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HEINZ SCHILLING Alteuropäischer Stadtrepublikanismus in Magdeburger Perspektive * Es wird gegenwärtig viel über europäische Werte, europäische Identität, europä- ische Politikkultur oder auch über westliche Werte etc. diskutiert. Sofern dabei, was jedenfalls in Deutschland äußerst selten vorkommt – abgesehen vom Kul- turhistorischen Museum Magdeburg und dem Deutschen Historischen Museum – einmal der Blick über 1800 zurückfällt, also die Geschichte Alteuropas mitbe- dacht wird, dann pflegen die Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts, Soziologen oder Politologen gerne vom Fürstenzeitalter, Feudalismus oder Absolutismus als Europa bestimmendes System zu sprechen. Ähnlich verhält es sich mit den Lern- curricula der Schulen und natürlich auch und vor allem in dem Geschichtsbild, das Guido Knopp im Fernsehen den Deutschen verordnet hat, das in der älteren Zeit ganz und gar von „gekrönten Häuptern“ beherrscht wird oder solchen, die wie Wallenstein nach Fürstenmacht streben – mit der einzigen Ausnahme des fast wieder als Nationalheld daherkommenden Wittenberger Reformators. So wun- dert es dann nicht, dass bei einem solchen Kenntnisstand der älteren deutschen Geschichte „der Weg nach Westen“ lang erscheint und antimonarchisches Den- ken und Handeln erst mit der Französischen Revolution oder in Deutschland gar erst mit der Arbeiterbewegung ins Spiel gebracht wird. Tröstlich an dieser Sicht der Dinge ist, dass sie auf falschen Voraussetzungen beruht. Denn Europa war nie einheitlich monarchisch-fürstlich oder im skizzier- ten Sinne „feudal“ organisiert. Es gab immer eine republikanische Tradition, und zwar auch im Zeitalter des Absolutismus. Wer hat denn im späten 16. Jahrhundert die spanische Hegemonie gebrochen, wer die Eroberungswut des französischen Roi Soleil an einer genial aufgestauten Wasserfront gebremst? – die Republik der nördlichen Niederlande, die über ein Jahrhundert lang von ihren royalen Nach- barn bewundert wurde und deren Wirtschaftserfolge man eifrigst kopierte. Wenn Ludwig XIV. die Kaufmannsrepublik im Latonabrunnen im Parterre seines Ver- sailler Schlossparks als quakende, nichtswürdige Frösche verspotten ließ, so hatte diese propagandistische Repräsentationsgeste zwar insofern Erfolg, als die touris- tische Nachwelt ihm heute noch den damit bekundeten Überlegenheitsanspruch abnimmt. Realgeschichtlich kaschierte dieser Gestus aber nur Hilflosigkeit und Wut – nämlich die Wut über die nicht zu überwindende historische Realität re- * Im Folgenden kommt der Text meines Vortrag zum Neujahrstreffen des Fördervereins der Magdeburger Museen und des Kulturhistorischen Museums am 21. Januar 2009 im Kaiser-Otto-Saal des Kulturhistorischen Museums zum Abdruck, der während der Rede improvisierend gekürzt oder leicht modifiziert vorgetragen wurde. 1.KORREKTUR

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Heinz ScHilling

Alteuropäischer Stadtrepublikanismus in Magdeburger Perspektive*

Es wird gegenwärtig viel über europäische Werte, europäische Identität, europä-ische Politikkultur oder auch über westliche Werte etc. diskutiert. Sofern dabei, was jedenfalls in Deutschland äußerst selten vorkommt – abgesehen vom Kul-turhistorischen Museum Magdeburg und dem Deutschen Historischen Museum – einmal der Blick über 1800 zurückfällt, also die Geschichte Alteuropas mitbe-dacht wird, dann pflegen die Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts, Soziologen oder Politologen gerne vom Fürstenzeitalter, Feudalismus oder Absolutismus als Europa bestimmendes System zu sprechen. Ähnlich verhält es sich mit den Lern-curricula der Schulen und natürlich auch und vor allem in dem Geschichtsbild, das Guido Knopp im Fernsehen den Deutschen verordnet hat, das in der älteren Zeit ganz und gar von „gekrönten Häuptern“ beherrscht wird oder solchen, die wie Wallenstein nach Fürstenmacht streben – mit der einzigen Ausnahme des fast wieder als Nationalheld daherkommenden Wittenberger Reformators. So wun-dert es dann nicht, dass bei einem solchen Kenntnisstand der älteren deutschen Geschichte „der Weg nach Westen“ lang erscheint und antimonarchisches Den-ken und Handeln erst mit der Französischen Revolution oder in Deutschland gar erst mit der Arbeiterbewegung ins Spiel gebracht wird.

Tröstlich an dieser Sicht der Dinge ist, dass sie auf falschen Voraussetzungen beruht. Denn Europa war nie einheitlich monarchisch-fürstlich oder im skizzier-ten Sinne „feudal“ organisiert. Es gab immer eine republikanische Tradition, und zwar auch im Zeitalter des Absolutismus. Wer hat denn im späten 16. Jahrhundert die spanische Hegemonie gebrochen, wer die Eroberungswut des französischen Roi Soleil an einer genial aufgestauten Wasserfront gebremst? – die Republik der nördlichen Niederlande, die über ein Jahrhundert lang von ihren royalen Nach-barn bewundert wurde und deren Wirtschaftserfolge man eifrigst kopierte. Wenn Ludwig XIV. die Kaufmannsrepublik im Latonabrunnen im Parterre seines Ver-sailler Schlossparks als quakende, nichtswürdige Frösche verspotten ließ, so hatte diese propagandistische Repräsentationsgeste zwar insofern Erfolg, als die touris-tische Nachwelt ihm heute noch den damit bekundeten Überlegenheitsanspruch abnimmt. Realgeschichtlich kaschierte dieser Gestus aber nur Hilflosigkeit und Wut – nämlich die Wut über die nicht zu überwindende historische Realität re-

* Im Folgenden kommt der Text meines Vortrag zum Neujahrstreffen des Fördervereins der Magdeburger Museen und des Kulturhistorischen Museums am 21. Januar 2009 im Kaiser-Otto-Saal des Kulturhistorischen Museums zum Abdruck, der während der Rede improvisierend gekürzt oder leicht modifiziert vorgetragen wurde.

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publikanischer Ordnungsprinzipien am wirtschaftlich wie gesellschaftlich beson-ders dynamischen Nordseesaum, wie auch anderwärts im vorgeblich fürstenbe-stimmten Europa.

I1. Der alteuropäische Stadtrepublikanismus in den deutschen Städten

Es soll hier nicht, in Bezug auf Magdeburg, auf die vielen anderen Republiken und deren Stellenwert für das kulturelle und politische Profil Alteuropas und damit auch der historisch-politischen Kultur unserer Gegenwart eingegangen werden – also auf die glanzvolle Geschichte Venedigs, Genuas, der Schweizer Kantone etc. Vielmehr, dem Genius loci entsprechend, soll das Thema von der Wurzel und der Praxis her behandelt werden, nämlich dem alteuropäischen Städ-tewesen, konkret der großen Autonomie- und Reichsstädte Deutschlands, deren Macht und Freiheit ausgangs des Mittelalters der Humanist Enea Silvio de’ Pic-colomini und später Papst Pius II. auf seiner Deutschlandreise bewundernd zur Kenntnis nahm.

Als ich vor fast genau 20 Jahren im Rahmen einer von den angelsächsischen Historikern Helmuth Koenigsberger, Quentin Skinner und John Pocock aufge-worfenen Debatte zur alteuropäischen Republikanismustheorie gebeten wurde, die republikanische Theorie des deutschen Stadtbürgertums zu beschreiben, stellte ich meinen Beitrag unter die Frage „Gab es im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit in Deutschland einen städtischen ‚Republikanismus’?“.1 Die Antwort war damals und ist heute „nein“ und „ja“: Negativ ist der Befund, inso-fern in Deutschland im Gegensatz etwa zu den oberitalienischen Städten, allen voran das Florenz des Frühhumanismus, keine ausgearbeitete, explizite Theorie des Bürgerrepublikanismus zu finden ist. Positiv ist hingegen die Frage in Bezug auf die implizite Politikkultur des deutschen Stadtbürgertums zu beantworten, die sich nicht theoretisch, sondern im Geschichtsbild und den Ordnungsvorstel-lungen, etwa der Städtechroniken, artikulierte. Deutlicher noch geschah dies in den politischen Partizipationsansprüchen und allgemein im politischen Handeln der Bürgergemeinden und in der dies begleitenden schriftlichen oder mündlichen Legitimation. Häufig wurde dies nonverbal ausgedrückt, nämlich in symboli-schen Repräsentationen oder Handlungen, etwa der gewaltsamen Besitznahme

1 Heinz Schilling, Gab es im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit in Deutschland einen städtischen „Republikanismus“? Zur politischen Kultur des alteuropäischen Stadt-bürgertums. In: H . K o e n i g s b e r g e r (Hrsg.), Republiken und Republikanismus im Europa der Frühen Neuzeit (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, Bd. 11), München 1988, S. 101‒143.

