On the Bad Soul (Laws X).

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Georgia Mouroutsou Die Frage nach der ‚schlechten Seele’ in Nomoi X Versuch einer Entzauberung 1 Die Passage 896b10-897d2 im zehnten Buch der platonischen Gesetze, in der der Athener die ‚schlechte Seele‘ einführt, hat mit Recht ungeheueres In- teresse in antiker und moderner Platon-Forschung erweckt. Die Frage nach der ‚schlechten Seele’ in den Gesetzen betrifft weitreichende Bereiche der platonischen Philosophie: sowohl Theologie, Kosmologie und Teleologie als auch Seelenlehre und Ethik. Vor allem verlangen die Frage nach dem Ursprung der Bewegung und die daran gekoppelte weitere Frage nach dem ‚Woher des Schlechten’ die Deutung der ‚schlechten Seele’ neben anderen Passagen des platonischen Korpus. 2 Dieser Beitrag wendet sich noch einmal der Frage nach der schlechten Seele in den Gesetzen, die in der gegenwärtigen prominenten Platon- Forschung noch rätselhaft bleibt. 3 Ich denke, es ist möglich, durch vor- sichtige Analyse des Textes aufzuzeigen, dass das Konzept einer schlechten Weltseele nichts mehr als eine faszinierende Chimäre ist. Der Bezug auf das zweite Buch der Politeia und, vor allem, auf den Philebos mag die Frage nach einer schlechten Weltseele vorzubereiten scheinen. 1 Dieser Beitrag ist die ausgearbeitete Version meiner im Rahmen der ersten Platontage 2008 in Tübingen vorgestellten Darstellung der höchst umstrittenen Stelle 896b10-897d2 in Nomoi X. Ich habe von der dort entstandenen Diskussion vor allem mit Professor Damir Barbarić – der mich zu meiner positiven Lösung motiviert hat – sowie den Professoren Michael Erler, Franco Ferrari und Filip Karfík besonders profitiert. Für die weitere Elaborierung verdanke ich besonders viel den Gesprächen mit Professor David Sedley, sowie den schrift- lichen Bemerkungen von Professor John Dillon. Wie es sich gebührt, trägt jedoch ausschließlich die Verfasserin die Verantwortung für ihre Argumentation und Übersetzung der Textstellen, die auf der Ausgabe John Burnets basieren (Platonis Opera. 5 Bd. Oxford 1900-7). Die zur Abkürzung der antiken Texte verwendeten Siglen folgen dem Liddell-Scott-Jones Lexicon.

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Georgia Mouroutsou

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi XVersuch einer Entzauberung1

Die Passage 896b10-897d2 im zehnten Buch der platonischen Gesetze inder der Athener die sbquoschlechte Seelelsquo einfuumlhrt hat mit Recht ungeheueres In-teresse in antiker und moderner Platon-Forschung erweckt Die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in den Gesetzen betrifft weitreichende Bereicheder platonischen Philosophie sowohl Theologie Kosmologie undTeleologie als auch Seelenlehre und Ethik Vor allem verlangen die Fragenach dem Ursprung der Bewegung und die daran gekoppelte weitereFrage nach dem sbquoWoher des Schlechtenrsquo die Deutung der sbquoschlechtenSeelersquo neben anderen Passagen des platonischen Korpus2

Dieser Beitrag wendet sich noch einmal der Frage nach der schlechtenSeele in den Gesetzen die in der gegenwaumlrtigen prominenten Platon-Forschung noch raumltselhaft bleibt3 Ich denke es ist moumlglich durch vor-sichtige Analyse des Textes aufzuzeigen dass das Konzept einerschlechten Weltseele nichts mehr als eine faszinierende Chimaumlre ist DerBezug auf das zweite Buch der Politeia und vor allem auf den Philebosmag die Frage nach einer schlechten Weltseele vorzubereiten scheinen

1 Dieser Beitrag ist die ausgearbeitete Version meiner im Rahmen der erstenPlatontage 2008 in Tuumlbingen vorgestellten Darstellung der houmlchst umstrittenenStelle 896b10-897d2 in Nomoi X Ich habe von der dort entstandenen Diskussionvor allem mit Professor Damir Barbarić ndash der mich zu meiner positiven Loumlsungmotiviert hat ndash sowie den Professoren Michael Erler Franco Ferrari und FilipKarfiacutek besonders profitiert Fuumlr die weitere Elaborierung verdanke ichbesonders viel den Gespraumlchen mit Professor David Sedley sowie den schrift-lichen Bemerkungen von Professor John Dillon Wie es sich gebuumlhrt traumlgtjedoch ausschlieszliglich die Verfasserin die Verantwortung fuumlr ihre Argumentationund Uumlbersetzung der Textstellen die auf der Ausgabe John Burnets basieren(Platonis Opera 5 Bd Oxford 1900-7) Die zur Abkuumlrzung der antiken Texteverwendeten Siglen folgen dem Liddell-Scott-Jones Lexicon

2 Georgia Mouroutsou

Dennoch bezieht sich die sbquoschlechte Seelelsquo die der Athener in Lg896e4ff einfuumlhrt auf keine reale schlechte Weltseele Durch die Frageob Platon die schlechte Weltseele fuumlr real haumllt oder nicht ist oft auszligerBetracht geraten was der Darstellung des Atheners zugrunde liegtnaumlmlich die Durchkreuzung einer allgemeinen Seelenlehre und derLehre von der Weltseele Bleiben wir in der Faszination befangen dieeine sbquoschlechte Weltseelersquo auf uns auszuuumlben vermag ndash auch wenn sie zulehrreichen Deutungen sowohl in der Antike als auch in der Modernegefuumlhrt hat ndash gelangen wir als Interpreten weder uumlber die Be-schraumlnkungen der zwei dialektisch nicht hinreichend ausgeruumlsteten Ge-spraumlchspartner noch uumlber das exoterische Niveau des Textes hinaus

Der erste Abschnitt bietet eine Einfuumlhrung an Es wird sich als legitimerweisen Antworten auf die allgemeine Frage nach dem Schlechten zuerwarten oder sogar die Frage nach einer moumlglichen schlechten Welt-

2 In der modernen Platon-Forschung ist es zu einer beruumlhmten Disjunktion inBezug darauf gekommen ob die Seele Ursprung aller Arten von Bewegung istwie es der Phaidros und die Gesetze vorauszusetzen scheinen oder nur dergeordneten Festugiegravere und Vlastos haben sich stark fuumlr den zweiten Weg einge-setzt waumlhrend Wilamowitz-Moellendorf Cornford und Morrow fuumlr den seeli-schen Ursprung aller Bewegung plaumldiert haben Der Ursprung alles Schlechtenist nach Vlastos und Festugiegravere die Materie oder das Koumlrperliche waumlhrendCornford und Morrow das Irrationale in der Seele zum Ursprung desSchlechten machen Cherniss versucht zwischen den beiden Auffassungen zuvermitteln indem er mehrere Urspruumlnge des Schlechten unterscheidet jedochdie Seele als primaumlre Ursache anerkennt sie sei auf eine direkte Weise Ursprungdes positiven moralischen Uumlbels und auf eine indirekte zufaumlllige WeiseUrsprung des negativen Schlechten der Phaumlnomene Herter und Gaiser wehrensich gegen den seelischen Ursprung aller Arten der Bewegung und fuumlhren imAnschluss des Kapitels A6 und 1072a1 der aristotelischen Metaphysik dasSchlechte sowie die ungeordnete Bewegung auf das zweite platonische Prinzipder sbquoUnbestimmten Zweiheitrsquo zuruumlck

3 Bei seiner Untersuchung der weiblichen Prinzipien der alten Akademie(Unbestimmte Zweiheit Weltseele und Materie) beobachtet John Dillon dassalle drei rationalen Einfluss aufnehmen koumlnnen (Female Principles in PlatonismS 107-123 In Dillon The Golden Chain Great Britain 1990 S 117) Deswegensind sie wenn uumlberhaupt nur auf negative oder akzidentelle Weise boumlse Dillonfaumlhrt fort raquoOnly the possible maleficent soul of Laws X stands out as anoma-lous and we cannot be sure what Plato really intended therelaquo Trevor Saundersbringt eine aumlhnliche Verbluumlffung uumlber die sbquoschlechte Seelersquo der Gesetze zum Aus-druck raquoPlato hints mysteriously at a bad soul or souls responsible for irregularmotion and evillaquo (Plato The Laws Translated with an Introduction London1970 S 409)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 3

seele zu antizipieren In Politeia 379c stellt Sokrates die Frage nach demSchlechten im allgemeinen In der vierfachen Einteilung alles Seiendendes Philebos (23-27) und insbesondere im anschlieszligenden kosmologi-schen Exkurs kommt Platon in die naumlchste Naumlhe der Frage nach einerschlechten Weltseele

Im zweiten Abschnitt gehe ich nun uumlber zu der Stelle in Nomoi X(896b10-897d2) Dabei sollte die Argumentation in ihrem schillerndenund schwankenden Charakter so klar wie moumlglich verfolgt werden MitHilfe des Ruumlckbezugs in 896b10-c7 werde ich die Einfuumlhrung derschlechten Seele vor dem Hintergrund des Leib-Seele-Dualismus aus-lotten wie sie der Text uns bietet (in den Abschnitten II ii und II iii)Dann werde ich 896c9-897d2 Schritt fuumlr Schritt uumlbersetzen und kom-mentieren (II iv-ix) Eine parallele Diskussion und nicht nur ein bloszligerBezug auf die relevante Forschungsliteratur wird uns helfen nicht Pla-tons Worte hinter Mengen von Literatur zu verbergen sondern aufzu-zeigen wie aktuelle Debatten Platons eigene Argumente wiederbelebenLetzen Endes wird sich der platonische Text fuumlr oder gegen angenom-mene Thesen und vertretene Auffassungen entscheiden

Gegenwaumlrtigen Tendenzen in der Forschung entgegen die Schwaumlchender untersuchten Argumentation zu betonen werde ich versuchen ihreStaumlrken zu maximieren Die Analyse des Textes wird nicht die Erwar-tung erfuumlllen die der einfuumlhrende Abschnitt erweckt naumlmlich das Pos-tulieren einer schlechten Weltseele als die Antwort auf die allgemeineFrage nach dem Schlechten4 Der Text wird nicht den Anspruch er-heben die Frage nach dem Ursprung vom Schlechten zu stellen noch zubeantworten Alle Interpretationen die auf dieser Erwartung basierenfinden keine textliche Stuumltze sei es Zellers Entwicklungs-Erklaumlrungoder Herters Prinzip der sbquoArbeitsteilunglsquo oder Hagers plotinisch ge-praumlgte Exegese5

4 Trotz meiner Hervorhebung der Inkompatibilitaumlt einer schlechten Weltseelemit der platonischen Philosophie werde ich nicht Redeweisen wie sbquorhetorischeFragelsquo (Peter Steiner in seinem Kommentar Platon Nomoi X Berlin 1992 S165) oder lsquojust an hypothesisrsquo (Roxana Carone Gabriela Teleology and Evil inLaws 10 In Review of Metaphysics 48 (1994) S 275-298 Hier S 285) inAnspruch nehmen um die Frage nach der sbquoschlechten Seelelsquo zu charakterisierenZum einen sollte man die allgemeine Frage nach der sbquoschlechten Seelelsquo nicht her-unterspielen weil Platon eine schlechte Weltseele ablehnt Zum anderen scheintder Ausdruck lsquojust an hypothesisrsquo Platons Hinweise auf diese Richtung zu uumlber-sehen (s unten I)

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Im dritten und letzten Abschnitt werde ich mich der Aufgabewidmen eine allgemeinere Hermeneutik der Platon-Exegese zu bekraumlf-tigen Ich werde auf die Methode reflektieren die ich in den zwei erstenAbschnitten anwende Um nur einige Zeilen eines platonischen Texteszu intepretieren sollte man ndash wenn nicht eine philosophische Theorieausformulieren ndash eine ganze Geschichte erzaumlhlen die Teile von anderenDialogen und indirekte Berichte uumlber platonisches Lehren integriert6 Inder Antike haben die Platoniker diese Strategie nicht hinterfragt son-dern ohne Bedenken angewendet In der Moderne hat Schleiermacherdie kuumlnstlerische Einheit und anschlieszligende hermeneutische Abge-

5 Zellers Platon fuumlhrte die sbquoschlechte Seelelsquo ein um das Schlechte auf einenseelischen Ursprung zuruumlckzufuumlhren Die Philosophie der Griechen in ihrergeschichtlichen Entwicklung dargestellt Zweiter Teil Erste Abteilung Sokratesund die Sokratiker Plato und die alte Akademie Leipzig 18894 S 973ff Anm 4Wenn auch im Widerspruch zum platonischen System weil Platon bis zu seinenGesetzen die Materie fuumlr das Schlechte verantwortlich gemacht habe sei dieAnnahme einer schlechten Weltseele der folgerichtige Schritt in der EntwicklungPlatons Dass Entwicklungstheorien durchaus auch die Platonforschung praumlgenzeigen unter anderem Ausdrucksweisen wie lsquoPlatorsquos Final Thoughts on Evilrsquo(Mohr) oder lsquothe final version of his [Platorsquos] kineticsrsquo (Andreacute Laks The LawsIn Rowe C und M Schofield (Hrsg) Cambridge History of Greek andRoman Political Thought Cambridge 2000 S 258-292 Hier S 289) VglCarones These dass das zehnte Buch der Gesetze das letzte Wort Platons uumlberKosmologie und Theologie darstelle (Teleology and Evil S 275) Dabei wird derletzten endguumlltigen Version seit Plutarch der das zehnte Buch der Gesetze alsdie abschlieszligende und houmlchste Offenbarung Platons gepriesen hat (De Is et Os370F-371A) hermeneutische Prioritaumlt beigemessen

Herter plaumldiert unter anderen fuumlr eine elegantere und populaumlre Loumlsung einerharmonischen sbquoArbeitsteilungrsquo um einer sachlichen Dissonanz zwischen demTimaios und den Gesetzen zu entgehen Demgemaumlszlig erklaumlrt Herter dass Timaiosdie Bewegung fast ausschlieszliglich im kosmischen Bereich problematisiere unddas Schlechte weniger in der Seele als in der Materie verorte (in HerterBewegung der Materie S 339f)

Und weil es trotz harmonisierender Bereitschaft nicht immer gelingt alleDivergenzen in Platons Werk miteinander vertraumlglich zu machen heben andereInterpreten wie Hager (Die Materie und das Boumlse im antiken Platonismus InMuseum Helveticum 19 (1962) S 73-103) das Schillernde der platonischen Dar-stellung hervor und projizieren spaumltere eindeutiger formulierte Loumlsungen aus-gezeichneter antiker Platoniker zuruumlck auf Platon

6 Es eruumlbrigt sich zu sagen dass ich weit davon entfernt bin in diesem Beitragdie zweite Aufgabe zu erfuumlllen Ich stimme Burnyeat zu (The Theaetetus ofPlato Indianapolis 1990 xii-xiii) dass (der spaumltere) Platon uns herausfordert zuphilosophieren um seine Probleme zu behandeln und loumlsen

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schlossenheit des jeweilig untersuchten Dialogs hervorgehoben SeineHermeneutik praumlgte sowohl die kontinentale als auch angelsaumlchsischePlaton-Forschung aus obgleich seine Methode keinen Vorgaumlnger in derAntike hatte

Trotz Schleiermachers verbreitetem Einfluss verfolgen heutige Platon-Forscher ndash wenn auch ohne weitere Reflexion ndash eine Platon-Hermeneu-tik die den Rahmen des einzelnen Dialogs uumlbergreift wenn sie Passagenaus verschiedenen Dialogen in Verbindung setzen und vergleichen Wasunsere Diskussion anbetrifft verbinden die meisten Interpreten diesbquoschlechte Seelelsquo der Gesetze mit der ungeordneten Bewegung der choraim Timaios Ich werde argumentieren dass ihr Irrtum nicht darin liegtdass sie die zwei Passagen in Verbindung setzen sondern in der Weisein der sie es tun Darum werde ich meine Rekonstruktion in groszligenZuumlgen anbieten Bei unserem Unternehmen verschiedene Passagen implatonischen Korpus zu vergleichen sollten wir gruumlndlich untersuchenwo wir als Dialektiker in dem jeweiligen Fall stehen wo genau auf demdialektischen Weg den Platon als Aufstieg vom Wahrnehmbaren zumIntelligiblen und Abstieg vom Intelligiblen zum Wahrnehmbarencharakterisiert Nur dann werden wir imstande sein wahrzunehmenaus welcher Perspektive die jeweiligen Fragen gestellt werden und wowir die relevanten Untersuchungen beginnen sollten um verschiedenePassagen zu situieren und auf erleuchtende Weise in Vergleich zuei-nander zu setzen Um der jetzigen Deutung willen werde ich die spaumltereplatonische Ontologie und Psychologie skizzieren muumlssen indem ichsie in den Aufstieg und Abstieg des Dialektikers integriere

I Einfuumlhrung Unterwegs zu einer Frage nach einer schlechten Weltseele

Dass κακὴ ψυχή im platonischen politischen Werk der mittleren Periodevorkommt bereitet den Interpreten keine Probleme weil sich diesbquoschlechte Seelersquo in R 353e4 eindeutig auf die ungerechte menschlicheSeele bezieht Jedenfalls taucht hier ein Problem auf das von Bedeutungfuumlr den Zusammenhang der Gesetze ist Politeia 379c2-7 belegt dassPlaton sich mit dem Problem des Ursprungs des Schlechten befassteDurch eine Kritik der traditionellen Dichtung erklaumlrt der platonischeSokrates dass Gott das Prinzip und der Ursprung ausschlieszliglich desGuten sein kann Die schlechten Geschehnisse sollten auf einen anderen

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Ursprung oder andere Urspruumlnge zuruumlckgefuumlhrt werden Dafuumlr schlaumlgtSokrates leider keine Kandidaten vor

raquoAlso Gott weil er ja gut ist kann nicht Ursache von allem sein wieviele Menschen sagen sondern er ist zwar die Ursache von Wenigem beiden Menschen an Vielem aber unschuldig Denn es gibt weit wenigerGutes als Boumlses bei uns und fuumlr das Gute darf man keinen anderen ver-antwortlich machen man muszlig aber gewisse andere Ursachen vom Bouml-sen aufsuchen nur nicht Gottlaquo

Diese Passage erwaumlhnt keine schlechte Weltseele noch weist sie auf siehin Hier geht es um das Problem des Schlechten in seiner aumluszligerstenAllgemeinheit und nicht in seiner kosmischen Dimension Ich ziehe zuBeginn diese Passage heran weil sie beweist dass die Frage nach demUrsprung des Schlechten genuin platonisch ist Dieses Problem findethaumlufig die Forschung im Kontext der Gesetze wieder was nicht gerecht-fertigt ist Darauf ist noch im zweiten Abschnitt zu kommen

Im ontologischen Herzstuumlck des Philebos (23b-27c) fuumlhrt Sokrates dasvierfache Gefuumlge alles Seienden ein Nach der Auszeichnung desgemischten Lebens mit dem ersten Preis muss noch entschieden werdenwelcher Platz der Vernunft beizumessen ist Jede Erscheinung der Naturoder Kunst die als gute Mischung charakterisiert werden kann entstehtaus der Begrenzung des jeweiligen Unbegrenzten durch die VernunftNach der sokratischen Einleitung fragt Protarchos in 23d9f

raquoWirst du nicht noch eine fuumlnfte [Gattung] haben muumlssen die dieTrennung der guten Mischung bewirken kannlaquo

Sokrates erwidert dem Protarchos zoumlgerndraquoJa vielleicht aber ich glaube fuumlr jetzt noch nicht Sollte es aber noumltig

werden so wirst du mich wohl entschuldigen wenn ich noch einerfuumlnften [Gattung] nachgehelaquo (23d11-e1)

Wie jeder guter Dramatiker ist auch Platon nicht ausschlieszliglich in demfuumlhrenden Gespraumlchspartner sondern in allen seinen fiktiven Personenwiederzufinden einschlieszliglich des Protarchos im Philebos und desKleinias in den Gesetzen Daher ist Protarchosrsquo Frage entsprechenderAufmerksamkeit und Uumlberlegung wuumlrdig Zunaumlchst fragt Protarchosnach dem Schlechten weil sich jemand als schlecht erweist wenn er dasgut Zusammengefuumlgte aufloumlsen will7 Dann laumluft die sokratische Dar-stellung in diesem Kontext (ab 28d5ff) auf die platonische Kosmologiehinaus Die Vernunft faumlllt unter die vierte Gattung der Ursache weil daskosmische Ganze durch Vernunft geschaffen geordnet und durchwaltet

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wird Sokrates unterstreicht eine Analogie zwischen Koumlrper und Seeledes Menschen einerseits und Koumlrper und Seele der Welt andererseitsAuf die Letztere weisen Zeusrsquo koumlnigliche Seele und Vernunft hin (30d1-4) In diesem kosmologischen Kontext ist es nicht abwegig den oben zi-tierten Vorschlag des Protarchos als eine Frage nach der Moumlglichkeiteiner schlechten kosmischen Seele zu deuten die die Zerstoumlrung derguten Mischung im All verursachen koumlnnte

Im Philebos kommt es dennoch nicht zur Einfuumlhrung einer fuumlnftenGattung und noch weniger zu Uumlberlegungen bezuumlglich ihrer Natur DieMischung des menschlichen Lebens ist nicht vorgegeben sondern bleibteine stets aufs Neue zu erfuumlllende Aufgabe Die immerwaumlhrend praumlsenteMoumlglichkeit des Misslingens ist darauf zuruumlckzufuumlhren dass dasUnbegrenzte nie voumlllig begrenzt werden kann jedenfalls nicht wenn esum Menschen geht Es bleibt stets als solches bewahrt und soll diesauch8

Vergegenwaumlrtigen wir uns also Erstens gehoumlrt die allgemeine Fragenach dem Ursprung des Schlechten durch und durch zum platonischenAnsatz Zweitens erweckt Platon den Eindruck die Frage nach demSchlechten auf der kosmischen Ebene zu stellen Die folgende Analysewird beweisen dass der Athener keine allgemeine Frage nach demSchlechten uumlberhaupt im Kontext der Gesetze stellt Auszligerdem bietet erdort eine negative Antwort auf die Frage nach einer schlechten Welt-seele

II Nomoi X Die Einfuumlhrung einer sbquoschlechten Seelersquo vor dem Hinter-grund des Leib-Seele-Dualismus

i Die Agenda und die Methode des Atheners

7 Ti 41a8-b2 Derjenige der etwas zusammenbindet ist auch der einzige deres wieder aufzuloumlsen vermag (vgl Ti 32c2-4) Obgleich nur der Demiurg der-jenige ist der sein Produkt vernichten kann zerstoumlrt er nicht die guten kosmi-schen Mischungen In diesem Fall waumlre er schlecht und wuumlrde seinerGoumlttlichkeit widersprechen

8 Im Gegensatz zu August Diegravesrsquo Redeweise von sbquoplaisanterie vouluelsquo (PlatonŒuvres Complegravetes Tome IX2 Philegravebe Paris 1959 Einleitung xxvi) wurde dieVerbindung der fuumlnften Gattung des Philebos mit der sbquoschlechten Seelersquo derNomoi schon von Heinze aufgezeigt (S 25-29)

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Kleinias zeichnet den sehr umfangreichen einleitenden Teil des zehntenBuches der Gesetze (885b-907d) als raquodie schoumlnste und beste Praumlambelaller Gesetzelaquo aus (887b8-c2) und besteht wiederholt auf einer angemes-senen Verlaumlngerung dieser Einleitung9 Die Aufgabe eines gesetzlichenVorgehens gegen die Asebie wird erst im letzten Teil des Buches erfuumlllt10

Der Athener versucht in seiner Vorrede die drei Arten des Gottesfre-vels11 auf ihre Ursachen zuruumlckzufuumlhren bevor er von der Uumlber-zeugungskraft der Rede zur Strenge der entsprechenden Strafen uumlber-geht12 die der Gesetzgeber des zu gruumlndenden Staates aufunveraumlnderliche ndash da schriftliche ndash Weise festlegen wird Nach der erstenAuffassung wird die Existenz der Goumltter geleugnet Gemaumlszlig der zweitenkuumlmmern sich die Goumltter nicht um die menschlichen AngelegenheitenDie dritte zu widerlegende Meinung laumlsst sich folgendermaszligen formu-lieren Die sich um die Menschen kuumlmmernden Goumltter koumlnnen mittelsGebet und Opfer beeinflusst und umgestimmt werden Wie sich leichterahnen laumlsst erregt die Erforschung der Ursache der ersten Form vonGottlosigkeit im Rahmen der Argumentation gegen die Asebie diegroumlszligte Aufmerksamkeit13

Das zehnte Buch gilt seit der Antike als der philosophisch anspruchs-vollste Teil der Gesetze obwohl man die heikle Argumentationaufgrund der Zirkularitaumlt und der Subjektabhaumlngigkeit des Beweis-ganges immer wieder verworfen hat14 Der Charakter der beabsichtigtenUumlberzeugung in allen Einleitungen bleibt in der Forschung weiter um-stritten wobei den Zankapfel die Frage bildet inwiefern die Uumlber-

9 Lg 887b1-c4 890e4-891a710 Lg 907d4 bis 910d411 Die unvernuumlnftige Meinung (δόξα 888b7 c2 903a4 νόητος δόξα 891c7)

oder der (leidende) Zustand ( 885b6 πάθος 888c4 900b3 908c5) des Fre-vels wider die Goumltter werden als Abweichung (διαφορά 886a9) und alsKrankheit (νόσος 888b8) gekennzeichnet

12 Tί χρὴ πάσχειν (885b1f) (885b3f) Es werden die Ursachen einesbestimmten Uumlbels und nicht des Schlechten uumlberhaupt erforscht naumlmlich derwegen Asebie veruumlbten Missetaten Darauf bezieht sich κακά in 884a5 undkakvn 886d3 Als moralisch schlecht gelten die Gottlosen die die Gesetze inBezug auf die wichtigsten Dinge zugrunde richten (891b4-6 vgl 886a6)

13 Die Widerlegung der ersten Auffassung geht bis 899d4 Anschlieszligend wehrtsich der Athener gegen die zweite verfehlte Meinung bis 903a9 mit Hilfe vonArgumenten und mit dem Nachtrag des Mythos bis 905d3 Die Behandlung derdritten Abweichung folgt bis 907b4

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zeugung sich mit rationalen oder irrationalen Mitteln vollzieht15 Einerationale Fundierung darf keinesfalls mit einer raquodurchgehend philoso-phische[n] Begruumlndunglaquo identifiziert16 sondern muss als eine Annauml-herung an die philosophische Argumentation verstanden werden17 Beider Widerlegung der ersten Uumlberzeugung der Gottlosen zielt derAthener nicht auf die Bezauberung seiner Gegner18 sondern wendeteine rationale Argumentation an Er druumlckt das Zusammenspiel von ra-tionaler und irrationaler Vorgehensweise am praumlgnantesten aus wenn erseine Zielsetzung folgendermaszligen formuliert

raquoDenn zoumlge sich wohl die Rede nicht wenig in die Laumlnge falls wireinerseits mit hinreichenden Argumenten gegenuumlber denjenigen diegottlos zu sein wuumlnschen das bewiesen woruumlber geredet werden musswie sie sagten falls wir andererseits unseren Anklaumlger in Furcht ver-

14 Auf eine exemplarische Weise hat Stalley die Argumentation als misslungendargelegt (An Introduction besonders S 169-172) Was die Zirkularitaumlt betrifftwill der Athener die Existenz der Goumltter beweisen die er dennoch voraussetztwenn er sie zur Hilfe ruft (Lg 893b1-4) s unter vielen anderen John ClearyThe Role of Theology in Platorsquos Laws In Lisi F L (Hrsg) Platorsquos Laws and ItsHistorical Significance Selected Papers of the International Congress onAncient Thought Salamanca 1998 S 125-140 Hier S 130 Auf derSubjektabhaumlngigkeit des dialektischen Vorgehens basiert die InterpretationSteiners (Platon Nomoi X) noch entschiedener ist Christian Pietsch Die Dihai-resis der Bewegung in Platon Nomoi X Rheinisches Museum fuumlr Philologie146 (2003) S 303-327 hier 319ff

15 Die Diskussion zwischen Christopher Bobonitch (Persuasion Compulsionand Freedom in Platorsquos Laws In Classical Quarterly 41 (1992) S 234-250) undStalley (Persuasion in Platorsquos Laws In History of Political Thought 15 (1994) S157-177) hat dieses Problem neuerdings zur Sprache gebracht Die rationaleUumlberzeugung muss rationale und irrationale Mittel kombinieren weil der zuUumlberzeugende (wenn auch nur Spuren von) Rationalitaumlt mitbringt aber zugleichgegen die Vernunft Widerstand leistet Stalley der die Praumlambel fuumlr lsquorathercoventional sermonsrsquo haumllt (An Introduction S 43) raumlumt eine Ausnahme fuumlrdas zehnte Buch ein (Persuasion S173f)

16 Pace Stalley Persuasion S 16717 Der wahrhaftige Gesetzgeber soll die Aufgabe erfuumlllen den Gesetzeswidri-

gen mithilfe beinahe philosophischer Argumente (καὶ τοῦ φιλοσοφεῖν ἐγγὺςχρώμενον μὲν τοῖς λόγοις 857d2) nicht nur zu heilen sondern auch zu erziehen(vgl Lg 857e3-6)

18 Einen verzaubernden Mythos nimmt der athener Gast erst bei seinerWiderlegung der goumlttlichen Sorglosigkeit gegenuumlber dem Menschlichen inAnspruch (Lg 903a10-905d3)

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setzten und nachdem wir in ihnen Abscheu uumlber diese Missetaten erregthaumltten wir erst nachher die Gesetze aufstellten wie es sich gebuumlhrtlaquo19

ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platoni-sche Theorie der Bewegung

Kurz vor der Einfuumlhrung der schlechten Seele bezieht sich der Athenerexplizit auf den in 893b1-896b9 demonstrierten Vorrang der Seele uumlberden Koumlrper

raquoDenn wir duumlrften wohl richtig und vollguumlltig wahrhaftig undvollkommen gesagt haben dass fuumlr uns die Seele fruumlher entstand als derKoumlrper der Koumlrper aber an zweiter Stelle und spaumlter und beherrschtgemaumlszlig der Natur waumlhrend dagegen die Seele herrschtlaquo20

Platon gelingt es aus den Goumltterfrevlern ganz unterschiedlicherHerkunft ndash es sind Naturwissenschaftler Sophisten und Dichter darun-ter ndash einen einheitlichen Typus zu entwerfen der eine Prioritaumlt des Koumlr-pers ja noch mehr eine Derivation des Seelischen aus dem Koumlrperlichenvertritt21 Letztendlich plaumldiert er fuumlr einen materialistischen Reduktio-nismus der Form sbquoalles ist Koumlrperlsquo Eine Kosmogonie unterliegt seinerAuffassung gemaumlszlig der die Seele nach dem Koumlrper geschafft worden istDer Seele wird sowohl kausale als auch zeitliche Prioritaumlt zugesprochen

Nicht nur die Seele sondern alles was mit der Seele verbunden ist ndasheinschlieszliglich des Gesetzes und der Goumltter ndash werden nach dieser

19 Lg 887a3-8 raquoοὐ γάρ τι βραχὺς ὁ λόγος ἐκταθεὶς ἂν γίγνοιτο εἰ τοῖσινἐπιθυμοῦσιν ἀσεβεῖν τὰ μὲν ἀποδείξαιμεν μετρίως τοῖς λόγοις ὧν ἔφραζον δεῖν πέριλέγειν τὸν δὲ εἰς φόβον τρέψαιμεν τὰ δὲ δυσχεραίνειν ποιήσαντες ὅσα πρέπει μετὰταῦτα ἤδη νομοθετοῖμενlaquo Durch den Singular (887a6 τὸν δέ) bezieht sich derAthener auf denjenigen der die Anklage gegen die Glaumlubigen einbringt(886e8f)

20 Lg 896b10-c3 raquoὈρθῶς ἄρα καὶ κυρίως ἀληθέστατά τε καὶ τελεώταταεἰρηκότες ἂν εἶμεν ψυχὴν μὲν προτέραν γεγονέναι σώματος ἡμῖν σῶμα δὲδεύτερόν τε καὶ ὕστερον ψυχῆς ἀρχούσης ἀρχόμενον κατὰ φύσινlaquo

21 Es handelt sich um ein lsquoamalgam of several views rather than a single clear-cut doctrinersquo (Saunders Plato The Laws S 408) Glenn Morrow spricht vonlsquobody of ideasrsquo (The Cretan City Princeton 1960 S 480) Robert Muth nochtreffender von einer sbquomaterialistische[n] philosophische[n] κοινήlsquo der damaligenattischen Aufklaumlrungsbewegung (Studien zu Platons sbquoNomoirsquo X 885b2-899d3In Wiener Studien 69 (1956) S 140-153 Hier S 146)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 11

Auffassung als abgeleitet herabgesetzt Als abbildende Setzungenkoumlnnen sie die abgebildete Natur und Wahrheit nur verfehlen

raquo[hellip] er scheint Feuer und Wasser und Erde und Luft fuumlr das Erstevon allem zu halten und diese Dinge als sbquoNaturrsquo zu bezeichnen dieSeele aber fuumlr ein Spaumlteres aus diesen [Entstandenes]laquo22

Nun stellt der Athener seine Bewegungslehre dar mit der Absicht diePrioritaumlt der Seele zu beweisen23 Nach den sbquoPhilosophierendenlsquo24 lassensich die oumlrtlichen Bewegungen in sechs Arten unterteilen (1) Rotation(2) gleitende Bewegung (3) rollende Bewegung (4) Wachstum (5)Schwund (6) Zugrundegehen Dabei faumlllt das ontologische Werden (7)und Vergehen (8) als ein ausgezeichnetes Paar heraus da es ur-spruumlnglicher ist als die bisher entfalteten oumlrtlichen Bewegungsarten25

Die entscheidende Zweiteilung jedoch kommt erst am Ende der Auf-zaumlhlung zur Sprache Danach gibt es einerseits die koumlrperliche Be-wegung die als Fremdbewegung bestimmt wird (9) andererseits die alsSelbstbewegung definierte seelische Bewegung (10)26 Der Athener ver-steht den Namen sbquoSeelelsquo als den Namen dessen Definition sbquoSelbst-Be-wegunglsquo (895e10-896a2) erst nach der methodologischen Unter-scheidung zwischen dem Wesen und dessen Namen erfolgt (895d1-e9)Nach dieser Distinktion charakterisiert er die zweite Bewegung als sbquokoumlr-perlichlsquo (896b4-8) sbquoKoumlrperlsquo ist der Name dessen Definition dieFremdbewegung ist (896b10-c3)

Erst gemaumlszlig dieser Einteilung koumlnnen alle bereits aufgezaumlhltenraumlumlichen Bewegungsarten als seelisch oder koumlrperlich verstandenwerden Anders als Pietsch27 finde ich keinen Textbeleg nach dem dieSelbstbewegung im Gegensatz zu den raumlumlichen Arten der Fremdbe-wegung unraumlumlich sein soll Pietsch argumentiert dass das ganze dihai-

22 Lg 891c1-4 Eine aumlhnliche sbquoAll-Thesersquo vertreten die materialistisch ver-anlagten Ontologen im Rahmen der sbquoRiesenschlachtlsquo im Sophistes bevor ihnender Gast aus Elea durch seinen δύναμις-Vorschlag zur Hilfe kommt ImGegensatz zu den Ideenfreunden die schon mit der Unterscheidung zwischenSein und Werden auftreten macht nach den Materialisten ausschlieszliglich derKoumlrper das Sein aus (Sph 246b1)

23 Auf diese Weise begruumlndet der Gast alle vorgebrachten Auflistungen derGuumlter nach denen der Vorrang immer seelischen und nicht koumlrperlichen Guumlternbeigemessen wurde Vgl Lg 631b-c 661a ff 688a-b 697a-c 726a-729a 743e

24 So werden die Vertreter der Prioritaumlt der Seele ausgezeichnet Lg 967c8 (diezweite und letzte Erwaumlhnung von Philosophie in den Gesetzen auszliger in Lg857d2)

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retische Stemma sbquonur raumlumliche Bewegungsartenlsquo bieten kann weil derAthener von der Physik des Gegners ausgeht28 Platon offenbart jedochein Stuumlck von seiner eigenen Philosophie immer dann wenn er seinesbquoGegnerrsquo verbessert seien es die Herakliteer im Theaitetos die Materia-listen des Sophistes oder diejenigen der Gesetze Das Platonische derRaumlumlichkeit der seelischen Bewegung erklaumlrt auszligerdem Timaios fuumlrguumlltig der der Weltseele raumlumliche Bewegung beimisst Zur Bekraumlf-tigung dient daruumlber hinaus die aristotelische Kritik am platonischenVerstaumlndnis der Selbstbewegung als raumlumlicher Bewegung (de an I3)

Dass der Bewegung in der spaumlteren platonischen Philosophie einegrundlegende Rolle zukommt zeigen neben dem Timaios die DialogeSophistes und der Theaitetos Im Sophistes wird das ausgezeichnete so-wohl bewegte als auch im Stillstand befindliche Sein der Idee qua Ideebehandelt Im Theaitetos werden heraklitische Allbewegungs-Modelleim Bereich der Wahrnehmung kritisiert Im Timaios wird die Bewegungin ihrer ganzen kosmologischen Tragweite ausgelotet In dem letztenDialog zeigt Platon seine Aneignung und Transformation des Herakli-

25 Gemaumlszlig der Aufzaumlhlung Konrad Gaisers (Platons Ungeschriebene LehreStuttgart 19983 S 176f) und ohne Besprechung der immensen einzelnen Pro-bleme Die ontologische γένεσις uumlber die Linie und Flaumlche bis hin zumdreidimensionalen Koumlrper (894a2-5) gilt als noch urspruumlnglicher als die vorhererwaumlhnten raumlumlichen Bewegungsarten (893c1f) Dieser Primat unterscheidetsich von Aristotelesrsquo Auffassung wie die Kritik des Stagiriten belegt (GC I2315a29ff) Der Bewegungskatalog ist von grundlegender Bedeutung fuumlr das Ver-staumlndnis der Prioritaumlt der Seele Hier begnuumlge ich mich mit der Hervorhebungder Beitraumlge von Gaiser und Solmsen (Aristotlersquos System of the Physical WorldA Comparison With His Predecessors New York 1960) Gaiser hat den sys-tematischen Charakter der Aufzaumlhlung der Bewegungsarten in Verbindung zuder indirekten Uumlberlieferung ausgearbeitet (Platons Ungeschriebene Lehre S173-186) Man folgt oft seiner Interpretation der besonders dunklen Stelle Lg894a1-8 und zwar mit oder ohne explizite Erwaumlhnung seines Beitrags zum Bei-spiel Pietsch C Die Dihairesis der Bewegung hier S 316 Anm 45 SchoumlpsdauK Platon Werke in Acht Baumlnden Griechisch und Deutsch Achter Band Zwei-ter Teil Platon Gesetze Buch VII-XII Minos Darmstadt 20054 S 291 Anm 26Mayhew R Plato Laws X Oxford 2008 S 112ff Solmsen (Aristotlersquos System)bietet seinerseits eine sehr ausgewogene Hermeneutik der platonischen undaristotelischen Bewegungslehre an die gegenuumlber der neueren oft hinter ihrzuruumlckbleibenden Forschung noch immer als exemplarisch gelten sollte

26 Lg 894b8-c1 894c3-827 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 304 und oumlfters28 Ebd S 320

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 13

tismus im Bereich der Ontologie des Wahrnehmbaren auf (48eff) des-sen Ausarbeitung nach wie vor eine Aufgabe fuumlr die Platon-Forschungdarstellt

Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich dass sbquoKoumlrperrsquo undsbquoSeelersquo als verschiedene Arten von Bewegung aufgefasst werden Hiersehe ich keine Verwirrung bei Platon zwischen einer Bewegungsart(Selbstbewegung) und der Seele als unabhaumlngiger Substanz Anders alsRichard Stalley29 verstehe ich sowohl die Selbstbewegung als auch dieSeele qua Seele als auf einen Koumlrper bezogen wenn auch unabhaumlngigvom jeweiligen Koumlrper gedacht und definiert Sogar die schlechte Welt-seele bliebe somit bezogen auf den Weltkoumlrper waumlre sie real

iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer an-tiken Auffassung

Halten wir inne Der Seele wird eine Art Prioritaumlt beigemessen die sichauf die in ihrer Definition widergespiegelte Natur als Selbstbewegungstuumltzt Als solche zeigt sich die Seele qua Seele und unabhaumlngig von allihren konkreten Manifestationen als aumllter wirksamer und maumlchtiger un-ter allen Bewegungen Und nicht nur dies Sie zeigt sich auch als dieeigentliche Bewegung und Veraumlnderung alles anderen Seienden30 Wirbefinden uns also im Rahmen der Problematik des Leib-Seele-Dualis-mus der neben dem Dualismus von Idee und Erscheinung der alssbquoZwei-Welten-Lehrelsquo beruumlhmt bzw beruumlchtigt wurde sowie dem in derAntike und Moderne debattierten Dualismus der zwei platonischenPrinzipien weitlaumlufig Karriere in der Geschichte des Platonismusgemacht hat31

29 Stalley An Introduction to Platorsquos Laws Oxford 1983 S 171f30 Lg 894c6f31 Die Tatsache dass hier die zwei letzteren Arten von Dualismus nicht vor-

kommen bedeutet keinesfalls dass der alte resignierte Platon seine Ideen- oderPrinzipienlehre aufgegeben habe (so Muumlller Gerhard Studien zu den Platoni-schen Nomoi Muumlnchen 1951 19682 aumlhnlich Rist Eros and Psyche S 87ff)Auf die platonische Ideenlehre weist der Gast als auf einen wesentlichen Teil derErziehung der sbquonaumlchtlichen Versammlungrsquo hin (Lg 965b-966b) Hier sei dieschwierigere Frage dahingestellt inwieweit die angedeutete Lehre der klassi-schen Ideenlehre der mittleren Dialoge entspricht

