat und Gesell-

schaft. Im Gegensatz dazu werden andere

Formen der beruflichen, touristischen, öko-

nomischen oder medialen Mobilität als Privi-

leg und zunehmend auch als Pflicht der vor-

gebli sess a ten „Ein eimis en“ des Nati-

onalstaats propagiert. Migration demaskiert

hier die scheinbare Grenzenlosigkeit von

„Mobilität“ als (neoliberale) errs a tsideo-

logie2.

Die These des Gegenhegemonialen, mit der

ich mich auf das Gramsci'sche Hegemonie-

Konzept und seine spätere Erweiterung und

Aktualisierung durch Laclau/Mouffe3 beziehe,

scheint mir ein geeignetes Analyseinstru-

ment, um Bündnisse, Praktiken und Imagina-

tionen herauszustellen, die sich den etablier-

ten Machtverhältnissen widersetzen.

In der aktuellen Phase meiner Forschung fo-

kussiere ich die Selbstorganisation von Mig-

2 ojadžijev – Römhild 2011.

3 Laclau und Mouffe zeichnen in ihrem Werk die Ge-

nealogie des Begriffs der Hegemonie nach: von frühen Anfängen in der russischen Sozialdemokratie bis Gramsci und reformulierten dessen Ansatz diskurs-theorietisch. Die Frage der Demokratie stellt sich für sie insofern neu, da jene gegenhegemoniale Anstren-gung, die aus der Artikulation und damit Verknüpfung unterschiedlicher emanzipatorischer Subjektpositio-nen zumindest potentiell erwachsen konnte, einen radikal demokratischen Charakter besitzen sollte (Marchart 2007, 104). Angesichts einer zunehmenden autoritären und radikal neoliberalen Entdemokratisierung ging und geht es dabei um den Aufbau einer demokratischen Gegenhegemonie, das heißt, einer gegenhegemonialen Strategie der Demo-kratisierung der Demokratie.

52 | S e i t e

rant/innen als Teil der Auseinandersetzung

um Anerkennung ihrer fundamentalen Rech-

te auf dem umkämpften Feld politischer

Macht. Ich versuche hegemoniale Dynamiken

und gegenhegemoniale Bewegungen, Prakti-

ken, Bündnisse und Imaginationen aufzuzei-

gen, ihr Verhältnis zu analysieren und eine

Kartographie der verschiedenen am

Auseinandersetzungsprozess teilhabenden

Akteur/innen zu erstellen. Es geht dabei um

die Reaktionen, die in der Zivilgesellschaft

sowie auf institutioneller und staatlicher

Ebene durch selbstorganisierte Praxen ausge-

löst werden: situativ geknüpfte Bündnisse,

Kollaborationen und Aufbau von Solidaritäts-

netzwerken.

Es ist zu untersuchen wie wirksam die in ei-

nem transnationalisierten und transkulturel-

len Kommunikations- und Aktionsraum ent-

wickelten Praktiken und Diskurse dazu bei-

tragen, die Hegemonie jenes neoliberalen

repressiven Migrationsdiskurses in Frage zu

stellen, zu demontieren oder zu unterwan-

dern, wie er von den marokkanischen Behör-

den rigoros insbesondere gegen vermeintlich

irreguläre Migrant/innen aus dem globalen

Süden und Osten und deren selbstorganisier-

te Akteur/innen durchgesetzt wird - legiti-

miert durch einen politischen Diskurs der

Stigmatisierung und getragen von rassisti-

schen Diffamierungskampagnen der Tages-

presse.

Migrations- und Grenzregime im euromedi-

terranen „borderland“4

4 Gloria E.Anzaldúa und Stefanie Kron konzeptualisie-

ren „borderland“ als Zone des Transits des permanen-ten Übergangs und der kulturellen Übersetzung.

Seit 2003 wurde das von den EU-Staaten de-

finierte Migrations- und Grenzkontrollsystem

mittels EU-europäischer Partner- und Nach-

barschaftspolitik bis über die südliche

Schengengrenze in den Maghreb vorverla-

gert. Diese Strategie der Externalisierung ging

einher mit der schrittweisen Delegation sub-

stantieller Teile EU-europäischer Migrations-

politik an das bis heute autokratisch regierte

Königreich Marokko. Die im Gegenzug aufge-

setzten politisch-ökonomischen Programme

banden das Land fest in den neu etablierten

hegemonialen Herrschaftsraum des EU-

Grenzregimes ein. Marokko ist heute einer

der kooperativsten Partner im EU-

Grenzmanagement und dem „ amp gegen

illegale Migration“.

Dieser in den Grenzregionen EU-Europas ab-

laufende Herstellungsprozess von Räumen

hierarchisch differenzierter Rechte und

Souveränitäten blieb nicht unberührt von

den Dynamiken des „arabis en Frü lings“

den seit Beginn 2011 anhaltenden sozialen

und politischen Protesten und Umbrüchen im

Maghreb und Mashrek sowie von den damit

einhergehenden migrantischen Mobilitäten

und Flüchtlingsströmen in der Mittelmeerre-

gion. Durch intensive Mediatisierung der

grenzüberschreitenden Bewegungen in Rich-

tung Europa rückten diese erneut ins öffent-

lich-politische Zentrum der EU-europäischen

Aufmerksamkeit. Der Umgang mit Europas

inneren und äußeren Grenzen wird seitdem

auf der EU-politischen Agenda generell hin-

terfragt und politisch kontrovers verhandelt.

Die Umsetzung neuer, auf sicherheitspoliti-

sche Kooperation mit den nordafrikanischen

Eliten setzende Konzepte, wie EUROSUR und

das „Smart oders“-Modell, sind in Vorberei-

tung.

53 | S e i t e

Insbesondere seit den tragischen Ereignissen

an den Grenzzäunen der spanischen Exklaven

Ceuta und Melilla im Jahr 2005 begreifen die

marokkanischen Autoritäten globale Mobili-

tätsbewegungen auf eigenem Territoium als

sicherheitspolitisches Problem. Sie ignorieren

die sozial- und rechtspolitische migrantische

Realität und ergreifen, trotz starker Kritik

vonseiten marokkanischer und internationa-

ler NGOs o ensive Maßna men gegen „un-

liebsame“ Einwander/innen: willkürli e Raz-

zien „ra ial pro iling“ massive Festna men

und Abschiebungen an die algerische und

mauretanische Grenze sind alltäglich.

Ohne Konzepte für eine bewusste Asyl-, und

Integrationspolitik zu erarbeiten, betrachtet

der marokkanische Staat jegliche Zuwande-

rung als zeitlich begrenzt5. Mediale Öffent-

lichkeit und politischer Diskurs kolportieren

zudem das ild des „Transmigranten“ der

auf seinem Weg nach Europa lediglich tem-

porär in Marokko weilt bzw. von Mig-

rant/innen, die das Territorium betreten, um

sich irregulär niederzulassen. Damit wird die

eigentliche Dynamik ausgeblendet: seit Mitte

der 1990er Jahre entwickelte sich Marokko

vom typischen Auswanderungs- zum Transit-

land und seit den 2000er Jahren zunehmend

auch zum Zielland für migrantische

Mobilitäten aus dem globalen Süden und

Osten6.

Akteur/innen der organisierten Einwande-

rungsgesellschaft in Rabat

Zahlreiche Akteur/innen in Rabat sind Teil

der Implementierung des EU-gesponserten

Migrationsmanagement-Programms: inter- 5 De Haas 2009.

6 Peraldi u. a. 2011.

und transnational tätige als auch kleinere

national NGOs und Vereine nutzen die von

der EU für migrationsspezifische (sozio-

kulturelle, Recherche-)Projekte bereitgestell-

ten Fördergelder.

Die einschlägigen großen internationalen

Organisationen, wie das Hohe Flüchtlings-

kommissariat der Vereinten Nationen

(UNHCR) oder die Internationale Organisati-

on für Migration (IOM) präsentieren sich als

Dienstleister ihrer Mitgliedsstaaten und Koo-

perationsforen im Migrationsbereich.

Insbesondere die IOM beteiligt sich unter

den Etiketten „Multilateralismus“ und „Nord-

Süd- ooperation“ maßgebli an der Aus-

formung von Standardkonzeptionen der EU-

Migrationspolitik7. Im ambivalenten Pro-

gramm der „ reiwilligen Rü kke r“ wird dem

Wunsch der Migrant/innen auf Rückkehr ins

Heimatland nachgekommen, ohne die aktuel-

le soziale und Situation von Migrant/innen in

Marokko als Grund für diesen Schritt zu hin-

terfragen oder die spezifische Lage im Rück-

kehr-Land ausreichend zu prüfen. Insbeson-

dere jene Personen die si tägli „dur h-

s lagen“ müssen und wegen e lender i-

nanzieller Ressourcen längerfristig keine

stabile Lebensperspektive in Marokko auf-

bauen können und/oder daher auch die

Hoffnung auf eine Überfahrt nach Europa

zunächst aufgeben, lassen sich auf die lange

Liste der „ reiwilligen Rü kke rer“ setzen. Die

Nachfrage in Marokko steigt und kann mo-

mentan aufgrund des ungenügenden Bud-

gets nicht befriedigt werden. Wie der Par-

cours einiger meiner Protagonist/innen zeigt,

stellt das Programm der IOM, das neben dem

Flugticket auch eine finanzielle Anschubhilfe

7 Caillault 2012.

54 | S e i t e

für die Neuorientierung im Heimatland von

rund 500€ vorsie t einen gern genutzten

Service für die Realisierung ihrer weiteren

Pläne dar, inklusive einer u.U. neuerlichen

Rückkehr nach Marokko. Damit werden in

dieser taktischen Kollaboration die eigentli-

chen Ziele der IOM und der Geldgebenden

Staaten, nämlich die Fernhaltung und Entfer-

nung missliebiger Migrant/innen vom Terrain

der auftraggebenden Mitgliedsstaaten, un-

terwandert und in ihrem Sinne sinnstiftend

umgedeutet.

Na der dramatis en „Erstürmung“ der

Grenzzäune von Ceuta und Melilla im Jahr

2005 begannen die in Marokko, speziell in

Rabat lebenden frankophonen Migrant/innen

aus den Ländern West- und Zentralafrikas

sich zu organisieren – und zwar erstmals in

einer Form, die die bis dahin existierenden

und nach nationalen Zugehörigkeiten geord-

neten Gemeinschaften übergreift. Das signa-

lisierte die Absicht, offene und unabhängig

von vermeintlichen Trennungslinien nach

Herkunft, Sprache oder Gemeinschaft funkti-

onierende Organisationen zu bilden, die alle

Migrant/innengruppen, insbesondere auch

anglophone Subsahara-Afrikaner sowie jene

in Rabat lebenden Migrant/innen aus dem

globalen Osten (Bangladesch, Pakistan, Indi-

en, Philippinen, Syrien, Libanon u.a.) anspre-

chen und einbeziehen wollen.8

Parallel dazu etablierte sich seit 2006 im ad-

ministrativen und politischen Zentrum Ma-

rokkos ein engmaschiges Unterstützungsmili-

eu bestehend Organisationen, Vereinen, Kol-

8 Nichtsdestotrotz scheint es trotz dieser Bemühungen

nicht nur schwierig zu bleiben, anglophone und fran-kophone Migrant/innengruppen zusammenzubringen, sondern auch insbesondere bei der Eskalation inter Konflikte den Rekurs auf eben jene Differenzierungen zu vermeiden.

lektiven und Initiativen, das bis heute stark

angewachsen und vergleichsweise vielfältig,

gut vernetzt ist, insbesondere im Gesund-

heitsbereich eine gut funktionierende Platt-

form bildet, die organisierte Migrant/innen

als Partner/innen einbezieht. Die selbstorga-

nisierten Strukturen von Migrant/innen er-

reichen derzeit einen relativ hohen Institu-

tionalisierungsgrad. Sie kooperieren und ver-

netzen sich rege mit jenen lokalen überregi-

onal, trans- und international tätigen Organi-

sationen bzw. integrieren sich in die Struktu-

ren offiziell legitimierter Akteure:

Die älteste der selbstorganisierten

migrantis en Strukturen der „Conseil des

Migrants Subsa ariens au Maro “ (CMSM

seit eginn 2012: „Conseil des Migrants au

Maro “ Rat der Migrant/innen) gründete

sich 2005. Weitere Zusammenschlüsse von

inzwischen nicht mehr aktiven oder aus Ab-

spaltungen vom CMSM hervorgegangene

Gruppen wie das „Colle ti des

Communautés Subsahariennes au Maro “

(CCSM) folgten. Im Juni 2012 gründete sich

die im von starker Armut geprägten Arbei-

ter/innen- und Migrant/innenviertel

Takadoum („Forts ritt“) se r aktive

„Asso iation Lumière sur l'Emigration

Clandestine au Maro “ (ALECMA) sowie –

unter großer medialer Aufmerksamkeit – die

„Organisation démo ratique des travailleurs

immigrés – Maro “ (ODT-I), die erste Ge-

werkschaft für Arbeitsmigrant/innen als Sek-

tion der regierungskritischen Gewerkschaft

ODT, einer von mehreren kleineren Rich-

tungs-Gewerkschaftsdachverbänden in Ma-

rokko. Die Konstituierung dieses bisher in

einem arabischen Land bzw. in Afrika einzig-

artigen Zusammens luss‘ ür sogenannte

Arbeitsmigrant/innen war keine völlig unab-

hängige Aktion, sondern Initiative der ODT-

55 | S e i t e

Zentrale in Aushandlung mit dem CMSM. Ist

sie auch Teil einer Strategie der Mitglieder-

anwerbung vonseiten der ODT9, so kann die-

ses taktis e ündnis zwis en „Ein eimi-

s en“ und den vermeintli migrantis en

„Anderen“ als situative gegen egemoniale

Praxis und wegweisender Indikator für eine

sich aktiv formierende marokkanische Ein-

wanderungsgesellschaft gelesen werden.

Migrantische Selbstorganisation zwischen

emanzipatorischer Bewegung und profes-

sionalisiertem Aktivismus als (Überlebens-

)Strategie

Sowohl die Aktivitäten der Mig-

rant/innenorganisationen als auch der ODT-I

- welche damit den üblichen gewerkschaftli-

chen Aktionsradios weit überschreitet – zie-

len generell auf die Themen Legalisie-

rung/Bleiberecht, Integration und alltägliches

Zusammenleben, Diskriminierung und Mar-

ginalisierung. Sie denunzieren rassistische

Übergriffe und die Straflosigkeit von Tätern,

fordern den Respekt von Menschenrechten

und in der marokkanischen Gesetzgebung

und ratifizierten internationalen Konventio-

nen verbrieften Rechten für sog. Auslän-

der/innen inklusive Beschulung und Zugang

zum staatlichen Gesundheitssystem. ODT-I

reklamiert dabei grundsätzlich die Umset-

zung der von der UNO 1990 verabschiedeten

„Internationalen onvention zum S utz der

Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer

Familienangehörigen“.10

9 Die Sektion besteht mittlerweile marokkoweit aus ca.

350 Mitgliedern, neben mehrheitlich West- und Zent-ralafrikaner/innen auch einige Philippiner/innen, Syrer und Türken. 10

Sie wurde bereits 1993 von Marokko ratifiziert, trat 2003 in Kraft und lenkt die internationale Aufmerk-

Diese konkreten politischen Forderungen

werden punktuell durch aktive Teilnahme an

soziopolitischen Foren (Maghrebinisches So-

zialforum, Weltsozialforen) und in öffentli-

chen Protestaktionen wie Sitzblockaden vor

Polizeistationen, Gerichtsgebäuden und Bot-

schaften, Straßendemonstrationen zusam-

men mit dem Unterstützermilieu und ODT-

Gewerkschaftsmitgliedern an den Staat ge-

richtet. Außerdem gibt es Kooperationen für

Rechercheprojekte und gemeinsame Publika-

tionen zur Situation von Migrant/innen.

Daneben beschränkt sich das zentrale Tätig-

keitsfeld der selbstorganisierten Gruppen

momentan hauptsächlich auf die Konzeption

und Planung konkreter „integrativer“ sozialer

und kultureller Projekte. Da sie über kein

eigenes Budget verfügen, können diese aus-

schließlich in Zusammenarbeit und über Fi-

nanzierung durch die einschlägigen NGOs

und damit EU-Fördergeldern durchgeführt

werden. Da zahlreiche NGOs ihre Subventio-

nen für Projekte im Bereich Migration in Ma-

rokko momentan deutlich reduzieren, konn-

ten 2012 nur wenige der ursprünglich geplan-

ten Projekte tatsächlich realisiert werden.

