Was ist eine geschichtliche Sequenz?

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Christian Schmidt (Hg.) Können wir der Geschichte entkommen? Geschichtsphilosophie am Beginn des 21. Jahrhunderts Campus Verlag Frankfurt/New York

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Christian Schmidt (Hg.)

Können wir der Geschichte entkommen?Geschichtsphilosophie am Beginn des 21. Jahrhunderts

Campus VerlagFrankfurt/New York

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Inhalt

Können wir der Geschichte entkommen? Ein einführender Überblick zur Fragestellung Christian Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

I. Aufklärung – Befreiung

Kritik, Zeit, Geschichte Nikolas Kompridis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Notwendige Geschichte – Zur Debatte um »radikale Aufklärung« Martin Saar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

Hegels %eorie der Befreiung – Gesetz, Freiheit, Geschichte, Gesellschaft Christoph Menke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

Negative Geschichtsphilosophie nach Adorno Peggy H. Breitenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

Kritik als Lebensform – Foucaults Studien zu Kant und revolutionärer Subjektivität Christian Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

6

II. Sich lösen

Was ist als-ob? Die Rolle des Fiktiven in der Geschichte Beatrice Kobow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

Die säkulare Fraglichkeit des Menschen

im globalen Hochkapitalismus –

Zur Philosophie der Geschichte in der

Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners

Hans-Peter Krüger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

III. Geschichtliche Aufgaben

Der Historismus und das Ereignis

Martin Jay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

Was ist eine geschichtliche Sequenz?

Zur philosophischen Analyse von Prozessen der Veränderung

Frank Ruda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Vom Herrenrecht, Geschichte zu geben –

Von Nietzsche zu Rancière

Tobias Nikolaus Klass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

Geschichten, Geschichtswissenschaft

und Selbstverständigungsprozesse

Robert Schnepf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321

I

Was ist eine geschichtliche Sequenz?

Zur philosophischen Analyse von Prozessen der Veränderung

Frank Ruda

1. Lenins Tanz: Von der Geschichte zu Geschichten

Einer berühmten Anekdote zufolge tanzte Wladimir Illjitsch Uljanow,

der besser unter dem Namen Lenin bekannt ist, einmal im Schnee. Dies

soll genau zu dem Zeitpunkt geschehen sein, an dem die Ergreifung oder

genauer die Erhaltung der ergriffenen Macht in Russland durch die revolu-

tionäre-bolschewistische Partei unter der Führung Lenins einen Tag länger

währte als knapp fünfzig Jahre zuvor, im Jahr 1871, diejenige der Pariser

Kommune.1 Diese Anekdote lässt sich aber nicht nur als eine geschichtliche

Skurrilität oder als eine Anekdote über die Schrulligkeit oder, wahlweise,

den sympathisch-jovialen Charakter eines gewichtigen politischen Denkers und Akteurs des 20. Jahrhunderts verstehen. Sie führt aus etwas anderer

Perspektive auch ins Herz des $emas, der Frage und vor allem des Begriffs,

der mir für ein Denken der Veränderung zentral zu sein scheint: Sie führt

zur geschichtlichen Sequenz. Die leninsche Schneetanzanekdote lässt sich

auch, nimmt man den gerade erwähnten Kontext, das heißt ihr Verhältnis

zur Pariser Kommune, mit in den Blick, als eine Art eigentümliche Kom-

mentierung des berühmten Satzes von Karl Marx aus dessen Kritik der poli-tischen Ökonomie begreifen, nach dem sich »die Menschheit immer nur die

Aufgaben stellt, die sie lösen kann.«2 Der tanzende Lenin ist dann, wenn

1 Zur Geschichte der Pariser Kommune vgl. die brillanten Analysen von Lissagaray,

Prosper, Geschichte der Commune von 1871, Frankfurt a. M. 1971. Badiou, Alain, »Die

Pariser Kommune. Eine politische Deklaration über die Politik«, in: Ders., Die Kommu-nistische Hypothese, Berlin 2011, S. 108–143. Und natürlich: Marx, Karl, »Der Bürger-

krieg in Frankreich. Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation«,

in: Ders./Engels, Friedrich, Werke, Bd. 17, Berlin 1964, S. 313–365. 2 Marx, Karl, »Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort, 1859«, in: Marx/Engels,

Werke 13, Berlin 1961, S. 7–11, hier S. 9.

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sich diese Pointierung aufrechterhalten lässt, als eine Art Emblem für die

Lösung einer solchen menschheitlichen Aufgabe und in diesem Sinne gar

als eine eigentümliche Variante eines kantischen Geschichtszeichen zu ver-stehen.3 Doch, so kann man an dieser Stelle sofort nachfragen, wenn sich diese Anekdote tatsächlich auf eine von der Menschheit selbst gestellte und

schließlich selbst gelöste Aufgabe beziehen soll, um welche Aufgabe und

welche Lösung handelt es sich. Kurz, was genau sollte das Problem sein, des-

sen Lösung von Lenin tanzend gefeiert wird? Eine erste Antwort zeichnet

sich ab, wenn man Folgendes festhält:

Der Anekdote nach tanzt Lenin genau dann, wenn etwas in Russland

1917 anders verläuft als 1871 in Paris. Das impliziert aber, sobald man

bestimmen kann, »was« später und in Russland »anders« und vermeintlich

(nach welchem noch zu bestimmenden Maß auch immer) »besser« verlaufen

ist, als früher in Paris, kann man notwendigerweise zugleich bestimmen, was

einerseits die (russische) Lösung und andererseits die (französische) Aufgabe

war, die sich die Menschheit zwischen 1871 und 1917 selbst gestellt hat.

Um also zu verstehen, um welche Problemlösung es bei der Anekdote

geht, hilft es, genauer zu bestimmen, wie sich 1917 zu 1871 verhält, oder

anders: was das Verhältnis von Pariser Kommune und Russischer Revolu-

tion ist. Mit dieser Frage des Verhältnisses beginnt man bereits inmitten

eines zeitlichen Intervalls. Man beginnt mit zwei Daten, zwei Eckpunkten

und mit dem noch unbestimmten Gedanken, dass sich zwischen beiden

etwas ändert. Bisher kann man sagen, dass 1871 etwas »realisiert« und 1917

es »anders realisiert«. Das legt ebenso eine weitere Sache nahe. Das, was sich

an diesen beiden Daten auf zwei verschiedene Weisen »realisiert« hat, ist in

gewisser Weise dasselbe, eben dieselbe Aufgabe, die verschiedene Lösungen

erfahren hat. Zu verstehen, was dieses »dasselbe« ist, hilft somit durch die

Erkenntnis der verschiedenen »Realisierungsweisen«, das Verständnis von

dem, was sich 1871, und dem, was sich 1917 zugetragen hat, genauer zu

fassen. Und, wie ich zeigen werde, der Begriff der geschichtlichen Sequenz

bestimmt gerade, was dabei »dasselbe« ist.

Sequenz ist ein Begriff »Desselben in Differenz«. Eine Sequenz bestimmt

sich deshalb immer nur aus der Differenz zu mindestens einer weiteren

3 Lenins Tanz wäre dann strukturell dem Enthusiasmus analog, den Kant in der Begeis-

terung seiner Zeitgenossen über die Französische Revolution ausmachte. Der tanzende

Lenin wäre dann ebenfalls ein »signum rememorativum, demonstrativum, prognosti-

con«, das einen – wie auch immer komplex gefassten – Begriff des Fortschritts impli-

zierte. Was hier Fortschritt heißen kann, wird sich im Folgenden noch deutlicher zeigen.

Vgl. Kant, Immanuel, Der Streit der Fakultäten, Hamburg 1959, S. 95.

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Sequenz. So ist bereits mit dem Verweis auf das Verhältnis von Pariser

Kommune und Oktoberrevolution ein Differenzkriterium zwischen zwei

verschiedenen Sequenzen in abstrakter Weise mit angegeben. Eine Sequenz

kann vorläufig und ex negativo wie folgt bestimmt werden:

Mit ihren eigenen Mitteln vermag sie manche der Aufgaben, die sie sich

selbst gestellt hat, nicht zu lösen. Eine solche Lösung erfährt die Aufgabe

erst in einer anderen, einer weiteren geschichtlichen Sequenz, die sich somit

einerseits von der ersten Sequenz unterscheidet und, so könnte man sagen,

die erste allererst zu einer Sequenz macht. Die Einheit einer Sequenz ergibt

sich demgemäß erst durch eine ihr nachfolgende, welche das, was die erste

transzendiert, zu ihrem eigentlichen Konstituens macht. So bleibt damit

aber die zweite Sequenz auf die erste bezogen, und zwar in der Weise einer

vorab unerfüllten Aufgabe, eines vormals ungelösten Problems. Die erste

Sequenz übermittelt der zweiten Sequenz eine Aufgabe, deren Bewältigung

die erste Sequenz allererst zur Sequenz macht. Das zeigt an, dass Sequenzen

und ihre Übergänge sowohl immanente als auch sich selbst transzendie-rende Gebilde sind. Sequenzen zeugen von Entwicklung, wenn nicht Fort-schritt4, denn zwischen zwei Sequenzen gibt es eine Art Übertragung, die ein Problem, eine Aufgabe von einer zur anderen weitergibt. Sequenzen sind geschichtliche Übertragungsgebilde.

