Was ist Geophilosophie?

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Dr. Stephan Günzel www.geophilosophie.de Friedrich-Schiller-Universität Jena Geophilosophie Nietzsche im Kontext der zeitgenössischen Erd- und Raumwissenschaften

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Dr. Stephan Günzel

www.geophilosophie.deFriedrich-Schiller-Universität Jena

GeophilosophieNietzsche im Kontext der

zeitgenössischen Erd- und

Raumwissenschaften

Was ist Geophilosophie?[Antworten der Geographen: Geologie/Geosophie]

Friedrich Marthe 1877Es wäre [...] wünschenswerth, die[] γραφία, die auf Gestaltund Ort alleine achtet, sich zu einer λογία verklären lassenzu können, indess da der Name Geologie unwiderruflichvergeben ist, so schlagen wir für die höchste und wahrhaftwissenschaftliche Stufe der auf die Ortsverhältnisse desErdlichen gerichteten Studien den Namen Geosophie vor,wenn auch Chorosophie oder Chorologie des Erdlichen vonSeite der Methode passender schiene. In einer gewissenBeziehung lautet Geosophie bedeutungsvoll, es gemahnt anPhilosophie, und mit Recht.[Friedrich Marthe, „Begriff, Ziel und Methode der Geographie“, in: Zeitschrift derGesellschaft für Erdkunde zu Berlin 12, 422–478, hier 445.]

Was ist Geophilosophie?[Antworten der Kulturtheoretiker]

Eugen Diesel 1929Das Nationale ist ein merkwürdiger Niederschlag aus derWechselwirkung zwischen Land, Volk und Menschen. [...] Indiesem Buch ist versucht, den Hauch der Dinge, den farbigenAbglanz und geistigen Firnis, der über Land und Volk liegt, zurRede zu zwingen. [...] [D]ies Buch [...] versucht überpolitischund überwissenschaftlich zu sein und ist darum vielleicht amehesten das, was man philosophisch nennt. [...] Man könntees somit als eine philosophische oder künstlerischeGeographie bezeichnen, mit einem Wort als „Geophilosophie“.

[Eugen Diesel, Die deutsche Wandlung. Das Bild eines Volkes, Stuttgart/Berlin: Cotta1929, VII f.]

Was ist Geophilosophie?[Antworten der Philosophen: philosophische Geographie]

Peter Heinrich Schmidt 1937Alle geographische Arbeit heißt doch: Teile in Beziehungsetzen und zum Ganzen fügen, in immer erweiterten Kreisenbis zur Beherrschung der vielfältigen räumlichenBeziehungen, bis zur Ordnung des gesamten fachlichenWissens. [...] Das Überfachliche hebt uns empor. Darumwerden die Geographen [...] immer mehr hingewiesen, diesenGedankenreichtum der Nachbarwissenschaften zuverknüpfen, um so den Anschluß zu finden an dieZusammenfassung alles schöpferischen Wissens an diePhilosophie. [...] Die Philosophie steht am Anfang und amSchluß alles geographischen Wissens [...].

[Peter Heinrich Schmidt, Philosophische Erdkunde. Die Gedankenwelt derGeographie und ihre nationale Aufgaben, Stuttgart: Enke 1937, 3.]

Was ist Geophilosophie?[Antworten der Geographen: Geosophie]

John K. Wright 1947Geosophy [compounded from ge meaning ‚earth‘ and sophiameaning ‚knowledge‘] […] is the study of geographicalknowledge from any or all points of view. To geography whathistoriography is to history, it deals with the nature andexpression of geographical knowledge both past andpresent […]. […] [I]t covers the geographical ideas, both trueand false, of all manner of people – not only geographers,but farmers and fishermen, business executives and poets,novelists and painters, Bedouins and Hottentots – and forthis reason it necessarily has to do in large degree withsubjective conceptions.

