BA-Thesis: Die Gebrüder Grimm und die 15-Counterintuitive-Knowledge-Domains. Eine...

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Universität Bayreuth Kulturwissenschaftliche Fakultät Lehrstühle: Religionswissenschaft I und II Bachelorarbeit im Fach Kulturwissenschaft mit Schwerpunkt Religion SS 2010 Die Gebrüder Grimm und die 15 Counterintuitive-Knowledge-Domains Eine religionskognitionswissenschaftliche Analyse von Märchenpopularität Vorgelegt von : Feline Zocher BA Kulturwiss./Religion 5.Sem.

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Universität Bayreuth Kulturwissenschaftliche Fakultät Lehrstühle: Religionswissenschaft I und II

Bachelorarbeit im Fach Kulturwissenschaft mit Schwerpunkt Religion SS 2010

Die Gebrüder Grimm

und die 15 Counterintuitive-Knowledge-Domains

Eine religionskognitionswissenschaftliche

Analyse von Märchenpopularität

Vorgelegt von: Feline Zocher BA Kulturwiss./Religion 5.Sem.

Inhalt 1

INHALT

Abbildungsverzeichnis......................................................................... 2

Abkürzungsverzeichnis ....................................................................... 2

1 Einleitung ............................................................................................ 3

1.1 Religionsdefinitionen und religionswissenschaftliche Relevanz .................... 4

1.2 Kognitionswissenschaft ........................................................................ 6

2 Grundlagen .......................................................................................... 8

2.1 Kontraintuition .................................................................................. 8

2.2 Minimale Kontraintuition .................................................................... 10

2.3 Was ist Erinnerung? ........................................................................... 11

2.4 Die „Kinder- und Hausmärchen“ der Gebrüder Grimm.............................. 12

3 Hypothesen und Forschungsfrage ...................................................... 14

4 Datenerhebung und -analyse .............................................................. 16

4.1 Vorgehensweise ................................................................................. 16

4.2 Märchenanalyse ................................................................................. 16

4.3 Umfrage zur Märchenpopularität .......................................................... 18

5 Ergebnisse .......................................................................................... 18

5.1 Märchenanalyse ................................................................................. 19

5.2 Umfrage zum Thema Märchenpopularität .............................................. 20

6 Diskussion .......................................................................................... 27

6.1 Störvariablen .................................................................................... 27

6.2 Vergleich mit den Ergebnissen der Studie „Memory and Mystery“ .............. 29

6.3 Interpretation der Ergebnisse ............................................................... 31

7 Zusammenfassung und Ausblick ....................................................... 33

8 Literaturverzeichnis .......................................................................... 35

Erklärung ........................................................................................... 39

Anhang: Daten-CD .................................. Fehler! Textmarke nicht definiert.

Abbildungsverzeichnis 2

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Abbildung 1: Intuitive-Knowledge-Domain-Violation ..................................................... 9

Abbildung 2: Angepasste Kontraintuitionstabelle ......................................................... 17

Abbildung 3: Domainverletzungen aller Märchen ......................................................... 19

Abbildung 4: Lageparameter der Umfragedaten ........................................................... 20

Abbildung 5: Märchennennungen gesamt. ..................................................................... 21

Abbildung 6: Märchennennungen MK. ........................................................................... 22

Abbildung 7: Märchennennungen NK. ............................................................................ 23

Abbildung 8: Regressionsgerade Anzahl der Verfilmungen/Nennungen .................... 23

Abbildung 10: Märchennennungen der nicht-verfilmten Märchen. ............................. 24

Abbildung 11: Abstufung der Bekanntheit ...................................................................... 24

Abbildung 12: Feinabstufung der Bekanntheit ohne Störfaktoren .............................. 25

Abbildung 13: Vergleich der mittleren Bekanntheit mit der Anzahl der

Domainverletzungen ................................................................................ 26

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

KHM Grimms Kinder- und Hausmärchen

KHM # Nummer eines Märchens in den KHM

MehrK Mehrfachkontraintuitive (Märchen)

MK Minimal kontraintuitive (Märchen)

NK Nicht minimal kontraintuitive (Märchen)

Einleitung 3

1 EINLEITUNG

„Märchen, n. kleine mär, kleine erzählung: […] das wort schlieszt sich

zunächst, wie seine in der schriftsprache ältere schwesterform märlein, an

mär in der bedeutung an, als im gegensatz zur wahren geschichte stehend:

mährchen, […] eine kunde, nachricht, die der genauen beglaubigung

entbehrt, ein bloszes weitergetragenes gerücht.―1

Doch Märchen sind nicht nur Gerüchte, nicht flüchtige Erzählungen. Von vielen

Religionswissenschaftlern werden Märchen in das Reich der Literaturwissenschaften

verbannt. Märchen sind nicht „Religion―. Einige Elemente dieser volkstümlichen

Erzählungen könnten dennoch für die Religionswissenschaft von Interesse sein.

Selbst zu Zeiten als die Mehrheit der Bevölkerung weder lesen noch schreiben

konnte, wurden einige Geschichten, Mythen, Sagen, Gleichnisse und Legenden über

Jahrhunderte tradiert. Andere wurden vergessen. Doch warum? Welche Faktoren

spielen bei der erfolgreichen mündlichen Überlieferung bestimmter (religiöser)

Elemente eine Rolle? Obwohl Religionswissenschaftler sie teils heftig kritisieren,

konnten die Kognitionswissenschaften die Grundlage für ein plausibles und bis heute

nicht widerlegtes Großtheoriesystem schaffen. Es untersucht die Entstehung von

Religion, religiösen Geschichten und Phänomenen und versucht diese zu erklären.

Für die vorliegende Arbeit sind insbesondere die kognitionswissenschaftlichen

Religionstheorien des Religionsethnologen Pascal Boyer und des Psychologen Justin

L. Barrett von Interesse, die Religion als ein Nebenprodukt vieler kognitiver

Merkmale des Menschen betrachten.2 Besonders bedeutsam für diese Theorie, die im

Folgenden mit Hilfe der gesammelten Märchen der Gebrüder Grimm empirisch

untersucht werden soll, ist die Einprägsamkeit sogenannter minimal kontraintuitiver

Elemente3.

Zunächst wird in Unterpunkt 1.1 die religionswissenschaftliche Relevanz des Themas

begründet. Darauf folgt die Bedeutung der Kognitionswissenschaft, um schließlich

darstellen zu können, weshalb kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse sowohl für

die Religionswissenschaft als auch für die Untersuchung von Märchenpopularität

hilfreich sein können. Anschließend werden in Kapitel 3 die zentralen Hypothesen

1 Grimm, Wilhelm/Grimm, Jakob (1984) – Deutsches Wörterbuch S. 1618. 2 Vgl. Kap. 2. 3 Vgl. Kap. 2.2.

Einleitung 4

erläutert und die Forschungsfrage formuliert. Die Vorgehensweise bei der

Datenerhebung und -analyse wird in Kapitel 4 vorgestellt. Es wurde einerseits eine

Umfrage mit 100 Personen zum Thema Märchenpopularität durchgeführt,

andererseits eine Aufstellung der kontraintuitiven Elemente in den Märchen der

Gebrüder Grimm anhand Justin Barretts Intuitive-Knowledge-Domains

vorgenommen. In Kapitel 5 werden die erhobenen statistischen Daten kategorisiert

und ihre Lageparameter ermittelt. Anschließend werden nicht-kontraintuitive

Märchen mit kontraintuitiven verglichen und nach Ausschluss der angenommenen

Störvariablen mit ihrer durchschnittlichen Bekanntheit korreliert. Im Schlussteil

werden die Ergebnisse diskutiert. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass minimal

kontraintuitive Märchen mit hoher Wahrscheinlichkeit bekannter sind als Märchen,

die diese Elemente nicht enthalten.

1.1 Religionsdefinitionen und religionswissenschaftliche

Relevanz

Unter welchen Umständen kann die Analyse von Märchen die Aufgabe einer

religionswissenschaftlichen Arbeit sein? Betrachtet man Märchen aus populärer

Perspektive, drängt sich der Gedanke auf, dass Märchen keinen Bezug zu Religion

haben. Sie sind „Aberglaube― und somit eher die Kehrseite der Religion. Dieser

Eindruck wird scheinbar von der ältesten der bekannten Religionsdefinitionen

bestätigt, die den „Aberglauben― explizit ausschließt.4 Ist es daher abwegig, Märchen

religionswissenschaftlich untersuchen zu wollen?

„Religion― ist seit der Moderne deutlich weiter gefasst, als noch zu Zeiten des Aulus

Gellius. Aberglaube, Mythen, Volksglaube, Hexerei, Zauberei, Fußball und Vieles

mehr kann unter diesen Begriff gefasst werden. Betrachtet man Religionsdefinitionen

unter diesem Gesichtspunkt, stellt sich die Frage, ob Religion generell

wissenschaftlich definierbar ist. Schon Kant nennt Religion explizierbar, aber nicht

definierbar.5 Stewart Guthrie schreibt: „While calling religion a human universal, also

calls the concept ‗irreducibly vague‘. Theory of religion thus remains an open field.―6

Noch drastischer wird das Problem von Maurice Bloch beschrieben: ―for me what we

4 Diese stammt angeblich von Aulus Gellius, der schreibt: „religentem esse oportet, religiosus ne fias―

(Zitiert nach Figl, Johann (2003) – Handbuch Religionswissenschaft, S. 63). 5 Kant, Immanuel (1781) zitiert nach Euler, Harald A. – Religion und Sexuelle Selektion

(in: Lüdke Ulrich et al. (Hg.) – Darwin und Gott), S. 66. 6 Guthrie, Stewart (2007) – Anthropology and Anthropomorphism in Religion

(in: Whitehouse, Harvey (2007) – Religion Anthropology and Cognitive Science), S. 37.

Einleitung 5

call religion in anthropology is a rag bag of loosely connected elements, without an

essence or core.‖7 Mit anderen Worten: die Religionsdefinitionen der modernen

Wissenschaft sind so vielfältig, wie das Phänomen Religion selbst. Welche

Definitionen für ein bestimmtes Feld angewendet werden sollen, ist abhängig von

den jeweiligen Forschungsinteressen. Gemäß dieser Prämisse werden hier zwei

Definitionen näher betrachtet.