Ich werde deswegen mit Bemerkungen zum Verhältnis von Pariser Kommune und Russischer Revolution beginnen. Diesen Bemerkungen, die sich im Feld der Politik bewegen – genauer: in dem, was man einst »revolu-tionäre« oder emanzipatorischen Politik genannt hat –, werden versuchen, die Anekdote über Lenin aufzuklären, und zwar als eine, die direkt mit der Sequenzialität von politischen Veränderungsprozessen zu tun hat. Aus dieser Bestimmung werde ich im Folgenden immer wieder auch das Kon-kret-Geschichtliche ein wenig verlassen, um aus dem Konkreten grundsätz-lichere Charakteristika des Sequenzbegriffes zu destillieren.

Ein sequenzieller Begriff von Veränderung, der weiterhin dialektisch

gefasst ist, soll so Teil eines Durcharbeitens dessen sein, was man vor einiger

Zeit einmal einen dialektischen Materialismus genannt hat und was man

4 Man kann bereits verraten, dass der Begriff »Fortschritt«, den ich hier in Anschlag

bringe, einer ist, der zugleich kein Ziel kennt. Es mag nicht überraschen, dass dies exakt

eine Definition dessen ist, was der frühe Marx »Kommunismus« nannte, der als sol-

cher nie das Ziel der menschlichen Entwicklung ist. Kommunismus ist geschichtlicher

Fortschritt ohne Ziel (als Beendigung, so könnte man pointieren, der Vor-Geschichte

der Menschheit, in der man noch an einem falschen Begriff des Fortschritts – mit Ziel

– festzuhalten versuchte).

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heute wohl eher eine materialistische Dialektik nennen sollte. Ich werde im

Folgenden, dies als letztes Wort der Einleitung, zeigen, dass ein sequen-

zielles Denken von Veränderung für seine Konsistenz eine notwendige

Bedingung hat. Es benötigt einen Geschichtsbegriff, der nicht länger auf

eine Geschichte, eine Geschichte mit extra-großem G, wenn man so will,

und ihre Gesetze führt, sondern unabdingbar und immanent eine Verviel-

fachung der Geschichten mit sich bringt. Der Slogan, den man dieser not-

wendigen Implikation des Sequenzbegriffs beigeben kann, lautet: »Von der

Geschichte zu Geschichten!«

Diese Implikation kann man noch in einer weiteren Version fassen.

Denn die schon leicht verstaubt anmutende und geschichtlich vielleicht

heute nicht mehr überzeugende Annahme des hegelianisierten Marxismus,

dass es ein Subjekt der Geschichte gäbe – das man Proletariat oder Arbei-

terklasse genannt hat –, aber ebenso jede Annahme, dass die Geschichte in

irgendeiner Weise von einem einheitlichen Subjekt – das man als Menschheit

oder wie auch immer adressieren könnte – gemacht würde, diese Annahme

muss in gewisser Weise ebenfalls aufgegeben werden. Oder genauer gesagt,

man muss eine solche Annahme vielmehr in folgender Weise reformulie-

ren: Es gibt kein Subjekt der Geschichte, aber der sequenzielle Begriff von

Geschichte impliziert, dass es sich in ihrer Subjektivität immer wieder auf-

einander beziehende Subjekte von Geschichten gibt. Letztlich meint dies,

dass Sequenzen Geschichte konstituieren und Geschichte sich sequenzi-

ell konstituiert, beide sind in Wechselbestimmung, wie man mit Hegels

berühmtem Wort sagen kann.

2. Always Periodize! Oder:

Wie man eine Seite der Weltgeschichte umblättert

Alain Badiou hat in seinem frühen Werk Die "eorie des Subjekts über Lenins

Schneetanzanekdote bemerkt, dass

»die bolschewistische Partei Lenins sicherlich der aktive Träger einer Bilanz der Misserfolge der Pariser Kommune [ist]. Das besiegelt Lenin, wenn er 1917 in Mos-kau im Schnee tanzt, als die Macht einen Tag länger als 1871 in Paris gehalten wurde. Es ist der Bruch des Oktober 1917, der die Pariser Kommune periodisiert, eine Seite der Weltgeschichte umblättert.«5

5 Badiou, Alain, Die "eorie des Subjekts, Zürich 2013. Die Übersetzung basiert auf: Badiou, Alain, "éorie du sujet, Paris 1982, S. 38.

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Die russische Oktoberrevolution von 1917 periodisiert also die Pariser Kom-

mune. Doch was meint hier Periodisierung? Um dies aufzuklären, ist es

hilfreich, eine Bestimmung dessen zu diskutieren, was Badiou die kommu-

nistische Hypothese6 nennt. Dieser ein wenig dunkel scheinende Ausdruck7

wird sich im Verlaufe meiner Ausführungen erhellen. Badiou hat in einer seiner neusten Veröffentlichung, in Le Reveil de L’Histoire – »Das (Wieder-)

Erwachen der Geschichte«8 –, davon gesprochen, dass die Idee emanzipato-

rischer Politik, einer Regierung von Gleichen, einer Herrschaft von Gleichen

über Gleiche, die man etwa unter dem Namen der Demokratie fassen kann,

die man aber auch immer wieder unter dem Namen des Kommunismus

adressierte, verschiedene geschichtliche Formulierungen gefunden hat. Im

18. Jahrhundert zunächst eine republikanische – man denke hier philoso-

phisch an Rousseau9 oder Kant10, praktisch politisch etwa an Robespierre11

oder St. Just12 –, im 19. Jahrhundert eine, die er »naiv kommunistisch«

nennt – man denke philosophisch an St. Simon13 oder politisch an die Pari-

ser Kommune14. Im 20. Jahrhundert schließlich hat diese Idee eine staat-

lich kommunistische Formulierung gefunden. Diese recht abstrakte und

schematische Einteilung offeriert bereits einen ersten möglichen Zugang zur

Frage der Periodisierung. Denn, beginnt man mit den ersten beiden Aus-

formulierungen der Idee einer emanzipatorischen Politik,15 kann man fol-

6 Vgl. Badiou, Alain, Die Kommunistische Hypothese, Berlin 2012.

7 Dass das Wort »Kommunismus« und auch der Ausdruck »kommunistische Hypo-

these« heute einen dunklen, eher obskuren Klang hat, ist selbst ein Effekt dessen, was

im 20. Jahrhundert unter diesen Ausdrücken an Erfahrungen gesammelt wurde. Diese

Erfahrungen waren ohne Zweifel mit viel Leid und Schrecken verbunden, aber die aus-

schließliche Insistenz auf Leid und Schrecken – die Zahl der Toten etwa – ist bereits ein

Effekt der Verdunklung, die in Bezug auf die genannten Ausdrücke statthat. Deswegen

hat heute der Ausdruck »kommunistische Hypothese« etwas Dunkles genau in dem

Sinne, den Georges Sorel dem Wort »Sozialismus« bescheinigt hat. (Vgl. Sorel, Georges,

Über die Gewalt, Frankfurt a. M. 1981, S. 145.) Das dies selbst ein Effekt des 20. Jahr-

hunderts ist, lässt sich nachvollziehen, wenn man Badious Rekonstruktion desselben

liest: Badiou, Alain, Das Jahrhundert, Zürich/Berlin 2006. 8 Vgl. Badiou, Alain, Le Réveil de L’Histoire. Circonstances, 6, Paris 2012. 9 Vgl. Rousseau, Jean-Jacques, Der Gesellschaftsvertrag, Leipzig 1978.10 Vgl. Kant, Immanuel, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Stuttgart

2008.11 Vgl. Robespierre, Maximilien, Virtue and Terror, London/New York 2007.12 Vgl. Saint-Just, Oeuvres Complétes, Paris 2003.13 Vgl. Saint-Simon, Mémoires, Paris 1998.14 Vgl. dazu erneut Lissagaray, Geschichte der Commune.15 Welche Charakteristika diese Idee nahezu überzeitlich bestimmt haben, findet man

in: Badiou, Alain, Le courage du présent, in: npa2009.org, 19.02.2010, http://www.npa2009.org/content/le-courage-du-pr%C3%A9sent-par-alain-badiou.