[John K. Wright, „Terrae Incognitae: The Place of Imagination in Geography“, in:Annals of the Association of American Geographers, Vol. XXXVII/1, 1–15, hier 11f.]

Was ist Geophilosophie?[Antworten der Historiker: Geogeschichte]

Fernand Braudel 1949Géohistoire [...] [hat] ein zweifaches Anliegen. Die mensch-lichen Probleme so zu stellen, wie sie eine intelligente Human-geographie sieht, verbreitet im Raum und nach Möglichkeitkartographiert - [...] aber sie sollen nicht nur für die Gegenwart[...] aufgeworfen werden, sondern ihrer Anwendung in derVergangenheit finden [...]. [...] Aus der traditionellen histori-schen Geographie [...] gilt es [...] eine wirkliche retrospektiveHumangeographie zu entwickeln. Folglich sind die Geographenzu verpflichten [...] der Zeit größere Aufmerksamkeit zuschenken, und die Historiker [...] zu veranlassen, sich intensivermit dem Raum auseinanderzusetzen [...].

[Fernand Braudel, „Geohistoire und geographischer Determinismus“, Auszug aus demin der dt. Übertragung unveröffentlicht geblieber Schlussteil des 1. Bandes von DasMittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., dt. 1998.]

Was ist Geophilosophie?[Antworten der Philosophen]

Gilles Deleuze/Félix Guattari 1991Die Philosophie ist eine Geo-Philosophie, genauso wie dieGeschichte für Braudel eine Geo-Geschichte ist. […] DieGeographie liefert nicht bloß der historischen Form einenStoff und variable Orte. Sie ist nicht nur physisch undhuman, sondern mental [...]. Sie entreißt die Geschichtedem Kult der Notwendigkeit, um die Unreduzierbarkeit derKontingenz zur Geltung zu bringen. Sie entreißt sie dem Kultder Ursprünge, um die Macht eines ‚Milieus‘ zu bejahen […].

[Gilles Deleuze/Félix Guattari, Was ist Philosophie?, aus dem Franz. v. BerndSchwibs und Joseph Vogl, Frankfurt a. M.: Suhrkamp [1991] 1996, 109f.]

aus: Elmar Holenstein, Philosophie-Atlas, Zürich 2004.

Ernst Christian Kapp [1808–1896]

Geophilosophische Aspektebei Friedrich Nietzsche [1844-1900]

• räumlich– Geographie– „Geopolitik“

• Raum– physikalisch– metaphysisch

• zeitlich– Geologie– Prähistorie

• Biographie– Wanderschaft– Schreiben

Perspektiven derNietzscheforschung

• Nietzsche als Leser• Nietzsche als Kritiker• Nietzsche als Philologe• Nietzsche als Seismograph• Nietzsche als Experimentator

Nietzsche / nomadisch

Ralph Waldo EmersonDas geistige Nomadentum ist die Gabe der Objektivität oderdie Gabe, überall Augenweiden zu finden. Wem diesgegeben ist, der ist überall zu Hause. Jeder Mensch, jedesDing ist ein Fund, ein Studium für ihn, ja gleichsam seinEigentum, und die Liebe, die ihn so für Alles gleich beseelt,glättet seine Stirn, zieht ihn zu den Menschen hin, und läßtihn in ihren Augen schön und liebenswürdig erscheinen. EinWagen ist sein Haus; er durchstreift den weiten Raum mitder Leichtigkeit eines Kalmuken.Essays (1841, dt. 1858) von Nietzsche 1882 exzerpiert[KSA 9, 667]

Nietzsches Wanderjahre I: Genueser Jahre (1879-1883)

Nietzsches Wanderjahre II: Sils-Maria/Nizza/Turin (1884-1889)

Max OehlerNietzsche-Archiv

In Nietzsches Wanderlegendestehen vier Städte einge-schrieben […]. [D]iese vier sindmehr […] als bloße Meilensteineam Wege des philosophischenPilgers. Ihre Namen bezeichnenund versinnlichen wirklich ver-schiedene Himmelsrichtungenseiner geistigen Landschaft, ihreUmrisse bedeuten die Endenseiner inneren Welt.