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Platon problematisiert den Leib-Seele Dualismus nicht nur aufgrundder allgemeinen Frage nach sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo sondern auch weil erauf der moumlglichen Interaktion zwischen der intelligiblen Seele (derSonne) und ihrem wahrnehmbaren Koumlrper reflektiert (in Lg 898e8-899a4)32 Obgleich wir nicht viel Positives uumlber die platonische Auffas-sung der Art der Beziehung zwischen Koumlrper und Seele aussagenkoumlnnen sind wir damit doch imstande auf entschiedene Weise einigesauszuschlieszligen Wir werden mit dem Materialismus und dem Mentalis-mus anfangen die mit weniger Muumlhe abgelehnt werden koumlnnen als derso charakterisierte sbquorobuster Dualismuslsquo dem wir uns anschlieszligendwidmen

Die These des Materialismus wonach das Seelische auf Koumlrperlicheszuruumlckzufuumlhren sei gewinnt nicht die Oberhand in diesem KontextDie Materialisten bleiben die Gegner des Atheners durch das ganze Ar-gument hindurch Noch modifizierte Materialisten finden einen Belegfuumlr ihre These dass das Seelische unsichtbares Koumlrperliches sei Neu-erdings hat Gabriela Carone diese Auffassung des sbquomodifizierten Mate-rialismuslsquo als genuin platonisch vertreten33 was eine gerechtfertigteReaktion von Francesco Fronterotta hervorgerufen hat34 Bei ihrem Ver-such die Materialitaumlt der Seele aufzuweisen begeht Carone einengrundsaumltzlichen Fehler Sie geht ohne jede Argumentation von der Moumlg-lichkeit eines unsichtbaren Koumlrpers zu einem Verstaumlndnis der Seele alskoumlrperlich uumlber35 Die Ausdehnung sei (nach Platon) wesentliche Eigen-schaft des Koumlrperlichen Weil sie raumlumlich ist muumlsste die Seele daher ir-gendeine Art koumlrperlicher Natur besitzen Carone gibt zu lsquoOf course

32 Die Stelle charakterisiert Thomas Robinson als lsquoa splendid memorial to his[Platorsquos] intellectual honestyrsquo (The Defining Features of Mind-Body Dualism inthe Writings of Plato In John Wright und Paul Potter (Hrsg) Psyche andSoma Physicians and Metaphysicians on the Mind-Body Problem From Antiq-uity to Enlightenment S 37-55 Hier S 55) lsquoTo the end he is wrestling with theproblem that lies at the heart of all psycho-physical dualism the problem ofrelating a physical substance to an immaterial one and to the end he openlyadmits his bafflementrsquo (ebd)

33 Carone Gabriela Mind and Body in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichteder Philosophie 87 (2005) S 227-269 Hier S 256f

34 Fronterotta schmaumllert gewisse Staumlrken des Argumentes von Carone undbringt daher die platonische Methode der sbquoVerbesserungrsquo des Gegners in diesemFall der Materialisten nicht zur Anwendung (Fronterotta Fransesco Carone onthe Mind-Body Problem in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichte der Philoso-phie 89 (2007) S 231-236)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 15

there is still a gap to be filled between spatial extension and corporeal-ityrsquo36 Trotz ihres Zugestaumlndnisses fuumlllt Carone diese Luumlcke leider nichtund offenbart auf diese Weise ihre nicht hinterfragte (oder bei Platonnicht bewaumlhrte) Cartesianische Praumlmisse37

Noch belegt unser Zusammenhang das andere Extrem einer ArtMentalismus nach dem das Koumlrperliche vom Seelischen ableitbar istSowohl die Darstellung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper alszwischen Ganzem und Teil (Chrm 156dff) als auch die oumlrtliche Meta-pher der den Koumlrper umhuumlllenden Seele (Ti 36e3f und Lg 898d11-e238)eroumlffnen dennoch den Raum fuumlr eine solche Auffassung Dennoch un-terstuumltzt der Kontext in den Gesetzen nicht diese Auffassung Anders alsder materialistisch gepraumlgte Typus vertreten die sbquoPhilosophierendenlsquokeine reduktionistische These was nicht nur den Materialismus sondernauch den Mentalismus ausschliesst

In modernen Diskussionen des Leib-Seele-Problems wird Platon allzuoft als Vertreter eines sbquorobusten Dualismuslsquo dargestellt39 Demgemaumlszlighandelt es sich bei Seele und Koumlrper um zwei selbststaumlndige vonei-nander abgetrennte Substanzen die erst nachtraumlglich vereinigt werden

35 Carone Mind and Body S 237 die Voraussetzungen eines solchen Ver-staumlndnisses hat Fronterotta ans Licht gebracht Carone on the Mind-Body Pro-blem S 233

36 Carone Mind and Body S 240 Anm 4337 Vgl Carones selbstverstaumlndliche Redeweise lsquospatial or material conditionsrsquo

lsquobody and spacersquo lsquospace and bodyrsquo Mind and Body S 264 Zu einer einsichtige-ren Unterscheidung der Arten vom Dualismus bei Platon und Descartes sSarah Broadie Soul and Body in Plato and Descartes In The AristotelianSociety 101 (2001) S 295-308

38 Die zweite zaumlhlt Robinson nicht mit auf The Defining Features of Mind-Body Dualism S 40 Anm 12 Lg 898d11-e2 hat mehrere Deutungen undUumlbersetzungen veranlasst Περιφύειν wird mit aumlhnlicher Bedeutung in R 612aangewendet (sbquoherum- oder anwachsenlsquo) Diese Metapher in den Gesetzen undderen Uumlbersetzung verfehlen Otto Apelt Platons Gesetze Zweiter Band Leip-zig 1916 S 419 Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 S 163 mit Anm 2 Robin Leacuteon Oeuvres completesPlaton Paris 1950 Zweiter Band S 1025 richtig verstehen die Stelle JowettBenjamin The Dialogues of Plato Oxford 41953 S 468f Taylor Alfred E TheLaws of Plato London 21960 S 291 Muumlller Studien S 92 Anm 1 Bury Rob-ert Plato with an English Translation IX and X Laws London-New York1952 S 346 mit Anm Saunders Plato The Laws S 430 Cooper John (Hrsg)Plato Complete Works Cambridge 1997 S 1555 Mayhew Plato Laws X S29

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muumlssen was hier nicht ausdruumlcklich widerlegt wird Neuerdings hatFronterotta diese Auffassung vertreten40 wobei auch seine Deutung aufzwei unaufhebbaren Schwierigkeiten im Timaios stoumlszligt Zum ersten istdie Weltseele raumlumlich ausgedehnt Zum zweiten ist sie das Produkteiner Mischung was nicht nur Carones These widerlegt dass die Seelekoumlrperlich sei ndash da hat Fronterotta Recht ndash sondern auch gegen einen ab-soluten unuumlberbruumlckbaren Gegensatz zwischen einer rein rationalerSeele und dem Weltkoumlrper plaumldiert41

Auf dem ersten Blick scheint unser Kontext in den Gesetzen nicht aufexplizite Weise den weit verbreiteten Vorschlag eines Substanz-Dualis-mus abzuweisen Weil sich aber in diesem Zusammenhang sowohl dieseelische als auch die koumlrperliche Bewegung im Raum vollziehen (Lg893c1f) ist die Dimensionalitaumlt keinesfalls ausschlieszliglich dem Koumlrperzugeordnet was sich wiederum mit einem starren Dualismus nicht ver-traumlgt42

Jedenfalls ist ein gewisser Dualismus insofern nicht zu uumlbergehen alsdie seelische Bewegung die koumlrperliche nicht produzieren kann43 NachLg 896e8-897b4 sbquonehmenrsquo die seelischen als die primaumlren Bewegungendie sekundaumlren koumlrperlichen sbquoaufrsquo Das gleiche Verb (παραλαμβάνειν897a5) wendet auch der Timaios an Der Demiurg nimmt das auf unge-ordnete und fast verbrecherische Weise bewegte Wahrnehmbare sowiespaumlter im Dialog das was ἀνάγκη bewirkt (68e3) auf Die unterstehendenGottheiten nehmen ihrerseits den rationalen Teil der Seele auf um ihn mitdem sterblichen Teil im Koumlrper zu verknuumlpfen (Ti 69c5) Diesen ver-schiedenen Zusammenhaumlngen koumlnnen wir keine Umkehrung der Prio-ritaumlt der Seele gegenuumlber dem Koumlrper entnehmen Was sich mit einer anSicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ausschlieszligen laumlsst ist eine

39 S Burnyeat Myles Is An Aristotelian Philosophy of Mind Still CredibleA Draft In Nussbaum A M-Rorty (Hrsg) Essays on Aristotlersquos De AnimaOxford 1992 S 15-26 Hier S 16 Putnam Hilary The Threefold Cord MindBody and World New York 1999 S 97 Stephen Priest Theories of the MindLondon 1991 S 8-15 57 162)

40 Fronterotta Carone on the Mind-Body Problem41 Platon behandelt das Problem der Verbindung zwischen der Seele und dem

Koumlrper wie die Vermittlung durch das Mark beweist (Ti 73b-c) was wir abernicht als Beleg dafuumlr betrachten sollten dass Platon zum Vorlaumlufer von Descar-tes wird

42 Thomas Johansen begeht diesen Weg in seiner Timaios-Auslegung43 Vgl Mason Andrew Plato on the Self-Moving Soul In Philosophical

Inquiry 1998 S 18-28 Hier S 24 28

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 17

Herleitung des Koumlrperlichen aus dem Seelischen44 Diese Unterscheidungzwischen Koumlrper und Seele erlaubt es dem Dialektiker je nachZusammenhang die Seele qua Seele (so in der vorliegenden Passage der Ge-setze) und den Koumlrper qua Koumlrper (so im Timaios) zu betrachten ohne einereduktionistische Auslegung vorauszusetzen

Auf dieser Basis wird ein Reduktionismus des Koumlrpers auf die Seele aus-geschlossen Ausserdem unterstuumltzt der Wortlaut des Textes nicht das Ver-staumlndnis der ontologischen Prioritaumlt die Aristoteles in Metaph V11 an-spricht Es geht in unserem Kontext nicht darum was Aristoteles undAlexander als platonische Auffassung und akademisches Gut dar-stellen45 Als Kriterium der ontologischen Rangfolge wird dassbquoMitaufgehobenwerdenrsquo des Spaumlteren angegeben Demgemaumlszlig setzt dasontologisch Spaumltere das Fruumlhere voraus aber nicht umgekehrt Wenndas Fruumlhere aufgehoben wuumlrde wuumlrde auch das Spaumltere aufgehobenwas sich aber nicht umkehren laumlsst Soweit geht Platon bei der hiesigenBetrachtung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper jedoch nichtDie Rede von der sbquoAufnahmersquo der koumlrperlichen Bewegungen von denseelischen ist weniger mit einer ontologischen Prioritaumlt der Seele (wieoben dargelegt) als vielmehr mit einer Aufeinanderbezogenheit vonSeele und Koumlrper vertraumlglich

Um eine uumlber den Rahmen dieses Beitrags hinausgehende positive Louml-sung fuumlr Platons Leib-Seele-Dualismus zu entwickeln ist es noumltigeinige falsche Meinungen zu korrigieren wozu die obere Darlegung bei-traumlgt

iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Ar-gument

44 Pace England Edwin The Laws of Plato London 1921 Zweiter Band S476 der παραλαμβάνειν als lsquobring in their trainrsquo versteht In allen obenerwaumlhnten Zusammenhaumlngen ist klar dass das Aufgenommene nicht vomAufnehmenden geschaffen wird Die Uumlberlegenheit des letzteren bleibt davonunberuumlhrt

45 Vor allem in Arist Metaph V11 1019a2-4 vgl Alexander In AristotMetaph I 6 987b33 Gaiser Testimonium Platonicum 22B

18 Georgia Mouroutsou

Wir kehren zu unserem Text zuruumlck Da der Seele ontologische Prioritaumltgegenuumlber dem Koumlrper verliehen wird ist auch das der Seele Verwandteontologisch fruumlher als das was dem Koumlrper zugehoumlrt

raquoVerhaltensweisen aber und Gemuumltsarten Willensakte Schluss-folgerungen wahre Meinungen Fuumlrsorge und Erinnerungen duumlrftenfruumlher entstanden sein als koumlrperliche Laumlnge Breite Tiefe und Staumlrkewenn eben die Seele fruumlher als der Koumlrper entstanden sein solltelaquo46

Im Anschluss daran hilft uns der Athener nachzuvollziehen warumPlaton eben hier die sbquoschlechte Seelersquo einfuumlhrt Man muumlsse darin uumlberein-stimmen dass die Seele Ursache sowohl des Guten als auch des Boumlsendes Schoumlnen und des Schlechten des Gerechten und des Ungerechtenund aller Gegensaumltze sei

raquoIst es denn nicht noumltig darin uumlbereinzustimmen dass die Seele dieUrsache des Guten sowie des Schlechten des Schoumlnen sowie des Haumlszlig-lichen des Gerechten sowie des Ungerechten und uumlberhaupt allerGegensaumltze wenn wir sie als Ursache von allem setzenlaquo47

Diese Zeilen sind aumluszligerst wichtig weil hier und nicht erst in 896e4ffder Gegensatz von sbquogut und schlechtlsquo eingefuumlhrt wird Dem Argumentist vorgeworfen worden es sei schwach Unter den Kritikern verstehtStalley den Schluss auf folgende Weise lsquoSoul since it is the source ofeverything must be the source of valuesrsquo Er wundert sich dass Werteohne Begruumlndung und ohne Erklaumlrung ihrer Existenzweise eingefuumlhrtwerden48 Dementgegen werde ich eine wohlwollendere Annaumlherungvorschlagen Nach der Rekonstruktion des Arguments werde ich eineArt sbquoanthropozentrischer Wendelsquo in einen breiteren Kontext situieren

Wie er expliziert (896d8) zieht der Gast aus Athen diesen Schlussdaraus dass die Seele als Ursache von allem angesetzt worden ist Bevorwir diese Begruumlndung als einen Fehlschritt charakterisieren sollten wiruns zusammen mit Kleinias erinnern dass die sbquoSeelersquo die Veraumlnderungvon allem herbeifuumlhrt49 Mit Hilfe einer anderen Formulierung ist dieSeele raquodie Veraumlnderung und Bewegung von allem Seiendenlaquo50

46 Lg 896c9-d3 raquoΤρόποι δὲ καὶ ἤθη καὶ βουλήσεις καὶ λογισμοὶ καὶ δόξαιἀληθεῖς ἐπιμέλειαί τε καὶ μνῆμαι πρότερα μήκους σωμάτων καὶ πλάτους καὶβάθους καὶ ῥώμης εἴη γεγονότα ἄν εἰπερ καὶ ψυχὴ σώματοςlaquo

47 Lg 896d5-7 raquoἎρrsquo οὖν τὸ μετὰ τοῦτο ὁμολογεῖν ἀναγκαῖον τῶν τε ἀγαθῶναἰτίαν εἶναι ψυχὴν καὶ τῶν κακῶν καὶ καλῶν καὶ αἰσχρῶν δικαίων τε καὶ ἀδίκωνκαὶ πάντων τῶν ἐναντίων εἴπερ τῶν πάντων γε αὐτὴν θήσομεν αἰτίανlaquo

48 Stalley An Introduction S 172 49 Lg 892a6f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 19

Die Bewegung ist hier als Wechsel und Veraumlnderung (μεταβολή) in ih-ren weitesten Sinn zu verstehen seien sie im Raum in Bezug auf dieSubstanz die Qualitaumlt oder die Quantitaumlt Der Uumlbergang findet zwi-schen Gegensaumltzen statt Die ersten Paare von Gegensaumltzen die derAthener vor der Verallgemeinerung in 897d7 anspricht sind Ver-bindungen und Trennungen Wachstum und Schwund sowie Prozessedes Wedens und Vergehens (894b10f) Die Seele zeigt sich als dieUrsache von aller Art koumlrperlicher Veraumlnderung Wenn eine Seele einenWechsel von einem schlechten zu einem guten Zustand verursacht dannist diese Seele in sich selbst gut Wenn eine Seele einen schlechtenEinfluss auf einen Zustand uumlbt dann ist sie dafuumlr verantwortlich Es istbemerkenswert dass der Gegensatz zwischen sbquogutlsquo und sbquoschlechtlsquo nichtauf die Unterscheidung zwischen sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo oder diejenigezwischen sbquoseelischer Bewegunglsquo und sbquokoumlrperlicher Bewegunglsquo zu-ruumlckgefuumlhrt wird Der Koumlrper kann nicht als schlecht charakterisiertwerden weil nach dem spaumlten Platon der Koumlrper qua Koumlrper weder gutnoch schlecht in sich selbst ist

Wenn die Seele die Ursache von allem ist so der Athener dann musssie die Ursache von allen Gegensaumltzen sein einschlieszliglich des Bereichsder Ethik Die gleichen Gegensatzspaare von sbquogut und schlecht schoumlnund haumlszliglich sowie gerecht und ungerechtlsquo tauchen in Euthph 7c10ff alsder Zankapfel der menschlichen Debatten auf die vor Gericht gefuumlhrtwerden koumlnnen Auch in Grg 459d1ff gehoumlren sie zur rhetorischenKunst die kein Wissen daruumlber erwerben kann In Plt 296c5-7 erfahrenwir dass ein Irrtum im Rahmen der politischen Kunst das Schaumlndlichedas Schlechte und das Ungerechte verursacht Was der Rhetor verfehltweiszlig der Staatsmann Der goumlttliche Teil der menschlichen Seele mag einewahre Meinung uumlber Schoumlnes Gutes und Gerechtes stiften (Plt 309c5-8)

Indem die Seele fuumlr alle moumlglichen koumlrperlichen Veraumlnderungen ver-antwortlich gemacht wird gelangen wir in unserem Zusammenhang zuder Seele als der primaumlren Ursache auch des Schlechten und nichtaufgrund der Frage woher das Schlechte komme Der Athener machtnirgends explizit dass er die Seele als die einzige Ursache des Schlechtensei Bedenken sollte daher gegen Englands Beobachtung geaumluszligert wer-den in 896d5 werde die Frage nach dem Uumlbel eingefuumlhrt und insbe-

50 Lg 894c6f raquoκαλουμένην δὲ ὄντως τῶν ὄντων πάντων μεταβολὴν καὶκίνησινlaquo

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sondere gegen seine Folgerung lsquoHaving identified ψυχή with the αἰτίαἀγαθοῦ τε καὶ κακοῦ he is bound to talk of the αἰτία κακοῦ as ψυχήrsquo51

Auf das seelische Uumlbel konzentriert sich hier der Athener Verabsolutie-rende Konklusionen uumlber das Uumlbel schlechthin sind daher der Ge-spraumlchssituation nicht zu entnehmen Jedenfalls waumlre der bestimmte Ar-tikel noumltig vor αἰτίαν (sowohl in 896d6 als auch in d8)

Der Athener zielt darauf die Natur der Seele als die Ursache von allenGegensaumltzen auszulotten und fuumlhrt dann das Feld der menschlichenEthik ein ohne seinen Uumlbergang oder eher seine Einschraumlnkung zu er-klaumlren52 Die konkrete politische Situation in den Gesetzen bietet eineplausible Erklaumlrung fuumlr diesen Uumlbergang von der Seele qua Seele zurmenschlichen Seele Die Buumlrger von Magnesia sollten ihre Machtwahrnehmen sowohl zum Guten als auch zum Schlechten beizutragenAuszligerdem sollten sie die Verantwortung ihrer politischen Taumltigkeit ineinem kosmischen All uumlbernehmen das von einer guten Seele verwaltetwird Die primaumlre Ursache der Bewegung ist die Seele Beinahe waumlre dieSeele als Selbst-Bewegung ie ihre absolute Spontaneitaumlt als Bedingungihrer moralischen Verantwortung zum ersten Mal in der Geschichte derPhilosophie vorgekommen haumltte Platon diese Verbindung ausbuch-stabiert53

Eine Art Anthropozentrismus kommt in den spaumlteren platonischenSchriften vor Die Entscheidung ob wir dieses Konzept einer philoso-

51 Platorsquos Laws S 474 Auf aumlhnliche Weise auch Carone Evil and Teleology S295 Anm41

52 Mayhew argumentiert seinerseits dass es nicht darum gehe dass die Seeledie Ursache aller Dinge und daher sowohl schlechter wie guter Dinge sei DerInterpret meint die Seele sei fruumlher als der Koumlrper und in dieser Weise das Seeli-sche ndash einschlieszliglich der Moral ndash entsprechend fruumlher als das Koumlrperliche (PlatoLaws X S 131) Dennoch liegt die Pointe meines Erachtens nicht darin eineneingegrenzten Bereich ndash den der Ethik ndash anzusprechen sondern das Wesen derSeele als Ursache aller Gegensaumltze auszubuchstabieren was wiederum nichtheiszligt man sollte den Bereich der Moral voumlllig leugnen wie es Raphael Demostut lsquo[hellip] the soul is non-moral apt for both good and evil and so far forth inde-terminatersquo (Demosrsquo Hervorhebung Platorsquos Doctrine of the Psyche as a Self-Moving Motion In Journal of History of Philosophy (1968) S 133-145 HierS136)

53 Vgl Horn Christoph Der Begriff der Selbstbewegung bei Alkmaion undPlaton In Rechenauer Georg (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen2005 S 152-173 bes S 168ff und Baumgarten Hans-Ulrich Handlungstheoriebei Platon Platon auf dem Weg zum Willen Stuttgart 1998 S 241-264

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 21

phischen Kritik unterziehen sollten oden nicht mag hier dahingestelltbleiben Mit dem sbquoAnthropozentrismuslsquo bei Platon meine ich dass dasErschaffen des Weltalls auf der Basis einer Teleologie geschieht die aufden Menschen und seinen Beduumlrfnissen zentriert ist Man mag denTimaios heranziehen Der Anthropozentrismus scheint sich durch denganzen Monolog durchzusetzen in dem Timaios auf das Schaffen desMannes fokussiert ist Gemaumlszlig der Lehre der Wiedergeburt sind Frauenund Tiere schlechtere Formen von Lebewesen Es gibt zwei Passagendie als besonders anthropozentrisch gepraumlgt vorkommen Zum erstensind die Pflanzen um der Ernaumlhrung der sterblichen Lebewesen willengeschaffen worden (77e7-b1) Zum zweiten schafft der Demiurg dieuumlber das ganze All scheinende Sonne damit die dementsprechend aus-geruumlsteten Lebewesen an der Zahl teilnehmen nachdem sie von derBeobachtung der kosmischen Bewegung viel gelernt haben (39b2-c1)Um der Menschen und der Kultivierung der Philosophie willen schafftGott die Sonne und ermoumlglicht die Wahrnehmung der Sicht Dank desStudiums der himmlischen Bewegungen koumlnnen wir nach der Natur derZeit und des Alls fragen Auf diese Weise duumlrfen wir hoffen unsere ge-stoumlrte Bewegung der Vernunft der ungestoumlrten Bahn der kosmischenVernunft zu assimilieren (46e-47c 90c-d)

Wir haben die Kritik an der Einschraumlnkung im moralischen Bereichwiderlegt indem wir unseren unmittelbaren sowie weiteren Kontextberuumlcksichtigten Wegen des Fokuses auf den menschlichen Bereich unddie menschliche Seele geht die allgemeine Frage der Seele qua Seele nichtverloren Der Hintergrund der jetzigen Diskussion bleibt dieseallgemeine Fragestellung obgleich die menschliche Seele diejenige istdie sich gemaumlszlig der Vernunft oder gegen die Vernunft verhaumllt (897b1-5)Wir sollten die Unterscheidung zwischen weiteren kosmischen undmenschlichen Dimensionen bewahren wenn auch der spaumlte Platon denkosmischen Zusammenhang auf eine anthropozentrische oder sogar an-thropomorphische Weise beschreibt54 Es waumlre weder gerechtfertigtnoch legitim dass die Untersuchung uumlber die menschliche Seelediejenige uumlber die Seele qua Seele dominieren oder ausschoumlpfen wuumlrde

54 Zur Zentrierung des kosmischen Alls auf dem menschlichen Leben bei spauml-tem Platon s Carone Evil and Teleology S 296

22 Georgia Mouroutsou

v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6

Von der allgemeinen Seelenlehre und der Seele qua Seele die bis dahindas Untersuchungsobjekt bildete gelangt der Athener jetzt zu einer be-sonderen Seele zur Weltseele Der Blickwechsel den der Athener imBereich seiner Betrachtung vollzieht sollte im Rahmen der platonischenSpaumltdialoge in denen Ontologie und Seelenlehre haumlufig in Kosmologiemuumlnden kein Erstaunen hervorrufen Als zwei Beispiele dafuumlr koumlnnender kosmologische Exkurs im Philebos (s oben Abschnitt I) und derUumlbergang von ψυχὴ πᾶσα (alles was Seele ist) zur Weltseele im Phaidros(245c5-246a2) gelten Was uumlber die Seele qua Seele gesagt wurde sollteauch im Fall der Weltseele Guumlltigkeit haben

raquoUnd weil die Seele in allem waltet und wohnt was sich auf ir-gendeine Weise bewegt muumlssen wir etwa nicht sagen dass sie auch denHimmel durchwaltelaquo55

Auf seine nur scheinbar unvermittelte und ploumltzliche Frage56 antwor-tet der Athener selbst

raquoEine oder mehrere Seelen Mehrere Ich werde fuumlr Euch antwortendass wir nicht weniger als zwei ansetzen sollten naumlmlich diejenige diedas Gute vervollkommnet und diejenige die faumlhig ist Entgegengesetztesdurchzufuumlhrenlaquo57

Dass der Athener im Namen seiner Gespraumlchspartner antwortet be-trachte ich als kein ausschlaggebendes Argument gegen die Realitaumlt einersbquoschlechten Weltseelersquo58 weil er sich noch auf die Seele qua Seele bezieht

55 Lg 896d10-e2 raquoΨυχὴν δὴ διοικοῦσαν καὶ ἐνοικοῦσαν ἐν ἅπασιν τοῖς πάντῃκινουμένοις μῶν οὐ καὶ τὸν οὐρανὸν ἀνάγκη διοικεῖν φάναιlaquo

56 Wilamowitz charakterisiert diese Frage zu Unrecht als sbquohereingeschneitlsquo(Platon II S 316) wogegen sich Kerschensteiner einsetzt (Platon und der Ori-ent S 73)

57 Lg 896e4-6 raquoΜίαν ἢ πλείους πλείους ἐγὼ ὑπέρ σφῷν ἀποκρινούμαι Δυοῖνμέν γέ που ἔλαττον μηδὲν τιθῶμεν τῆς τε εὐεργέτιδος καὶ τῆς τἀναντία δυναμένηςἐξεργάζεσθαιlaquo

58 Vgl Apelt Platons Gesetze S 539 Anm 48

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 23

Ist die Seele die das All verwaltet eine oder mehrere Haumltte Platon indi-viduelle Seelen ohne Bezug auf einen generellen Terminus sbquoSeelelsquo auf-zaumlhlen wollen haumltte er von mehr als zwei Seelen gesprochen Die Frageist sehr oft als Frage nach zwei Weltseelen verstanden worden Koumlnnteder Athener nicht die allgemeine Lehre der Seele qua Seele verlassen umsich auf die zwei partikulaumlren Weltseelen zu beziehen Dies haumltte derFall sein koumlnnen wenn die Weltseele mit Realitaumlt ausgestattet waumlre wassich aber nicht so verhaumllt Die oben genannte Frage kann nur die Seelequa Seele betreffen

Obgleich er haumlufig uumlberhoumlrt wird sollte der oben angewendete Dual beruumlcksichtigt werden weil er gegen ein Verstaumlndnis von zwei von-einander getrennten entgegengesetzten Seelen plaumldiert59 Auszliger demDual in 896e5 uumlberhoumlrt die Mehrheit der Interpreten hier noch etwasEntscheidendes Die der wohltaumltigen Seele entgegensetzte ist nicht eineeinfachhin und ohne Weiteres sbquoschlechte Seelersquo60 sondern die Seele raquodieimstande ist das Gegenteil zu bewirkenlaquo Genau in diesem Punkt uumlber-schneiden sich die allgemeine Seelenlehre nach der die Seele qua SeeleSelbstbewegung ist und als solche gut oder schlecht sein kann und diespezielle Lehre uumlber die kosmische Seele die ebenfalls qua Seele in derLage ist gut oder schlecht zu sein Deswegen sollten wir die Rede vonδύναμις in unserer Uumlbersetzung von sbquoτἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαιlsquo(Lg 896e6)61 nicht vernachlaumlssigen Die sbquoschlechte Seelelsquo wird nicht alseine bloszlige Privation der guten Seele eingefuumlhrt sondern als mit ihrereigenen Macht (δύναμις) ausgestattet Schlechtes zu bewirken62 als einenegative und destruktive Macht63

Wir sind dabei weit enfernt δύνασθαι mit einer aristotelischen sbquoerstenMoumlglichkeitlsquo zu identifizieren um die Ausscheidung einer schlechten

59 raquoDie Sprache hat die Dualform geschaffen nicht etwa um den Begriff derZahl zwei sondern um den Begriff der Zweiheit der paarweisenZusammengehoumlrigkeit auszudruumlckenlaquo (Wilhelm von Humboldt Uumlber denDualis Berlin 1828 S 18) Erst nach Platon als das Sprachgefuumlhl fuumlr die eigent-liche Bedeutung der Sprachformen an Lebendigkeit nachlieszlig bedeutete der Dualnicht selten den bloszligen Begriff sbquozweilsquo wobei die wahre und urspruumlngliche Naturdes Duals sich darin zeigt dass er entweder auf paarweise in der Natur verbun-dene Gegenstaumlnde angewendet wird oder auf solche welche in einer engen undgegenseitigen Beziehung gedacht werden (vgl Kuumlhner Raphael und FriedrichBlass Ausfuumlhrliche Grammatik der griechischen Sprache Zweiter Teil Satz-lehre Erster Teil Darmstadt 31966 S 69

60 Er spricht nur spaumlter von einer sbquoschlechten Seelersquo (897d1 vgl 898c4f)

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Weltseele schon in den oberen Zeilen zu finden Nach dieser Lektuumlrewaumlre die zweite Art von Seele nur imstande Schlechtes durchzufuumlhrenaber wuumlrde nicht tatsaumlchlich so etwas tun Waumlre das der Fall warumsollte der Athener uumlberhaupt erst zwischen zwei Arten von Seele unter-scheiden In einem Kontext wo die Staumlrke die praktische Macht sowieEffizienz und Dominanz der Seele uumlberwiegen64 ist die Option einersbquoersten Moumlglichkeitlsquo keine gelungene Annahme65 Nur in dem Fall desgoumlttlichen Demiurgen koumlnnten wir eine solche sbquoerste Moumlglichkeitlsquo an-wenden die sich nie wirklich durchsetzen wird Trotz seiner Faumlhigkeites zu tun ist der Demiurg nicht bereit die guten Mischungen aufzuloumlsenund die kosmische Ordnung zugrunde zu richten Das Konzept einesDemiurgen der faumlhig ist beides zu tun sowohl Gutes als auch Schlech-tes ist fuumlr Platon undenkbar weil Gott wesentlich gut ist66 Zu-gegebenermaszligen waumlre es zu weitreichend all das in 896e5f hineinzule-sen und die zweite Art der Seele mit dem goumlttlichen Demiurgen zuidentifizieren

61 Der δύναμις-Aspekt geht verloren bei Plutarch der stattdessen von der gutwirkenden und der entgegengesetzten Seele spricht die das Gegenteil vollbringtDe Is Et Osir 370F4-6 raquoὧν τὴν μὲν ἀγαθουργόν εἶναι τὴν δrsquo ἐναντίαν ταύτῃ καὶτῶν ἐναντίων δημιουργόνlaquo Den wichtigen Bezug auf δύναμις verpassen Jowettlsquoone the author of good and the other of the evilrsquo (The Dialogues of Plato S466) sowie Grube Platorsquos Thought lsquoone that does good and one that does evilrsquo(Platorsquos Thought S 146)

Brisson spricht von der Neutralitaumlt der Seele die faumlhig ist gut oder schlecht zusein (Vernunft Natur und Gesetz im zehnten Buch von Platons Gesetzen InHavlicek Ales (Hrsg) The Republic and the Laws of Plato Proceedings of theFirst Symposium Plato Symposium Platonicum Pragense 1 (1997) S 182-200Hier S189) ohne diese Textstelle heranzuziehen

62 Das Verb ist sbquoἐξεργάζεσθαιlsquo das nicht nur das Schlechte bewirken sondern esauch vollenden heiszligt (vgl ἔργον sowohl in als auch in ἐξεργάζεσθαι)

63 Vgl Dillons allgemeine Folgerung uumlber das ontologische Problem desSchlechten bei Platon (Monist and Dualist Tendencies S 11) Der Fall einerschlechten Seele die nicht als Privation der guten Seele vorkommt sondern alsraquofaumlhig Schlechtes zu vollendenlaquo unterstuumltzt Dillons Konklusion dass diesbquoschlechte Seelelsquo eine negative zerstoumlrende Macht sei

64 Vgl die Charakterisierung der Seele in 894d1f 895b665 Dank der Beobachtung von David Sedley wurde es mir klar dass ich

unabsichtlich eine aristotelsiche sbquoerste Potenzialitaumltlsquo in einer fruumlheren Versionvorgeschlagen hatte

66 Vgl oben Fuszlignote 7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 25

Bevor wir zur allgemeinen platonischen Psychologie uumlbergehen er-waumlgen wir eine zweite moumlgliche Unterscheidung der Seele in 896e4-6Bis jetzt habe ich die Distinktion zwischen guter und schlechter Seele alsselbstverstaumlndlich betrachtet Eine vorsichtigere Lektuumlre ermoumlglicht einezweite Option naumlmlich die Unterscheidung zwischen derwohlwollenden Seele die immer das Gute vollendet und derjenigen diefaumlhig ist entgegengesetzte Dinge (Plural) durchzufuumlhren sowohl Gutesals auch Schlechtes (τῆς τἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαι) Die ersteSeele kann keine andere als die goumlttliche sein67 Fuumlr die zweite Seele istder einzige Kandidat die menschliche Seele Auszligerdem wuumlrde die Seeleder Tiere unter die Seele fallen die sowohl Gutes als auch Schlechtestun kann weil sie einen logischen Teil beinhaltet auch wenn deformiertDas Goumlttliche ist immer gut Die Pflanzen moumlgen gut sein insofern siein eine globale Teleologie integriert sind Sie wuumlrden aber nie als faumlhigcharakterisiert etwas Gutes oder noch weniger etwas Schlechtes zutun noch wuumlrden sie die Verantwortung fuumlr die herbeigefuumlhrten gutenoder schlechten Wirkungen tragen Wenn diese Lektuumlre als die einzigemoumlgliche aufgewiesen werden koumlnnte wuumlrden wir mit Sicherheit dieFrage nach der schlechten Seele auf spaumlter verschieben68

Wie es auch sein mag befinden wir uns noch im Rahmen derallgemeinen Lehre der Seele qua Seele als Selbstbewegung Die kosmi-sche Seele ist in 896e1f aufgetaucht aber die Unterscheidung zwischender guten und der schlechten Seele oder der goumlttlichen und men-schlichen Seele wird auf einer allgemeinen Ebene gezogen69 Obgleichder Athener nicht die theorethischen Anspruumlche des Sophistes erhebtsetzt er die allgemeine platonische Ontologie voraus dergemaumlszlig dasSeiende qua Seiendes δύναμις sei Das Kriterium fuumlr alles was Seiendesist sei es Intelligibles oder Koumlrperliches Koumlrper oder Seele ist das Ver-moumlgen zu tun oder zu leiden70 Die Erforschung der Seele als Seiendesverlangt daher die Frage nach ihrer Kraft und ihrem Vermoumlgen (Lg892a2f) Der Gast aus Athen bezieht sich stets auf die δύναμις-Ontolo-

67 Der Athener kann noch nicht die gute Seele als goumlttlich charakterisierenDas Argument hat noch nicht die Goumlttlichkeit der Seele bewiesen

68 Der kreative Charakter der Dialektik ermoumlglicht mehr als eine richtige Ein-teilung Zu diesem Aspekt s Plt 286d-e und Delcomminettes Monographie

69 Anders als Taylor der den Uumlbergang von 896e2 zu e4 durch die Praumlmisseder Aktualitaumlt des Guten und Schlechten in der gegenwaumlrtigen Welt verhilft (TheLaws S 289 Anm 1) sehe ich keinen Eintritt eines a posteriori Arguments adhoc Alles bisherige entnimmt der Athener der allgemeinen Seelenlehre

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gie des Phaidros sowie des Sophistes Er stellt die Frage was die Seele istund was fuumlr ein Vermoumlgen sie hat οἷόν τε ὂν τυγχάνει καὶ δύναμιν ἣνἔχει71

Obwohl die Frage nach dem Tun (ποιεῖν) oder Leiden (πάσχειν) derSeele als δύναμις nicht explizit gestellt wird72 bringt ihre Definition alsSelbstbewegung ein gleichzeitiges Tun (als Bewegen) und Leiden (alsBewegtwerden) zum Ausdruck73 Die Seele ist die Kraft die sich selbstund anderes bewegt74 Die Definition der Seele als Selbstbewegung kannentweder als Aktivitaumlt oder Passivitaumlt ausgedruumlckt werden Die Seele be-wegt sich selbst und wird von sich selbst bewegt Ein gleichzeitiges Tunund Leiden das aber nicht das gleiche Seiende verursacht geschieht beikoumlrperlicher Bewegung Ein Koumlrper mag auf einen anderen Koumlrper wir-ken und zu gleicher Zeit kann er von einer Seele oder einem anderenKoumlrper bewegt werden aber nicht von sich selbst75

Platon gibt die Definition der Seele in ihrer Allgemeinheit d hunabhaumlngig von ihren moumlglichen Manifestationen in konkretenLebewesen Alles was Seele ist soll Selbstbewegung sein mag es sichum die Seele des Menschen oder des Tieres oder der Pflanze handelnWeil die individuellen Manifestationen der Seele nicht beruumlcksichtigtwerden fehlt bei der Formel der Definition τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴνκινεῖν κίνησιν (896a1f) auch der Bezug auf den Koumlrper den die jeweiligekonkrete Seele beseelt Im Falle der Absenz der Materie in einer Defini-

70 Der Vorschlag des Gastes aus Elea in Sph 247d-e wird nicht allgemein alsPlatons Vorschlag uumlber Ontologie gedeutet Sehr haumlufig beschraumlnken Exegetendas Seiende als δύναμις auf die ad loc Argumentation gegen die MaterialistenAuch wenn dieses Argument als Platons Argument charakterisiert wird bleibtes sehr umstritten ob es eine allgemeine Ontologie betrifft (Brown) oder in eineOntologie der Ideen einmuumlndet (Gerson Politis) Darauf gehe ich hier nicht ein

71 Lg 892a3 vgl Lg 894b8-c1 und 896a1f72 Der Athener bezieht sich auf Tun und Leiden nur in 894c5f und meint

wahrscheinlich sowohl Seelisches als auch Koumlrperliches mit dem die Seele har-monisiert

73 In Lg 894b8-c1 und 896a1f beantwortet der Athener seine Frage nach derArt des Vermoumlgens mit dem die Seele ausgestattet ist Der gesamteZusammenhang verbindet die Frage nach dem Wesen eines Seienden mit derFrage nach seinem Vermoumlgen

74 Lg 893c4f75 Gaiser fuumlhrt den Ausgleich zwischen Passivitaumlt und Aktivitaumlt in der selbst-

bewegenden Seele auf das Zusammenwirken der zwei platonischen Prinzipienzuruumlck (Platons Ungeschriebene Lehre S 195f)

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tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

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Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

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tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

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welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

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zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

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Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

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werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

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abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

2 Georgia Mouroutsou

Dennoch bezieht sich die sbquoschlechte Seelelsquo die der Athener in Lg896e4ff einfuumlhrt auf keine reale schlechte Weltseele Durch die Frageob Platon die schlechte Weltseele fuumlr real haumllt oder nicht ist oft auszligerBetracht geraten was der Darstellung des Atheners zugrunde liegtnaumlmlich die Durchkreuzung einer allgemeinen Seelenlehre und derLehre von der Weltseele Bleiben wir in der Faszination befangen dieeine sbquoschlechte Weltseelersquo auf uns auszuuumlben vermag ndash auch wenn sie zulehrreichen Deutungen sowohl in der Antike als auch in der Modernegefuumlhrt hat ndash gelangen wir als Interpreten weder uumlber die Be-schraumlnkungen der zwei dialektisch nicht hinreichend ausgeruumlsteten Ge-spraumlchspartner noch uumlber das exoterische Niveau des Textes hinaus

Der erste Abschnitt bietet eine Einfuumlhrung an Es wird sich als legitimerweisen Antworten auf die allgemeine Frage nach dem Schlechten zuerwarten oder sogar die Frage nach einer moumlglichen schlechten Welt-