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gende Charakteristika festhalten: Der geschichtliche Zeitabschnitt, in dem der Gedanke aufkommt, dass es ein soziales, politisches Ordnungsgefüge

geben kann, in dem es zu einer perpetuierten Organisation der Unmög-

lichkeit von Ungleichheit kommt, das heißt, in dem es zu dem Gedanken

kommt, dass es eine Ordnung geben kann, in der sich Gleiche als Gleiche

organisieren, und in dem zudem die Frage aufkommt, in welcher Form eine

solche Ordnung konkret umzusetzen sei, beginnt in gewisser Weise mit der

Französischen Revolution und dauert etwa achtzig Jahre, bis hin zu den 72

Tagen der Pariser Kommune.

Die erste Sequenz dieser radikal demokratischen oder, wie Badiou sie

nennt, kommunistischen16 Hypothese, lässt sich als eine Zeit fassen, die

dadurch ausgezeichnet ist, dass sie der Hypothese – eine gerechte Ord-

nung von Gleichen ohne Ausschluss etablieren zu können – eine erste

Artikulation(sform) zu geben sucht. Sie versucht, so könnte man sagen, die

Hypothese als Hypothese zu formulieren. Die erste Sequenz ist die Sequenz

einer Formierung und auch der Formalisierung der Hypothese als solcher.

Damit verhält es sich, wenn man den Ausdruck der Hypothese buch-

stäblich nimmt, ebenso wie mit einer Hypothese in der Wissenschaft. Ein

Beispiel dafür, das Badiou selbst anführt,17 wäre die Fermatschen Vermu-

tung18 in der Mathematik. Sie besagt, dass für die Formel xn + yn = zn für

n > 2 keine Lösung im Bereich der natürlichen Zahlen gefunden werden

kann. Fermat formuliert diese Vermutung im 17. Jahrhundert – genauer

gesagt, behauptet er bewiesen zu haben, dass die entsprechende Aussage

gilt, ohne dass der Beweis überliefert ist. Was aber zählt, ist, dass diese

16 Die Frage, ob man nun diese Fassung emanzipatorischer Politik demokratisch oder

kommunistisch nennt, ist keine bloße Frage von Präferenzen – so als wäre »Kommu-

nismus« der Name für Demokratie bei jenen, die sich gerne etwas radikaler gebärden.

Kommunismus als Bezeichnung gilt es, wie mir scheint, dann vorzuziehen, wenn man

die Nichtstaatlichkeit einer Organisationsform von Gleichen zu betonen sucht. Kontu-

riert man den Begriff der Demokratie in einer Weise, die diesen synonym mit dem der

Volksdiktatur gebraucht – ebenso ein ziemlich aus der Mode gekommener Begriff – und

wird diese gerade nicht so gefasst, dass sie in einer repräsentativen, parlamentarischen

Organisationsform aufgeht, gibt es, meines Erachtens, keinen Unterschied zwischen

Demokratie und Kommunismus (mit Ausnahme der Tatsache, dass die Demokratie zu

verteidigen heute nicht nur leichter fällt als den Kommunismus, sondern man sich im

Zuge einer solchen Verteidigung auch leicht auf ein und der gleichen Seite mit strikten

Gegner der Emanzipation wiederfinden kann).

17 Vgl. Badiou, Die kommunistische Hypothese, S. 12 f.

18 Hier ist die popularisierende Darstellung bei Simon Singh hilfreich: Singh, Simon Fer-mats letzter Satz. Die abenteuerliche Geschichte eines mathematischen Rätsels, München

2000.

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Hypothese bis zu ihrem endgültigen Beweis durch Wiles und Taylor 1995 zu vielen mathematischen "eoremen, Entdeckungen und Experimenten führte. Diese genuin mathematische Hypothese hatte also für etwa drei

Jahrhunderte gerade als Hypothese eine Validität.

Mit der ersten Sequenz der Hypothese emanzipatorischer Politik ver-

hält es sich in gewisser Weise ähnlich wie mit der Fermatschen Vermu-

tung. Die erste Sequenz formuliert die Hypothese als Hypothese. Und sie tut

dies, indem sie die eine sehr konkrete Form sozial-politischer Bewegung,

die Massenbewegung, die etwa in der Gestalt von Unruhen, Streiks oder

Demonstrationen geschichtlich in Erscheinung trat, mit einer politischen

Vorstellung verbindet, nämlich derjenigen, den Staat, so wie er ist, zu stür-

zen.19 Ihn, so die (konsequente) Folgerung dieser Zeit, überhaupt stürzen

zu können, ist nur dann möglich, wenn man sein »Zentrum« besetzt. Die

grundsätzliche Annahme, die die erste Sequenz als Sequenz auszeichnet, das

heißt, die sie trotz aller Unterschiede der mannigfaltigen Artikulation mit

einer internen Konsistenz versieht, war, dass der Staat durch nichts ande-

res definiert ist als durch eine fundamentale Restriktion der Möglichkeiten

– etwa der Möglichkeiten der Realisierung der eigenen Freiheit oder der

Möglichkeit, ein gerechtes Regime von Gleichen zu errichten, dessen mögli-

che Existenz gerade hypothetisch behauptet wird.20 Was sich notwendig aus

dieser Bestimmung des Staates ergibt, ist also, dass der Staat als Staat zer-

stört werden muss, um wirklich freies Handeln und wirklich freies Handeln

von Gleichen zu ermöglichen.21 Diese Aufgabe erfüllt der Akteur, der bereits

an unterschiedlichen Orten konkret in Aktion getreten war, nämlich die

Massenbewegung, genauer: ihre organisierteste Form, das heißt die Arbei-

terbewegung. Genau dies, die Aufhebung der Restriktionen hinsichtlich

der Möglichkeiten freier Handlungen von Gleichen durch eine Bewegung

von Massen von Arbeitern, war es, was man dementsprechend unter dem

19 Vgl. zu den folgenden Ausführungen ebenfalls: Ruda, Frank/Völker, Jan, »Was heißt es,

ein Marxist in der Philosophie zu sein?«, in: Badiou, Alain, Ist Politik denkbar?, Berlin

2010, S. 135–165.

20 Diese Bestimmung hat bis heute Nachwirkungen. Man denke auf der einen – eman-

zipatorischen – Seite an Lenin, Luxemburg, Mao – auf der anderen an eine Linie, die

vom Hegelinterpreten Rudolf Haym bis Guido Westerwelle reicht. Während die eine

Seite diese Möglichkeitsbegrenzungen immer wieder und in unterschiedlicher Art zu

sprengen sucht, um ein Regime der Gleichen zu etablieren, versucht die andere den

Einflussbereich des Staats zu reduzieren, um (meist marktorientierten) Realisierungen

individueller Freiheit den Vorrang zu geben.

21 Dies bestimmt die wesentlich anti-hegelsche Qualifizierung der ersten Sequenz. Hegel

hatte vor allem in seiner Rechtsphilosophie für das exakte Gegenteil optiert.

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Begriff der Revolution gedacht hat.22 Daher stammt der auch heute noch –

und vielleicht nicht zu Unrecht – verbreitete Gedanke, dass eine Revolution

alle Formen und Momente von Ungleichheit abschafft und so etwas ein-

richtet, was Jacques Rancière einmal in der Sprache der Arbeiterbewegung

des 19. Jahrhunderts eine »Gemeinschaft der Gleichen«23 genannt hat.

In dieser Zeit werden formale Operatoren, wie »Gleiche«, »Organisa-

tion« etc., bereitgestellt, die als abstrakte Ausdrücke eingesetzt werden und

dazu dienen, das zu artikulieren, was Louis Althusser in Anlehnung an

Lenin eine konkrete Analyse konkreter geschichtlicher Situationen, kon-

kreter geschichtlicher Wirklichkeit genannt hat.24 Gemeint ist damit eine

Analyse des Staates und seiner unterdrückenden Effekte, die mit der Mas-

senbewegung zugleich einen Agenten, ein Subjekt skizziert, das eben diese

Unterdrückung, die sich in dem so entworfenen Subjekt verdichtet, abzu-

schaffen fähig ist. Die Pariser Kommune, so kann man ausgehend von die-

ser ersten Bestimmung festhalten, bringt nun zwei Dinge hervor. Einerseits

führt sie erstmals die Elemente der so formulierten Hypothese zusammen.