Die Analyse und Kategorisierung der Märchen in dieser Arbeit gründet sich im

Wesentlichen auf Pascal Boyers Theorie. Boyer, einer der Hauptvertreter der

kognitionswissenschaftlichen Religionstheorie, verzichtet für seine Arbeit gänzlich

auf eine Klärung des Religionsbegriffs und schreibt:

―My own characterization of religious representations […] does not constitute

a definition, only a summarized description of a particular viewpoint.‖8

Die Theorie von Counterintuitiveness (Kontraintuition) ist anscheinend geeignet für

die Betrachtung von Religionen und zwar unabhängig davon, ob eine konkrete

Religionsdefinition verwendet wird. Dennoch wird im Folgenden gezeigt, dass

Märchen, je nach Betrachtungsweise, durchaus ein religiöses Phänomen sind.

Beispielsweise ist der Religionswissenschaftler Ilkka Pyysiäinen der Ansicht, dass

―Counterintuitiveness thus is religious when it is part of beliefs and practices that are

important for people in organizing their lives.‖9 Man muss also fragen, ob es

Menschen gibt, die an Märchen bzw. Elemente aus volkstümlichen Geschichten

glauben und für die diese Elemente einen essentiellen Bestandteil ihrer

Lebensführung darstellen. Ein nennenswerter Teil der Weltbevölkerung glaubt an

märchenhafte Figuren wie Hexen, Geister, Zwerge und diverse andere übernatürliche

Wesenheiten.10 Neue religiöse Strömungen wie Wicca, als Teil des Neopaganismus,

schließen den Glauben an eine Fülle „märchenhafter― Gestalten sogar explizit ein.11

7 Bloch, Maurice (2007) – Durkheimian Anthropology and Religion

(in: Whitehouse, Harvey (2007) – Religion, Anthropology and cognitive science), S. 77. 8 Boyer, Pascal (1994) – The naturalness of religious ideas, S. 34. 9 Pyysiäinen, Ilkka (2004) - Magic, miracles, and religion. A scientist's perspective, S. 45f. 10 Pinker, Stephen (2006) - The Evolutionary Psychology of Religion

(in: McNamara, Patrick (Hg.) (2006) – Where God and Science meet. How brain and evolutionary studies alter our understanding of religion.) schreibt: ―The last time I checked the figures, 25 percent of Americans believe in witches, 50 percent believe in ghosts […]‖.

11 Beispielsweise der Glaube an die Wirkmächtigkeit von Zaubern, vgl. hierzu: Rensing, Britta (2006) – Der Glaube an die Göttin und den Gott. Theologische, rituelle und ethische Merkmale der Wicca-Religion, unter besonderer Berücksichtigung der Lyrik englischsprachiger Wicca-Anhänger, S. 292-297.

Einleitung 6

Religiöse bzw. mythische Vorstellungen sind ein wesentlicher Bestandteil von

volkstümlichen Geschichten. Mythen und christliche Vorstellungen treten einzeln

und in jeder denkbaren Kombination auf. Märchen sind dabei keine Ausnahme.

Obwohl im modernen Europa solche Vorstellungen Kindern als Gutenacht-

geschichten präsentiert werden, so kann man doch davon ausgehen, dass ihr Inhalt

sich aus Erwachsenen-Erzählungen ableitet und nicht nur religiösen Vorstellungen

entsprungen,12 sondern auch immer noch ein wesentlicher Bestandteil einiger

Glaubenssysteme ist. Die Disziplin Religionswissenschaft befasst sich nicht nur mit

dem Komplex „Religion― im Allgemeinen, auch einzelne religiöse Elemente können

religionswissenschaftlich untersucht werden und relevant sein.

Abschließend sollte man auch bedenken, dass der Begriff Religion ursprünglich ein

Kunstbegriff war13 und sich daran bis heute wenig geändert hat. Seit Jahrzehnten

herrscht Uneinigkeit unter den Religionswissenschaftlern, wie Religion definiert

werden kann.14 Für die kognitiven Religionstheorien ist der Begriff der

Kontraintuition essentiell für Religion. Da Märchen diese Elemente enthalten,

können sie als Gegenstand der Religionswissenschaft betrachtet werden.

1.2 Kognitionswissenschaft

Die Kognitionswissenschaft ist eine vergleichsweise junge Disziplin, die aus der

Psychologie und den neueren Erkenntnissen der Neurowissenschaften entspringt. Sie

beschäftigt sich mit dem menschlichen Gehirn und dessen Funktionsweise. Darunter

fällt vor allem die Wahrnehmung, das Denken und das Lernen15. Aus den

Erkenntnissen der kognitionswissenschaftlichen Forschung ergibt sich für die

Religionswissenschaft neuer Raum für Theoriesysteme. Die zentralen Fragen der

kognitiven Religionstheorien sind: Hat die Religiosität des Menschen einen

(evolutions-)biologischen Ursprung? Ist Religion eine Adaption, gab sie dem

Menschen also einen evolutionären Vorteil und entwickelte sich auf dieser Grundlage

12 Kindl, Ulrike (1998) – Märchen

(in: Cancik, Hubert (Hg.) (1998) – Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe), S. 79. 13 Irmscher, Johannes – Der Terminus Religio und seine antiken Entsprechungen im philologischen

und religionsgeschichtlichen Vergleich (In: Ugo Bianchi (Hg.) (1994) – The Notion of ―Religion‖ in Comparative Research), S. 63-73.

14 Vgl. u. A. Elsas, Christoph (Hg.) (1975): Religion. Ein Jahrhundert theologischer, philosophischer, soziologischer und psychologischer Interpretationsansätze.

15 Def. nach Thagard, Paul – Cognitive Science (in: Zalta, Edward N. – Stanford Encyclopedia of Philosophy [Onlineausgabe] URL: http://plato.stanford.edu/entries/cognitive-science/[11.03.2010]).

Einleitung 7

weiter?16 Ist sie ein fehlgeleitetes Nebenprodukt der Evolution des Menschen17 oder

ist sie ein Spandrel18, also ein nichtadaptives Merkmal, das sich als nützlich erwies

und selbständig weiterentwickelte?19

Diese Fragen werden von diversen Autoren auf unterschiedliche Weise beantwortet.

Allen gemein ist allerdings die Annahme, der Mensch habe im Laufe der Evolution

bestimmte Fähigkeiten und Eigenschaften entwickelt, die die Entstehung von

bestimmten Mustern bei religiösen Repräsentationen erklären. Zentral ist für diese

Theorie, dass das Gehirn nicht als „all-purpose problem-solver― sondern als ein

Konglomerat aus vielen verschiedenen Eigenschaften und Fähigkeiten gesehen wird,

die sich spezifisch für die Lösung ganz bestimmter Probleme durch selektive

Evolution entwickelt haben.20 Die Entstehung von Religion geht also auf eine Vielzahl

von Fähigkeiten und Eigenschaften zurück. Ein Teil dessen ist die bessere

Memorierbarkeit minimaler Kontraintuition, die für diese Arbeit entscheidend ist.

Zusammengefasst ergibt sich aus den Kapiteln 1.1 und 1.2 folgendes: Nimmt man an,

Religion sei mit der Struktur und der Funktionsweise des menschlichen Gehirns

begründbar, so lässt sich diese Theorie auch auf volkstümliche Geschichten wie zum

Beispiel Märchen übertragen. Man kann folglich kognitionswissenschaftliche

Theoriesysteme für die wissenschaftliche Untersuchung von Märchen fruchtbar

machen. Da zum Verständnis der in Kapitel 3 formulierten Forschungsfrage einige

Grundlagen nötig sind, wird zunächst der Begriff (minimale) Kontraintuition

erläutert. Darauf folgen nähere Informationen zu den Themen „Erinnerung― und „die

Kinder- und Hausmärchen (KHM) der Gebrüder Grimm―.

16 Vgl. u. A. Bulbulia, Joseph (2004) - The cognitive and evolutionary psychology of religion.

(In: Biology and Philosophy, Heft 19, S.655-686). 17 Vgl. u. A. Dawkins, Richard (2006) – The God Delusion, S. 242. 18 Def. siehe Gould, Lewontin (1979) – The spandrels of San Marco. 19 Vgl. u. A. Boyer, Pascal (2009) – Und Mensch schuf Gott;

Barrett, Justin (2004) – Why Would Anyone Believe in God?; Atran, Scott (2002) – In Gods We Trust. The Evolutionary Landscape of Religion.

20 Sinding Jensen, Jeppe (2009) – Religion as the unintended product of brain functions in the 'standard cognitive science of religion model'. On Pascal Boyer, Religion explained (2001) and Ilkka Pyysiäinen, How religion works (2003). (In: Stausberg, Michael (Hg.) (2003) – Contemporary theories of religion. A critical companion), S. 129.

Grundlagen 8

2 GRUNDLAGEN

2.1 Kontraintuition

Der Begriff Kontraintuition wird von Pascal Boyer in seinem Buch Und Mensch schuf

Gott eingeführt. Er umschreibt Phänomene, die den angeborenen menschlichen

Vorannahmen – den ontologischen Kategorien – zuwiderlaufen.21 Er ging von der

Annahme aus, dass schriftlose Gesellschaften ein besonders ausgeprägtes kulturelles

Gedächtnis haben. Daher stellte er die Frage, warum manche Repräsentationen

weiter verbreitet sind und besser erinnert werden als andere.22 Er geht davon aus,

dass religiöse Konzepte „1. point to a particular domain, 2. violate intuitive

expectations (either a breach of expectation or a transfer of properties from another

domain), and 3. link to default (normal) expectations for the category.‖23

Grundlage für die natürlichen Vorannahmen einer Person ist die Struktur bzw. der

Aufbau und die Funktionsweise des menschlichen Gehirns. Es ist in der Lage

konkrete Begriffe zu abstrahieren und somit Dinge, die es wahrnimmt, in

verschiedene Klassen zu unterteilen. Diese nennt Justin L. Barrett Categorizer24.