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von Stadtschlüsseln oder Stadtsiegel, Erneuerung der bürgerlichen Schwurver-einigung etc.

Auf der Basis von Berichten über das politische Handeln und das diesem zugrundeliegende Politikverständnis des spätmittelalterlichen und frühneuzeit-lichen Stadtbürgertums, die für Hunderte von Städten vorliegen – und zwar, das sei bereits hier nachdrücklich betont, aus Nicht-Reichsstädten wie Magdeburg ebenso wie aus Reichsstädten – lässt sich der Stadtrepublikanismus als histo-risch-politische Kultur und Identität des deutschen Stadtbürgertums folgender-maßen beschreiben:

„Stadtrepublikanismus“ bezeichnet eine besondere, vor allem in den Städ-ten Italiens und des Reiches anzutreffende Verfassung, oder besser gesagt, histo-risch-politische Kultur des alteuropäischen Stadtbürgertums, die auf bestimmten Maximen und Normen städtisch-bürgerlichen Zusammenlebens sowie des Regi-ments und der Politik im weitesten Sinne beruhte. Diese stadtrepublikanischen Normen bezogen sich sowohl auf die Verhältnisse in den Städten selbst, als auch auf ihre Außenbeziehungen. Die wichtigsten dieser Maximen, samt der daraus resultierenden Anforderungen für die städtische Politikkultur, lassen sich folgen-dermaßen skizzieren:

Außenpolitisch beziehungsweise im Verhältnis zum umgebenden Territorium hatte das nordwestdeutsche Stadtbürgertum die Vorstellung eines positivrechtli-chen Vertragsverhältnisses zwischen Stadt und Kron- beziehungsweise Fürsten-gewalt, das der jeweiligen Stadtgemeinde aufgrund von Absprachen und erwor-benen Privilegien weitreichende Autonomie und Handlungsspielraum innerhalb, aber auch und vor allem außerhalb des jeweiligen Territoriums garantierte und das auf gegenseitiger Treuepflicht beruhte.2 Innerstädtisch oder innenpolitisch ruhte der Stadtrepublikanismus auf vier Grundpfeilern: erstens dem Postulat per-sönlicher Grund- und Freiheitsrechte, namentlich Schutz vor willkürlicher Ver-haftung ganz im Sinne der englischen habeas-corpus-Tradition (1215 als feudales Privileg im Rahmen der Magna Charta, 1628 und schließlich definitiv 1679 als formell beschlossene und vom König anerkannte Parlamentsakte); ähnlich das Recht auf freie und ungeschmälerte Verfügung über den Besitz; zweitens der the-oretischen Gleichheit aller Stadtbewohner in öffentlichen Lasten und Pflichten; drittens einer oligarchisch-egalitären Gestalt der Politikelite; viertens und – für

2 Insbesondere die Stadt Braunschweig berief sich gegenüber den Unterwerfungsforderun-gen ihrer Landesherren unermüdlich auf dieses Prinzip. Vgl. M a r i e E l i s a b e t h G r ü t e r , „Getruwer her, getruwer knecht“. Zur Politik der Stadt Braunschweig im Spannungsfeld von Kaiser, Reich und Landesfürst in der Mitte des 16. Jahrhunderts. In: B e r n h a r d S i c k e n (Hrsg.), Herrschaft und Verfassungsstrukturen im Nordwesten des Reiches. Beiträge zum Zeitalter Karls V.; Franz Petri zum Gedächtnis (1903‒1993), Köln 1994, S. 241‒252.

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unseren Zusammenhang besonders wichtig – dem politischen Partizipationsan-spruch des genossenschaftlichen Bürgerverbandes.3

Der Stadtrepublikanismus lässt sich bereits in den zahlreichen Aktionen des Bürgerverbandes oder einzelner seiner Gruppen in den spätmittelalterlichen Städ-ten beobachten, die in der stadtgeschichtlichen Literatur als „Zunftunruhen“ oder präziser „Bürgerbewegungen“ beschrieben werden. Einen Höhepunkt erfuhr der Stadt- oder Bürgerrepublikanismus dann in der Reformation und dem anschlie-ßenden Ringen um die kirchliche Neuorganisation des Reiches beziehungsweise einzelner seiner Glieder – Territorien wie Städte, letztere sind auch in dieser Hin-sicht bis zum Augsburger Religionsfrieden noch nicht in Reichs- und Landstädte zu trennen. Die durchgehend in Deutschland zu beobachtende enge Verkopplung von städtisch-bürgerlichen und reformatorischen Interessen war der ereignis- und kirchengeschichtliche Ausdruck stadtrepublikanischer Identität und Ordnungs-vorstellungen. Denn die stadtrepublikanischen Normen schlossen Religion und Kirche ein, begründeten also im Prinzip einen Anspruch des Bürgerverbandes auf Partizipation oder gar Selbstbestimmung auch in kirchlichen und religiösen Angelegenheiten der Stadt.4

Angesichts der besonderen politisch-institutionellen wie sozial-ständischen Position, die Kirche und Klerus im Laufe des Mittelalters herausgebildet hatten – und zwar auch und gerade in den Städten – ließ sich der Anspruch der Bürger auf Selbstbestimmung in den dogmatischen und vor allem rechtlichen Grundla-gen der Stadtkirche aber nur schrittweise und meist in Konflikt mit Institutionen und Personal der Kirche realisieren – hier sei nur an die spektakulären Bürger-aufstände gegen die bischöflichen Stadtherren, an die stadtsässigen Bettelorden oder an die stadtbürgerliche Spiritualität der devotio moderna erinnert. All das waren aber nur Ansätze und Einfallstore für eine stadtrepublikanische Gestal-tung des religiösen und kirchlichen Lebens; zum Durchbruch kamen diese Prin-zipien erst mit der Reformation. Die Reformation war also nicht von ungefähr ein „städtisches Ereignis“ (A. G. Dickens).5 Die geistige wie soziale Dynamik der reformatorischen Bürgerbewegungen wurde wesentlich aus dem Selbstver-ständnis gespeist, nicht nur Bürgergemeinde, sondern damit zugleich „sakrale Gemeinschaft“ und „Corpus Christianorum, Heilsgemeinschaft“ im Kleinen zu sein – so die in diesem Zusammenhang noch einflussreichere Bestimmung

3 Näher ausgeführt bei H e i n z S c h i l l i n g , Ausgewählte Abhandlungen zur europäi-schen Reformations- und Konfessionsgeschichte (Historische Forschungen, Bd. 75), hg. v. L u i s e S c h o r n - S c h ü t t e / O l a f M ö r k e , Berlin 2002, S. 210 ff.

4 Näheres dazu mit Literaturbelegen in meinem Beitrag „Die konfessionelle Stadt – eine Problemskizze“. In: P e t e r B u r s c h e l u. a. (Hrsg.), Historische Anstöße, Festschrift für Wolfgang Reinhard zum 65. Geburtstag 10. April 2002, Berlin 2002, S. 60‒83, hier S. 61 ff.

5 „The German reformationwas an urban event“, A . G . D i c k e n s , The German Na-tion and Martin Luther, London 1974, S. 182.

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durch Bernd Moeller,6 die auch für viele Landstädte im Hansebereich gültig ist. In gewisser Weise waren dort bürgerliches und kirchliches Gemeindebe-wusstsein und dessen enge Verzahnung sogar besonders ausgeprägt, jedenfalls in den mittleren und größeren autonomen Land- und Hansestädten wie Magde-burg. Das hatte eine doppelte Ursache. Zum einen waren manche dieser Land-städte realpolitisch durchaus unabhängiger und handlungsfreier als viele der vom Kaiser abhängigen Reichsstädte. So gelang es Kaiser Karl V. ohne große Probleme den oberdeutschen Reichstädten seine katholisierende Zwischenreli-gion aufzuzwingen, während ihm in den norddeutschen Städten auch noch der kleinste Erfolg versagt blieb! Zum anderen aber war für die Bürgergemeinden der nordwestdeutschen Städte die Verbindung zwischen Reformation und stadt-republikanischer Politikkultur besonders prägend, ja existentiell, weil in diesem Raum die städtischen und bürgerlichen Freiheiten bereits seit dem ausgehenden Mittelalter durch machtvolle Territorialisierungstendenzen der Fürsten gefähr-det waren.