Eine Massenbewegung, die in entscheidendem Maße Arbeiter einbezieht,

versucht den Staat, der als ein Restriktionsapparat der Möglichkeiten wahr-

genommen wird, abzuschaffen und ihm eine andere Form der Organisation

entgegenzusetzen. Andererseits zeigt sie auch, und ebenfalls in sehr kon-

kreter Gestalt, die Beschränktheiten dieser Annahme, die Begrenzungen dieser Konstruktion auf. Denn in den zwei Monaten ihres Bestehens, vom 18. März 1871 bis zum 28. Mai, erwies es sich für die Pariser Kommune nicht als möglich, die Hypothese eines neuen Organisationsformats – einer

anderen Organisation, die sie lokalerweise zu etablieren fähig war – über ihr bloß begrenztes und lokales Territorium hinaus zu bewahrheiten.25 Das Organisationsmodell der Kommune funktionierte begrenzt, weil es nur für die Kommune und nicht etwa auf nationaler Ebene angewandt werden konnte. Zugleich zeigte sich noch ein zweiter Mangel. Die Pariser Kom-mune war nicht in der Lage, sich gegen die Einwirkungen, Handlungen und Manöver ihr feindlich gesinnter Parteien, der so genannten konter-re-

volutionären Bewegung abzusichern.

22 Vgl. dazu u. a. Menke, Christoph/Raimondi, Francesca (Hg.), Die Revolution der Men-schenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Berlin 2011.

23 Rancière, Jacques, Proletarian Nights. !e Workers’ Dream in Nineteenth-Century France, London/New York 2012.

24 Vgl. Althusser, Louis, Machiavelli and Us, London/New York 2011.

25 Zur Frage der Ausdehnung lokaler Organisationsformate, vgl. Badiou, Le Réveil de

L’Histoire, besonders S. 31–81.

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Die zweite Sequenz dessen, was Badiou die kommunistische Hypothese

nennt, beginnt nun mit der Russischen Revolution und dauert insgesamt

von 1917 bis in die siebziger Jahre des 20, Jahrhunderts. Sie ist für ihn letzt-

endlich mit dem Tod Maos 1976 beendet. Ihr Ende wird damit für Badiou

systematisch einerseits vom Ende der Kulturrevolution und andererseits

etwa fünfzig Jahre nach ihrem Beginn von den Aufständen des Mai 68

markiert. Die Frage, die in entscheidendem Maße die zweite geschichtliche

Sequenz, die sich ebenfalls unter das Label der Hypothese einer gerech-

ten Ordnung von Gleichen bringen lässt, auszeichnet, ist: Wie kann man

ausgehend von den und trotz der Erfahrungen, die mit und in der Pariser

Kommune gemacht wurden, siegreich sein? Und noch genauer: Wie kann

man siegreich bleiben?

Nun war bereits Lenin einer der Ersten, die eine wirkmächtige Antwort

auf diese Frage theoretisch wie praktisch gegeben haben. Lenin gab der

Hypothese so etwas wie einen symbolischen Körper, der beide Sequenzen

verbindet. Er entwarf einen symbolischen Körper, der dauerhaft und bestän-

dig zu sein vermochte und damit eine Expansion vom Lokalen – zumindest

aufs Nationale und prinzipiell auch aufs Internationale – zuließ und sich

zudem gegen konter-revolutionäre Tendenzen, die den Status quo erhalten

wollten, zur Wehr zu setzen fähig war: die Partei.26 Die zweite Sequenz

konstituiert sich somit zunächst durch den Rückbezug auf ein ungelöstes

Problem der ersten Sequenz. Das Problem, das sich in verdichteter Gestalt

in der Pariser Kommune zeigte, war:

Welche symbolische und materiale Form kann entwickelt werden, um

eine gerechte Gemeinschaft von Gleichen in einer Weise zu etablieren, die

beständig und dauerhaft aufrechtzuerhalten ist – auch gegen alle Geg-

ner und Anfeindungen? Wie kann, so könnte man auch fragen, ein neuer

Typus von Macht – eine Macht, die die Machtposition nur einnimmt, um

diese selbst abzuschaffen – so organisiert werden, dass sie nicht von ihren

Gegnern, bevor sie sich selbst als Macht – und damit Macht tout court –

abschafft, abgeschafft wird?

26 Vgl. dazu u. a. Lenin, Vladimir Iljitsch, »Parteiorganisation und Parteiliteratur« (1905),

in: Ders., Werke, Bd. 10, Berlin 1958, S. 29–34.

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3. Sequenz: normativ, konsequenziell, konkret-allgemein

Hier wird bereits deutlich:

1. Eine Sequenz impliziert immer eigene – im Falle der Politik, kollektive

– normative Selbstfestlegungen (an denen sie selbst in ihren Konsequen-

zen zu messen ist).27 Das kann etwa die Forderung sein, die Hypothese

der Möglichkeit eine gerechte Ordnung von Gleichen so zu organisie-

ren, dass in dieser das Auftreten von Ungleichheit, von Aussagen, die

Ungleichheit statuieren, unmöglich ist. Sequenzen lassen sich deswe-

gen als präskriptive Gebilde verstehen, weil sie durch eine Präskription,

eine normative Selbstfestlegung konstituiert werden, die in der Folge

die Handlungen der Akteure der Sequenz auf eine Weise instruiert,

dass alle Handlungen im Einklang mit dieser Präskription, mit einer

Hypothese zu stehen haben.28 Die Formulierung dieser Hypothese oder

Präskription ist immer historisch spezifisch und zugleich so unspezi-

fisch, dass sie sich in vielfältigen konkreten geschichtlichen Situationen

zur Anwendung bringen lässt – wie etwa die Formulierung: »Proletarier

27 Dies lässt sich auf zweifache Weise erläutern. Zum einen gibt es eine hegelianische

Erläuterung, bei der man die #ese so auslegt, dass die normativen Selbstfestlegungen

selbst den Standard für deren Evaluierung, d. h. ihre Einhaltung, setzen. Es handelt

sich also um eine implizite Normativität, die in der Folge expliziert wird und damit aber

auch rückwirkend das Implizite der so gefassten Selbstfestlegungen verändern kann.

(Die erste Hälfte dieser Auslegung ließe sich auch mit Robert Brandom formulieren, die

zweite aber nicht.) Zum anderen gibt es eine Erläuterung im Rahmen der badiou’schen

#eorie. Hier wird die #ese so ausgelegt, dass sie zudem ein Unterscheidungskriterium

zwischen wirklich ereignishafte Sequenzen und nicht-ereignishaften Handlungszu-

sammenhängen liefert, kurz: zwischen Ereignissen und dem, was Badiou, »das Simu-

lakrum eines Ereignisses« (Badiou, Alain, Ethik. Ein Versuch über das Bewusstsein des

Bösen, Berlin/Zürich, S. 55) nennt. Ereignishaft (zumindest in der Politik) sind nur die Sequenzen, die in ihren unmittelbaren normativen Selbstfestlegungen, d. h. in dem, was durch ein Ereignis ermöglicht wird, keiner Exklusivitätskriterium für die Partizi-

pation an ihnen implizieren. Simulakren von Ereignissen sind scheinbar fundamentale

Veränderungen, die bereits in ihren Anfängen die Teilnahme an der Entfaltung der

Konsequenzen dieser Veränderung beschränken. Ereignisse und deren Sequenzen ken-

nen universale Akteure, die prinzipiell niemand ausschließen. Nicht-Ereignisse haben in

ihren normativen Selbstfestlegungen einen normativ-begrenzten Begriff desjenigen, der

überhaupt als legitimier Akteur gelten kann. Vor diesem Hintergrund kann man etwa

zwischen Kommunismus und Faschismus unterscheiden.

28 Bei Hegel wiederum ist dies durch die Kategorie der »Angemessenheit« gefasst. Vgl.

dazu meinen Kommentar in: Ruda, Frank, Hegels Pöbel. Eine Untersuchung der »Grund-

linien der Philosophie des Rechts«, Konstanz 2011, S. 48 f.

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229

aller Länder vereinigt Euch!«, die sich als eine Präskription subjektiver

Handlungen deuten lässt, mit der dann die entscheidende Frage verbun-

den ist, wie ich handeln kann und sollte, damit in einer geschichtlich

spezifischen Situation meine Handlung im Einklang mit dieser Maxime

steht.29

2. Eine Sequenz steht immer vor konkreten Fragen der Realisierung und

Aufrechterhaltung ihrer präskriptiven, normativen Selbstfestlegungen.

Sequenzen sind daher geschichtliche Gebilde, deren Handlungsgeflecht

sich als Konsequenz aus der normativen Selbstfestlegung verstehen lässt.

Die Handlungen sind konkrete Entfaltungen von Implikationen der

Präskription innerhalb konkreter geschichtlicher Situationen. Sequen-

zen sind damit konsequenzielle Gebilde.