Mögliche Categorizer sind Person, Tier, Pflanze, Gegenstand und Artefakt, denen

wiederum die in Describer unterteilten Vorannahmen zugeordnet werden. Die

Fähigkeit der Zuordnung ist angeboren und geschieht automatisch25. Besonders in

Stresssituationen – bevor das bewusste Denken einsetzt – reagiert das Gehirn

intuitiv und zieht Schlussfolgerungen aus dem wahrgenommenen Umfeld. Das

bedeutet konkret: Personen gehen unter anderem selbstverständlich davon aus, dass

sich Menschen und Tiere fortpflanzen, einen Stoffwechsel haben oder eine

spezifische Form besitzen.26 Genauso schreibt man Menschen automatisch die

Fähigkeit zu, die Intentionen anderer nachzuvollziehen und selbst welche zu haben.27

Es gibt drei Describer, die Galman und Hirschfeld Folk-Biology, Folk-Psychology

und Folk-Mechanics nennen. Betrachtet man alle möglichen Kombinationen von

Describer und Categoriser ergibt sich eine Tabelle mit fünfzehn Feldern

21 Boyer, Pascal (2009), S. 80. 22 Sinding Jensen, Jeppe (2009), S. 137. 23 Ebd., S. 141. 24 Barrett (2004), S. 5. 25 Als Beleg dieser Theorie gibt es eine ganze Reihe von Experimenten mit Erwachsenen, Säuglingen

und Tieren. Siehe u. A. Sperber, Dan (2002 b) – Causal Cognition. A multidisciplinary debate, Kap. 3 und Hirschfeld, Lawrence A./Gelman, Susan A. – Mapping the Mind, S. 16 ff.

26 Boyer (2009), S. 77. 27 Guthrie, Stewart Elliott (1995) – Faces in the Clouds. A new theory of religion, S. 82f.

Grundlagen 9

(Domains28). In jedem dieser Felder kann eine Verletzung der intuitiven

Vorannahmen auftreten (Domainverletzung). Die folgende Tabelle stellt die

einzelnen Kombinationsmöglichkeiten sowie eine beispielhafte Domainverletzung

dar, um das Prinzip der Kontraintuition zu illustrieren.29

Folk-Psychology Folk-Biology Folk-Mechanics

Person A person who

knows everything A person requiring

no nourishment A person who is

invisible

Animal A snail that uses

language A dog that is

immortal

A cow that can be in many places at

once

Plant A rose that listens

to people‘s requests Grass composed of

metal A tree that is

weightless

Artifact A hammer that feels neglected

A shoe that sprouts roots

A car that can drip through a sieve

Natural non-living

An bicycle that enjoys music

A diamond that was born

A rock that may pass through solid

objects

Abbildung 1: Intuitive-Knowledge-Domain-Violation

Domainverletzungen bzw. Kontraintuition können also in unterschiedlicher Form

auftreten. Für gewöhnlich gibt es Verschiebungen der Vorannahmen zwischen den

Describer-Kategorien. Nach oben genannter Definition gelten kontraintuitive

Elemente als (potenziell) religiös. Der christliche Gott verletzt beispielsweise mit

seinem Wesen alle drei Intuitive-Knowledge-Domains: Er weiß alles, kann sich ohne

Körper fortpflanzen und ist unsichtbar. Man könnte hier von maximaler

Kontraintuition sprechen. Andererseits sind auch einfache Domainverletzungen und

somit minimale Kontraintuition möglich.

28 An anderer Stelle wird auch von Modulen gesprochen. Auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede wird

hier nicht näher eingegangen. (Vgl. Fodor, Jerry A. (1984) – Modularity of mind. An essay on faculty psychology und Leslie, Alan M. (1999) – ToMM, ToBy, and Agency. Core architecture and domain specificity).

29 Barrett (2004), S. 410.

Grundlagen 10

2.2 Minimale Kontraintuition

„Concepts with single expectation-violating features were more successfully

transmitted than concepts that were entirely congruent with category-level

expectations, even if they were highly unusual or bizarre.‖30

Barrett und Nyhofs Experimente mit College-Studenten zeigen, dass bei erzählten

Geschichten besonders jene Elemente in Erinnerung bleiben, die einmalig

domainverletzend sind. Minimal kontraintuitive Konzepte scheinen ein konzeptuelles

Optimum zu sein. Sie sind leicht verständlich und benötigen daher nicht viele

kognitive Ressourcen. Auf der anderen Seite sind sie aber ungewöhnlich genug, damit

ihnen besondere Aufmerksamkeit zu Teil wird.31 Sie haben, wie in Kapitel 2.3 noch

gezeigt werden soll, einen Tradierungsvorteil.

Eine einfache Domainverletzung oder auch minimale Kontraintuition lässt sich am

Beispiel des Froschkönigs32 illustrieren. Einem Tier – in diesem Fall einem Frosch –

werden all jene volkspsychologischen Fähigkeiten zugeordnet, die normalerweise

beim Menschen auftreten würden. Hier zeigt sich eine vertikale Verschiebung des

Describer Folk-Psychology von dem Categorizer Mensch nach unten zu dem

Categorizer Tier. Wenn man es aus einer anderen Perspektive betrachten möchte,

könnte man argumentieren, dass der Frosch in seiner ursprünglichen Gestalt ein

Prinz ist und daher eher der Describer Folk-Biology verletzt wird, als er die

Metamorphose zum Frosch vollzieht und somit nicht in seiner spezifischen Gestalt

verbleibt. Um eine minimale Verletzung handelt es sich immer dann, wenn nur in

einer einzelnen Spalte eine Verschiebung zwischen zwei Categorizern auftritt. Daher

ist trotz der unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten – Verletzung von Folk-

Biology oder Verletzung von Folk-Psychology – der Froschkönig minimal

kontraintuitiv. Eine eindeutige Zuordnung der Verletzungen ist also nicht immer

möglich, für die dieser Arbeit zugrunde liegende Fragestellung allerdings auch nicht

nötig. Entscheidend ist lediglich, dass es sich beim erzählten Phänomen um eine

minimale Kontraintuition handelt. Die Unterscheidung zwischen Kontraintuition

und minimaler Kontraintuition erlangt Bedeutung, wenn man sich mit ihrer

besonderen Wirkung auf das menschliche Erinnerungsvermögen auseinandersetzt.

30 Barrett, Justin L./Nyhof, Melanie (2001), S. 69. 31 Sperber, Dan (1998) – The modularity of thought and the epidemiology of representations

(In: Hirschfeld, Lawrence/Gelman, Susan (Hg.) (1998) – Mapping the mind. Domain specificity in cognition and culture).

32 Grimm, Jakob/Grimm, Wilhelm (1980) – Kinder- und Hausmärchen, Märchen 1 (KHM 1).

Grundlagen 11

2.3 Was ist Erinnerung?

Erinnerung entsteht, indem neuronale Verbindungen nach einem bestimmten

Muster aktiviert werden. Je häufiger bestimmte Muster abgerufen werden, desto

intensiver wird die Verbindung. „Auf diese Art und Weise lernt das Netzwerk aus

früheren Erfahrungen. Es ‚erinnert sich‗, indem die Wahrscheinlichkeit steigt, dass

ein ähnliches Erregungsmuster entsteht. Durch synaptische Veränderungen, die den

Energiefluss im Gehirn steuern, wird Information gespeichert und wieder

abgerufen.―33 Informationen werden zunächst in das sensorische Gedächtnis

aufgenommen. Anschließend können sie durch Wiederholung im Arbeits- und

schließlich im Langzeitgedächtnis gespeichert werden. Je häufiger ein bestimmtes

Ereignis wahrgenommen wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass eine synaptische

Veränderung eintritt, die ein Erinnern ermöglicht.34

Den Prinzipien der Evolution folgend, funktioniert auch der Erinnerungsmechanis-

mus des menschlichen Gehirns ökonomisch. Der Mensch kann nicht auf alles

reagieren und nicht alles verarbeiten, was er in seiner Umgebung wahrnimmt. Daher

speichert das menschliche Gehirn die Informationen ab, die es nicht sofort benötigt,

um sie später wieder aufrufen zu können. Das Entscheidende bei dieser

Vorgehensweise ist jedoch die Auswahl, welche Informationen sofort verarbeitet

werden müssen, welche gespeichert werden und welche verworfen werden können.

Daher vergleicht das Gehirn die aufgenommenen Informationen nach bestimmten

Kriterien, um das Wahrgenommene einzuordnen und mehr Informationen zu

erhalten. So kann mit wenig Aufwand ein großer Nutzen gezogen werden (effect-

effort balance). Sperber ist der Ansicht, „that human cognitive processes are geared

to the maximization of relevance [… they] are rooted in genetically determined

aspects of human psychology.‖35 Ereignisse, die den Erwartungen oder Vorannahmen

entsprechen müssen nicht konkret abgespeichert werden, da sie bereits bekannt sind.

Überraschende oder ungewöhnliche Erfahrungen müssen hingegen unter Umständen

noch einmal geprüft werden, um später Einordnungskriterien generieren zu können.

Sie werden also im Arbeitsgedächtnis abgelegt bis ähnliche Ereignisse eintreten, die

33 Siegel, Daniel J. (2006) – Entwicklungspsychologische, interpersonelle und neurologische

Dimensionen. Ein Überblick. (in: Welzer, Markowitsch (Hg.) (2006) – Warum Menschen sich erinnern können), S. 22.

34 Ebd., S. 31. 35 Sperber, Dan (2002 a) – Explaining culture. A naturalistic approach., S. 114.

Grundlagen 12

den neuen Eindruck verifizieren.36 Es ist anzunehmen, dass Kontraintuition dann

besonders gut memoriert wird, wenn das Individuum nicht erwartet auf ein solches

Merkmal zu treffen.37

Ein weiterer Faktor für die erfolgreiche Überlieferung von mündlichen Traditionen

ist Fantasie. Wenn eine plastische Vorstellung von der Handlung einer Geschichte

hervorgerufen werden kann, ist das eine wirksame Gedächtnisstütze.38 Für die

Tradierung von Kulturgütern bedeutet dies, dass nicht nur ungewöhnliche Konzepte

erinnert und folglich weitererzählt werden39, sondern auch Texte, die die Fantasie des

Lesers oder Hörers anregen. Daher bedienen sich mündlich überlieferte Geschichten,

wie die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm, im Allgemeinen einer

bildlichen Sprache, behandeln keine abstrakten, aber ungewöhnliche Figuren.40

2.4 Die „Kinder- und Hausmärchen“ der Gebrüder Grimm

Der Begriff Märchen leitet sich von dem mittelhochdeutschen Wort mære für Kunde,

Bericht, Erzählung ab.41 Er soll in diesem Text als Sammelbegriff für alle Geschichten

dienen, die in den Kinder- und Hausmärchen der Grimms veröffentlicht wurden. Die

KHM sind eine dreibändige Sammlung von Volksmärchen, die ihrer Meinung nach

über einen längeren Zeitraum mündlich tradiert wurden. Wilhelm und Jakob Grimm

waren Literaturwissenschaftler, die sich mit dem deutschen Volksgut auseinander-

setzten. Die erste Auflage ihrer Sammlung entstand um 1812. Es folgten sechs weitere

Auflagen, die die Sammlung erweiterten.42

Da die Grimms mit wissenschaftlichen Methoden an ihr Projekt herangingen, sind

umfassende Kommentare zu den Märchen und ihrer Herkunft heute noch verfügbar.