2 In der modernen Platon-Forschung ist es zu einer beruumlhmten Disjunktion inBezug darauf gekommen ob die Seele Ursprung aller Arten von Bewegung istwie es der Phaidros und die Gesetze vorauszusetzen scheinen oder nur dergeordneten Festugiegravere und Vlastos haben sich stark fuumlr den zweiten Weg einge-setzt waumlhrend Wilamowitz-Moellendorf Cornford und Morrow fuumlr den seeli-schen Ursprung aller Bewegung plaumldiert haben Der Ursprung alles Schlechtenist nach Vlastos und Festugiegravere die Materie oder das Koumlrperliche waumlhrendCornford und Morrow das Irrationale in der Seele zum Ursprung desSchlechten machen Cherniss versucht zwischen den beiden Auffassungen zuvermitteln indem er mehrere Urspruumlnge des Schlechten unterscheidet jedochdie Seele als primaumlre Ursache anerkennt sie sei auf eine direkte Weise Ursprungdes positiven moralischen Uumlbels und auf eine indirekte zufaumlllige WeiseUrsprung des negativen Schlechten der Phaumlnomene Herter und Gaiser wehrensich gegen den seelischen Ursprung aller Arten der Bewegung und fuumlhren imAnschluss des Kapitels A6 und 1072a1 der aristotelischen Metaphysik dasSchlechte sowie die ungeordnete Bewegung auf das zweite platonische Prinzipder sbquoUnbestimmten Zweiheitrsquo zuruumlck

3 Bei seiner Untersuchung der weiblichen Prinzipien der alten Akademie(Unbestimmte Zweiheit Weltseele und Materie) beobachtet John Dillon dassalle drei rationalen Einfluss aufnehmen koumlnnen (Female Principles in PlatonismS 107-123 In Dillon The Golden Chain Great Britain 1990 S 117) Deswegensind sie wenn uumlberhaupt nur auf negative oder akzidentelle Weise boumlse Dillonfaumlhrt fort raquoOnly the possible maleficent soul of Laws X stands out as anoma-lous and we cannot be sure what Plato really intended therelaquo Trevor Saundersbringt eine aumlhnliche Verbluumlffung uumlber die sbquoschlechte Seelersquo der Gesetze zum Aus-druck raquoPlato hints mysteriously at a bad soul or souls responsible for irregularmotion and evillaquo (Plato The Laws Translated with an Introduction London1970 S 409)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 3

seele zu antizipieren In Politeia 379c stellt Sokrates die Frage nach demSchlechten im allgemeinen In der vierfachen Einteilung alles Seiendendes Philebos (23-27) und insbesondere im anschlieszligenden kosmologi-schen Exkurs kommt Platon in die naumlchste Naumlhe der Frage nach einerschlechten Weltseele

Im zweiten Abschnitt gehe ich nun uumlber zu der Stelle in Nomoi X(896b10-897d2) Dabei sollte die Argumentation in ihrem schillerndenund schwankenden Charakter so klar wie moumlglich verfolgt werden MitHilfe des Ruumlckbezugs in 896b10-c7 werde ich die Einfuumlhrung derschlechten Seele vor dem Hintergrund des Leib-Seele-Dualismus aus-lotten wie sie der Text uns bietet (in den Abschnitten II ii und II iii)Dann werde ich 896c9-897d2 Schritt fuumlr Schritt uumlbersetzen und kom-mentieren (II iv-ix) Eine parallele Diskussion und nicht nur ein bloszligerBezug auf die relevante Forschungsliteratur wird uns helfen nicht Pla-tons Worte hinter Mengen von Literatur zu verbergen sondern aufzu-zeigen wie aktuelle Debatten Platons eigene Argumente wiederbelebenLetzen Endes wird sich der platonische Text fuumlr oder gegen angenom-mene Thesen und vertretene Auffassungen entscheiden

Gegenwaumlrtigen Tendenzen in der Forschung entgegen die Schwaumlchender untersuchten Argumentation zu betonen werde ich versuchen ihreStaumlrken zu maximieren Die Analyse des Textes wird nicht die Erwar-tung erfuumlllen die der einfuumlhrende Abschnitt erweckt naumlmlich das Pos-tulieren einer schlechten Weltseele als die Antwort auf die allgemeineFrage nach dem Schlechten4 Der Text wird nicht den Anspruch er-heben die Frage nach dem Ursprung vom Schlechten zu stellen noch zubeantworten Alle Interpretationen die auf dieser Erwartung basierenfinden keine textliche Stuumltze sei es Zellers Entwicklungs-Erklaumlrungoder Herters Prinzip der sbquoArbeitsteilunglsquo oder Hagers plotinisch ge-praumlgte Exegese5

4 Trotz meiner Hervorhebung der Inkompatibilitaumlt einer schlechten Weltseelemit der platonischen Philosophie werde ich nicht Redeweisen wie sbquorhetorischeFragelsquo (Peter Steiner in seinem Kommentar Platon Nomoi X Berlin 1992 S165) oder lsquojust an hypothesisrsquo (Roxana Carone Gabriela Teleology and Evil inLaws 10 In Review of Metaphysics 48 (1994) S 275-298 Hier S 285) inAnspruch nehmen um die Frage nach der sbquoschlechten Seelelsquo zu charakterisierenZum einen sollte man die allgemeine Frage nach der sbquoschlechten Seelelsquo nicht her-unterspielen weil Platon eine schlechte Weltseele ablehnt Zum anderen scheintder Ausdruck lsquojust an hypothesisrsquo Platons Hinweise auf diese Richtung zu uumlber-sehen (s unten I)

4 Georgia Mouroutsou

Im dritten und letzten Abschnitt werde ich mich der Aufgabewidmen eine allgemeinere Hermeneutik der Platon-Exegese zu bekraumlf-tigen Ich werde auf die Methode reflektieren die ich in den zwei erstenAbschnitten anwende Um nur einige Zeilen eines platonischen Texteszu intepretieren sollte man ndash wenn nicht eine philosophische Theorieausformulieren ndash eine ganze Geschichte erzaumlhlen die Teile von anderenDialogen und indirekte Berichte uumlber platonisches Lehren integriert6 Inder Antike haben die Platoniker diese Strategie nicht hinterfragt son-dern ohne Bedenken angewendet In der Moderne hat Schleiermacherdie kuumlnstlerische Einheit und anschlieszligende hermeneutische Abge-

5 Zellers Platon fuumlhrte die sbquoschlechte Seelelsquo ein um das Schlechte auf einenseelischen Ursprung zuruumlckzufuumlhren Die Philosophie der Griechen in ihrergeschichtlichen Entwicklung dargestellt Zweiter Teil Erste Abteilung Sokratesund die Sokratiker Plato und die alte Akademie Leipzig 18894 S 973ff Anm 4Wenn auch im Widerspruch zum platonischen System weil Platon bis zu seinenGesetzen die Materie fuumlr das Schlechte verantwortlich gemacht habe sei dieAnnahme einer schlechten Weltseele der folgerichtige Schritt in der EntwicklungPlatons Dass Entwicklungstheorien durchaus auch die Platonforschung praumlgenzeigen unter anderem Ausdrucksweisen wie lsquoPlatorsquos Final Thoughts on Evilrsquo(Mohr) oder lsquothe final version of his [Platorsquos] kineticsrsquo (Andreacute Laks The LawsIn Rowe C und M Schofield (Hrsg) Cambridge History of Greek andRoman Political Thought Cambridge 2000 S 258-292 Hier S 289) VglCarones These dass das zehnte Buch der Gesetze das letzte Wort Platons uumlberKosmologie und Theologie darstelle (Teleology and Evil S 275) Dabei wird derletzten endguumlltigen Version seit Plutarch der das zehnte Buch der Gesetze alsdie abschlieszligende und houmlchste Offenbarung Platons gepriesen hat (De Is et Os370F-371A) hermeneutische Prioritaumlt beigemessen

Herter plaumldiert unter anderen fuumlr eine elegantere und populaumlre Loumlsung einerharmonischen sbquoArbeitsteilungrsquo um einer sachlichen Dissonanz zwischen demTimaios und den Gesetzen zu entgehen Demgemaumlszlig erklaumlrt Herter dass Timaiosdie Bewegung fast ausschlieszliglich im kosmischen Bereich problematisiere unddas Schlechte weniger in der Seele als in der Materie verorte (in HerterBewegung der Materie S 339f)

Und weil es trotz harmonisierender Bereitschaft nicht immer gelingt alleDivergenzen in Platons Werk miteinander vertraumlglich zu machen heben andereInterpreten wie Hager (Die Materie und das Boumlse im antiken Platonismus InMuseum Helveticum 19 (1962) S 73-103) das Schillernde der platonischen Dar-stellung hervor und projizieren spaumltere eindeutiger formulierte Loumlsungen aus-gezeichneter antiker Platoniker zuruumlck auf Platon

6 Es eruumlbrigt sich zu sagen dass ich weit davon entfernt bin in diesem Beitragdie zweite Aufgabe zu erfuumlllen Ich stimme Burnyeat zu (The Theaetetus ofPlato Indianapolis 1990 xii-xiii) dass (der spaumltere) Platon uns herausfordert zuphilosophieren um seine Probleme zu behandeln und loumlsen

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 5

schlossenheit des jeweilig untersuchten Dialogs hervorgehoben SeineHermeneutik praumlgte sowohl die kontinentale als auch angelsaumlchsischePlaton-Forschung aus obgleich seine Methode keinen Vorgaumlnger in derAntike hatte

Trotz Schleiermachers verbreitetem Einfluss verfolgen heutige Platon-Forscher ndash wenn auch ohne weitere Reflexion ndash eine Platon-Hermeneu-tik die den Rahmen des einzelnen Dialogs uumlbergreift wenn sie Passagenaus verschiedenen Dialogen in Verbindung setzen und vergleichen Wasunsere Diskussion anbetrifft verbinden die meisten Interpreten diesbquoschlechte Seelelsquo der Gesetze mit der ungeordneten Bewegung der choraim Timaios Ich werde argumentieren dass ihr Irrtum nicht darin liegtdass sie die zwei Passagen in Verbindung setzen sondern in der Weisein der sie es tun Darum werde ich meine Rekonstruktion in groszligenZuumlgen anbieten Bei unserem Unternehmen verschiedene Passagen implatonischen Korpus zu vergleichen sollten wir gruumlndlich untersuchenwo wir als Dialektiker in dem jeweiligen Fall stehen wo genau auf demdialektischen Weg den Platon als Aufstieg vom Wahrnehmbaren zumIntelligiblen und Abstieg vom Intelligiblen zum Wahrnehmbarencharakterisiert Nur dann werden wir imstande sein wahrzunehmenaus welcher Perspektive die jeweiligen Fragen gestellt werden und wowir die relevanten Untersuchungen beginnen sollten um verschiedenePassagen zu situieren und auf erleuchtende Weise in Vergleich zuei-nander zu setzen Um der jetzigen Deutung willen werde ich die spaumltereplatonische Ontologie und Psychologie skizzieren muumlssen indem ichsie in den Aufstieg und Abstieg des Dialektikers integriere

I Einfuumlhrung Unterwegs zu einer Frage nach einer schlechten Weltseele

Dass κακὴ ψυχή im platonischen politischen Werk der mittleren Periodevorkommt bereitet den Interpreten keine Probleme weil sich diesbquoschlechte Seelersquo in R 353e4 eindeutig auf die ungerechte menschlicheSeele bezieht Jedenfalls taucht hier ein Problem auf das von Bedeutungfuumlr den Zusammenhang der Gesetze ist Politeia 379c2-7 belegt dassPlaton sich mit dem Problem des Ursprungs des Schlechten befassteDurch eine Kritik der traditionellen Dichtung erklaumlrt der platonischeSokrates dass Gott das Prinzip und der Ursprung ausschlieszliglich desGuten sein kann Die schlechten Geschehnisse sollten auf einen anderen

6 Georgia Mouroutsou

Ursprung oder andere Urspruumlnge zuruumlckgefuumlhrt werden Dafuumlr schlaumlgtSokrates leider keine Kandidaten vor

raquoAlso Gott weil er ja gut ist kann nicht Ursache von allem sein wieviele Menschen sagen sondern er ist zwar die Ursache von Wenigem beiden Menschen an Vielem aber unschuldig Denn es gibt weit wenigerGutes als Boumlses bei uns und fuumlr das Gute darf man keinen anderen ver-antwortlich machen man muszlig aber gewisse andere Ursachen vom Bouml-sen aufsuchen nur nicht Gottlaquo

Diese Passage erwaumlhnt keine schlechte Weltseele noch weist sie auf siehin Hier geht es um das Problem des Schlechten in seiner aumluszligerstenAllgemeinheit und nicht in seiner kosmischen Dimension Ich ziehe zuBeginn diese Passage heran weil sie beweist dass die Frage nach demUrsprung des Schlechten genuin platonisch ist Dieses Problem findethaumlufig die Forschung im Kontext der Gesetze wieder was nicht gerecht-fertigt ist Darauf ist noch im zweiten Abschnitt zu kommen

Im ontologischen Herzstuumlck des Philebos (23b-27c) fuumlhrt Sokrates dasvierfache Gefuumlge alles Seienden ein Nach der Auszeichnung desgemischten Lebens mit dem ersten Preis muss noch entschieden werdenwelcher Platz der Vernunft beizumessen ist Jede Erscheinung der Naturoder Kunst die als gute Mischung charakterisiert werden kann entstehtaus der Begrenzung des jeweiligen Unbegrenzten durch die VernunftNach der sokratischen Einleitung fragt Protarchos in 23d9f

raquoWirst du nicht noch eine fuumlnfte [Gattung] haben muumlssen die dieTrennung der guten Mischung bewirken kannlaquo

Sokrates erwidert dem Protarchos zoumlgerndraquoJa vielleicht aber ich glaube fuumlr jetzt noch nicht Sollte es aber noumltig

werden so wirst du mich wohl entschuldigen wenn ich noch einerfuumlnften [Gattung] nachgehelaquo (23d11-e1)

Wie jeder guter Dramatiker ist auch Platon nicht ausschlieszliglich in demfuumlhrenden Gespraumlchspartner sondern in allen seinen fiktiven Personenwiederzufinden einschlieszliglich des Protarchos im Philebos und desKleinias in den Gesetzen Daher ist Protarchosrsquo Frage entsprechenderAufmerksamkeit und Uumlberlegung wuumlrdig Zunaumlchst fragt Protarchosnach dem Schlechten weil sich jemand als schlecht erweist wenn er dasgut Zusammengefuumlgte aufloumlsen will7 Dann laumluft die sokratische Dar-stellung in diesem Kontext (ab 28d5ff) auf die platonische Kosmologiehinaus Die Vernunft faumlllt unter die vierte Gattung der Ursache weil daskosmische Ganze durch Vernunft geschaffen geordnet und durchwaltet

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 7

wird Sokrates unterstreicht eine Analogie zwischen Koumlrper und Seeledes Menschen einerseits und Koumlrper und Seele der Welt andererseitsAuf die Letztere weisen Zeusrsquo koumlnigliche Seele und Vernunft hin (30d1-4) In diesem kosmologischen Kontext ist es nicht abwegig den oben zi-tierten Vorschlag des Protarchos als eine Frage nach der Moumlglichkeiteiner schlechten kosmischen Seele zu deuten die die Zerstoumlrung derguten Mischung im All verursachen koumlnnte

Im Philebos kommt es dennoch nicht zur Einfuumlhrung einer fuumlnftenGattung und noch weniger zu Uumlberlegungen bezuumlglich ihrer Natur DieMischung des menschlichen Lebens ist nicht vorgegeben sondern bleibteine stets aufs Neue zu erfuumlllende Aufgabe Die immerwaumlhrend praumlsenteMoumlglichkeit des Misslingens ist darauf zuruumlckzufuumlhren dass dasUnbegrenzte nie voumlllig begrenzt werden kann jedenfalls nicht wenn esum Menschen geht Es bleibt stets als solches bewahrt und soll diesauch8

Vergegenwaumlrtigen wir uns also Erstens gehoumlrt die allgemeine Fragenach dem Ursprung des Schlechten durch und durch zum platonischenAnsatz Zweitens erweckt Platon den Eindruck die Frage nach demSchlechten auf der kosmischen Ebene zu stellen Die folgende Analysewird beweisen dass der Athener keine allgemeine Frage nach demSchlechten uumlberhaupt im Kontext der Gesetze stellt Auszligerdem bietet erdort eine negative Antwort auf die Frage nach einer schlechten Welt-seele

II Nomoi X Die Einfuumlhrung einer sbquoschlechten Seelersquo vor dem Hinter-grund des Leib-Seele-Dualismus

i Die Agenda und die Methode des Atheners

7 Ti 41a8-b2 Derjenige der etwas zusammenbindet ist auch der einzige deres wieder aufzuloumlsen vermag (vgl Ti 32c2-4) Obgleich nur der Demiurg der-jenige ist der sein Produkt vernichten kann zerstoumlrt er nicht die guten kosmi-schen Mischungen In diesem Fall waumlre er schlecht und wuumlrde seinerGoumlttlichkeit widersprechen

8 Im Gegensatz zu August Diegravesrsquo Redeweise von sbquoplaisanterie vouluelsquo (PlatonŒuvres Complegravetes Tome IX2 Philegravebe Paris 1959 Einleitung xxvi) wurde dieVerbindung der fuumlnften Gattung des Philebos mit der sbquoschlechten Seelersquo derNomoi schon von Heinze aufgezeigt (S 25-29)

8 Georgia Mouroutsou

Kleinias zeichnet den sehr umfangreichen einleitenden Teil des zehntenBuches der Gesetze (885b-907d) als raquodie schoumlnste und beste Praumlambelaller Gesetzelaquo aus (887b8-c2) und besteht wiederholt auf einer angemes-senen Verlaumlngerung dieser Einleitung9 Die Aufgabe eines gesetzlichenVorgehens gegen die Asebie wird erst im letzten Teil des Buches erfuumlllt10

Der Athener versucht in seiner Vorrede die drei Arten des Gottesfre-vels11 auf ihre Ursachen zuruumlckzufuumlhren bevor er von der Uumlber-zeugungskraft der Rede zur Strenge der entsprechenden Strafen uumlber-geht12 die der Gesetzgeber des zu gruumlndenden Staates aufunveraumlnderliche ndash da schriftliche ndash Weise festlegen wird Nach der erstenAuffassung wird die Existenz der Goumltter geleugnet Gemaumlszlig der zweitenkuumlmmern sich die Goumltter nicht um die menschlichen AngelegenheitenDie dritte zu widerlegende Meinung laumlsst sich folgendermaszligen formu-lieren Die sich um die Menschen kuumlmmernden Goumltter koumlnnen mittelsGebet und Opfer beeinflusst und umgestimmt werden Wie sich leichterahnen laumlsst erregt die Erforschung der Ursache der ersten Form vonGottlosigkeit im Rahmen der Argumentation gegen die Asebie diegroumlszligte Aufmerksamkeit13

Das zehnte Buch gilt seit der Antike als der philosophisch anspruchs-vollste Teil der Gesetze obwohl man die heikle Argumentationaufgrund der Zirkularitaumlt und der Subjektabhaumlngigkeit des Beweis-ganges immer wieder verworfen hat14 Der Charakter der beabsichtigtenUumlberzeugung in allen Einleitungen bleibt in der Forschung weiter um-stritten wobei den Zankapfel die Frage bildet inwiefern die Uumlber-

9 Lg 887b1-c4 890e4-891a710 Lg 907d4 bis 910d411 Die unvernuumlnftige Meinung (δόξα 888b7 c2 903a4 νόητος δόξα 891c7)

oder der (leidende) Zustand ( 885b6 πάθος 888c4 900b3 908c5) des Fre-vels wider die Goumltter werden als Abweichung (διαφορά 886a9) und alsKrankheit (νόσος 888b8) gekennzeichnet

12 Tί χρὴ πάσχειν (885b1f) (885b3f) Es werden die Ursachen einesbestimmten Uumlbels und nicht des Schlechten uumlberhaupt erforscht naumlmlich derwegen Asebie veruumlbten Missetaten Darauf bezieht sich κακά in 884a5 undkakvn 886d3 Als moralisch schlecht gelten die Gottlosen die die Gesetze inBezug auf die wichtigsten Dinge zugrunde richten (891b4-6 vgl 886a6)

13 Die Widerlegung der ersten Auffassung geht bis 899d4 Anschlieszligend wehrtsich der Athener gegen die zweite verfehlte Meinung bis 903a9 mit Hilfe vonArgumenten und mit dem Nachtrag des Mythos bis 905d3 Die Behandlung derdritten Abweichung folgt bis 907b4

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 9

zeugung sich mit rationalen oder irrationalen Mitteln vollzieht15 Einerationale Fundierung darf keinesfalls mit einer raquodurchgehend philoso-phische[n] Begruumlndunglaquo identifiziert16 sondern muss als eine Annauml-herung an die philosophische Argumentation verstanden werden17 Beider Widerlegung der ersten Uumlberzeugung der Gottlosen zielt derAthener nicht auf die Bezauberung seiner Gegner18 sondern wendeteine rationale Argumentation an Er druumlckt das Zusammenspiel von ra-tionaler und irrationaler Vorgehensweise am praumlgnantesten aus wenn erseine Zielsetzung folgendermaszligen formuliert

raquoDenn zoumlge sich wohl die Rede nicht wenig in die Laumlnge falls wireinerseits mit hinreichenden Argumenten gegenuumlber denjenigen diegottlos zu sein wuumlnschen das bewiesen woruumlber geredet werden musswie sie sagten falls wir andererseits unseren Anklaumlger in Furcht ver-

14 Auf eine exemplarische Weise hat Stalley die Argumentation als misslungendargelegt (An Introduction besonders S 169-172) Was die Zirkularitaumlt betrifftwill der Athener die Existenz der Goumltter beweisen die er dennoch voraussetztwenn er sie zur Hilfe ruft (Lg 893b1-4) s unter vielen anderen John ClearyThe Role of Theology in Platorsquos Laws In Lisi F L (Hrsg) Platorsquos Laws and ItsHistorical Significance Selected Papers of the International Congress onAncient Thought Salamanca 1998 S 125-140 Hier S 130 Auf derSubjektabhaumlngigkeit des dialektischen Vorgehens basiert die InterpretationSteiners (Platon Nomoi X) noch entschiedener ist Christian Pietsch Die Dihai-resis der Bewegung in Platon Nomoi X Rheinisches Museum fuumlr Philologie146 (2003) S 303-327 hier 319ff

15 Die Diskussion zwischen Christopher Bobonitch (Persuasion Compulsionand Freedom in Platorsquos Laws In Classical Quarterly 41 (1992) S 234-250) undStalley (Persuasion in Platorsquos Laws In History of Political Thought 15 (1994) S157-177) hat dieses Problem neuerdings zur Sprache gebracht Die rationaleUumlberzeugung muss rationale und irrationale Mittel kombinieren weil der zuUumlberzeugende (wenn auch nur Spuren von) Rationalitaumlt mitbringt aber zugleichgegen die Vernunft Widerstand leistet Stalley der die Praumlambel fuumlr lsquorathercoventional sermonsrsquo haumllt (An Introduction S 43) raumlumt eine Ausnahme fuumlrdas zehnte Buch ein (Persuasion S173f)

16 Pace Stalley Persuasion S 16717 Der wahrhaftige Gesetzgeber soll die Aufgabe erfuumlllen den Gesetzeswidri-

gen mithilfe beinahe philosophischer Argumente (καὶ τοῦ φιλοσοφεῖν ἐγγὺςχρώμενον μὲν τοῖς λόγοις 857d2) nicht nur zu heilen sondern auch zu erziehen(vgl Lg 857e3-6)

18 Einen verzaubernden Mythos nimmt der athener Gast erst bei seinerWiderlegung der goumlttlichen Sorglosigkeit gegenuumlber dem Menschlichen inAnspruch (Lg 903a10-905d3)

10 Georgia Mouroutsou

setzten und nachdem wir in ihnen Abscheu uumlber diese Missetaten erregthaumltten wir erst nachher die Gesetze aufstellten wie es sich gebuumlhrtlaquo19

ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platoni-sche Theorie der Bewegung

Kurz vor der Einfuumlhrung der schlechten Seele bezieht sich der Athenerexplizit auf den in 893b1-896b9 demonstrierten Vorrang der Seele uumlberden Koumlrper

raquoDenn wir duumlrften wohl richtig und vollguumlltig wahrhaftig undvollkommen gesagt haben dass fuumlr uns die Seele fruumlher entstand als derKoumlrper der Koumlrper aber an zweiter Stelle und spaumlter und beherrschtgemaumlszlig der Natur waumlhrend dagegen die Seele herrschtlaquo20

Platon gelingt es aus den Goumltterfrevlern ganz unterschiedlicherHerkunft ndash es sind Naturwissenschaftler Sophisten und Dichter darun-ter ndash einen einheitlichen Typus zu entwerfen der eine Prioritaumlt des Koumlr-pers ja noch mehr eine Derivation des Seelischen aus dem Koumlrperlichenvertritt21 Letztendlich plaumldiert er fuumlr einen materialistischen Reduktio-nismus der Form sbquoalles ist Koumlrperlsquo Eine Kosmogonie unterliegt seinerAuffassung gemaumlszlig der die Seele nach dem Koumlrper geschafft worden istDer Seele wird sowohl kausale als auch zeitliche Prioritaumlt zugesprochen

Nicht nur die Seele sondern alles was mit der Seele verbunden ist ndasheinschlieszliglich des Gesetzes und der Goumltter ndash werden nach dieser

19 Lg 887a3-8 raquoοὐ γάρ τι βραχὺς ὁ λόγος ἐκταθεὶς ἂν γίγνοιτο εἰ τοῖσινἐπιθυμοῦσιν ἀσεβεῖν τὰ μὲν ἀποδείξαιμεν μετρίως τοῖς λόγοις ὧν ἔφραζον δεῖν πέριλέγειν τὸν δὲ εἰς φόβον τρέψαιμεν τὰ δὲ δυσχεραίνειν ποιήσαντες ὅσα πρέπει μετὰταῦτα ἤδη νομοθετοῖμενlaquo Durch den Singular (887a6 τὸν δέ) bezieht sich derAthener auf denjenigen der die Anklage gegen die Glaumlubigen einbringt(886e8f)

20 Lg 896b10-c3 raquoὈρθῶς ἄρα καὶ κυρίως ἀληθέστατά τε καὶ τελεώταταεἰρηκότες ἂν εἶμεν ψυχὴν μὲν προτέραν γεγονέναι σώματος ἡμῖν σῶμα δὲδεύτερόν τε καὶ ὕστερον ψυχῆς ἀρχούσης ἀρχόμενον κατὰ φύσινlaquo

21 Es handelt sich um ein lsquoamalgam of several views rather than a single clear-cut doctrinersquo (Saunders Plato The Laws S 408) Glenn Morrow spricht vonlsquobody of ideasrsquo (The Cretan City Princeton 1960 S 480) Robert Muth nochtreffender von einer sbquomaterialistische[n] philosophische[n] κοινήlsquo der damaligenattischen Aufklaumlrungsbewegung (Studien zu Platons sbquoNomoirsquo X 885b2-899d3In Wiener Studien 69 (1956) S 140-153 Hier S 146)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 11

Auffassung als abgeleitet herabgesetzt Als abbildende Setzungenkoumlnnen sie die abgebildete Natur und Wahrheit nur verfehlen

raquo[hellip] er scheint Feuer und Wasser und Erde und Luft fuumlr das Erstevon allem zu halten und diese Dinge als sbquoNaturrsquo zu bezeichnen dieSeele aber fuumlr ein Spaumlteres aus diesen [Entstandenes]laquo22

Nun stellt der Athener seine Bewegungslehre dar mit der Absicht diePrioritaumlt der Seele zu beweisen23 Nach den sbquoPhilosophierendenlsquo24 lassensich die oumlrtlichen Bewegungen in sechs Arten unterteilen (1) Rotation(2) gleitende Bewegung (3) rollende Bewegung (4) Wachstum (5)Schwund (6) Zugrundegehen Dabei faumlllt das ontologische Werden (7)und Vergehen (8) als ein ausgezeichnetes Paar heraus da es ur-spruumlnglicher ist als die bisher entfalteten oumlrtlichen Bewegungsarten25

Die entscheidende Zweiteilung jedoch kommt erst am Ende der Auf-zaumlhlung zur Sprache Danach gibt es einerseits die koumlrperliche Be-wegung die als Fremdbewegung bestimmt wird (9) andererseits die alsSelbstbewegung definierte seelische Bewegung (10)26 Der Athener ver-steht den Namen sbquoSeelelsquo als den Namen dessen Definition sbquoSelbst-Be-wegunglsquo (895e10-896a2) erst nach der methodologischen Unter-scheidung zwischen dem Wesen und dessen Namen erfolgt (895d1-e9)Nach dieser Distinktion charakterisiert er die zweite Bewegung als sbquokoumlr-perlichlsquo (896b4-8) sbquoKoumlrperlsquo ist der Name dessen Definition dieFremdbewegung ist (896b10-c3)

Erst gemaumlszlig dieser Einteilung koumlnnen alle bereits aufgezaumlhltenraumlumlichen Bewegungsarten als seelisch oder koumlrperlich verstandenwerden Anders als Pietsch27 finde ich keinen Textbeleg nach dem dieSelbstbewegung im Gegensatz zu den raumlumlichen Arten der Fremdbe-wegung unraumlumlich sein soll Pietsch argumentiert dass das ganze dihai-

22 Lg 891c1-4 Eine aumlhnliche sbquoAll-Thesersquo vertreten die materialistisch ver-anlagten Ontologen im Rahmen der sbquoRiesenschlachtlsquo im Sophistes bevor ihnender Gast aus Elea durch seinen δύναμις-Vorschlag zur Hilfe kommt ImGegensatz zu den Ideenfreunden die schon mit der Unterscheidung zwischenSein und Werden auftreten macht nach den Materialisten ausschlieszliglich derKoumlrper das Sein aus (Sph 246b1)

23 Auf diese Weise begruumlndet der Gast alle vorgebrachten Auflistungen derGuumlter nach denen der Vorrang immer seelischen und nicht koumlrperlichen Guumlternbeigemessen wurde Vgl Lg 631b-c 661a ff 688a-b 697a-c 726a-729a 743e

24 So werden die Vertreter der Prioritaumlt der Seele ausgezeichnet Lg 967c8 (diezweite und letzte Erwaumlhnung von Philosophie in den Gesetzen auszliger in Lg857d2)

12 Georgia Mouroutsou

retische Stemma sbquonur raumlumliche Bewegungsartenlsquo bieten kann weil derAthener von der Physik des Gegners ausgeht28 Platon offenbart jedochein Stuumlck von seiner eigenen Philosophie immer dann wenn er seinesbquoGegnerrsquo verbessert seien es die Herakliteer im Theaitetos die Materia-listen des Sophistes oder diejenigen der Gesetze Das Platonische derRaumlumlichkeit der seelischen Bewegung erklaumlrt auszligerdem Timaios fuumlrguumlltig der der Weltseele raumlumliche Bewegung beimisst Zur Bekraumlf-tigung dient daruumlber hinaus die aristotelische Kritik am platonischenVerstaumlndnis der Selbstbewegung als raumlumlicher Bewegung (de an I3)

Dass der Bewegung in der spaumlteren platonischen Philosophie einegrundlegende Rolle zukommt zeigen neben dem Timaios die DialogeSophistes und der Theaitetos Im Sophistes wird das ausgezeichnete so-wohl bewegte als auch im Stillstand befindliche Sein der Idee qua Ideebehandelt Im Theaitetos werden heraklitische Allbewegungs-Modelleim Bereich der Wahrnehmung kritisiert Im Timaios wird die Bewegungin ihrer ganzen kosmologischen Tragweite ausgelotet In dem letztenDialog zeigt Platon seine Aneignung und Transformation des Herakli-

25 Gemaumlszlig der Aufzaumlhlung Konrad Gaisers (Platons Ungeschriebene LehreStuttgart 19983 S 176f) und ohne Besprechung der immensen einzelnen Pro-bleme Die ontologische γένεσις uumlber die Linie und Flaumlche bis hin zumdreidimensionalen Koumlrper (894a2-5) gilt als noch urspruumlnglicher als die vorhererwaumlhnten raumlumlichen Bewegungsarten (893c1f) Dieser Primat unterscheidetsich von Aristotelesrsquo Auffassung wie die Kritik des Stagiriten belegt (GC I2315a29ff) Der Bewegungskatalog ist von grundlegender Bedeutung fuumlr das Ver-staumlndnis der Prioritaumlt der Seele Hier begnuumlge ich mich mit der Hervorhebungder Beitraumlge von Gaiser und Solmsen (Aristotlersquos System of the Physical WorldA Comparison With His Predecessors New York 1960) Gaiser hat den sys-tematischen Charakter der Aufzaumlhlung der Bewegungsarten in Verbindung zuder indirekten Uumlberlieferung ausgearbeitet (Platons Ungeschriebene Lehre S173-186) Man folgt oft seiner Interpretation der besonders dunklen Stelle Lg894a1-8 und zwar mit oder ohne explizite Erwaumlhnung seines Beitrags zum Bei-spiel Pietsch C Die Dihairesis der Bewegung hier S 316 Anm 45 SchoumlpsdauK Platon Werke in Acht Baumlnden Griechisch und Deutsch Achter Band Zwei-ter Teil Platon Gesetze Buch VII-XII Minos Darmstadt 20054 S 291 Anm 26Mayhew R Plato Laws X Oxford 2008 S 112ff Solmsen (Aristotlersquos System)bietet seinerseits eine sehr ausgewogene Hermeneutik der platonischen undaristotelischen Bewegungslehre an die gegenuumlber der neueren oft hinter ihrzuruumlckbleibenden Forschung noch immer als exemplarisch gelten sollte

26 Lg 894b8-c1 894c3-827 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 304 und oumlfters28 Ebd S 320

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 13

tismus im Bereich der Ontologie des Wahrnehmbaren auf (48eff) des-sen Ausarbeitung nach wie vor eine Aufgabe fuumlr die Platon-Forschungdarstellt

Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich dass sbquoKoumlrperrsquo undsbquoSeelersquo als verschiedene Arten von Bewegung aufgefasst werden Hiersehe ich keine Verwirrung bei Platon zwischen einer Bewegungsart(Selbstbewegung) und der Seele als unabhaumlngiger Substanz Anders alsRichard Stalley29 verstehe ich sowohl die Selbstbewegung als auch dieSeele qua Seele als auf einen Koumlrper bezogen wenn auch unabhaumlngigvom jeweiligen Koumlrper gedacht und definiert Sogar die schlechte Welt-seele bliebe somit bezogen auf den Weltkoumlrper waumlre sie real

iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer an-tiken Auffassung

Halten wir inne Der Seele wird eine Art Prioritaumlt beigemessen die sichauf die in ihrer Definition widergespiegelte Natur als Selbstbewegungstuumltzt Als solche zeigt sich die Seele qua Seele und unabhaumlngig von allihren konkreten Manifestationen als aumllter wirksamer und maumlchtiger un-ter allen Bewegungen Und nicht nur dies Sie zeigt sich auch als dieeigentliche Bewegung und Veraumlnderung alles anderen Seienden30 Wirbefinden uns also im Rahmen der Problematik des Leib-Seele-Dualis-mus der neben dem Dualismus von Idee und Erscheinung der alssbquoZwei-Welten-Lehrelsquo beruumlhmt bzw beruumlchtigt wurde sowie dem in derAntike und Moderne debattierten Dualismus der zwei platonischenPrinzipien weitlaumlufig Karriere in der Geschichte des Platonismusgemacht hat31

29 Stalley An Introduction to Platorsquos Laws Oxford 1983 S 171f30 Lg 894c6f31 Die Tatsache dass hier die zwei letzteren Arten von Dualismus nicht vor-

kommen bedeutet keinesfalls dass der alte resignierte Platon seine Ideen- oderPrinzipienlehre aufgegeben habe (so Muumlller Gerhard Studien zu den Platoni-schen Nomoi Muumlnchen 1951 19682 aumlhnlich Rist Eros and Psyche S 87ff)Auf die platonische Ideenlehre weist der Gast als auf einen wesentlichen Teil derErziehung der sbquonaumlchtlichen Versammlungrsquo hin (Lg 965b-966b) Hier sei dieschwierigere Frage dahingestellt inwieweit die angedeutete Lehre der klassi-schen Ideenlehre der mittleren Dialoge entspricht

14 Georgia Mouroutsou

Platon problematisiert den Leib-Seele Dualismus nicht nur aufgrundder allgemeinen Frage nach sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo sondern auch weil erauf der moumlglichen Interaktion zwischen der intelligiblen Seele (derSonne) und ihrem wahrnehmbaren Koumlrper reflektiert (in Lg 898e8-899a4)32 Obgleich wir nicht viel Positives uumlber die platonische Auffas-sung der Art der Beziehung zwischen Koumlrper und Seele aussagenkoumlnnen sind wir damit doch imstande auf entschiedene Weise einigesauszuschlieszligen Wir werden mit dem Materialismus und dem Mentalis-mus anfangen die mit weniger Muumlhe abgelehnt werden koumlnnen als derso charakterisierte sbquorobuster Dualismuslsquo dem wir uns anschlieszligendwidmen

Die These des Materialismus wonach das Seelische auf Koumlrperlicheszuruumlckzufuumlhren sei gewinnt nicht die Oberhand in diesem KontextDie Materialisten bleiben die Gegner des Atheners durch das ganze Ar-gument hindurch Noch modifizierte Materialisten finden einen Belegfuumlr ihre These dass das Seelische unsichtbares Koumlrperliches sei Neu-erdings hat Gabriela Carone diese Auffassung des sbquomodifizierten Mate-rialismuslsquo als genuin platonisch vertreten33 was eine gerechtfertigteReaktion von Francesco Fronterotta hervorgerufen hat34 Bei ihrem Ver-such die Materialitaumlt der Seele aufzuweisen begeht Carone einengrundsaumltzlichen Fehler Sie geht ohne jede Argumentation von der Moumlg-lichkeit eines unsichtbaren Koumlrpers zu einem Verstaumlndnis der Seele alskoumlrperlich uumlber35 Die Ausdehnung sei (nach Platon) wesentliche Eigen-schaft des Koumlrperlichen Weil sie raumlumlich ist muumlsste die Seele daher ir-gendeine Art koumlrperlicher Natur besitzen Carone gibt zu lsquoOf course

32 Die Stelle charakterisiert Thomas Robinson als lsquoa splendid memorial to his[Platorsquos] intellectual honestyrsquo (The Defining Features of Mind-Body Dualism inthe Writings of Plato In John Wright und Paul Potter (Hrsg) Psyche andSoma Physicians and Metaphysicians on the Mind-Body Problem From Antiq-uity to Enlightenment S 37-55 Hier S 55) lsquoTo the end he is wrestling with theproblem that lies at the heart of all psycho-physical dualism the problem ofrelating a physical substance to an immaterial one and to the end he openlyadmits his bafflementrsquo (ebd)

33 Carone Gabriela Mind and Body in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichteder Philosophie 87 (2005) S 227-269 Hier S 256f

34 Fronterotta schmaumllert gewisse Staumlrken des Argumentes von Carone undbringt daher die platonische Methode der sbquoVerbesserungrsquo des Gegners in diesemFall der Materialisten nicht zur Anwendung (Fronterotta Fransesco Carone onthe Mind-Body Problem in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichte der Philoso-phie 89 (2007) S 231-236)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 15

there is still a gap to be filled between spatial extension and corporeal-ityrsquo36 Trotz ihres Zugestaumlndnisses fuumlllt Carone diese Luumlcke leider nichtund offenbart auf diese Weise ihre nicht hinterfragte (oder bei Platonnicht bewaumlhrte) Cartesianische Praumlmisse37

Noch belegt unser Zusammenhang das andere Extrem einer ArtMentalismus nach dem das Koumlrperliche vom Seelischen ableitbar istSowohl die Darstellung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper alszwischen Ganzem und Teil (Chrm 156dff) als auch die oumlrtliche Meta-pher der den Koumlrper umhuumlllenden Seele (Ti 36e3f und Lg 898d11-e238)eroumlffnen dennoch den Raum fuumlr eine solche Auffassung Dennoch un-terstuumltzt der Kontext in den Gesetzen nicht diese Auffassung Anders alsder materialistisch gepraumlgte Typus vertreten die sbquoPhilosophierendenlsquokeine reduktionistische These was nicht nur den Materialismus sondernauch den Mentalismus ausschliesst

In modernen Diskussionen des Leib-Seele-Problems wird Platon allzuoft als Vertreter eines sbquorobusten Dualismuslsquo dargestellt39 Demgemaumlszlighandelt es sich bei Seele und Koumlrper um zwei selbststaumlndige vonei-nander abgetrennte Substanzen die erst nachtraumlglich vereinigt werden

35 Carone Mind and Body S 237 die Voraussetzungen eines solchen Ver-staumlndnisses hat Fronterotta ans Licht gebracht Carone on the Mind-Body Pro-blem S 233

36 Carone Mind and Body S 240 Anm 4337 Vgl Carones selbstverstaumlndliche Redeweise lsquospatial or material conditionsrsquo

lsquobody and spacersquo lsquospace and bodyrsquo Mind and Body S 264 Zu einer einsichtige-ren Unterscheidung der Arten vom Dualismus bei Platon und Descartes sSarah Broadie Soul and Body in Plato and Descartes In The AristotelianSociety 101 (2001) S 295-308

38 Die zweite zaumlhlt Robinson nicht mit auf The Defining Features of Mind-Body Dualism S 40 Anm 12 Lg 898d11-e2 hat mehrere Deutungen undUumlbersetzungen veranlasst Περιφύειν wird mit aumlhnlicher Bedeutung in R 612aangewendet (sbquoherum- oder anwachsenlsquo) Diese Metapher in den Gesetzen undderen Uumlbersetzung verfehlen Otto Apelt Platons Gesetze Zweiter Band Leip-zig 1916 S 419 Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 S 163 mit Anm 2 Robin Leacuteon Oeuvres completesPlaton Paris 1950 Zweiter Band S 1025 richtig verstehen die Stelle JowettBenjamin The Dialogues of Plato Oxford 41953 S 468f Taylor Alfred E TheLaws of Plato London 21960 S 291 Muumlller Studien S 92 Anm 1 Bury Rob-ert Plato with an English Translation IX and X Laws London-New York1952 S 346 mit Anm Saunders Plato The Laws S 430 Cooper John (Hrsg)Plato Complete Works Cambridge 1997 S 1555 Mayhew Plato Laws X S29