Auf dieser Basis trat im Nordwesten des Reiches eine spezifische Form städ-tischer Reformation in Erscheinung − die „Hanse-“ bzw. „Autonomiestadtre-formation“, die charakterisiert war erstens durch eine ausgeprägte kommunale Bürgerbeteiligung mit entsprechender innerstädtischer Aufwertung der Bürger-gemeinde und ihrer Vertretungsgremien, und zwar keineswegs nur in kirchli-chen Belangen; zweitens durch eine Gleichzeitigkeit, ja innere Verbindung von kirchlich-religiösen und weltlichen, vor allem politisch-verfassungsmäßigen, aber auch sozialen und ökonomischen Forderungen der Bürgerkommune, die meist auch zu entsprechenden Neureglungen der innerstädtischen Verhältnisse führte, wenn auch häufig nur vorrübergehend; drittens schließlich durch einen deutlichen Erfolg der Städte im genannten Abwehrkampf gegen die Territori-alisierungstendenzen, fußend auf einem unübersehbaren Macht- und Autono-miegewinn von Bürgerschaften und Stadträten gegenüber ihren Landesherren, die mit Ausnahme Herzog Ernst des Bekenners von Braunschweig-Lüneburg auch im Norden des Reiches der Reformation ablehnend oder zumindest abwar-tend gegenübergestanden hatten, sich mit dieser Haltung aber nicht durchsetzen konnten.

Mit der erfolgreich, in der Regel gegen die Stadtherren, meistens aber auch gegen die Stadträte, durchgesetzten Einführung der Reformation und dem Auf-bau lutherischer Stadtkirchen, war der im Mittelalter begründete Stadtrepublika-nismus dahingehend vollendet, dass der Klerus als soziale Sondergruppe außer-halb des Bürgerverbandes beseitigt und damit die Kirche insgesamt „verstädtert“ und verbürgerlicht wurde. Als „Stadtkirche“ war sie ein Teil des bürgerlichen Gemeinwesens geworden. Erst damit wurden die Städte im frühmodernen Sinne

6 B e r n d M o e l l e r , Reichsstadt und Reformation, neu bearbeitete Aufl., Berlin 1987, S. 12.

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zu politisch wie kulturell unabhängigen und eigenständigen Republiken. Diese Kommunalisierung des städtischen Religions- und Kirchenwesens – also die Übernahme sämtlicher Verantwortlichkeiten für Kirche und Kultur durch die Bürgerkommune – war von eminenter Bedeutung für die republikanische Iden-tität der jeweiligen Bürgerschaft und sollte es über Generationen hin bleiben.7

7 Für den nordwest- und norddeutschen Raum ist die Bedeutung der Gemeindereformation und der Kommunalisierung des städtischen Kirchenwesens detailliert in Form von Fallstu-dien nachgewiesen und in ihren allgemeingeschichtlichen Konsequenzen gewürdigt bei: H e i n z S c h i l l i n g , Konfessionskonflikt und Staatsbildung. Eine Fallstudie über das Verhältnis von religiösem und sozialem Wandel in der Frühneuzeit am Beispiel der Grafschaft Lippe (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, hg. im Auftrag des Vereins für Reformationsgeschichte von G. A. Bernrath, Bd. 48), Gütersloh 1981, pas-sim, v. a. S. 70, 93, 98, 102‒106, 140, 145, 376‒379; D e r s ., Reformation und Bürger-freiheit. Emdens Weg zur calvinistischen Stadtrepublik. In: B e r n h a r d M o e l l e r (Hrsg.), Stadt und Kirche im 16. Jahrhundert (Schriften des Vereins für Reformationsge-schichte, Nr. 190), Gütersloh 1978, S. 128‒161; D e r s ., Konfessionskonflikte und han-sestädtische Freiheit im 16. und frühen 17. Jahrhundert. In: Hansische Geschichtsblätter 97 (1979), S. 36–59; Ders., Dortmund im 16. und 17. Jahrhundert – Reichstädtische Ge-sellschaft, Reformation und Konfessionalisierung. In: G . L u n t o w s k i / N . R e i -m a n n (Hrsg.), Dortmund – 1100 Jahre Stadtgeschichte, Dortmund 1982, S. 151–202; D e r s ., The Reformation in the Hanseatic Cities. In: The Sixteenth Century Journal 14 (1983), S. 443–456. – Auch wenn es nicht unmittelbar zum vorliegenden Thema gehört, sei darauf hingewiesen, dass Peter Blickle das Konzept der „Gemeindereformation“ aus dem rein städtischen Kontext gelöst und zu einem Stadt und Dorf, Bürger und Bauern einschließenden Interpretament ausgeweitet hat: P e t e r B l i c k l e , Gemeinderefor-mation, München 1985. Vgl. für das vorliegende Thema dazu meine Miszelle: H e i n z S c h i l l i n g , Die deutsche Gemeindereformation. Ein oberdeutsch-zwinglianisches Ereignis vor der „reformatorischen Wende“ des Jahres 1525? In: Zeitschrift für histori-sche Forschung 14 (1987), S. 325–333 (englisch in: Religion, Political Culture, and the Emergence of Early Modern Society. Essays in German and Dutch History, Leiden 1992, S. 189‒204). Noch längst nicht hinreichend aufgegriffen ist Peter Blickles Anregung, Stadt und Dorf, also bürgerlichen Republikanismus und bäuerlichen Kommunalismus mitein-ander zu vergleichen: P e t e r B l i c k l e , Der Kommunalismus als Gestaltungsprin-zip zwischen Mittelalter und Moderne. In: N i c o l a i B e r n h a r d / Q u i r i n u s R e i c h e n (Hrsg.), Gesellschaft und Gesellschaften. Festschrift zum 65. Geburtstag von Prof. D. Ulrich im Hof, Bern 1982, S. 95‒113. Jetzt zusammenfassend D e r s ., Kom-munalismus. Skizze einer gesellschaftlichen Organisationsform, 2 Bde., München 2000. – Speziell zur Stadtreformation neben dem Klassiker B e r n d M o e l l e r , Reichsstadt und Reformation, Gütersloh 1962 (in kommentierter Neuausgabe jetzt Tübingen 2011) grundlegend B e r n d t H a m m , Bürgertum und Glaube. Konturen der städtischen Re-formation, Göttingen 1996 (englische Fassung: D e r s ., The Urban Reformation in the Holy Roman Empire. In: T h o m a s A . B r a d y / H e i k o A . O b e r m a n /J a m e s D . T r a c y (Hrsg.), Handbook of European History 1400‒1600, Bd. 2, Leiden 1995, S. 193‒228.

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2. Stadtrepublikanismus während der Interimskrise

Die in den Stadtreformationen zum Ausdruck gekommene Affinität zwischen Stadtrepublikanismus und lutherischer Variante des Christentums hatte sich noch über Generationen gegenüber manchen inneren und äußeren Angriffen zu be-haupten, bis sie im Westfälischen Frieden endgültig bestätigt wurde. Eine erste Bewährungskrise brachte der Interimskonflikt der Jahre 1548 bis 1552. Die Ge-fahr, die den Städten mit der von Karl V. 1548 auf dem „Geharnischten Reichs-tag“ von Augsburg verordneten katholisierenden „Zwischenreligion“ drohte, war um so größer, als der organisatorisch-institutionelle und theologisch-bekennt-nismäßige Aufbau der lutherischen Stadtkirchen noch nirgends abgeschlossen war. Zudem warteten allenthalben die Gegner auf eine passende Gelegenheit, die Neuerungen rückgängig zu machen und damit zugleich die im Zuge der Stadtre-formation ausgeweiteten Handlungsfreiheiten von Bürgergenossenschaften oder Stadträten wieder zu beschneiden. Der Widerstand gegen das Interim war daher gleichbedeutend mit der Selbstbehauptung städtischer Autonomie und republika-nischer Identität.

a) Die außenpolitische Seite

Außenpolitisch, also für das Verhältnis zwischen Stadt und Fürstenmacht sowie gegenüber deren Territorialisierungstendenzen, sind neben den Ereignissen in Braunschweig insbesondere die Vorgänge in Magdeburg aufschlussreich. In bei-den Fällen standen die in der Interimskrise erneut aufgebrochenen Auseinander-setzungen mit dem Landesherrn und den territorialen Kräften in einer längeren, im späten Mittelalter einsetzenden Tradition. Magdeburg, was konkret nur die Alt- oder Bürgerstadt westlich der Klerikerstadt um den Dom meint, war am 27. Juli 1547 – also unabhängig von und lange vor dem Interim – in die Reich-sacht genommen worden, unter anderem, weil es „viel und lange jar her weilandt den Erzbischoffen zu Magdeburgk nacheinander in viel wege sollten ungehorsam unnd wiedersetzig gewesen sein“. Die städtischen Verteidigungsflugschriften8 weisen den Vorwurf des Ungehorsams entschieden zurück:

8 Im Folgenden ist keine ausführliche Behandlung der Magdeburger Ereignisse und der dar-aus erwachsenen Flugschriftenproduktion beabsichtigt. Diese Zusammenhänge werden gegenwärtig von zwei Forschungsprojekten neu untersucht: das eine unter der Leitung von Luise Schorn-Schütte in Frankfurt, das andere unter der Leitung von Thomas Kaufmann in Göttingen. Siehe dazu L u i s e S c h o r n - S c h ü t t e , Politikberatung im 16. Jahr-hundert. In: A . K o h n l e / F . E n g e l h a u s e n (Hrsg.), Zwischen Wissenschaft und Politik. Festschrift für Eike Wolgast, Stuttgart 2001, S. 49‒66, v. a. S. 60 ff.