Da ist Basel […]. […] [E]s stellt in NietzschesLeben den ganzen Schatz der Überlieferungdar […]. […] Aber unten im Süden lockt schonGenua, die Stadt des Columbus, der Hafenneuer Meere […]. […] Genua – das heißtMeer, heißt Meeresheimlichkeit, Meeresglück,Meeresschauder […]. Dann meerfern undeisnahe, glänzt Turin herüber […]. […] Turin,das heißt: Wille zur Macht und Ecce homo. Dieletzte Stadt aber […] ist Venedig. Es ist dieStadt, die Nietzsches Herz bis zuletzt amnächsten bleibt.

1918

Nietzsche / kritische Geographie

Ich will unter Muselmännern eine gute Zeit leben, und zwar dort,wo ihr Glaube jetzt am strengsten ist: so wird sich wohl meinUrtheil und mein Auge für alles Europäische schärfen.

Brief an Heinrich Köselitz 13. März 1881 (KSB 6, 68)

Wir werden dem jetzigen Europa fremd; damit dies Gefühl einpositivum werde, etwas Kräftiges und Schaffendes, wäre esfreilich rathsam, es mit der räumlichen Entfremdung zuverstärken.

Brief an Heinrich Köselitz vom 17. April 1883 (KSB 6, 359)

Soll ich eine Übersiedlung nach Mexico vornehmen?Briefentwurf an Franz Overbeck vom 14. August 1883 (KSB 6, 426)

Nietzsches Europa[subjektive Kartographie]

Osten: PolnischeVergangenheit(Kindheitslegende)

Norden:Hyperboreer(Europas Mythos)

Westen: FranzösischeZukunft (Urbanität)

Süden: Wüsten-Traumund Reisewunsch(Europas Grenze)

• Messina: südlichstervon Nietzsche erreichterPunkt [1882]

* Naumburg [1844]+ Weimar [1900]

“Aktionsradius” Alpen/nördliches Mittelmeer Kindheitsspiel

Krim-Krieg [1853-56]

Nordische Musik: Wagner

Musik des Südens: Bizet

Kopernikus

Kolumbus

Darwin

Boscovich

Emerson

Sokrates

•••• Basel

1844 – 1904

Nietzsche / “klimatographisch”

Es scheint, dass es bei den Moralisten einenHass gegen den Urwald und gegen die Tropengiebt? Und dass der „tropische Mensch“ umjeden Preis diskreditirt werden muss, sei es alsKrankheit und Entartung des Menschen, sei esals eigne Hölle und Selbst-Marterung? Warumdoch? Zu Gunsten der „gemässigten Zonen“?Zu Gunsten der gemässigten Menschen? Der„Moralischen“? Der Mittelmässigen –

Jenseits von Gut und Böse (1886), KSA 5, 117

Nietzsche / geophilosophisch?[D]er englische Genius vergröbert und vernatürlichtAlles, was er empfängtder französische verdünnt, vereinfacht, logisirt, putztauf.der deutsche verwischt, vermittelt, verwickelt,vermoralisirt.der italiänische hat bei weitem den freiesten undfeinsten Gebrauch vom Entlehnten gemacht undhundert Mal mehr hinein gesteckt alsherausgezogen: als der reichste Genius, der ammeisten zu verschenken hatte.

„Zur Charakterisierung des nationalen Genius in Hinsicht aufFremdes und Entlehntes“, Nachlass (1887), KSA 12, 341

John Lubbock[1834-1913]Differenzierung des „Skandinavischen“Systems (Stein-, Bronze- und Eisenzeit)durch Teilung der Steinzeit in Paläolithikum(oder Archäolithikum) und Neolithikum(Beginn der Seßhaftigkeit [12.000 / 5.600 –2.200 v. Chr.]