Der derzeitig rigide Fokus der Mig-

rant/innengruppen auf diese Art der

kollaborativen und subventionierten Projekt-

arbeit schränkt aufgrund der Abhängigkeit

von Hilfsgeldern deren Wirkungsgrad und

Aktionsradius stark ein. Über die kollektive

Herausforderung hinaus nutzen einige

migrantische Aktivist/innen die verantwortli-

chen Tätigkeitsbereiche der Selbstorganisati-

on als individuelle Taktik der „Vollzeit-Selbst-

es ä tigung“ zur Stabilisierung der eigenen

samkeit auf die Verletzlichkeit und Kriminalisierung, der Migrant/innen aufgrund ihres prekären juridischen Status ausgesetzt sind.

56 | S e i t e

Situation. Ihr Einkommen besteht in der

Schaffung sozialen und symbolischen Kapitals

über soziale Anerkennung, Prestige, exklusive

Kontakte und Informationen und somit ein

(Praxis-)Wissen der Vernetzung.

Darüber hinaus ist die Versuchung groß, die

ursprünglichen Ziele migrantischen Aktivis-

mus' zu pervertieren, da der privilegierte

Zugriff auf finanzielle Ressourcen miss-

braucht werden kann als lukrative Nebenein-

kün te und ür „Ges ä te“ die das eigene

Überleben und Vorankommen sichern und

Zukunftspläne voranzutreiben helfen.

Konklusionen

Insgesamt ergeben die hier nur knapp ange-

rissenen Dynamiken wertvolle Hinweise auf

ein ambivalentes Bild der sich formierenden

Einwanderungsgesellschaft in Marokko. Es

zeugt von der zunehmend wahrgenommenen

Präsenz organisierter migrantischer Kämpfe,

ihren situativen Bündnissen, individuellen

Manövern und kollektiven Taktiken als ge-

genhegemoniale Dynamik zum etablierten

Migrationsregime.

Werden die Migrant/innenorganisationen

vom marokkanischen Staat bisher – mit Aus-

nahme der ODT-I – nicht als rechtsgültige

Strukturen anerkannt, so ist ihre Visibilität

und Präsenz als soziale und kollektive Ak-

teur/innen im öffentlichen Raum unleugbar

und ihre Rolle als Sprachrohr migrantischer

Bürger/innen in den Massen- und neuen so-

zialen Medien ein soziales Faktum. Es bleibt

abzuwarten, inwieweit sich die aktuelle Kons-

tellation ür eine um assende „ ewegung“

und bewussten kollektiven Protest (Bayat

2012: 128 f.) erweitert z.B. über solidarische

Kooperationen mit den Akteur/innen anderer

empanzipatorischer sozialen Bewegungen,

wie dem “20 Février“. Wie e izient sie si in

weiteren Aushandlungen mit hegemonialen

Machtverhältnissen auf den Feldern der me-

dialen Repräsentation, der Bür-

ger/innenrechte und der politischen Macht

behaupten kann, wird sich in der Zukunft

zeigen.

Literatur

G. Anzaldúa, The Border/La Frontera. The

New Mestiza (San Francisco 1987).

E. Balibar, Der Schauplatz der Anderen

(Hamburg 2006).

A. Bayat, Leben als Politik. Wie ganz normale

Leute den Nahen Osten verändern (Berlin

2012).

M. ojadžijev – R. Römhild, persönliche Noti-

zen zum Vortrag „ ritik der Migrantologie“

vom 28.11.2011, im Rahmen der Ringvorle-

sung „Wer MAC T Demo_kratie“ am Institut

für Sozialwissenschaften der HU Berlin, orga-

nisiert von Allmende e.V und Netzwerk MiRA

(Berlin 2011).

C. Caillault, The Implementation of Coherent

Migration Management Through IOM Pro-

grams in Morocco, In: M. Geiger – A. Pécoud

(Hrsg.), The New Politics of International Mo-

bility. Migration Management and its Discon-

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H. De Haas, Länderprofil Marokko. In:

BpB/Netzwerk Migration in Europa/ HWWI,

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57 | S e i t e

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migration.hwwi.de/Marokko.5987.0.html>.

S. Kron, Intersektionalität oder borderland als

Methode? Zur Analyse politischer

Subjektivitäten in Grenzräumen, in: S. Hess –

N. Langreiter – E. Timm (Hrsg.),

Intersektionalität Revisited, (Bielefeld 2011)

197–220.

E. Laclau – C. Mouffe, Hegemonie und radika-

le Demokratie. Zur Dekonstruktion des Mar-

xismus. (Wien 1991).

O. Marchart, Eine demokratische Gegenhe-

gemonie. Zur neo-gramscianischen Demokra-

tietheorie bei Laclau und Mouffe, in: A. Fi-

scher-Lescano – S. Buckel (Hrsg.), Hegemonie

gepanzert mit Zwang. Zivilgesellschaft und

Politik im Staatsverständnis von Antonio

Gramsci (Baden-Baden 2007) 104–119.

M. Peraldi u. a., D'une Afrique à l'autre (Ra-

bat 2011).

58 | S e i t e

Urs Brachthäuser: Erinnerung – Ord-

nung der Vergangenheit, ordnende

Vergangenheit?

Erinnerung ist ein selektiver Prozess, in dem

eine Masse vergangenen Geschehens und

vergangener Erfahrung gefiltert, Wissen ge-

ordnet wird. Erinnerung an Vergangenes be-

deutet dessen Vergegenwärtigung durch die

oder den Erinnernden. Sie gibt Orientierung

in der Gegenwart, aber auch für die Gestal-

tung der Zukunft.

Die Erinnerung an die Vergangenheit ist da-

bei den jeweiligen gegenwärtigen Bedürfnis-

sen unterworfen. Das Bild, das zu jeder Zeit

von der Vergangenheit entworfen wird, ist

eine Form der Ordnung. Durch die Vermitt-

lung der jeweiligen Gegenwart entfaltet Ver-

gangenheit Wirkung in der Zukunft, sei es zur

Legitimierung bestimmten Handelns oder

Denkens, der Festlegung normativen Verhal-

tens oder der Prägung des Erwartungshori-

zonts der Zeitgenossen. In der Erinnerung

verbinden sich so Vergangenheit, Gegenwart

und Zukunft.

Wie lässt sich Erinnerung als Konzept auf das

Mittelmeer als Forschungsgegenstand an-

wenden? In der Einleitung seines weniger

bekannten Buchs über die Frühgeschichte

und antike Geschichte des Mittelmeers, das

den Titel „Les Mémoires de la Méditerranée“

trägt, erhebt Braudel das Mittelmeer selbst

zum Zeugen seiner Vergangenheit: „Es [Anm.:

das Mittelmeer] gibt den Erfahrungen der

Vergangenheit kontinuierlich ihren Platz,

kontextualisiert sie, haucht ihnen wieder Le-

ben ein und stellt sie unter einen Himmel, in

eine Landschaft, die wir mit eigenen Augen

sehen können, genauso wie die Menschen

von einst.“1 Das Mittelmeer erscheint hier als

eine historische und gleichzeitig zeitlose

Landschaft, die das Handeln der Menschen

durch die Jahrhunderte über sich ergehen

lässt, zugleich als Beobachterin der longue

durée und als Konstante im Wandel mensch-

licher Erfahrungen auftritt. Braudel ist als

Historiker der Chronist dieser Erinnerungen

des Meeres, Verfasser seiner Memoiren, er-

scheint so dort als neutrales Medium der

Erinnerungen seines Betrachtungsgegen-

standes wo er eigentlich Produzent von Erin-

nerung, Akteur des Gedächtnisses ist.

Auch in jüngerer Zeit wurde sich dem Mit-

telmeer aus der Perspektive der Erinnerung

angenä ert. 2010 versu te das ‚Centre or

Mediterranean Studies‘ der Universität

Zag reb so mit dem „Mediterranean Memo-

ry Proje t“ eine rü ke zwis en Vergangen-

heit und Zukunft zu schlagen. Durch die Erin-

nerung an die einstige Vernetztheit, Verbun-

denheit und Verflochtenheit der Menschen

am Mittelmeer sollte mediterrane Gemein-

schaft, Gemeinsamkeit und Identität neu

belebt werden. Ausgangspunkt hierfür war

die Geschichte Dubrovniks und die seiner

frühneuzeitlichen Konsulate im gesamten

Mittelmeerraum. Diese Verflechtung war

bzw. ist für die Initiatoren Ausdruck mediter-

raner Gemeinschaft und Einheit sowie Basis

einer gemeinsamen Identität. Die wissen-

schaftliche Beleuchtung dieser Verflechtun-

gen ging mit Treffen der Bürgermeister der

verschiedenen Städte einher, die sich über

die Möglichkeiten von Netzwerkbildung und

neuen Kooperationen austauschten.

1 „[…] elle resitue patiemment les expérien es du

passé, leur redonne les prémices de la vie, les place sous un ciel, dans un paysage que nous pouvons voir de nos propres yeux analogues à eux de jadis.“ – Braudel 1998, 21

59 | S e i t e

Dem Aspekt der Erinnerung in Großregionen

widmete sich 2006 auch eine Konferenz des

Nordeuropa-Instituts der Humboldt-

Universität und des Leipziger GWZO (Geis-

teswissenschaftliches Zentrum Geschichte

und Kultur Ostmitteleuropas). Im Mittelpunkt

des Interesses standen hier transnationale

Erinnerungsorte und Erinnerungslandschaf-

ten als Ergebnis postnationaler Erinnerungs-

kulturen.

Die Beiträge des Panels näherten sich dem

Gegenstand aus ganz unterschiedlichen Per-

spektiven. Andrea Spans untersuchte in ih-

rem Vortrag mit Jerusalem einen religions-

übergreifenden Erinnerungsort. Sie ging da-

bei anhand eines alttestamentlichen Textes

der Frage nach, inwiefern nach einer Phase

des Chaos der Rekurs auf alttestamentliche

Traditionen und die Erinnerung an vergange-

ne Ordnungen für die Restauration bzw. den

Neuentwurf von Ordnungsstrukturen heran-

gezogen wurde. Der Beitrag von Christiane

Schwab widmete sich der kollektiven Erinne-

rung und Identität des spanischen Sevilla.

Hier stand die Frage nach städtischer Erinne-

rungsgemeinschaft, Identität und Orientie-

rung sowie die Selektion von Erinnerung im

Fokus. Merryl Rebello nahm schließlich den

römischen Stadtgründungsmythos, seine In-

strumentalisierung zur Traditions- und Identi-

tätsbildung und seine zeitspezifische Umfor-

mung in den Blick.

Literatur

Fernand Braudel, Les Mémoires de la Médi-

terranée (Paris 1998).

60 | S e i t e

Merryl Rebello: Ordnung schaffen

mit Romulus: Cicero räumt auf.

Romulus ist eine der wenigen großen Helden

der Römer, der kein Kulturimport aus dem

reichen Angebot griechischer Götter und He-

roen ist, sondern dessen Geschichte un-

trennbar mit den Anfängen Roms verbunden

ist. Die Gründungssage als ein Meilenstein

des römischen quest for identity ermöglicht

den Römern eine kulturelle Abgrenzung von

den griechischen Übervätern, aber auch von

den italischen Nachbarvölkern.

Neben der kanonisch gewordenen Form des

Mythos, die wie z.B. beim Geschichtsschrei-

ber Livius (ca. 59 v. – 17 n.Chr.) greifen kön-

nen, gibt es innerhalb der

lateinischsprachigen Literatur aber auch eine

Vielzahl von abweichenden Versionen. Wich-

tige Referenzpunkte dieser über 700 Jahre

umfassenden motivgeschichtlichen Entwick-

lung liegen bei den Autoren Naevius, Ennius,

Varro, Cicero, Livius, Vergil, Properz, Ovid

und schließlich beim Kirchenvater Augusti-

nus. Angesichts dieser Vielzahl von Stimmen

zu Romulus aus den unterschiedlichsten Epo-

chen ist es kaum verwunderlich, dass mit-

nichten immer wieder dieselbe Konfiguration

des Mythos nacherzählt wird, sondern jeder

Autor seine jeweils eigenen Schwerpunkte

setzt.

Mit fortschreitender Zeit aber scheinen sich

die Kernbestandteile der Erzählung zu ver-

mehren – ein Befund, der sich nicht allein

durch eine bessere Überlieferung erklären

lässt. Poucet nennt dies das Phänomen der

Romulisation: Es handele sich hierbei um

eine Tendenz, dem Stadtgründer sukzessive

immer mehr kulturelle und

zivilisatorische Pionierleistugen zuzuschrei-

ben, von denen ursprünglich noch nicht die

Rede war.1 Pausch konstatiert Ähnliches und

spri t von Romulus als einem „Aitien-

Magnet“2. Beides setzt voraus, dass Romulus

im Rahmen einer retrospektiven Um- und

Neuordnung von Ereignissen eine tragende

Rolle zukommt.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung des

Romulus-Mythos halten wir bei einer Mo-

mentaufnahme Mitte des 1. Jh. v. Chr. inne

und zeichnen am Beispiel von Ciceros Schrift

De re publica seine Ordnung der Ereignisse

um Romulus nach. Dabei soll einerseits klarer

hervortreten, welche Aspekte Cicero beson-

ders betont und welche er demgegenüber zu

kaschieren sucht, andererseits soll auch auf

mögliche Gründe für dieses Vorgehen ver-

wiesen werden.

Laut eigener Aussage vollzieht Cicero in die-

sem literarischen Dialog bei der Schilderung

der mythistorischen Frühzeit Roms eine Be-

wegung a fabulis ad facta3. Im Zuge einer

rationalisierenden Umarbeitung der traditio-

nellen Version versucht er, Unglaubwürdiges

von Plausiblem zu trennen. Für die Betreiber

dieser Mythenrationalisierung4 ist es durch-

1Poucet 1985.

2Paus 2008. Aition (gr. αἴτιον) bedeutet „Ursprung;

Ursa e“; Aitiologie ist olgli der Versu P äno-

mene der Gegenwart (Gegenstände, Rituale etc.) aus

der Vergangenheit heraus zu erklären, häufig unter

Zuhilfename von Etymologien. Beispiel: Warum führen

die Römer noch zu Ciceros Zeiten vor wichtigen politi-

schen Entscheidungen eine Vogelschau durch? – Weil

einst dem Romulus durch ein Vogelzeichen kundgetan

wurde, dass er die Stadt Rom gründen solle. 3„Von Ges i ten zu Tatsa en“ s. Ci . rep. 2.4.

4Dieses Vorgehen ist eine Art Mode unter den republi-

kanischen Historikern. Der genaue Verlauf dieser Ent-

wicklung kann jedoch aufgrund der nur fragmentarisch

überlieferten Texte nicht nachgezeichnet werden.

61 | S e i t e

aus gängige Praxis, die göttliche Abstammung

solcher Heroenfiguren wie Romulus zu leug-

nen und auch ihre Vergöttlichung nach dem

Tod als Erfindung (und nicht als Tatsache) zu

präsentieren. Wie kommt es aber, dass Cice-

ro Romulus nicht einfach gänzlich verwirft,

sondern ihn unter teils erheblichem Anpas-

sungsaufwand für seine Argumentation nutz-

bar macht?

Ein Ziel der Schrift de re publica ist laut Cice-

ros eigener Aussage, jungen Männern den

Weg in die Politik zu weisen und den Staat so

mit fähigen Nachwuchskräften zu stärken.5

Der Dialog selbst spielt im Jahre 129 v.Chr.

und liegt damit aus der Perspektive Ciceros

über 70 Jahre in der Vergangenheit.6 Die auf-

tretenden Personen formieren sich als ge-

lehrte Gruppe um den Staatsmann Scipio

Africanus. Anders als beim Referenztext je-

doch, der Politeia Platons, ist der beste Staat

in ihren Diskussionen kein utopisches Kon-

zept, sondern war in der römischen Königs-

zeit, die mit Romulus beginnt, bereits einmal

verwirklicht.

Wie wichtig dabei der Rückbezug auf und die

Erinnerung an die Vergangenheit für ein rö-

misches Lesepublikum sind, erkennen wir an

der komplex ausgestalteten Erzählsituation.