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„Wir seint ihre underthan nie wesen [...]. Das sie auch unsere Obrigkeit ge-wesen / seint wir ihnen nicht gestendig / haben ihnen auch nie unser Eide unnd pflichte gethan. / Wenn wir auch einem Erzbischoffe auff fürgehende beredung huldunge gethan / so ist die darauff gescheen / unns bey unserin Rechten / auch unsern freiheiten / gerechtigkeiten / gebreuchen unnd gewon-heiten zu lassen“.9

So steht es in der 1551 publizierten Flugschrift „Der von Magdeburgk wider-legung“, auf die ich mich im Folgenden (meist) beziehe. Denn es handelt sich um die Rechtfertigungsschrift des Magdeburger Magistrats, die ungeachtet der Mitautorschaft der lutherischen Theologen vornehmlich politisch-juristisch ar-gumentiert, dabei aber den „Glauben“ – also konkret die Selbständigkeit und den lutherischen Konfessionsstand der Stadtkirche – als nicht verhandelbar, weil allen irdischen Rechtssatzungen vorausgehend, ansetzt.

Der viel beachtete Widerstand Magdeburgs gegen die dreizehnmonatige Be-lagerung galt also nicht nur dem von Moritz von Sachsen befehligten kaiserli-chen Heer, sondern auch und vor allem dem bischöflichen Landesherrn samt dem Domkapitel und den Territorialständen des Erzstiftes. Sie alle, dazu auch der Kurfürst von Brandenburg, der ebenfalls gegen die Elbestadt seine territo-rialpolitischen Interessen ins Feld führte, versuchten das städtische Militär in immer neuen Ausfällen nach Kräften zu schädigen.10 Die Rechtfertigung dieser Übergriffe wenden die Magdeburger ins Prinzipielle: Es gehe dabei um „Gottes ehre“ und um die „freihait (für die) die fromen alten ehrlichen Deutschen [...] ihre blut vergossen“.11 Hier wird die protestantische, konkret die lutherische Konfession zu einem Kernbestand der stadtrepublikanischen Autonomie und Selbstbehauptung gegenüber dem Fürstenstaat und seinem Territorialprinzip erklärt.

Besonders die Klöster und andere altkirchliche Besitzungen waren dem Zu-griff des städtischen Militärs ausgesetzt, so namentlich das Augustiner Chor-herrenstift Hammersleben bei Oschersleben.12 Das war nicht Ausdruck eines primitiven Antiklerikalismus, sondern Teil der stadtrepublikanischen Strategie, die klerikale Herrschaft und den klerikalen Besitz außerhalb des weltlichen Ver-

9 Der von Magdeburgk widerlegung, Magdeburg 1551, HIII; KIII. Es handelt sich hierbei um die Rechtfertigungsschrift des Magdeburger Magistrats, bei deren Abfassung sicher die bekannten lutherischen Theologen beteiligt waren, die sich damals in der Stadt befan-den. Im Vordergrund der Argumentation stehen aber eindeutig politisch-juristische Argu-mente, wobei allerdings der „Glauben“, d. h. konkret die lutherische Konfession, und die Selbständigkeit des städtischen Kirchenwesens als nicht verhandelbar bzw. allen irdischen Rechtssatzungen vorausgehend angesetzt werden.

10 Vgl. Widerlegung, HII ff.11 Widerlegung, HIII.12 Vgl. Widerlegung, JII, III.

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bandes, des städtischen wie des territorialen, nicht mehr anerkannte. Innerhalb der Stadt stehe – so vor allem die von dem führenden gnesiolutherischen Theo-logen Matthias Flacius Illyricus theologisch abgesicherte Argumentation der Magdeburger Flugschriften – das Kirchengut der Bürgergemeinde zu und könne daher zur Sicherung städtischer Bedürfnisse herangezogen werden.13 Der dieser Auslegung zugrunde liegende Kampf gegen den kirchlichen Immobilienbesitz innerhalb der Städte reicht weit ins Mittelalter zurück. Durch die reformatori-sche Kommunalisierung der Stadtkirche hatte der mittelalterliche Antiklerika-lismus aber eine neue Dimension erhalten, die wiederum auf das Beste mit den stadtrepublikanischen Prinzip zusammenpasste: Wie der Grundbesitz innerhalb der Stadt flächenmäßig einheitlich in bürgerlicher Hand sein sollte, so sollte der Bürgerverband auch personal einheitlich sein. Außerbürgerliche Personen-gruppen, wie vor allem der Klerus, sollten möglichst ausgeschieden oder in den Bürgerverband eingebunden werden. Für eine Bischofsstadt wie Magdeburg war das besonders wichtig, weil das Domkapitel als feindliche, außerbürger-liche Institution eine Verfügungsgewalt über das innerstädtische Kirchengut als Einfallstor für politischen Einfluss in der Stadt, wenn nicht gar für deren Unterwerfung nutzen konnte. Dasselbe galt für jeden noch in der Stadt tätigen katholischen Kleriker, der ja nicht dem Rat oder der Bürgergemeinde, sondern dem Erzbischof oder dem Domkapitel verantwortlich war. Der Magdeburger Rat ging daher während der Belagerung und in der Interimskrise entschieden gegen den Restkatholizismus in seinen Mauern vor und verlangte vom Domka-pitel, dass es „einen gelerten der heiligen Schrift Doctor wollten ... im Thume (also im Dom) Gottes Wort predigen lassen / weile doch [...] das in der Stadt zu grosser einigkeit dienlich sein würde“.14 Darüber hinaus versuchte er den Klerus einschließlich der in der Stadt verbleibenden Domherren, die nicht zu unrecht als Repräsentanten des Territorialismus und Agenten des Landesherrn galten, durch ein Gelöbnis auf die Verteidigung und allgemein auf die Interessen des Bürgerverbandes einzuschwören.15

Die bedrohten Städte, allen voran das belagerte Magdeburg und Braun-schweig, bemühten sich um gemeinsame politische Abwehrbündnisse gegen den Rekatholisierungsdruck: Wenn erst einmal, so eine von Flacius verfasste Magde-burger Flugschrift von 1551, die beiden fürstlichen Häupter der Schmalkaldener

13 Vgl. ebd., E III, F II, G III, K II; ausführlich auch Matthias Flacius, Das alle verfolger der Kirchen Christi zu Magdeburgk, Christi des HERrn selbs verfolger sindt. Geschrieben zur warnung an alle Christen, und sonderlich an das Kriegsvolck der Feinde, Magdeburg 1551, B I.

14 Ebd., E II.15 Vgl. ebd., E II; K.

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„ire Straff entpfangen, kann man die Reichs Stedte wol gehorsam machen, on einigen Hereszug, mit Niderlegung der Strassen, Annemung der Güter, unnd das Keyserliche Mayestat Repressalia uber sie decernirt“.16

Ein irgendwie militärisch oder auch nur politisch durchschlagendes Bündnis ließ sich indes nicht erreichen.17 Dahinter verbirgt sich zweifellos eine Schwäche des alteuropäischen Stadtrepublikanismus, die zugleich Ausdruck seiner innersten Bauprinzipien ist. Denn jede Stadtrepublik hatte ihre eigene, auf positivrecht-lichen Verträgen und Freiheitsrechten beruhende Verfassung, die sich letztlich nur im lokalen beziehungsweise regional-territorialen Rahmen behaupten ließ. Das unterscheidet den alteuropäischen Stadtrepublikanismus grundlegend von den modernstaatlichen Republiken seit der Amerikanischen Revolution18. Nicht eine abstrakte oder universelle Verfassung, die für alle Städte gleichermaßen Gel-tung besaß, war zu verteidigen, sondern ein je unterschiedliches Konglomerat von Privilegien und Freiheitsrechten, das die konkrete Autonomie der einzelnen Stadt und ihren Handlungsspielraum im Territorium und gegenüber dem jewei-ligen Landesherrn ausmachte. Auf dieser Basis ließ sich sehr wohl eine allge-meine Städtesolidarität beschwören. Indes, wo es um konkretes politisches, oder gar militärisches Handeln ging, versagten sich Städte wie Rostock, Wismar und Stralsund, aus dem einfachen Grund, dass die politischen und kirchlich-konfes-sionellen Rahmenbedingungen innerhalb ihres jeweiligen Territoriums günstig waren und sie diese nicht durch einen politischen Aktivismus gefährden wollten.