Ihre Vorgehensweise war einheitlich. Sie ließen sich lokal tradierte Geschichten

erzählen und zuschicken, die sie in eine einheitliche und lesbare Form brachten. Das

bedeutete im Einzelnen, ähnliche Versionen wurden zusammengefasst und

vereinheitlicht, lokale Unterschiede in den Erzählungen wurden zusammengefasst,

Widersprüchlichkeiten entfernt und die Sprache poetisiert. Die Brüder strebten

36 Siegel, Daniel J. (2006). 37 Atran (2006), 542. 38 Rubin, David C. (1997) – Memory in oral traditions. The cognitive psychology of epic, ballads, and

counting-out rhymes., S. 45. 39 Barrett/Nyhof (2001), S. 71; Atran (2006), S. 548. 40 Ebd., S. 60. 41 Genaue Definition siehe Einleitung. 42 Ranke, Kurt (Hg.) (1990) – Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und

vergleichenden Erzählforschung. Bd. 6, S. 189.

Grundlagen 13

danach, den mündlichen Überlieferungen möglichst nahe zu kommen und nicht

willkürlich zu redigieren.43 Obwohl nicht alle der Grimmschen Märchen aus

mündlicher Überlieferung stammen und die meisten in ihrem Wortlaut stark

verändert wurden, weisen sie dennoch starke Ähnlichkeiten mit den von Rubin

beschriebenen „oral traditions― auf: „composed of 1. Agents, usually heroes or gods,

producing a series of actions, 2. that are particular, specific examples, 3. of a concrete,

vivid easy-to-visualize nature.‖44 Diese Definition deckt sich außerdem zu großen

Teilen mit der Bedeutung, die die Brüder Grimm in ihrem Wörterbuch festgehalten

haben.45

In der Märchenforschung fanden die KHM stets große Beachtung. In den letzten

Jahren wurden vor allem die Ursprünge einzelner Elemente dieser Sammlung

untersucht. Unter anderem erstellte Antti Aarne gemeinsam mit Stith Thompson

einen Typenkatalog mit dessen Hilfe die Motive der einzelnen Märchen unter

einander verglichen werden können. Aarne ist der Ansicht, dass Märchen nie als

geschlossener Text betrachtet sondern vielmehr ihre „Sinnzusammenhänge―

erforscht werden sollten.46

Während die Grimms zu ihrer Zeit kritisiert wurden, weil sie sich zu sehr an die

Originalvorlagen hielten, bemängeln die Kritiker des 20. Jahrhunderts das Gegenteil.

Den Gebrüdern Grimm wird vorgeworfen, sie hätten die Originalquellen zu stark

verfälscht und darüber hinaus die Geschichten teilweise anderen Schriftstellern

entlehnt.47 Welche der Märchen davon im Einzelnen betroffen sind und welche

tatsächlich ursprünglich aus einer mündlichen Tradition stammen, ist heute kaum

noch festzustellen.48 Nachweislich erschienen 63 Geschichten aus der Sammlung von

Wilhelm und Jakob Grimm zuvor in anderen Büchern.49 In dieser Arbeit sollen

einzelne, dekontextualisierte Elemente50 der Geschichten untersucht werden. Die von

den Gebrüdern Grimm vorgenommenen Veränderungen der tradierten Texte spielen

also eine untergeordnete Rolle. Vielmehr soll die Verbreitung von Märchen

43 Ranke, Kurt (Hg.) (1993) – Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und

vergleichenden Erzählforschung. Bd. 7, S. 1278f. 44 Rubin (1997), S. 60. 45 Siehe einleitendes Zitat Kap. 1. 46 Aane, Antti zitiert im Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, S. 81. 47 Rölleke, Heinz (1997) – Grimms Märchen und ihre Quellen. Die literarischen Vorlagen der

Grimmschen Märchen / synoptisch vorgestellt und kommentiert von Heinz Rölleke., S. 7. 48 Rölleke, Heinz (2004) – Die Märchen der Brüder Grimm. Eine Einführung., S. 104. 49 Rölleke (1997), S. 8. 50 Siehe Kap. 5.1.

Hypothesen und Forschungsfrage 14

exemplarisch für die Popularität bestimmter (kontraintuitiver) Elemente im

Querschnitt der Bevölkerung stehen. Auf Grund der geplanten statistischen

Herangehensweise ist es zwingend erforderlich, eine geschlossene Sammlung

zeitgleich veröffentlichter Geschichten zu finden, die eine große Anzahl der

Probanden mit hoher Wahrscheinlichkeit kennen. Die Auswahl solcher Bände ist

begrenzt, daher sind Grimms Kinder- und Hausmärchen die beste Wahl. Es ist

anzunehmen, dass diese Märchen sich in besonderem Maße eignen, da sie aus allen

Regionen Deutschlands zusammengetragen und über mehrere Generationen

mündlich tradiert wurden.

Nach der systematischen Sichtung der drei Bände der KHM lassen sich für diese

Arbeit zwei sinnvolle inhaltliche Gruppen bilden: Erstens Märchen, die (minimal)

kontraintuitive (religiöse) Elemente enthalten (MK und MehrK) und zweitens

Märchen, die keine übernatürlichen oder kontraintuitiven Elemente enthalten,

sondern nur realistisch, bizarr oder ungewöhnlich sind (NK). Die erste Kategorie ist

mit 177 Märchen deutlich stärker vertreten als die zweite mit 34. Es ist anzunehmen,

dass das konzeptuelle Optimum minimal kontraintuitiver Elemente der KHM zu

einer besseren Memorierung und somit erfolgreicheren Tradierung dieser kulturellen

Repräsentationen führt.

3 HYPOTHESEN UND FORSCHUNGSFRAGE

Die Popularisation kultureller Repräsentationen kann laut Dan Sperber mit dem

Muster verglichen werden, das sich auch bei der Verbreitung von Krankheiten

abzeichnet. Er spricht folglich von einer „epidemiology of representations―51. Man

kann feststellen, dass sich einige Repräsentationen nur auf das Individuum

beschränken, andere verbreiten sich hingegen epidemisch in kaum veränderter Form.

Es ist also möglich herzuleiten, welche Kriterien nötig sind um eine solche

Verbreitung zu erreichen. Vermutlich sind vor allem ökonomische Gesichtspunkte

wichtige Faktoren. Für die mündliche Weitergabe von Geschichten gilt daher: „all

cultural representations are easily remembered ones; hard to remember

representations are forgotten or transformed into more easily remembered ones,

before reaching a level of cultural distribution.‖52 Barrett und Nyhof formulieren

einen ähnlichen Gedanken: „All else being equal, a concept that is easily

51 Sperber (2002 a), S. 58. 52 Sperber (2002 a), S. 69.

Hypothesen und Forschungsfrage 15

remembered, with rich conceptual structure grounding it, will be transmitted more

successfully and thus be more common than concepts that are difficult to remember

or represent.‖53 In Kapitel 2.2 wurde bereits erwähnt, dass minimal kontraintuitive

(religiöse) Konzepte leichter memoriert werden, als schlicht ungewöhnliche oder

bizarre. Doch wie kann man diese beiden Formen unterscheiden?

Die Psychologen Scott Atran, Ara Norenzayan, Jason Faulkner und Mark Schaller, die

sich in ihrer Studie „Memory and Mystery. The Cultural Selection of Minimally

Counterintuitive Narratives―54 ebenfalls mit der Verbreitung von Märchen

beschäftigen, unterscheiden ungewöhnliche von religiösen Elementen mit Hilfe von

zwei Beobachtungen. Kontraintuitive Elemente verletzen zwar die ontologischen

Vorannahmen55 des Lesers, stören aber darüber hinaus die Handlung der Geschichte

nicht. Ungewöhnliche Elemente durchbrechen hingegen den roten Handlungsfaden,

obwohl sie den intuitiven Kategorien entsprechen. Davon müsste auch abhängig sein,

ob sich die Menschen an die Geschichten erinnern können oder nicht.56 Man kann

also davon ausgehen, dass erfolgreiche kulturelle Repräsentationen diejenigen sind,

die leicht vermittelt und memoriert werden können. Ein besonderes Merkmal leicht

zu memorierender Phänomene ist die minimale Kontraintuition.57 Menschen fällt es

dagegen schwerer sich an ungewöhnliche oder bizarre Elemente zu erinnern.

Die KHM sind sicherlich erfolgreiche, kulturelle Repräsentationen, da sie

ursprünglich aus der oralen Tradition des einfachen, häufig illiteraten Volkes

stammen und bis heute weit verbreitet sind.58 Daher ist es wahrscheinlich, dass das

Prinzip der Kontraintuition in Volksmärchen und somit auch in den KHM vielfach zu

finden ist. Es stellt sich nun die Frage, ob sich Verletzungen der Intuitive-

Knowledge-Domains auf die Tradierung der KHM ausgewirkt haben.

Sind die Kinder- und Hausmärchen, die religiöse Elemente beinhalten,

bekannter als solche mit realistischem, bizarrem oder schlicht ungewöhn-

lichem Inhalt?