3. Es gilt, dass in den geschichtlich spezifischen Kontexten, in denen solche

Selbstfestlegungen situiert sind, immer infrage steht, welche Mittel, For-

men und Methoden zur Organisation der Entfaltung der Implikationen

der normativ-präskriptiven Selbstfestlegung hinsichtlich des eigenen

Handelns gegeben sind. Die Präskription ist eine formale, besser: allge-

meine Präskription, keine, die es ermöglicht, konkrete Handlungen aus

einer feststehenden Regel oder einem Gesetz abzuleiten, und die den-

noch nur in konkreten Handlungen und Situationen manifest werden

kann. Sequenzen sind damit konkret allgemeine Gebilde.

4. Neue, und ebenfalls sehr konkrete Fragen ergeben sich in Handlungen,

die zur Beantwortung der Frage, wie die normativen Selbstfestlegungen

in concreto zu realisieren sind, versucht werden. Denn die Entfaltung von

implizierten Konsequenzen der Präskription verändert die geschichtliche

Situation, in der sie statthaben, und generiert damit eine neue Situation.

So stellt sich konstitutiv immer die Frage, wie man mit der Entfaltung

der Konsequenzen mit den einem zur Verfügung stehenden Mitteln,

Formen und Methoden weitermachen kann. Anders gesagt, wenn es

29 Es sollte deutlich werden, dass es sich hier um die Historisierung einer Art kategorischen

Imperativs handelt. Die entscheidende Pointe dieser Historisierung ist dann aber auch,

dass es diesen Imperativ nicht einfach immer schon (transzendental) gibt, sondern er

vielmehr in geschichtlich spezifischen Situationen in ebenso geschichtlich spezifischer

Form in Erscheinung tritt und dennoch seine Funktionsweise, die eines kategorischen

Imperativs (in all seiner inhaltlichen Unbestimmtheit und formalen Rigidität) ist.

W S

230

gewisse Mittel ermöglichen, Handlungen in Einklang mit der Präskrip-

tion zu realisieren, dann verändert diese Realisierung die Situation und

somit (möglicherweise) auch die Adäquatheit der Mittel. Bezogen auf

das vorab erwähnte Beispiel kann etwa gefragt werden, ob man in der

nach einer kollektiven revolutionären Aktion (und das meint durch den

Einsatz gewisser Organisations- und Handlungsformen und -mittel)

entstandenen Situation die Macht übernommen hat, wie diese aufrecht-erhalten wird oder wie sie auszudehnen ist?

In dem hier angeführten Kontext bedeutet das für das Verhältnis von Pariser

Kommune zur Russischen Revolution zunächst, dass Lenin in der zweiten

Sequenz eine neue Lösung auf die Frage erfindet, die sich aus dem Scheitern

der Pariser Kommune – und man muss sagen, allein aus dem Scheitern und

nicht ohne dieses30 – ergibt. Seine Antwort lautet, dauerhaft und beständig

lässt sich ein neuer Typus von Machtausübung nur durch eine revolutionäre

Partei sichern. Es ist genau diese Konzeption der Partei, die von Lenin als

geschichtlich wirkmächtige Antwort auf das Problem der ersten Sequenz

angeführt wird. Anders gesagt, Lenin löst mit seiner Konzeption der revo-

lutionären Partei die Aufgabe, die dadurch gestellt wurde, dass die erste

Sequenz daran scheiterte, der eigenen Präskriptionen in dem Rahmen die

Treue zu halten, in dem sie sich bewegte. Aus genau diesem Grund spielt

das $ema des Sieges, die Obsession, siegreich zu sein, in der und für die

zweite Sequenz der emanzipatorischen Hypothese eine entscheidende Rolle

(eine Rolle, die dieses $ema nicht in der ersten Sequenz innehatte). Denn

die zweite Sequenz, oder genauer das, was in der Geschichte der Versuche

eine emanzipatorisch-kommunistische Politik praktisch umzusetzen nach

der Jahrhundertwende begann, wollte genau eines nicht noch mal, nämlich

an den eigenen Ansprüchen scheitern.

30 Ich stimme hier kein (liberales) Lob des Scheiterns an. Vielmehr zeigt im Kontext des

hier entwickelten Argumentes gerade das Scheitern, dass ein vorab adäquates Mittel

in der durch es veränderten Situation nicht länger adäquat ist, um der Veränderung

selbst treu zu bleiben, d. h. sie unter veränderten Koordinaten weiter voran zu treiben.

In einem anderen Kontext könnte man dies verdeutlichen, indem man darauf verweist,

dass sicherlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts für den Willen eines radikalen Umstur-zes (des Staates) die Gründung einer (revolutionären) Partei ein geeignetes Mittel war.

Heute jedoch, nach dem, was diese Revolutionen hervorgebracht haben, lässt sich

schwerlich noch behaupten, dass die Gründung einer neuen Partei Effekte haben wird,

die die Struktur des Staates, so wie sie gegenwärtig ist, transformieren können. Ein gutes

Beispiel dafür ist etwa die Gründung der deutschen Partei »Die Linke«, die einer solchen Sackgasse eine materielle Gestalt gibt.

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231

Die erste Sequenz formuliert die Hypothese und gibt ihr eine erste

Gestalt. Doch sie scheitert an den Ansprüchen, diese Hypothese aufrecht-

zuerhalten. Die zweite Sequenz versucht nun gerade, das Scheitern zu ver-

meiden, und sie versucht dies in sehr spezifischen Begriffen, in denen der

Niederlage, des Besiegtwerdens. So ergibt sich die Frage des Sieges und

damit verbunden die Frage nach dem, was untrüglich wirklich und real ist

(etwa indem man feststellen will, wer wirklich und zweifellos revolutionär

und wer konterrevolutionär ist). Denn nur durch den Bezug auf die Wirk-

lichkeit konkretisiert sich der Anspruch, nicht zu scheitern. Erst wenn man

weiß, wer auf der eigenen Seite steht, weiß man, wer den gleichen Anspruch

hat, wie man selbst. Es handelt sich darum, nicht nur das Scheitern an den

eigenen Ansprüchen zu verhindern, sondern ebenso das Scheitern durch die

Intervention von Gegnern (aus den eigenen Reihen oder von außen).

Die Fragen nach Sieg und Wirklichkeit ergeben sich als immanente

Konsequenzen aus der selbst gesetzten normativen Konfiguration und dem

Scheitern ihrer Erfüllung in der ersten Sequenz. Die Frage des Sieges ist

aber in der zweiten Sequenz über die Konzeption der Partei zudem direkt

mit Fragen der Organisation und (militärischen) Disziplin verbunden und

führt letztlich zu einer Konzeption, die auf die Einheit von $eorie und Pra-

xis zielt und diese in einer zentralisierten und homogenen oder zumindest

homogenisierten31 Klassenpartei umgesetzt sieht.

4. Die Partei hat immer recht

Die Kommunistische Partei nach Lenins Vorbild war eine Klassenpartei,

die in der Lage war, eine direkte Antwort darauf zu geben, wie und mit

welchen Mitteln nach der Revolution die neue Macht und letztlich der neue

Staat organisiert werden sollte. Um aber überhaupt zu siegen, musste man,

um Lenins Sprache zu übernehmen, gegen die Kräfte des Imperialismus

31 Das !ema der Homogenisierung der revolutionären Partei steht im Hintergrund all

der so genannten »Säuberungen«, die sowohl im post-revolutionären Russland unter

Stalin als auch im China der Kulturrevolution eine entscheidende Rolle gespielt haben.

Vgl. dazu u. a. das aufschlussreiche Buch Getty, J. Arch, !e Road to Terror. Stalin and the Self-Destruction of the Bolsheviks, 1932-1939, New York 1999. Ebenso: Karl Schlö-

gel, Terror und Traum. Moskau 1937, München 2008. Inwiefern sich damit gewisse

Elemente wiederholen, die Hegel in seiner Kritik der Französischen Revolution bereits

antizipiert hatte, findet sich in dem hervorragenden Buch Comay, Rebecca, Mourning Sickness. Hegel and the French Revolution, Stanford 2011.