16 Flacius, Verfolger der Christen, 1551, B I.17 Ausführlich dazu G ü n t e r S c h u l t e , Niederdeutsche Hansestädte in der Spätzeit

Kaiser Karls V., phil. Diss., Münster 1988 (erschienen im Privatdruck).18 Zu den unterschiedlichen Republik-Konzeptionen und deren Wandlungen von alteuropä-

ischen zu modernstaatlichen Formen vgl. vor allem die zahlreichen Studien von W o l f -g a n g M a g e r , etwa den Artikel „Republik“. In: O t t o B r u n n e r / W e r n e r K o n z e / R e i n h a r t K o s e l l e c k (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Hi-storisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 549‒551, o. a. S. 592, 595; D e r s ., Republikanismus. Überlegungen zum analytischen Umgang mit einem geschichtlichen Begriff. In: P e t e r B l i c k l e (Hrsg.), Verbor-gene republikanische Traditionen in Oberschwaben, Tübingen 1998, S. 243‒260, wo er dezidiert eine Grenze zwischen alteuropäischem Kommunalismus oder Republikanismus einerseits und modernen Republiken andererseits zieht: „Vieles spricht also dafür, die Wurzeln der modernen Republik und des modernen Republikanismus nicht so sehr in den vormodernen republikanischen Stadtstaaten als vielmehr in den vormodernen fürstlich-ständischen Flächenstaaten zu suchen.“ (S. 260). Zum Problem erhellend auch R o b e r t v o n F r i e d e b u r g , „Kommunalismus“ und „Republikanismus“ in der frühen Neu-zeit? Überlegungen zur politischen Mobilisierung sozial differenzierter ländlicher Ge-meinden unter agrar- und sozialhistorischem Blickwinkel. In: ZHF 21 (1994), S. 65‒91. In weiter neuzeitlicher Perspektive: P a u l N o l t e , Bürgerideal, Gemeinde und Republik. „Klassischer Republikanismus“ im frühen deutschen Liberalismus. In: Historische Zeit-schrift 254 (1992), S. 609‒656.

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b) Die innerstädtischen Zusammenhänge

Die Interimskrise stellte auch im Innern der Städte erneut die Gewichtsverteilung zwischen obrigkeitlichen Strukturen der Ratsherrschaft und gemeindlich-genos-senschaftlichen Elementen der Bürgerbeteiligung in Frage. Im Widerstand gegen den Kaiser gaben nicht die Stadträte, sondern erneut die Bürgerschaften und die Kirchengemeinden unter Führung ihrer Pastoren und Superintendenten den Ton an. Die These von einem Niedergang des Bürgergeistes wird in diesen Ereignis-sen ebenso widerlegt wie der hartleibige Mythos vom Ende der Reformation als „Volksbewegung“ im Bauernkrieg.19 Im Gegenteil, in der Interimskrise bewährte sich erneut eindrucksvoll die Achse Bürgerschaft – lutherische Pfarrschaft.

Magdeburg nimmt in diesem Szenario allerdings eine Sonderstellung ein. Denn dort bestand eine starke lutherische Binnenbindung, die die Ratsfamilien einschloss. Der Rat entschied sich daher bereits früh und in vollem Einvernehmen mit dem Bürgerverband für den unbedingten Widerstand gegen alle Anforderun-gen von außen, und zwar bereits vor dem Interim. Nicht die typische Spannung zwischen den zum Widerstand bereiten Pastoren und der Bürgerschaft einerseits und den aus politischen Gründen lavierenden Magistraten andererseits war in Magdeburg bestimmend, sondern die Aktionskoalition von Bürgerschaft, Rat und Pfarrschaft. So konnte der Magistrat in der Regel als Sprecher der gesamten Stadt und des Bürgerverbandes auftreten. Gelegentlich wird aber auch in den Magdeburger Quellen auf den weiteren Kreis der Bürgerschaft Bezug genommen beziehungsweise auf deren Vertretungsgremien wie die Innungsmeister.20 In den meisten anderen Städten traten ähnlich wie in der engeren Reformationsphase deutliche Unterschiede zwischen Rat und Bürgerverband auf.

Generell gilt, dass es nicht zuletzt die im Endeffekt siegreiche Allianz zwi-schen lutherischen Pastoren und Bürgerschaft war, die das Interim zur Geburts-stunde jener lutherischen Konfessionsidentität der norddeutschen Autonomie- und Hansestädte machte, die als eine Art civic Lutheranism21 das öffentliche

19 In diesem Zusammenhang kann nicht nachdrücklich genug auf den selten hinreichend berücksichtigten Aufsatz von Franz Lau hingewiesen werden „Der Bauernkrieg und das angebliche Ende der lutherischen Reformation als spontaner Volksbewegung“. In: Luther-jahrbuch 26 (1959), S. 109‒134. ‒ Jüngst T h o m a s L a u , Bürgerunruhen und Bürger-prozesse in den Reichsstädten Mühlhausen und Schwäbisch Hall in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. u. a. 1999, mit einer umfangreichen Aufstellung solcher Bürgerbewegun-gen in Reichsstädten, S. 542‒576.

20 Vgl. Widerlegung, C III (Klageschrift der Magdeburger Stände gegen die Stadt Magde-burg).

21 Dem „civic humanism“ von Hans Baron nachgebildet. Vgl. auch das Vorwort zu H e i n z S c h i l l i n g , Civic Calvinism in Northwestern Germany and the Netherlands, Sixteenth to Nineteenth Centuries (Sixteenth Century Essays and Studies, Bd. 17), Kirksville/Mo 1991. – In einer tiefgreifenden und scharfsichtigen Analyse des Göttinger Beispiels kommt Olaf Mörke zu dem Ergebnis, dass die Interimskrise dort den Wendepunkt zu einem lang-

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Leben der Hansestädte prägte und teilweise heute noch in deren politischen Kultur nachwirkt.22 Wie, nach der berühmten These Hans Barons, ein civic humanism den Florentiner Stadtrepublikanismus prägte, so das Luthertum die religiösen wie bürgerlichen Normen sowie allgemein die Politikkultur in den Städten des behandelten Raumes. Das gilt auch für Magdeburg, wurde dort aber – wie noch zu erörtern ist – schließlich durch die spezifische hohenzollernsche Konfessionspolitik ausgangs des 17. Jahrhunderts gleichsam unionistisch über-formt.

3. Die spezifische Rolle der Religion in der Interimskrise

Neben der Politisierung der Kirchenfrage, infolge der von außen, durch den Kaiser aufgezwungenen Interimskrise, ist für die enge Verkoppelung zwischen republikanischer Bürger- und lutherischer Konfessionsidentität eine deutliche „konfessionelle“ Wende verantwortlich. Die militante Abgrenzungs- und Ent-scheidungsrhetorik, die bereits die Flugschriften des Schmalkaldischen Krieges kennzeichnete, erfuhr in der Interimskrise eine weitere Verschärfung, insbeson-dere in den Schriften der Magdeburger „Kanzlei Gottes“. Es war zentraler Teil dieser lutherischen Identitätsbildung, dass die Erfolge der Bürgerschaften in der Reformationszeit, die inzwischen ja zu einem Phänomen der Zeitgeschichte ge-worden waren, historisiert wurden – spektakulär durch Flacius in seinem Catalo-gus testium veritatis (1556) und den Magdeburger Zenturien (1559 ff.), greifbar aber auch in mancher Stadtchronik und anderen Verlautbarungen von Bürgern und Magistraten.

Die beschriebene Zuspitzung in Rolle und Funktion des Religiösen lässt sich deutlich im Falle Magdeburgs greifen. Dort ergab sich aus der genann-ten Führungsposition der Pfarrschaft eine ausgreifende Autorentätigkeit der in der Stadt befindlichen Theologen. Selbst die Flugschriften, die der Magistrat zum Druck beförderte und in denen ungeachtet nachweislicher Beteiligung von

fristigen Niedergang der Stadtautonomie bedeutete: O l a f M ö r k e , Landstädtische Autonomie zwischen den Fronten. Göttinger Ratspolitik im Umfeld des Augsburger Inte-rims. In: W i l f r i e d E h b r e c h / H e i n z S c h i l l i n g (Hrsg.), Niederlande und Nordwestdeutschland, Köln u. a. 1983, S. 219‒244, v. a. S. 241‒244. Diese Einschätzung scheint mir nicht im Widerspruch zu der vorgetragenen Interpretation zu stehen. Denn die-ser Niedergang fand langfristig statt, und vor allem ist das Göttinger Beispiel ein weiterer Beleg für die Individualität des alteuropäischen Stadtrepublikanismus und damit nicht ver-allgemeinerbar. Die Folgen des Interims für die norddeutschen Städte insgesamt müssten einmal vergleichend und umfassend untersucht werden.

22 Einschlägig die diversen Arbeiten von Rainer Postel zur Hamburger Reformationsge-schichte und J o a c h i m W h a l e y , Religious Toleration and Social Change in Ham-burg, 1529‒1819, Cambridge 1985.