16 Georgia Mouroutsou

muumlssen was hier nicht ausdruumlcklich widerlegt wird Neuerdings hatFronterotta diese Auffassung vertreten40 wobei auch seine Deutung aufzwei unaufhebbaren Schwierigkeiten im Timaios stoumlszligt Zum ersten istdie Weltseele raumlumlich ausgedehnt Zum zweiten ist sie das Produkteiner Mischung was nicht nur Carones These widerlegt dass die Seelekoumlrperlich sei ndash da hat Fronterotta Recht ndash sondern auch gegen einen ab-soluten unuumlberbruumlckbaren Gegensatz zwischen einer rein rationalerSeele und dem Weltkoumlrper plaumldiert41

Auf dem ersten Blick scheint unser Kontext in den Gesetzen nicht aufexplizite Weise den weit verbreiteten Vorschlag eines Substanz-Dualis-mus abzuweisen Weil sich aber in diesem Zusammenhang sowohl dieseelische als auch die koumlrperliche Bewegung im Raum vollziehen (Lg893c1f) ist die Dimensionalitaumlt keinesfalls ausschlieszliglich dem Koumlrperzugeordnet was sich wiederum mit einem starren Dualismus nicht ver-traumlgt42

Jedenfalls ist ein gewisser Dualismus insofern nicht zu uumlbergehen alsdie seelische Bewegung die koumlrperliche nicht produzieren kann43 NachLg 896e8-897b4 sbquonehmenrsquo die seelischen als die primaumlren Bewegungendie sekundaumlren koumlrperlichen sbquoaufrsquo Das gleiche Verb (παραλαμβάνειν897a5) wendet auch der Timaios an Der Demiurg nimmt das auf unge-ordnete und fast verbrecherische Weise bewegte Wahrnehmbare sowiespaumlter im Dialog das was ἀνάγκη bewirkt (68e3) auf Die unterstehendenGottheiten nehmen ihrerseits den rationalen Teil der Seele auf um ihn mitdem sterblichen Teil im Koumlrper zu verknuumlpfen (Ti 69c5) Diesen ver-schiedenen Zusammenhaumlngen koumlnnen wir keine Umkehrung der Prio-ritaumlt der Seele gegenuumlber dem Koumlrper entnehmen Was sich mit einer anSicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ausschlieszligen laumlsst ist eine

39 S Burnyeat Myles Is An Aristotelian Philosophy of Mind Still CredibleA Draft In Nussbaum A M-Rorty (Hrsg) Essays on Aristotlersquos De AnimaOxford 1992 S 15-26 Hier S 16 Putnam Hilary The Threefold Cord MindBody and World New York 1999 S 97 Stephen Priest Theories of the MindLondon 1991 S 8-15 57 162)

40 Fronterotta Carone on the Mind-Body Problem41 Platon behandelt das Problem der Verbindung zwischen der Seele und dem

Koumlrper wie die Vermittlung durch das Mark beweist (Ti 73b-c) was wir abernicht als Beleg dafuumlr betrachten sollten dass Platon zum Vorlaumlufer von Descar-tes wird

42 Thomas Johansen begeht diesen Weg in seiner Timaios-Auslegung43 Vgl Mason Andrew Plato on the Self-Moving Soul In Philosophical

Inquiry 1998 S 18-28 Hier S 24 28

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 17

Herleitung des Koumlrperlichen aus dem Seelischen44 Diese Unterscheidungzwischen Koumlrper und Seele erlaubt es dem Dialektiker je nachZusammenhang die Seele qua Seele (so in der vorliegenden Passage der Ge-setze) und den Koumlrper qua Koumlrper (so im Timaios) zu betrachten ohne einereduktionistische Auslegung vorauszusetzen

Auf dieser Basis wird ein Reduktionismus des Koumlrpers auf die Seele aus-geschlossen Ausserdem unterstuumltzt der Wortlaut des Textes nicht das Ver-staumlndnis der ontologischen Prioritaumlt die Aristoteles in Metaph V11 an-spricht Es geht in unserem Kontext nicht darum was Aristoteles undAlexander als platonische Auffassung und akademisches Gut dar-stellen45 Als Kriterium der ontologischen Rangfolge wird dassbquoMitaufgehobenwerdenrsquo des Spaumlteren angegeben Demgemaumlszlig setzt dasontologisch Spaumltere das Fruumlhere voraus aber nicht umgekehrt Wenndas Fruumlhere aufgehoben wuumlrde wuumlrde auch das Spaumltere aufgehobenwas sich aber nicht umkehren laumlsst Soweit geht Platon bei der hiesigenBetrachtung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper jedoch nichtDie Rede von der sbquoAufnahmersquo der koumlrperlichen Bewegungen von denseelischen ist weniger mit einer ontologischen Prioritaumlt der Seele (wieoben dargelegt) als vielmehr mit einer Aufeinanderbezogenheit vonSeele und Koumlrper vertraumlglich

Um eine uumlber den Rahmen dieses Beitrags hinausgehende positive Louml-sung fuumlr Platons Leib-Seele-Dualismus zu entwickeln ist es noumltigeinige falsche Meinungen zu korrigieren wozu die obere Darlegung bei-traumlgt

iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Ar-gument

44 Pace England Edwin The Laws of Plato London 1921 Zweiter Band S476 der παραλαμβάνειν als lsquobring in their trainrsquo versteht In allen obenerwaumlhnten Zusammenhaumlngen ist klar dass das Aufgenommene nicht vomAufnehmenden geschaffen wird Die Uumlberlegenheit des letzteren bleibt davonunberuumlhrt

45 Vor allem in Arist Metaph V11 1019a2-4 vgl Alexander In AristotMetaph I 6 987b33 Gaiser Testimonium Platonicum 22B

18 Georgia Mouroutsou

Wir kehren zu unserem Text zuruumlck Da der Seele ontologische Prioritaumltgegenuumlber dem Koumlrper verliehen wird ist auch das der Seele Verwandteontologisch fruumlher als das was dem Koumlrper zugehoumlrt

raquoVerhaltensweisen aber und Gemuumltsarten Willensakte Schluss-folgerungen wahre Meinungen Fuumlrsorge und Erinnerungen duumlrftenfruumlher entstanden sein als koumlrperliche Laumlnge Breite Tiefe und Staumlrkewenn eben die Seele fruumlher als der Koumlrper entstanden sein solltelaquo46

Im Anschluss daran hilft uns der Athener nachzuvollziehen warumPlaton eben hier die sbquoschlechte Seelersquo einfuumlhrt Man muumlsse darin uumlberein-stimmen dass die Seele Ursache sowohl des Guten als auch des Boumlsendes Schoumlnen und des Schlechten des Gerechten und des Ungerechtenund aller Gegensaumltze sei

raquoIst es denn nicht noumltig darin uumlbereinzustimmen dass die Seele dieUrsache des Guten sowie des Schlechten des Schoumlnen sowie des Haumlszlig-lichen des Gerechten sowie des Ungerechten und uumlberhaupt allerGegensaumltze wenn wir sie als Ursache von allem setzenlaquo47

Diese Zeilen sind aumluszligerst wichtig weil hier und nicht erst in 896e4ffder Gegensatz von sbquogut und schlechtlsquo eingefuumlhrt wird Dem Argumentist vorgeworfen worden es sei schwach Unter den Kritikern verstehtStalley den Schluss auf folgende Weise lsquoSoul since it is the source ofeverything must be the source of valuesrsquo Er wundert sich dass Werteohne Begruumlndung und ohne Erklaumlrung ihrer Existenzweise eingefuumlhrtwerden48 Dementgegen werde ich eine wohlwollendere Annaumlherungvorschlagen Nach der Rekonstruktion des Arguments werde ich eineArt sbquoanthropozentrischer Wendelsquo in einen breiteren Kontext situieren

Wie er expliziert (896d8) zieht der Gast aus Athen diesen Schlussdaraus dass die Seele als Ursache von allem angesetzt worden ist Bevorwir diese Begruumlndung als einen Fehlschritt charakterisieren sollten wiruns zusammen mit Kleinias erinnern dass die sbquoSeelersquo die Veraumlnderungvon allem herbeifuumlhrt49 Mit Hilfe einer anderen Formulierung ist dieSeele raquodie Veraumlnderung und Bewegung von allem Seiendenlaquo50

46 Lg 896c9-d3 raquoΤρόποι δὲ καὶ ἤθη καὶ βουλήσεις καὶ λογισμοὶ καὶ δόξαιἀληθεῖς ἐπιμέλειαί τε καὶ μνῆμαι πρότερα μήκους σωμάτων καὶ πλάτους καὶβάθους καὶ ῥώμης εἴη γεγονότα ἄν εἰπερ καὶ ψυχὴ σώματοςlaquo

47 Lg 896d5-7 raquoἎρrsquo οὖν τὸ μετὰ τοῦτο ὁμολογεῖν ἀναγκαῖον τῶν τε ἀγαθῶναἰτίαν εἶναι ψυχὴν καὶ τῶν κακῶν καὶ καλῶν καὶ αἰσχρῶν δικαίων τε καὶ ἀδίκωνκαὶ πάντων τῶν ἐναντίων εἴπερ τῶν πάντων γε αὐτὴν θήσομεν αἰτίανlaquo

48 Stalley An Introduction S 172 49 Lg 892a6f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 19

Die Bewegung ist hier als Wechsel und Veraumlnderung (μεταβολή) in ih-ren weitesten Sinn zu verstehen seien sie im Raum in Bezug auf dieSubstanz die Qualitaumlt oder die Quantitaumlt Der Uumlbergang findet zwi-schen Gegensaumltzen statt Die ersten Paare von Gegensaumltzen die derAthener vor der Verallgemeinerung in 897d7 anspricht sind Ver-bindungen und Trennungen Wachstum und Schwund sowie Prozessedes Wedens und Vergehens (894b10f) Die Seele zeigt sich als dieUrsache von aller Art koumlrperlicher Veraumlnderung Wenn eine Seele einenWechsel von einem schlechten zu einem guten Zustand verursacht dannist diese Seele in sich selbst gut Wenn eine Seele einen schlechtenEinfluss auf einen Zustand uumlbt dann ist sie dafuumlr verantwortlich Es istbemerkenswert dass der Gegensatz zwischen sbquogutlsquo und sbquoschlechtlsquo nichtauf die Unterscheidung zwischen sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo oder diejenigezwischen sbquoseelischer Bewegunglsquo und sbquokoumlrperlicher Bewegunglsquo zu-ruumlckgefuumlhrt wird Der Koumlrper kann nicht als schlecht charakterisiertwerden weil nach dem spaumlten Platon der Koumlrper qua Koumlrper weder gutnoch schlecht in sich selbst ist

Wenn die Seele die Ursache von allem ist so der Athener dann musssie die Ursache von allen Gegensaumltzen sein einschlieszliglich des Bereichsder Ethik Die gleichen Gegensatzspaare von sbquogut und schlecht schoumlnund haumlszliglich sowie gerecht und ungerechtlsquo tauchen in Euthph 7c10ff alsder Zankapfel der menschlichen Debatten auf die vor Gericht gefuumlhrtwerden koumlnnen Auch in Grg 459d1ff gehoumlren sie zur rhetorischenKunst die kein Wissen daruumlber erwerben kann In Plt 296c5-7 erfahrenwir dass ein Irrtum im Rahmen der politischen Kunst das Schaumlndlichedas Schlechte und das Ungerechte verursacht Was der Rhetor verfehltweiszlig der Staatsmann Der goumlttliche Teil der menschlichen Seele mag einewahre Meinung uumlber Schoumlnes Gutes und Gerechtes stiften (Plt 309c5-8)

Indem die Seele fuumlr alle moumlglichen koumlrperlichen Veraumlnderungen ver-antwortlich gemacht wird gelangen wir in unserem Zusammenhang zuder Seele als der primaumlren Ursache auch des Schlechten und nichtaufgrund der Frage woher das Schlechte komme Der Athener machtnirgends explizit dass er die Seele als die einzige Ursache des Schlechtensei Bedenken sollte daher gegen Englands Beobachtung geaumluszligert wer-den in 896d5 werde die Frage nach dem Uumlbel eingefuumlhrt und insbe-

50 Lg 894c6f raquoκαλουμένην δὲ ὄντως τῶν ὄντων πάντων μεταβολὴν καὶκίνησινlaquo

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sondere gegen seine Folgerung lsquoHaving identified ψυχή with the αἰτίαἀγαθοῦ τε καὶ κακοῦ he is bound to talk of the αἰτία κακοῦ as ψυχήrsquo51

Auf das seelische Uumlbel konzentriert sich hier der Athener Verabsolutie-rende Konklusionen uumlber das Uumlbel schlechthin sind daher der Ge-spraumlchssituation nicht zu entnehmen Jedenfalls waumlre der bestimmte Ar-tikel noumltig vor αἰτίαν (sowohl in 896d6 als auch in d8)

Der Athener zielt darauf die Natur der Seele als die Ursache von allenGegensaumltzen auszulotten und fuumlhrt dann das Feld der menschlichenEthik ein ohne seinen Uumlbergang oder eher seine Einschraumlnkung zu er-klaumlren52 Die konkrete politische Situation in den Gesetzen bietet eineplausible Erklaumlrung fuumlr diesen Uumlbergang von der Seele qua Seele zurmenschlichen Seele Die Buumlrger von Magnesia sollten ihre Machtwahrnehmen sowohl zum Guten als auch zum Schlechten beizutragenAuszligerdem sollten sie die Verantwortung ihrer politischen Taumltigkeit ineinem kosmischen All uumlbernehmen das von einer guten Seele verwaltetwird Die primaumlre Ursache der Bewegung ist die Seele Beinahe waumlre dieSeele als Selbst-Bewegung ie ihre absolute Spontaneitaumlt als Bedingungihrer moralischen Verantwortung zum ersten Mal in der Geschichte derPhilosophie vorgekommen haumltte Platon diese Verbindung ausbuch-stabiert53

Eine Art Anthropozentrismus kommt in den spaumlteren platonischenSchriften vor Die Entscheidung ob wir dieses Konzept einer philoso-

51 Platorsquos Laws S 474 Auf aumlhnliche Weise auch Carone Evil and Teleology S295 Anm41

52 Mayhew argumentiert seinerseits dass es nicht darum gehe dass die Seeledie Ursache aller Dinge und daher sowohl schlechter wie guter Dinge sei DerInterpret meint die Seele sei fruumlher als der Koumlrper und in dieser Weise das Seeli-sche ndash einschlieszliglich der Moral ndash entsprechend fruumlher als das Koumlrperliche (PlatoLaws X S 131) Dennoch liegt die Pointe meines Erachtens nicht darin eineneingegrenzten Bereich ndash den der Ethik ndash anzusprechen sondern das Wesen derSeele als Ursache aller Gegensaumltze auszubuchstabieren was wiederum nichtheiszligt man sollte den Bereich der Moral voumlllig leugnen wie es Raphael Demostut lsquo[hellip] the soul is non-moral apt for both good and evil and so far forth inde-terminatersquo (Demosrsquo Hervorhebung Platorsquos Doctrine of the Psyche as a Self-Moving Motion In Journal of History of Philosophy (1968) S 133-145 HierS136)

53 Vgl Horn Christoph Der Begriff der Selbstbewegung bei Alkmaion undPlaton In Rechenauer Georg (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen2005 S 152-173 bes S 168ff und Baumgarten Hans-Ulrich Handlungstheoriebei Platon Platon auf dem Weg zum Willen Stuttgart 1998 S 241-264

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 21

phischen Kritik unterziehen sollten oden nicht mag hier dahingestelltbleiben Mit dem sbquoAnthropozentrismuslsquo bei Platon meine ich dass dasErschaffen des Weltalls auf der Basis einer Teleologie geschieht die aufden Menschen und seinen Beduumlrfnissen zentriert ist Man mag denTimaios heranziehen Der Anthropozentrismus scheint sich durch denganzen Monolog durchzusetzen in dem Timaios auf das Schaffen desMannes fokussiert ist Gemaumlszlig der Lehre der Wiedergeburt sind Frauenund Tiere schlechtere Formen von Lebewesen Es gibt zwei Passagendie als besonders anthropozentrisch gepraumlgt vorkommen Zum erstensind die Pflanzen um der Ernaumlhrung der sterblichen Lebewesen willengeschaffen worden (77e7-b1) Zum zweiten schafft der Demiurg dieuumlber das ganze All scheinende Sonne damit die dementsprechend aus-geruumlsteten Lebewesen an der Zahl teilnehmen nachdem sie von derBeobachtung der kosmischen Bewegung viel gelernt haben (39b2-c1)Um der Menschen und der Kultivierung der Philosophie willen schafftGott die Sonne und ermoumlglicht die Wahrnehmung der Sicht Dank desStudiums der himmlischen Bewegungen koumlnnen wir nach der Natur derZeit und des Alls fragen Auf diese Weise duumlrfen wir hoffen unsere ge-stoumlrte Bewegung der Vernunft der ungestoumlrten Bahn der kosmischenVernunft zu assimilieren (46e-47c 90c-d)

Wir haben die Kritik an der Einschraumlnkung im moralischen Bereichwiderlegt indem wir unseren unmittelbaren sowie weiteren Kontextberuumlcksichtigten Wegen des Fokuses auf den menschlichen Bereich unddie menschliche Seele geht die allgemeine Frage der Seele qua Seele nichtverloren Der Hintergrund der jetzigen Diskussion bleibt dieseallgemeine Fragestellung obgleich die menschliche Seele diejenige istdie sich gemaumlszlig der Vernunft oder gegen die Vernunft verhaumllt (897b1-5)Wir sollten die Unterscheidung zwischen weiteren kosmischen undmenschlichen Dimensionen bewahren wenn auch der spaumlte Platon denkosmischen Zusammenhang auf eine anthropozentrische oder sogar an-thropomorphische Weise beschreibt54 Es waumlre weder gerechtfertigtnoch legitim dass die Untersuchung uumlber die menschliche Seelediejenige uumlber die Seele qua Seele dominieren oder ausschoumlpfen wuumlrde

54 Zur Zentrierung des kosmischen Alls auf dem menschlichen Leben bei spauml-tem Platon s Carone Evil and Teleology S 296

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v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6

Von der allgemeinen Seelenlehre und der Seele qua Seele die bis dahindas Untersuchungsobjekt bildete gelangt der Athener jetzt zu einer be-sonderen Seele zur Weltseele Der Blickwechsel den der Athener imBereich seiner Betrachtung vollzieht sollte im Rahmen der platonischenSpaumltdialoge in denen Ontologie und Seelenlehre haumlufig in Kosmologiemuumlnden kein Erstaunen hervorrufen Als zwei Beispiele dafuumlr koumlnnender kosmologische Exkurs im Philebos (s oben Abschnitt I) und derUumlbergang von ψυχὴ πᾶσα (alles was Seele ist) zur Weltseele im Phaidros(245c5-246a2) gelten Was uumlber die Seele qua Seele gesagt wurde sollteauch im Fall der Weltseele Guumlltigkeit haben

raquoUnd weil die Seele in allem waltet und wohnt was sich auf ir-gendeine Weise bewegt muumlssen wir etwa nicht sagen dass sie auch denHimmel durchwaltelaquo55

Auf seine nur scheinbar unvermittelte und ploumltzliche Frage56 antwor-tet der Athener selbst

raquoEine oder mehrere Seelen Mehrere Ich werde fuumlr Euch antwortendass wir nicht weniger als zwei ansetzen sollten naumlmlich diejenige diedas Gute vervollkommnet und diejenige die faumlhig ist Entgegengesetztesdurchzufuumlhrenlaquo57

Dass der Athener im Namen seiner Gespraumlchspartner antwortet be-trachte ich als kein ausschlaggebendes Argument gegen die Realitaumlt einersbquoschlechten Weltseelersquo58 weil er sich noch auf die Seele qua Seele bezieht

55 Lg 896d10-e2 raquoΨυχὴν δὴ διοικοῦσαν καὶ ἐνοικοῦσαν ἐν ἅπασιν τοῖς πάντῃκινουμένοις μῶν οὐ καὶ τὸν οὐρανὸν ἀνάγκη διοικεῖν φάναιlaquo

56 Wilamowitz charakterisiert diese Frage zu Unrecht als sbquohereingeschneitlsquo(Platon II S 316) wogegen sich Kerschensteiner einsetzt (Platon und der Ori-ent S 73)

57 Lg 896e4-6 raquoΜίαν ἢ πλείους πλείους ἐγὼ ὑπέρ σφῷν ἀποκρινούμαι Δυοῖνμέν γέ που ἔλαττον μηδὲν τιθῶμεν τῆς τε εὐεργέτιδος καὶ τῆς τἀναντία δυναμένηςἐξεργάζεσθαιlaquo

58 Vgl Apelt Platons Gesetze S 539 Anm 48

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 23

Ist die Seele die das All verwaltet eine oder mehrere Haumltte Platon indi-viduelle Seelen ohne Bezug auf einen generellen Terminus sbquoSeelelsquo auf-zaumlhlen wollen haumltte er von mehr als zwei Seelen gesprochen Die Frageist sehr oft als Frage nach zwei Weltseelen verstanden worden Koumlnnteder Athener nicht die allgemeine Lehre der Seele qua Seele verlassen umsich auf die zwei partikulaumlren Weltseelen zu beziehen Dies haumltte derFall sein koumlnnen wenn die Weltseele mit Realitaumlt ausgestattet waumlre wassich aber nicht so verhaumllt Die oben genannte Frage kann nur die Seelequa Seele betreffen

Obgleich er haumlufig uumlberhoumlrt wird sollte der oben angewendete Dual beruumlcksichtigt werden weil er gegen ein Verstaumlndnis von zwei von-einander getrennten entgegengesetzten Seelen plaumldiert59 Auszliger demDual in 896e5 uumlberhoumlrt die Mehrheit der Interpreten hier noch etwasEntscheidendes Die der wohltaumltigen Seele entgegensetzte ist nicht eineeinfachhin und ohne Weiteres sbquoschlechte Seelersquo60 sondern die Seele raquodieimstande ist das Gegenteil zu bewirkenlaquo Genau in diesem Punkt uumlber-schneiden sich die allgemeine Seelenlehre nach der die Seele qua SeeleSelbstbewegung ist und als solche gut oder schlecht sein kann und diespezielle Lehre uumlber die kosmische Seele die ebenfalls qua Seele in derLage ist gut oder schlecht zu sein Deswegen sollten wir die Rede vonδύναμις in unserer Uumlbersetzung von sbquoτἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαιlsquo(Lg 896e6)61 nicht vernachlaumlssigen Die sbquoschlechte Seelelsquo wird nicht alseine bloszlige Privation der guten Seele eingefuumlhrt sondern als mit ihrereigenen Macht (δύναμις) ausgestattet Schlechtes zu bewirken62 als einenegative und destruktive Macht63

Wir sind dabei weit enfernt δύνασθαι mit einer aristotelischen sbquoerstenMoumlglichkeitlsquo zu identifizieren um die Ausscheidung einer schlechten

59 raquoDie Sprache hat die Dualform geschaffen nicht etwa um den Begriff derZahl zwei sondern um den Begriff der Zweiheit der paarweisenZusammengehoumlrigkeit auszudruumlckenlaquo (Wilhelm von Humboldt Uumlber denDualis Berlin 1828 S 18) Erst nach Platon als das Sprachgefuumlhl fuumlr die eigent-liche Bedeutung der Sprachformen an Lebendigkeit nachlieszlig bedeutete der Dualnicht selten den bloszligen Begriff sbquozweilsquo wobei die wahre und urspruumlngliche Naturdes Duals sich darin zeigt dass er entweder auf paarweise in der Natur verbun-dene Gegenstaumlnde angewendet wird oder auf solche welche in einer engen undgegenseitigen Beziehung gedacht werden (vgl Kuumlhner Raphael und FriedrichBlass Ausfuumlhrliche Grammatik der griechischen Sprache Zweiter Teil Satz-lehre Erster Teil Darmstadt 31966 S 69

60 Er spricht nur spaumlter von einer sbquoschlechten Seelersquo (897d1 vgl 898c4f)

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Weltseele schon in den oberen Zeilen zu finden Nach dieser Lektuumlrewaumlre die zweite Art von Seele nur imstande Schlechtes durchzufuumlhrenaber wuumlrde nicht tatsaumlchlich so etwas tun Waumlre das der Fall warumsollte der Athener uumlberhaupt erst zwischen zwei Arten von Seele unter-scheiden In einem Kontext wo die Staumlrke die praktische Macht sowieEffizienz und Dominanz der Seele uumlberwiegen64 ist die Option einersbquoersten Moumlglichkeitlsquo keine gelungene Annahme65 Nur in dem Fall desgoumlttlichen Demiurgen koumlnnten wir eine solche sbquoerste Moumlglichkeitlsquo an-wenden die sich nie wirklich durchsetzen wird Trotz seiner Faumlhigkeites zu tun ist der Demiurg nicht bereit die guten Mischungen aufzuloumlsenund die kosmische Ordnung zugrunde zu richten Das Konzept einesDemiurgen der faumlhig ist beides zu tun sowohl Gutes als auch Schlech-tes ist fuumlr Platon undenkbar weil Gott wesentlich gut ist66 Zu-gegebenermaszligen waumlre es zu weitreichend all das in 896e5f hineinzule-sen und die zweite Art der Seele mit dem goumlttlichen Demiurgen zuidentifizieren

61 Der δύναμις-Aspekt geht verloren bei Plutarch der stattdessen von der gutwirkenden und der entgegengesetzten Seele spricht die das Gegenteil vollbringtDe Is Et Osir 370F4-6 raquoὧν τὴν μὲν ἀγαθουργόν εἶναι τὴν δrsquo ἐναντίαν ταύτῃ καὶτῶν ἐναντίων δημιουργόνlaquo Den wichtigen Bezug auf δύναμις verpassen Jowettlsquoone the author of good and the other of the evilrsquo (The Dialogues of Plato S466) sowie Grube Platorsquos Thought lsquoone that does good and one that does evilrsquo(Platorsquos Thought S 146)

Brisson spricht von der Neutralitaumlt der Seele die faumlhig ist gut oder schlecht zusein (Vernunft Natur und Gesetz im zehnten Buch von Platons Gesetzen InHavlicek Ales (Hrsg) The Republic and the Laws of Plato Proceedings of theFirst Symposium Plato Symposium Platonicum Pragense 1 (1997) S 182-200Hier S189) ohne diese Textstelle heranzuziehen

62 Das Verb ist sbquoἐξεργάζεσθαιlsquo das nicht nur das Schlechte bewirken sondern esauch vollenden heiszligt (vgl ἔργον sowohl in als auch in ἐξεργάζεσθαι)

63 Vgl Dillons allgemeine Folgerung uumlber das ontologische Problem desSchlechten bei Platon (Monist and Dualist Tendencies S 11) Der Fall einerschlechten Seele die nicht als Privation der guten Seele vorkommt sondern alsraquofaumlhig Schlechtes zu vollendenlaquo unterstuumltzt Dillons Konklusion dass diesbquoschlechte Seelelsquo eine negative zerstoumlrende Macht sei

64 Vgl die Charakterisierung der Seele in 894d1f 895b665 Dank der Beobachtung von David Sedley wurde es mir klar dass ich

unabsichtlich eine aristotelsiche sbquoerste Potenzialitaumltlsquo in einer fruumlheren Versionvorgeschlagen hatte

66 Vgl oben Fuszlignote 7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 25

Bevor wir zur allgemeinen platonischen Psychologie uumlbergehen er-waumlgen wir eine zweite moumlgliche Unterscheidung der Seele in 896e4-6Bis jetzt habe ich die Distinktion zwischen guter und schlechter Seele alsselbstverstaumlndlich betrachtet Eine vorsichtigere Lektuumlre ermoumlglicht einezweite Option naumlmlich die Unterscheidung zwischen derwohlwollenden Seele die immer das Gute vollendet und derjenigen diefaumlhig ist entgegengesetzte Dinge (Plural) durchzufuumlhren sowohl Gutesals auch Schlechtes (τῆς τἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαι) Die ersteSeele kann keine andere als die goumlttliche sein67 Fuumlr die zweite Seele istder einzige Kandidat die menschliche Seele Auszligerdem wuumlrde die Seeleder Tiere unter die Seele fallen die sowohl Gutes als auch Schlechtestun kann weil sie einen logischen Teil beinhaltet auch wenn deformiertDas Goumlttliche ist immer gut Die Pflanzen moumlgen gut sein insofern siein eine globale Teleologie integriert sind Sie wuumlrden aber nie als faumlhigcharakterisiert etwas Gutes oder noch weniger etwas Schlechtes zutun noch wuumlrden sie die Verantwortung fuumlr die herbeigefuumlhrten gutenoder schlechten Wirkungen tragen Wenn diese Lektuumlre als die einzigemoumlgliche aufgewiesen werden koumlnnte wuumlrden wir mit Sicherheit dieFrage nach der schlechten Seele auf spaumlter verschieben68

Wie es auch sein mag befinden wir uns noch im Rahmen derallgemeinen Lehre der Seele qua Seele als Selbstbewegung Die kosmi-sche Seele ist in 896e1f aufgetaucht aber die Unterscheidung zwischender guten und der schlechten Seele oder der goumlttlichen und men-schlichen Seele wird auf einer allgemeinen Ebene gezogen69 Obgleichder Athener nicht die theorethischen Anspruumlche des Sophistes erhebtsetzt er die allgemeine platonische Ontologie voraus dergemaumlszlig dasSeiende qua Seiendes δύναμις sei Das Kriterium fuumlr alles was Seiendesist sei es Intelligibles oder Koumlrperliches Koumlrper oder Seele ist das Ver-moumlgen zu tun oder zu leiden70 Die Erforschung der Seele als Seiendesverlangt daher die Frage nach ihrer Kraft und ihrem Vermoumlgen (Lg892a2f) Der Gast aus Athen bezieht sich stets auf die δύναμις-Ontolo-

67 Der Athener kann noch nicht die gute Seele als goumlttlich charakterisierenDas Argument hat noch nicht die Goumlttlichkeit der Seele bewiesen

68 Der kreative Charakter der Dialektik ermoumlglicht mehr als eine richtige Ein-teilung Zu diesem Aspekt s Plt 286d-e und Delcomminettes Monographie

69 Anders als Taylor der den Uumlbergang von 896e2 zu e4 durch die Praumlmisseder Aktualitaumlt des Guten und Schlechten in der gegenwaumlrtigen Welt verhilft (TheLaws S 289 Anm 1) sehe ich keinen Eintritt eines a posteriori Arguments adhoc Alles bisherige entnimmt der Athener der allgemeinen Seelenlehre

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gie des Phaidros sowie des Sophistes Er stellt die Frage was die Seele istund was fuumlr ein Vermoumlgen sie hat οἷόν τε ὂν τυγχάνει καὶ δύναμιν ἣνἔχει71

Obwohl die Frage nach dem Tun (ποιεῖν) oder Leiden (πάσχειν) derSeele als δύναμις nicht explizit gestellt wird72 bringt ihre Definition alsSelbstbewegung ein gleichzeitiges Tun (als Bewegen) und Leiden (alsBewegtwerden) zum Ausdruck73 Die Seele ist die Kraft die sich selbstund anderes bewegt74 Die Definition der Seele als Selbstbewegung kannentweder als Aktivitaumlt oder Passivitaumlt ausgedruumlckt werden Die Seele be-wegt sich selbst und wird von sich selbst bewegt Ein gleichzeitiges Tunund Leiden das aber nicht das gleiche Seiende verursacht geschieht beikoumlrperlicher Bewegung Ein Koumlrper mag auf einen anderen Koumlrper wir-ken und zu gleicher Zeit kann er von einer Seele oder einem anderenKoumlrper bewegt werden aber nicht von sich selbst75

Platon gibt die Definition der Seele in ihrer Allgemeinheit d hunabhaumlngig von ihren moumlglichen Manifestationen in konkretenLebewesen Alles was Seele ist soll Selbstbewegung sein mag es sichum die Seele des Menschen oder des Tieres oder der Pflanze handelnWeil die individuellen Manifestationen der Seele nicht beruumlcksichtigtwerden fehlt bei der Formel der Definition τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴνκινεῖν κίνησιν (896a1f) auch der Bezug auf den Koumlrper den die jeweiligekonkrete Seele beseelt Im Falle der Absenz der Materie in einer Defini-

70 Der Vorschlag des Gastes aus Elea in Sph 247d-e wird nicht allgemein alsPlatons Vorschlag uumlber Ontologie gedeutet Sehr haumlufig beschraumlnken Exegetendas Seiende als δύναμις auf die ad loc Argumentation gegen die MaterialistenAuch wenn dieses Argument als Platons Argument charakterisiert wird bleibtes sehr umstritten ob es eine allgemeine Ontologie betrifft (Brown) oder in eineOntologie der Ideen einmuumlndet (Gerson Politis) Darauf gehe ich hier nicht ein

71 Lg 892a3 vgl Lg 894b8-c1 und 896a1f72 Der Athener bezieht sich auf Tun und Leiden nur in 894c5f und meint

wahrscheinlich sowohl Seelisches als auch Koumlrperliches mit dem die Seele har-monisiert

73 In Lg 894b8-c1 und 896a1f beantwortet der Athener seine Frage nach derArt des Vermoumlgens mit dem die Seele ausgestattet ist Der gesamteZusammenhang verbindet die Frage nach dem Wesen eines Seienden mit derFrage nach seinem Vermoumlgen

74 Lg 893c4f75 Gaiser fuumlhrt den Ausgleich zwischen Passivitaumlt und Aktivitaumlt in der selbst-

bewegenden Seele auf das Zusammenwirken der zwei platonischen Prinzipienzuruumlck (Platons Ungeschriebene Lehre S 195f)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 27

tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

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Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

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tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 31

welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

32 Georgia Mouroutsou

zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

34 Georgia Mouroutsou

Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

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werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

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abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 3

seele zu antizipieren In Politeia 379c stellt Sokrates die Frage nach demSchlechten im allgemeinen In der vierfachen Einteilung alles Seiendendes Philebos (23-27) und insbesondere im anschlieszligenden kosmologi-schen Exkurs kommt Platon in die naumlchste Naumlhe der Frage nach einerschlechten Weltseele

Im zweiten Abschnitt gehe ich nun uumlber zu der Stelle in Nomoi X(896b10-897d2) Dabei sollte die Argumentation in ihrem schillerndenund schwankenden Charakter so klar wie moumlglich verfolgt werden MitHilfe des Ruumlckbezugs in 896b10-c7 werde ich die Einfuumlhrung derschlechten Seele vor dem Hintergrund des Leib-Seele-Dualismus aus-lotten wie sie der Text uns bietet (in den Abschnitten II ii und II iii)Dann werde ich 896c9-897d2 Schritt fuumlr Schritt uumlbersetzen und kom-mentieren (II iv-ix) Eine parallele Diskussion und nicht nur ein bloszligerBezug auf die relevante Forschungsliteratur wird uns helfen nicht Pla-tons Worte hinter Mengen von Literatur zu verbergen sondern aufzu-zeigen wie aktuelle Debatten Platons eigene Argumente wiederbelebenLetzen Endes wird sich der platonische Text fuumlr oder gegen angenom-mene Thesen und vertretene Auffassungen entscheiden

Gegenwaumlrtigen Tendenzen in der Forschung entgegen die Schwaumlchender untersuchten Argumentation zu betonen werde ich versuchen ihreStaumlrken zu maximieren Die Analyse des Textes wird nicht die Erwar-tung erfuumlllen die der einfuumlhrende Abschnitt erweckt naumlmlich das Pos-tulieren einer schlechten Weltseele als die Antwort auf die allgemeineFrage nach dem Schlechten4 Der Text wird nicht den Anspruch er-heben die Frage nach dem Ursprung vom Schlechten zu stellen noch zubeantworten Alle Interpretationen die auf dieser Erwartung basierenfinden keine textliche Stuumltze sei es Zellers Entwicklungs-Erklaumlrungoder Herters Prinzip der sbquoArbeitsteilunglsquo oder Hagers plotinisch ge-praumlgte Exegese5

4 Trotz meiner Hervorhebung der Inkompatibilitaumlt einer schlechten Weltseelemit der platonischen Philosophie werde ich nicht Redeweisen wie sbquorhetorischeFragelsquo (Peter Steiner in seinem Kommentar Platon Nomoi X Berlin 1992 S165) oder lsquojust an hypothesisrsquo (Roxana Carone Gabriela Teleology and Evil inLaws 10 In Review of Metaphysics 48 (1994) S 275-298 Hier S 285) inAnspruch nehmen um die Frage nach der sbquoschlechten Seelelsquo zu charakterisierenZum einen sollte man die allgemeine Frage nach der sbquoschlechten Seelelsquo nicht her-unterspielen weil Platon eine schlechte Weltseele ablehnt Zum anderen scheintder Ausdruck lsquojust an hypothesisrsquo Platons Hinweise auf diese Richtung zu uumlber-sehen (s unten I)

4 Georgia Mouroutsou

Im dritten und letzten Abschnitt werde ich mich der Aufgabewidmen eine allgemeinere Hermeneutik der Platon-Exegese zu bekraumlf-tigen Ich werde auf die Methode reflektieren die ich in den zwei erstenAbschnitten anwende Um nur einige Zeilen eines platonischen Texteszu intepretieren sollte man ndash wenn nicht eine philosophische Theorieausformulieren ndash eine ganze Geschichte erzaumlhlen die Teile von anderenDialogen und indirekte Berichte uumlber platonisches Lehren integriert6 Inder Antike haben die Platoniker diese Strategie nicht hinterfragt son-dern ohne Bedenken angewendet In der Moderne hat Schleiermacherdie kuumlnstlerische Einheit und anschlieszligende hermeneutische Abge-

5 Zellers Platon fuumlhrte die sbquoschlechte Seelelsquo ein um das Schlechte auf einenseelischen Ursprung zuruumlckzufuumlhren Die Philosophie der Griechen in ihrergeschichtlichen Entwicklung dargestellt Zweiter Teil Erste Abteilung Sokratesund die Sokratiker Plato und die alte Akademie Leipzig 18894 S 973ff Anm 4Wenn auch im Widerspruch zum platonischen System weil Platon bis zu seinenGesetzen die Materie fuumlr das Schlechte verantwortlich gemacht habe sei dieAnnahme einer schlechten Weltseele der folgerichtige Schritt in der EntwicklungPlatons Dass Entwicklungstheorien durchaus auch die Platonforschung praumlgenzeigen unter anderem Ausdrucksweisen wie lsquoPlatorsquos Final Thoughts on Evilrsquo(Mohr) oder lsquothe final version of his [Platorsquos] kineticsrsquo (Andreacute Laks The LawsIn Rowe C und M Schofield (Hrsg) Cambridge History of Greek andRoman Political Thought Cambridge 2000 S 258-292 Hier S 289) VglCarones These dass das zehnte Buch der Gesetze das letzte Wort Platons uumlberKosmologie und Theologie darstelle (Teleology and Evil S 275) Dabei wird derletzten endguumlltigen Version seit Plutarch der das zehnte Buch der Gesetze alsdie abschlieszligende und houmlchste Offenbarung Platons gepriesen hat (De Is et Os370F-371A) hermeneutische Prioritaumlt beigemessen

Herter plaumldiert unter anderen fuumlr eine elegantere und populaumlre Loumlsung einerharmonischen sbquoArbeitsteilungrsquo um einer sachlichen Dissonanz zwischen demTimaios und den Gesetzen zu entgehen Demgemaumlszlig erklaumlrt Herter dass Timaiosdie Bewegung fast ausschlieszliglich im kosmischen Bereich problematisiere unddas Schlechte weniger in der Seele als in der Materie verorte (in HerterBewegung der Materie S 339f)

Und weil es trotz harmonisierender Bereitschaft nicht immer gelingt alleDivergenzen in Platons Werk miteinander vertraumlglich zu machen heben andereInterpreten wie Hager (Die Materie und das Boumlse im antiken Platonismus InMuseum Helveticum 19 (1962) S 73-103) das Schillernde der platonischen Dar-stellung hervor und projizieren spaumltere eindeutiger formulierte Loumlsungen aus-gezeichneter antiker Platoniker zuruumlck auf Platon

6 Es eruumlbrigt sich zu sagen dass ich weit davon entfernt bin in diesem Beitragdie zweite Aufgabe zu erfuumlllen Ich stimme Burnyeat zu (The Theaetetus ofPlato Indianapolis 1990 xii-xiii) dass (der spaumltere) Platon uns herausfordert zuphilosophieren um seine Probleme zu behandeln und loumlsen

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 5

schlossenheit des jeweilig untersuchten Dialogs hervorgehoben SeineHermeneutik praumlgte sowohl die kontinentale als auch angelsaumlchsischePlaton-Forschung aus obgleich seine Methode keinen Vorgaumlnger in derAntike hatte

Trotz Schleiermachers verbreitetem Einfluss verfolgen heutige Platon-Forscher ndash wenn auch ohne weitere Reflexion ndash eine Platon-Hermeneu-tik die den Rahmen des einzelnen Dialogs uumlbergreift wenn sie Passagenaus verschiedenen Dialogen in Verbindung setzen und vergleichen Wasunsere Diskussion anbetrifft verbinden die meisten Interpreten diesbquoschlechte Seelelsquo der Gesetze mit der ungeordneten Bewegung der choraim Timaios Ich werde argumentieren dass ihr Irrtum nicht darin liegtdass sie die zwei Passagen in Verbindung setzen sondern in der Weisein der sie es tun Darum werde ich meine Rekonstruktion in groszligenZuumlgen anbieten Bei unserem Unternehmen verschiedene Passagen implatonischen Korpus zu vergleichen sollten wir gruumlndlich untersuchenwo wir als Dialektiker in dem jeweiligen Fall stehen wo genau auf demdialektischen Weg den Platon als Aufstieg vom Wahrnehmbaren zumIntelligiblen und Abstieg vom Intelligiblen zum Wahrnehmbarencharakterisiert Nur dann werden wir imstande sein wahrzunehmenaus welcher Perspektive die jeweiligen Fragen gestellt werden und wowir die relevanten Untersuchungen beginnen sollten um verschiedenePassagen zu situieren und auf erleuchtende Weise in Vergleich zuei-nander zu setzen Um der jetzigen Deutung willen werde ich die spaumltereplatonische Ontologie und Psychologie skizzieren muumlssen indem ichsie in den Aufstieg und Abstieg des Dialektikers integriere