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232

auf dessen eigenem Terrain bestehen können, das heißt, man musste auf

dem Terrain des Staates demselben entgegen treten können. Zu siegen hieß

weiterhin, die staatliche Macht zu ergreifen, aber diese auch dauerhaft zu

halten. Diese Dauerhaftigkeit wurde gerade für die zweite Sequenz umso

mehr ein #ema, als sie die Zeit nach der Machtübernahme, das heißt die neue Form des Staates, betraf, der letztlich nur ein Übergangsstaat sein sollte, also ein Staat, der zur Abschaffung des Staates führt – was schon der

Ausdruck der »Diktatur des Proletariats«32 bei Marx meinte. Die Partei im

Sinne Lenins lieferte die Antwort auf diesen gesamten Fragenkomplex und

erscheint somit als spezifische Konstruktion der zweiten Sequenz, welche

– man kann in diesem Kontext nicht nur an Russland, sondern auch an

China, Vietnam33, Kambodscha34, Albanien35 oder Korea36 denken – eine Verbindung von Massendisziplin, lokalen Befreiungs- und Emanzipations-erfolgen und einer tendenziell militarisierten Organisation entwickelte, um diese Aufgabe zu lösen.37 In dieser Hinsicht – und so kann man zum lenin-schen Schneetanz zurückkehren – löste die zweite Sequenz Schwierigkeiten,

die sie von der ersten geerbt hat. Aber, und dies ist ebenso entscheidend, sie

war nicht in der Lage im Rahmen ihres Lösungsvorschlags, das heißt mit

ihren eigenen Mitteln, nun wiederum mit den Problemen umzugehen, die

sich als Konsequenz ihrer eigenen Konstruktion ergaben. Ihre Lösung schuf

wiederum Probleme, die keine Lösung fanden.

So erwies sich die kommunistische Partei durchaus als fähig, gegen

eine geschwächte Macht, wie den Zarismus in Russland, siegreich zu sein

und sogar eine Ausdehnung ihres Organisationmodells auf eine nationale

Ebene herzustellen und zudem noch für die Dauerhaftigkeit der Machtaus-

übung zu sorgen. Jedoch erwies sie sich im gleichen Atemzug als unfähig,

gerade die Idee eines neuen Staates, einer Ausübung der Macht, die auf

deren Abschaffung zielt – was ja die dialektische Formel für den Niedergang

des Staates ist – zu verwirklichen. Und diese Unfähigkeit ließ die tatsäch-

liche Machtausübung zunehmend paranoid werden. Durch die spezifische

32 Vgl. Lenin, Vladimir Iljitsch, »Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom

Staat und die Aufgabe des Proletariats in der Revolution«, in: Ders., Werke 25, Berlin

1972, S. 393–507.

33 Tréglodé, Benoît de, Heroes and Revolution in Vietnam. 1948-1964, Singapore 2012.

34 Chandler, David P., !e Tragedy of Cambodian History. Politics, War, and Revolution since 1945, Yale 1993.

35 Dokumente des Kampfes der Partei der Arbeit Albaniens gegen den modernen Revisionismus. 1955-1966, Berlin 2005.

36 Kim, Se-Jin, !e Politics of Military Revolution in Korea, Charlotte 2009.37 Vgl. Badiou, Ist Politik denkbar?.

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233

Konstruktion der kommunistischen Partei wurde ein Staat errichtet, der

sowohl bürokratisch-autoritär als auch terroristisch war und sich in jeder Hinsicht weit von der Idee eines Niedergangs des Staates entfernte. Auf

diese Weise kann man auch Stalins Adaption der revolutionären Idee als

eine Art Abwehrreaktion38 gegen den prinzipiell universalistischen Kern der

leninschen Politik verstehen, die aber gerade deswegen an diesen andocken

konnte, weil die Konstruktion der zweiten Sequenz, die aus den Elementen

»Macht«, »Staat«, »Partei« bestand, dies ermöglichte.39

So erscheint in dieser geschichtlich spezifischen Errichtung einer neuen

und doch nicht gänzlich neuen, da weiterhin oder sogar in gesteigerter

Weise restriktiven Staatsform die immanente Begrenzung der zweiten

Sequenz, die schließlich auch zu ihrem inneren Ende – zu einem erneuten

Scheitern (am Nicht-Scheitern-Wollen) – führt. Noch die letzten Ereignisse

dieser Sequenz – man kann hier etwa an den Mai 68 denken, aber auch an bestimmte geschichtliche Abschnitte innerhalb der chinesischen Kulturre-volution – versuchen, diese interne Limitierung zu überwinden, die in den

autoritären Staatsterrorismus führt, ohne dies letztlich leisten zu können. So versucht etwa die 68er Bewegung, einen anderen Typus der Organisation zu erfinden, der weder gewerkschaftlich und auf politische Macht setzend noch unter dem Banner einer Partei formiert ist. Aber diese Bewegung scheitert an diesem Projekt, da sie nicht im Stande ist, die grundlegende Verkettung der Elemente von »Macht«, »Partei« und »Staat« zu durchbrechen. Ebenso versucht Mao in der Kulturrevolution, die kommunistische Partei gegen sich selbst und die ihr immanenten Bürokratisierungstendenzen auszurich-

ten und auf diese Weise eine erneute Beziehung zur Massenbewegung – der

Studenten und der (von Stalin so gehassten) Bauern – zu etablieren. Einige

Zeit lang probiert er so, gerade vom Partei-Staat-Modell ausgehend eine

Transformation des staatlichen Rahmens zu denken und die in ihm ange-

siedelten und verbundenen Elemente zu dissoziieren.40

Aber auch die Kulturrevolution wird in ihrer Entfaltung zeigen, wel-

che Begrenzungen dieser dialektische Versuch der immanenten Zerstörung

des fixierten staatlichen Rahmens (durch Einsatz unter anderem staatlicher

38 Grundlegende Überlegungen zur Funktionsweise von »Abwehrmechanismen« findet sich in Santner, Eric, Zur Psychotheologie des Alltagslebens, Zürich 2011.

39 Vgl. auch Badiou, Alain, Über Metapolitik, Berlin/Zürich 2003, S. 91 ff.

40 Es sollte deutlich sein, dass ich hier keineswegs Maos Politik verteidige, sondern viel-

mehr versuche, aufgrund der in der zweiten Sequenz explizit werdenden normativen

Selbstfestlegungen zu deuten, wie sich diese immanent und aus der konkreten Situation

heraus verstehen lassen.

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234

Mittel) haben wird. Der Versuch, aus dem Inneren des Partei-Staats eine

kollektive Organisation hervorzubringen, die diesen überschreitet, führt –

im Unterschied zum leninistischen Verständnis der Diktatur des Proletariats

und in noch deutlicherer Abgrenzung zu Stalins Verachtung der Bauern-

massen – zunächst dazu, nie zuvor gesehene Massen in die Frage einzu-

binden, wie sich eine neue antistaatliche und nicht-zentralisierte kollektive

Selbstorganisation denken lässt, sodass immense Massen von Menschen in

die Lösung der wesentlichen Aufgabe der zweiten Sequenz einbezogen wer-

den. Dies geht aber neben (bis heute) bedeutsamen Erfahrungen auch mit

schrecklichen Gräueltaten einher.41

Die genaue Analyse dieser Sequenz zeigt zudem, wie sich gerade aus die-

sem Experiment zwei notwendig widersprüchliche Bewegungen ergeben.

Die Formen kollektiver und massenhafter Selbstorganisation drohen perma-

nent, die Ordnung als solche aufzuheben. Sie führen zu Gewaltausbrüchen

der Jugend gegen die etablierten Kasten. Und letztlich droht der Bürger-

krieg. Dieser muss immer wieder durch gewaltsame staatlich-militärische

Interventionen auf unterschiedlichen Ebenen auf eine Weise verhindert

werden, die notwendig die staatliche Ordnung restauriert. Die Restauration

des Staates droht im Anschluss überdies immer wieder, in die Hände der reaktionären, bürokratisierenden, staatsterroristischen Tendenzen zu fallen, von denen der Staat, zumindest der maoschen Idee nach, eigentlich befreit

und gereinigt werden sollte.

5. Zum Schluss (der zweiten Sequenz)

Der Versuch der Großen Proletarischen Kulturrevolution, die kommunis-

tische Hypothese zu realisieren, führt einerseits zu einer unaufhebbaren

und widersprüchlichen Oszillation zwischen der immanenten Zerstörung

des Partei-Staats-Modells (das heißt zu einer rein zerstörerischen Negation),

der wiederum und immer wieder staatliche Grenzen gesetzt werden müs-

sen, und er führt andererseits zur Säuberung von reaktionären Tendenzen

innerhalb des Staats und der Partei (das heißt zu einer wiederum rein zer-

störerischen und negierenden Purifikation), die unauflösbar mit der ersten

41 Es sind gerade diese Gräuel, die manifestieren, dass das Problem der zweiten Sequenz

weiterhin ein nicht-gelöstes Problem bleiben wird.

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235

Seite verbunden ist und unaufhörlich in diese hinüberführt.42 Es entsteht so

ein unendliches Schwanken zwischen Zerstörung und Stärkung des Staats,

zwischen erneuter Einbeziehung der Massen und Dynamisierung des Par-

tei-Modells einerseits und Aufrechterhaltung der Ordnung und Fixierung

der bürokratischen Festigkeit der Partei andererseits.