53 Barrett, Justin L./Nyhof, Melanie (2001) – Spreading Non-natural Concepts. The Role of Intuitive

Conceptual Structures in Memory and Transmission of Cultural Materials, S. 70. 54 Atran, Scott [et. al] – Memory and Mystery. The Cultural Selection of Minimally Counterintuitive

Narratives. Cognitive Science 30 (2006), 531–553. 55 Vgl. Kap. 2.1. 56 Atran (2006). 57 Vgl. u. A. die Studien: Atran et al. (2006), Barrett und Nyhof (2001), Bartlett (1932), Boyer und Ramble (2001), Bulbulia (2004), Keleman (2004), Rosset (2008), Upal (2004). 58 Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, S. 82.

Datenerhebung und -analyse 16

Scott Atran dehnt diese Frage aus. Er prüft, ob das Minimalitätsprinzip nicht nur bei

der Kontraintuition wirkt, sondern auch bei der Anzahl der einzelnen Elemente. Je

seltener eine Domainverletzung in einer Geschichte auftritt, desto besser müsste sie

also tradiert worden sein.59 Er kommt zu dem Ergebnis, dass ―cultural success of a

folktale—defined by its popularity—was predicted by the number of counterintuitive

elements. Success was not predicted by the number of intuitive but bizarre

elements.‖60 Dieses Ergebnis soll über die oben genannte Forschungsfrage hinaus

überprüft werden.

Besteht ein genereller Zusammenhang zwischen der Anzahl der kontra-

intuitiven Elemente und der Popularität des jeweiligen Märchens?

Zur Klärung der Forschungsfragen wird eine statistische Datenerhebung

durchgeführt, präsentiert und abschließend interpretiert.

4 DATENERHEBUNG UND -ANALYSE

4.1 Vorgehensweise

Zwei Datensorten stehen für die Bearbeitung zu Verfügung. Erstens eine Analyse der

Märchen auf Grundlage der Abbildung 1: Intuitive-Knowledge-Domain Violation.

Zweitens eine Umfrage zur Bekanntheit der Märchen der Gebrüder Grimm mit

einhundert Studenten. Beide Datensätze werden ihrem Niveau entsprechend

statistisch ausgewertet. Abschließend werden die Daten in Beziehung gesetzt und

interpretiert. Durch die Thematik ergeben sich mehrere konfundierende Variablen,

die aus der Analyse ausgeschlossen werden müssen. Diese sind insbesondere

Verfilmungen, Mundartmärchen, Zielgruppenorientierung und christliche Figuren.61

4.2 Märchenanalyse

In Hinblick auf die Forschungsfrage war es zunächst erforderlich ein Verzeichnis der

„Kinder- und Hausmärchen― der Brüder Grimm zu erstellen. Es wurden alle Märchen

der sechsten Auflage aufgenommen. Anschließend wurden sie einzeln in Barretts

Tabelle der Intuitive-Knowledge-Domains (siehe Seite 9) eingegliedert. Der

Interpretationsspielraum für die Zuordnung der einzelnen Domains hat, wie schon

im Kapitel 2.1 dargestellt, keinen Einfluss auf den Status minimal kontraintuitiv.

59 Atran (2006), S. 535. 60 Atran (2006), S. 548. 61 Für eine detailierte Beschreibung und Bewertung siehe Kap. 6.1 Störvariablen.

Datenerhebung und -analyse 17

In den Spalten fünf und sechs der Abbildung 2 werden Figuren aufgeführt, die mit

hoher Wahrscheinlichkeit mehrfache Domainverletzungen enthalten. Unter

Anthropomorphismen sind Tiere, Pflanzen, Gegenstände und Artefakte gefasst, die

nicht nur einen einzelnen Aspekt einer Domain verletzen, sondern sich in jeder

Hinsicht menschlich gebärden. Ein Beispiel hierfür ist KHM 2 „Katz und Maus in

Gesellschaft―, in dem eine Katze und eine Maus gemeinsam einen Haushalt führen.

Sie sprechen also nicht nur, sondern haben auch diverse andere menschliche

Fähigkeiten. Sie sind also streng genommen nicht minimal kontraintuitiv. Das

Gleiche trifft auch auf christliche Figuren zu. Obwohl die meisten klassischen

christlichen Figuren (Gott, Maria, Heilige, Engel, Teufel) nicht direkt als

kontraintuitive Akteure identifizierbar sind, ist es unmöglich zu sagen welche

impliziten Vorstellungen beim Empfänger mitschwingen. Da in dieser Arbeit

zwischen minimal kontraintuitiv und mehrfach kontraintuitiv unterschieden wird,

werden sowohl Anthropomorphismen als auch christliche Figuren gesondert

aufgeführt. Die für die Analyse erweiterte Kontraintuitionstabelle setzt sich also wie

folgt zusammen:

Folk-

Biology Folk-

Psychology Folk-

Mechanics Anthropo-

morphismen Christliche

Figuren

Person PB PP PM X Gott, Maria,

Heilige, Engel, Teufel

Tier TB TP TM AnthT X

Pflanze PfB PfP PfM AnthPf X

Artefakt AB AP AM AnthA X

Gegenstand GB GP GM AnthG Himmel,

Hölle

Abbildung 2: Angepasste Kontraintuitionstabelle62

62 In den einzelnen Feldern der Tabelle stehen die in der Auswertungstabelle verwendeten

Abkürzungen für die jeweilige Domainverletzung (siehe Daten-CD im Anhang).

Ergebnisse 18

Nach der Einteilung wurden minimal kontraintuitive und nicht-kontraintuitive

Märchen getrennt ausgewertet, um sie anschließend untereinander vergleichen zu

können.

4.3 Umfrage zur Märchenpopularität

Um eine möglichst homogene Population zu erhalten und alters- oder statusbedingte

Unterschiede zu minimieren, wurden ausschließlich deutsche Studenten im Alter

zwischen 20 und 26 Jahren befragt. Die Zufallsstichprobe bestand aus 100 Personen,

die im Zeitraum von einem Monat an verschiedenen Orten63 befragt wurden.

Die Befragten erhielten eine Liste aller Märchen der Gebrüder Grimm und wurden

angewiesen diejenigen zu markieren, die ihnen bekannt sind. Es wurde Wert darauf

gelegt, dass nicht nur der Titel der Märchen sondern auch die Inhalte bekannt sind.

Dies wurde mit kontextuellen Fragen64 überprüft. Umgekehrt wurde versucht durch

die kurze Darstellung von Kernaussagen und Protagonisten auch jene Märchen zu

erfassen, deren Inhalt noch bekannt, der Titel jedoch vergessen worden war.

Teilweise halfen auch die Probanden beim Ausschluss dieses Fehlers, indem sie

unaufgefordert nachfragten65. Jedes einzelne Märchen konnte pro Person nur einmal

genannt werden, daher liegt der Maximalwert der Markierungen bei 100.

5 ERGEBNISSE

Die Darstellung der Ergebnisse orientiert sich an den für die Forschungsfrage

wesentlichen Punkten. Verfilmte Märchen, sowie diejenigen, die als Hörbücher oder

Hörspiele zu Kaufen sind, entfallen. Außerdem gibt es in 54 Märchen insgesamt 116

christliche Domainverletzungen. Aus den in den Kapiteln 4.2 und 6.1.4 dargestellten

Gründen wurden auch diese aus dem Datensatz entfernt. MK und NK wurden in der

Analyse konsequent getrennt. Darüber hinaus wurden Informationen über die Arten

der Domainverletzungen und mögliche Auswirkungen auf ihre Bekanntheit

gesammelt.

63 Orte: der Campus der Universität Bayreuth, die Räume der Universität Ulm, in der Einkaufsstraße

in Bayreuth und in diversen Cafés und Bars. 64 Beispielsweise: „Wer ist der Protagonist der Geschichte?― oder „Was ist in diesem Märchen

zentral?―. 65 Beispielsweise: „‗Die Gänsemagd‗ ist doch das Märchen, in dem der Pferdekopf über dem Tor hängt

und mit der Magd spricht?―.

Ergebnisse 19

5.1 Märchenanalyse

Im Folgenden sollen die Ergebnisse der Märchenanalyse dargestellt werden.

Zunächst soll das Augenmerk auf die Verteilung der Domainverletzungen und die

Problematiken der Einteilungen gelegt werden. Die oben vorgestellte

Kontraintuitionstabelle soll zur Visualisierung der Daten dienen. Anschließend wird

auf die besonderen Merkmale der beiden Kategorien eingegangen, um ihre

Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu verdeutlichen.

Folk-Biology Folk-Psychology Folk-Mechanics

Person 95 18 22

Tier 22 35 14

Pflanze 10 2 2

Artefakt 8 7 34

Gegenstand 6 4 6

Abbildung 3: Domainverletzungen aller Märchen

Die mit 95 Verletzungen am häufigsten vorkommende Domainverletzung ist die

Kategorie PB also die der Verwandlungen, Metamorphosen und der meisten

Zauberer und Hexen. Die Domainverletzung im Bereich PB soll stellvertretend näher

betrachtet werden, um den Interpretationsansatz der Märchenanalyse zu illustrieren.

Im Falle der Zauberer und Hexen handelt es sich bei einer Verletzung der Kategorie

PB meistens um Autometamorphosen. Nicht immer kann schon am Anfang der

Geschichte getrennt werden, ob es sich um ein anthropomorphes Tier oder um einen

verwunschenen Menschen handelt.66 Im Falle einer Verwünschung behält der

Verwandelte ganz natürlich seine menschlichen Eigenschaften und verliert im

Allgemeinen nicht die Fähigkeit zu sprechen und mit dem Protagonisten zu

interagieren.

66 Illustriert am Beispiel des „Froschkönigs― in Kap. 2.2.

Ergebnisse 20

Die wechselseitige Interaktion mit den Protagonisten ist der markante Unterschied

zwischen anthropomorphisierten Tieren bzw. verwunschenen Menschen und

sprechenden Tieren, die nur einzelne Sätze – im allgemeinen Reime oder Verse –

artikulieren können.67 Andererseits wird in den Märchen, die keine Kontraintuition

enthalten mit dem Umgang mit sprechenden bzw. intentionalen Tieren oder

Gegenständen gespielt. In KHM 59 wird beispielsweise von einer Frau berichtet, der

ein Käse den Berg hinab rollt und die, statt selbst hinterher zu gehen, den zweiten

Käse schickt, mit der Bitte, er möge seinem Kollegen am Fuß des Berges sagen, er

solle wieder heraufsteigen. Nachdem beide Käse nicht wieder auftauchen, ist die Frau

äußerst überrascht und ärgert sich über deren Unzuverlässigkeit.68 Der übliche

Umgang mit unnatürlichen intentionalen Akteuren in Märchen wird hier ironisch

dargestellt und darf belächelt werden.