I Einfuumlhrung Unterwegs zu einer Frage nach einer schlechten Weltseele

Dass κακὴ ψυχή im platonischen politischen Werk der mittleren Periodevorkommt bereitet den Interpreten keine Probleme weil sich diesbquoschlechte Seelersquo in R 353e4 eindeutig auf die ungerechte menschlicheSeele bezieht Jedenfalls taucht hier ein Problem auf das von Bedeutungfuumlr den Zusammenhang der Gesetze ist Politeia 379c2-7 belegt dassPlaton sich mit dem Problem des Ursprungs des Schlechten befassteDurch eine Kritik der traditionellen Dichtung erklaumlrt der platonischeSokrates dass Gott das Prinzip und der Ursprung ausschlieszliglich desGuten sein kann Die schlechten Geschehnisse sollten auf einen anderen

6 Georgia Mouroutsou

Ursprung oder andere Urspruumlnge zuruumlckgefuumlhrt werden Dafuumlr schlaumlgtSokrates leider keine Kandidaten vor

raquoAlso Gott weil er ja gut ist kann nicht Ursache von allem sein wieviele Menschen sagen sondern er ist zwar die Ursache von Wenigem beiden Menschen an Vielem aber unschuldig Denn es gibt weit wenigerGutes als Boumlses bei uns und fuumlr das Gute darf man keinen anderen ver-antwortlich machen man muszlig aber gewisse andere Ursachen vom Bouml-sen aufsuchen nur nicht Gottlaquo

Diese Passage erwaumlhnt keine schlechte Weltseele noch weist sie auf siehin Hier geht es um das Problem des Schlechten in seiner aumluszligerstenAllgemeinheit und nicht in seiner kosmischen Dimension Ich ziehe zuBeginn diese Passage heran weil sie beweist dass die Frage nach demUrsprung des Schlechten genuin platonisch ist Dieses Problem findethaumlufig die Forschung im Kontext der Gesetze wieder was nicht gerecht-fertigt ist Darauf ist noch im zweiten Abschnitt zu kommen

Im ontologischen Herzstuumlck des Philebos (23b-27c) fuumlhrt Sokrates dasvierfache Gefuumlge alles Seienden ein Nach der Auszeichnung desgemischten Lebens mit dem ersten Preis muss noch entschieden werdenwelcher Platz der Vernunft beizumessen ist Jede Erscheinung der Naturoder Kunst die als gute Mischung charakterisiert werden kann entstehtaus der Begrenzung des jeweiligen Unbegrenzten durch die VernunftNach der sokratischen Einleitung fragt Protarchos in 23d9f

raquoWirst du nicht noch eine fuumlnfte [Gattung] haben muumlssen die dieTrennung der guten Mischung bewirken kannlaquo

Sokrates erwidert dem Protarchos zoumlgerndraquoJa vielleicht aber ich glaube fuumlr jetzt noch nicht Sollte es aber noumltig

werden so wirst du mich wohl entschuldigen wenn ich noch einerfuumlnften [Gattung] nachgehelaquo (23d11-e1)

Wie jeder guter Dramatiker ist auch Platon nicht ausschlieszliglich in demfuumlhrenden Gespraumlchspartner sondern in allen seinen fiktiven Personenwiederzufinden einschlieszliglich des Protarchos im Philebos und desKleinias in den Gesetzen Daher ist Protarchosrsquo Frage entsprechenderAufmerksamkeit und Uumlberlegung wuumlrdig Zunaumlchst fragt Protarchosnach dem Schlechten weil sich jemand als schlecht erweist wenn er dasgut Zusammengefuumlgte aufloumlsen will7 Dann laumluft die sokratische Dar-stellung in diesem Kontext (ab 28d5ff) auf die platonische Kosmologiehinaus Die Vernunft faumlllt unter die vierte Gattung der Ursache weil daskosmische Ganze durch Vernunft geschaffen geordnet und durchwaltet

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 7

wird Sokrates unterstreicht eine Analogie zwischen Koumlrper und Seeledes Menschen einerseits und Koumlrper und Seele der Welt andererseitsAuf die Letztere weisen Zeusrsquo koumlnigliche Seele und Vernunft hin (30d1-4) In diesem kosmologischen Kontext ist es nicht abwegig den oben zi-tierten Vorschlag des Protarchos als eine Frage nach der Moumlglichkeiteiner schlechten kosmischen Seele zu deuten die die Zerstoumlrung derguten Mischung im All verursachen koumlnnte

Im Philebos kommt es dennoch nicht zur Einfuumlhrung einer fuumlnftenGattung und noch weniger zu Uumlberlegungen bezuumlglich ihrer Natur DieMischung des menschlichen Lebens ist nicht vorgegeben sondern bleibteine stets aufs Neue zu erfuumlllende Aufgabe Die immerwaumlhrend praumlsenteMoumlglichkeit des Misslingens ist darauf zuruumlckzufuumlhren dass dasUnbegrenzte nie voumlllig begrenzt werden kann jedenfalls nicht wenn esum Menschen geht Es bleibt stets als solches bewahrt und soll diesauch8

Vergegenwaumlrtigen wir uns also Erstens gehoumlrt die allgemeine Fragenach dem Ursprung des Schlechten durch und durch zum platonischenAnsatz Zweitens erweckt Platon den Eindruck die Frage nach demSchlechten auf der kosmischen Ebene zu stellen Die folgende Analysewird beweisen dass der Athener keine allgemeine Frage nach demSchlechten uumlberhaupt im Kontext der Gesetze stellt Auszligerdem bietet erdort eine negative Antwort auf die Frage nach einer schlechten Welt-seele

II Nomoi X Die Einfuumlhrung einer sbquoschlechten Seelersquo vor dem Hinter-grund des Leib-Seele-Dualismus

i Die Agenda und die Methode des Atheners

7 Ti 41a8-b2 Derjenige der etwas zusammenbindet ist auch der einzige deres wieder aufzuloumlsen vermag (vgl Ti 32c2-4) Obgleich nur der Demiurg der-jenige ist der sein Produkt vernichten kann zerstoumlrt er nicht die guten kosmi-schen Mischungen In diesem Fall waumlre er schlecht und wuumlrde seinerGoumlttlichkeit widersprechen

8 Im Gegensatz zu August Diegravesrsquo Redeweise von sbquoplaisanterie vouluelsquo (PlatonŒuvres Complegravetes Tome IX2 Philegravebe Paris 1959 Einleitung xxvi) wurde dieVerbindung der fuumlnften Gattung des Philebos mit der sbquoschlechten Seelersquo derNomoi schon von Heinze aufgezeigt (S 25-29)

8 Georgia Mouroutsou

Kleinias zeichnet den sehr umfangreichen einleitenden Teil des zehntenBuches der Gesetze (885b-907d) als raquodie schoumlnste und beste Praumlambelaller Gesetzelaquo aus (887b8-c2) und besteht wiederholt auf einer angemes-senen Verlaumlngerung dieser Einleitung9 Die Aufgabe eines gesetzlichenVorgehens gegen die Asebie wird erst im letzten Teil des Buches erfuumlllt10

Der Athener versucht in seiner Vorrede die drei Arten des Gottesfre-vels11 auf ihre Ursachen zuruumlckzufuumlhren bevor er von der Uumlber-zeugungskraft der Rede zur Strenge der entsprechenden Strafen uumlber-geht12 die der Gesetzgeber des zu gruumlndenden Staates aufunveraumlnderliche ndash da schriftliche ndash Weise festlegen wird Nach der erstenAuffassung wird die Existenz der Goumltter geleugnet Gemaumlszlig der zweitenkuumlmmern sich die Goumltter nicht um die menschlichen AngelegenheitenDie dritte zu widerlegende Meinung laumlsst sich folgendermaszligen formu-lieren Die sich um die Menschen kuumlmmernden Goumltter koumlnnen mittelsGebet und Opfer beeinflusst und umgestimmt werden Wie sich leichterahnen laumlsst erregt die Erforschung der Ursache der ersten Form vonGottlosigkeit im Rahmen der Argumentation gegen die Asebie diegroumlszligte Aufmerksamkeit13

Das zehnte Buch gilt seit der Antike als der philosophisch anspruchs-vollste Teil der Gesetze obwohl man die heikle Argumentationaufgrund der Zirkularitaumlt und der Subjektabhaumlngigkeit des Beweis-ganges immer wieder verworfen hat14 Der Charakter der beabsichtigtenUumlberzeugung in allen Einleitungen bleibt in der Forschung weiter um-stritten wobei den Zankapfel die Frage bildet inwiefern die Uumlber-

9 Lg 887b1-c4 890e4-891a710 Lg 907d4 bis 910d411 Die unvernuumlnftige Meinung (δόξα 888b7 c2 903a4 νόητος δόξα 891c7)

oder der (leidende) Zustand ( 885b6 πάθος 888c4 900b3 908c5) des Fre-vels wider die Goumltter werden als Abweichung (διαφορά 886a9) und alsKrankheit (νόσος 888b8) gekennzeichnet

12 Tί χρὴ πάσχειν (885b1f) (885b3f) Es werden die Ursachen einesbestimmten Uumlbels und nicht des Schlechten uumlberhaupt erforscht naumlmlich derwegen Asebie veruumlbten Missetaten Darauf bezieht sich κακά in 884a5 undkakvn 886d3 Als moralisch schlecht gelten die Gottlosen die die Gesetze inBezug auf die wichtigsten Dinge zugrunde richten (891b4-6 vgl 886a6)

13 Die Widerlegung der ersten Auffassung geht bis 899d4 Anschlieszligend wehrtsich der Athener gegen die zweite verfehlte Meinung bis 903a9 mit Hilfe vonArgumenten und mit dem Nachtrag des Mythos bis 905d3 Die Behandlung derdritten Abweichung folgt bis 907b4

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 9

zeugung sich mit rationalen oder irrationalen Mitteln vollzieht15 Einerationale Fundierung darf keinesfalls mit einer raquodurchgehend philoso-phische[n] Begruumlndunglaquo identifiziert16 sondern muss als eine Annauml-herung an die philosophische Argumentation verstanden werden17 Beider Widerlegung der ersten Uumlberzeugung der Gottlosen zielt derAthener nicht auf die Bezauberung seiner Gegner18 sondern wendeteine rationale Argumentation an Er druumlckt das Zusammenspiel von ra-tionaler und irrationaler Vorgehensweise am praumlgnantesten aus wenn erseine Zielsetzung folgendermaszligen formuliert

raquoDenn zoumlge sich wohl die Rede nicht wenig in die Laumlnge falls wireinerseits mit hinreichenden Argumenten gegenuumlber denjenigen diegottlos zu sein wuumlnschen das bewiesen woruumlber geredet werden musswie sie sagten falls wir andererseits unseren Anklaumlger in Furcht ver-

14 Auf eine exemplarische Weise hat Stalley die Argumentation als misslungendargelegt (An Introduction besonders S 169-172) Was die Zirkularitaumlt betrifftwill der Athener die Existenz der Goumltter beweisen die er dennoch voraussetztwenn er sie zur Hilfe ruft (Lg 893b1-4) s unter vielen anderen John ClearyThe Role of Theology in Platorsquos Laws In Lisi F L (Hrsg) Platorsquos Laws and ItsHistorical Significance Selected Papers of the International Congress onAncient Thought Salamanca 1998 S 125-140 Hier S 130 Auf derSubjektabhaumlngigkeit des dialektischen Vorgehens basiert die InterpretationSteiners (Platon Nomoi X) noch entschiedener ist Christian Pietsch Die Dihai-resis der Bewegung in Platon Nomoi X Rheinisches Museum fuumlr Philologie146 (2003) S 303-327 hier 319ff

15 Die Diskussion zwischen Christopher Bobonitch (Persuasion Compulsionand Freedom in Platorsquos Laws In Classical Quarterly 41 (1992) S 234-250) undStalley (Persuasion in Platorsquos Laws In History of Political Thought 15 (1994) S157-177) hat dieses Problem neuerdings zur Sprache gebracht Die rationaleUumlberzeugung muss rationale und irrationale Mittel kombinieren weil der zuUumlberzeugende (wenn auch nur Spuren von) Rationalitaumlt mitbringt aber zugleichgegen die Vernunft Widerstand leistet Stalley der die Praumlambel fuumlr lsquorathercoventional sermonsrsquo haumllt (An Introduction S 43) raumlumt eine Ausnahme fuumlrdas zehnte Buch ein (Persuasion S173f)

16 Pace Stalley Persuasion S 16717 Der wahrhaftige Gesetzgeber soll die Aufgabe erfuumlllen den Gesetzeswidri-

gen mithilfe beinahe philosophischer Argumente (καὶ τοῦ φιλοσοφεῖν ἐγγὺςχρώμενον μὲν τοῖς λόγοις 857d2) nicht nur zu heilen sondern auch zu erziehen(vgl Lg 857e3-6)

18 Einen verzaubernden Mythos nimmt der athener Gast erst bei seinerWiderlegung der goumlttlichen Sorglosigkeit gegenuumlber dem Menschlichen inAnspruch (Lg 903a10-905d3)

10 Georgia Mouroutsou

setzten und nachdem wir in ihnen Abscheu uumlber diese Missetaten erregthaumltten wir erst nachher die Gesetze aufstellten wie es sich gebuumlhrtlaquo19

ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platoni-sche Theorie der Bewegung

Kurz vor der Einfuumlhrung der schlechten Seele bezieht sich der Athenerexplizit auf den in 893b1-896b9 demonstrierten Vorrang der Seele uumlberden Koumlrper

raquoDenn wir duumlrften wohl richtig und vollguumlltig wahrhaftig undvollkommen gesagt haben dass fuumlr uns die Seele fruumlher entstand als derKoumlrper der Koumlrper aber an zweiter Stelle und spaumlter und beherrschtgemaumlszlig der Natur waumlhrend dagegen die Seele herrschtlaquo20

Platon gelingt es aus den Goumltterfrevlern ganz unterschiedlicherHerkunft ndash es sind Naturwissenschaftler Sophisten und Dichter darun-ter ndash einen einheitlichen Typus zu entwerfen der eine Prioritaumlt des Koumlr-pers ja noch mehr eine Derivation des Seelischen aus dem Koumlrperlichenvertritt21 Letztendlich plaumldiert er fuumlr einen materialistischen Reduktio-nismus der Form sbquoalles ist Koumlrperlsquo Eine Kosmogonie unterliegt seinerAuffassung gemaumlszlig der die Seele nach dem Koumlrper geschafft worden istDer Seele wird sowohl kausale als auch zeitliche Prioritaumlt zugesprochen

Nicht nur die Seele sondern alles was mit der Seele verbunden ist ndasheinschlieszliglich des Gesetzes und der Goumltter ndash werden nach dieser

19 Lg 887a3-8 raquoοὐ γάρ τι βραχὺς ὁ λόγος ἐκταθεὶς ἂν γίγνοιτο εἰ τοῖσινἐπιθυμοῦσιν ἀσεβεῖν τὰ μὲν ἀποδείξαιμεν μετρίως τοῖς λόγοις ὧν ἔφραζον δεῖν πέριλέγειν τὸν δὲ εἰς φόβον τρέψαιμεν τὰ δὲ δυσχεραίνειν ποιήσαντες ὅσα πρέπει μετὰταῦτα ἤδη νομοθετοῖμενlaquo Durch den Singular (887a6 τὸν δέ) bezieht sich derAthener auf denjenigen der die Anklage gegen die Glaumlubigen einbringt(886e8f)

20 Lg 896b10-c3 raquoὈρθῶς ἄρα καὶ κυρίως ἀληθέστατά τε καὶ τελεώταταεἰρηκότες ἂν εἶμεν ψυχὴν μὲν προτέραν γεγονέναι σώματος ἡμῖν σῶμα δὲδεύτερόν τε καὶ ὕστερον ψυχῆς ἀρχούσης ἀρχόμενον κατὰ φύσινlaquo

21 Es handelt sich um ein lsquoamalgam of several views rather than a single clear-cut doctrinersquo (Saunders Plato The Laws S 408) Glenn Morrow spricht vonlsquobody of ideasrsquo (The Cretan City Princeton 1960 S 480) Robert Muth nochtreffender von einer sbquomaterialistische[n] philosophische[n] κοινήlsquo der damaligenattischen Aufklaumlrungsbewegung (Studien zu Platons sbquoNomoirsquo X 885b2-899d3In Wiener Studien 69 (1956) S 140-153 Hier S 146)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 11

Auffassung als abgeleitet herabgesetzt Als abbildende Setzungenkoumlnnen sie die abgebildete Natur und Wahrheit nur verfehlen

raquo[hellip] er scheint Feuer und Wasser und Erde und Luft fuumlr das Erstevon allem zu halten und diese Dinge als sbquoNaturrsquo zu bezeichnen dieSeele aber fuumlr ein Spaumlteres aus diesen [Entstandenes]laquo22

Nun stellt der Athener seine Bewegungslehre dar mit der Absicht diePrioritaumlt der Seele zu beweisen23 Nach den sbquoPhilosophierendenlsquo24 lassensich die oumlrtlichen Bewegungen in sechs Arten unterteilen (1) Rotation(2) gleitende Bewegung (3) rollende Bewegung (4) Wachstum (5)Schwund (6) Zugrundegehen Dabei faumlllt das ontologische Werden (7)und Vergehen (8) als ein ausgezeichnetes Paar heraus da es ur-spruumlnglicher ist als die bisher entfalteten oumlrtlichen Bewegungsarten25

Die entscheidende Zweiteilung jedoch kommt erst am Ende der Auf-zaumlhlung zur Sprache Danach gibt es einerseits die koumlrperliche Be-wegung die als Fremdbewegung bestimmt wird (9) andererseits die alsSelbstbewegung definierte seelische Bewegung (10)26 Der Athener ver-steht den Namen sbquoSeelelsquo als den Namen dessen Definition sbquoSelbst-Be-wegunglsquo (895e10-896a2) erst nach der methodologischen Unter-scheidung zwischen dem Wesen und dessen Namen erfolgt (895d1-e9)Nach dieser Distinktion charakterisiert er die zweite Bewegung als sbquokoumlr-perlichlsquo (896b4-8) sbquoKoumlrperlsquo ist der Name dessen Definition dieFremdbewegung ist (896b10-c3)

Erst gemaumlszlig dieser Einteilung koumlnnen alle bereits aufgezaumlhltenraumlumlichen Bewegungsarten als seelisch oder koumlrperlich verstandenwerden Anders als Pietsch27 finde ich keinen Textbeleg nach dem dieSelbstbewegung im Gegensatz zu den raumlumlichen Arten der Fremdbe-wegung unraumlumlich sein soll Pietsch argumentiert dass das ganze dihai-

22 Lg 891c1-4 Eine aumlhnliche sbquoAll-Thesersquo vertreten die materialistisch ver-anlagten Ontologen im Rahmen der sbquoRiesenschlachtlsquo im Sophistes bevor ihnender Gast aus Elea durch seinen δύναμις-Vorschlag zur Hilfe kommt ImGegensatz zu den Ideenfreunden die schon mit der Unterscheidung zwischenSein und Werden auftreten macht nach den Materialisten ausschlieszliglich derKoumlrper das Sein aus (Sph 246b1)

23 Auf diese Weise begruumlndet der Gast alle vorgebrachten Auflistungen derGuumlter nach denen der Vorrang immer seelischen und nicht koumlrperlichen Guumlternbeigemessen wurde Vgl Lg 631b-c 661a ff 688a-b 697a-c 726a-729a 743e

24 So werden die Vertreter der Prioritaumlt der Seele ausgezeichnet Lg 967c8 (diezweite und letzte Erwaumlhnung von Philosophie in den Gesetzen auszliger in Lg857d2)

12 Georgia Mouroutsou

retische Stemma sbquonur raumlumliche Bewegungsartenlsquo bieten kann weil derAthener von der Physik des Gegners ausgeht28 Platon offenbart jedochein Stuumlck von seiner eigenen Philosophie immer dann wenn er seinesbquoGegnerrsquo verbessert seien es die Herakliteer im Theaitetos die Materia-listen des Sophistes oder diejenigen der Gesetze Das Platonische derRaumlumlichkeit der seelischen Bewegung erklaumlrt auszligerdem Timaios fuumlrguumlltig der der Weltseele raumlumliche Bewegung beimisst Zur Bekraumlf-tigung dient daruumlber hinaus die aristotelische Kritik am platonischenVerstaumlndnis der Selbstbewegung als raumlumlicher Bewegung (de an I3)

Dass der Bewegung in der spaumlteren platonischen Philosophie einegrundlegende Rolle zukommt zeigen neben dem Timaios die DialogeSophistes und der Theaitetos Im Sophistes wird das ausgezeichnete so-wohl bewegte als auch im Stillstand befindliche Sein der Idee qua Ideebehandelt Im Theaitetos werden heraklitische Allbewegungs-Modelleim Bereich der Wahrnehmung kritisiert Im Timaios wird die Bewegungin ihrer ganzen kosmologischen Tragweite ausgelotet In dem letztenDialog zeigt Platon seine Aneignung und Transformation des Herakli-

25 Gemaumlszlig der Aufzaumlhlung Konrad Gaisers (Platons Ungeschriebene LehreStuttgart 19983 S 176f) und ohne Besprechung der immensen einzelnen Pro-bleme Die ontologische γένεσις uumlber die Linie und Flaumlche bis hin zumdreidimensionalen Koumlrper (894a2-5) gilt als noch urspruumlnglicher als die vorhererwaumlhnten raumlumlichen Bewegungsarten (893c1f) Dieser Primat unterscheidetsich von Aristotelesrsquo Auffassung wie die Kritik des Stagiriten belegt (GC I2315a29ff) Der Bewegungskatalog ist von grundlegender Bedeutung fuumlr das Ver-staumlndnis der Prioritaumlt der Seele Hier begnuumlge ich mich mit der Hervorhebungder Beitraumlge von Gaiser und Solmsen (Aristotlersquos System of the Physical WorldA Comparison With His Predecessors New York 1960) Gaiser hat den sys-tematischen Charakter der Aufzaumlhlung der Bewegungsarten in Verbindung zuder indirekten Uumlberlieferung ausgearbeitet (Platons Ungeschriebene Lehre S173-186) Man folgt oft seiner Interpretation der besonders dunklen Stelle Lg894a1-8 und zwar mit oder ohne explizite Erwaumlhnung seines Beitrags zum Bei-spiel Pietsch C Die Dihairesis der Bewegung hier S 316 Anm 45 SchoumlpsdauK Platon Werke in Acht Baumlnden Griechisch und Deutsch Achter Band Zwei-ter Teil Platon Gesetze Buch VII-XII Minos Darmstadt 20054 S 291 Anm 26Mayhew R Plato Laws X Oxford 2008 S 112ff Solmsen (Aristotlersquos System)bietet seinerseits eine sehr ausgewogene Hermeneutik der platonischen undaristotelischen Bewegungslehre an die gegenuumlber der neueren oft hinter ihrzuruumlckbleibenden Forschung noch immer als exemplarisch gelten sollte

26 Lg 894b8-c1 894c3-827 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 304 und oumlfters28 Ebd S 320

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 13

tismus im Bereich der Ontologie des Wahrnehmbaren auf (48eff) des-sen Ausarbeitung nach wie vor eine Aufgabe fuumlr die Platon-Forschungdarstellt

Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich dass sbquoKoumlrperrsquo undsbquoSeelersquo als verschiedene Arten von Bewegung aufgefasst werden Hiersehe ich keine Verwirrung bei Platon zwischen einer Bewegungsart(Selbstbewegung) und der Seele als unabhaumlngiger Substanz Anders alsRichard Stalley29 verstehe ich sowohl die Selbstbewegung als auch dieSeele qua Seele als auf einen Koumlrper bezogen wenn auch unabhaumlngigvom jeweiligen Koumlrper gedacht und definiert Sogar die schlechte Welt-seele bliebe somit bezogen auf den Weltkoumlrper waumlre sie real

iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer an-tiken Auffassung

Halten wir inne Der Seele wird eine Art Prioritaumlt beigemessen die sichauf die in ihrer Definition widergespiegelte Natur als Selbstbewegungstuumltzt Als solche zeigt sich die Seele qua Seele und unabhaumlngig von allihren konkreten Manifestationen als aumllter wirksamer und maumlchtiger un-ter allen Bewegungen Und nicht nur dies Sie zeigt sich auch als dieeigentliche Bewegung und Veraumlnderung alles anderen Seienden30 Wirbefinden uns also im Rahmen der Problematik des Leib-Seele-Dualis-mus der neben dem Dualismus von Idee und Erscheinung der alssbquoZwei-Welten-Lehrelsquo beruumlhmt bzw beruumlchtigt wurde sowie dem in derAntike und Moderne debattierten Dualismus der zwei platonischenPrinzipien weitlaumlufig Karriere in der Geschichte des Platonismusgemacht hat31

29 Stalley An Introduction to Platorsquos Laws Oxford 1983 S 171f30 Lg 894c6f31 Die Tatsache dass hier die zwei letzteren Arten von Dualismus nicht vor-

kommen bedeutet keinesfalls dass der alte resignierte Platon seine Ideen- oderPrinzipienlehre aufgegeben habe (so Muumlller Gerhard Studien zu den Platoni-schen Nomoi Muumlnchen 1951 19682 aumlhnlich Rist Eros and Psyche S 87ff)Auf die platonische Ideenlehre weist der Gast als auf einen wesentlichen Teil derErziehung der sbquonaumlchtlichen Versammlungrsquo hin (Lg 965b-966b) Hier sei dieschwierigere Frage dahingestellt inwieweit die angedeutete Lehre der klassi-schen Ideenlehre der mittleren Dialoge entspricht

14 Georgia Mouroutsou

Platon problematisiert den Leib-Seele Dualismus nicht nur aufgrundder allgemeinen Frage nach sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo sondern auch weil erauf der moumlglichen Interaktion zwischen der intelligiblen Seele (derSonne) und ihrem wahrnehmbaren Koumlrper reflektiert (in Lg 898e8-899a4)32 Obgleich wir nicht viel Positives uumlber die platonische Auffas-sung der Art der Beziehung zwischen Koumlrper und Seele aussagenkoumlnnen sind wir damit doch imstande auf entschiedene Weise einigesauszuschlieszligen Wir werden mit dem Materialismus und dem Mentalis-mus anfangen die mit weniger Muumlhe abgelehnt werden koumlnnen als derso charakterisierte sbquorobuster Dualismuslsquo dem wir uns anschlieszligendwidmen

Die These des Materialismus wonach das Seelische auf Koumlrperlicheszuruumlckzufuumlhren sei gewinnt nicht die Oberhand in diesem KontextDie Materialisten bleiben die Gegner des Atheners durch das ganze Ar-gument hindurch Noch modifizierte Materialisten finden einen Belegfuumlr ihre These dass das Seelische unsichtbares Koumlrperliches sei Neu-erdings hat Gabriela Carone diese Auffassung des sbquomodifizierten Mate-rialismuslsquo als genuin platonisch vertreten33 was eine gerechtfertigteReaktion von Francesco Fronterotta hervorgerufen hat34 Bei ihrem Ver-such die Materialitaumlt der Seele aufzuweisen begeht Carone einengrundsaumltzlichen Fehler Sie geht ohne jede Argumentation von der Moumlg-lichkeit eines unsichtbaren Koumlrpers zu einem Verstaumlndnis der Seele alskoumlrperlich uumlber35 Die Ausdehnung sei (nach Platon) wesentliche Eigen-schaft des Koumlrperlichen Weil sie raumlumlich ist muumlsste die Seele daher ir-gendeine Art koumlrperlicher Natur besitzen Carone gibt zu lsquoOf course

32 Die Stelle charakterisiert Thomas Robinson als lsquoa splendid memorial to his[Platorsquos] intellectual honestyrsquo (The Defining Features of Mind-Body Dualism inthe Writings of Plato In John Wright und Paul Potter (Hrsg) Psyche andSoma Physicians and Metaphysicians on the Mind-Body Problem From Antiq-uity to Enlightenment S 37-55 Hier S 55) lsquoTo the end he is wrestling with theproblem that lies at the heart of all psycho-physical dualism the problem ofrelating a physical substance to an immaterial one and to the end he openlyadmits his bafflementrsquo (ebd)

33 Carone Gabriela Mind and Body in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichteder Philosophie 87 (2005) S 227-269 Hier S 256f

34 Fronterotta schmaumllert gewisse Staumlrken des Argumentes von Carone undbringt daher die platonische Methode der sbquoVerbesserungrsquo des Gegners in diesemFall der Materialisten nicht zur Anwendung (Fronterotta Fransesco Carone onthe Mind-Body Problem in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichte der Philoso-phie 89 (2007) S 231-236)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 15

there is still a gap to be filled between spatial extension and corporeal-ityrsquo36 Trotz ihres Zugestaumlndnisses fuumlllt Carone diese Luumlcke leider nichtund offenbart auf diese Weise ihre nicht hinterfragte (oder bei Platonnicht bewaumlhrte) Cartesianische Praumlmisse37

Noch belegt unser Zusammenhang das andere Extrem einer ArtMentalismus nach dem das Koumlrperliche vom Seelischen ableitbar istSowohl die Darstellung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper alszwischen Ganzem und Teil (Chrm 156dff) als auch die oumlrtliche Meta-pher der den Koumlrper umhuumlllenden Seele (Ti 36e3f und Lg 898d11-e238)eroumlffnen dennoch den Raum fuumlr eine solche Auffassung Dennoch un-terstuumltzt der Kontext in den Gesetzen nicht diese Auffassung Anders alsder materialistisch gepraumlgte Typus vertreten die sbquoPhilosophierendenlsquokeine reduktionistische These was nicht nur den Materialismus sondernauch den Mentalismus ausschliesst

In modernen Diskussionen des Leib-Seele-Problems wird Platon allzuoft als Vertreter eines sbquorobusten Dualismuslsquo dargestellt39 Demgemaumlszlighandelt es sich bei Seele und Koumlrper um zwei selbststaumlndige vonei-nander abgetrennte Substanzen die erst nachtraumlglich vereinigt werden

35 Carone Mind and Body S 237 die Voraussetzungen eines solchen Ver-staumlndnisses hat Fronterotta ans Licht gebracht Carone on the Mind-Body Pro-blem S 233

36 Carone Mind and Body S 240 Anm 4337 Vgl Carones selbstverstaumlndliche Redeweise lsquospatial or material conditionsrsquo

lsquobody and spacersquo lsquospace and bodyrsquo Mind and Body S 264 Zu einer einsichtige-ren Unterscheidung der Arten vom Dualismus bei Platon und Descartes sSarah Broadie Soul and Body in Plato and Descartes In The AristotelianSociety 101 (2001) S 295-308

38 Die zweite zaumlhlt Robinson nicht mit auf The Defining Features of Mind-Body Dualism S 40 Anm 12 Lg 898d11-e2 hat mehrere Deutungen undUumlbersetzungen veranlasst Περιφύειν wird mit aumlhnlicher Bedeutung in R 612aangewendet (sbquoherum- oder anwachsenlsquo) Diese Metapher in den Gesetzen undderen Uumlbersetzung verfehlen Otto Apelt Platons Gesetze Zweiter Band Leip-zig 1916 S 419 Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 S 163 mit Anm 2 Robin Leacuteon Oeuvres completesPlaton Paris 1950 Zweiter Band S 1025 richtig verstehen die Stelle JowettBenjamin The Dialogues of Plato Oxford 41953 S 468f Taylor Alfred E TheLaws of Plato London 21960 S 291 Muumlller Studien S 92 Anm 1 Bury Rob-ert Plato with an English Translation IX and X Laws London-New York1952 S 346 mit Anm Saunders Plato The Laws S 430 Cooper John (Hrsg)Plato Complete Works Cambridge 1997 S 1555 Mayhew Plato Laws X S29

16 Georgia Mouroutsou

muumlssen was hier nicht ausdruumlcklich widerlegt wird Neuerdings hatFronterotta diese Auffassung vertreten40 wobei auch seine Deutung aufzwei unaufhebbaren Schwierigkeiten im Timaios stoumlszligt Zum ersten istdie Weltseele raumlumlich ausgedehnt Zum zweiten ist sie das Produkteiner Mischung was nicht nur Carones These widerlegt dass die Seelekoumlrperlich sei ndash da hat Fronterotta Recht ndash sondern auch gegen einen ab-soluten unuumlberbruumlckbaren Gegensatz zwischen einer rein rationalerSeele und dem Weltkoumlrper plaumldiert41

Auf dem ersten Blick scheint unser Kontext in den Gesetzen nicht aufexplizite Weise den weit verbreiteten Vorschlag eines Substanz-Dualis-mus abzuweisen Weil sich aber in diesem Zusammenhang sowohl dieseelische als auch die koumlrperliche Bewegung im Raum vollziehen (Lg893c1f) ist die Dimensionalitaumlt keinesfalls ausschlieszliglich dem Koumlrperzugeordnet was sich wiederum mit einem starren Dualismus nicht ver-traumlgt42

Jedenfalls ist ein gewisser Dualismus insofern nicht zu uumlbergehen alsdie seelische Bewegung die koumlrperliche nicht produzieren kann43 NachLg 896e8-897b4 sbquonehmenrsquo die seelischen als die primaumlren Bewegungendie sekundaumlren koumlrperlichen sbquoaufrsquo Das gleiche Verb (παραλαμβάνειν897a5) wendet auch der Timaios an Der Demiurg nimmt das auf unge-ordnete und fast verbrecherische Weise bewegte Wahrnehmbare sowiespaumlter im Dialog das was ἀνάγκη bewirkt (68e3) auf Die unterstehendenGottheiten nehmen ihrerseits den rationalen Teil der Seele auf um ihn mitdem sterblichen Teil im Koumlrper zu verknuumlpfen (Ti 69c5) Diesen ver-schiedenen Zusammenhaumlngen koumlnnen wir keine Umkehrung der Prio-ritaumlt der Seele gegenuumlber dem Koumlrper entnehmen Was sich mit einer anSicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ausschlieszligen laumlsst ist eine

39 S Burnyeat Myles Is An Aristotelian Philosophy of Mind Still CredibleA Draft In Nussbaum A M-Rorty (Hrsg) Essays on Aristotlersquos De AnimaOxford 1992 S 15-26 Hier S 16 Putnam Hilary The Threefold Cord MindBody and World New York 1999 S 97 Stephen Priest Theories of the MindLondon 1991 S 8-15 57 162)

40 Fronterotta Carone on the Mind-Body Problem41 Platon behandelt das Problem der Verbindung zwischen der Seele und dem

Koumlrper wie die Vermittlung durch das Mark beweist (Ti 73b-c) was wir abernicht als Beleg dafuumlr betrachten sollten dass Platon zum Vorlaumlufer von Descar-tes wird

42 Thomas Johansen begeht diesen Weg in seiner Timaios-Auslegung43 Vgl Mason Andrew Plato on the Self-Moving Soul In Philosophical

Inquiry 1998 S 18-28 Hier S 24 28

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 17

Herleitung des Koumlrperlichen aus dem Seelischen44 Diese Unterscheidungzwischen Koumlrper und Seele erlaubt es dem Dialektiker je nachZusammenhang die Seele qua Seele (so in der vorliegenden Passage der Ge-setze) und den Koumlrper qua Koumlrper (so im Timaios) zu betrachten ohne einereduktionistische Auslegung vorauszusetzen

Auf dieser Basis wird ein Reduktionismus des Koumlrpers auf die Seele aus-geschlossen Ausserdem unterstuumltzt der Wortlaut des Textes nicht das Ver-staumlndnis der ontologischen Prioritaumlt die Aristoteles in Metaph V11 an-spricht Es geht in unserem Kontext nicht darum was Aristoteles undAlexander als platonische Auffassung und akademisches Gut dar-stellen45 Als Kriterium der ontologischen Rangfolge wird dassbquoMitaufgehobenwerdenrsquo des Spaumlteren angegeben Demgemaumlszlig setzt dasontologisch Spaumltere das Fruumlhere voraus aber nicht umgekehrt Wenndas Fruumlhere aufgehoben wuumlrde wuumlrde auch das Spaumltere aufgehobenwas sich aber nicht umkehren laumlsst Soweit geht Platon bei der hiesigenBetrachtung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper jedoch nichtDie Rede von der sbquoAufnahmersquo der koumlrperlichen Bewegungen von denseelischen ist weniger mit einer ontologischen Prioritaumlt der Seele (wieoben dargelegt) als vielmehr mit einer Aufeinanderbezogenheit vonSeele und Koumlrper vertraumlglich

Um eine uumlber den Rahmen dieses Beitrags hinausgehende positive Louml-sung fuumlr Platons Leib-Seele-Dualismus zu entwickeln ist es noumltigeinige falsche Meinungen zu korrigieren wozu die obere Darlegung bei-traumlgt

iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Ar-gument

44 Pace England Edwin The Laws of Plato London 1921 Zweiter Band S476 der παραλαμβάνειν als lsquobring in their trainrsquo versteht In allen obenerwaumlhnten Zusammenhaumlngen ist klar dass das Aufgenommene nicht vomAufnehmenden geschaffen wird Die Uumlberlegenheit des letzteren bleibt davonunberuumlhrt

45 Vor allem in Arist Metaph V11 1019a2-4 vgl Alexander In AristotMetaph I 6 987b33 Gaiser Testimonium Platonicum 22B

18 Georgia Mouroutsou

Wir kehren zu unserem Text zuruumlck Da der Seele ontologische Prioritaumltgegenuumlber dem Koumlrper verliehen wird ist auch das der Seele Verwandteontologisch fruumlher als das was dem Koumlrper zugehoumlrt

raquoVerhaltensweisen aber und Gemuumltsarten Willensakte Schluss-folgerungen wahre Meinungen Fuumlrsorge und Erinnerungen duumlrftenfruumlher entstanden sein als koumlrperliche Laumlnge Breite Tiefe und Staumlrkewenn eben die Seele fruumlher als der Koumlrper entstanden sein solltelaquo46

Im Anschluss daran hilft uns der Athener nachzuvollziehen warumPlaton eben hier die sbquoschlechte Seelersquo einfuumlhrt Man muumlsse darin uumlberein-stimmen dass die Seele Ursache sowohl des Guten als auch des Boumlsendes Schoumlnen und des Schlechten des Gerechten und des Ungerechtenund aller Gegensaumltze sei

raquoIst es denn nicht noumltig darin uumlbereinzustimmen dass die Seele dieUrsache des Guten sowie des Schlechten des Schoumlnen sowie des Haumlszlig-lichen des Gerechten sowie des Ungerechten und uumlberhaupt allerGegensaumltze wenn wir sie als Ursache von allem setzenlaquo47

Diese Zeilen sind aumluszligerst wichtig weil hier und nicht erst in 896e4ffder Gegensatz von sbquogut und schlechtlsquo eingefuumlhrt wird Dem Argumentist vorgeworfen worden es sei schwach Unter den Kritikern verstehtStalley den Schluss auf folgende Weise lsquoSoul since it is the source ofeverything must be the source of valuesrsquo Er wundert sich dass Werteohne Begruumlndung und ohne Erklaumlrung ihrer Existenzweise eingefuumlhrtwerden48 Dementgegen werde ich eine wohlwollendere Annaumlherungvorschlagen Nach der Rekonstruktion des Arguments werde ich eineArt sbquoanthropozentrischer Wendelsquo in einen breiteren Kontext situieren

Wie er expliziert (896d8) zieht der Gast aus Athen diesen Schlussdaraus dass die Seele als Ursache von allem angesetzt worden ist Bevorwir diese Begruumlndung als einen Fehlschritt charakterisieren sollten wiruns zusammen mit Kleinias erinnern dass die sbquoSeelersquo die Veraumlnderungvon allem herbeifuumlhrt49 Mit Hilfe einer anderen Formulierung ist dieSeele raquodie Veraumlnderung und Bewegung von allem Seiendenlaquo50

46 Lg 896c9-d3 raquoΤρόποι δὲ καὶ ἤθη καὶ βουλήσεις καὶ λογισμοὶ καὶ δόξαιἀληθεῖς ἐπιμέλειαί τε καὶ μνῆμαι πρότερα μήκους σωμάτων καὶ πλάτους καὶβάθους καὶ ῥώμης εἴη γεγονότα ἄν εἰπερ καὶ ψυχὴ σώματοςlaquo

47 Lg 896d5-7 raquoἎρrsquo οὖν τὸ μετὰ τοῦτο ὁμολογεῖν ἀναγκαῖον τῶν τε ἀγαθῶναἰτίαν εἶναι ψυχὴν καὶ τῶν κακῶν καὶ καλῶν καὶ αἰσχρῶν δικαίων τε καὶ ἀδίκωνκαὶ πάντων τῶν ἐναντίων εἴπερ τῶν πάντων γε αὐτὴν θήσομεν αἰτίανlaquo