Die beiden Versuche, sowohl die Kulturrevolution als auch der Mai 68, das Scheitern der zweiten Sequenz zu verhindern, misslingen so letztlich und führen zugleich beide zu einer umso stärkeren Restitution – und einer

weitgehenden Naturalisierung – des Staates in seiner bestehenden Form.

Ein weiteres deutliches Resultat dieses Scheiterns, erneut eines Scheiterns an

den eigenen, das heißt kollektiv gesetzten, normativen Präskriptionen wird

etwa durch die Krise oder noch deutlicher durch den Niedergang des Mar-

xismus – und all seiner geschichtlichen Referenten, seien diese nun nationale

Befreiungskämpfe, so genannte realsozialistische Staaten oder massenhafte

Arbeiterbewegungen, die alle zugleich verschwinden – augenscheinlich.

Nun ist zumindest eine Sache deutlich und vielleicht nicht sonderlich über-

raschend. Sequenzen konstituieren sich vor allem über ihr Ende und dieses Ende muss als ein immanentes Scheitern an den eigenen Ansprüchen verstanden werden, das heißt, als ein Scheitern, das in und an der Praxis statthat, in der die Konsequenzen aus den selbst gesetzten normativen Selbstfestlegungen entfal-tet werden. Zugleich gilt es bei dieser Diagnose zu beachten, dass

»das Ende oder der Abschluß einer politischen Sequenz nicht aufgrund von äuße-ren Kausalitäten oder Widersprüchen zwischen ihrem Wesen und ihren Mitteln ein[tritt], sondern durch den strikt immanenten Effekt einer Erschöpfung ihrer Kapazitäten. […] Die Kategorie des Scheiterns ist, anders gesagt, nicht relevant […]. Es gibt kein Scheitern, es gibt ein Aufhören«43.

Das Scheitern einer Sequenz ist kein Scheitern, das einer einfachen Nieder-

lage gleichkäme. Dies ist ein wichtiger Punkt für die Qualifizierung des

Begriffs der geschichtlichen Sequenz als philosophischen Begriff. Denn,

wie bereits meine bisherigen Bemerkungen auffällig werden ließen, geht

es aus einer Perspektive, die sich der Sequenzialität zuwendet, nicht um

ein Unternehmen, das zu objektiven Urteilen über die Geschichte kommt

– Urteile, die etwa die Form annehmen könnten: Der Kommunismus ist

oder war (schon immer) ein Übel. Sondern es geht in ihr um eine konkrete Analyse von konkreter, um im Beispiel zu bleiben, kollektiver normativer Selbstfestlegung und den konkreten Versuchen, aus dieser Selbstfestlegung

42 Zur komplexen Logik dialektischer Purifikation vgl. Badiou, !eorie des Subjekts.43 Badiou, Metapolitik, S. 138.

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236

Konsequenzen abzuleiten. Sequenzielle Betrachtung der Geschichte bedeutet, Geschichte von einem immanenten und das meint auch subjektiven Standpunkt aus zu bestimmen, zu beschreiben, vom Standpunkt der subjektiven Akteure

der Geschichte selbst.44

Um diesen methodischen Zug, den der Begriff der geschichtlichen Sequenz philosophisch erforderlich macht, genauer zu fassen, hilft ein Blick in das Buch über das 20. Jahrhundert, das Badiou 2005 veröffentlicht hat45

– und wichtig ist hier bereits, dass es Das Jahrhundert und nicht wie bei

Günter Grass Mein Jahrhundert heißt. Dort schreibt Badiou, nachdem er

unterschiedliche Möglichkeiten, über das Jahrhundert zu schreiben, ange-

führt hat – etwa die, sich von großen politischen, kulturellen Ereignissen

oder von grundsätzlichen Charakteristika oder von der Reihe schrecklicher

Vorkommnisse leiten zu lassen:

»Einen Typus objektiver oder geschichtlicher Einheit auszuwählen (seien es kom-munistische Heldentaten, das radikal Böse, die triumphierende liberale Demokra-tie, etc.) hilft uns nicht unmittelbar. Denn die Frage ist für uns Philosophen nicht die, was in einem Jahrhundert geschehen ist, sondern was dort gedacht wurde. Was wurde von den Menschen des Jahrhunderts gedacht, was nicht einfach die Fortführung eines vorherigen Denkens ist? Welches sind die noch nicht übertra-genen Gedanken? Was wurde vorab als undenkbar gedacht? Unsere Methode wird also sein: In die Rekonstruktion des Jahrhunderts manche Dokumente und Spu-ren einzubeziehen, die anzeigen, wie das Jahrhundert sich selbst gedacht hat. Und genauer noch: wie das Jahrhundert sein Denken gedacht hat, wie es die denkende Singularität seines Verhältnisses zu der Geschichtlichkeit seines Denkens identifi-ziert hat. […] Meine Idee ist, dass wir uns absolut nah an den Subjektivitäten des Jahrhunderts halten. Nicht an beliebige Subjektivitäten, sondern an genau diejeni-gen, die sich auf das Jahrhundert beziehen. Es geht nicht darum, das Jahrhundert als objektive Gegebenheit zu beurteilen, sondern darum, sich zu fragen, wie es sub-jektiviert wurde«46.

Diese Methode ist auch die Methode, die der Begriff der geschichtlichen

Sequenz erfordert. Man geht nicht von objektiven Gegebenheiten aus,

sondern von den Modi der Subjektivierung. Der Ausgangspunkt ist dann

beispielsweise, wie in unterschiedlicher Weise der Gedanke einer emanzi-

patorischen Hypothese (kollektiv) subjektiviert wurde (über die Frage nach

dem Machterhalt, des Sieges usw.). Ist für die Rekonstruktion eines Jahr-

44 Badiou hat dies einmal so gefasst, dass man die Französische Revolution nur dann ver-

steht, wenn man den Standpunkt St. Justs einnimmt und nicht denjenigen Kants. Vgl.

Badiou, Metapolitik, S. 38.

45 Badiou, Alain, Das Jahrhundert, Berlin/Zürich 2005.46 Ebd., S. 10.

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237

hunderts deswegen etwa die Frage, wie viele Jahre ein Jahrhundert angedau-

ert hat, eine wirkliche Frage, so gilt etwa für die Frage danach, was bisher

und wie bisher über die Hypothese der Emanzipation, die Hypothese einer

Gemeinschaft von Gleichen gedacht wurde, Ähnliches. Es gilt nachzuvoll-ziehen, es gilt zu denken, wie die Akteure bestimmter Sequenzen über diese

Hypothese gedacht haben, anhand welcher Operatoren, welcher Mittel,

unter welcher Fragestellung, über welche #emen. Das ist nicht schlicht

subjektivistisch, sondern besitzt vielmehr eine immanente Universalität, da

es in einer solchen Betrachtung darum geht, was eine Sequenz – trotz ihrer

internen Vielfältigkeit – immanent zu einem konsistenten Gebilde macht.

Zugleich ist damit gesagt, so gemeinsam ihnen allen die Orientierung an

der Hypothese der Emanzipation sein mag, so sehr unterscheiden sich

unterschiedliche Akteure unterschiedlicher Sequenzen doch darin, dass sie

jeweils ein anderes, spezifisches Undenkbares haben. Denn undenkbar ist etwa

für einen Kommunarden, dass die Organisationsform der revolutionären

Partei ein grundlegendes Problem der Kommune lösen wird. Undenkbar

wiederum ist es für Lenin oder Mao – und es bleibt auch heute in gewisser

Weise noch undenkbar oder scheint unmöglich, was das gleiche meint –,

wie eine Form von kollektiver Organisation zu denken ist, die von der

Form der Partei und von der Bezogenheit auf die Staatsmacht vollständig

abgezogen ist. Philosophie, bezieht sie sich auf Geschichte in der Form von

Sequenzen, ist daher Sequenzanalyse. Sequenzanalyse ist als Analyse von

spezifischer Undenkbarkeit Gegenwartsanalyse – ohne Genealogie zu sein.

So präsentiert aber philosophische Sequenzanalyse als Gegenwartsanalyse

auch immer eine immanente Analyse der un-dialektischen Einheit von

#eorie und Praxis, welche Badiou unter den Begriff des Denkens subsu-

miert. Sequenzanalyse ist immer auch Problemanalyse, doch Probleme sind

dann keine objektiven, abstrakt prinzipiellen Probleme, sondern welche, die

durch die Selbstfestlegungen, Präskriptionen und historischen Settings und Mittel emanzipatorischer Subjekte produziert wurden.