Es finden sich insgesamt vier Erählinstanzen,

die sukzessive weiter in die Vergangenheit

zurückgreifen, wobei die Grenze zwischen

Autor und Werk in der Person Ciceros über-

sprungen wird, der einerseits Verfasser von,

dann aber auch Sprecher in seinem eigenen

Werk ist. Das gesamte Gespräch will er in

Frühe Vertreter einer Historiographie mit mythenkriti-

schen Tendenzen sind z.B. Gnaeus Gellius und Licinius

Macer. 5Cic. rep. 1.2 u. 1.8.

6De re publica ist zwischen 54 u. 51. v.Chr. entstanden.

seiner Jugend von einem Freund namens

Rutilius Rufus erzählt bekommen haben.7

Rufus erinnert sich an das zurück, was der

alte Scipio an diesem Tag erzählte, dieser

wiederum verwies damals auf den zeitlich

noch weiter zurückliegenden Cato. Feldherr

bringt die Situation folgendermaßen auf den

Punkt "Cicero remembers Rutilius Rufus,

remembering Scipio, remembering Cato,

remembering Romulus".8 Damit steht Romu-

lus am Ende einer rückwärts gewandten

Erinnerungsreihe, wobei das Dazwischen-

schalten so vieler Instanzen den Wert des

Erzählten durchaus zu steigern vermag.9

Eine ähnliche Rückwärtsbewegung ist auch in

Cic. rep. 1.25 zu beobachten. Scipio nimmt

eine angeblich in Rom gesichtete Doppelson-

ne zum Anlass, um darauf hinzuweisen, dass

eine Rückberechnung aller Sonnenfinsternis-

se bis zu derjenigen bei Romulus' Tod mög-

lich sei. Man kann also, so wird suggeriert,

mit wissenschaftlichen Methoden – denn als

eine solche wurde die Rückberechnung in der

Antike gewertet – bis in die Zeit des Romulus

zurückdringen. Er erscheint somit als Figur

greifbarer; insgesamt wird der Abstand der

Jetztzeit zur Frühzeit als überwindbar präsen-

tiert.10

7Cic. rep. 1.17.

8Feldherr 2003, 206.

9Voraussetzung dafür ist, dass wie hier wichtige Auto-

ritäten namentlich genannt werden. Möchte Cicero

ausdrücken, dass (nach dem Prinzip Stille Post) die

ursprüngliche Botschaft durch wiederholtes Weiterer-

zählen verloren gegangen sein könnte, greift er auf

unpersönliche Formulierungen wie dicitur, putatur,

perhibetur o.ä. („Man sagt dass...“) zurü k. 10

Cicero/Scipio ist viel daran gelegen, Romulus vom

Staub der Jahrhunderte zu befreien und ihn als Bei-

spiel von aktueller Relevanz in neuem Glanz erstrahlen

zu lassen vgl. dazu die kritis e Re lexion im „Met o-

denkapitel“: Ci . rep. 1.58.

62 | S e i t e

An anderer Stelle (rep. 2.4f) erzählt Cicero die

Romulus-Geschichte in einer eigenen, an die

Werkintention angepassten Version. Dabei

beseitigt er Volksmärchenhaftes, betont hin-

gegen politisch relevante Aspekte ganz be-

sonders. Gegenüber der kanonischen Version

fallen gravierende Abweichungen auf: Cicero

lässt den Streit der Zwillinge um die Mauer

und den daraus resultierenden Brudermord

völlig unerwähnt und die Wölfin, eigentlich

ein zentraler Bestandteil der Erzählung mit

emblematischem Charakter, wird in einem

Akt der Verfremdung zu einem "wilden Wald-

tier" (silvestris belua) reduziert. Kaum heran-

gewachsen, befehligt Romulus Truppen und

erwirbt im Kampf um die Stadt Alba Longa

Kriegsruhm.11 Der später von christlichen

Autoren so verurteilte Raub der Sabinerinnen

findet zwar noch Erwähnung, wird aber kei-

neswegs als Akt der Gewalt dargestellt, son-

dern als probates Mittel, um das noch junge

Gemeinwesen mit Bürgern zu bevölkern.12

Die Göttlichkeit des Romulus ist für Cicero als

Rationalisten problematisch, deshalb wird die

Apotheose als eine Erfindung der Vorfahren

präsentiert – eine Erfindung allerdings, die

insofern ihre Berechtigung hat, als sie dem

Wunsch der Menschen entsprang, die großen

Staatsmänner für ihre herausragenden Leis-

tungen wie Götter zu verehren. Im weiteren

Verlauf der Geschichte betont Cicero, dass

Romulus der Urheber zentraler römischer

Institutionen wie des Klientelwesens, eines

auf Besitz basierenden Strafrechts (rep. 2.15)

sowie des Senats und der Auspizien war (rep.

11

An dieser Stelle weicht die bisher einfache Sprache

der Erzählung einem stärker militärisch konnotierten

Vokabular. 12

Der Zweck (ad firmandam novam civitatem bzw. ad

muniendas opes regni ac populi sui, Cic. rep. 2.12)

heiligt hier die Mittel.

2.17). Diese kulturell-zivilisatorischen Errun-

genschaften werden dazu benutzt, um den

Glauben an seine Göttlichkeit zu erklären. Ein

ursprünglich religiöses Konzept, die Vergöttli-

chung, wird also entsprechend der Werkin-

tention durch eine leistungsbasierte Apothe-

ose ersetzt.

Was bleibt mit Blick auf diese kleine Auswahl

an Romulus-Bildern festzuhalten? In De re

publica zelebriert Cicero den Romulus als

zentrale Figur der römischen Erinnerungskul-

tur, befreit ihn dabei aber von seiner mythi-

schen Aura und unterfüttert die allseits be-

kannte Geschichte stattdessen mit Details

von politischer Relevanz. Problematisches

(Romulus' Status als Halbgott) wird rationali-

sierend umgearbeitet; lediglich der Argumen-

tation Entgegenstehendes (z.B. der Bruder-

mord) fällt ganz weg.13

Warum aber wählt Cicero den Romulus, um

die Vergangenheit zu ordnen? Zum einen

liegt mit ihm, wie eingangs bereits erwähnt,

eine genuin römische Identifikationsfigur vor.

Aeneas, dem der augusteische Dichter Vergil

eine Generation später in der Aeneis ein un-

vergessliches Denkmal setzen wird, stellt auf

den ersten Blick eine gewisse Konkurrenz zu

Romulus dar.14 Für Cicero jedoch hat Aeneas'

Name einen bitterem Beigeschmack, da die-

ser bereits von der Familie der Julier als

Stammvater beansprucht wurde, u.a. also

von Caesar, in Ciceros Augen also einem der

größten Feinde der Republik, dessen politi-

sches Agieren bereits früh auf eine Allein-

herrschaft abzielte. Vor diesem Hintergrund

13

In Werken mit anderem Grundtenor (z.B. der Spät-

schrift De officiis) nimmt Cicero in Sachen Fratrizid

durchaus kein Blatt vor den Mund (off. 3.41). 14

Beide fallen in die Kategorie der culture heroes.

63 | S e i t e

ist es Cicero kaum möglich, in Aeneas ein

Vorbild zu sehen.

Zweitens eignet sich Romulus auch deshalb

besser für eine sinnstiftende Vergangenheits-

rekonstruktion, wie Cicero sie hier vornimmt,

weil er (im Gegensatz zum aus Troja zuge-

wanderten Aeneas) gewissermaßen römi-

sches Urgestein ist. Eine Rückbesinnung auf

die eigenen Wurzeln muss also, wenn man in

Rom verharren möchte, notwendigerweise

bei Romulus enden. Wann immer Cicero die

römische Frühzeit behandelt, beginnt sie

immer bei Romulus, nie aber bei Aeneas.

Drittens, und damit sei dem hier besproche-

nen Beispiel sein Platz innerhalb des Panels

„Erinnerung – Ordnung der Vergangenheit,

ordnende Vergangen eit“ zugewiesen ist

Romulus nicht zuletzt auch das erste Glied in

der Reihe der sieben mythistorischen Könige

Roms, und Königsreihen eignen sich nun

einmal besonders gut, um die Vergangenheit

ordnend zu überblicken. Dadurch aber, dass

es sich bei der frührömischen Monarchie um

ein leistungsbasiertes Wahlkönigtum handelt,

bei dem Blutsverwandtschaft keine Rolle

spielt, sind Romulus und Co. mit republikani-

schen Grundsätzen, wie Cicero sie verkör-

pert, bestens zu vereinbaren.

Literatur

K. Büchner, Marcus Tullius Cicero. Der Staat

(München 1993).

S. Cole, Cicero, Ennius and the Concept of

Apotheosis in Rome, Arethusa 39, 2006, 531–

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in: J. G. F. Powell (Hrsg.), Cicero's Republic

(London 2001) 41–56.

A. Feldherr, Cicero and the Invention of

'Literary' History, in: U. Eigler u.a. (Hrsg.),

Formen römischer Geschichtsschreibung von

den Anfängen bis Livius. Gattungen – Auto-

ren – Kontexte (Darmstadt 2003) 196–212.

D. Pausch, Der aitiologische Romulus. Histori-

sches Interesse und literarische Form in Li-

vius' Darstellung der Königszeit, Hermes 136,

2008, 38–60.

J. Poucet, Les Origines de Rome. Tradition et

Histoire (Brüssel 1985).

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the Antiquarian, The Journal of Roman Stud-

ies 62, 1972, 33–45.

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Begründung der Republik im Mythos, in: F.

Graf (Hrsg.), Mythos in mythenloser Gesell-

schaft. Das Paradima Roms (Stuttgart 1993)

88–108.

S. Walt, Der Historiker Licinius Macer. Einlei-

tung, Fragmente, Kommentar (Stuttgart

1997).

J. E. G. Zetzel, Cicero, De re publica:

Selections (Cambridge 1995).

64 | S e i t e

Christiane Schwab: Kumulative Ord-

nungen: Zeit, Raum und Identitäts-

konstruktionen in Sevilla

Städte sind zeitlich sedimentierte Kulturräu-

me. Hier treffen Dimensionen des Individuel-

len und des Kollektiven, des Lokalen und des

Translokalen sowie des Historischen und des

Zukünftigen zusammen und bilden einen

spezifischen Rahmen menschlicher Wirklich-

keitserfahrung. In Anlehnung an neuere Dis-

kussionen in Stadtanthropologie, Humangeo-

graphie und Stadtsoziologie1 habe ich in mei-

ner Dissertation Sevilla als ein Sinngefüge

untersucht, das die Ebenen der physisch-

materialen Umwelt, der Symbolisierungs-

und Thematisierungsformen des Alltags, der

körperlich-räumlichen Routinen sowie die

der zeichenhaften Verdichtungen über die

Stadt selbst umfasst. Alle diese Elemente

ergeben eine distinkte kulturelle Textur mit

ineinander verwobenen Elementen, die sich

unter spezifischen historischen Bedingungen

gerade hier abgelagert hat und ihre Wirkung

zeigt.

Um diese „kumulative Textur der Stadt“2 in

ihrer longue-durée zu sondieren und zu in-

terpretieren, habe ich mittels unterschied-

lichster Methoden einen Quellenkorpus er-

stellt, der historische und zeitgenössische

Dokumente beinhaltet und der im Sinne der

flexiblen Herangehensweise der Grounded

Theory und mittels diskurstheoretischer An-

sätze, welche die Mechanismen der Produk-

tion von Bedeutung erschließen, analysiert

und interpretiert wurde. Beobachtungspro-

tokolle, Filme, Interviewtranskripte, Ge-

1 vgl. zum Forschungsstand etwa Lee 1997; Lindner

1993; Löw 2008; Suttles 1984; Taylor u. a. 1996. 2 vgl. Suttles 1984.

schichtsbücher, autobiographische Quellen,

Literatur, Plakate oder die Namen von Res-

taurants und Kindergärten und viele weitere

Quellen verweisen als Aussagefragmente auf

generative kulturräumliche Muster, welche

sich weitaus langsamer wandeln, als ökono-

mische oder soziokulturelle Transformati-

onsprozesse glauben machen wollen.

Die künstlichen Trennlinien, die ich in die

Texturen Sevillas geschlagen habe, beleuch-

ten die Stadt aus verschiedenen Perspekti-

ven. Als eine erste Orientierungslinie kam die

zeitliche Dimension zum Tragen. Analog zur

Textur einer Stadt ist auch ihr Gedächtnis ein

heterogenes, aber verknüpftes Gewebe, das

von bestimmten Diskursgemeinschaften und

thematischen Strängen dominiert wird. Die

kollektiven Erinnerungen dienen in erster

Linie gegenwärtigen Bedürfnissen nach Ori-

entierung und Selbstinszenierung und geben

in dieser Eigenschaft weniger Auskunft über

vergangene Ereignisse als über lokale Selbst-

bilder und Traumata sowie über Verortungs-

weisen der Stadt in ihrem translokalen Be-

zugssystem. Für Sevilla ist seine „myt is e“

Zeit das 16. und das 17. Jahrhundert, als es

den alleinigen Ausgangspunkt der Kolonisie-

rung des amerikanischen Kontinents bildete.

Insbesondere von den wirtschaftlichen und

politis en Eliten wird das „amerikanis e“

und „unterne meris e“ Sevilla beständig

und in verschiedenen medialen Kontexten

repräsentiert, um die Stadt als dynamisch

und kosmopolitisch zu positionieren. Über

eine weitaus höhere alltagsweltliche Rele-

vanz als das imperiale Sevilla der Renaissance

verfügen allerdings die Kunst und die Ästhe-

tik des Barock, was sich insbesondere der

künstlerischen Blüte verdankt, die Sevilla im

17. Jahrhundert im Zusammenspiel mit der

Gegenreformation erlebte. Einige der belieb-

65 | S e i t e

testen Christus- und Marienfiguren der Stadt,

die bis heute zentrale Objekte der lokalen

Identifikation darstellen, entstanden in dieser

Zeit, und als die Semana Santa (Karwoche) im

19. Jahrhundert unter touristischen und iden-

titätspolitischen Vorzeichen neu auflebte,

wurde der Neobarock zur stilprägenden Aus-

drucksform für die Marien- und Christusfigu-

ren sowie für den Schmuck und die prächti-

gen Gewänder der Büßerinnen und Büßer.

Ein weiterer Aspekt der zeitlichen Orientie-

rungen Sevillas ist seine Funktion als „Gene-

rationenort“ (Aleida Assmann). Die soziale

Verankerung der Bruderschaften in der Be-

völkerung, die starken lokalen Identifikatio-

nen und eine relativ hohe räumliche Stabilität

der erweiterten Familie tragen dazu bei, dass

sich die Geschichte der Familie und die eige-

ne Biographie mit den Charakteristika der

Stadt, ihren materialen Strukturen und ihren

Zuschreibungen verbinden. In dieser Eigen-

schaft wird Sevilla überwiegend als ein sedi-

mentierter Kulturraum wahrgenommen, des-

sen historischer Sinn festgelegt ist und der

sich jenen Zukunftsvisionen verweigert, wel-

che die heimatlichen Strukturen zu verän-

dern bedrohen. Diese Implikationen histori-

scher Sinnbildung widersprechen hegemonia-

len An orderungen von „Mobilität“ und „Fle-

xibilität“ in einem immer kompetitiveren na-

tionalen und internationalen Raum der Städ-

te.

Auch in einer zweiten Perspektive, die Sevilla

als ein sozialräumliches Gefüge betrachtet,

werden seine Charakteristika als ein Genera-

tionenort relevant. Der maurisch-

mittelalterliche Kern, der noch in der ersten

Hälfte des 20. Jahrhunderts nahezu den ge-

samten Stadtraum umfasste, zeichnet sich

aufgrund seiner stofflichen Verfasstheit

durch eine hohe Kontaktdichte sowie durch

regenerative Formen der Aneignung aus. Dies

führt dazu, dass die Stadt als ein soziales und

mit Sinn aufgeladenes Feld erlebt wird. Die

spezifischen Verdichtungsformen werden

durch die Institutionen der Bars und der Bru-

derschaften, deren Institutionalisierung auf

dem territorial gebundenen Zunftsystem be-

ruht, auch in jene Stadtviertel getragen, die

im 20. Jahrhundert im Rahmen der periphe-

ren Expansion Sevillas entstanden waren.

Bedingt durch die sozialräumlichen Nut-

zungsweisen, die häufigen persönlichen Kon-

takte im öffentlichen Raum und eine geringe

interurbane Mobilität zeichnet sich die Stadt

durch eine dichte lokale Symbolik aus, die für

einen Großteil der Bevölkerung einen we-

sentlichen Bestandteil des lebensweltlichen

Bezugsrahmens bildet. Die symbolische Aus-

drucksstärke der lokalen Bezüge, ihre

identitäre Wirkkraft und ihre kohäsiven Funk-

tionen werden in erster Linie am Beispiel des

Wissens- und Symbolkomplexes der Bruder-

schaften und der Semana Santa dargestellt.