48 Stalley An Introduction S 172 49 Lg 892a6f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 19

Die Bewegung ist hier als Wechsel und Veraumlnderung (μεταβολή) in ih-ren weitesten Sinn zu verstehen seien sie im Raum in Bezug auf dieSubstanz die Qualitaumlt oder die Quantitaumlt Der Uumlbergang findet zwi-schen Gegensaumltzen statt Die ersten Paare von Gegensaumltzen die derAthener vor der Verallgemeinerung in 897d7 anspricht sind Ver-bindungen und Trennungen Wachstum und Schwund sowie Prozessedes Wedens und Vergehens (894b10f) Die Seele zeigt sich als dieUrsache von aller Art koumlrperlicher Veraumlnderung Wenn eine Seele einenWechsel von einem schlechten zu einem guten Zustand verursacht dannist diese Seele in sich selbst gut Wenn eine Seele einen schlechtenEinfluss auf einen Zustand uumlbt dann ist sie dafuumlr verantwortlich Es istbemerkenswert dass der Gegensatz zwischen sbquogutlsquo und sbquoschlechtlsquo nichtauf die Unterscheidung zwischen sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo oder diejenigezwischen sbquoseelischer Bewegunglsquo und sbquokoumlrperlicher Bewegunglsquo zu-ruumlckgefuumlhrt wird Der Koumlrper kann nicht als schlecht charakterisiertwerden weil nach dem spaumlten Platon der Koumlrper qua Koumlrper weder gutnoch schlecht in sich selbst ist

Wenn die Seele die Ursache von allem ist so der Athener dann musssie die Ursache von allen Gegensaumltzen sein einschlieszliglich des Bereichsder Ethik Die gleichen Gegensatzspaare von sbquogut und schlecht schoumlnund haumlszliglich sowie gerecht und ungerechtlsquo tauchen in Euthph 7c10ff alsder Zankapfel der menschlichen Debatten auf die vor Gericht gefuumlhrtwerden koumlnnen Auch in Grg 459d1ff gehoumlren sie zur rhetorischenKunst die kein Wissen daruumlber erwerben kann In Plt 296c5-7 erfahrenwir dass ein Irrtum im Rahmen der politischen Kunst das Schaumlndlichedas Schlechte und das Ungerechte verursacht Was der Rhetor verfehltweiszlig der Staatsmann Der goumlttliche Teil der menschlichen Seele mag einewahre Meinung uumlber Schoumlnes Gutes und Gerechtes stiften (Plt 309c5-8)

Indem die Seele fuumlr alle moumlglichen koumlrperlichen Veraumlnderungen ver-antwortlich gemacht wird gelangen wir in unserem Zusammenhang zuder Seele als der primaumlren Ursache auch des Schlechten und nichtaufgrund der Frage woher das Schlechte komme Der Athener machtnirgends explizit dass er die Seele als die einzige Ursache des Schlechtensei Bedenken sollte daher gegen Englands Beobachtung geaumluszligert wer-den in 896d5 werde die Frage nach dem Uumlbel eingefuumlhrt und insbe-

50 Lg 894c6f raquoκαλουμένην δὲ ὄντως τῶν ὄντων πάντων μεταβολὴν καὶκίνησινlaquo

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sondere gegen seine Folgerung lsquoHaving identified ψυχή with the αἰτίαἀγαθοῦ τε καὶ κακοῦ he is bound to talk of the αἰτία κακοῦ as ψυχήrsquo51

Auf das seelische Uumlbel konzentriert sich hier der Athener Verabsolutie-rende Konklusionen uumlber das Uumlbel schlechthin sind daher der Ge-spraumlchssituation nicht zu entnehmen Jedenfalls waumlre der bestimmte Ar-tikel noumltig vor αἰτίαν (sowohl in 896d6 als auch in d8)

Der Athener zielt darauf die Natur der Seele als die Ursache von allenGegensaumltzen auszulotten und fuumlhrt dann das Feld der menschlichenEthik ein ohne seinen Uumlbergang oder eher seine Einschraumlnkung zu er-klaumlren52 Die konkrete politische Situation in den Gesetzen bietet eineplausible Erklaumlrung fuumlr diesen Uumlbergang von der Seele qua Seele zurmenschlichen Seele Die Buumlrger von Magnesia sollten ihre Machtwahrnehmen sowohl zum Guten als auch zum Schlechten beizutragenAuszligerdem sollten sie die Verantwortung ihrer politischen Taumltigkeit ineinem kosmischen All uumlbernehmen das von einer guten Seele verwaltetwird Die primaumlre Ursache der Bewegung ist die Seele Beinahe waumlre dieSeele als Selbst-Bewegung ie ihre absolute Spontaneitaumlt als Bedingungihrer moralischen Verantwortung zum ersten Mal in der Geschichte derPhilosophie vorgekommen haumltte Platon diese Verbindung ausbuch-stabiert53

Eine Art Anthropozentrismus kommt in den spaumlteren platonischenSchriften vor Die Entscheidung ob wir dieses Konzept einer philoso-

51 Platorsquos Laws S 474 Auf aumlhnliche Weise auch Carone Evil and Teleology S295 Anm41

52 Mayhew argumentiert seinerseits dass es nicht darum gehe dass die Seeledie Ursache aller Dinge und daher sowohl schlechter wie guter Dinge sei DerInterpret meint die Seele sei fruumlher als der Koumlrper und in dieser Weise das Seeli-sche ndash einschlieszliglich der Moral ndash entsprechend fruumlher als das Koumlrperliche (PlatoLaws X S 131) Dennoch liegt die Pointe meines Erachtens nicht darin eineneingegrenzten Bereich ndash den der Ethik ndash anzusprechen sondern das Wesen derSeele als Ursache aller Gegensaumltze auszubuchstabieren was wiederum nichtheiszligt man sollte den Bereich der Moral voumlllig leugnen wie es Raphael Demostut lsquo[hellip] the soul is non-moral apt for both good and evil and so far forth inde-terminatersquo (Demosrsquo Hervorhebung Platorsquos Doctrine of the Psyche as a Self-Moving Motion In Journal of History of Philosophy (1968) S 133-145 HierS136)

53 Vgl Horn Christoph Der Begriff der Selbstbewegung bei Alkmaion undPlaton In Rechenauer Georg (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen2005 S 152-173 bes S 168ff und Baumgarten Hans-Ulrich Handlungstheoriebei Platon Platon auf dem Weg zum Willen Stuttgart 1998 S 241-264

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 21

phischen Kritik unterziehen sollten oden nicht mag hier dahingestelltbleiben Mit dem sbquoAnthropozentrismuslsquo bei Platon meine ich dass dasErschaffen des Weltalls auf der Basis einer Teleologie geschieht die aufden Menschen und seinen Beduumlrfnissen zentriert ist Man mag denTimaios heranziehen Der Anthropozentrismus scheint sich durch denganzen Monolog durchzusetzen in dem Timaios auf das Schaffen desMannes fokussiert ist Gemaumlszlig der Lehre der Wiedergeburt sind Frauenund Tiere schlechtere Formen von Lebewesen Es gibt zwei Passagendie als besonders anthropozentrisch gepraumlgt vorkommen Zum erstensind die Pflanzen um der Ernaumlhrung der sterblichen Lebewesen willengeschaffen worden (77e7-b1) Zum zweiten schafft der Demiurg dieuumlber das ganze All scheinende Sonne damit die dementsprechend aus-geruumlsteten Lebewesen an der Zahl teilnehmen nachdem sie von derBeobachtung der kosmischen Bewegung viel gelernt haben (39b2-c1)Um der Menschen und der Kultivierung der Philosophie willen schafftGott die Sonne und ermoumlglicht die Wahrnehmung der Sicht Dank desStudiums der himmlischen Bewegungen koumlnnen wir nach der Natur derZeit und des Alls fragen Auf diese Weise duumlrfen wir hoffen unsere ge-stoumlrte Bewegung der Vernunft der ungestoumlrten Bahn der kosmischenVernunft zu assimilieren (46e-47c 90c-d)

Wir haben die Kritik an der Einschraumlnkung im moralischen Bereichwiderlegt indem wir unseren unmittelbaren sowie weiteren Kontextberuumlcksichtigten Wegen des Fokuses auf den menschlichen Bereich unddie menschliche Seele geht die allgemeine Frage der Seele qua Seele nichtverloren Der Hintergrund der jetzigen Diskussion bleibt dieseallgemeine Fragestellung obgleich die menschliche Seele diejenige istdie sich gemaumlszlig der Vernunft oder gegen die Vernunft verhaumllt (897b1-5)Wir sollten die Unterscheidung zwischen weiteren kosmischen undmenschlichen Dimensionen bewahren wenn auch der spaumlte Platon denkosmischen Zusammenhang auf eine anthropozentrische oder sogar an-thropomorphische Weise beschreibt54 Es waumlre weder gerechtfertigtnoch legitim dass die Untersuchung uumlber die menschliche Seelediejenige uumlber die Seele qua Seele dominieren oder ausschoumlpfen wuumlrde

54 Zur Zentrierung des kosmischen Alls auf dem menschlichen Leben bei spauml-tem Platon s Carone Evil and Teleology S 296

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v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6

Von der allgemeinen Seelenlehre und der Seele qua Seele die bis dahindas Untersuchungsobjekt bildete gelangt der Athener jetzt zu einer be-sonderen Seele zur Weltseele Der Blickwechsel den der Athener imBereich seiner Betrachtung vollzieht sollte im Rahmen der platonischenSpaumltdialoge in denen Ontologie und Seelenlehre haumlufig in Kosmologiemuumlnden kein Erstaunen hervorrufen Als zwei Beispiele dafuumlr koumlnnender kosmologische Exkurs im Philebos (s oben Abschnitt I) und derUumlbergang von ψυχὴ πᾶσα (alles was Seele ist) zur Weltseele im Phaidros(245c5-246a2) gelten Was uumlber die Seele qua Seele gesagt wurde sollteauch im Fall der Weltseele Guumlltigkeit haben

raquoUnd weil die Seele in allem waltet und wohnt was sich auf ir-gendeine Weise bewegt muumlssen wir etwa nicht sagen dass sie auch denHimmel durchwaltelaquo55

Auf seine nur scheinbar unvermittelte und ploumltzliche Frage56 antwor-tet der Athener selbst

raquoEine oder mehrere Seelen Mehrere Ich werde fuumlr Euch antwortendass wir nicht weniger als zwei ansetzen sollten naumlmlich diejenige diedas Gute vervollkommnet und diejenige die faumlhig ist Entgegengesetztesdurchzufuumlhrenlaquo57

Dass der Athener im Namen seiner Gespraumlchspartner antwortet be-trachte ich als kein ausschlaggebendes Argument gegen die Realitaumlt einersbquoschlechten Weltseelersquo58 weil er sich noch auf die Seele qua Seele bezieht

55 Lg 896d10-e2 raquoΨυχὴν δὴ διοικοῦσαν καὶ ἐνοικοῦσαν ἐν ἅπασιν τοῖς πάντῃκινουμένοις μῶν οὐ καὶ τὸν οὐρανὸν ἀνάγκη διοικεῖν φάναιlaquo

56 Wilamowitz charakterisiert diese Frage zu Unrecht als sbquohereingeschneitlsquo(Platon II S 316) wogegen sich Kerschensteiner einsetzt (Platon und der Ori-ent S 73)

57 Lg 896e4-6 raquoΜίαν ἢ πλείους πλείους ἐγὼ ὑπέρ σφῷν ἀποκρινούμαι Δυοῖνμέν γέ που ἔλαττον μηδὲν τιθῶμεν τῆς τε εὐεργέτιδος καὶ τῆς τἀναντία δυναμένηςἐξεργάζεσθαιlaquo

58 Vgl Apelt Platons Gesetze S 539 Anm 48

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 23

Ist die Seele die das All verwaltet eine oder mehrere Haumltte Platon indi-viduelle Seelen ohne Bezug auf einen generellen Terminus sbquoSeelelsquo auf-zaumlhlen wollen haumltte er von mehr als zwei Seelen gesprochen Die Frageist sehr oft als Frage nach zwei Weltseelen verstanden worden Koumlnnteder Athener nicht die allgemeine Lehre der Seele qua Seele verlassen umsich auf die zwei partikulaumlren Weltseelen zu beziehen Dies haumltte derFall sein koumlnnen wenn die Weltseele mit Realitaumlt ausgestattet waumlre wassich aber nicht so verhaumllt Die oben genannte Frage kann nur die Seelequa Seele betreffen

Obgleich er haumlufig uumlberhoumlrt wird sollte der oben angewendete Dual beruumlcksichtigt werden weil er gegen ein Verstaumlndnis von zwei von-einander getrennten entgegengesetzten Seelen plaumldiert59 Auszliger demDual in 896e5 uumlberhoumlrt die Mehrheit der Interpreten hier noch etwasEntscheidendes Die der wohltaumltigen Seele entgegensetzte ist nicht eineeinfachhin und ohne Weiteres sbquoschlechte Seelersquo60 sondern die Seele raquodieimstande ist das Gegenteil zu bewirkenlaquo Genau in diesem Punkt uumlber-schneiden sich die allgemeine Seelenlehre nach der die Seele qua SeeleSelbstbewegung ist und als solche gut oder schlecht sein kann und diespezielle Lehre uumlber die kosmische Seele die ebenfalls qua Seele in derLage ist gut oder schlecht zu sein Deswegen sollten wir die Rede vonδύναμις in unserer Uumlbersetzung von sbquoτἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαιlsquo(Lg 896e6)61 nicht vernachlaumlssigen Die sbquoschlechte Seelelsquo wird nicht alseine bloszlige Privation der guten Seele eingefuumlhrt sondern als mit ihrereigenen Macht (δύναμις) ausgestattet Schlechtes zu bewirken62 als einenegative und destruktive Macht63

Wir sind dabei weit enfernt δύνασθαι mit einer aristotelischen sbquoerstenMoumlglichkeitlsquo zu identifizieren um die Ausscheidung einer schlechten

59 raquoDie Sprache hat die Dualform geschaffen nicht etwa um den Begriff derZahl zwei sondern um den Begriff der Zweiheit der paarweisenZusammengehoumlrigkeit auszudruumlckenlaquo (Wilhelm von Humboldt Uumlber denDualis Berlin 1828 S 18) Erst nach Platon als das Sprachgefuumlhl fuumlr die eigent-liche Bedeutung der Sprachformen an Lebendigkeit nachlieszlig bedeutete der Dualnicht selten den bloszligen Begriff sbquozweilsquo wobei die wahre und urspruumlngliche Naturdes Duals sich darin zeigt dass er entweder auf paarweise in der Natur verbun-dene Gegenstaumlnde angewendet wird oder auf solche welche in einer engen undgegenseitigen Beziehung gedacht werden (vgl Kuumlhner Raphael und FriedrichBlass Ausfuumlhrliche Grammatik der griechischen Sprache Zweiter Teil Satz-lehre Erster Teil Darmstadt 31966 S 69

60 Er spricht nur spaumlter von einer sbquoschlechten Seelersquo (897d1 vgl 898c4f)

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Weltseele schon in den oberen Zeilen zu finden Nach dieser Lektuumlrewaumlre die zweite Art von Seele nur imstande Schlechtes durchzufuumlhrenaber wuumlrde nicht tatsaumlchlich so etwas tun Waumlre das der Fall warumsollte der Athener uumlberhaupt erst zwischen zwei Arten von Seele unter-scheiden In einem Kontext wo die Staumlrke die praktische Macht sowieEffizienz und Dominanz der Seele uumlberwiegen64 ist die Option einersbquoersten Moumlglichkeitlsquo keine gelungene Annahme65 Nur in dem Fall desgoumlttlichen Demiurgen koumlnnten wir eine solche sbquoerste Moumlglichkeitlsquo an-wenden die sich nie wirklich durchsetzen wird Trotz seiner Faumlhigkeites zu tun ist der Demiurg nicht bereit die guten Mischungen aufzuloumlsenund die kosmische Ordnung zugrunde zu richten Das Konzept einesDemiurgen der faumlhig ist beides zu tun sowohl Gutes als auch Schlech-tes ist fuumlr Platon undenkbar weil Gott wesentlich gut ist66 Zu-gegebenermaszligen waumlre es zu weitreichend all das in 896e5f hineinzule-sen und die zweite Art der Seele mit dem goumlttlichen Demiurgen zuidentifizieren

61 Der δύναμις-Aspekt geht verloren bei Plutarch der stattdessen von der gutwirkenden und der entgegengesetzten Seele spricht die das Gegenteil vollbringtDe Is Et Osir 370F4-6 raquoὧν τὴν μὲν ἀγαθουργόν εἶναι τὴν δrsquo ἐναντίαν ταύτῃ καὶτῶν ἐναντίων δημιουργόνlaquo Den wichtigen Bezug auf δύναμις verpassen Jowettlsquoone the author of good and the other of the evilrsquo (The Dialogues of Plato S466) sowie Grube Platorsquos Thought lsquoone that does good and one that does evilrsquo(Platorsquos Thought S 146)

Brisson spricht von der Neutralitaumlt der Seele die faumlhig ist gut oder schlecht zusein (Vernunft Natur und Gesetz im zehnten Buch von Platons Gesetzen InHavlicek Ales (Hrsg) The Republic and the Laws of Plato Proceedings of theFirst Symposium Plato Symposium Platonicum Pragense 1 (1997) S 182-200Hier S189) ohne diese Textstelle heranzuziehen

62 Das Verb ist sbquoἐξεργάζεσθαιlsquo das nicht nur das Schlechte bewirken sondern esauch vollenden heiszligt (vgl ἔργον sowohl in als auch in ἐξεργάζεσθαι)

63 Vgl Dillons allgemeine Folgerung uumlber das ontologische Problem desSchlechten bei Platon (Monist and Dualist Tendencies S 11) Der Fall einerschlechten Seele die nicht als Privation der guten Seele vorkommt sondern alsraquofaumlhig Schlechtes zu vollendenlaquo unterstuumltzt Dillons Konklusion dass diesbquoschlechte Seelelsquo eine negative zerstoumlrende Macht sei

64 Vgl die Charakterisierung der Seele in 894d1f 895b665 Dank der Beobachtung von David Sedley wurde es mir klar dass ich

unabsichtlich eine aristotelsiche sbquoerste Potenzialitaumltlsquo in einer fruumlheren Versionvorgeschlagen hatte

66 Vgl oben Fuszlignote 7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 25

Bevor wir zur allgemeinen platonischen Psychologie uumlbergehen er-waumlgen wir eine zweite moumlgliche Unterscheidung der Seele in 896e4-6Bis jetzt habe ich die Distinktion zwischen guter und schlechter Seele alsselbstverstaumlndlich betrachtet Eine vorsichtigere Lektuumlre ermoumlglicht einezweite Option naumlmlich die Unterscheidung zwischen derwohlwollenden Seele die immer das Gute vollendet und derjenigen diefaumlhig ist entgegengesetzte Dinge (Plural) durchzufuumlhren sowohl Gutesals auch Schlechtes (τῆς τἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαι) Die ersteSeele kann keine andere als die goumlttliche sein67 Fuumlr die zweite Seele istder einzige Kandidat die menschliche Seele Auszligerdem wuumlrde die Seeleder Tiere unter die Seele fallen die sowohl Gutes als auch Schlechtestun kann weil sie einen logischen Teil beinhaltet auch wenn deformiertDas Goumlttliche ist immer gut Die Pflanzen moumlgen gut sein insofern siein eine globale Teleologie integriert sind Sie wuumlrden aber nie als faumlhigcharakterisiert etwas Gutes oder noch weniger etwas Schlechtes zutun noch wuumlrden sie die Verantwortung fuumlr die herbeigefuumlhrten gutenoder schlechten Wirkungen tragen Wenn diese Lektuumlre als die einzigemoumlgliche aufgewiesen werden koumlnnte wuumlrden wir mit Sicherheit dieFrage nach der schlechten Seele auf spaumlter verschieben68

Wie es auch sein mag befinden wir uns noch im Rahmen derallgemeinen Lehre der Seele qua Seele als Selbstbewegung Die kosmi-sche Seele ist in 896e1f aufgetaucht aber die Unterscheidung zwischender guten und der schlechten Seele oder der goumlttlichen und men-schlichen Seele wird auf einer allgemeinen Ebene gezogen69 Obgleichder Athener nicht die theorethischen Anspruumlche des Sophistes erhebtsetzt er die allgemeine platonische Ontologie voraus dergemaumlszlig dasSeiende qua Seiendes δύναμις sei Das Kriterium fuumlr alles was Seiendesist sei es Intelligibles oder Koumlrperliches Koumlrper oder Seele ist das Ver-moumlgen zu tun oder zu leiden70 Die Erforschung der Seele als Seiendesverlangt daher die Frage nach ihrer Kraft und ihrem Vermoumlgen (Lg892a2f) Der Gast aus Athen bezieht sich stets auf die δύναμις-Ontolo-

67 Der Athener kann noch nicht die gute Seele als goumlttlich charakterisierenDas Argument hat noch nicht die Goumlttlichkeit der Seele bewiesen

68 Der kreative Charakter der Dialektik ermoumlglicht mehr als eine richtige Ein-teilung Zu diesem Aspekt s Plt 286d-e und Delcomminettes Monographie

69 Anders als Taylor der den Uumlbergang von 896e2 zu e4 durch die Praumlmisseder Aktualitaumlt des Guten und Schlechten in der gegenwaumlrtigen Welt verhilft (TheLaws S 289 Anm 1) sehe ich keinen Eintritt eines a posteriori Arguments adhoc Alles bisherige entnimmt der Athener der allgemeinen Seelenlehre

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gie des Phaidros sowie des Sophistes Er stellt die Frage was die Seele istund was fuumlr ein Vermoumlgen sie hat οἷόν τε ὂν τυγχάνει καὶ δύναμιν ἣνἔχει71

Obwohl die Frage nach dem Tun (ποιεῖν) oder Leiden (πάσχειν) derSeele als δύναμις nicht explizit gestellt wird72 bringt ihre Definition alsSelbstbewegung ein gleichzeitiges Tun (als Bewegen) und Leiden (alsBewegtwerden) zum Ausdruck73 Die Seele ist die Kraft die sich selbstund anderes bewegt74 Die Definition der Seele als Selbstbewegung kannentweder als Aktivitaumlt oder Passivitaumlt ausgedruumlckt werden Die Seele be-wegt sich selbst und wird von sich selbst bewegt Ein gleichzeitiges Tunund Leiden das aber nicht das gleiche Seiende verursacht geschieht beikoumlrperlicher Bewegung Ein Koumlrper mag auf einen anderen Koumlrper wir-ken und zu gleicher Zeit kann er von einer Seele oder einem anderenKoumlrper bewegt werden aber nicht von sich selbst75

Platon gibt die Definition der Seele in ihrer Allgemeinheit d hunabhaumlngig von ihren moumlglichen Manifestationen in konkretenLebewesen Alles was Seele ist soll Selbstbewegung sein mag es sichum die Seele des Menschen oder des Tieres oder der Pflanze handelnWeil die individuellen Manifestationen der Seele nicht beruumlcksichtigtwerden fehlt bei der Formel der Definition τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴνκινεῖν κίνησιν (896a1f) auch der Bezug auf den Koumlrper den die jeweiligekonkrete Seele beseelt Im Falle der Absenz der Materie in einer Defini-

70 Der Vorschlag des Gastes aus Elea in Sph 247d-e wird nicht allgemein alsPlatons Vorschlag uumlber Ontologie gedeutet Sehr haumlufig beschraumlnken Exegetendas Seiende als δύναμις auf die ad loc Argumentation gegen die MaterialistenAuch wenn dieses Argument als Platons Argument charakterisiert wird bleibtes sehr umstritten ob es eine allgemeine Ontologie betrifft (Brown) oder in eineOntologie der Ideen einmuumlndet (Gerson Politis) Darauf gehe ich hier nicht ein

71 Lg 892a3 vgl Lg 894b8-c1 und 896a1f72 Der Athener bezieht sich auf Tun und Leiden nur in 894c5f und meint

wahrscheinlich sowohl Seelisches als auch Koumlrperliches mit dem die Seele har-monisiert

73 In Lg 894b8-c1 und 896a1f beantwortet der Athener seine Frage nach derArt des Vermoumlgens mit dem die Seele ausgestattet ist Der gesamteZusammenhang verbindet die Frage nach dem Wesen eines Seienden mit derFrage nach seinem Vermoumlgen

74 Lg 893c4f75 Gaiser fuumlhrt den Ausgleich zwischen Passivitaumlt und Aktivitaumlt in der selbst-

bewegenden Seele auf das Zusammenwirken der zwei platonischen Prinzipienzuruumlck (Platons Ungeschriebene Lehre S 195f)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 27

tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

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Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

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tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 31

welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

32 Georgia Mouroutsou

zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

34 Georgia Mouroutsou

Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

40 Georgia Mouroutsou

werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

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abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

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ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

4 Georgia Mouroutsou

Im dritten und letzten Abschnitt werde ich mich der Aufgabewidmen eine allgemeinere Hermeneutik der Platon-Exegese zu bekraumlf-tigen Ich werde auf die Methode reflektieren die ich in den zwei erstenAbschnitten anwende Um nur einige Zeilen eines platonischen Texteszu intepretieren sollte man ndash wenn nicht eine philosophische Theorieausformulieren ndash eine ganze Geschichte erzaumlhlen die Teile von anderenDialogen und indirekte Berichte uumlber platonisches Lehren integriert6 Inder Antike haben die Platoniker diese Strategie nicht hinterfragt son-dern ohne Bedenken angewendet In der Moderne hat Schleiermacherdie kuumlnstlerische Einheit und anschlieszligende hermeneutische Abge-

5 Zellers Platon fuumlhrte die sbquoschlechte Seelelsquo ein um das Schlechte auf einenseelischen Ursprung zuruumlckzufuumlhren Die Philosophie der Griechen in ihrergeschichtlichen Entwicklung dargestellt Zweiter Teil Erste Abteilung Sokratesund die Sokratiker Plato und die alte Akademie Leipzig 18894 S 973ff Anm 4Wenn auch im Widerspruch zum platonischen System weil Platon bis zu seinenGesetzen die Materie fuumlr das Schlechte verantwortlich gemacht habe sei dieAnnahme einer schlechten Weltseele der folgerichtige Schritt in der EntwicklungPlatons Dass Entwicklungstheorien durchaus auch die Platonforschung praumlgenzeigen unter anderem Ausdrucksweisen wie lsquoPlatorsquos Final Thoughts on Evilrsquo(Mohr) oder lsquothe final version of his [Platorsquos] kineticsrsquo (Andreacute Laks The LawsIn Rowe C und M Schofield (Hrsg) Cambridge History of Greek andRoman Political Thought Cambridge 2000 S 258-292 Hier S 289) VglCarones These dass das zehnte Buch der Gesetze das letzte Wort Platons uumlberKosmologie und Theologie darstelle (Teleology and Evil S 275) Dabei wird derletzten endguumlltigen Version seit Plutarch der das zehnte Buch der Gesetze alsdie abschlieszligende und houmlchste Offenbarung Platons gepriesen hat (De Is et Os370F-371A) hermeneutische Prioritaumlt beigemessen

Herter plaumldiert unter anderen fuumlr eine elegantere und populaumlre Loumlsung einerharmonischen sbquoArbeitsteilungrsquo um einer sachlichen Dissonanz zwischen demTimaios und den Gesetzen zu entgehen Demgemaumlszlig erklaumlrt Herter dass Timaiosdie Bewegung fast ausschlieszliglich im kosmischen Bereich problematisiere unddas Schlechte weniger in der Seele als in der Materie verorte (in HerterBewegung der Materie S 339f)

Und weil es trotz harmonisierender Bereitschaft nicht immer gelingt alleDivergenzen in Platons Werk miteinander vertraumlglich zu machen heben andereInterpreten wie Hager (Die Materie und das Boumlse im antiken Platonismus InMuseum Helveticum 19 (1962) S 73-103) das Schillernde der platonischen Dar-stellung hervor und projizieren spaumltere eindeutiger formulierte Loumlsungen aus-gezeichneter antiker Platoniker zuruumlck auf Platon

6 Es eruumlbrigt sich zu sagen dass ich weit davon entfernt bin in diesem Beitragdie zweite Aufgabe zu erfuumlllen Ich stimme Burnyeat zu (The Theaetetus ofPlato Indianapolis 1990 xii-xiii) dass (der spaumltere) Platon uns herausfordert zuphilosophieren um seine Probleme zu behandeln und loumlsen

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 5

schlossenheit des jeweilig untersuchten Dialogs hervorgehoben SeineHermeneutik praumlgte sowohl die kontinentale als auch angelsaumlchsischePlaton-Forschung aus obgleich seine Methode keinen Vorgaumlnger in derAntike hatte

Trotz Schleiermachers verbreitetem Einfluss verfolgen heutige Platon-Forscher ndash wenn auch ohne weitere Reflexion ndash eine Platon-Hermeneu-tik die den Rahmen des einzelnen Dialogs uumlbergreift wenn sie Passagenaus verschiedenen Dialogen in Verbindung setzen und vergleichen Wasunsere Diskussion anbetrifft verbinden die meisten Interpreten diesbquoschlechte Seelelsquo der Gesetze mit der ungeordneten Bewegung der choraim Timaios Ich werde argumentieren dass ihr Irrtum nicht darin liegtdass sie die zwei Passagen in Verbindung setzen sondern in der Weisein der sie es tun Darum werde ich meine Rekonstruktion in groszligenZuumlgen anbieten Bei unserem Unternehmen verschiedene Passagen implatonischen Korpus zu vergleichen sollten wir gruumlndlich untersuchenwo wir als Dialektiker in dem jeweiligen Fall stehen wo genau auf demdialektischen Weg den Platon als Aufstieg vom Wahrnehmbaren zumIntelligiblen und Abstieg vom Intelligiblen zum Wahrnehmbarencharakterisiert Nur dann werden wir imstande sein wahrzunehmenaus welcher Perspektive die jeweiligen Fragen gestellt werden und wowir die relevanten Untersuchungen beginnen sollten um verschiedenePassagen zu situieren und auf erleuchtende Weise in Vergleich zuei-nander zu setzen Um der jetzigen Deutung willen werde ich die spaumltereplatonische Ontologie und Psychologie skizzieren muumlssen indem ichsie in den Aufstieg und Abstieg des Dialektikers integriere

I Einfuumlhrung Unterwegs zu einer Frage nach einer schlechten Weltseele

Dass κακὴ ψυχή im platonischen politischen Werk der mittleren Periodevorkommt bereitet den Interpreten keine Probleme weil sich diesbquoschlechte Seelersquo in R 353e4 eindeutig auf die ungerechte menschlicheSeele bezieht Jedenfalls taucht hier ein Problem auf das von Bedeutungfuumlr den Zusammenhang der Gesetze ist Politeia 379c2-7 belegt dassPlaton sich mit dem Problem des Ursprungs des Schlechten befassteDurch eine Kritik der traditionellen Dichtung erklaumlrt der platonischeSokrates dass Gott das Prinzip und der Ursprung ausschlieszliglich desGuten sein kann Die schlechten Geschehnisse sollten auf einen anderen

6 Georgia Mouroutsou

Ursprung oder andere Urspruumlnge zuruumlckgefuumlhrt werden Dafuumlr schlaumlgtSokrates leider keine Kandidaten vor

raquoAlso Gott weil er ja gut ist kann nicht Ursache von allem sein wieviele Menschen sagen sondern er ist zwar die Ursache von Wenigem beiden Menschen an Vielem aber unschuldig Denn es gibt weit wenigerGutes als Boumlses bei uns und fuumlr das Gute darf man keinen anderen ver-antwortlich machen man muszlig aber gewisse andere Ursachen vom Bouml-sen aufsuchen nur nicht Gottlaquo

Diese Passage erwaumlhnt keine schlechte Weltseele noch weist sie auf siehin Hier geht es um das Problem des Schlechten in seiner aumluszligerstenAllgemeinheit und nicht in seiner kosmischen Dimension Ich ziehe zuBeginn diese Passage heran weil sie beweist dass die Frage nach demUrsprung des Schlechten genuin platonisch ist Dieses Problem findethaumlufig die Forschung im Kontext der Gesetze wieder was nicht gerecht-fertigt ist Darauf ist noch im zweiten Abschnitt zu kommen

Im ontologischen Herzstuumlck des Philebos (23b-27c) fuumlhrt Sokrates dasvierfache Gefuumlge alles Seienden ein Nach der Auszeichnung desgemischten Lebens mit dem ersten Preis muss noch entschieden werdenwelcher Platz der Vernunft beizumessen ist Jede Erscheinung der Naturoder Kunst die als gute Mischung charakterisiert werden kann entstehtaus der Begrenzung des jeweiligen Unbegrenzten durch die VernunftNach der sokratischen Einleitung fragt Protarchos in 23d9f

raquoWirst du nicht noch eine fuumlnfte [Gattung] haben muumlssen die dieTrennung der guten Mischung bewirken kannlaquo

Sokrates erwidert dem Protarchos zoumlgerndraquoJa vielleicht aber ich glaube fuumlr jetzt noch nicht Sollte es aber noumltig

werden so wirst du mich wohl entschuldigen wenn ich noch einerfuumlnften [Gattung] nachgehelaquo (23d11-e1)

Wie jeder guter Dramatiker ist auch Platon nicht ausschlieszliglich in demfuumlhrenden Gespraumlchspartner sondern in allen seinen fiktiven Personenwiederzufinden einschlieszliglich des Protarchos im Philebos und desKleinias in den Gesetzen Daher ist Protarchosrsquo Frage entsprechenderAufmerksamkeit und Uumlberlegung wuumlrdig Zunaumlchst fragt Protarchosnach dem Schlechten weil sich jemand als schlecht erweist wenn er dasgut Zusammengefuumlgte aufloumlsen will7 Dann laumluft die sokratische Dar-stellung in diesem Kontext (ab 28d5ff) auf die platonische Kosmologiehinaus Die Vernunft faumlllt unter die vierte Gattung der Ursache weil daskosmische Ganze durch Vernunft geschaffen geordnet und durchwaltet

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 7

wird Sokrates unterstreicht eine Analogie zwischen Koumlrper und Seeledes Menschen einerseits und Koumlrper und Seele der Welt andererseitsAuf die Letztere weisen Zeusrsquo koumlnigliche Seele und Vernunft hin (30d1-4) In diesem kosmologischen Kontext ist es nicht abwegig den oben zi-tierten Vorschlag des Protarchos als eine Frage nach der Moumlglichkeiteiner schlechten kosmischen Seele zu deuten die die Zerstoumlrung derguten Mischung im All verursachen koumlnnte

Im Philebos kommt es dennoch nicht zur Einfuumlhrung einer fuumlnftenGattung und noch weniger zu Uumlberlegungen bezuumlglich ihrer Natur DieMischung des menschlichen Lebens ist nicht vorgegeben sondern bleibteine stets aufs Neue zu erfuumlllende Aufgabe Die immerwaumlhrend praumlsenteMoumlglichkeit des Misslingens ist darauf zuruumlckzufuumlhren dass dasUnbegrenzte nie voumlllig begrenzt werden kann jedenfalls nicht wenn esum Menschen geht Es bleibt stets als solches bewahrt und soll diesauch8

Vergegenwaumlrtigen wir uns also Erstens gehoumlrt die allgemeine Fragenach dem Ursprung des Schlechten durch und durch zum platonischenAnsatz Zweitens erweckt Platon den Eindruck die Frage nach demSchlechten auf der kosmischen Ebene zu stellen Die folgende Analysewird beweisen dass der Athener keine allgemeine Frage nach demSchlechten uumlberhaupt im Kontext der Gesetze stellt Auszligerdem bietet erdort eine negative Antwort auf die Frage nach einer schlechten Welt-seele

II Nomoi X Die Einfuumlhrung einer sbquoschlechten Seelersquo vor dem Hinter-grund des Leib-Seele-Dualismus

i Die Agenda und die Methode des Atheners

7 Ti 41a8-b2 Derjenige der etwas zusammenbindet ist auch der einzige deres wieder aufzuloumlsen vermag (vgl Ti 32c2-4) Obgleich nur der Demiurg der-jenige ist der sein Produkt vernichten kann zerstoumlrt er nicht die guten kosmi-schen Mischungen In diesem Fall waumlre er schlecht und wuumlrde seinerGoumlttlichkeit widersprechen

8 Im Gegensatz zu August Diegravesrsquo Redeweise von sbquoplaisanterie vouluelsquo (PlatonŒuvres Complegravetes Tome IX2 Philegravebe Paris 1959 Einleitung xxvi) wurde dieVerbindung der fuumlnften Gattung des Philebos mit der sbquoschlechten Seelersquo derNomoi schon von Heinze aufgezeigt (S 25-29)

8 Georgia Mouroutsou

Kleinias zeichnet den sehr umfangreichen einleitenden Teil des zehntenBuches der Gesetze (885b-907d) als raquodie schoumlnste und beste Praumlambelaller Gesetzelaquo aus (887b8-c2) und besteht wiederholt auf einer angemes-senen Verlaumlngerung dieser Einleitung9 Die Aufgabe eines gesetzlichenVorgehens gegen die Asebie wird erst im letzten Teil des Buches erfuumlllt10

Der Athener versucht in seiner Vorrede die drei Arten des Gottesfre-vels11 auf ihre Ursachen zuruumlckzufuumlhren bevor er von der Uumlber-zeugungskraft der Rede zur Strenge der entsprechenden Strafen uumlber-geht12 die der Gesetzgeber des zu gruumlndenden Staates aufunveraumlnderliche ndash da schriftliche ndash Weise festlegen wird Nach der erstenAuffassung wird die Existenz der Goumltter geleugnet Gemaumlszlig der zweitenkuumlmmern sich die Goumltter nicht um die menschlichen AngelegenheitenDie dritte zu widerlegende Meinung laumlsst sich folgendermaszligen formu-lieren Die sich um die Menschen kuumlmmernden Goumltter koumlnnen mittelsGebet und Opfer beeinflusst und umgestimmt werden Wie sich leichterahnen laumlsst erregt die Erforschung der Ursache der ersten Form vonGottlosigkeit im Rahmen der Argumentation gegen die Asebie diegroumlszligte Aufmerksamkeit13

Das zehnte Buch gilt seit der Antike als der philosophisch anspruchs-vollste Teil der Gesetze obwohl man die heikle Argumentationaufgrund der Zirkularitaumlt und der Subjektabhaumlngigkeit des Beweis-ganges immer wieder verworfen hat14 Der Charakter der beabsichtigtenUumlberzeugung in allen Einleitungen bleibt in der Forschung weiter um-stritten wobei den Zankapfel die Frage bildet inwiefern die Uumlber-

9 Lg 887b1-c4 890e4-891a710 Lg 907d4 bis 910d411 Die unvernuumlnftige Meinung (δόξα 888b7 c2 903a4 νόητος δόξα 891c7)

oder der (leidende) Zustand ( 885b6 πάθος 888c4 900b3 908c5) des Fre-vels wider die Goumltter werden als Abweichung (διαφορά 886a9) und alsKrankheit (νόσος 888b8) gekennzeichnet

12 Tί χρὴ πάσχειν (885b1f) (885b3f) Es werden die Ursachen einesbestimmten Uumlbels und nicht des Schlechten uumlberhaupt erforscht naumlmlich derwegen Asebie veruumlbten Missetaten Darauf bezieht sich κακά in 884a5 undkakvn 886d3 Als moralisch schlecht gelten die Gottlosen die die Gesetze inBezug auf die wichtigsten Dinge zugrunde richten (891b4-6 vgl 886a6)

13 Die Widerlegung der ersten Auffassung geht bis 899d4 Anschlieszligend wehrtsich der Athener gegen die zweite verfehlte Meinung bis 903a9 mit Hilfe vonArgumenten und mit dem Nachtrag des Mythos bis 905d3 Die Behandlung derdritten Abweichung folgt bis 907b4

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 9

zeugung sich mit rationalen oder irrationalen Mitteln vollzieht15 Einerationale Fundierung darf keinesfalls mit einer raquodurchgehend philoso-phische[n] Begruumlndunglaquo identifiziert16 sondern muss als eine Annauml-herung an die philosophische Argumentation verstanden werden17 Beider Widerlegung der ersten Uumlberzeugung der Gottlosen zielt derAthener nicht auf die Bezauberung seiner Gegner18 sondern wendeteine rationale Argumentation an Er druumlckt das Zusammenspiel von ra-tionaler und irrationaler Vorgehensweise am praumlgnantesten aus wenn erseine Zielsetzung folgendermaszligen formuliert

raquoDenn zoumlge sich wohl die Rede nicht wenig in die Laumlnge falls wireinerseits mit hinreichenden Argumenten gegenuumlber denjenigen diegottlos zu sein wuumlnschen das bewiesen woruumlber geredet werden musswie sie sagten falls wir andererseits unseren Anklaumlger in Furcht ver-

14 Auf eine exemplarische Weise hat Stalley die Argumentation als misslungendargelegt (An Introduction besonders S 169-172) Was die Zirkularitaumlt betrifftwill der Athener die Existenz der Goumltter beweisen die er dennoch voraussetztwenn er sie zur Hilfe ruft (Lg 893b1-4) s unter vielen anderen John ClearyThe Role of Theology in Platorsquos Laws In Lisi F L (Hrsg) Platorsquos Laws and ItsHistorical Significance Selected Papers of the International Congress onAncient Thought Salamanca 1998 S 125-140 Hier S 130 Auf derSubjektabhaumlngigkeit des dialektischen Vorgehens basiert die InterpretationSteiners (Platon Nomoi X) noch entschiedener ist Christian Pietsch Die Dihai-resis der Bewegung in Platon Nomoi X Rheinisches Museum fuumlr Philologie146 (2003) S 303-327 hier 319ff

15 Die Diskussion zwischen Christopher Bobonitch (Persuasion Compulsionand Freedom in Platorsquos Laws In Classical Quarterly 41 (1992) S 234-250) undStalley (Persuasion in Platorsquos Laws In History of Political Thought 15 (1994) S157-177) hat dieses Problem neuerdings zur Sprache gebracht Die rationaleUumlberzeugung muss rationale und irrationale Mittel kombinieren weil der zuUumlberzeugende (wenn auch nur Spuren von) Rationalitaumlt mitbringt aber zugleichgegen die Vernunft Widerstand leistet Stalley der die Praumlambel fuumlr lsquorathercoventional sermonsrsquo haumllt (An Introduction S 43) raumlumt eine Ausnahme fuumlrdas zehnte Buch ein (Persuasion S173f)