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Theologen doch die juristische und politische Argumentation im Vordergrund steht, betonen häufig bereits in den ersten Sätzen den radikalen Gottes- und Christusbezug allen politischen Handelns. So bringt die am 13. Dezember 1550 vom Rat verabschiedete und gleich darauf veröffentlichte Rechtfertigungs-schrift „Der von Magdeburgk widerlegung“ bereits auf der ersten Seite des Vorwortes den Kern der Auseinandersetzungen auf zwei nach Meinung des Ra-tes untrennbar verbundene Begriffe: Auf dem Spiel für die Stadt stünden „die höchsten unnd grösten sachen in ewigen unnd zeitlichen dingen / als nemlichen / des heiligen seligmachenden Göttlichen worts / und der gebürlichen freiheit des Vaterlandes.“23 In der weiteren Argumentation wird dem Kampf dann sogar eine eschatologisch-apokalyptische Dimension zugeschrieben: Es drohe nicht nur Magdeburg, sondern Deutschland insgesamt „das Antichristlich und Ty-rannisch joch“.24 Mit dem „Interim unnd ander Menschliche / Widderchristli-che ordnunge“ solle „das Antichristische Bapsthumb“ und „das Antichristli-che Reich“ wieder aufgerichtet werden.25 Die katholischen Kleriker, vor allem die „Thumpfaffen“, also die Mitglieder des Domkapitels, bedrohten mit ihrem „pracht / abgöttischen wesen / vieschen unnd hurischen leben“ das reine Got-teswort in der Stadt, und damit zugleich die bürgerliche Einheit und Wohlfahrt, „wie die Heiden/Türcken [bereits für Luther ein beliebter Vergleich mit durch-aus apokalyptischem Anklang!] / auch die falschen abergläubigen Christen get-han haben / und noch thun“.26

Deutlicher noch tritt die Affinität des religiös-bekenntnismäßigen Arguments zu den städtisch-kommunalen – oder wie wir sagen – stadtrepublikanischen Prin-zipien in der Legitimation des Widerstandes zutage: Unter Einfluss der gneseo-lutherischen Theologen berief sich der Magdeburger Stadtrat auf seine Qualität „als einer von Gott verordneten obrigkeit“27 und konstruiert daraus bekanntlich das berühmte Widerstandsrecht der niedern Magistrate, das später dann vor allem im westeuropäisch-calvinistischem Umfeld virulent werden sollte. Schaut man genau hin, so ist die Argumentation sogar noch weit radikaler: „Der Menschen hoch unnd Oberigkeiten gebot“ wird in der Glaubens- und Bekenntnisfrage prin-zipiell ausgesetzt. Gott wird eine auch in weltlichen Dingen gültige absolute Sou-veränität zugeschrieben, der gegenüber

„die Menschen was standts hoch unnd Oberigkeit sie sein [...] kein gewaldt [...] haben / sondern strack auch schuldig sein dem zugehorsamen“.28 „So steht auch das nicht bey unns als den Menschen inn der waren Religion sa-

23 Widerlegung, A II, E, G III, H III, J I.24 Ebd., B 52.25 Ebd., E III, J I.26 Ebd., J III, K II, K III, u. a.27 Ebd., B.28 Ebd., A III.

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chen etwas wieder Gott und sein heiliges reines Wort einzureumen / were auch viel besser das wir nie geboren weren / dann das wir sollten gegen der waren Christenheit so ergerlich handeln.“29

In nachgerade fundamentalistischer Weise werden weltliche Rechtssatzungen in Frage gestellt und das politische Handeln in letzter Konsequenz allein an das göttliche Recht gebunden, wenn der Magistrat seine konkrete Politik legitimiert mit dem Gehorsamgebot gegenüber „unserm lieben Herrn unnd Gott unnd sei-nem heiligen Wort, [...] dawieder unns keine Brieffe noch Vertrege vorbinden (haben) konnen“.30

Die Formulierung durch einen Theologen ist hier besonders deutlich. Ent-scheidend für unseren stadtgeschichtlichen Zusammenhang ist aber, dass Magis-trat und Bürgerschaft diese Auslegung mittrugen und stadtpolitische Schlussfol-gerungen daraus zogen.

In Bezug auf die stadtrepublikanischen Grundnormen war das durchaus am-bivalent: denn zum einen wird hier nochmals die absolute Verankerung stadt-bürgerlicher Politik in den geistlich-religiösen Fundamenten der Stadt als Sak-ralgemeinschaft unmissverständlich beschworen. Zum andern ist damit aber der alteuropäische Stadtrepublikanismus theoretisch bereits transzendiert, und zwar in doppelter Hinsicht: weil hier in Bezug auf die Religion und die Stadtkirche der gegenüber den Souveränitätsansprüchen der Landesherren immer wieder be-schworene Grundsatz der Unangreifbarkeit vertragsmäßiger, positivrechtlicher Absprachen als Fundament der städtischen Freiheiten und Privilegien aufge-geben wird und weil längerfristig theologisch wie logisch nichts dagegen spre-chen konnte, dieses Gewissensargument individualistisch-subjektiv zu wenden und damit die kollektiv-sakrale Basis der Stadtrepublik als Sakralgemeinschaft ein für allemal zu sprengen. Beides verweist über den alteuropäischen Stadtre-publikanismus hinaus in eine moderne Welt, die durch neue, formale und abs-trakte Prinzipien beherrscht werden sollte – politisch und verfassungsrechtlich durch das Souveränitätsprinzip, und zwar nicht nur innerhalb der Fürstenstaaten, sondern schließlich auch innerhalb der frei gebliebenen Städte; geistig-kultu-rell durch das Prinzip der individuellen Glaubens- und Gewissensfreiheit, das schließlich auch und gerade in den Städten das Recht nicht der Bürgergemeinde, sondern jedes einzelnen nicht nur auf abweichenden Konfessionsstand, sondern schließlich sogar Freiheit von der Religion selbst einschloss.

29 Ebd., H II.30 Ebd., K II.

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II

Mit der 1552 in allen betroffenen Städten überwundenen Interimskrise waren die mit der Reformation aufgebrochenen Auseinandersetzungen um die städti-sche Kirchen- und Politikverfassung keineswegs beendet. Denn mit der Theo-logisierung und Konfessionalisierung der städtischen wie der allgemeinen Kir-chengeschichte setzten sachlich-thematisch gesehen die eigentlichen Probleme überhaupt erst ein. Längerfristig ging es um das Zusammenleben konfessions-verschiedener Gruppen in ein und derselben Stadt, das mit den Normen eines konfessionell und politisch geschlossenen Stadtrepublikanismus gar nicht ver-einbar war und sich innerhalb des nächsten Jahrhunderts via fact in den meis-ten deutschen Städten doch durchsetzen sollte. So auch in der lutherischen Stadt Magdeburg mit der Zulassung reformierter Gemeinden in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundertes.

Für die norddeutschen „Autonomiestädte“ – dies der Begriff des Rechtshisto-rikers Otto Giercke für die großen unabhängigen Landstädte, die dem Territori-alstaat nicht restlos unterworfen waren – stand das Jahrhundert nach 1552 unter gegenläufigen Vorzeichen: Einerseits ergab sich eine deutliche Festigung und Steigerung des konfessionellen Republikanismus unter der für den Konfessions-staat ebenso wie für die konfessionelle Stadt gültigen Maxime „religio vinculum societatis“ – nur eine einheitliche Religion oder Konfession kann den bürger-lichen Frieden garantieren. Unter lutherischem Vorzeichen galt für Magdeburg das konfessionalistische Ordnungsmodell, demzufolge der Name Bürgerschaft (civitas) nicht nur einen Bürgerverband (unitas civium) bezeichne, der von einem Wall oder einer Verschanzung umgeben ist. „Civitas“ meine auch und vor allem, dass die Bürger einer Stadt zusammengebunden seien „durch denselben Willen, dasselbe Recht und Gesetz und dieselbe Konfession / eiusdem fidei symbolo“ – und so 1620 in Bezug auf die katholische Stadt Aachen von deren Kanoniker Johannes a Beek posuliert: „eodem velle, eodem nolle, eiusdem fidei symbolo, earundem civilium legum acac iustitiae nexu coalescere cives“.31

Andererseits schwebte über dem Stadtrepublikanismus nicht der Reichs-, wohl aber der Autonomiestädte das Damoklesschwert des Augsburger Religi-onsfriedens von 1555, das die Stellung der Fürsten und ihrer sich entwickelnden Territorialstaaten gewaltig gestärkt hatte, und zwar nicht zuletzt durch die Reli-gionsbestimmungen, die spätere Reichsjuristen mit dem berühmten „eius regio, eius religio“ auf den Nenner brachten, also – kurz gefasst – „es sind fortan die

31 Petrus a Beek, Aquisgranum, Aachen 1620, S. 250 (dt. Übers. von P. Käntzeler, Aachen 1874, S. 329). Das Verhältnis zwischen Stadtrepublikanismus einerseits und Konfessiona-lismus oder Toleranz andererseits bedarf einer eingehenden Untersuchung. Die auf Religi-onsfrieden und Toleranz hinzielenden Impulse städtischer Politikkultur sind scharfsichtig herausgearbeitet bei Olivier Christin, La paix de religion. L’autonomisation de la raison politique au 16e siècle, Paris 1997, passim, v. a. 201 ff.

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Landesherren, die die Konfession ihrer Untertanen bestimmen“, und zwar auch in den Landstädten.