Die hohe emotionale Ortsbezogenheit, die

durch den symbolischen Reichtum der Stadt

sowie die biographische Stabilität räumlicher

und familialer Bindungen begünstigt wird,

tritt angesichts spätmoderner Überschnei-

dungen verstärkt hervor. In diesem Kontext

wird Sevilla im Gegensatz zu den „Ni tor-

ten“ Nordspaniens Europas oder Nordame-

rikas als eine „ umane“ und „warme“ Stadt

begriffen.

Eine dritte Linie der Interpretation bezieht

sich auf soziale und mental-evaluative Ord-

nungen. Die Feria de Abril (ein sevillanisches

Volksfest, das sich aus einer Landwirt-

schaftsmesse des 19. Jahrhunderts entwi-

ckelte) verweist dabei als eine Verdichtung

66 | S e i t e

zentraler Repräsentationen der Stadt auf

lokale Strukturen und Befindlichkeiten, die

ihre Wurzeln in einer agrarischen Wirt-

schafts- und Sozialordnung haben. Die Funk-

tionen eines agrarischen Handelszentrums

und eines Wohnortes für die Familien des

Großgrundbesitzes, welche Sevilla bis ins 20.

Jahrhundert kennzeichneten, haben zu einer

Ausprägung von spezifischen Distinktions-

formen, Statussymbolen und Räumen der

Repräsentation geführt, wie auch bestimmte

Interpretationen der Stadt von den hegemo-

nialen Diskursgemeinschaften etabliert wur-

den. Insbesondere die Institutionen des alten

Adels und der Bruderschaften, die Überliefe-

rungen der Feria, der Pilgerfahrt nach Rocío

und der Semana Santa sowie das Fehlen al-

ternativer Leitbilder tragen dazu bei, dass

diese Ordnungen bis heute in der Stadt tra-

diert und popularisiert werden. Die konserva-

tive Tönung dieser Muster sowie der soziale

und wirtschaftliche Eigenweg der Stadt gene-

rieren im Rahmen interstädtischer und inter-

nationaler wirtschaftlicher Kontexte nicht

selten ein Gefühl der Unterlegenheit, das mit

essentialistischen Konturierungen eines posi-

tiven Selbstbildes kompensiert wird.

Der letzte Teil der Arbeit widmet sich den

sevillanis en „Myt en“ und i ren soziokul-

turellen Bedingungen der Entstehung und

der Überlieferung. Nahezu alle gegenwärti-

gen lokalen Bilder und Narrative wurden in

der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mo-

delliert, als sich mit der Entstehung einer

agrarischen Bourgeoisie, die nach neuen kul-

turellen Leitbildern suchte, sowie durch den

Kontakt mit den romantisch inspirierten Rei-

senden aus Mittel- und Nordeuropa ein spe-

zifischer Kontext städtischer Selbstbeobach-

tung ergab. In diesem Zusammenhang wur-

den die romantis en Myt en der „volkstüm-

li en“ „ländli en“ „kat olis en“ und

„ursprüngli en“ Stadt entwor en die si im

Rahmen diverser Kontexte beständig verdich-

teten. Dies gilt auch für die Zeit der franquis-

tis en Diktatur als die ilder des „volkstüm-

li en“ und „kat olis en“ Sevillas zum nati-

onalen Mythos gesteigert wurden. Die Kul-

turalisierung der Stadt verstärkte sich wei-

terhin angesichts ihrer Transformation in

eine Dienstleistungsgesellschaft, in welcher

die wirtschaftliche Dominanz des Tourismus

eine kaum zu überschätzende Rolle spielt,

und durch die Ernennung Sevillas zur Haupt-

stadt der autonomen Region Andalusien, was

zu einer Festigung der ideologischen Funkti-

on der Stadt führte.

Betrachten wir Sevilla als einen kodierten

Raum, in welchem historische Konstellatio-

nen ihre Wirkung entfalten, zeigen sich die

andauernde Dominanz agrarischer Funktio-

nen und die überwiegend regionale Ausrich-

tung Sevillas als Handelszentrum für sein Um-

land und als Wohnsitz des Großgrundbesitzes

als besonders wirkungsreiche Faktoren. Auf-

grund seiner Eigenschaften als identitär auf-

geladener Generationenort und angesichts

seiner überwiegend bewahrenden

Arenafärbung werden hier die Reibungen

zwis en „lokalen“ und „translokalen“ Struk-

turen, wie sie seit der Öffnung des Landes

1975 in ganz Spanien bemerkbar sind, auf

eine weitaus spannungsreichere Weise spür-

bar als an anderen Orten, etwa in traditionell

offeneren Hafenstädten oder im kulturellen

Zentrum Madrid, das immer auch einen Brü-

ckenkopf nach Europa bildete. Zwar wurden

seit dem Beitritt in die Europäische Union die

gewaltigen sozioökonomischen Unterschiede

innerhalb der sevillanischen und der andalu-

sischen Bevölkerung wesentlich nivelliert; der

wirtschaftliche Wandel und der Einfluss in-

67 | S e i t e

ternationaler Bilderwelten bewirkten aber

keinen Verlust lokaler Deutungsweisen.

Vielmehr bilden spätmoderne

Gleichzeitigkeiten einen besonders wirkungs-

vollen Kontext der gegenwärtigen Selbstkul-

turalisierung. Auch neue Formen des Wett-

bewerbs zwischen Städten fördern die Insze-

nierung lokaler Eigenarten als wirkmächtige

Narrative, die immer auch den Raum der

Stadt symbolisch aufladen und seine Nutzung

bestimmen. Auch wenn derlei Inszenierun-

gen nicht vereinfachend mit dem Leben, wie

es sich in der Stadt vollzieht, in eins zu setzen

sind, zeigt sich deutlich dass sie auch die lo-

kalen Identifikationen der Bevölkerung be-

stimmen, wenngleich diese weitaus differen-

zierter und intimer verlaufen, als die simplifi-

zierten Bilder glauben machen möchten. So

zeigen sich die historisch sedimentierten Tex-

turen Sevillas nach wie vor als formative Kräf-

te lokaler Strukturierungen und territorialer

Identitäten, und sie werden auch in der Zu-

kunft bestimmen, wie die Stadt und ihre Be-

völkerung sich im Rahmen nationalstaatli-

cher, europäischer und globaler Herausforde-

rungen verorten werden.

Literatur

M. Lee, Relocating Location: Cultural Geog-

raphy, the Specificity of Place and the City

Habitus, in: J. McGuigan (Hrsg.), Cultural

Methodologies (London1997) 126–141.

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für Volkskunde 89, 1993, 169–190.

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Main 2008).

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90,2, 1984, 283–304.

I. Taylor u. a., A Tale of Two Cities: Global

Change, Local Feeling and Everyday Life in

the North of England. A Study in Manchester

and Sheffield (London 1996).

68 | S e i t e

Andrea Spans: Das perserzeitliche

Jerusalem zwischen Wunsch und

Wirklichkeit. - „Raum“ im Medium

„Text“

Einleitung

Die nachfolgenden Ausführungen verstehen

sich als Diskussionsbeitrag zur Frage nach der

ordnungsstiftenden Funktion der Erinnerung.

Sie stellen mit Jes 60,1–16 ein alttestamentli-

ches Textbeispiel in den Mittelpunkt, das

Jerusalem als Zentrum einer friedlichen Uni-

versalordnung in Szene setzt und demnach

ein Ordnungsbild zeichnet, dem Zentralität

als Ordnungsprinzip zugrunde liegt.

Zu Beginn des 5. Jh.s entstanden, enthalten

Jes 60,1–16 eine Ordnung der Vergangenheit,

die in ihrer Zeit eine Veranlassung kennt,

gleichwohl von der Neuordnung wiederum

zeitlich vorausliegender Inhalte lebt. In Auf-

nahme bekannter Vorstellungsgehalte und

früherer Traditionen richten die Literaten die

für sie autoritativen Erinnerungen neu an

ihrer Gegenwart aus und begründen auf die-

se Weise eine Zukunftshoffnung.

Es wird zu zeigen sein, dass dieses Zukunfts-

bild in krassem Gegensatz zu den archäologi-

schen Evidenzen für das perserzeitliche Jeru-

salem steht; das Textbeispiel Jes 60,1–16

leistet also keine wirklichkeitsgetreue Abbil-

dung der Welt hinter dem Text, sondern er-

öffnet gleichsam eine eigene, neue Welt, die

dem Wunschdenken der Verfasser ent-

stammt. Demnach ist nachfolgend ebenso

das Verhältnis zwischen Wunsch und Wirk-

lichkeit zu formulieren.

Vor diesem Hintergrund macht sich die vor-

liegende Untersuchung die raumsoziologi-

sche Grundeinsicht zu eigen, dass der Raum

eine kulturelle Größe sui generis darstellt,

d.h. sich in und durch soziale Prozesse konsti-

tuiert.1 Das hier operationalisierte Raummo-

dell ist nicht mehr das klassische Behälter-

modell, das Raum und Rauminhalt dissoziiert;

der Raum ist nicht mehr die Bühne der in ihm

handelnden Menschen, sondern der Raum

wird dadurch erst geschaffen, dass Menschen

sich bewegen, handeln, symbolische Werte

zuschreiben und durch Bebauung materielle

Werte schaffen.2 Insofern setzt die raumsozi-

ologische Untersuchung beim empirisch Ge-

gebenen ein. Dazu gehört die Beobachtung

beispielsweise des Stadtbildes, der materiel-

len Strukturen (Häuser, Straßen, Freiflächen)

und ihrer Lagen zueinander, aber auch und

gerade die Beobachtung des Menschen bzw.

einzelner Gruppen, die sich in einen sozialen

Zusammenhang einfügen, indem sie sich z.B.

innerhalb räumlich markierter Grenzen be-

wegen, oder aber soziale Strukturen dadurch

aufbrechen, dass sie ebendiese Grenzen

überschreiten und damit nicht selten mit

gesellschaftlichen Konventionen brechen.

Dieser Frageperspektive wird im Folgenden

dahingehend Rechnung getragen, dass mit

den materiellen Hinterlassenschaften zu-

nächst der empirisch erhebbare Befund zum

Jerusalem des 5. Jh.s dargestellt wird. Jes

60,1–16 transportieren demgegenüber da-

durch eine Raumidee, dass in Aufnahme be-

kannter Traditionen Bewegungsabläufe so-

wie Handlungsvollzüge in und um Jerusalem

dem Leser vor Augen geführt und zu einem

Stadtbild mit ganz eigener ideologischer Prä-

1 vgl. Gehlen 1998, 377.

2 vgl. Läpple 1991; Löw 2009.

69 | S e i t e

gung zusammengeführt werden. Folglich sind

nicht die sich empirisch-materialiter darstel-

lende Gestalt Jerusalems und ihre sozialen

Implikationen Gegenstand der Ausführungen;

vielmehr steht mit Jes 60,1–16 ein literarisch

verdichteter Ordnungsversuch im Fokus. Die

Differenz zwischen empirisch zu beschrei-

bender Raumgestalt und theologisch einzu-

holender Raumidee gibt – so die hier vertre-

tene These – einen Diskurs um die Stellung

Jerusalems in persischer Zeit zu erkennen:

Nachdem mit der Zerstörung von Stadt und

Tempel 586 v. Chr. das geschichtliche Chaos

Überhand nahm, stellt sich im 5. Jh. die Frage

nach Übernahme und/oder Neuentwurf be-

stehender Ordnungsmuster.

Stadtbild und Weltbild

Aus den archäologischen Evidenzen ist fol-

gendes Stadtbild zu erschließen3: Obgleich

sich einem Bewohner des perserzeitlichen

Jerusalems die Stadt als bedeutendste Sied-

lung der Provinz Jehud (Juda) – als Zentrum

gegenüber der Peripherie des landwirtschaft-

lich geprägten Hinterlandes – darstellt, ist

von den wenigen materiellen Hinterlassen-

schaften auf ein von Bescheidenheit gekenn-

zeichnetes Stadtbild zu schließen. Mit einem

Zehntel der Siedlungsfläche (5–6 ha), einer

Einwohnerzahl von vielleicht 15004, einem

kaum zu fortifikatorischen Zwecken errichte-

ten „Stadtmäuer en“5 und einem karg aus-

3 Zur nachfolgenden Rekonstruktion vgl. Keel 2007,

953. 4 Dies ist eine vergleichsweise maximalistische Zahl,

anders demgegenüberFinkeklstein 2008 514: „a ew undred people“. 5 Strittig ist in der Forschung, ob sich die durch die

Mauer eingefasste Stadtsiedlung auf den Südosthügel beschränkte oder ob sie sich ebenso auf den Südwest-hügel erstreckte, vgl. Ussishkin 2006, 147.

gestatteten Zweiten Tempel steht das per-

serzeitliche Jerusalem weit hinter Größe und

Rang der Stadt im 8./7. Jh. zurück. So wenig

diese Befunde zum Bild der Stadt einerseits

über die sozialen Prozesse innerhalb und au-

ßer alb des „Stadtmäuer ens“ Auskun t

geben, so aussagekräftig ist dieser Mangel

andererseits: Jerusalem ist offenkundig keine

Stadt von Weltrang!

Ganz anders beurteilen demgegenüber die

Literaten in Jes 60,1–16 die Bedeutung ihrer

Stadt, wenn sie ein Raumkonzept entwerfen,

das gleichsam Weltbildkompetenz bean-

sprucht: Jerusalem ist nicht eine vergleichs-

weise unbedeutende Stadt, sondern der Na-

bel der Welt!

Dieses in universale Dimensionen ausgezo-

gene Stadtbild hat zwei Eckpunkte, Jes 60,1–

3 und Jes 60,13–14. Die Stadt Jerusalem

bleibt im Aussagegang zwar zunächst eine

Unbekannte, denn erst mit der Namensge-

bung in V 14 „Stadt J w s“ und „Zion des

eiligen Israels“ wird i re Identi ikation

nachgeholt.6 Nichtsdestoweniger setzt die

Darstellung in V 1–3 Traditionen und Motive

voraus, die Jerusalem als Gestalt indirekt

erschließen lassen: Das Alte Testament kennt

die personifizierende Redeweise von der

Stadt, der aufgrund ihres grammatischen

Geschlechts weibliche Rollen und Attribute

beigelegt werden können. Vor diesem Hin-

tergrund lassen erstens die femininen Impe-

rativformen aufmerken, die eine Frau als Ad-

ressatin zu erkennen geben; zweitens hat

genau diese Anredeform – also eine Mehr-

zahl femininer Imperative und die Eröffnung

mit „ste au “ – ihre Vorläufer im Jesajabuch,

und zwar in Jes 51,17; 52,2, wo die Adressa-

6 vgl. Polan 2001 66: „delayed identi i ation“.

70 | S e i t e

tin explizit benannt wird: „Ste au Jerusa-

lem!“ und „ste au setz di in Jerusa-

lem!“ Der ges ulte Leser kann ni t anders

denn die neuerli e Au orderung „ste au !“

zu ihren Vorgängern im Buch in Beziehung zu

setzen und auch hier die Gestalt Jerusalem

als Adressatin zu erkennen.7

Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass die

Gestalt ihren ganz eigenen Beitrag zu einem

Raumkonzept leistet, das in V 1–3 begründet

und nachfolgend, ab V 4, entfaltet wird.

Der zentrale Bezugspunkt im Raum ist gemäß

Jes 60,1–3 die personifizierte Stadt, die als

am Boden kauernde Frau vorgestellt wird

und sich zu erheben aufgefordert ist.8 Folg-

lich ist der hier entworfene Raum erstens

durch den Gegensatz oben/unten und damit

in der Vertikalen strukturiert, wobei die kör-

perliche Erfahrung der Gestalt als Referenz

herangezogen wird. Ferner verbindet sich

auch mit der Rede vom Kommen deines Lich-

tes in V 1 eine räumliche Vorstellung, denn

die parallele Wendung „und die errli keit

J w s ist über dir au gegangen“ indiziert ei-

nen Bewegungsablauf in der Vertikalen –

gleichermaßen also wie das Aufstehen der

Gestalt. Schließlich ist dieser vertikalen Aus-

richtung mit dem Motiv eines Völkerzuges

„zu dir“ in V 3 eine orizontale Orientierung

an die Seite gestellt. Durch Bewegung wird

hier eine Distanz im Raum überwunden, die

sich zuvor, in V 2, bereits als Kontrast zwi-

schen dem Licht Zions einerseits und dem

Dunkel der Völkerwelt andererseits vermit-

telte. So wie der Gegensatz oben/unten

strukturiert auch die horizontale Differenzie-

rung zwischen Nähe und Distanz den in Jes

60,1–3 entworfenen Raum. Auf diese Weise

7 vgl. Lau 1994, 26.