16 Pace Stalley Persuasion S 16717 Der wahrhaftige Gesetzgeber soll die Aufgabe erfuumlllen den Gesetzeswidri-

gen mithilfe beinahe philosophischer Argumente (καὶ τοῦ φιλοσοφεῖν ἐγγὺςχρώμενον μὲν τοῖς λόγοις 857d2) nicht nur zu heilen sondern auch zu erziehen(vgl Lg 857e3-6)

18 Einen verzaubernden Mythos nimmt der athener Gast erst bei seinerWiderlegung der goumlttlichen Sorglosigkeit gegenuumlber dem Menschlichen inAnspruch (Lg 903a10-905d3)

10 Georgia Mouroutsou

setzten und nachdem wir in ihnen Abscheu uumlber diese Missetaten erregthaumltten wir erst nachher die Gesetze aufstellten wie es sich gebuumlhrtlaquo19

ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platoni-sche Theorie der Bewegung

Kurz vor der Einfuumlhrung der schlechten Seele bezieht sich der Athenerexplizit auf den in 893b1-896b9 demonstrierten Vorrang der Seele uumlberden Koumlrper

raquoDenn wir duumlrften wohl richtig und vollguumlltig wahrhaftig undvollkommen gesagt haben dass fuumlr uns die Seele fruumlher entstand als derKoumlrper der Koumlrper aber an zweiter Stelle und spaumlter und beherrschtgemaumlszlig der Natur waumlhrend dagegen die Seele herrschtlaquo20

Platon gelingt es aus den Goumltterfrevlern ganz unterschiedlicherHerkunft ndash es sind Naturwissenschaftler Sophisten und Dichter darun-ter ndash einen einheitlichen Typus zu entwerfen der eine Prioritaumlt des Koumlr-pers ja noch mehr eine Derivation des Seelischen aus dem Koumlrperlichenvertritt21 Letztendlich plaumldiert er fuumlr einen materialistischen Reduktio-nismus der Form sbquoalles ist Koumlrperlsquo Eine Kosmogonie unterliegt seinerAuffassung gemaumlszlig der die Seele nach dem Koumlrper geschafft worden istDer Seele wird sowohl kausale als auch zeitliche Prioritaumlt zugesprochen

Nicht nur die Seele sondern alles was mit der Seele verbunden ist ndasheinschlieszliglich des Gesetzes und der Goumltter ndash werden nach dieser

19 Lg 887a3-8 raquoοὐ γάρ τι βραχὺς ὁ λόγος ἐκταθεὶς ἂν γίγνοιτο εἰ τοῖσινἐπιθυμοῦσιν ἀσεβεῖν τὰ μὲν ἀποδείξαιμεν μετρίως τοῖς λόγοις ὧν ἔφραζον δεῖν πέριλέγειν τὸν δὲ εἰς φόβον τρέψαιμεν τὰ δὲ δυσχεραίνειν ποιήσαντες ὅσα πρέπει μετὰταῦτα ἤδη νομοθετοῖμενlaquo Durch den Singular (887a6 τὸν δέ) bezieht sich derAthener auf denjenigen der die Anklage gegen die Glaumlubigen einbringt(886e8f)

20 Lg 896b10-c3 raquoὈρθῶς ἄρα καὶ κυρίως ἀληθέστατά τε καὶ τελεώταταεἰρηκότες ἂν εἶμεν ψυχὴν μὲν προτέραν γεγονέναι σώματος ἡμῖν σῶμα δὲδεύτερόν τε καὶ ὕστερον ψυχῆς ἀρχούσης ἀρχόμενον κατὰ φύσινlaquo

21 Es handelt sich um ein lsquoamalgam of several views rather than a single clear-cut doctrinersquo (Saunders Plato The Laws S 408) Glenn Morrow spricht vonlsquobody of ideasrsquo (The Cretan City Princeton 1960 S 480) Robert Muth nochtreffender von einer sbquomaterialistische[n] philosophische[n] κοινήlsquo der damaligenattischen Aufklaumlrungsbewegung (Studien zu Platons sbquoNomoirsquo X 885b2-899d3In Wiener Studien 69 (1956) S 140-153 Hier S 146)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 11

Auffassung als abgeleitet herabgesetzt Als abbildende Setzungenkoumlnnen sie die abgebildete Natur und Wahrheit nur verfehlen

raquo[hellip] er scheint Feuer und Wasser und Erde und Luft fuumlr das Erstevon allem zu halten und diese Dinge als sbquoNaturrsquo zu bezeichnen dieSeele aber fuumlr ein Spaumlteres aus diesen [Entstandenes]laquo22

Nun stellt der Athener seine Bewegungslehre dar mit der Absicht diePrioritaumlt der Seele zu beweisen23 Nach den sbquoPhilosophierendenlsquo24 lassensich die oumlrtlichen Bewegungen in sechs Arten unterteilen (1) Rotation(2) gleitende Bewegung (3) rollende Bewegung (4) Wachstum (5)Schwund (6) Zugrundegehen Dabei faumlllt das ontologische Werden (7)und Vergehen (8) als ein ausgezeichnetes Paar heraus da es ur-spruumlnglicher ist als die bisher entfalteten oumlrtlichen Bewegungsarten25

Die entscheidende Zweiteilung jedoch kommt erst am Ende der Auf-zaumlhlung zur Sprache Danach gibt es einerseits die koumlrperliche Be-wegung die als Fremdbewegung bestimmt wird (9) andererseits die alsSelbstbewegung definierte seelische Bewegung (10)26 Der Athener ver-steht den Namen sbquoSeelelsquo als den Namen dessen Definition sbquoSelbst-Be-wegunglsquo (895e10-896a2) erst nach der methodologischen Unter-scheidung zwischen dem Wesen und dessen Namen erfolgt (895d1-e9)Nach dieser Distinktion charakterisiert er die zweite Bewegung als sbquokoumlr-perlichlsquo (896b4-8) sbquoKoumlrperlsquo ist der Name dessen Definition dieFremdbewegung ist (896b10-c3)

Erst gemaumlszlig dieser Einteilung koumlnnen alle bereits aufgezaumlhltenraumlumlichen Bewegungsarten als seelisch oder koumlrperlich verstandenwerden Anders als Pietsch27 finde ich keinen Textbeleg nach dem dieSelbstbewegung im Gegensatz zu den raumlumlichen Arten der Fremdbe-wegung unraumlumlich sein soll Pietsch argumentiert dass das ganze dihai-

22 Lg 891c1-4 Eine aumlhnliche sbquoAll-Thesersquo vertreten die materialistisch ver-anlagten Ontologen im Rahmen der sbquoRiesenschlachtlsquo im Sophistes bevor ihnender Gast aus Elea durch seinen δύναμις-Vorschlag zur Hilfe kommt ImGegensatz zu den Ideenfreunden die schon mit der Unterscheidung zwischenSein und Werden auftreten macht nach den Materialisten ausschlieszliglich derKoumlrper das Sein aus (Sph 246b1)

23 Auf diese Weise begruumlndet der Gast alle vorgebrachten Auflistungen derGuumlter nach denen der Vorrang immer seelischen und nicht koumlrperlichen Guumlternbeigemessen wurde Vgl Lg 631b-c 661a ff 688a-b 697a-c 726a-729a 743e

24 So werden die Vertreter der Prioritaumlt der Seele ausgezeichnet Lg 967c8 (diezweite und letzte Erwaumlhnung von Philosophie in den Gesetzen auszliger in Lg857d2)

12 Georgia Mouroutsou

retische Stemma sbquonur raumlumliche Bewegungsartenlsquo bieten kann weil derAthener von der Physik des Gegners ausgeht28 Platon offenbart jedochein Stuumlck von seiner eigenen Philosophie immer dann wenn er seinesbquoGegnerrsquo verbessert seien es die Herakliteer im Theaitetos die Materia-listen des Sophistes oder diejenigen der Gesetze Das Platonische derRaumlumlichkeit der seelischen Bewegung erklaumlrt auszligerdem Timaios fuumlrguumlltig der der Weltseele raumlumliche Bewegung beimisst Zur Bekraumlf-tigung dient daruumlber hinaus die aristotelische Kritik am platonischenVerstaumlndnis der Selbstbewegung als raumlumlicher Bewegung (de an I3)

Dass der Bewegung in der spaumlteren platonischen Philosophie einegrundlegende Rolle zukommt zeigen neben dem Timaios die DialogeSophistes und der Theaitetos Im Sophistes wird das ausgezeichnete so-wohl bewegte als auch im Stillstand befindliche Sein der Idee qua Ideebehandelt Im Theaitetos werden heraklitische Allbewegungs-Modelleim Bereich der Wahrnehmung kritisiert Im Timaios wird die Bewegungin ihrer ganzen kosmologischen Tragweite ausgelotet In dem letztenDialog zeigt Platon seine Aneignung und Transformation des Herakli-

25 Gemaumlszlig der Aufzaumlhlung Konrad Gaisers (Platons Ungeschriebene LehreStuttgart 19983 S 176f) und ohne Besprechung der immensen einzelnen Pro-bleme Die ontologische γένεσις uumlber die Linie und Flaumlche bis hin zumdreidimensionalen Koumlrper (894a2-5) gilt als noch urspruumlnglicher als die vorhererwaumlhnten raumlumlichen Bewegungsarten (893c1f) Dieser Primat unterscheidetsich von Aristotelesrsquo Auffassung wie die Kritik des Stagiriten belegt (GC I2315a29ff) Der Bewegungskatalog ist von grundlegender Bedeutung fuumlr das Ver-staumlndnis der Prioritaumlt der Seele Hier begnuumlge ich mich mit der Hervorhebungder Beitraumlge von Gaiser und Solmsen (Aristotlersquos System of the Physical WorldA Comparison With His Predecessors New York 1960) Gaiser hat den sys-tematischen Charakter der Aufzaumlhlung der Bewegungsarten in Verbindung zuder indirekten Uumlberlieferung ausgearbeitet (Platons Ungeschriebene Lehre S173-186) Man folgt oft seiner Interpretation der besonders dunklen Stelle Lg894a1-8 und zwar mit oder ohne explizite Erwaumlhnung seines Beitrags zum Bei-spiel Pietsch C Die Dihairesis der Bewegung hier S 316 Anm 45 SchoumlpsdauK Platon Werke in Acht Baumlnden Griechisch und Deutsch Achter Band Zwei-ter Teil Platon Gesetze Buch VII-XII Minos Darmstadt 20054 S 291 Anm 26Mayhew R Plato Laws X Oxford 2008 S 112ff Solmsen (Aristotlersquos System)bietet seinerseits eine sehr ausgewogene Hermeneutik der platonischen undaristotelischen Bewegungslehre an die gegenuumlber der neueren oft hinter ihrzuruumlckbleibenden Forschung noch immer als exemplarisch gelten sollte

26 Lg 894b8-c1 894c3-827 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 304 und oumlfters28 Ebd S 320

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 13

tismus im Bereich der Ontologie des Wahrnehmbaren auf (48eff) des-sen Ausarbeitung nach wie vor eine Aufgabe fuumlr die Platon-Forschungdarstellt

Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich dass sbquoKoumlrperrsquo undsbquoSeelersquo als verschiedene Arten von Bewegung aufgefasst werden Hiersehe ich keine Verwirrung bei Platon zwischen einer Bewegungsart(Selbstbewegung) und der Seele als unabhaumlngiger Substanz Anders alsRichard Stalley29 verstehe ich sowohl die Selbstbewegung als auch dieSeele qua Seele als auf einen Koumlrper bezogen wenn auch unabhaumlngigvom jeweiligen Koumlrper gedacht und definiert Sogar die schlechte Welt-seele bliebe somit bezogen auf den Weltkoumlrper waumlre sie real

iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer an-tiken Auffassung

Halten wir inne Der Seele wird eine Art Prioritaumlt beigemessen die sichauf die in ihrer Definition widergespiegelte Natur als Selbstbewegungstuumltzt Als solche zeigt sich die Seele qua Seele und unabhaumlngig von allihren konkreten Manifestationen als aumllter wirksamer und maumlchtiger un-ter allen Bewegungen Und nicht nur dies Sie zeigt sich auch als dieeigentliche Bewegung und Veraumlnderung alles anderen Seienden30 Wirbefinden uns also im Rahmen der Problematik des Leib-Seele-Dualis-mus der neben dem Dualismus von Idee und Erscheinung der alssbquoZwei-Welten-Lehrelsquo beruumlhmt bzw beruumlchtigt wurde sowie dem in derAntike und Moderne debattierten Dualismus der zwei platonischenPrinzipien weitlaumlufig Karriere in der Geschichte des Platonismusgemacht hat31

29 Stalley An Introduction to Platorsquos Laws Oxford 1983 S 171f30 Lg 894c6f31 Die Tatsache dass hier die zwei letzteren Arten von Dualismus nicht vor-

kommen bedeutet keinesfalls dass der alte resignierte Platon seine Ideen- oderPrinzipienlehre aufgegeben habe (so Muumlller Gerhard Studien zu den Platoni-schen Nomoi Muumlnchen 1951 19682 aumlhnlich Rist Eros and Psyche S 87ff)Auf die platonische Ideenlehre weist der Gast als auf einen wesentlichen Teil derErziehung der sbquonaumlchtlichen Versammlungrsquo hin (Lg 965b-966b) Hier sei dieschwierigere Frage dahingestellt inwieweit die angedeutete Lehre der klassi-schen Ideenlehre der mittleren Dialoge entspricht

14 Georgia Mouroutsou

Platon problematisiert den Leib-Seele Dualismus nicht nur aufgrundder allgemeinen Frage nach sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo sondern auch weil erauf der moumlglichen Interaktion zwischen der intelligiblen Seele (derSonne) und ihrem wahrnehmbaren Koumlrper reflektiert (in Lg 898e8-899a4)32 Obgleich wir nicht viel Positives uumlber die platonische Auffas-sung der Art der Beziehung zwischen Koumlrper und Seele aussagenkoumlnnen sind wir damit doch imstande auf entschiedene Weise einigesauszuschlieszligen Wir werden mit dem Materialismus und dem Mentalis-mus anfangen die mit weniger Muumlhe abgelehnt werden koumlnnen als derso charakterisierte sbquorobuster Dualismuslsquo dem wir uns anschlieszligendwidmen

Die These des Materialismus wonach das Seelische auf Koumlrperlicheszuruumlckzufuumlhren sei gewinnt nicht die Oberhand in diesem KontextDie Materialisten bleiben die Gegner des Atheners durch das ganze Ar-gument hindurch Noch modifizierte Materialisten finden einen Belegfuumlr ihre These dass das Seelische unsichtbares Koumlrperliches sei Neu-erdings hat Gabriela Carone diese Auffassung des sbquomodifizierten Mate-rialismuslsquo als genuin platonisch vertreten33 was eine gerechtfertigteReaktion von Francesco Fronterotta hervorgerufen hat34 Bei ihrem Ver-such die Materialitaumlt der Seele aufzuweisen begeht Carone einengrundsaumltzlichen Fehler Sie geht ohne jede Argumentation von der Moumlg-lichkeit eines unsichtbaren Koumlrpers zu einem Verstaumlndnis der Seele alskoumlrperlich uumlber35 Die Ausdehnung sei (nach Platon) wesentliche Eigen-schaft des Koumlrperlichen Weil sie raumlumlich ist muumlsste die Seele daher ir-gendeine Art koumlrperlicher Natur besitzen Carone gibt zu lsquoOf course

32 Die Stelle charakterisiert Thomas Robinson als lsquoa splendid memorial to his[Platorsquos] intellectual honestyrsquo (The Defining Features of Mind-Body Dualism inthe Writings of Plato In John Wright und Paul Potter (Hrsg) Psyche andSoma Physicians and Metaphysicians on the Mind-Body Problem From Antiq-uity to Enlightenment S 37-55 Hier S 55) lsquoTo the end he is wrestling with theproblem that lies at the heart of all psycho-physical dualism the problem ofrelating a physical substance to an immaterial one and to the end he openlyadmits his bafflementrsquo (ebd)

33 Carone Gabriela Mind and Body in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichteder Philosophie 87 (2005) S 227-269 Hier S 256f

34 Fronterotta schmaumllert gewisse Staumlrken des Argumentes von Carone undbringt daher die platonische Methode der sbquoVerbesserungrsquo des Gegners in diesemFall der Materialisten nicht zur Anwendung (Fronterotta Fransesco Carone onthe Mind-Body Problem in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichte der Philoso-phie 89 (2007) S 231-236)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 15

there is still a gap to be filled between spatial extension and corporeal-ityrsquo36 Trotz ihres Zugestaumlndnisses fuumlllt Carone diese Luumlcke leider nichtund offenbart auf diese Weise ihre nicht hinterfragte (oder bei Platonnicht bewaumlhrte) Cartesianische Praumlmisse37

Noch belegt unser Zusammenhang das andere Extrem einer ArtMentalismus nach dem das Koumlrperliche vom Seelischen ableitbar istSowohl die Darstellung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper alszwischen Ganzem und Teil (Chrm 156dff) als auch die oumlrtliche Meta-pher der den Koumlrper umhuumlllenden Seele (Ti 36e3f und Lg 898d11-e238)eroumlffnen dennoch den Raum fuumlr eine solche Auffassung Dennoch un-terstuumltzt der Kontext in den Gesetzen nicht diese Auffassung Anders alsder materialistisch gepraumlgte Typus vertreten die sbquoPhilosophierendenlsquokeine reduktionistische These was nicht nur den Materialismus sondernauch den Mentalismus ausschliesst

In modernen Diskussionen des Leib-Seele-Problems wird Platon allzuoft als Vertreter eines sbquorobusten Dualismuslsquo dargestellt39 Demgemaumlszlighandelt es sich bei Seele und Koumlrper um zwei selbststaumlndige vonei-nander abgetrennte Substanzen die erst nachtraumlglich vereinigt werden

35 Carone Mind and Body S 237 die Voraussetzungen eines solchen Ver-staumlndnisses hat Fronterotta ans Licht gebracht Carone on the Mind-Body Pro-blem S 233

36 Carone Mind and Body S 240 Anm 4337 Vgl Carones selbstverstaumlndliche Redeweise lsquospatial or material conditionsrsquo

lsquobody and spacersquo lsquospace and bodyrsquo Mind and Body S 264 Zu einer einsichtige-ren Unterscheidung der Arten vom Dualismus bei Platon und Descartes sSarah Broadie Soul and Body in Plato and Descartes In The AristotelianSociety 101 (2001) S 295-308

38 Die zweite zaumlhlt Robinson nicht mit auf The Defining Features of Mind-Body Dualism S 40 Anm 12 Lg 898d11-e2 hat mehrere Deutungen undUumlbersetzungen veranlasst Περιφύειν wird mit aumlhnlicher Bedeutung in R 612aangewendet (sbquoherum- oder anwachsenlsquo) Diese Metapher in den Gesetzen undderen Uumlbersetzung verfehlen Otto Apelt Platons Gesetze Zweiter Band Leip-zig 1916 S 419 Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 S 163 mit Anm 2 Robin Leacuteon Oeuvres completesPlaton Paris 1950 Zweiter Band S 1025 richtig verstehen die Stelle JowettBenjamin The Dialogues of Plato Oxford 41953 S 468f Taylor Alfred E TheLaws of Plato London 21960 S 291 Muumlller Studien S 92 Anm 1 Bury Rob-ert Plato with an English Translation IX and X Laws London-New York1952 S 346 mit Anm Saunders Plato The Laws S 430 Cooper John (Hrsg)Plato Complete Works Cambridge 1997 S 1555 Mayhew Plato Laws X S29

16 Georgia Mouroutsou

muumlssen was hier nicht ausdruumlcklich widerlegt wird Neuerdings hatFronterotta diese Auffassung vertreten40 wobei auch seine Deutung aufzwei unaufhebbaren Schwierigkeiten im Timaios stoumlszligt Zum ersten istdie Weltseele raumlumlich ausgedehnt Zum zweiten ist sie das Produkteiner Mischung was nicht nur Carones These widerlegt dass die Seelekoumlrperlich sei ndash da hat Fronterotta Recht ndash sondern auch gegen einen ab-soluten unuumlberbruumlckbaren Gegensatz zwischen einer rein rationalerSeele und dem Weltkoumlrper plaumldiert41

Auf dem ersten Blick scheint unser Kontext in den Gesetzen nicht aufexplizite Weise den weit verbreiteten Vorschlag eines Substanz-Dualis-mus abzuweisen Weil sich aber in diesem Zusammenhang sowohl dieseelische als auch die koumlrperliche Bewegung im Raum vollziehen (Lg893c1f) ist die Dimensionalitaumlt keinesfalls ausschlieszliglich dem Koumlrperzugeordnet was sich wiederum mit einem starren Dualismus nicht ver-traumlgt42

Jedenfalls ist ein gewisser Dualismus insofern nicht zu uumlbergehen alsdie seelische Bewegung die koumlrperliche nicht produzieren kann43 NachLg 896e8-897b4 sbquonehmenrsquo die seelischen als die primaumlren Bewegungendie sekundaumlren koumlrperlichen sbquoaufrsquo Das gleiche Verb (παραλαμβάνειν897a5) wendet auch der Timaios an Der Demiurg nimmt das auf unge-ordnete und fast verbrecherische Weise bewegte Wahrnehmbare sowiespaumlter im Dialog das was ἀνάγκη bewirkt (68e3) auf Die unterstehendenGottheiten nehmen ihrerseits den rationalen Teil der Seele auf um ihn mitdem sterblichen Teil im Koumlrper zu verknuumlpfen (Ti 69c5) Diesen ver-schiedenen Zusammenhaumlngen koumlnnen wir keine Umkehrung der Prio-ritaumlt der Seele gegenuumlber dem Koumlrper entnehmen Was sich mit einer anSicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ausschlieszligen laumlsst ist eine

39 S Burnyeat Myles Is An Aristotelian Philosophy of Mind Still CredibleA Draft In Nussbaum A M-Rorty (Hrsg) Essays on Aristotlersquos De AnimaOxford 1992 S 15-26 Hier S 16 Putnam Hilary The Threefold Cord MindBody and World New York 1999 S 97 Stephen Priest Theories of the MindLondon 1991 S 8-15 57 162)

40 Fronterotta Carone on the Mind-Body Problem41 Platon behandelt das Problem der Verbindung zwischen der Seele und dem

Koumlrper wie die Vermittlung durch das Mark beweist (Ti 73b-c) was wir abernicht als Beleg dafuumlr betrachten sollten dass Platon zum Vorlaumlufer von Descar-tes wird

42 Thomas Johansen begeht diesen Weg in seiner Timaios-Auslegung43 Vgl Mason Andrew Plato on the Self-Moving Soul In Philosophical

Inquiry 1998 S 18-28 Hier S 24 28

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 17

Herleitung des Koumlrperlichen aus dem Seelischen44 Diese Unterscheidungzwischen Koumlrper und Seele erlaubt es dem Dialektiker je nachZusammenhang die Seele qua Seele (so in der vorliegenden Passage der Ge-setze) und den Koumlrper qua Koumlrper (so im Timaios) zu betrachten ohne einereduktionistische Auslegung vorauszusetzen

Auf dieser Basis wird ein Reduktionismus des Koumlrpers auf die Seele aus-geschlossen Ausserdem unterstuumltzt der Wortlaut des Textes nicht das Ver-staumlndnis der ontologischen Prioritaumlt die Aristoteles in Metaph V11 an-spricht Es geht in unserem Kontext nicht darum was Aristoteles undAlexander als platonische Auffassung und akademisches Gut dar-stellen45 Als Kriterium der ontologischen Rangfolge wird dassbquoMitaufgehobenwerdenrsquo des Spaumlteren angegeben Demgemaumlszlig setzt dasontologisch Spaumltere das Fruumlhere voraus aber nicht umgekehrt Wenndas Fruumlhere aufgehoben wuumlrde wuumlrde auch das Spaumltere aufgehobenwas sich aber nicht umkehren laumlsst Soweit geht Platon bei der hiesigenBetrachtung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper jedoch nichtDie Rede von der sbquoAufnahmersquo der koumlrperlichen Bewegungen von denseelischen ist weniger mit einer ontologischen Prioritaumlt der Seele (wieoben dargelegt) als vielmehr mit einer Aufeinanderbezogenheit vonSeele und Koumlrper vertraumlglich

Um eine uumlber den Rahmen dieses Beitrags hinausgehende positive Louml-sung fuumlr Platons Leib-Seele-Dualismus zu entwickeln ist es noumltigeinige falsche Meinungen zu korrigieren wozu die obere Darlegung bei-traumlgt

iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Ar-gument

44 Pace England Edwin The Laws of Plato London 1921 Zweiter Band S476 der παραλαμβάνειν als lsquobring in their trainrsquo versteht In allen obenerwaumlhnten Zusammenhaumlngen ist klar dass das Aufgenommene nicht vomAufnehmenden geschaffen wird Die Uumlberlegenheit des letzteren bleibt davonunberuumlhrt

45 Vor allem in Arist Metaph V11 1019a2-4 vgl Alexander In AristotMetaph I 6 987b33 Gaiser Testimonium Platonicum 22B

18 Georgia Mouroutsou

Wir kehren zu unserem Text zuruumlck Da der Seele ontologische Prioritaumltgegenuumlber dem Koumlrper verliehen wird ist auch das der Seele Verwandteontologisch fruumlher als das was dem Koumlrper zugehoumlrt

raquoVerhaltensweisen aber und Gemuumltsarten Willensakte Schluss-folgerungen wahre Meinungen Fuumlrsorge und Erinnerungen duumlrftenfruumlher entstanden sein als koumlrperliche Laumlnge Breite Tiefe und Staumlrkewenn eben die Seele fruumlher als der Koumlrper entstanden sein solltelaquo46

Im Anschluss daran hilft uns der Athener nachzuvollziehen warumPlaton eben hier die sbquoschlechte Seelersquo einfuumlhrt Man muumlsse darin uumlberein-stimmen dass die Seele Ursache sowohl des Guten als auch des Boumlsendes Schoumlnen und des Schlechten des Gerechten und des Ungerechtenund aller Gegensaumltze sei

raquoIst es denn nicht noumltig darin uumlbereinzustimmen dass die Seele dieUrsache des Guten sowie des Schlechten des Schoumlnen sowie des Haumlszlig-lichen des Gerechten sowie des Ungerechten und uumlberhaupt allerGegensaumltze wenn wir sie als Ursache von allem setzenlaquo47

Diese Zeilen sind aumluszligerst wichtig weil hier und nicht erst in 896e4ffder Gegensatz von sbquogut und schlechtlsquo eingefuumlhrt wird Dem Argumentist vorgeworfen worden es sei schwach Unter den Kritikern verstehtStalley den Schluss auf folgende Weise lsquoSoul since it is the source ofeverything must be the source of valuesrsquo Er wundert sich dass Werteohne Begruumlndung und ohne Erklaumlrung ihrer Existenzweise eingefuumlhrtwerden48 Dementgegen werde ich eine wohlwollendere Annaumlherungvorschlagen Nach der Rekonstruktion des Arguments werde ich eineArt sbquoanthropozentrischer Wendelsquo in einen breiteren Kontext situieren

Wie er expliziert (896d8) zieht der Gast aus Athen diesen Schlussdaraus dass die Seele als Ursache von allem angesetzt worden ist Bevorwir diese Begruumlndung als einen Fehlschritt charakterisieren sollten wiruns zusammen mit Kleinias erinnern dass die sbquoSeelersquo die Veraumlnderungvon allem herbeifuumlhrt49 Mit Hilfe einer anderen Formulierung ist dieSeele raquodie Veraumlnderung und Bewegung von allem Seiendenlaquo50

46 Lg 896c9-d3 raquoΤρόποι δὲ καὶ ἤθη καὶ βουλήσεις καὶ λογισμοὶ καὶ δόξαιἀληθεῖς ἐπιμέλειαί τε καὶ μνῆμαι πρότερα μήκους σωμάτων καὶ πλάτους καὶβάθους καὶ ῥώμης εἴη γεγονότα ἄν εἰπερ καὶ ψυχὴ σώματοςlaquo

47 Lg 896d5-7 raquoἎρrsquo οὖν τὸ μετὰ τοῦτο ὁμολογεῖν ἀναγκαῖον τῶν τε ἀγαθῶναἰτίαν εἶναι ψυχὴν καὶ τῶν κακῶν καὶ καλῶν καὶ αἰσχρῶν δικαίων τε καὶ ἀδίκωνκαὶ πάντων τῶν ἐναντίων εἴπερ τῶν πάντων γε αὐτὴν θήσομεν αἰτίανlaquo

48 Stalley An Introduction S 172 49 Lg 892a6f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 19

Die Bewegung ist hier als Wechsel und Veraumlnderung (μεταβολή) in ih-ren weitesten Sinn zu verstehen seien sie im Raum in Bezug auf dieSubstanz die Qualitaumlt oder die Quantitaumlt Der Uumlbergang findet zwi-schen Gegensaumltzen statt Die ersten Paare von Gegensaumltzen die derAthener vor der Verallgemeinerung in 897d7 anspricht sind Ver-bindungen und Trennungen Wachstum und Schwund sowie Prozessedes Wedens und Vergehens (894b10f) Die Seele zeigt sich als dieUrsache von aller Art koumlrperlicher Veraumlnderung Wenn eine Seele einenWechsel von einem schlechten zu einem guten Zustand verursacht dannist diese Seele in sich selbst gut Wenn eine Seele einen schlechtenEinfluss auf einen Zustand uumlbt dann ist sie dafuumlr verantwortlich Es istbemerkenswert dass der Gegensatz zwischen sbquogutlsquo und sbquoschlechtlsquo nichtauf die Unterscheidung zwischen sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo oder diejenigezwischen sbquoseelischer Bewegunglsquo und sbquokoumlrperlicher Bewegunglsquo zu-ruumlckgefuumlhrt wird Der Koumlrper kann nicht als schlecht charakterisiertwerden weil nach dem spaumlten Platon der Koumlrper qua Koumlrper weder gutnoch schlecht in sich selbst ist

Wenn die Seele die Ursache von allem ist so der Athener dann musssie die Ursache von allen Gegensaumltzen sein einschlieszliglich des Bereichsder Ethik Die gleichen Gegensatzspaare von sbquogut und schlecht schoumlnund haumlszliglich sowie gerecht und ungerechtlsquo tauchen in Euthph 7c10ff alsder Zankapfel der menschlichen Debatten auf die vor Gericht gefuumlhrtwerden koumlnnen Auch in Grg 459d1ff gehoumlren sie zur rhetorischenKunst die kein Wissen daruumlber erwerben kann In Plt 296c5-7 erfahrenwir dass ein Irrtum im Rahmen der politischen Kunst das Schaumlndlichedas Schlechte und das Ungerechte verursacht Was der Rhetor verfehltweiszlig der Staatsmann Der goumlttliche Teil der menschlichen Seele mag einewahre Meinung uumlber Schoumlnes Gutes und Gerechtes stiften (Plt 309c5-8)

Indem die Seele fuumlr alle moumlglichen koumlrperlichen Veraumlnderungen ver-antwortlich gemacht wird gelangen wir in unserem Zusammenhang zuder Seele als der primaumlren Ursache auch des Schlechten und nichtaufgrund der Frage woher das Schlechte komme Der Athener machtnirgends explizit dass er die Seele als die einzige Ursache des Schlechtensei Bedenken sollte daher gegen Englands Beobachtung geaumluszligert wer-den in 896d5 werde die Frage nach dem Uumlbel eingefuumlhrt und insbe-

50 Lg 894c6f raquoκαλουμένην δὲ ὄντως τῶν ὄντων πάντων μεταβολὴν καὶκίνησινlaquo

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sondere gegen seine Folgerung lsquoHaving identified ψυχή with the αἰτίαἀγαθοῦ τε καὶ κακοῦ he is bound to talk of the αἰτία κακοῦ as ψυχήrsquo51

Auf das seelische Uumlbel konzentriert sich hier der Athener Verabsolutie-rende Konklusionen uumlber das Uumlbel schlechthin sind daher der Ge-spraumlchssituation nicht zu entnehmen Jedenfalls waumlre der bestimmte Ar-tikel noumltig vor αἰτίαν (sowohl in 896d6 als auch in d8)

Der Athener zielt darauf die Natur der Seele als die Ursache von allenGegensaumltzen auszulotten und fuumlhrt dann das Feld der menschlichenEthik ein ohne seinen Uumlbergang oder eher seine Einschraumlnkung zu er-klaumlren52 Die konkrete politische Situation in den Gesetzen bietet eineplausible Erklaumlrung fuumlr diesen Uumlbergang von der Seele qua Seele zurmenschlichen Seele Die Buumlrger von Magnesia sollten ihre Machtwahrnehmen sowohl zum Guten als auch zum Schlechten beizutragenAuszligerdem sollten sie die Verantwortung ihrer politischen Taumltigkeit ineinem kosmischen All uumlbernehmen das von einer guten Seele verwaltetwird Die primaumlre Ursache der Bewegung ist die Seele Beinahe waumlre dieSeele als Selbst-Bewegung ie ihre absolute Spontaneitaumlt als Bedingungihrer moralischen Verantwortung zum ersten Mal in der Geschichte derPhilosophie vorgekommen haumltte Platon diese Verbindung ausbuch-stabiert53

Eine Art Anthropozentrismus kommt in den spaumlteren platonischenSchriften vor Die Entscheidung ob wir dieses Konzept einer philoso-

51 Platorsquos Laws S 474 Auf aumlhnliche Weise auch Carone Evil and Teleology S295 Anm41

52 Mayhew argumentiert seinerseits dass es nicht darum gehe dass die Seeledie Ursache aller Dinge und daher sowohl schlechter wie guter Dinge sei DerInterpret meint die Seele sei fruumlher als der Koumlrper und in dieser Weise das Seeli-sche ndash einschlieszliglich der Moral ndash entsprechend fruumlher als das Koumlrperliche (PlatoLaws X S 131) Dennoch liegt die Pointe meines Erachtens nicht darin eineneingegrenzten Bereich ndash den der Ethik ndash anzusprechen sondern das Wesen derSeele als Ursache aller Gegensaumltze auszubuchstabieren was wiederum nichtheiszligt man sollte den Bereich der Moral voumlllig leugnen wie es Raphael Demostut lsquo[hellip] the soul is non-moral apt for both good and evil and so far forth inde-terminatersquo (Demosrsquo Hervorhebung Platorsquos Doctrine of the Psyche as a Self-Moving Motion In Journal of History of Philosophy (1968) S 133-145 HierS136)

53 Vgl Horn Christoph Der Begriff der Selbstbewegung bei Alkmaion undPlaton In Rechenauer Georg (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen2005 S 152-173 bes S 168ff und Baumgarten Hans-Ulrich Handlungstheoriebei Platon Platon auf dem Weg zum Willen Stuttgart 1998 S 241-264

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 21

phischen Kritik unterziehen sollten oden nicht mag hier dahingestelltbleiben Mit dem sbquoAnthropozentrismuslsquo bei Platon meine ich dass dasErschaffen des Weltalls auf der Basis einer Teleologie geschieht die aufden Menschen und seinen Beduumlrfnissen zentriert ist Man mag denTimaios heranziehen Der Anthropozentrismus scheint sich durch denganzen Monolog durchzusetzen in dem Timaios auf das Schaffen desMannes fokussiert ist Gemaumlszlig der Lehre der Wiedergeburt sind Frauenund Tiere schlechtere Formen von Lebewesen Es gibt zwei Passagendie als besonders anthropozentrisch gepraumlgt vorkommen Zum erstensind die Pflanzen um der Ernaumlhrung der sterblichen Lebewesen willengeschaffen worden (77e7-b1) Zum zweiten schafft der Demiurg dieuumlber das ganze All scheinende Sonne damit die dementsprechend aus-geruumlsteten Lebewesen an der Zahl teilnehmen nachdem sie von derBeobachtung der kosmischen Bewegung viel gelernt haben (39b2-c1)Um der Menschen und der Kultivierung der Philosophie willen schafftGott die Sonne und ermoumlglicht die Wahrnehmung der Sicht Dank desStudiums der himmlischen Bewegungen koumlnnen wir nach der Natur derZeit und des Alls fragen Auf diese Weise duumlrfen wir hoffen unsere ge-stoumlrte Bewegung der Vernunft der ungestoumlrten Bahn der kosmischenVernunft zu assimilieren (46e-47c 90c-d)

Wir haben die Kritik an der Einschraumlnkung im moralischen Bereichwiderlegt indem wir unseren unmittelbaren sowie weiteren Kontextberuumlcksichtigten Wegen des Fokuses auf den menschlichen Bereich unddie menschliche Seele geht die allgemeine Frage der Seele qua Seele nichtverloren Der Hintergrund der jetzigen Diskussion bleibt dieseallgemeine Fragestellung obgleich die menschliche Seele diejenige istdie sich gemaumlszlig der Vernunft oder gegen die Vernunft verhaumllt (897b1-5)Wir sollten die Unterscheidung zwischen weiteren kosmischen undmenschlichen Dimensionen bewahren wenn auch der spaumlte Platon denkosmischen Zusammenhang auf eine anthropozentrische oder sogar an-thropomorphische Weise beschreibt54 Es waumlre weder gerechtfertigtnoch legitim dass die Untersuchung uumlber die menschliche Seelediejenige uumlber die Seele qua Seele dominieren oder ausschoumlpfen wuumlrde

54 Zur Zentrierung des kosmischen Alls auf dem menschlichen Leben bei spauml-tem Platon s Carone Evil and Teleology S 296

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v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6

Von der allgemeinen Seelenlehre und der Seele qua Seele die bis dahindas Untersuchungsobjekt bildete gelangt der Athener jetzt zu einer be-sonderen Seele zur Weltseele Der Blickwechsel den der Athener imBereich seiner Betrachtung vollzieht sollte im Rahmen der platonischenSpaumltdialoge in denen Ontologie und Seelenlehre haumlufig in Kosmologiemuumlnden kein Erstaunen hervorrufen Als zwei Beispiele dafuumlr koumlnnender kosmologische Exkurs im Philebos (s oben Abschnitt I) und derUumlbergang von ψυχὴ πᾶσα (alles was Seele ist) zur Weltseele im Phaidros(245c5-246a2) gelten Was uumlber die Seele qua Seele gesagt wurde sollteauch im Fall der Weltseele Guumlltigkeit haben

raquoUnd weil die Seele in allem waltet und wohnt was sich auf ir-gendeine Weise bewegt muumlssen wir etwa nicht sagen dass sie auch denHimmel durchwaltelaquo55

Auf seine nur scheinbar unvermittelte und ploumltzliche Frage56 antwor-tet der Athener selbst

raquoEine oder mehrere Seelen Mehrere Ich werde fuumlr Euch antwortendass wir nicht weniger als zwei ansetzen sollten naumlmlich diejenige diedas Gute vervollkommnet und diejenige die faumlhig ist Entgegengesetztesdurchzufuumlhrenlaquo57

Dass der Athener im Namen seiner Gespraumlchspartner antwortet be-trachte ich als kein ausschlaggebendes Argument gegen die Realitaumlt einersbquoschlechten Weltseelersquo58 weil er sich noch auf die Seele qua Seele bezieht

55 Lg 896d10-e2 raquoΨυχὴν δὴ διοικοῦσαν καὶ ἐνοικοῦσαν ἐν ἅπασιν τοῖς πάντῃκινουμένοις μῶν οὐ καὶ τὸν οὐρανὸν ἀνάγκη διοικεῖν φάναιlaquo

56 Wilamowitz charakterisiert diese Frage zu Unrecht als sbquohereingeschneitlsquo(Platon II S 316) wogegen sich Kerschensteiner einsetzt (Platon und der Ori-ent S 73)

57 Lg 896e4-6 raquoΜίαν ἢ πλείους πλείους ἐγὼ ὑπέρ σφῷν ἀποκρινούμαι Δυοῖνμέν γέ που ἔλαττον μηδὲν τιθῶμεν τῆς τε εὐεργέτιδος καὶ τῆς τἀναντία δυναμένηςἐξεργάζεσθαιlaquo

58 Vgl Apelt Platons Gesetze S 539 Anm 48

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 23

Ist die Seele die das All verwaltet eine oder mehrere Haumltte Platon indi-viduelle Seelen ohne Bezug auf einen generellen Terminus sbquoSeelelsquo auf-zaumlhlen wollen haumltte er von mehr als zwei Seelen gesprochen Die Frageist sehr oft als Frage nach zwei Weltseelen verstanden worden Koumlnnteder Athener nicht die allgemeine Lehre der Seele qua Seele verlassen umsich auf die zwei partikulaumlren Weltseelen zu beziehen Dies haumltte derFall sein koumlnnen wenn die Weltseele mit Realitaumlt ausgestattet waumlre wassich aber nicht so verhaumllt Die oben genannte Frage kann nur die Seelequa Seele betreffen

Obgleich er haumlufig uumlberhoumlrt wird sollte der oben angewendete Dual beruumlcksichtigt werden weil er gegen ein Verstaumlndnis von zwei von-einander getrennten entgegengesetzten Seelen plaumldiert59 Auszliger demDual in 896e5 uumlberhoumlrt die Mehrheit der Interpreten hier noch etwasEntscheidendes Die der wohltaumltigen Seele entgegensetzte ist nicht eineeinfachhin und ohne Weiteres sbquoschlechte Seelersquo60 sondern die Seele raquodieimstande ist das Gegenteil zu bewirkenlaquo Genau in diesem Punkt uumlber-schneiden sich die allgemeine Seelenlehre nach der die Seele qua SeeleSelbstbewegung ist und als solche gut oder schlecht sein kann und diespezielle Lehre uumlber die kosmische Seele die ebenfalls qua Seele in derLage ist gut oder schlecht zu sein Deswegen sollten wir die Rede vonδύναμις in unserer Uumlbersetzung von sbquoτἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαιlsquo(Lg 896e6)61 nicht vernachlaumlssigen Die sbquoschlechte Seelelsquo wird nicht alseine bloszlige Privation der guten Seele eingefuumlhrt sondern als mit ihrereigenen Macht (δύναμις) ausgestattet Schlechtes zu bewirken62 als einenegative und destruktive Macht63