Der Schwerpunkt der Märchenanalyse liegt auf der sinnvollen Aufteilung der

einzelnen Domainverletzungen, damit eine gewisse Vergleichbarkeit gewährleistet

ist. Es wurden mehrfache Domainverletzungen, sowie minimal kontraintuitive

Elemente von bizarren, nicht kontraintuitiven Elementen unterschieden.

5.2 Umfrage zum Thema Märchenpopularität

Bei der Auswertung der Umfrage war – im Hinblick auf die Forschungsfrage – vor

allem von Interesse, inwiefern sich die Nennungen der MK Märchen von den NK

Märchen unterscheidet. Trotzdem werden der Vollständigkeit halber auch diejenigen

Märchen in Abbildung 4 dargestellt, die später bei der Interpretation entfallen sollen.

Im Folgenden werden Arithmetisches Mittel, Median und einige weitere

grundlegende Ergebnisse der Umfrage in tabellarischer Form dargelegt.

Arithmetisches

Mittel Median Max. Min.

1. Quartil

3. Quartil

Gesamt

MK 14,0 3,5 97 0 1 11 176

NK 7,6 1 89 0 0,25 3 34

Gesamt 12,9 3 97 0 1 10 210

Abbildung 4: Lageparameter der Umfragedaten

67 Ein Bekanntes Beispiel wären die Tauben aus Aschenputtel (KHM 21) mit ihrem Satz:

„rucke di guck, rucke di guck, Blut ist im Schuck (Schuh): Der Schuck ist zu klein, die rechte Braut sitzt noch daheim.―.

68 KHM 59 „Der Frieder und das Katherlieschen―.

Ergebnisse 21

Bemerkenswert ist, dass das Maximum der Nennungen bei 100 Befragten nur 97

ergab. Das meistgenannte Märchen war Aschenputtel69. Außerdem wurden mehr als

dreiviertel der Märchen weniger als dreizehnmal genannt. Die große Differenz

zwischen Median und dem arithmetischen Mittel – vor allem in Zeile zwei (NK) –

deutet auf statistische Ausreißer oder eine Schiefe der Verteilung hin.

Zur Visualisierung sollen grafische Darstellungen, getrennt nach den Zeilen der

Abbildung 4: Lageparameter der Umfragedaten

, dienen. Auf den x-Achsen wurden die einzelnen Märchen nach Anzahl der

Markierungen sortiert, beginnend bei 0 bis 97. Auf den y-Achsen sind zur

Orientierung die Anzahlen der Nennungen eingetragen. Die grafische Darstellung des

Arithmetischen Mittels liegt parallel zu x-Achse.

Abbildung 5: Märchennennungen gesamt. Die senkrechten Striche gliedern die Märchenverteilung in Viertel.

Die Verteilung der MK ohne die MehrK70 Märchen weicht kaum von der

Gesamtverteilung ab:

69 KHM 21. 70 Mehrfach kontraintuitiv sind Märchen, die anthropomorphisierte oder christliche Elemente

enthalten (vgl. Kap.4.2).

Arithmetisches Mittel

Ergebnisse 22

Abbildung 6: Märchennennungen MK. Die senkrechten Striche gliedern die Märchenverteilung in Viertel.

Betrachtet man jedoch die Verteilung der NK ist ersichtlich, dass es drei Ausreißer

gibt, die die Differenz zwischen Median und Durchschnitt erklären. Bei den

Ausreißern handelt es sich um „König Drosselbart―, „Hans im Glück― und „die sieben

Schwaben―.71

71 KHM 52, 83 und 119.

Arithmetisches Mittel

Ergebnisse 23

Abbildung 7: Märchennennungen NK. Die senkrechten Striche gliedern die Märchenverteilung in Viertel.

Es besteht eine hohe statistische Korrelation zwischen der Anzahl der Verfilmungen

und dem Bekanntheitsgrad der Märchen. Diese ist in Abb. 8 dargestellt. Daher

werden die verfilmten Märchen bei der weiteren Analyse nicht berücksichtigt.

Abbildung 8: Regressionsgerade Anzahl der Verfilmungen/Nennungen

Arithmetisches Mittel

Ergebnisse 24

Aus der untenstehenden Grafik ist ersichtlich, dass die Zahl der Ausreißer deutlich

abgenommen hat. Das arithmetische Mittel liegt nun unterhalb des 3. Quartils.

Abbildung 9: Märchennennungen der nicht-verfilmten Märchen. Die senkrechten Striche gliedern die Märchenverteilung in Viertel.

Da es kaum möglich ist die Bekanntheit jedes einzelnen Märchens der Gruppen MK

und NK zu vergleichen, bietet sich an, den Vergleich der Zahlenwerte in mehreren

Kategorien durchzuführen. Dies geschieht hier in den Abstufungen von sehr bekannt

bis unbekannt. Zur Übersicht folgt erneut die Darstellung der Anzahl der Nennungen

aller Kinder- und Hausmärchen.

Sehr Bekannt (> 8072)

Bekannt

(80-61)

Mittelmäßig Bekannt (60-41)

Wenig Bekannt (40-21)

Unbekannt

(< 21)

Gesamt

(Märchen)

MK 13 4 3 10 145 175

Anteil 0,07 0,02 0,02 0,06 0,83 1

NK 1 1 0 1 32 35

Anteil 0,03 0,03 0 0,03 0,91 1

Gesamt 14 5 3 11 177 210

Abbildung 10: Abstufung der Bekanntheit (Anteile gerundet)

72 Nennungen

Arithmetisches Mittel

Ergebnisse 25

Welchen großen Einfluss die Verfilmungen auf die Märchenpopularität haben, wird

zweifach erneut deutlich. Erstens hat die Entfernung der anderen konfundierenden

Störfaktoren kaum eine Wirkung auf die Verteilung.74 Zweitens wäre das bekannteste

Märchen nun nur noch wenig bekannt. Nur ein Drittel der Befragten kannte das

Märchen „vom klugen Schneiderlein―75. Zur Verbesserung der Anschaulichkeit wurde

eine feinere Einteilung der Spalten vorgenommen.

Abbildung 11: Feinabstufung der Bekanntheit ohne Störfaktoren (Anteile gerundet)

Es ist ersichtlich, dass die MK – absolut gesehen – häufiger genannt wurden als die

NK. Außerdem kann man der Abbildung 12 entnehmen, dass die Verteilung der

Bekanntheit der Märchen linksschief ist. Selbst bei einer sehr feinen Abstufung der

Bekanntheit (7 pro Kategorie) ist ein Anteil von etwa 0,9 der NK unbekannt. Der

Anteil der unbekannten MK liegt dagegen bei etwa 0,7. Nicht nur ein Vergleich der

einzelnen Zahlen ist möglich. Mit Hilfe des Mann-Whitney-Rank-Sum-Test konnte

ein statistisch signifikanter Mittelwertunterschied (T = 1615,5; p < 0,05) der

Bekanntheit von kontra- und nicht-kontraintuitiven Märchen festgestellt werden.

Für die Beantwortung der Frage, ob die Anzahl (a) der kontraintuitiven Elemente für

den Bekanntheitsgrad (b) eine Rolle spielt, wurde die Korrelation zwischen der

Anzahl der Domainverletzungen pro Märchen und der Anzahl der Nennungen

ermittelt. Der Rangkorrelationskoeffizient nach Spearman liegt bei ρa,b = 0,11 (p =

0,36). Dieses Ergebnis ist nicht signifikant, es scheint also keinen Zusammenhang zu

geben. Es gilt also nicht(!): je mehr Domainverletzungen desto bekannter ist das

Märchen.

73 Nennungen 74 Vgl. Abbildung 6: Märchennennungen MK. 75 KHM 114. Nicht zu verwechseln mit „das tapfere Schneiderlein― (KHM 20).

Sehr

Bekannt (> 2873)

Bekannt

(28-21)

Mittelmäßig Bekannt (20-14)

Wenig Bekannt

(13-7)

Unbekannt

(< 7)

Gesamt

(Märchen) Median

MK 1 2 4 10 50 67 2

Anteil 0,01 0,03 0,06 0,15 0,75 1 -

NK 0 0 0 2 26 28 1

Anteil 0 0 0 0,07 0,93 1 -

Ergebnisse 26

Auch die Häufigkeit der Domainverletzungen ist zu untersuchen. Mit Häufigkeit ist

hier gemeint, wie oft eine bestimmte Anzahl an Domainverletzungen auftritt. Ein

Beispiel soll diese Definition illustrieren: In dem Märchen „Jorinde und Joringel―76

wird einmal die Domain PB, zweimal die Domain PM und einmal die Domain PfP

verletzt. Die Anzahl der Domainverletzungen beträgt also 1 + 2 + 1 = 4. Außer

„Jorinde und Joringel― gibt es noch 24 weitere Märchen mit der Anzahl 4. Die

Häufigkeit der Domainverletzungen beträgt also 25. Mit Hilfe dieser Unterscheidung

kann man nun leicht die Anzahl der Domainverletzungen der Bekanntheit der

Märchen gegenüberstellen. Es folgt eine Grafik zur Veranschaulichung.

Abbildung 12: Vergleich der mittleren Bekanntheit mit der Anzahl der Domainverletzungen

Die Anzahl der minimalen Domainverletzungen korreliert negativ mit der Häufigkeit

der Verletzungen (Rangkorrelation nach Spearman; nur MK: ρa,h = -0,93; p < 0,05;

MK und NK: ρa,h = -0,95; p < 0,05). Es ist außerdem ersichtlich, dass die Popularität

der Märchen vor allem im Bereich der hohen Anzahlen (> 5) der Domainverletzungen

groß ist. Der Unterschied der arithmetischen Mittel der Anzahlen 6,7,9 mit den

restlichen Anzahlen ist signifikant (zweiseitiger T-Test; SD = 5,76; t [93] = -3; p <

76 KHM 69.

Diskussion 27

0,01). Vergleicht man allerdings die Mittelwerte ohne NK erhält man kein

signifikantes Ergebnis mehr (SD = 7,31; t [65] = -1,53; p = 0,13).