8 vgl. Steck 1991 82, Anm. 4; Lau 1994, 25.

werden die unterschiedlichen Bewegungsab-

läufe in ein Koordinatensystem eingepasst,

dessen Nullpunkt mit der Stadt als Gestalt

und ihrer körperlichen Erfahrung gegeben ist.

Dieses Koordinatensystem gewinnt an Tie-

fenschärfe, wenn seine Verstehens-

voraussetzungen in den alttestamentlichen

Traditionen näher untersucht werden. So ist

erstens der motivliche Zusammenhang aus

Licht und Völkerwelt keine Neuheit innerhalb

des Jesajabuches, denn bereits in Jes 42,6;

49,6 bestimmen diese Motive die Funktion

einer Gestalt.9 Dort ist es in der Situation des

Exils der Gottesknecht, dem die Aufgabe zu-

kommt „Li t ür die Völker“ zu sein. Er be-

zeugt das alleinige Gottsein Jhwhs vor aller

Welt, und die Licht werdende Gestalt Jerusa-

lem ist das Ziel einer Bewegung aus der Völ-

kerwelt heraus. Im Jesajabuch wandelt sich

somit die Hinwendung zu den Völkern als

Licht im Exil zur Hinwendung der Völker zum

Licht nach dem Exil.10

Zweitens wird die Vorstellung einer göttli-

chen Präsenz über der Stadt in bekannte

Denkmuster eingekleidet, diese werden in Jes

60,1–3 jedoch zugleich modifiziert. Im Hin-

tergrund stehen Theophanie-darstellungen,

wie sie u.a. in die Tora Eingang gefunden ha-

ben.11 Ohne zu sehr ins Detail gehen zu wol-

len, gewinnen die Eigentümlichkeiten der

Konzeption in Jes 60,1–3 in diesen Denkbah-

nen folgendermaßen an Kontur: Bei aller

Verwiesenheit auf die Theophanietradition

bricht hinsichtlich des räumlichen Bezugssys-

tems die erste Differenz auf. Keiner der Refe-

renztexte verlegt wie Jes 60,1–3 göttliches

9 vgl. paradigmatisch Steck 1991.

10 vgl. Steck 1991, 91.

11 Zu Dtn 33,2 vgl. Langer 1989, 42 f. Zu Lev 9,6.23;

Num 14,10; 20,6 vgl. Langer 1989, 77–79.

71 | S e i t e

Erscheinen auf die vertikale Raumachse, die

in Jes 60,1–2 darstellungsbestimmend ist

(vgl. „über dir“). Das zweite Unters ei-

dungsmoment ist die ästhetisierte Form gött-

lichen Erscheinens – keine Spur von Feuer,

Blitz, Donner oder Beben in Jes 60,1–2! Viel-

mehr lässt das Bild des aufgehenden Lichtes

an einen Sonnenaufgang denken, der den

Tagesanbruch und damit den Beginn einer

grundsätzlich heilvollen Zeit verheißt.12 In Jes

60,1–3 wird dieser positive Erfahrungsbezug

für die Völker an Zion konkret: In ihrem Licht

erkennen sie das Licht Gottes, das auch für

sie den Beginn der Heilszeit markiert. Die

Gottesknecht- und die Theophanietradition

werden damit neu zu der Vorstellung geord-

net, dass Zion als Sehnsuchtsort für die ganze

Welt Gestalt annimmt: Die Gestalt steht als

Heilsmittlerin im Zentrum einer Universal-

ordnung!

Drittens und letztens gründet diese Zent-

rumsideologie im Weltbild der so genannten

Jerusalemer Kulttradition13: Dort berühren

sich Himmel (vertikale Orientierung) und Er-

de (horizontale Orientierung) im Tempel auf

dem Zion. Der Gottkönig Jhwh beherrscht

von seinem himmlischen Thron, dessen

Schemel im Tempel auf dem Zion steht, das

Chaos und garantiert solchermaßen die

Weltordnung. Das in Jes 60,1–3 entworfene

Raumkonzept atmet den Geist dieses Ord-

nungsmusters, ohne jedoch dass von einem

Tempel in Zion als Ort der Vermittlung die

Rede wäre. In diese Funktion rückt vielmehr

die personifizierte Stadt selbst ein, für die das

Zentrum beansprucht wird, wohingegen Völ-

ker und Könige zunächst die dunkle Periphe-

rie besetzen und sie anschließend verlassen.

12

Weippert 1998, 13 mit Verweis auf Ps 19,6; 104,23. 13

vgl. Steck 1991, 89.

Diese Zentralitätskonzeption setzt die Ge-

genüberstellung von Zentrum und Peripherie

als räumliche Ordnungsstrukturen einerseits

voraus; andererseits wird diese Unterschei-

dung dadurch gewissermaßen nivelliert, dass

sich die dunkle Völkerwelt zur Gottesstadt

auf den Weg macht. Die Lichtfunktion be-

gründet demnach eine Öffnung, die nun auch

räumlich übersetzt wird: Das Heilsgelände im

Zentrum öffnet sich den Völkern und Köni-

gen!

Das ommen „zu dir“ zur Gottesstadt bildet

folglich den cantus firmus der V 4–9 und

nimmt die horizontale Initialbewegung aus V

3 auf. Zugleich wird die in V 1–3 festge-

schriebene Zentrumsideologie in die Vorstel-

lung eines Kultbetriebes ohne Restriktionen

und ohne Amtspriester überführt, wenn die

Tiere nicht nur Jhwh loben, sondern selbsttä-

tig zum Opfer den Altar besteigen14. Rückt

Zion also innerhalb der Universalordnung in

Jes 60,1–3 in die Funktion des Tempels für

Völker und Könige ein (vgl. auch V 9!), ist es

nur konsequent, den Kultbetrieb offen zu

gestalten.

Den Befund, dass sich die Stadt als offenes

Heilsgelände, ja Heiligtum textweltlich kon-

stituiert, bestätigen folgende vier Beobach-

tungen zu Jes 60,10–14:

(1) Durch den Mauerbau (vgl. V 10) wird

das Zentrum Jerusalem mit einer

räumlichen Grenze versehen, die die

Peripherie als außerhalb des Stadtin-

neren gelegenen Bereich ausgrenzt.

Das Motiv eines Mauerbaus durch

Fremde führt jedoch die durch die

räumliche Grenze einer Mauer

eingestiftete soziale Opposition zwi-

14

So oole 2001 233: „sel -sa ri i e“.

72 | S e i t e

schen der Stadtbevölkerung innerhalb

und den Fremden außerhalb der

Mauer ad absurdum. Gleichermaßen

wird die ab- und ausgrenzende Funk-

tion der Mauer in V 11 dadurch auf-

gehoben, dass ihre Tore beständig

und ohne Gefährdung für die Stadt of-

fen stehen, um den Zustrom der

Menschen und Reichtümer einzulas-

sen15.

(2) Ab Jes 60,10 bestimmt nicht mehr die

ewegung „zu dir“ das topograp i-

sche Bild, sondern es steht der Eintritt

in die sich herausgeschälte, offene

Stadt im Fokus.16

(3) Nach Abschluss der Bewegung zur

Stadt und in die Stadt hinein wird die-

se in V 13 erstmals explizit als „Ort“

bestimmt. Die parallelen Bezeichnun-

gen „Ort des eiligtums“ und „Ort

meiner Füße“ ru en abermals die

Raumordnung der Jerusalemer Kult-

tradition auf: Während dieser Sprach-

gebrauch in anderen prophetischen

Büchern mit der Rede vom Gottes-

thron im Tempel zusammenfällt, ist in

Jes 60,13 nicht der Thron, sondern die

Stadt insgesamt Realsymbol göttlicher

Gegenwart;17 der „Ort meiner Füße“

ist nämlich nicht der Thron, sondern

der (gesamte) „Ort meines eilig-

tums“.

(4) In diesem Sinne ist auch die abschlie-

ßende Namensgebung zu verstehen:

„Stadt J w s“ und „Zion des eiligen

Israels“.

15

vgl. Blenkinsopp 2003, 215. 16

vgl. Koole 2001, 240. 17

vgl. Lau 1994, 55.

Dieses Weltbild mit Jerusalem im Zentrum

schließt so, wie es in den Eingangsversen

eröffnet wurde: mit einem Handlungsvollzug

der personifizierten Stadt, der zugleich eine

Bewertung des universalen Völkerzuges

durchscheinen lässt: Die sich an der Völker-

milch und an der Brust von Königen labende

Gestalt soll in der Hinwendung von ebendie-

sen Völkern und Königen die Zuwendung

ihres Gottes erkennen.18 Versammelt sich die

Welt in der Gottesstadt, hat jene an der

glücklichen Zeit teil, die somit auch für diese

konkret wird!

Jerusalem als offenes, universales Heilsge-

lände. Fazit

Der sich im Medium des Textes ausspannen-

de Raum ist kein völliger Neuentwurf, son-

dern knüpft an das aus der Jerusalemer Kult-

tradition bekannte Ordnungsbild an. Die Lite-

raten suchen demnach Anschluss an eine

„Ordnung der Vergangen eit“ die sie jedo

in einem Zukunftsbild der Stadt so neu konfi-

gurieren, dass für die Gottesstadt insgesamt

das Zentrum der Welt beansprucht wird, ja

mehr noch: Als Zentrum wird sie sich unter

Beteiligung der Völker, Außenstehender,

Fremder erst herausbilden. Die Erinnerung an

das altbekannte Weltbild hat für die Verfas-

ser dieses Textes insofern eine ordnungsstif-

tende Funktion, als ebenjenes Zentrum resti-

tuiert wird – in Anerkenntnis des sich in der

Situation des Exil Bahn brechenden Universa-

lismus ist allerdings der Einschluss der Völ-

kerwelt für die Verfasser nicht nur denkmög-

lich, sondern denknotwendig geworden. Der

Wunsch, Jerusalem als offenes, universales

Heilsgelände zu gestalten, lässt sich mit den

18

vgl. Berges 1998, 442.

73 | S e i t e

materiellen Hinterlassenschaften zwar nicht

zur Deckung bringen; er steht jedoch nicht

fernab der Lebenswirklichkeit der Literaten,

hat er doch in der hebräischen Bibel eine

solide Traditionsbasis, die Stadt- und Welt-

bild verschmelzen lässt.

Literatur

U. Berges, Das Buch Jesaja. Komposition und

Endgestalt, HBS 16 (Freiburg 1998).

J. Blenkinsopp, Isaiah 56–66. A New Transla-

tion with Introduction and Commentary,

AncB 19B (New York 2003).

I. Finkelstein, Jerusalem in the Persian (and

Early Hellenistic) Period and the Wall of Ne-

hemiah, JSOT 32, 2008, 501–520.

HRWG (1998) 377–398 s. v. Raum (R. Geh-

len).

O. Keel, Die Geschichte Jerusalems und die

Entstehung des Monotheismus (2 Bde.), Orte

und Landschaften der Bibel IV,1 (Göttingen

2007).

J. L. Koole, Isaiah. Part III, Volume 3: Isaiah

Chapters 56–66, HCOT (Leuven 2001).

B. Langer, Gott als "Licht" in Israel und Me-

sopotamien. Eine Studie zu Jes 60,1–3.19f.,

ÖBS 7 (Klosterneuburg 1989).

D. Läpple, Essay über den Raum. Für ein ge-

sellschaftswissenschaftliches Raumkonzept,

in: H. Häußermann u.a. (Hrsg.), Stadt und

Raum. Soziologische Analysen (Pfaffenweiler

1991) 157–207.

W. Lau, Schriftgelehrte Prophetie in Jes 56–

66. Eine Untersuchung zu den literarischen

Bezügen in den letzten elf Kapiteln des

Jesajabuches, BZAW 225 (Berlin/New York

1994).

M. Löw, Raumsoziologie, Suhrkamp-

Taschenbuch Wissenschaft 1506 (Frankfurt

2009).

G. J. Polan, Zion, the Glory of the Holy One of

Israel: A Literary Analysis of Isaiah 60, in: L.

Boadt – M. Smith (Hrsg.), Imagery and Imagi-

nation in Biblical Literature, CBQ.MS 32

(Washington D.C. 2001) 50–71.

O. H. Steck, Lumen Gentium. Exegetische

Bemerkungen zum Grundsinn von Jesaja

60,1–3, in: O. H. Steck, Studien zu Tritojesaja,

BZAW 203 (Berlin 1991) 80–96.

D. Ussishkin, The Borders and De Facto Size

of Jerusalem in the Persian Period, in: O.

Lipschtis – M. Oeming (Hrsg.), Judah and the

Judeans in the Persian Period (Winona Lake

2006) 147–166.

H. Weippert, Altisraelitische Welterfahrung.

Die Erfahrung von Raum und Zeit nach dem

Alten Testament, in: H.-P. Mathys (Hrsg.),

Ebenbild Gottes – Herrscher über die Welt.

Studien zu Würde und Auftrag des Men-

schen, BThS 33 (Neukirchen-Vluyn 1998) 9–

34.

74 | S e i t e

Stefan Riedel: Wissen und Wissens-

konzeption als ordnende Prinzipien

Die unter den Begriffen Wissen und Wissens-

konzeption subsummierten methodischen

Konzepte und Herangehensweisen beeinflus-

sen, ob bewusst oder unbewusst, sämtliche

Vorstellungen der Dichotomie von Ordnung

und Chaos. Allein die Beschäftigung mit ei-

nem spezifischen Thema versucht die ge-

wählte Problematik und das verfügbare Ma-

terial nicht nur zu erfassen, sondern das ver-

meintliche Chaos der Daten in eine als sinn-

voll und nachvollziehbar erachtete Ordnung

zu bringen. Den Wissensbeständen unter-

schiedlicher Gesellschaften in verschiedenen

zeitlichen und räumlichen Kontexten kommt

dabei besondere Bedeutung zu, wurde und

wird doch gerade Wissen und dessen Kon-

zeption dazu genutzt Ordnung und somit

auch Chaos zu beschreiben und definieren.

Wissen strukturiert die Um- und Erfahrungs-

welt von Individuen und Gruppen, grenzt

diese nach außen und auch innen ab und

postuliert so als gut bzw. schlecht empfun-

dene Zustände, die wiederum mit Ordnung

und Chaos identifiziert werden können. So-

mit erscheint Wissen als eine Kategorie, die

zum einen notwendig zur Definition von For-

schungsgegenständen aber auch der eigenen

Erfahrungswelt ist, die andererseits durch

diese oft dogmatisch wirkenden Definitionen

aber auch Gefahren birgt. So stellt sich häufig

die Frage, wessen Wissen bzw. Wissenskon-

zeptionen bestimmten Ordnungen zugrunde

liegen und ob diesen andere Wissensbestän-

de gegenüberstehen können, die abweichen-

de Bilder zeichnen.

Im Mittelmeerraum lassen sich dabei durch

die Zeiten hinweg Phänomene beobachten,

in denen Wissen und Wissenskonzeptionen

als ordnende Prinzipien eingesetzt werden

und wurden. Dabei manifestiert sich das Wis-

sen auf unterschiedliche Art und Weise in

Wort und Bild. Aus unterschiedlichen Quellen

lässt sich daher häufig direkt oder indirekt ein

gewisser Drang oder Wunsch ablesen, eine

Gesellschaft, einige ihrer Segmente oder gar

die gesamte bekannte Welt zu erfassen, zu

strukturieren und zu ordnen. In diesem Zu-

sammenhang stellt sich auch die Frage, in-

wieweit der Mittelmeerraum bzw. dessen

Wahrnehmung derartige strukturelle Prozes-

se begünstigt oder beeinflusst.