(Buch seit Erscheinungsjahr in Nietzsches Besitz)

Nietzsche / prähistorischDie längste Zeit der menschlichen Geschichte hindurch — man nennt sie dieprähistorische Zeit — wurde der Werth oder der Unwerth einer Handlung ausihren Folgen abgeleitet […]. Nennen wir diese Periode die vormoralische Periodeder Menschheit […]. In den letzten zehn Jahrtausenden ist man hingegen aufeinigen grossen Flächen der Erde Schritt für Schritt so weit gekommen, nichtmehr die Folgen, sondern die Herkunft der Handlung über ihren Werthentscheiden zu lassen: […] [der] Glaube[] an „Herkunft“, das Abzeichen einerPeriode, welche man im engeren Sinne als die moralische bezeichnen darf […].Statt der Folgen die Herkunft: welche Umkehrung der Perspektive! […] DieAbsicht als die ganze Herkunft und Vorgeschichte einer Handlung: unter diesemVorurtheile ist fast bis auf die neueste Zeit auf Erden moralisch gelobt, getadelt,gerichtet, auch philosophirt worden. — Sollten wir aber heute nicht bei derNothwendigkeit angelangt sein, uns nochmals über eine Umkehrung undGrundverschiebung der Werthe schlüssig zu machen, […] — sollten wir nicht ander Schwelle einer Periode stehen, welche [...] als die aussermoralische zubezeichnen wäre […]. Kurz, wir glauben, dass die Absicht nur ein Zeichen […] ist,das erst der Auslegung bedarf […] und […] für sich allein fast nichts bedeutet, —dass Moral, im bisherigen Sinne […] überwunden werden muss.

Jenseits von Gut und Böse (1886), KSA 5, 50f.

Diese kleine Schrift isteine grosseKriegserklärung; undwas das Aushorchen vonGötzen anbetrifft, so sindes dies Mal keineZeitgötzen, sondernewige Götzen, an diehier mit dem Hammerwie mit einer Stimmgabelgerührt wird […].

Götzen-Dämmerung (1889),KSA 6, 58.

“Geologie

der Moral”

Splügen. SymbolischesHin und Her derGenerationen.Mitte zwischen Nord undSüd, Sommer undWinter.

Nachlass (1878), KSA 8, 504

Via Mala/Splügen-Pass

Julius RobertMayer [1814-1878]

Ruggero GiuseppeBoscovich [1711-1787]

Mechanik der Wärme 21874„Über Auslösung“ 1876

„Alle Qualitäten sindQuantitäten“

Nietzsche, Nachlass (1872), KSA 7, 525

„Seit ihm giebt eskeinen Stoff mehr [...].Er hat die atomistischeTheorie zu Endegedacht.“

Brief vom März 1882, KSB 6, 183

Ausblick:

Nietzsche und die Physik:

physikalischer undmetaphysischer Raum

(“Wille zur Macht”)

Daß ‚Kraft‘ und ‚Raum‘ nur zwei Ausdrücke und verschiedeneBetrachtungsarten derselben Sache sind: daß ‚leerer Raum‘ein Widerspruch ist, ebenso wie ‚absoluter Zweck‘ (bei Kant),‚Ding an sich‘ (bei Kant) ‚unendliche Kraft‘ ‚blinder Wille‘ [...]

Nachlass (1884), KSA 11, 266

Es giebt keinen Stoff, keinen Raum (keine actio in distans),keine Form, keinen Leib und keine Seele [...] kein ‚Allwissen‘— keinen Gott: ja keinen Mensch.

Nachlass (1882), KSA 9, 683

Raum eine Abstraktion: an sich giebt es keinen Raum,namentlich giebt es keinen leeren Raum. Vom Glauben anden ‚leeren Raum‘ stammt viel Unsinn. —“

Nachlass (1884), KSA 11, 252

Nietzsche: Anti-Newton