6 DISKUSSION

Im Folgenden werden die zuvor geschilderten Ergebnisse hinsichtlich ihrer

Aussagekraft bewertet und im Bezug auf die Arbeitshypothesen interpretiert.

Zunächst sollen die Variablen dargestellt werden, die unter Umständen einen

konfundierenden Effekt haben.

6.1 Störvariablen

Durch die geschilderte Vorgehensweise ergeben sich einige Störvariablen, die bei der

Auswertung berücksichtigt werden müssen. Es ist wahrscheinlich, dass einige

Märchen häufiger gesehen und gehört wurden als andere. Wiederholung ist – wie in

Punkt 2.3 geschildert – ein einflussreicherer Faktor als Minimalkontraintuition.

6.1.1 Verfilmungen und Hörbücher

Viele der allgemein bekannten Märchen wurden verfilmt, einige sogar mehrfach.77 Es

kann davon ausgegangen werden, dass diesen Märchen wesentlich häufiger

Aufmerksamkeit geschenkt wird als anderen. Auch Querverweise oder satirische

Betrachtungen anderer Filmgenres tragen zur Bekanntheit einzelner Märchen bei.

Leider sind „eventuell vorhandene Interferenzen einer verschriftlichten

Märchenkultur (z.B. Lesebuch, Kinderfunk, Film)―78 wenig erforscht. Daher kann bei

verfilmten Märchen keine klare Aussage über den Einfluss der Kontraintuition

gemacht werden. Ein ähnliches Problem stellt sich bei Hörbüchern und Hörspielen,

denn das wiederholte Hören von Märchenkassetten oder -CDs verursacht

üblicherweise eine permanente Speicherung im Langzeitgedächtnis.79 Diese Märchen

wurden bei der Diskussion der Ergebnisse nicht berücksichtigt.

77 Sechs der 34 NK (Anteil ca. 0,17) und 54 der 176 MK (Anteil ca. 0,30) wurden mindestens einmal

verfilmt. 78 Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, S. 82. 79 Siehe Kap. 2.3.

Diskussion 28

6.1.2 Mundartmärchen

Die Gebrüder Grimm erfassten auch einen kleinen Teil ihrer Sammlung in

Mundart.80 Leser, die des entsprechenden Dialekts nicht mächtig sind, können den

Inhalt nicht ohne Weiteres verstehen. Analog gilt das auch für die Verwendung

mundartlicher Märchen als Hörbücher. Verständnisschwierigkeiten könnten ursäch-

lich für die geringe Popularität der mundartlichen Märchen sein. Eine Ausnahme

bildet „von dem Fischer un syner Fru―81 mit 49 Nennungen. Da es viermal verfilmt

wurde, ist anzunehmen, dass dies zu seiner Popularität wesentlich beiträgt.

6.1.3 Zielgruppenorientierung

Auch die Zielgruppenorientierung ist ein möglicher Störfaktor bei der Auswertung

der Ergebnisse. Die Märchen der Brüder Grimm gibt es nicht ausschließlich in der

vollständigen Ausgabe. Man muss davon ausgehen, dass für die Auswahl der

Märchen in den gekürzten Bänden die Zielgruppe eine entscheidende Rolle spielt.

Das bedeutet, es wurden zum Beispiel Märchen ausgewählt, die sich auf Grund ihrer

Länge und ihrer Handlung besonders gut als „Gutenachtgeschichten― eignen. Wenn

ein Märchen das Potenzial hat ohne Sinnverfälschung verkürzt zu werden, ist es

möglich, dass dieses Märchen häufiger rezipiert wird. Gleiches gilt für eine

kindgerechte Illustration. Ein großer Teil der nicht-kontraintuitiven Märchen sind

ironische Erzählungen82, die Kinder im Vorlesealter kaum verstehen können.

Vermutlich wurden sie aus diesem Grund seltener verlegt als jene, die eine für Kinder

zugänglichere Geschichte erzählen.

6.1.4 Christliche Figuren und Anthropomorphismen

Christliche Figuren werden in Märchen häufig nicht als (minimal) kontraintuitive

Figuren dargestellt; dennoch schwingen implizit oftmals christliche Vorstellungen

mit, die durchaus kontraintuitive Elemente enthalten können. Diese Vorstellungen

sind weder einheitlich noch fassbar und treten in den seltensten Fällen gesondert auf,

so dass die entsprechenden Märchen ganz aus der Analyse entfallen müssen. Die

80 NK: KHM 139, 143 (entspricht 5,8% der NK).

MK: KHM 19, 47, 66, 68, 82, 91, 96, 113, 126, 137, 138, 165, 167, 196 (entspricht 7,9% der MK). 81 KHM 19. 82 Geschichten von Menschen die alles wörtlich nehmen oder kurios agieren vgl. KHM 34, 59, 77, 83,

84, 104, 119, 131, 155, 161, 164.

Diskussion 29

nicht bewerteten Kategorien waren sowohl christliche Figuren83 als auch Anthropo-

morphismen84. Durch die konsequente Trennung dieser unterschiedlichen Verletz-

ungen soll gewährleistet sein, dass ausschließlich minimal kontraintuitive Märchen

bewertet werden.

6.1.5 Systematische Fehler

Vor allem das Markieren der Märchen ist eine mögliche Fehlerquelle. Es ist denkbar,

dass Markierungen in die falsche Spalte gemacht, vergessen oder mehrfach

ausgeführt wurden. Außerdem könnten einzelne Märchen überlesen worden sein.

Diese systematischen Fehler sind bei einer Umfrage auf Papier nie ganz

auszuschließen. Wäre die Untersuchung computergestützt durchgeführt worden

könnten diese beschriebenen systematischen Fehler ausgeschlossen werden. Hierfür

standen jedoch keine Mittel zur Verfügung. Der konfundierende Effekt dieser Fehler

fällt bei einer Umfrage mit ausreichend hoher Teilnehmerzahl nicht ins Gewicht.

6.1.6 Zufallsfehler

Im Gegensatz zu systematischen Fehlern können Zufallsfehler grundsätzlich nicht

ausgeschlossen werden. Ein Beispiel für einen in den Daten dokumentierten

Zufallsfehler ist die Anzahl der Nennungen des Märchens „das eigensinnige Kind―85.

Zwei miteinander bekannte Befragte erzählten, dass sie zwei Wochen zuvor das

Märchen im Internet entdeckt hatten.

6.2 Vergleich mit den Ergebnissen der Studie „Memory and Mystery“

Die in Kapitel 3 beschriebene Fragestellung der Studie „Memory and Mystery―, ähnelt

sehr stark dem Ansatz dieser Arbeit. Die Autoren stellen die Frage nach der

Auswirkung von minimal kontraintuitiven Elementen auf die Verbreitung der

Märchen der Gebrüder Grimm. Darüber hinaus vermuten sie, dass das

Minimalitätsprinzip sich auch auf die Anzahl der minimalen Domainverletzungen

auswirkt. Sie gehen also davon aus, dass nicht nur diejenigen Märchen besonders

weit verbreitet sind, die minimal kontraintuitive Elemente enthalten, sondern auch

83 Gott, Maria, Heilige, Engel und Teufel. 84 Damit sind Tiere, Pflanzen, Gegenstände und Artefakte gemeint, die nicht nur sprechen sondern in

jeder Art und Weise wie Menschen denken, sich verhalten und bewegen. Die Domainverletzungen erstrecken sich also über die Describer Folk-Psychology, Folk-Biology. Im Falle von anthropomorphisierten Gegenständen ist möglicherweise auch die Folk-Mechanics betroffen.

85 KHM 117.

Diskussion 30

diejenigen, die wenige minimale Domainverletzungen enthalten. Im folgenden

Abschnitt soll die Vorgehensweise dieser Studie und einzelne ihrer Ergebnisse

diskutiert werden, damit anschließend in Kapitel 6.3 ein Vergleich der Interpre-

tationen möglich ist.

Die Autoren der Studie „Memory and Mystery― führen keine Personenbefragung zur

Ermittlung der Bekanntheit einzelner Märchen durch. Stattdessen greifen sie auf die

Internetsuchmaschine „Google― zurück. Märchen mit vielen „Treffern― werden als

bekannt, Märchen mit wenigen „Treffern― als unbekannt eingestuft. Anschließend

werden aus beiden Gruppen je 21 Märchen zur weiteren Analyse zufällig ausgewählt.

Eine randomisierte Auswahl von jeweils 10 Märchen wird anschließend Probanden

vorgelegt, die nach dem Lesen der Geschichten einen Fragebogen zu Verständlichkeit

und Tradierungspotential ausfüllen. Die Märchenanalyse wird von zwei unab-

hängigen Bewertern durchgeführt, die mit den Hypothesen nicht vertraut sind. Sie

werden auf die Unterschiede zwischen Kontraintuition und Bizarre hingewiesen und

zählen beide Phänomene. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass Märchen mit

wenigen minimal kontraintuitiven Elementen besser tradiert werden als Geschichten

mit vielen minimalen Domainverletzungen, bizarre oder ungewöhnliche.

Es gibt mehrere Kritikpunkte bei dieser Vorgehensweise. Zunächst ist die Bewertung

der Bekanntheit der Märchen mit Hilfe der Suchmaschine „Google― problematisch.