In den Beiträgen dieses Panels werden derar-

tige Prozesse sowie die Rolle und Bedeutung

von Wissen und Wissenskonzeptionen für die

Schaffung und Wahrnehmung von Ordnun-

gen unter verschiedenen Aspekten und in

unterschiedlichen historischen Epochen be-

trachtet. So beleuchtet Julia Linke die altori-

entalische Vorstellung von Ordnung und

Chaos im Hinblick auf die zentrale Rolle des

Herrschers innerhalb dieses Konzeptes und

untersucht, wie sich dies im philologischen

sowie archäologischen Befund niederschlägt

bzw. fassen lässt. Matthias Hoernes geht in

seinem Beitrag anhand einer Analyse von

Strabons Geographika der Frage nach, in-

wieweit die Barbaren in römischer Zeit in die

von dem antiken Geographen entworfene

gesellschaftlich-zivilisatorische Ordnung ein-

fügen bzw. einfügen lassen. Abschließend

ordnet Arne Franke die gotische Architektur

Zyperns in den Kontext ihrer Entstehungszeit

sowie in die Zeit ihrer Rezeption ein und be-

trachtet diese hinsichtlich eines postulierten

ordnungsstiftenden Sinnes im Hinblick auf

75 | S e i t e

ihre architekturgeschichtliche, aber auch po- litische Bedeutung.

76 | S e i t e

Arne Franke: Ordnung durch Archi-

tektur: Entstehung und Rezeption

gotischer Bauten auf Zypern

Einleitung

Nach der Eroberung Zyperns im Jahr 1191

und der Verstetigung der Kreuzfahrerherr-

schaft wurde die neue Ordnung nicht allein

politisch und militärisch etabliert, sondern

auch kulturell1. Zu den Zeugnissen dieser

Entwicklung gehört heute vor allem die goti-

sche Architektur. Im Folgenden soll Augen-

merk auf drei Zeitabschnitte gelegt werden.

Erstens werden die Entstehungsumstände

gotischer Architektur in der Kreuzfahrerherr-

schaft vor allem in der ersten Hälfte des 14.

Jahrhunderts beleuchtet; zweitens die Rezep-

tion dieser Gebäude im ausgehenden 19.

Jahrhundert, als Zypern wieder verstärkt von

europäischen Forschen besucht wurde; und

drittens ist eine heutige Perspektive auf bei-

de Phänomene notwendig, die sie einordnet

und zusammenführt.

Mit Blick auf die Schwerpunkte des Work-

shops und des Panels besteht eine doppelte

Relevanz dieser Fragestellung: Es zeigt sich,

wie durch Architektur beim Bau im Mittelal-

ter und durch die Rezeption in der Neuzeit

Ordnung symbolisiert wurde. Zudem wird

deutlich, wie und aus welchen Quellen Wis-

sen über Architektur weitergegeben und spä-

ter interpretiert wurde.

Befund

1 zur historischen Einordnung: Edbury 1991 sowie

Coureas 1997.

Wir wissen von mehreren hundert zumeist

religiösen oder militärischen Gebäuden, die

wegen des Baustils und durch Technik Objek-

te eines mittelalterlichen Kulturtransfers wa-

ren. Zu den bekanntesten Beispielen gehören

etwa die Nikolauskathedrale in Famagusta,

die Sophienkathedrale in Nikosia und das

Kloster Bellapais. Alle Gebäude setzen einen

klaren Kontrapunkt zu einerseits der traditio-

nellen lokalen und andererseits zur islami-

schen Architektur.

Dieser Stiltransfer nach Zypern fand nicht

voraussetzungslos statt. Er war eine direkte

Folge von Wünschen der politischen und

geistlichen Eliten der Franken. Bei der Suche

nach der Motivation dieser Gruppen wird

bereits die Interpretationsebene beschritten.

Warum wurde nicht auf lokale Architektur

zurückgegriffen? Schließlich war die Mehr-

heit der Bevölkerung und damit potentieller

Bauleute lokaler Herkunft. Schriftliche Quel-

len, die sich mit Baustilentscheidungen aus-

einandersetzen und diese Frage beantworten

könnte, existieren nicht.

Im ausgehenden 19. Jahrhundert dominierte

daher folgende Interpretation: Während der

Kreuzfahrerherrschaft auf Zypern sei Kunst

des lateinischen Westens gleichsam impor-

tiert worden2. Damit wandten die Forscher

auf der späteren Kronkolonie Zypern auch für

die mittelalterliche Architektur koloniale Er-

klärungsmuster an: Die Bauten des 13. und

14. Jahrhunderts seien Übertragungen euro-

päischer Architektur und damit stilistische

Kopien vor allem aus dem heutigen Frank-

reich oder dem Rheinland, die durch europäi-

sche Bauherren und Architekten immun ge-

genüber Einflüssen lokaler Bauten errichtet

2 vor allem: Enlart 1899

77 | S e i t e

wurden. Diese stilgeschichtliche Analyse ist

bis heute weitgehend unverändert For-

schungsstand geblieben3. Die Interpretation

entstand aber – so meine These – interes-

sensgeleitet: Die Vereinnahmung der fränki-

schen Kunstgeschichte verlief parallel zur

politischen Aneignung des Territoriums der

Insel Zypern im 19. Jahrhundert. Nach jahr-

hundertelanger Herrschaft des osmanischen

Reiches über Zypern war dieser Ansatz auch

mit historischer Legitimation der Verände-

rungen auf Zypern verbunden.

Neuinterpretation

Durch eine Neubewertung der Befunde

kommt man zu anderen Schlussfolgerungen

betreffs der stilistischen Ursprünge und der

politischen Ikonografie. Um dies zu errei-

chen, sind die Mittel der vergleichenden Stil-

analyse mit denen der Quellenkunde zu

kombinieren, um sowohl tatsächliche Ur-

sprünge der Architektur als auch die Motiva-

tion von Bauherren zu identifizieren. Kerner-

gebnisse der zyprischen Gotikforschung stel-

len sich in der Folge als Mythen heraus. Als

Beispiel soll hier die Nikolauskathedrale in

Famagusta herausgegriffen werden4. Diese

im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts errich-

tete Kirche gilt in der Forschung bis heute als

provinzielle Kopie der Kathedrale im französi-

schen Reims, die als Krönungskathedrale der

französischen Könige diente. Die über Zypern

regierenden Lusignans – ein Haus mit Wur-

zeln in Frankreich – habe Anleihen beim fran-

zösischen style rayonnant und der Architek-

turikonografie genommen, um ihre Krö-

nungskathedrale als Könige von Jerusalem

3 etwa: de Vaivre – Plagnieux 2006.

4 Darstellung folgt: Franke 2012

entsprechend zu gestalten. Diese Ergebnisse

können meiner Meinung nach nicht verifiziert

werden. Bei kritischer Lektüre der Quellen

stellt sich heraus, dass das Königshaus als

Auftraggeber mit der Kathedrale in

Famagusta nicht in Verbindung stand. Neben

Bischof und Kapitel der Kathedrale war es vor

allem die Bevölkerung der Stadt, für die ge-

baut wurde. Der Grund lag allein im zu klei-

nen und engen Vorgängerbau. Schließlich

kamen mit dem Fall von Akkon im Jahr 1291

viele Flüchtlinge in die Stadt, wo sie ökono-

misch für einen Aufschwung sorgten. Eine

stilkundliche Analyse stützt die Ablehnung

des Forschungsstandes. Die Kathedrale ge-

hört zwar gewissermaßen zur Sprachfamilie

des style rayonnant, spricht aber mitnichten

einen Reimser oder ikonografisch königlichen

Dialekt. Das typische Register für eine Krö-

nungskathedrale mit Chorumgang und Radi-

alkapellen sowie Querschiff wird nicht gezo-

gen. Auch die Zweiturmfassade, die den For-

schern als speziell Reimserisch gilt, hat als

Vorläufer lediglich den Fassadentypus, nicht

einen speziellen Bau. Tatsächlich wäre die

Nikolauskirche als Krönungskathedrale in

Europa nicht vorstellbar. Ihre Form ist Aus-

schlusskriterium und nicht Argument für ei-

nen Transfer dieses Bautypus nach Zypern.

Der tatsächliche Befund wurde somit vor

mehr als einem Jahrhundert überformt durch

eine akademische Projektion: Eine Krönungs-

kathedrale des Königreiches Jerusalem im

Kreuzfahrerstaat Zypern müsse ein Implantat

europäischer Architektur aus dem kulturellen

Milieu des Kreuzfahrers Ludwig IX. sein.

78 | S e i t e

Revision

Der Grundriss der Nikolauskathedrale hat

seinen Ursprung in den frühen Kathedralkir-

chen des Heiligen Landes. Dort wurde eine

Vielzahl von Bauten mit drei Schiffen und

Polygonalschlüssen errichtet. Möglicherweise

wurde auch die Grundrissform des örtlichen

Vorgängerbaus wieder aufgenommen. Der

Innenraum ist dem entgegengesetzt karg und

stark durch die Mendikatenarchitektur ge-

prägt. Damit kontrastiert er mit dem pracht-

vollen Außenbau, der mit äußerst progressi-

ven Elementen versehen wurde. Unter ihnen

sticht insbesondere das Maßwerk heraus,

dessen Formen möglicherweise durch Bau-

zeichnungen den Weg nach Zypern fanden

und nicht durch reisende Architekten ver-

antwortet worden sein müssen. Bei vielen

Einzelformen des Maßwerkes können Bezüge

etwa zum vor 1300 entstandenen Riss F der

Kölner Dombauhütte gezogen werden. Zu-

sammengefasst weist die Nikolauskathedrale

genauso wenig auf eine Einzelquelle hin wie

sie die Funktion einer Krönungskathedrale

hatte. Stattdessen waren die stilistischen

Ursprünge vielschichtig und setzten sich ad-

ditiv zusammen. Der Neubau selbst wurde in

erster Linie wegen der zahlreich gewordenen

Stadtgesellschaft notwendig.

Was für die Nikolauskathedrale gilt, ist auf

die zyprische Gotik übertragbar. Im Laufe der

Kreuzfahrerherrschaft kam es zu einer Amal-

gamierung von Motiven zentraleuropäischen

Ursprungs mit den erwachsenden fränki-

schen Architekturtraditionen. Die Stilformen

können nicht mit einem statischen Denken

und Abhängigkeitsverhältnissen von Zentrum

und Peripherie erklärt werden. Es gab viel-

mehr eine prozesshafte, hybride Wechsel-

wirkung zwischen Zypern und anderen Regi-

onen. Wenn man sich darüber hinaus nicht

auf herausragende Baufunktionen be-

schränkt, sondern zyprische Architektur in

ihrer Breite betrachtet, werden noch mehr

Differenzierungen offenbar. Während in der

Handelsstadt Famagusta die Kathedrale und

verwandte Bauten entstanden, werden or-

thodoxe Kirchen auf Zypern selbstverständ-

lich wie altbekannt errichtet. Diese hybride

Kultur verstärkt sich zur Mitte des 14. Jahr-

hunderts weiter: Ein halbes Jahrhundert nach

dem Bau der Nikolauskathedrale werden

sogar bei der Errichtung der orthodoxen Ka-

thedrale von Famagusta architektonische

Elemente des lateinischen Westens rezipiert.

Das Ordnende von Architektur – respektive

das Ansinnen, Herrscher und Beherrschte

auch architektonisch zu trennen – löst sich

somit auf.

Ordnung und Chaos

Bezogen auf das Leitthema der Konferenz

bedeutet dies: Es gab in der Kreuzfahrerherr-

schaft Zypern den Willen, Ordnung durch

Architektur zu symbolisieren. Die herrschaft-

liche Aneignung von Raum hatte sowohl Ein-

fluss auf den Bau als auch auf die spätere

Interpretation gotischer Architektur. Sie dient

als Machtzeichen, ordnendes Element und

als Legitimation von Herrschaft. Die Thesen

der frühen Forschung gingen aber zu weit: Es

gab ni t die Alternative zwis en C aos’

durch eine lokale Bauweise und der Verkör-

perung neuer Ordnung’ dur europäis e

Architektur. Es kann der Schluss gezogen

werden, dass künstlerisch kein absolutes Ab-

hängigkeitsverhältnis in Richtung des lateini-

schen Westens bestand. Vielmehr hatte sich

spätestens zu Beginn des 14. Jahrhunderts

79 | S e i t e

eine selbstbewusste Kreuzfahrergesellschaft

etabliert, die sich nicht kolonial an das fran-

zösische Königtum, das Reich, oberitalieni-

sche Handelsstädte oder das Papsttum ge-

bunden fühlte. Sie hatte bereits ihre eigenen

Traditionen. Die eigene Identität und die In-

tegration von unterschiedlichen Gruppen in

die Kreuzfahrerherrschaften – und damit

soziale, ökonomische und kulturelle Vielfalt –

spiegelt sich auch in der Architektur wider.

Literatur

N. Coureas, The Latin Church in Cyprus.

1195–1312 (Aldershot 1997).

P. W. Edbury, The Kingdom of Cyprus and the

Crusades. 1191–1374 (Cambridge 1991).

C. Enlart L’art got ique et la renaissance en

Chypre 1–2 (Paris 1899).

A. Franke, St Nicholas in Famagusta: A new

Approach to the Dating, Chronology and

Sources of Architectural Language, in: N.

Coureas – P. Edbury – M. Walsh (Hrsg.), Me-

dieval and Renaissance Famagusta (Aldershot

2012) 75–91.

J.-B. de Vaivre – P. Plagnieux ( rsg.) L’ art

gothique en Chypre (Paris 2006).

80 | S e i t e

Matt ia oerne : eine arbaren

me r a t on R mer. Kulturelle

Formierungsprozesse und zivilisato-

rische Ordnung in Strabons

Geographika

‚Ordnung‘ und ‚C aos‘ sind Denkkategorien

die einer Deutungshoheit bedürfen. Infolge-

dessen ist ihre Bestimmung und bedeutungs-

volle Aufladung stark an den Kontext jener

Akteure und Kollektive gebunden, in deren

Weltbild sie als mehr oder weniger stark aus-

geprägte Argumentationsfiguren und diskur-

sive Parameter fungieren, die Realitäten

strukturieren und an and derer ‚Weltord-

nungen‘ als sol e erst ausver andelt und

positiv wie negativ bestimmt werden können.

In diesem Sinn implizieren ‚Ordnung‘ und

‚C aos‘ normative Ma t und legitimieren

umgekehrt Machtstellungen, wo Ordnung im

Sinn der je spezifischen Weltanschauung ge-

schaffen und Chaos vertrieben wird. Damit

stellen sie für die Geschichte des europäi-

schen Kolonialismus keine bloßen Analyseka-

tegorien der modernen Forschung, sondern

wesentliche Argumentationsmuster der Eli-

ten des späten 18. und 19. Jahrhunderts dar.

Sie verdi ten si in der ‚mission

ivilisatri e‘ oder ‚ ivilizing mission‘ wie sie

etwa das British Empire oder die Dritte Fran-

zösische Republik basierend auf einem euro-

päischen Überlegenheitsanspruch gegenüber

den ‚no ni t Zivilisierten‘ und einem es-

ten Glauben an historischen Fortschritt pro-

pagierten. Zivilisierungsmissionen – in voller

Ausformung jene des viktorianischen Groß-

britannien – konstruieren eine „Stu enleiter

kultureller Wertigkeiten“ ein graduell abge-

stuftes Zivilisationsspektrum, innerhalb des-

sen ‚Völker‘ Nationen und ollektive in un-

terschiedlichem Ausmaß an einem globalhis-

torisch gedachten Fortschritt Anteil haben.

Aus seiner Position als ‚ ö erste endem‘

leitet der Zivilisator die moralische oder his-

torische Pflicht ab, diese Kollektive, jedenfalls

aber deren Eliten, an eine höhere Stufe zivili-

satorischer Ordnung heranzuführen und auf

diese zu ‚er eben‘.

Im Kontext ihrer Zeit und durchaus mit expli-

zitem Bezug auf den hier umrissenen geistes-

geschichtlichen Hintergrund meinte die Alter-

tumswissenschaft des fortgeschrittenen 19.