6. Sättigung

Jede Sequenz hat ein Ende. Das teilt sie mit jedem Jahrhundert. Doch ist das Ende nicht eines, das man – um eine Anleihe bei der Französischen

Revolution zu machen – aus thermidorianischer Perspektive einfach als ein

Scheitern an äußeren Umständen oder ein Scheitern an einem abstrakten

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Prinzip verstehen könnte. Sondern das Scheitern, das Aufhören, das Ende

einer Sequenz muss als eines verstanden werden, das sich nur aus immanen-

ten Präskriptionen und den Konsequenzen, die sie in konkreten geschicht-

lichen Situationen zeitigen, ergibt – eine Art historisierter kategorischer

Imperativ generiert konkrete Folgen, die dessen Befolgung, nicht ad hoc, aber nach und nach unmöglich werden lassen. Badiou hat dafür auch den Begriff der Sättigung (saturation) verwandt, der mir hier hilfreich zu sein scheint. Er übernimmt diesen von seinem Freund, dem politischen Den-ker Sylvain Lazarus, der ihn in seiner Anthropologie du Nom im Jahr 1996 entwickelt hatte.47 Dort definiert er ihn wie folgt: »Ich nenne Sättigungs-methode die Untersuchung, die von dem Inneren eines Werks oder eines Denkens ausgeht und sich dem Verfall einer seiner fundamentalen Katego-rien zuwendet.«48 Sättigung bezeichnet also eine Art und Weise, das Ende eines Werks oder Denkens aus einer immanenten Perspektive zu verstehen, und wird so zu einem entscheidenden Werkzeug für eine Philosophie als Sequenzanalyse.

Das Konzept der Sättigung erlaubt es, die Gründe der Beendigung einer Sequenz allein aus den Handlungen und Organisationsformen zu verstehen, welche in der Sequenz entscheidend sind. So ermöglicht es das Konzept, jede externe, und das heißt auch nur objektive, Evaluierung zu vermeiden, welche zumeist gerade das Scheitern nicht als Scheitern am eigenen Pro-jekt versteht, sondern anderweitige Gründe dafür sammelt. Ähnlich dem Geiste einer foucaultschen Gegengeschichte handelt es sich bei der Kategorie der Sättigung um eine Gegen-Kategorie, die sich politisch gegen reaktionäre, thermidorianische Deutungen des Scheiterns richtet.

Nun wird hier eine weitere Pointierung relevant. Badious philosophisches Projekt zielt auch darauf, erneut einen Begriff des Absoluten zu etablieren.49 Es zielt darauf, selbst Sequenzen als zumindest potenziell unendliche Proze-duren zu bestimmen. Wenn alle Prozesse, die in Sequenzen aktiv und wirk-lich sind, potenziell unendlich sind, wie lässt sich dann aber ein Ende dessen verstehen, was kein Ende kennen muss? Hier kann erneut ein Verweis auf Lazarus helfen. Dieser bestimmt das Ende eines Werks oder Denkens als Übergang eines Prozesses – den er »politischen Modus« nennt – von seiner Geschichtlichkeit (das heißt seiner geschichtlichen Wirklichkeit im Wort-sinn) zu seiner Denkbarkeit. Solange, so Lazarus’ hegelianische Pointe, wie

47 Lazarus, Sylvain, Anthropologie Du Nom, Paris 1998.

48 Ebd., S. 37 (eigene Übersetzung).49 Vgl. etwa: Badiou, Alain/Ruda, Frank/Völker, Jan, Towards a Contemporary Conception

of the Absolute, 04.06.2012, http://vimeo.com/28417395.

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239

ein politischer Modus aktiv ist, das heißt Geschichtlichkeit besitzt, kann er

nicht adäquat und konzeptuell gedacht werden. Die potenzielle Unendlich-

keit seiner Fortsetzung lässt keine Totalisierung zu. In dieser Hinsicht sind

aktive Prozesse, die für eine Sequenz konstituierend gewesen sein werden,

solange sie in actu sind, nicht-totalisierbar, da sie in historisch konkreten

Situationen nicht vorauszusehende Mittel und Wege, Formen und Aussa-

gen erfinden können.

Die in diesen Prozessen engagierten Subjekte – und ein Subjekt wäre

dann etwa im Sinne eines politischen Prozesses mal eine Massenbewegung

in der ersten Sequenz, mal eine Partei im Sinne der zweiten – sind so Agen-

ten, die diese potenzielle Unendlichkeit solange entfalten, bis sie an imma-

nente Hindernisse stoßen. Doch, und das ist entscheidend, diese ergeben

sich aus einer Verschaltung mehrerer Dimensionen von Kontingenz: der

Kontingenz der historischen Umstände, der Kontingenz der Mittel und

Formen, die entfaltet werden, um der eigenen Präskription die Treue zu hal-

ten, dem kontingenten Potenzial eben dieser Mittel und Formen. Kontin-

gent produzieren sie sich ändernde Koordinaten der Situation, und folglich

die Frage nach dem Potenzial dieser Mittel, der Präskription trotz der durch

sie selbst in Gang gesetzten Veränderung der Welt die Treue zu halten. Nur,

wenn diese Mittel sich nicht als fähig erweisen, weitere Konsequenzen aus

den Präskriptionen zu entfalten, gibt es einen Übergang von Geschichtlichkeit zu Denkbarkeit im lazarus’schen Sinne. Die Beendigung einer Sequenz ist

somit auch als eine Konsequenz aus den Handlungen denkender Subjekte

zu betrachten. Und diese kann als Konsequenz nur nach dem Ende einer

Sequenz verstanden werden.

Hier kann man zu Recht an Hegels Formulierung aus der Rechtsphiloso-phie denken, die auch das Konzept der Sättigung instruiert, nämlich, dass

die Eule der Minerva erst mit der Dämmerung ihren Flug beginnt. Die Sät-

tigung eines Prozesses muss stattgehabt haben, damit gedacht werden kann,

was gedacht und in dieser Hinsicht der nächsten, möglichen Sequenz ver-

erbt wurde. Lazarus meint dies, wenn er schreibt: »Die Sättigungsmethode

unterscheidet zwischen dem, was in einem Denken gedacht wurde, als es

stattgehabt hat, und dem, was gedacht wird, wenn der Modus geschlossen

ist.«50 Somit ist das Denken einer Sequenz des Denkens immer nach dem

Ende dieser Sequenz situiert. Der leninsche Schneetanz und die Konzeption

der Partei periodisieren in diesem Sinne die Pariser Kommune. Und die

zweite Sequenz lässt sich erst aus unserer Gegenwart denken, die von ihr

50 Lazarus, Anthropologie Du Nom, S. 41.

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geprägt ist. Sättigung, um es sehr kurz zu fassen, ist genau das, was aus einer

Sequenz eine Sequenz macht, denn jede Sequenz endet als gesättigte.

Was heißt all dies aber für einen philosophischen Begriff der Verände-

rung? Auch hier kann bei dem Begriff vermeintlichen Scheiterns begonnen

werden. Denn das Scheitern, das sich aus der Sequenzanalyse ergibt, ist

ein sehr spezifisches. Dieser Begriff des Scheiterns läuft darauf hinaus, dass

die Realisierungsversuche der emanzipatorischen Hypothese gescheitert

sind, wobei es aber nicht möglich ist, einfach bei der Behauptung stehen zu

bleiben, sie seien gescheitert. Sequenzanalyse als Analyse immanenter Sätti-

gung, die zu einem Scheitern an den eigenen normativen Selbstfestlegungen

führt, sucht eine neue Lesbarkeit eben dieses Scheiterns herzustellen, die

aufschlussreich für unsere Gegenwart sein kann. Wieso? Weil auch unsere

Gegenwart, so kann man Badiou pointieren, sich aus den vor ihr liegenden

Sequenzen, das heißt aus den Problemen und spezifischen Undenkbarkei-

ten, die sie uns vererbt haben, verstehen lässt. So generiert die Analyse von

Sequenzen nicht nur eine neue Lesbarkeit des Scheiterns, sondern auch eine

neue Lesbarkeit der Gegenwart – dessen, was in ihr für die Hypothese unge-

löste Probleme sind (vielleicht sogar Probleme, die von unserem historischen

Standpunkt als per se unlösbar erscheinen und die Hypothese als Hypothese

invalidiert haben könnten). Wenn die Hypothese als solche heute unmög-

lich scheint, dann muss und kann diese Unmöglichkeit – und damit unsere

Gegenwart – analysiert werden. Als Analyse solcher Unmöglichkeit – die

zudem der Hypothese die Treue hält – ist Sequenzanalyse ein Instrument

zum Verständnis der Gegenwart.

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