Viele der Links (Treffer) führen zu kommerziellen Angeboten. Viele Plattformen

verkaufen beispielsweise die gleichen Bücher, was aber nicht zwingend für die

Bekanntheit des einzelnen Märchens spricht. Insgesamt ist davon auszugehen, dass

man mit „Google― zwar die bekanntesten Märchen finden kann, da diese in vielerlei

Form rezipiert werden (Filme, Bilder, Bücher, Theaterstücke…), man wird allerdings

nicht feststellen können ob wirklich minimale Kontraintuition für ihre Bekanntheit

verantwortlich ist.86 An einem praktischen Beispiel kann man erkennen, wie

fehleranfällig die Popularitätseinschätzung via „Google― ist. Das Märchen „Tischlein

deck dich, Goldesel und Knüppel aus dem Sack―87 ist mit 81 Nennungen eines der

bekanntesten Märchen. In der Studie „Memory and Mystery― wird es hingegen als

unbekannt gewertet. Andererseits wird das Märchen „Das singende springende

Löweneckerchen―88 als bekannt gewertet obwohl nur sechs der Befragten angeben

86 Vgl. Kap. 6.1.1 und 6.1.3. 87 KHM 36. 88 KHM 88.

Diskussion 31

seinen Inhalt zu kennen. Der Eindruck, dass durch die Unterschiede in der

Vorgehensweise unterschiedliche Ergebnisse erzielt werden, kann durch eine

Rangkorrelation nach Spearman bestätigt werden. Die Skalen der beiden Studien

korrelieren nicht (ρs = 0,19; p = 0,24). Allerdings besteht ein signifikanter

Mittelwertunterschied zwischen den Märchen die laut der Studie „Memory and

Mystery― bekannt sind und denen, die unbekannt sind (χ² = 6,1; p < 0,01). Es ist also

davon auszugehen, dass die Märchen, die von den Forschern der „Memory and

Mystery―-Studie als bekannt gewertet werden, im Mittel tatsächlich populärer sind

als die, die der Gruppe unbekannt. Desweiteren ist davon auszugehen, dass es einen

großen Einfluss auf die Antworten des Probanden hat, wenn er einige der Märchen,

die er vorgelegt bekommt bereits kennt. Zwar geben die Autoren an, dass es für die

Probanden die Möglichkeit gab anzukreuzen ob sie das Märchen bereits kennen, aber

er geht nicht darauf ein, wie er mit dieser Störvariable umgeht. Darüber hinaus ist zu

bezweifeln, dass die Probanden die Vermittelbarkeit und das Tradierungspotenzial

richtig einschätzen können. Letztendlich differieren die Vorgehensweisen beider

Studien sehr stark. Somit ist es nicht überraschend, dass auch die Ergebnisse nicht

identisch sind.

6.3 Interpretation der Ergebnisse

Für eine weiterführende Interpretation der Forschungsergebnisse soll der Begriff

Bekanntheit (Popularität) definiert werden. Es gilt: Je häufiger ein Märchen markiert

wurde, desto populärer ist es unter den befragten Studenten.89

Nicht nur der Vergleich der Häufigkeit der Nennungen, sondern auch die

Gegenüberstellung der Eigenschaften der Zahlenmengen NK und MK sprechen

dafür90, dass minimal kontraintuitive Märchen tatsächlich bekannter sind als

Märchen ohne kontraintuitive Elemente. Allerdings ist es nicht möglich anhand

dieser Korrelation auf Kausalzusammenhänge zu schließen. Es könnten auch andere

Faktoren, wie die in Kapitel 6.1 dargestellten konfundierenden Variablen ursächlich

sein oder zumindest einen großen Einfluss haben. Schließlich lässt auch die kleinere

Gesamtzahl (35 NK zu 175 MK) der NK einen geringeren Erfolg der NK bei der

Tradierung vermuten.

89 Vgl. Kap. 3. 90 Mit Hilfe der Überprüfung der Mittelwertkorrelation zwischen MK und NK, Vgl. Kap. 5.2.

Diskussion 32

Auch der zweite Teil der Arbeitshypothese wurde nicht widerlegt. Es besteht ein

positiver Zusammenhang zwischen der Anzahl der kontraintuitiven Elemente und

der Bekanntheit. Eine Geschichte, die häufiger genannt wurde, enthält also

tendenziell mehr minimale Domainverletzungen.91 Dieses Ergebnis ist überraschend,

wenn man sich die Überlegungen zum konzeptuellen Optimums erneut ins

Gedächtnis ruft.92 Die Ergebnisse der Studie „Memory and Mystery― lassen

vermuten, dass Geschichten, die vielfach gegen die Intuition verstoßen schlechter

memoriert werden als andere.93 Dieses Ergebnis konnte nicht bestätigt werden. Nicht

die minimale Anzahl an Domainverletzungen ist populärer, sondern eine hohe

Anzahl kontraintuitiver Elemente.94 Allerdings treten hohe Anzahlen kontraintuitiver

Elemente wesentlich seltender auf als niedrige Anzahlen.

Interpretiert man die dargestellten Ergebnisse, ist nicht nur ein Einfluss der

Minimalkontraintuition auf die Bekanntheit durchaus wahrscheinlich, sondern auch

eine gute Tradierung vielfach minimal kontraintuitiver Märchen. Die Häufigkeit der

Wiederholung im Kindesalter und die multimodale Vermittlung des Inhalts über

Bücher, Hörbücher und Filme scheint jedoch für den kulturellen Erfolg eines

Märchens eine bedeutendere Rolle zu spielen.95 Ein ähnliches Phänomen beeinflusst

möglicherweise auch religiöse Erzählungen und Religionen. Pascal Boyer geht nicht

auf mögliche Einflüsse von Einprägsamkeit durch griffige Namen, Schlichtheit der

Erzählungen oder narrative Traditionen der einzelnen Kulturen ein. Die Tageslänge

sowie der Tagesablauf und die Anzahl der durchschnittlichen Arbeitsstudien könnten

Auswirkungen auf die Länge und Gestaltung der Geschichten haben. Möchte man mit

Hilfe der kognitionswissenschaftlichen Religionstheorien, über die Entstehung der

Religionen hinaus, auch deren Entwicklung und die Ursache für die Durchsetzung

bestimmter Glaubensinhalte beschreiben, müssten auch diese Faktoren berück-

sichtigt werden. Andererseits können neue religiöse Bewegungen auf Medien wie

Film, Fernsehen und Internet zurückgreifen, was bei ihrer Verbreitung hilft und

91 Vgl. Kap. 5.2. 92 Vgl. Kap. 2.2. 93 Die höchste Popularität hatten nach Atran Märchen mit 2-3 MK. 94 Vgl. Kap. 5.2. 95 Vgl. hierzu den absoluten Bekanntheitsunterschied zwischen verfilmten und nichtverfilmten KHM

(Kap. 5.2).

Zusammenfassung und Ausblick 33

somit neue Möglichkeiten eröffnet Anhänger zu gewinnen. Ein eindrucksvolles

Beispiel für geschickte Vermarktung ist unter anderem Scientology.96

7 ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK

Märchen sind auf Grund ihrer kontraintuitiven Elemente ein Gegenstand der

Religionswissenschaft. Um zu überprüfen ob Märchen mit minimal kontraintuitiven

Elementen bekannter sind als solche mit realistischem, bizarrem oder

ungewöhnlichem Inhalt wurde einerseits eine Umfrage mit 100 Personen zum Thema

Märchenpopularität durchgeführt, andererseits eine Aufstellung der kontraintuitiven

Elemente in den Märchen der Gebrüder Grimm anhand der Intuitive-Knowledge-

Domains vorgenommen. Diese empirischen Daten wurden kategorisiert und ihre

Lageparameter ermittelt. Anschließend wurden nicht-kontraintuitive Märchen mit

kontraintuitiven verglichen und nach Ausschluss der angenommenen Störvariablen

mit ihrer durchschnittlichen Bekanntheit korreliert. Es stellte sich heraus, dass

minimal kontraintuitive Märchen mit einem Median von = 2 Nennungen pro

Märchen populärer waren als nicht-kontraintuitive mit einem Median von = 1.

Dieser Mittelwertunterschied ist signifikant. Es bestand dabei keine Korrelation

zwischen Bekanntheit und Zahl der Domänenverletzungen. Hinsichtlich der

Störfaktoren konnte eine hohe Korrelation zwischen Anzahl der Verfilmungen und

Bekanntheit der Märchen festgestellt werden.

Im Hinblick auf die Theorie des konzeptuellen Optimums könnten die vorliegenden

Daten Rückschlüsse zulassen. Einerseits ist Wiederholung im Sinne von häufiger

Erzählung ein wichtigerer Faktor als Kontraintuition. Andererseits spielen

Domainverletzungen bei der Einprägsamkeit durchaus eine Rolle, jedoch nicht, in

Abhängigkeit davon wie oft sie in einem einzelnen Märchen auftreten. Dies ist ein

Hinweis darauf, dass zu häufige Domänenverletzungen kein konzeptuelles Optimum

darstellen. Aber auch die Hypothese der „Memory and Mystery―-Studie, dass

Märchen eine Anzahl von 2-3 MK am besten tradiert werden, konnte nicht bestätigt

werden. Wie sich die Anzahl der MK auf die Erinnerung auswirkt müssten

weiterführende Studien zeigen.

Die vorliegende Arbeit ließe sich auch als Grundlage für weitere Forschungen nutzen.

Um konkretere und aussagekräftigere Ergebnisse zu erhalten wäre es möglich auf der

96 Knoblauch, Hubert Alfons (1999): Religionssoziologie, S. 6.

Zusammenfassung und Ausblick 34

Umfrageebene nur die Popularität der nicht-konfundierten Märchen zu erfragen. Auf

der Ebene der Märchenanalyse könnte eine detailierte Aufschlüsselung der

Domänenverletzungen ebenfalls weiterführende Erkenntnisse liefern. Wenn man mit

Hilfe weiterführender Forschungen Richtwerte entwickeln könnte, welche Arten und

Anzahlen von Domainverletzungen kulturell besonders erfolgreich sind, könnte man

nicht nur Rückschlüsse bezüglich der Popularitätsentwicklung aktueller Texte ziehen.

Man könnte auch historische, religiöse Dokumente analysieren und einschätzen, ob

bestimmte Texte in ihrer Entstehungszeit populär waren oder aus anderen Gründen

aufgeschrieben wurden. Darüber hinaus hätte man möglicherweise Anhaltspunkte,

warum bestimmte religiöse Strömungen sich gegenüber anderen durchsetzen.

Die Kontraintuitionstheorie bietet die Möglichkeit zu einem tieferen Verständnis von

religiösen Ursprüngen und möglicherweise auch von Religionen in der heutigen Zeit.

Sie ist nicht nur innerhalb der Religionswissenschaft mannigfaltig einsetzbar,

sondern auch interdisziplinär und themenübergreifend.

Literaturverzeichnis 35

8 LITERATURVERZEICHNIS

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(letzter Besuch 11.03.2010).