Jahrhunderts mit dem Konzept der Romani-

sierung ein zwar nicht deckungsgleiches, al-

lerdings doch dem kulturmissionarischen

Eifer Europas verwandtes Phänomen in der

römischen Antike gefunden zu haben. An-

hand dieses Modells wollten Theodor

Mommsen, Francis Haverfield und ihre Zeit-

genossen die Durchdringung der Provinzen

mit römischen Gebrauchsgütern und Kera-

mik, Architektur und Städtebau, der lateini-

schen Sprache, Mustern soziopolitischer Or-

ganisation sowie Gesetzen, Normen und

Werten neu erklären. Die römische Kultur

erschien dabei als monolithische Einheit, de-

ren Träger sie von Rom und Italien ausge-

hend in das Reich zu den passiv rezipieren-

den provinzialen Populationen trugen und

diese dadurch zivilisierten. Die moderne Al-

tertumswissenschaft hat – insbesondere im

Zuge der postcolonial studies – die Brauch-

barkeit dieser Analysekategorien und der

zugrunde liegenden Modelle ab den 1960er

Jahren kritisch hinterfragt. Deutlich hat sie

gesehen, wie stark es von der jeweiligen Ge-

genwart und zeitgenössischen Geisteswelt

überformt ist und an das zivilisatorischen

Überlegenheitsgefühl der europäischen Ko-

lonialmächte des 19. Jahrhunderts anknüpft,

mit dem diese Kultur, Bildung, Ordnung und

81 | S e i t e

materielle Errungenschaften in die koloniale

Welt zu tragen meinten und dies als ihre

welthistorische Aufgabe proklamierten. Hat-

ten Mommsen und Haverfield den Zivilisie-

rungsbegriff noch gebraucht, um auf einer

analytisch-etischen Ebene die Verwirklichung

einer historischen Aufgabe und einen als re-

alhistorisch verstandenen Prozess zu be-

zeichnen, verwendet die moderne Alter-

tumswissenschaft diesen in der Folge zur

emischen Charakterisierung eines römischen

Selbstverständnisses.

Obwohl das Romanisierungsmodell des 19.

Jahrhunderts, in dem die Vorstellung des

‚zivilisierenden Römers‘ wissens a ts isto-

risch situiert ist, längst dekonstruiert und

diskreditiert ist, hat sich die Auffassung, kul-

turmissionarische Unterfütterungen hätten

der Rechtfertigung der römischen Herrschaft

im Speziellen, aber auch jener imperialer

Herrschaftsgebilde im Allgemeinen gedient,

zu einem selten reflektierten Gemeinplatz

verfestigt. Eine fruchtbare Forschungsdiskus-

sion über die Frage, ob sich aus den wenigen

einschlägigen Zeugnissen tatsächlich ein fast

zeitlosen Prinzip römischer Herrschaft destil-

lieren lässt, hat sich jedoch ausschließlich in

der britischen Altertumswissenschaft ent-

facht. So kontrovers diese Debatte auch ge-

führt wird, so eint sie doch ein ausgeprägtes

methodisches Bewusstsein und das Bemü-

hen, sich von älteren Romanisierungsvorstel-

lungen sowie insbesondere von imperialisti-

schen Überlagerungen der Neuzeit zu lösen.

Das hier vorgestellte Vorhaben nimmt es sich

zum Ziel, diese abseits der britischen For-

schung wenig beachtete Debatte samt ihrer

methodisch-theoretischen Problematik neu

aufzurollen. Ausgehend von strukturellen

Merkmalen neuzeitlicher Zivilisierungsmissi-

onen möchte ich die zur Verfügung stehen-

den Quellen daraufhin analysieren, inwieweit

ausgewählte lateinische und griechische Au-

toren der Kaiserzeit bis Spätantike Konzepte

von Zivilisation und Zivilisierung entwickeln

und diese als Triebfeder, aber auch als Legi-

timation für den Aufstieg des imperium

Romanum zu einem Weltreich verstehen.

Breiter gefasst gilt es zu beleuchten, wie vor-

ne mli literaris e Quellen kulturelle

Trans orma onsprozesse in den

provinzialisierten Gebieten unter römis er

Herrschaft wahrnehmen und diese im Span-

nungsfeld von topischer Beschreibung und

faktischem Anspruch bewerten.

In seltener Deutlichkeit und mehrfacher Hin-

sicht finden sich die – hier primär kulturell

verstandenen – Deutungsmuster ‚Ordnung‘

und ‚C aos‘ im kulturgeograp is en Werk

Strabons. Anhand von Fallbeispielen aus dem

westlichen Mittelmeerraum lotet der griechi-

sche Geograph und Historiker augusteischer

Zeit wiederholt aus, welche kulturellen Trans-

formationsprozesse sich in den neu erober-

ten Regionen unter römischer Herrschaft

vollzogen haben und – auf einer Metaebene

– was zivilisatorische Ordnung als solche

ausmacht. So versteht Strabon etwa das Gal-

lien seiner Zeit primär aus römischen Einflüs-

sen heraus, denen es die Entfaltung seines

Potenzials in Gestalt geordneter Gemeinwe-

sen, moralischer Standards und wirtschaftli-

cher Blüte verdanke. Die römische Herrschaft

habe in Gallien barbarischen Sitten ein Ende

gesetzt die den Normen „bei uns“ zuwider-

laufen, darunter der Gepflogenheit, Gegnern

im Kampf den Kopf abzuschneiden und die-

sen an den Türpfosten des eigenen Hauses zu

nageln, die Schädel bekannter Persönlichkei-

ten einzubalsamieren oder Menschenopfer

82 | S e i t e

darzubringen1. Infolgedessen hätten die krie-

gerischen Gallier ihre Waffen niedergelegt,

lokale Konflikte zwischen einzelnen Stämmen

beendet und sich fortan der Landwirtschaft

gewidmet2.

Aber auch manche der Bevölkerungsgruppen

auf der Iberischen Halbinsel, allen voran die

Turdetaner am aetis seien „ganz zu dem

Lebensstil der Römer übergegangen und be-

wahren nicht einmal mehr eine Erinnerung

an die eigene Sprache: Ferner sind die meis-

ten Latiner geworden und haben römische

Siedler bekommen, sodass nur noch wenig

daran fehlt, dass sie sämtlich Römer sind;

auch die neuerdings zusammengesiedelten

Städte, Pax Augusta bei den Keltikern, Augus-

ta Emerita bei den Turdulern und

Caesaraugusta im Gebiet der Keltiberer und

einige andere Siedlungen, illustrieren den

Umschwung besagter Gemeinwesen; so wer-

den denn auch alle Iberer, die zu dieser Kate-

gorie gehören, togati genannt (darunter sind

auch die Keltiberer, die ehedem als die wil-

desten von allen galten)“3. Eine ‚Romanisie-

rung‘ wie im Fall der Turdetaner s reibt

Strabon den gallis en Cavaren zu denn „der

Name ‚Cavaren‘ ist der errs ende und

man nennt jetzt allmählich alle dortigen Bar-

baren so, die auch gar keine Barbaren mehr

sind, sondern zum größten Teil den Stil der

Römer sowohl in der Sprache als auch in der

Lebensweise, manche auch in der Ordnung

der Gemeinwesen übernommen aben“4.

Dagegen kennzeichnen das vorrömische Gal-

lien interne und externe Konflikte, ein ausge-

prägtes Kriegertum sowie Jagd und Viehhal-

tung als Subsistenzform, eine mangelnde

1 Strab. 4,4,5 p. 197f. C.

2 Strab. 4,1,2 p. 178 C; 4,3,2 p. 192 C.

3 Strab. 3,2,15 p. 151 C; Übersetzung nach Stefan Radt.

4 Strab. 4,1,12 p. 186 C.

Ausformung soziopolitischer Organisation,

zerstreutes Siedeln sowie Isolation und feh-

lender ontakt sowo l inner alb eines ‚Vol-

kes‘ als au zu anderen ‚Völkern‘.

Diese vorrömis e und ‚präzivilisatoris e‘

Zeit kontrastiert Strabon – einem kaum vari-

ierten narrativen Muster folgend – mit dem

Wandel in der Folge der römischen Erobe-

rung. Wo die naturräumlichen Gegebenhei-

ten die Errungenschaften der Zivilisation bis-

her verhindert hatten, verhalfen nach

Strabons Geschichtsnarrativ die Römer ei-

nem stabilen Frieden, friedlichem Ackerbau,

der vernünftigen Nutzung natürlicher Res-

sourcen und wirtschaftlicher Prosperität zum

Durchbruch und etablierten ausdifferenzierte

soziopolitische Gemeinwesen sowie urbane,

in das vernetzte Reichsganze eingebundene

Zentren. Ein solcher Gegensatz zwischen Zivi-

lisierten und Unzivilisierten dient Strabon

neben dem traditionellen Barbarendiskurs

und der ethnischen Zuweisung auf der

Grundlage sprachlicher Zugehörigkeit als ein

drittes Raster zur ordnenden Beschreibung

der bewohnten Welt. Dieser Kontrast mani-

festiert sich in distinkten Merkmalen zivili-

sierter bzw. unzivilisierter Lebensform. An-

hand derer entwirft Strabon für den westli-

chen Mittelmeerraum eine kulturelle Matrix

zwischen den Polen von Unordnung und Sta-

bilität, Barbarei und Zivilisation. In das Ext-

reme gewandt grenzen sich so die bewohnte

Welt, deren Ränder mit jenen des imperium

Romanum zusammenfallen, und die unbe-

wohnten oder von Nomadismus und Piraterie

beherrschten Gebiete jenseits ihrer Grenzen

voneinander ab. Der Gradient zwischen zivili-

satorischer Ordnung und chaotischer Wild-

heit bestimmt zugleich die narrative Raumor-

ganisation und die Disposition des Stoffes in

den Geographika. In seiner wegweisenden

83 | S e i t e

Studie hat bereits Patrick Thollard eingehend

gezeigt, dass Strabon die Behandlung eines

Großraums bei jenen Regionen aufnimmt, die

ihm wie etwa die urbanen Zentren an den

Küsten als zivilisiert erscheinen, und zu Ge-

genden geringeren Zivilisationsgrades fort-

schreitet, mithin den geographischen Raum

abhängig von der Kulturgeographie und be-

dingt durch sein Zivilisationsverständnis be-

schreibt.

Ausgehend von jenen Fallbeispielen, in denen

wie unter einem Vergrößerungsglas der kul-

turelle Wandel in der Westhälfte des römisch

dominierten Mittelmeerraums exemplifiziert

wird, lässt sich Strabons Einschätzung des

zivilisatorischen Einflusses der römischen

Herrschaft herausarbeiten und in den Rah-

men seines Zivilisationskonzepts stellen. Da-

bei lassen sich in den Geographika unter-

schiedliche Schichten des Zivilisationsver-

ständnisses trennen, die teils kulturell, teils

ethnisch fundiert sind und letztlich nicht mit-

einander harmonisiert werden können. In

diesem Spannungsfeld nicht kohärenter Zivi-

lisationsauffassungen konzeptualisiert

Strabon P änomene von ‚barbaris em‘

C aos und ‚zivilisatoris er‘ Ordnung als Pole

eines kulturellen Kontinuums, an dem der

westliche Mittelmeerraum – diachron und

synchron – in unterschiedlichem Maß Anteil

hat. Die unterschiedlichen Ebenen des Zivili-

sationsverständnisses Strabons sind damit

allenfalls angedeutet. Exemplarisch zeigen sie

jedo au wie das Gegensatzpaar ‚Ordnung‘

und ‚C aos‘ als analytis es Instrument ge-

winnbringend angewendet, aber auch histo-

rischen und kulturwissenschaftlichen Fallana-

lysen unterzogen werden kann, um Diskurse

zu beleuchten, die Realität und Geschichts-

narrative erzeugen und strukturieren.

Literatur

E. Almagor, Who is a Barbarian? The Barbari-

ans in the Ethnological and Cultural Taxono-

mies of Strabo, in: D. Dueck – H. Lindsay – S.

Pot e ary ( rsg.) Strabo’s Cultural Geogra-

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Epochenübergreifende und globalhistorische

Vergleiche (Wiesbaden 2013; im Druck)

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E. C. L. van der Vliet L’et nograp ie de

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G. Woolf, Becoming Roman. The Origins of

Provincial Civilization in Gaul (Cambridge

1998).

85 | S e i t e

Julia Linke: Der König als Hüter der

Ordnung und Bezwinger des Chaos -

Mythologische Hintergründe des alt-

orientalischen Konzeptes von König-

tum und deren Auswirkungen im ar-

chäologischen und philologischen

Befund

In folgendem Beitrag geht es um die mytho-

logis en Aspekte des Ideenspektrums „Ord-

nung und C aos“ wel e Rolle es ür die ö-

nigsideologie des Alten Orients spielt und wie

dieses spezielle Konzept von Königtum im

archäologischen und philologischen Befund

des neuassyrischen Reiches in der ersten

Hälfte des 1. Jahrtausends v. Chr. wiederzu-

finden ist. Dabei entfernen wir uns lokal zu-

nächst vom Mittelmeer bzw. vom mesopo-

tamis en Standpunkt aus dem „Oberen

Meer“ (tamtu elitu).

Konkret zu fassen ist der Gegensatz zwischen

Ordnung und Chaos v.a. im mesopotami-

schen Weltbild. Um dieses zu erläutern be-

ziehe ich mich auf die Mythen des Alten Ori-

ent. Obwohl zu verschiedenen Zeitpunkten

verschriftlicht, handelt es sich bei den für

diesen Beitrag herangezogenen Mythen um

lange tradierte – wir sprechen z.T. von über

tausend Jahren. Dabei beschränke ich mich in

diesem Rahmen auf diejenigen Inhalte der

Mythen, die im Zusammenhang zu den Be-

gri en „Ordnung“ und „C aos“ sowie zu der

Konzeption von Königtum stehen

Die Schöpfung

Zunächst möchte ich aber ganz von vorne

beginnen, mit der Schöpfung. Nach dem so

genannten „großen mesopotamis en

S öp ungsmyt os“1 enūma eliš existierte

vor der Schöpfung der Welt nur der männli-

che Apsu, die große Wassermasse, und die

weibliche Gottheit Tiamat, das Meer. Durch

das Vermischen ihrer Wasser entstanden

weitere Gottheiten, die selbst wiederum Göt-

ter zeugten. Der Lärm dieser jungen Götter

störte nun aber Apsu und er beschloss, die

jungen Götter zu vernichten. Im darauffol-

genden Kampf wurde Apsu getötet, und

Tiamat erschuf eine Schar von Ungeheuern

und unterstellte sie Kingu, ihrem neuen Ge-

fährten. Niemand konnte etwas gegen Kingu

und seine Ungeheuer ausrichten bis einer der

jüngsten Götter auf, namens Marduk, auf-

tauchte und anbot, gegen Kingu und Tiamat

zu kämpfen. Sollte er Erfolg haben, verlangte

er aber von den Göttern, dass sie ihn zu ih-

rem König machen, worauf die Götter sich

schließlich einließen. Daraufhin statteten sie

den jungen Gott aus: „Sie ügten i m die eu-

le, den Thron und den Stab zu, sie gaben ihm

die unwiderstehliche Waffe, die den Feind

überwältigt.“2 So ausgerüstet zog Marduk

gegen Tiamat und ihre Ungeheuer, tötete sie

mit P eil und ogen und „seiner großen Waf-

e“ der Sturm lut. Na diesem Sieg er oben

die Götter Marduk wie versprochen zu ihrem

önig. Als önig der Götter sollte er nun „die

Menschen, seine Geschöpfe, als Hirte leiten...

und auf Erden das Gleiche tun, was er im

immel getan at.“3 Darauffolgend formte

1 Schöpfungsmythos ist insofern ein falscher Ausdruck,

als dass der Mythos eigentlich den Aufstieg Marduks zum höchsten Gott des Pantheons erklärt, und die Schöpfung eher am Rande vorkommt. 2 Taf. IV Z. 29 f., Übersetzung nach Lambert 1994.

3 Taf. VI Z. 112, Übersetzung nach Lambert 1994.

86 | S e i t e

Marduk die Welt und schuf den Menschen.

Damit ist im enūma eliš die Schöpfung abge-

schlossen, aber andere mesopotamische My-

then schließen daran an bzw. erläutern Teile

dieser Schöpfung ausführlicher.

Wenn wir nun von der göttlichen Ebene weg

und hin zu den Menschen gehen, so ist der

entscheidende Schritt in deren Geschichte,

der auch ihr Verhältnis zu den Göttern maß-

geblich bestimmt, die Schaffung der eigenen

menschlichen Kultur und Ordnung, in Ab-

grenzung zu der vor-zivilisatorischen Welt

und dem dort herrschenden Chaos. Dabei ist

die Stadt quasi Grundvoraussetzung des me-

sopotamischen Lebens, und wird demzufolge

schon in der Urzeit von den Göttern selbst

erschaffen. An Hand eines sumerischen

S öp ungstextes der sogenannten „Genesis

von Eridu“ wird die S öp ung der Städte

nachvollziehbar: Die Göttin Nintu macht dem

Nomadenleben der Menschen durch die

Gründung von Städten ein Ende. Der Exis-

tenzgrund der Städte ist die Besorgung des

Kultes der Götter; die Durchführung ihres

Willens, also die Schaffung einer Ordnung,

die die überirdische Ordnung der Götter auf

Erden wiederspiegelt

Was bei der Schöpfung aber noch fehlt, ist

die Ordnung-schaffende Instanz, als Vermitt-

ler zwischen Göttern und Menschen: das

Königtum. Der König vermittelt die Aufgaben

der Menschen in der göttlichen Weltord-

nung, er leitet den Kult an und organisiert

den Dienst an den Göttern. Wie der König

bestimmt wird, ist z.B. in der altbabyloni-

schen Version des Etana-Mythos überliefert:

„Den önig atten sie (no ) ni t eingesetzt

unter allen zahlreichen Menschen; daher war

keine Tiara, keine Kopfbinde (= Krone) gekno-

tet, und kein Szepter war mit Lapis besetzt.