Die Magistrate und die sie beratenden rechtskundigen Syndizi der großen nord- und nordwestdeutschen Städte, die ja überwiegend keine Reichsstädte wa-ren, hatten bereits während der Verhandlungen in Augsburg die tödliche Gefahr erkannt, die mit der sich anbahnenden Lösung der Konfessionsfrage für die Un-abhängigkeit ihrer Städte und des stadtrepublikanischen Modells generell ver-bunden waren. Sie hatten sich daher bemüht, einen eigenen „Hansestadtartikel“ in den Religionsfrieden aufnehmen zu lassen, der die durchgehend lutherische Konfession der Hanse- und Autonomiestädte eigenständig sichern sollte und nicht nur als Ausfluss der Territorial- und Religionshoheit ihrer Stadt- und Landesher-ren anzusehen wäre. Anfänglich hatten sie sich dabei durchaus der Unterstützung lutherischer Kurfürsten und Fürsten erfreuen können. Im Endeffekt hatte aber die antistädtische Fürstensolidarität über die lutherische Konfessionssolidarität ge-siegt und ein gesonderter Hansestadtartikel kam nicht zustande. Damit war ent-schieden, dass reichs- und territorialrechtlich Hansestädte, soweit sie nicht den Reichsstadtstatus besaßen, wie „einfache“ Landstädte dem Territorialstaat und seiner Landeskirche unterstanden. Erst jetzt war die Unterscheidung zwischen „Reichsstädten“ einerseits und „Landstädten“ andererseits nicht nur trennscharf, sondern rechtssystematisch alternativ.

Wie in der Geschichte üblich, waren Rechtsnorm und historische Realität je-doch keineswegs dasselbe: Wo es den Landesherren an realer Macht fehlte, ihre Rechtsposition gegenüber ihren Landstädten durchzusetzen, blieb der Stadtrepu-blikanismus lebendig, so in Braunschweig und Magdeburg bis weit ins 17. Jahr-hundert hinein; in Sonderfällen wie Rostock in Mecklenburg oder Emden in Ostfriesland sogar bis ins 18. Jahrhundert. Ein Erstarken der Territorialgewalt oder ein Wechsel in der Landesherrschaft hin zu einer mächtigen Dynastie be-deutete aber unweigerlich das Ende von Autonomiestatus und Stadtrepublikanis-mus. Das erfuhr kaum eine andere Stadt so drastisch wie Magdeburg: Die Stadt konnte nach 1555 dank der Windschattenlage zunächst der Tripartit zwischen Erzbischof, Kursachsen und Kurbrandenburg (erst 1579 endgültig beseitigt32), dann notorisch schwacher Administratoren noch ein Jahrhundert lang faktisch den Status einer Autonomiestadt behaupten. Das zeigt der selbstbewusste Um-gang mit den Huldigungsansprüchen des Erzbischofs beziehungsweise der Tri-partit-Landesherren. Vor allem aber dokumentiert dies die Lutheranisierung der Stadt – verstanden sowohl bekenntnismäßig als auch als Ausdruck städtischer Kirchenhoheit – und gleichsam die Inanspruchnahme eines 1555 erfolglos gefor-derten besonderen „Hansestadtartikels“, der den norddeutschen Landstädten das ius reformandi und damit die lokale Kirchenhoheit zugestehen sollte.

32 Vgl. H e l m u t A s m u s , 1200 Jahre Magdeburg, Bd. 1, Magdeburg 1999, S. 507.

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Vor diesem stadtrepublikanischen Hintergrund erscheinen die kirchen- und konfessionsgeschichtlichen Ereignisse der späten 1550er und 1560er Jahre in einem deutlich anderen Licht als in einer noch jüngst vorgelegten Geschichte Magdeburgs (1999 von Asmus), die hinter dem Vorgehen gegen den katholi-schen Gottesdienst im Dom einen Verstoß gegen die „Religionsfreiheit“ (die das System von 1555 überhaupt nicht kannte!) und die Agitation der lutherischen Prediger sieht, „die […] erneut Aufregung und Unruhe unter dem Stadtvolk schürten“.33 Nein, angesichts der beschriebenen verfassungsgeschichtlichen Ten-denz des Augsburger Gesetzeswerkes und der befriedenden und stabilisierenden Funktion des „eiusdem fidei symbolo“, das in der prekären politischen Situation der Elbestadt kaum weniger entscheidend war als für Aachen im Interessenfeld niederländischer wie spanischer Armeen, ging es bei der Lutheranisierungspo-litik um die fundamentale Sicherung der bürgerlich-stadtrepublikanischen Ord-nung. Den Zeitgenossen jedenfalls galten der lutherische Bekenntnisstand und die lutherische Bürgeridentität als höchste symbolische Repräsentation ihrer stadtrepublikanischen Freiheit.

Einzelheiten kann und brauche ich hier nicht nachzuzeichnen. Entscheidend ist das Ergebnis in zweifacher Hinsicht: Indem der Dom und die Stiftskirchen 1567 zu bürgerlichen Pfarrkirchen umgewandelt wurden, war nicht nur die Ex-emtion beseitig – die bereits das mittelalterliche Stadtbürgertum allenthalben be-kämpft hatte – es war auch die Einheitlichkeit der bürgerlichen Religions- und Kirchenordnung erreicht: aus der mittelalterlichen Kleriker- war die frühneu-zeitliche Bürgerkirche geworden. Und indem sich der Stadtrat 1562 und 1564 der Visitation des Landesherrn und auch späteren Visitationen entzog, war die Eigenständigkeit der Stadtkirche und des stadträtlichen Kirchenregiments gegen-über der hochstiftlichen oder herzoglichen Landeskirche dokumentiert. Das war politisch um so wichtiger, als auch die Territorialkirche unter dem Administrator Sigismund von Brandenburg und dann vollends unter seinem Nachfolger Joa-chim Friedrich von Brandenburg (1566−1598) lutheranisiert wurde, Landes- und Stadtkirche somit eines Bekenntnisses waren und die städtische Selbständigkeit sich folglich nur kirchenverfassungsmäßig in einer eigenständigen Organisation der Stadtkirche dokumentieren ließ.

Der eingangs beschriebenen Komplementarität von außen- und innenpoli-tischen Ordnungsmaximen des alteuropäischen Stadtrepublikanismus entspre-chend, war parallel zur Abwehr außerstädtischer, landesherrlicher Ansprüche in-nerhalb der autonomen Stadtkirchen selbst, die Hoheitsfrage zu entscheiden: In der Reformationsphase hatte sich allenthalben in den Städten ein Kräftedreieck aus Bürgerschaft, Prädikanten und Rat herausgebildet, in dem lange Zeit die Al-lianz zwischen Prädikanten und Bürgerschaft den Ton angab, wobei die evangeli-schen Prädikanten häufig institutionell zu einem Predigerministerium mit einem

33 Ders., a. a. O., S. 498.

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Vorsitzenden (Superintendenten oder Präsenz) zusammengeschlossen waren und auf dieser Rechtsbasis eigenständig agieren konnten, unabhängig und häufig ge-gen den Magistrat. In vielen Städten, so etwa in Hamburg, war es bereits während der Interimskrise zu Spannungen zwischen Rat und Predigerministerium und zu ersten Versuchen der Magistrate gekommen, die Ministerien zu entmachten und die einzelnen Prädikanten streng unter die Aufsicht des Magistrats zu stellen. In Magdeburg hatte die gemeinsame Frontstellung von Prädikanten und Magistrat im Angesicht der Belagerung diese strukturellen Gegensätze überdeckt, mit der Folge, dass sie in den 1560er Jahren um so heftiger aufbrachen, auch dies eine in den deutschen Städten allgemein zu beobachtende Entwicklung, deren struk-tur-, verfassungs- oder ordnungspolitischer Kern nicht erhellt, sondern verdeckt wurde, wenn in Bezug auf die Magdeburger Konflikte mit und um Tilmann Heß-husen von „totalitären Geistlichen“ die Rede ist.34 Nein, es ging wiederum um eine Entscheidung über die Politikkultur der Stadt: Sollte weiterhin das stadtre-publikanische Modell bürgerlich-gemeindlicher Partizipation in Angelegenhei-ten, die, wie der Konfessionsstand, alle Einwohner betrafen, gelten, oder würde dieses Prinzip durch die voranschreitende Verobrigkeitlichung der Stadträte, de-ren manche sich bald „Deo gratia“ titulierten, ausgehebelt werden, so dass der Stadtrat quasi „souverän“ über Stadt und Stadtkirche herrschen konnte?