Die Heiligtümer waren sämtlich noch nicht

erbaut, (und) die siebenfachen Tore waren

gegen die Mächtigen verriegelt. Szepter,

Kopfbinde, Tiara und Hirtenstab waren vor

Anu im Himmel niedergelegt. Da es keinen

Besonnenen ihres Volkes gab, stieg ┌die Her-

rin (?)┐ vom immel erab [… …] su te ┌Ištar (?)┐ ┌einen König (?).┐“4

Die Etablierung des irdischen Königtums bil-

det den Abschluss der Welt-, Menschheits-

und Kulturschöpfung der Götter in Mesopo-

tamien.

Der Ursprung des altorientalischen König-

tums

In der mesopotamischen Vorstellung ist das

Königtum eines der ME; es wird vom Gott Ea

in seiner Wohnstatt aufbewahrt. Die ME sind

nach Brigitte Groneberg5 die „Summe der

Zivilisation“ Gaben und egabungen die die

Götter den Menschen geben. Nach dem Text

der so genannten Sumerischen Königsliste

kommt das Königtum von den Göttern auf

die Erde, und zwar einmal vor, und dann ein

zweites Mal nach der Flut. Dabei wird in der

Sumerischen Königsliste eine realpolitische

Dynamik rekonstruiert, in der das Königtum

jeweils von einer Stadt zur nä sten „getra-

gen“ wird bzw. mit Wa engewalt errungen

wird. Hier ist wichtig zu beachten, dass die

Sumerische Königsliste ein ideologischer Text

ist, der Mesopotamien als ein von Anfang an

unter nur einem König stehendes Reich ver-

standen haben will, wo nur ein einziges Kö- 4 Z. 6 ff., Übersetzung nach Haul 2000.

5 Groneberg 2004, 140.

87 | S e i t e

nigtum existiert – das widerspricht der histo-

rischen Realität. Trotzdem ist der Text inso-

fern aufschlussreich für das Verständnis des

Konzeptes des mesopotamischen Königtums,

als dass deutlich wird, dass die einzelnen

Herrscher eine zeitliche Inkarnation in einer

ewigen Funktion sind, d.h. dass das Herr-

schen dem Ausüben einer Rolle entspricht.

Ein akkadischer Mythos6 berichtet darüber

hinaus von der Schaffung des Königs als Per-

son.

Nach der Schöpfung der Menschen spricht

der Gott Ea zur Muttergott eit ēlet-ilī:

„bilde nun den önig den überlegend-

entscheidenden Menschen. Mit Gutem um-

hülle seine ganze Gestalt, gestalte seine Züge

armonis ma e s ön seinen Leib!“7

Daraufhin geben einige Götter dem König

ihre Attribute:

„Anu gab i m seine rone Enlil ga[b i m sei-

nen Thron], Nergal gab ihm seine Waffen,

Ninurta g[ab ihm seinen Schreckensglanz],

elēt-ilī gab i m [i r!? s önes Ausse en].“8

Dieser Übergabe-Ritus erinnert an die oben

zitierte Übergabe von Waffen etc. an Marduk

im enūma eliš, der damit die böse Gottheit

Tiamat, die das Chaos der Welt vor der

Schöpfung symbolisiert, bekämpfen soll. Hier

wird das Motiv des Gottes, der das Chaos

6 Vorderasiatisches Museum Berlin. Vorderasiatische

Abteilung. Tontafeln (VAT) 17019. 7 VAT 17019, Z. 33` ff., Übersetzung nach Mayer 1987.

8 VAT 17019, Z. 37´ ff.

bekämpft9 und deswegen von den anderen

Göttern zu ihrem König erhoben wird, über-

tragen auf den menschlichen König.

Der König als Bewahrer der Ordnung: Der

Hirte

Der König ist nach dieser Konzeption von

Königtum, wie wir sie in altorientalischen

Mythen fassen können, also von den Göttern

als Ordnung-schaffende Instanz eingesetzt, er

soll – auch mit Waffengewalt – gegen die

chaotischen Mächte kämpfen und Sorge tra-

gen für die Menschen und den Kult. Letzteres

beinhaltet die Aufrechterhaltung der irdi-

schen und kosmischen Ordnung. Dies er-

reicht der Herrscher durch zivile Maßnahmen

wie Rechtsprechung, durch die Bereitstellung

einer Infrastruktur, durch Bautätigkeit sowie

durch seine Rolle als Spitze des Verwaltungs-

apparates, kurz: durch seine Politik. Eine Rol-

le spielt bei der Idee der Fürsorge für seine

Untertanen die Konzeption des Königs als

„ irte“ seines Volkes wie sie u.a. im enūma

eliš für Marduk sowie im Etana-Epos explizit

formuliert wird.

Wie der Hirte seine Herde soll der König sei-

ne Untertanen führen, beschützen, ernähren

usw.

So sind Epitheta und Beinamen mit den Be-

griffen SIPAD bzw. rē’u also „ irte“ für alt-

orientalische Herrscher gebräuchlich. Die

durch den Hirtenbegriff veranschaulichte

9 Das Motiv des Gottes, der das Chaos bekämpft und

deswegen von den anderen Göttern zu ihrem König

erhoben wird, ist ursprünglich aus der Ninurta-

Theologie entlehnt.

88 | S e i t e

pastorale Macht impliziert gute bzw. wohltä-

tige Absichten, sie schützt und beschützt die

Bevölkerung - wenn auch nicht unbedingt

uneigennützig. Dieser Hirtenaspekt des Kö-

nigs zeichnet nach Michel Foucault10 prinzipi-

ell eine Herrschaft aus, die auf Menschen

ausgelegt ist, entsprechend dem Verhältnis

der Menschen zu Gott, das ebenso als Herde-

Hirten-Beziehung zu verstehen ist. Auch hier

liegt also die Idee zu Grunde, dass die irdi-

sche Welt die Welt der Götter und deren

Ordnung wiederspiegeln soll.

Der König als Bezwinger des Chaos in der

neuassyrischen Kriegspropaganda

Im komplementären Zusammenhang mit der

Schaffung von Ordnung steht die Abwehr des

Chaos durch den König. Um die Ordnung im

Inneren zu bewahren, muss der König sein

Land vor dem Außen, in dem Chaos herrscht,

schützen. Dieses Konzept von Königtum und

dem König als Hüter der Ordnung und Be-

zwinger des Chaos wird deutlich in der neu-

assyrischen Königsideologie. Deren Grundla-

ge bildet ein zweigeteiltes Verständnis der

Welt:

10

„Dass der önig der Gott das Ober aupt im Ver-hältnis zu den Menschen ein Hirte [berger] ist, wäh-rend die Menschen gleichsam seine Herde sind, ist ein Thema, das sich sehr häufig im gesamten mediterra-nen Orient findet. [...] Das Pastorat ist ein grundlegen-der Verhältnistypus zwischen Gott und den Menschen, und der König hat gewissermaßen teil an dieser pasto-ralen Struktur des Verhältnisses zwischen Gott und den Menschen. [...] Es ist eine Macht religiösen Typs, die ihren Ursprung, ihre Grundlage, ihre Vollendung in der Macht hat, die Gott auf sein Volk ausübt. [...] Die Macht des Hirten ist eine Macht, die nicht auf ein Territorium ausgeübt wird, sondern eine Macht, die per de initionem au eine erde ausgeübt wird […].” Vorlesung 5, Sitzung vom 8. Februar 1978, in: Sennelart 2004, 185 ff.

Es gibt auf der einen Seite Assyrien und die

von ihm abhängigen bzw. ihm unterworfenen

Länder, auf der anderen Seite „die Anderen“

die Nicht-Assyrer. Alles nicht-Assyrische wird

als Chaos verstanden, das es zu bekämpfen

gilt, um auch die Ordnung in Assyrien selbst

zu erhalten. Die Stadt und später das Reich

Assur sind formal eine Theokratie, in der der

Gott Assur als König herrscht und einen irdi-

schen Obmann als Stellvertreter und Reprä-

sentanten bestimmt: den König. Der assyri-

sche König herrscht nicht nur im Auftrag

Assurs, sondern er ist auch Garant der Welt-

ordnung und wehrt das Chaos durch adäqua-

tes Verhalten den Göttern und Menschen

gegenüber ab. Ideologisch wird das Chaos in

dem Moment zur Ordnung, wo das feindliche

Land Assyrien einverleibt wird.11

Da der König diese Ordnung schaffen soll,

begründet dieses Konzept die stark expansive

Auslegung des assyrischen Reiches. So sind

die militärischen Aktionen des Königs ein

Ausdruck seiner ideologischen Verantwor-

tung, das Chaos der Fremdländer in die Ord-

nung des Reiches zu überführen.

Diese Konzeption von Königtum zeigt sich z.B.

an der Schilderung Asarhaddons von seinem

Feldzug nach Ägypten:

„I wurde wütend wie ein Löwe zog den

Panzer an, setzte den Helm, das was zu einer

Kampfausrüstung gehört, auf mein Haupt

und fasste mit meiner Hand den mächtigen

Bogen und den starken Pfeil, die Assur, der

König der Götter, mir verliehen hatte. Wie

ein wütender Adler, mit ausgebreiteten

Schwingen, ging ich wie eine Sintflut an der

Spitze meines Heeres einher. Der schonungs-

11

vgl. Liverani 1979.

89 | S e i t e

lose Pfeil des Assur sauste zornig und wütend

ort... ŠÁR-UR4 (die gesamte Potenz: Nieder-

ma en) und ŠÁR-GAZ (die gesamte Potenz:

Töten) gingen vor mir er.“12

Das Motiv des önigs als „Sint lut“ nimmt

dabei wiederum Bezug auf den bereits er-

wähnten Schöpfungsepos enūma eliš, wo der

Gott Marduk mit Hilfe der Flut die böse Ur-

Gottheit Tiamat besiegt.

Es lässt sich festhalten, dass durch die von

den Göttern übertragene Aufgabe des Si-

cherns und Wiederherstellens der göttlichen

Ordnung auf Erden militärische Aktionen ide-

ologisch gerechtfertigt und begründet sind.

Na der Eroberung des „ remden Landes“

erfolgt dessen Überführung in die Ordnung

des neuassyrischen Reiches. Das geschieht

durch Prozesse der Vereinigung und Assimi-

lierung der Bevölkerung, wozu auch die von

den Assyrern betriebenen Deportationen zu

zählen sind. So werden in den neuen Provin-

zen die sprachliche und die gesetzliche Ver-

einheitlichung nach der Eroberung eingelei-

tet und das assyrische Verwaltungsmuster

verbreitet sich.

Der König als Erhalter der Ordnung – Bautä-

tigkeit

Auch die Kultivierung der neuen Provinzen,

der Bau von Bewässerungsanlagen und all-

gemeine Bauprogramme in den neuen Ge-

bieten spielen in diesem Zusammenhang eine

Rolle. Königliche Bauprojekte können im Zu-

sammenhang mit dem Ordnen der Welt ge-

sehen werden, denn der Bautätigkeit des

12

Borger 1956, Nin. E, Kol. II, 6–13.

Königs liegt sein göttlicher Auftrag zum

Schaffen, Verwalten und Sichern der irdi-

schen Ordnung zu Grunde.

Vollendete Bauprojekte zeigen die Fähigkeit

des Königs, seiner ihm von den Göttern ge-

gebenen Aufgabe nachzukommen, die Welt

zu ordnen; sie sind ein sichtbarer Marker

seiner Tüchtigkeit und Pflichterfüllung. Be-

wässerungsprojekte schaffen dabei die Vo-

raussetzung für die Versorgung der Bevölke-

rung. Durch sie kommt der König seinem

göttlichen Auftrag nach, sich um die Men-

schen zu kümmern. Kanäle dienen nicht al-

lein der Bewässerung, sondern können darü-

ber hinaus für die Schifffahrt genutzt werden,

d.h. sie sind ebenso wie Straßen, deren Anle-

gen in den Inschriften in der Regel allerdings

nicht auftaucht, Teil der Infrastruktur, die

den Handel erleichtert und die Versorgung

mit Rohstoffen und Gütern aller Art verbes-

sert bzw. erst ermöglicht. Die Infrastruktur

erscheint zentral im Hinblick auf den Ord-

nungs-schaffenden Auftrag des Herrschers.

Im „ aotis en“ „wilden“ Land werden

Wegenetze und Kanäle angelegt, Tempel,

Paläste und auch ganze Städte errichtet.

Konkret ist auch in den neuassyrischen In-

schriften die Erschließung von Land in den

Provinzen ein Thema. Der König tritt z.B. in

einer Zylinder-Inschrift von Sargon II. als Ur-

barma er „öden“ Landes au :

„Der er a rene önig der beständig Pläne

erwägt, die Gutes (bewirken), der sein Au-

genmerk auf die Besiedelung brachliegender

Steppengebiete, auf die Kultivierung des Öd-

landes und auf das Anpflanzen von Obstgär-

ten richtete, erwog in seinem Innern, (selbst)

steile Felsgebirge (Ernte)ertrag bringen zu

90 | S e i t e

lassen, denen nie zuvor Grünes entsproß,

sein Herz trug sich damit, wüstem Brachland,

das unter den vorangegangenen Königen den

Pflug nicht kannte, Saatfurchen entstehen

und den alāla-Ruf erschallen zu lassen, eine

Quelle (in) einer Umgebung ohne Brunnen

als ein karattu zu öffnen und wie mit der

Masse des Hochwassers (eines Flusses im

Frühjahr mit) Wasser im Überfluß von oben

bis unten (alles) bewässern zu lassen.“13

Fazit

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass

an Hand der mesopotamischen Mythen

nachzuvollziehen ist, dass die Götter den Kö-

nig erschaffen und seine Aufgaben festlegen.

Ein zentraler Punkt dabei ist die Spiegelung

der himmlischen Ordnung auch auf Erden,

wofür der König verantwortlich ist. Die Ord-

nung auf Erden reflektiert so die göttliche

Ordnung, und jedes Individuum muss seine

Pflichten gemäß seinem Platz in dieser Ord-

nung erfüllen. Das Königtum und damit der

König ist dabei Garant dieser Ordnung. In

diesem Zusammenhang ist zu unterscheiden

zwischen defensiven Maßnahmen, die die

Ordnung im eigenen Reich erhalten, und of-

fensiven Aktionen, die die eigene Ordnung

verbreiten, wobei beide gleichermaßen durch

den göttlichen Auftrag legitimiert werden.

13

Z. 34-37, Übersetzung nach Fuchs 1994.

Literatur

R. Borger, Die Inschriften Asarhaddons, Kö-

nigs von Assyrien, Archiv für Orientforschung

Beiheft 9 (Graz 1956).

B. Groneberg, Die Götter des Zweistromlan-

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M. Haul, Das Etana-Epos. Ein Mythos von der

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2000).

W. G. Lambert, Enuma Elisch, in: Texte aus

der Umwelt des Alten Testaments III/4 (Gü-

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J. Linke, Das Charisma der Könige. Zur Kon-

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Hinblick auf Urartu (unpublizierte Dissertati-

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heit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am

Collège de France 1977-1978 (Frankfurt

2004).

TeilnehmerInnen des Workshops

Abdellatif Bousseta (Tanger/ Karlsruhe)

Urs Brachthäuser (Bochum)

Martina Clemen (Göttingen)

Arne Franke (Berlin)

Matthias Hoernes (Innsbruck)

Julia Linke (Freiburg)

Marcus Nolden (Bochum)

Carolin Philipp (Athen)

Merryl Rebello (Göttingen)

Stefan Riedel (Bochum)

Katharina Schembs (Berlin)

Christiane Schwab (München)

Christine Isabel Schröder (Bochum)

Andrea Spans (Bonn)

David Wallenhorst (Kiel)

Kristine Wolf (Berlin)