Es ließe sich nun zeigen, wie das stadtrepublikanische Freiheits- und Konfes-sionsmodell auch die Politik Magdeburgs im Dreißigjährigen Krieg bestimmte und symbolisch verdichtet in der Martyr- und Selbstbehauptungsrepräsentation einer „lutherischen Lukretia“ sogar die Vernichtung der Stadt durch Tilly und das daraus für die Überlebenden resultierende Trauma zu verarbeiten half: „Der Herr“, so stellt die geschundene Magdeburger Jungfrau fest, „hat […] mich vor aller Welt / zu einer öffentlichen Bekennerin und Märtyrerin haben wollen / und durch meine Feinde […] seinen Grimm und Zorn über mich ausgeschüttet“35. In einer zutiefst lutherischen Repräsentation wird die Zerstörung der Stadt zum Martyrium „umb Gottes Worts willen“. In Anklang an Luthers Eine-feste-Burg-ist-unser-Gott wird die grauenvolle Erfahrung sinnhaft gedeutet als irdische „va-nitas: Nehmen sie uns gleich den Leib / Gut / Ehr / Kind und Weib / laß fahren dahin, sie haben kein Gewinn / das Reich Gottes muß uns bleiben“.36

34 D e r s ., a. a. O., S. 510. „Totalitär“ ist hier völlig fehl am Platz; „fundamentalistische Geistliche“ mag dagegen die Position treffen.

35 Flugschrift „Erbärmliches Hinterlassenes …“, C III, zitiert nach J a n - F r i e d r i c h M i ß f e l d e r , Die Eroberung Magdeburgs 1631, Magisterarbeit, Humboldt-Universität Berlin 1999, S. 106. Vgl. auch d e r s ., Krisenstadtrepublikanismus, Magdeburg und La Rochelle. In: V e r a I s a i a s z u. a. (Hrsg.), Stadt und Religion in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M./New York 2007, S. 147‒175.

36 Flugschrift „Magdeburgum Respective Redivivum“, C v, zitiert nach Mißfelder, a. a. O., S. 107.

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Nicht nur die „Herrgotts Kanzlei“ der Jahre 1550/52, sondern auch die un-abhängig mutige Außenpolitik Magdeburgs im Dreißigjährigen Krieg und die religiös-politikkulturelle Deutung des Widerstands, samt seiner ungeheuren Kos-ten sind ein Beweis dafür, dass keineswegs nur der Calvinismus zur politischen Tat und zum Widerstand befähigt war. Dem calvinistischen Republikanismus, wie ihn die deutschen Religionssoziologen und Politologen seit Max Weber und Georg Jellinek an Genf, den Niederlanden oder den amerikanischen Kolonien bewundern, entsprach ein lutherischer Republikanismus, der nicht anders als der in diesem Zusammenhang immer hoch gelobte Calvinismus sich bis Mitte des 17. Jahrhunderts gegen obrigkeitliche Repressalien von außen, von Seiten der Fürsten und Landesherren ebenso zu behaupten wusste, wie gegenüber obrigkeit-licher Beschneidung der Bürgerpartizipation im Innern.

Der lutherische Stadtrepublikanismus war auch entscheidend für die Allianz mit dem lutherischen Schweden und für den Widerstand gegen den katholischen Kaisersohn Leopold Wilhelm (1629−1635 Erzbischof von Magdeburg) als wi-derrechtlich eingesetzten Stadt- und Landesherrn – beides einem eher zögernden bis abweisenden Rat von einer Koalition zwischen Bürgerschaft und Prädikan-ten abgezwungen.37 Selbst die heilsgeschichtliche Selbstdeutung, insbesondere die Volk-Israel- oder Neues-Jerusalem-Imagination, an die Kultur- und Sozial-wissenschaftler immer wieder die besondere gesellschaftliche und intellektuelle Dynamik des westeuropäischen Calvinismus, vorzüglich der Niederlande und des puritanischen England, knüpfen, lässt sich in der lutherischen Stadtrepublik Magdeburg nachweisen.38

Allerdings konnte sich der alteuropäische Stadtrepublikanismus in Deutsch-land auf Dauer nicht behaupten und erhielt somit nie die Chance, sich zu mo-dernstaatlichen Partizipations- oder gar Demokratiemodellen fortzuentwickeln: Angesichts der bereits im 16. Jahrhundert angebahnten, im Westfälischen Frie-den dann reichs- und völkerrechtlich festgelegten territorialen Neuordnung Mitteldeutschlands zugunsten der Hohenzollern und ihres sich zwischen Nie-derrhein und Ostpreußen festigenden frühmodernen Fürstenstaates, war es nur eine Frage der Zeit, bis auch in Magdeburg wie in so vielen anderen nord- und nordwestdeutschen Autonomie- und Hansestädten der Bürgerrepublikanismus verschwand und die obrigkeitlich beherrschte Landstadt mit Untertanengeist an seine Stelle trat. Stationen und Mechanismen, die diesen Wandel in Magdeburg herbeiführten, sind bekannt. Es war die nach Friedensschluss „stehengebliebene“ Fürstenarmee, die 1666 der Stadt die Huldigung und den Gehorsamseid abzwang, so wie andere Autonomiestädte etwa zur selben Zeit durch Waffengewalt in die Untertanenschaft gezwungen wurden – Braunschweig, Münster, Erfurt, um nur

37 Vgl. Mißfelder, a. a. O., S. 84, 88.38 Ebd., S. 97, 99 ff., 109.

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die spektakulärsten Fälle zu nennen. Damit hatte es sich auch gegenüber den Städten des Augsburger Systems durchgesetzt.

Im Falle Magdeburgs war es, nach dem endgültigen Übergang 1680 an die Hohenzollern, neben der Verfassungsänderung von 1683, die an die Spitze der Stadtregierung einen landesherrlichen Stadtpräsidenten setzte, insbesondere die Garnison und das Festungswesen, die den Paradigmenwechsel von der stadtre-publikanischen Politikkultur Alteuropas hin zur Untertanenstadt des Fürstenstaa-tes dokumentierte und zugleich zementierte. Das Wehrwesen war nicht mehr durch bürgerliche Selbstverteidigung charakterisiert, sondern durch bürgerferne Fremdbestimmung durch den Fürstenstaat, dem es nicht primär um die Siche-rung der stadtbürgerlichen Interessen Magdeburgs, sondern um die Sicherung seines Flächenstaates und seiner Residenz Berlin ging.

Ähnlich, wenn auch weniger dramatisch und von der Bürgerschaft nicht mehr mit gleichem Interesse verfolgt, stellte sich, auf dem Höhepunkt des konfessio-nellen Zeitalters, die Umstellung auf den fürstenstaatlichen Untertanenstatus in der Stadtkirche dar: Gemäß den Bestimmungen des Westfälischen Friedens, die den Konfessionsstand an das Normaljahr 1624 knüpften, mussten die calvinisti-schen Hohenzollern den lutherischen Konfessionsstand Magdeburgs akzeptieren. Die Stadtkirche unterwarfen sie gleichwohl ihrem Regiment. Und vor allem taten sie in Magdeburg wie in Berlin und anderwärts alles, um den Calvinismus zu för-dern und damit zugleich die lutherische Identität und einen damit eventuell ver-bundenen Rest an stadtrepublikanischem Widerstandswillen zu brechen. Das ist aus Berlin bekannt, wo der Große Kurfürst den Liederdichter Paul Gerhardt der Stadt verwies, weil dieser sich seinen calvinistischen Ansprüchen widersetzte. Und das gilt auch für Magdeburg, wo die systematische Ansiedlung pfälzischer, französischer und wallonischer Calvinisten ohne Zweifel dem Wiederaufbau der Stadt zugute kam, gleichzeitig aber auch deren Umwandlung von einer alteuro-päischen Stadtrepublik zur neuzeitlichen Untertanenstadt fördern sollte. Dieser Grundsatzwandel, der für die Politikkultur Deutschlands tiefgreifende Folgen haben sollte, wurde im vorliegenden Fall also nicht von einem angeblich obrig-keitshörigen, vom Untertanengeist geprägten Luthertum bewirkt. Im Gegenteil, er wurde getragen vom obrigkeitlichen Geist des hohenzollernschen Hofcalvi-nismus, der erstmals 1666 mit der brandenburgischen Garnison, und mit ihr der Gouverneur August von Holstein, in die Stadt kam, und dann in den 1680er und 90er Jahren durch die obrigkeitliche Fremdenpolitik weiter gefestigt wurde.

Um nicht missverstanden zu werden, will ich abschließend als kurzes Fazit noch-mals herausstellen, dass es mir bei der Darstellung des alteuropäischen Stadtre-publikanismus und der Analyse der ihn charakterisierenden Verzahnung religi-ös-kirchlicher und zivil-bürgerlicher Elemente und Prozesse um zwei gerade in der historisch-politischen Kultur der Bundesrepublik und in deren Geschichts-bild generell kaum präsente historische Zusammenhänge ging: um die Tatsache,

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dass es gerade in Deutschland eine lange republikanische, antifürstliche Partizi-pations- und Freiheitstradition gibt; und um die Widerlegung konfessionskultu-reller Klischees, die Freiheit und politische Verantwortlichkeit dem Calvinismus, dem Luthertum aber Untertanengeist und Obrigkeitshörigkeit sowie prinzipiell unpolitisches Verhalten zuweisen.

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