Wir sind dabei weit enfernt δύνασθαι mit einer aristotelischen sbquoerstenMoumlglichkeitlsquo zu identifizieren um die Ausscheidung einer schlechten

59 raquoDie Sprache hat die Dualform geschaffen nicht etwa um den Begriff derZahl zwei sondern um den Begriff der Zweiheit der paarweisenZusammengehoumlrigkeit auszudruumlckenlaquo (Wilhelm von Humboldt Uumlber denDualis Berlin 1828 S 18) Erst nach Platon als das Sprachgefuumlhl fuumlr die eigent-liche Bedeutung der Sprachformen an Lebendigkeit nachlieszlig bedeutete der Dualnicht selten den bloszligen Begriff sbquozweilsquo wobei die wahre und urspruumlngliche Naturdes Duals sich darin zeigt dass er entweder auf paarweise in der Natur verbun-dene Gegenstaumlnde angewendet wird oder auf solche welche in einer engen undgegenseitigen Beziehung gedacht werden (vgl Kuumlhner Raphael und FriedrichBlass Ausfuumlhrliche Grammatik der griechischen Sprache Zweiter Teil Satz-lehre Erster Teil Darmstadt 31966 S 69

60 Er spricht nur spaumlter von einer sbquoschlechten Seelersquo (897d1 vgl 898c4f)

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Weltseele schon in den oberen Zeilen zu finden Nach dieser Lektuumlrewaumlre die zweite Art von Seele nur imstande Schlechtes durchzufuumlhrenaber wuumlrde nicht tatsaumlchlich so etwas tun Waumlre das der Fall warumsollte der Athener uumlberhaupt erst zwischen zwei Arten von Seele unter-scheiden In einem Kontext wo die Staumlrke die praktische Macht sowieEffizienz und Dominanz der Seele uumlberwiegen64 ist die Option einersbquoersten Moumlglichkeitlsquo keine gelungene Annahme65 Nur in dem Fall desgoumlttlichen Demiurgen koumlnnten wir eine solche sbquoerste Moumlglichkeitlsquo an-wenden die sich nie wirklich durchsetzen wird Trotz seiner Faumlhigkeites zu tun ist der Demiurg nicht bereit die guten Mischungen aufzuloumlsenund die kosmische Ordnung zugrunde zu richten Das Konzept einesDemiurgen der faumlhig ist beides zu tun sowohl Gutes als auch Schlech-tes ist fuumlr Platon undenkbar weil Gott wesentlich gut ist66 Zu-gegebenermaszligen waumlre es zu weitreichend all das in 896e5f hineinzule-sen und die zweite Art der Seele mit dem goumlttlichen Demiurgen zuidentifizieren

61 Der δύναμις-Aspekt geht verloren bei Plutarch der stattdessen von der gutwirkenden und der entgegengesetzten Seele spricht die das Gegenteil vollbringtDe Is Et Osir 370F4-6 raquoὧν τὴν μὲν ἀγαθουργόν εἶναι τὴν δrsquo ἐναντίαν ταύτῃ καὶτῶν ἐναντίων δημιουργόνlaquo Den wichtigen Bezug auf δύναμις verpassen Jowettlsquoone the author of good and the other of the evilrsquo (The Dialogues of Plato S466) sowie Grube Platorsquos Thought lsquoone that does good and one that does evilrsquo(Platorsquos Thought S 146)

Brisson spricht von der Neutralitaumlt der Seele die faumlhig ist gut oder schlecht zusein (Vernunft Natur und Gesetz im zehnten Buch von Platons Gesetzen InHavlicek Ales (Hrsg) The Republic and the Laws of Plato Proceedings of theFirst Symposium Plato Symposium Platonicum Pragense 1 (1997) S 182-200Hier S189) ohne diese Textstelle heranzuziehen

62 Das Verb ist sbquoἐξεργάζεσθαιlsquo das nicht nur das Schlechte bewirken sondern esauch vollenden heiszligt (vgl ἔργον sowohl in als auch in ἐξεργάζεσθαι)

63 Vgl Dillons allgemeine Folgerung uumlber das ontologische Problem desSchlechten bei Platon (Monist and Dualist Tendencies S 11) Der Fall einerschlechten Seele die nicht als Privation der guten Seele vorkommt sondern alsraquofaumlhig Schlechtes zu vollendenlaquo unterstuumltzt Dillons Konklusion dass diesbquoschlechte Seelelsquo eine negative zerstoumlrende Macht sei

64 Vgl die Charakterisierung der Seele in 894d1f 895b665 Dank der Beobachtung von David Sedley wurde es mir klar dass ich

unabsichtlich eine aristotelsiche sbquoerste Potenzialitaumltlsquo in einer fruumlheren Versionvorgeschlagen hatte

66 Vgl oben Fuszlignote 7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 25

Bevor wir zur allgemeinen platonischen Psychologie uumlbergehen er-waumlgen wir eine zweite moumlgliche Unterscheidung der Seele in 896e4-6Bis jetzt habe ich die Distinktion zwischen guter und schlechter Seele alsselbstverstaumlndlich betrachtet Eine vorsichtigere Lektuumlre ermoumlglicht einezweite Option naumlmlich die Unterscheidung zwischen derwohlwollenden Seele die immer das Gute vollendet und derjenigen diefaumlhig ist entgegengesetzte Dinge (Plural) durchzufuumlhren sowohl Gutesals auch Schlechtes (τῆς τἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαι) Die ersteSeele kann keine andere als die goumlttliche sein67 Fuumlr die zweite Seele istder einzige Kandidat die menschliche Seele Auszligerdem wuumlrde die Seeleder Tiere unter die Seele fallen die sowohl Gutes als auch Schlechtestun kann weil sie einen logischen Teil beinhaltet auch wenn deformiertDas Goumlttliche ist immer gut Die Pflanzen moumlgen gut sein insofern siein eine globale Teleologie integriert sind Sie wuumlrden aber nie als faumlhigcharakterisiert etwas Gutes oder noch weniger etwas Schlechtes zutun noch wuumlrden sie die Verantwortung fuumlr die herbeigefuumlhrten gutenoder schlechten Wirkungen tragen Wenn diese Lektuumlre als die einzigemoumlgliche aufgewiesen werden koumlnnte wuumlrden wir mit Sicherheit dieFrage nach der schlechten Seele auf spaumlter verschieben68

Wie es auch sein mag befinden wir uns noch im Rahmen derallgemeinen Lehre der Seele qua Seele als Selbstbewegung Die kosmi-sche Seele ist in 896e1f aufgetaucht aber die Unterscheidung zwischender guten und der schlechten Seele oder der goumlttlichen und men-schlichen Seele wird auf einer allgemeinen Ebene gezogen69 Obgleichder Athener nicht die theorethischen Anspruumlche des Sophistes erhebtsetzt er die allgemeine platonische Ontologie voraus dergemaumlszlig dasSeiende qua Seiendes δύναμις sei Das Kriterium fuumlr alles was Seiendesist sei es Intelligibles oder Koumlrperliches Koumlrper oder Seele ist das Ver-moumlgen zu tun oder zu leiden70 Die Erforschung der Seele als Seiendesverlangt daher die Frage nach ihrer Kraft und ihrem Vermoumlgen (Lg892a2f) Der Gast aus Athen bezieht sich stets auf die δύναμις-Ontolo-

67 Der Athener kann noch nicht die gute Seele als goumlttlich charakterisierenDas Argument hat noch nicht die Goumlttlichkeit der Seele bewiesen

68 Der kreative Charakter der Dialektik ermoumlglicht mehr als eine richtige Ein-teilung Zu diesem Aspekt s Plt 286d-e und Delcomminettes Monographie

69 Anders als Taylor der den Uumlbergang von 896e2 zu e4 durch die Praumlmisseder Aktualitaumlt des Guten und Schlechten in der gegenwaumlrtigen Welt verhilft (TheLaws S 289 Anm 1) sehe ich keinen Eintritt eines a posteriori Arguments adhoc Alles bisherige entnimmt der Athener der allgemeinen Seelenlehre

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gie des Phaidros sowie des Sophistes Er stellt die Frage was die Seele istund was fuumlr ein Vermoumlgen sie hat οἷόν τε ὂν τυγχάνει καὶ δύναμιν ἣνἔχει71

Obwohl die Frage nach dem Tun (ποιεῖν) oder Leiden (πάσχειν) derSeele als δύναμις nicht explizit gestellt wird72 bringt ihre Definition alsSelbstbewegung ein gleichzeitiges Tun (als Bewegen) und Leiden (alsBewegtwerden) zum Ausdruck73 Die Seele ist die Kraft die sich selbstund anderes bewegt74 Die Definition der Seele als Selbstbewegung kannentweder als Aktivitaumlt oder Passivitaumlt ausgedruumlckt werden Die Seele be-wegt sich selbst und wird von sich selbst bewegt Ein gleichzeitiges Tunund Leiden das aber nicht das gleiche Seiende verursacht geschieht beikoumlrperlicher Bewegung Ein Koumlrper mag auf einen anderen Koumlrper wir-ken und zu gleicher Zeit kann er von einer Seele oder einem anderenKoumlrper bewegt werden aber nicht von sich selbst75

Platon gibt die Definition der Seele in ihrer Allgemeinheit d hunabhaumlngig von ihren moumlglichen Manifestationen in konkretenLebewesen Alles was Seele ist soll Selbstbewegung sein mag es sichum die Seele des Menschen oder des Tieres oder der Pflanze handelnWeil die individuellen Manifestationen der Seele nicht beruumlcksichtigtwerden fehlt bei der Formel der Definition τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴνκινεῖν κίνησιν (896a1f) auch der Bezug auf den Koumlrper den die jeweiligekonkrete Seele beseelt Im Falle der Absenz der Materie in einer Defini-

70 Der Vorschlag des Gastes aus Elea in Sph 247d-e wird nicht allgemein alsPlatons Vorschlag uumlber Ontologie gedeutet Sehr haumlufig beschraumlnken Exegetendas Seiende als δύναμις auf die ad loc Argumentation gegen die MaterialistenAuch wenn dieses Argument als Platons Argument charakterisiert wird bleibtes sehr umstritten ob es eine allgemeine Ontologie betrifft (Brown) oder in eineOntologie der Ideen einmuumlndet (Gerson Politis) Darauf gehe ich hier nicht ein

71 Lg 892a3 vgl Lg 894b8-c1 und 896a1f72 Der Athener bezieht sich auf Tun und Leiden nur in 894c5f und meint

wahrscheinlich sowohl Seelisches als auch Koumlrperliches mit dem die Seele har-monisiert

73 In Lg 894b8-c1 und 896a1f beantwortet der Athener seine Frage nach derArt des Vermoumlgens mit dem die Seele ausgestattet ist Der gesamteZusammenhang verbindet die Frage nach dem Wesen eines Seienden mit derFrage nach seinem Vermoumlgen

74 Lg 893c4f75 Gaiser fuumlhrt den Ausgleich zwischen Passivitaumlt und Aktivitaumlt in der selbst-

bewegenden Seele auf das Zusammenwirken der zwei platonischen Prinzipienzuruumlck (Platons Ungeschriebene Lehre S 195f)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 27

tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

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Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

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tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 31

welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

32 Georgia Mouroutsou

zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

34 Georgia Mouroutsou

Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

40 Georgia Mouroutsou

werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

42 Georgia Mouroutsou

abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

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ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 5

schlossenheit des jeweilig untersuchten Dialogs hervorgehoben SeineHermeneutik praumlgte sowohl die kontinentale als auch angelsaumlchsischePlaton-Forschung aus obgleich seine Methode keinen Vorgaumlnger in derAntike hatte

Trotz Schleiermachers verbreitetem Einfluss verfolgen heutige Platon-Forscher ndash wenn auch ohne weitere Reflexion ndash eine Platon-Hermeneu-tik die den Rahmen des einzelnen Dialogs uumlbergreift wenn sie Passagenaus verschiedenen Dialogen in Verbindung setzen und vergleichen Wasunsere Diskussion anbetrifft verbinden die meisten Interpreten diesbquoschlechte Seelelsquo der Gesetze mit der ungeordneten Bewegung der choraim Timaios Ich werde argumentieren dass ihr Irrtum nicht darin liegtdass sie die zwei Passagen in Verbindung setzen sondern in der Weisein der sie es tun Darum werde ich meine Rekonstruktion in groszligenZuumlgen anbieten Bei unserem Unternehmen verschiedene Passagen implatonischen Korpus zu vergleichen sollten wir gruumlndlich untersuchenwo wir als Dialektiker in dem jeweiligen Fall stehen wo genau auf demdialektischen Weg den Platon als Aufstieg vom Wahrnehmbaren zumIntelligiblen und Abstieg vom Intelligiblen zum Wahrnehmbarencharakterisiert Nur dann werden wir imstande sein wahrzunehmenaus welcher Perspektive die jeweiligen Fragen gestellt werden und wowir die relevanten Untersuchungen beginnen sollten um verschiedenePassagen zu situieren und auf erleuchtende Weise in Vergleich zuei-nander zu setzen Um der jetzigen Deutung willen werde ich die spaumltereplatonische Ontologie und Psychologie skizzieren muumlssen indem ichsie in den Aufstieg und Abstieg des Dialektikers integriere

I Einfuumlhrung Unterwegs zu einer Frage nach einer schlechten Weltseele

Dass κακὴ ψυχή im platonischen politischen Werk der mittleren Periodevorkommt bereitet den Interpreten keine Probleme weil sich diesbquoschlechte Seelersquo in R 353e4 eindeutig auf die ungerechte menschlicheSeele bezieht Jedenfalls taucht hier ein Problem auf das von Bedeutungfuumlr den Zusammenhang der Gesetze ist Politeia 379c2-7 belegt dassPlaton sich mit dem Problem des Ursprungs des Schlechten befassteDurch eine Kritik der traditionellen Dichtung erklaumlrt der platonischeSokrates dass Gott das Prinzip und der Ursprung ausschlieszliglich desGuten sein kann Die schlechten Geschehnisse sollten auf einen anderen

6 Georgia Mouroutsou

Ursprung oder andere Urspruumlnge zuruumlckgefuumlhrt werden Dafuumlr schlaumlgtSokrates leider keine Kandidaten vor

raquoAlso Gott weil er ja gut ist kann nicht Ursache von allem sein wieviele Menschen sagen sondern er ist zwar die Ursache von Wenigem beiden Menschen an Vielem aber unschuldig Denn es gibt weit wenigerGutes als Boumlses bei uns und fuumlr das Gute darf man keinen anderen ver-antwortlich machen man muszlig aber gewisse andere Ursachen vom Bouml-sen aufsuchen nur nicht Gottlaquo

Diese Passage erwaumlhnt keine schlechte Weltseele noch weist sie auf siehin Hier geht es um das Problem des Schlechten in seiner aumluszligerstenAllgemeinheit und nicht in seiner kosmischen Dimension Ich ziehe zuBeginn diese Passage heran weil sie beweist dass die Frage nach demUrsprung des Schlechten genuin platonisch ist Dieses Problem findethaumlufig die Forschung im Kontext der Gesetze wieder was nicht gerecht-fertigt ist Darauf ist noch im zweiten Abschnitt zu kommen

Im ontologischen Herzstuumlck des Philebos (23b-27c) fuumlhrt Sokrates dasvierfache Gefuumlge alles Seienden ein Nach der Auszeichnung desgemischten Lebens mit dem ersten Preis muss noch entschieden werdenwelcher Platz der Vernunft beizumessen ist Jede Erscheinung der Naturoder Kunst die als gute Mischung charakterisiert werden kann entstehtaus der Begrenzung des jeweiligen Unbegrenzten durch die VernunftNach der sokratischen Einleitung fragt Protarchos in 23d9f

raquoWirst du nicht noch eine fuumlnfte [Gattung] haben muumlssen die dieTrennung der guten Mischung bewirken kannlaquo

Sokrates erwidert dem Protarchos zoumlgerndraquoJa vielleicht aber ich glaube fuumlr jetzt noch nicht Sollte es aber noumltig

werden so wirst du mich wohl entschuldigen wenn ich noch einerfuumlnften [Gattung] nachgehelaquo (23d11-e1)

Wie jeder guter Dramatiker ist auch Platon nicht ausschlieszliglich in demfuumlhrenden Gespraumlchspartner sondern in allen seinen fiktiven Personenwiederzufinden einschlieszliglich des Protarchos im Philebos und desKleinias in den Gesetzen Daher ist Protarchosrsquo Frage entsprechenderAufmerksamkeit und Uumlberlegung wuumlrdig Zunaumlchst fragt Protarchosnach dem Schlechten weil sich jemand als schlecht erweist wenn er dasgut Zusammengefuumlgte aufloumlsen will7 Dann laumluft die sokratische Dar-stellung in diesem Kontext (ab 28d5ff) auf die platonische Kosmologiehinaus Die Vernunft faumlllt unter die vierte Gattung der Ursache weil daskosmische Ganze durch Vernunft geschaffen geordnet und durchwaltet

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 7

wird Sokrates unterstreicht eine Analogie zwischen Koumlrper und Seeledes Menschen einerseits und Koumlrper und Seele der Welt andererseitsAuf die Letztere weisen Zeusrsquo koumlnigliche Seele und Vernunft hin (30d1-4) In diesem kosmologischen Kontext ist es nicht abwegig den oben zi-tierten Vorschlag des Protarchos als eine Frage nach der Moumlglichkeiteiner schlechten kosmischen Seele zu deuten die die Zerstoumlrung derguten Mischung im All verursachen koumlnnte

Im Philebos kommt es dennoch nicht zur Einfuumlhrung einer fuumlnftenGattung und noch weniger zu Uumlberlegungen bezuumlglich ihrer Natur DieMischung des menschlichen Lebens ist nicht vorgegeben sondern bleibteine stets aufs Neue zu erfuumlllende Aufgabe Die immerwaumlhrend praumlsenteMoumlglichkeit des Misslingens ist darauf zuruumlckzufuumlhren dass dasUnbegrenzte nie voumlllig begrenzt werden kann jedenfalls nicht wenn esum Menschen geht Es bleibt stets als solches bewahrt und soll diesauch8

Vergegenwaumlrtigen wir uns also Erstens gehoumlrt die allgemeine Fragenach dem Ursprung des Schlechten durch und durch zum platonischenAnsatz Zweitens erweckt Platon den Eindruck die Frage nach demSchlechten auf der kosmischen Ebene zu stellen Die folgende Analysewird beweisen dass der Athener keine allgemeine Frage nach demSchlechten uumlberhaupt im Kontext der Gesetze stellt Auszligerdem bietet erdort eine negative Antwort auf die Frage nach einer schlechten Welt-seele

II Nomoi X Die Einfuumlhrung einer sbquoschlechten Seelersquo vor dem Hinter-grund des Leib-Seele-Dualismus

i Die Agenda und die Methode des Atheners

7 Ti 41a8-b2 Derjenige der etwas zusammenbindet ist auch der einzige deres wieder aufzuloumlsen vermag (vgl Ti 32c2-4) Obgleich nur der Demiurg der-jenige ist der sein Produkt vernichten kann zerstoumlrt er nicht die guten kosmi-schen Mischungen In diesem Fall waumlre er schlecht und wuumlrde seinerGoumlttlichkeit widersprechen

8 Im Gegensatz zu August Diegravesrsquo Redeweise von sbquoplaisanterie vouluelsquo (PlatonŒuvres Complegravetes Tome IX2 Philegravebe Paris 1959 Einleitung xxvi) wurde dieVerbindung der fuumlnften Gattung des Philebos mit der sbquoschlechten Seelersquo derNomoi schon von Heinze aufgezeigt (S 25-29)

8 Georgia Mouroutsou

Kleinias zeichnet den sehr umfangreichen einleitenden Teil des zehntenBuches der Gesetze (885b-907d) als raquodie schoumlnste und beste Praumlambelaller Gesetzelaquo aus (887b8-c2) und besteht wiederholt auf einer angemes-senen Verlaumlngerung dieser Einleitung9 Die Aufgabe eines gesetzlichenVorgehens gegen die Asebie wird erst im letzten Teil des Buches erfuumlllt10

Der Athener versucht in seiner Vorrede die drei Arten des Gottesfre-vels11 auf ihre Ursachen zuruumlckzufuumlhren bevor er von der Uumlber-zeugungskraft der Rede zur Strenge der entsprechenden Strafen uumlber-geht12 die der Gesetzgeber des zu gruumlndenden Staates aufunveraumlnderliche ndash da schriftliche ndash Weise festlegen wird Nach der erstenAuffassung wird die Existenz der Goumltter geleugnet Gemaumlszlig der zweitenkuumlmmern sich die Goumltter nicht um die menschlichen AngelegenheitenDie dritte zu widerlegende Meinung laumlsst sich folgendermaszligen formu-lieren Die sich um die Menschen kuumlmmernden Goumltter koumlnnen mittelsGebet und Opfer beeinflusst und umgestimmt werden Wie sich leichterahnen laumlsst erregt die Erforschung der Ursache der ersten Form vonGottlosigkeit im Rahmen der Argumentation gegen die Asebie diegroumlszligte Aufmerksamkeit13

Das zehnte Buch gilt seit der Antike als der philosophisch anspruchs-vollste Teil der Gesetze obwohl man die heikle Argumentationaufgrund der Zirkularitaumlt und der Subjektabhaumlngigkeit des Beweis-ganges immer wieder verworfen hat14 Der Charakter der beabsichtigtenUumlberzeugung in allen Einleitungen bleibt in der Forschung weiter um-stritten wobei den Zankapfel die Frage bildet inwiefern die Uumlber-

9 Lg 887b1-c4 890e4-891a710 Lg 907d4 bis 910d411 Die unvernuumlnftige Meinung (δόξα 888b7 c2 903a4 νόητος δόξα 891c7)

oder der (leidende) Zustand ( 885b6 πάθος 888c4 900b3 908c5) des Fre-vels wider die Goumltter werden als Abweichung (διαφορά 886a9) und alsKrankheit (νόσος 888b8) gekennzeichnet

12 Tί χρὴ πάσχειν (885b1f) (885b3f) Es werden die Ursachen einesbestimmten Uumlbels und nicht des Schlechten uumlberhaupt erforscht naumlmlich derwegen Asebie veruumlbten Missetaten Darauf bezieht sich κακά in 884a5 undkakvn 886d3 Als moralisch schlecht gelten die Gottlosen die die Gesetze inBezug auf die wichtigsten Dinge zugrunde richten (891b4-6 vgl 886a6)

13 Die Widerlegung der ersten Auffassung geht bis 899d4 Anschlieszligend wehrtsich der Athener gegen die zweite verfehlte Meinung bis 903a9 mit Hilfe vonArgumenten und mit dem Nachtrag des Mythos bis 905d3 Die Behandlung derdritten Abweichung folgt bis 907b4

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 9

zeugung sich mit rationalen oder irrationalen Mitteln vollzieht15 Einerationale Fundierung darf keinesfalls mit einer raquodurchgehend philoso-phische[n] Begruumlndunglaquo identifiziert16 sondern muss als eine Annauml-herung an die philosophische Argumentation verstanden werden17 Beider Widerlegung der ersten Uumlberzeugung der Gottlosen zielt derAthener nicht auf die Bezauberung seiner Gegner18 sondern wendeteine rationale Argumentation an Er druumlckt das Zusammenspiel von ra-tionaler und irrationaler Vorgehensweise am praumlgnantesten aus wenn erseine Zielsetzung folgendermaszligen formuliert

raquoDenn zoumlge sich wohl die Rede nicht wenig in die Laumlnge falls wireinerseits mit hinreichenden Argumenten gegenuumlber denjenigen diegottlos zu sein wuumlnschen das bewiesen woruumlber geredet werden musswie sie sagten falls wir andererseits unseren Anklaumlger in Furcht ver-

14 Auf eine exemplarische Weise hat Stalley die Argumentation als misslungendargelegt (An Introduction besonders S 169-172) Was die Zirkularitaumlt betrifftwill der Athener die Existenz der Goumltter beweisen die er dennoch voraussetztwenn er sie zur Hilfe ruft (Lg 893b1-4) s unter vielen anderen John ClearyThe Role of Theology in Platorsquos Laws In Lisi F L (Hrsg) Platorsquos Laws and ItsHistorical Significance Selected Papers of the International Congress onAncient Thought Salamanca 1998 S 125-140 Hier S 130 Auf derSubjektabhaumlngigkeit des dialektischen Vorgehens basiert die InterpretationSteiners (Platon Nomoi X) noch entschiedener ist Christian Pietsch Die Dihai-resis der Bewegung in Platon Nomoi X Rheinisches Museum fuumlr Philologie146 (2003) S 303-327 hier 319ff

15 Die Diskussion zwischen Christopher Bobonitch (Persuasion Compulsionand Freedom in Platorsquos Laws In Classical Quarterly 41 (1992) S 234-250) undStalley (Persuasion in Platorsquos Laws In History of Political Thought 15 (1994) S157-177) hat dieses Problem neuerdings zur Sprache gebracht Die rationaleUumlberzeugung muss rationale und irrationale Mittel kombinieren weil der zuUumlberzeugende (wenn auch nur Spuren von) Rationalitaumlt mitbringt aber zugleichgegen die Vernunft Widerstand leistet Stalley der die Praumlambel fuumlr lsquorathercoventional sermonsrsquo haumllt (An Introduction S 43) raumlumt eine Ausnahme fuumlrdas zehnte Buch ein (Persuasion S173f)

16 Pace Stalley Persuasion S 16717 Der wahrhaftige Gesetzgeber soll die Aufgabe erfuumlllen den Gesetzeswidri-

gen mithilfe beinahe philosophischer Argumente (καὶ τοῦ φιλοσοφεῖν ἐγγὺςχρώμενον μὲν τοῖς λόγοις 857d2) nicht nur zu heilen sondern auch zu erziehen(vgl Lg 857e3-6)

18 Einen verzaubernden Mythos nimmt der athener Gast erst bei seinerWiderlegung der goumlttlichen Sorglosigkeit gegenuumlber dem Menschlichen inAnspruch (Lg 903a10-905d3)

10 Georgia Mouroutsou

setzten und nachdem wir in ihnen Abscheu uumlber diese Missetaten erregthaumltten wir erst nachher die Gesetze aufstellten wie es sich gebuumlhrtlaquo19

ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platoni-sche Theorie der Bewegung

Kurz vor der Einfuumlhrung der schlechten Seele bezieht sich der Athenerexplizit auf den in 893b1-896b9 demonstrierten Vorrang der Seele uumlberden Koumlrper

raquoDenn wir duumlrften wohl richtig und vollguumlltig wahrhaftig undvollkommen gesagt haben dass fuumlr uns die Seele fruumlher entstand als derKoumlrper der Koumlrper aber an zweiter Stelle und spaumlter und beherrschtgemaumlszlig der Natur waumlhrend dagegen die Seele herrschtlaquo20

Platon gelingt es aus den Goumltterfrevlern ganz unterschiedlicherHerkunft ndash es sind Naturwissenschaftler Sophisten und Dichter darun-ter ndash einen einheitlichen Typus zu entwerfen der eine Prioritaumlt des Koumlr-pers ja noch mehr eine Derivation des Seelischen aus dem Koumlrperlichenvertritt21 Letztendlich plaumldiert er fuumlr einen materialistischen Reduktio-nismus der Form sbquoalles ist Koumlrperlsquo Eine Kosmogonie unterliegt seinerAuffassung gemaumlszlig der die Seele nach dem Koumlrper geschafft worden istDer Seele wird sowohl kausale als auch zeitliche Prioritaumlt zugesprochen

Nicht nur die Seele sondern alles was mit der Seele verbunden ist ndasheinschlieszliglich des Gesetzes und der Goumltter ndash werden nach dieser

19 Lg 887a3-8 raquoοὐ γάρ τι βραχὺς ὁ λόγος ἐκταθεὶς ἂν γίγνοιτο εἰ τοῖσινἐπιθυμοῦσιν ἀσεβεῖν τὰ μὲν ἀποδείξαιμεν μετρίως τοῖς λόγοις ὧν ἔφραζον δεῖν πέριλέγειν τὸν δὲ εἰς φόβον τρέψαιμεν τὰ δὲ δυσχεραίνειν ποιήσαντες ὅσα πρέπει μετὰταῦτα ἤδη νομοθετοῖμενlaquo Durch den Singular (887a6 τὸν δέ) bezieht sich derAthener auf denjenigen der die Anklage gegen die Glaumlubigen einbringt(886e8f)

20 Lg 896b10-c3 raquoὈρθῶς ἄρα καὶ κυρίως ἀληθέστατά τε καὶ τελεώταταεἰρηκότες ἂν εἶμεν ψυχὴν μὲν προτέραν γεγονέναι σώματος ἡμῖν σῶμα δὲδεύτερόν τε καὶ ὕστερον ψυχῆς ἀρχούσης ἀρχόμενον κατὰ φύσινlaquo

21 Es handelt sich um ein lsquoamalgam of several views rather than a single clear-cut doctrinersquo (Saunders Plato The Laws S 408) Glenn Morrow spricht vonlsquobody of ideasrsquo (The Cretan City Princeton 1960 S 480) Robert Muth nochtreffender von einer sbquomaterialistische[n] philosophische[n] κοινήlsquo der damaligenattischen Aufklaumlrungsbewegung (Studien zu Platons sbquoNomoirsquo X 885b2-899d3In Wiener Studien 69 (1956) S 140-153 Hier S 146)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 11

Auffassung als abgeleitet herabgesetzt Als abbildende Setzungenkoumlnnen sie die abgebildete Natur und Wahrheit nur verfehlen

raquo[hellip] er scheint Feuer und Wasser und Erde und Luft fuumlr das Erstevon allem zu halten und diese Dinge als sbquoNaturrsquo zu bezeichnen dieSeele aber fuumlr ein Spaumlteres aus diesen [Entstandenes]laquo22

Nun stellt der Athener seine Bewegungslehre dar mit der Absicht diePrioritaumlt der Seele zu beweisen23 Nach den sbquoPhilosophierendenlsquo24 lassensich die oumlrtlichen Bewegungen in sechs Arten unterteilen (1) Rotation(2) gleitende Bewegung (3) rollende Bewegung (4) Wachstum (5)Schwund (6) Zugrundegehen Dabei faumlllt das ontologische Werden (7)und Vergehen (8) als ein ausgezeichnetes Paar heraus da es ur-spruumlnglicher ist als die bisher entfalteten oumlrtlichen Bewegungsarten25

Die entscheidende Zweiteilung jedoch kommt erst am Ende der Auf-zaumlhlung zur Sprache Danach gibt es einerseits die koumlrperliche Be-wegung die als Fremdbewegung bestimmt wird (9) andererseits die alsSelbstbewegung definierte seelische Bewegung (10)26 Der Athener ver-steht den Namen sbquoSeelelsquo als den Namen dessen Definition sbquoSelbst-Be-wegunglsquo (895e10-896a2) erst nach der methodologischen Unter-scheidung zwischen dem Wesen und dessen Namen erfolgt (895d1-e9)Nach dieser Distinktion charakterisiert er die zweite Bewegung als sbquokoumlr-perlichlsquo (896b4-8) sbquoKoumlrperlsquo ist der Name dessen Definition dieFremdbewegung ist (896b10-c3)

Erst gemaumlszlig dieser Einteilung koumlnnen alle bereits aufgezaumlhltenraumlumlichen Bewegungsarten als seelisch oder koumlrperlich verstandenwerden Anders als Pietsch27 finde ich keinen Textbeleg nach dem dieSelbstbewegung im Gegensatz zu den raumlumlichen Arten der Fremdbe-wegung unraumlumlich sein soll Pietsch argumentiert dass das ganze dihai-

22 Lg 891c1-4 Eine aumlhnliche sbquoAll-Thesersquo vertreten die materialistisch ver-anlagten Ontologen im Rahmen der sbquoRiesenschlachtlsquo im Sophistes bevor ihnender Gast aus Elea durch seinen δύναμις-Vorschlag zur Hilfe kommt ImGegensatz zu den Ideenfreunden die schon mit der Unterscheidung zwischenSein und Werden auftreten macht nach den Materialisten ausschlieszliglich derKoumlrper das Sein aus (Sph 246b1)

23 Auf diese Weise begruumlndet der Gast alle vorgebrachten Auflistungen derGuumlter nach denen der Vorrang immer seelischen und nicht koumlrperlichen Guumlternbeigemessen wurde Vgl Lg 631b-c 661a ff 688a-b 697a-c 726a-729a 743e

24 So werden die Vertreter der Prioritaumlt der Seele ausgezeichnet Lg 967c8 (diezweite und letzte Erwaumlhnung von Philosophie in den Gesetzen auszliger in Lg857d2)

12 Georgia Mouroutsou

retische Stemma sbquonur raumlumliche Bewegungsartenlsquo bieten kann weil derAthener von der Physik des Gegners ausgeht28 Platon offenbart jedochein Stuumlck von seiner eigenen Philosophie immer dann wenn er seinesbquoGegnerrsquo verbessert seien es die Herakliteer im Theaitetos die Materia-listen des Sophistes oder diejenigen der Gesetze Das Platonische derRaumlumlichkeit der seelischen Bewegung erklaumlrt auszligerdem Timaios fuumlrguumlltig der der Weltseele raumlumliche Bewegung beimisst Zur Bekraumlf-tigung dient daruumlber hinaus die aristotelische Kritik am platonischenVerstaumlndnis der Selbstbewegung als raumlumlicher Bewegung (de an I3)

Dass der Bewegung in der spaumlteren platonischen Philosophie einegrundlegende Rolle zukommt zeigen neben dem Timaios die DialogeSophistes und der Theaitetos Im Sophistes wird das ausgezeichnete so-wohl bewegte als auch im Stillstand befindliche Sein der Idee qua Ideebehandelt Im Theaitetos werden heraklitische Allbewegungs-Modelleim Bereich der Wahrnehmung kritisiert Im Timaios wird die Bewegungin ihrer ganzen kosmologischen Tragweite ausgelotet In dem letztenDialog zeigt Platon seine Aneignung und Transformation des Herakli-

25 Gemaumlszlig der Aufzaumlhlung Konrad Gaisers (Platons Ungeschriebene LehreStuttgart 19983 S 176f) und ohne Besprechung der immensen einzelnen Pro-bleme Die ontologische γένεσις uumlber die Linie und Flaumlche bis hin zumdreidimensionalen Koumlrper (894a2-5) gilt als noch urspruumlnglicher als die vorhererwaumlhnten raumlumlichen Bewegungsarten (893c1f) Dieser Primat unterscheidetsich von Aristotelesrsquo Auffassung wie die Kritik des Stagiriten belegt (GC I2315a29ff) Der Bewegungskatalog ist von grundlegender Bedeutung fuumlr das Ver-staumlndnis der Prioritaumlt der Seele Hier begnuumlge ich mich mit der Hervorhebungder Beitraumlge von Gaiser und Solmsen (Aristotlersquos System of the Physical WorldA Comparison With His Predecessors New York 1960) Gaiser hat den sys-tematischen Charakter der Aufzaumlhlung der Bewegungsarten in Verbindung zuder indirekten Uumlberlieferung ausgearbeitet (Platons Ungeschriebene Lehre S173-186) Man folgt oft seiner Interpretation der besonders dunklen Stelle Lg894a1-8 und zwar mit oder ohne explizite Erwaumlhnung seines Beitrags zum Bei-spiel Pietsch C Die Dihairesis der Bewegung hier S 316 Anm 45 SchoumlpsdauK Platon Werke in Acht Baumlnden Griechisch und Deutsch Achter Band Zwei-ter Teil Platon Gesetze Buch VII-XII Minos Darmstadt 20054 S 291 Anm 26Mayhew R Plato Laws X Oxford 2008 S 112ff Solmsen (Aristotlersquos System)bietet seinerseits eine sehr ausgewogene Hermeneutik der platonischen undaristotelischen Bewegungslehre an die gegenuumlber der neueren oft hinter ihrzuruumlckbleibenden Forschung noch immer als exemplarisch gelten sollte

26 Lg 894b8-c1 894c3-827 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 304 und oumlfters28 Ebd S 320

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 13

tismus im Bereich der Ontologie des Wahrnehmbaren auf (48eff) des-sen Ausarbeitung nach wie vor eine Aufgabe fuumlr die Platon-Forschungdarstellt

Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich dass sbquoKoumlrperrsquo undsbquoSeelersquo als verschiedene Arten von Bewegung aufgefasst werden Hiersehe ich keine Verwirrung bei Platon zwischen einer Bewegungsart(Selbstbewegung) und der Seele als unabhaumlngiger Substanz Anders alsRichard Stalley29 verstehe ich sowohl die Selbstbewegung als auch dieSeele qua Seele als auf einen Koumlrper bezogen wenn auch unabhaumlngigvom jeweiligen Koumlrper gedacht und definiert Sogar die schlechte Welt-seele bliebe somit bezogen auf den Weltkoumlrper waumlre sie real

iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer an-tiken Auffassung

Halten wir inne Der Seele wird eine Art Prioritaumlt beigemessen die sichauf die in ihrer Definition widergespiegelte Natur als Selbstbewegungstuumltzt Als solche zeigt sich die Seele qua Seele und unabhaumlngig von allihren konkreten Manifestationen als aumllter wirksamer und maumlchtiger un-ter allen Bewegungen Und nicht nur dies Sie zeigt sich auch als dieeigentliche Bewegung und Veraumlnderung alles anderen Seienden30 Wirbefinden uns also im Rahmen der Problematik des Leib-Seele-Dualis-mus der neben dem Dualismus von Idee und Erscheinung der alssbquoZwei-Welten-Lehrelsquo beruumlhmt bzw beruumlchtigt wurde sowie dem in derAntike und Moderne debattierten Dualismus der zwei platonischenPrinzipien weitlaumlufig Karriere in der Geschichte des Platonismusgemacht hat31

29 Stalley An Introduction to Platorsquos Laws Oxford 1983 S 171f30 Lg 894c6f31 Die Tatsache dass hier die zwei letzteren Arten von Dualismus nicht vor-

kommen bedeutet keinesfalls dass der alte resignierte Platon seine Ideen- oderPrinzipienlehre aufgegeben habe (so Muumlller Gerhard Studien zu den Platoni-schen Nomoi Muumlnchen 1951 19682 aumlhnlich Rist Eros and Psyche S 87ff)Auf die platonische Ideenlehre weist der Gast als auf einen wesentlichen Teil derErziehung der sbquonaumlchtlichen Versammlungrsquo hin (Lg 965b-966b) Hier sei dieschwierigere Frage dahingestellt inwieweit die angedeutete Lehre der klassi-schen Ideenlehre der mittleren Dialoge entspricht

14 Georgia Mouroutsou

Platon problematisiert den Leib-Seele Dualismus nicht nur aufgrundder allgemeinen Frage nach sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo sondern auch weil erauf der moumlglichen Interaktion zwischen der intelligiblen Seele (derSonne) und ihrem wahrnehmbaren Koumlrper reflektiert (in Lg 898e8-899a4)32 Obgleich wir nicht viel Positives uumlber die platonische Auffas-sung der Art der Beziehung zwischen Koumlrper und Seele aussagenkoumlnnen sind wir damit doch imstande auf entschiedene Weise einigesauszuschlieszligen Wir werden mit dem Materialismus und dem Mentalis-mus anfangen die mit weniger Muumlhe abgelehnt werden koumlnnen als derso charakterisierte sbquorobuster Dualismuslsquo dem wir uns anschlieszligendwidmen

Die These des Materialismus wonach das Seelische auf Koumlrperlicheszuruumlckzufuumlhren sei gewinnt nicht die Oberhand in diesem KontextDie Materialisten bleiben die Gegner des Atheners durch das ganze Ar-gument hindurch Noch modifizierte Materialisten finden einen Belegfuumlr ihre These dass das Seelische unsichtbares Koumlrperliches sei Neu-erdings hat Gabriela Carone diese Auffassung des sbquomodifizierten Mate-rialismuslsquo als genuin platonisch vertreten33 was eine gerechtfertigteReaktion von Francesco Fronterotta hervorgerufen hat34 Bei ihrem Ver-such die Materialitaumlt der Seele aufzuweisen begeht Carone einengrundsaumltzlichen Fehler Sie geht ohne jede Argumentation von der Moumlg-lichkeit eines unsichtbaren Koumlrpers zu einem Verstaumlndnis der Seele alskoumlrperlich uumlber35 Die Ausdehnung sei (nach Platon) wesentliche Eigen-schaft des Koumlrperlichen Weil sie raumlumlich ist muumlsste die Seele daher ir-gendeine Art koumlrperlicher Natur besitzen Carone gibt zu lsquoOf course

32 Die Stelle charakterisiert Thomas Robinson als lsquoa splendid memorial to his[Platorsquos] intellectual honestyrsquo (The Defining Features of Mind-Body Dualism inthe Writings of Plato In John Wright und Paul Potter (Hrsg) Psyche andSoma Physicians and Metaphysicians on the Mind-Body Problem From Antiq-uity to Enlightenment S 37-55 Hier S 55) lsquoTo the end he is wrestling with theproblem that lies at the heart of all psycho-physical dualism the problem ofrelating a physical substance to an immaterial one and to the end he openlyadmits his bafflementrsquo (ebd)

33 Carone Gabriela Mind and Body in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichteder Philosophie 87 (2005) S 227-269 Hier S 256f

34 Fronterotta schmaumllert gewisse Staumlrken des Argumentes von Carone undbringt daher die platonische Methode der sbquoVerbesserungrsquo des Gegners in diesemFall der Materialisten nicht zur Anwendung (Fronterotta Fransesco Carone onthe Mind-Body Problem in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichte der Philoso-phie 89 (2007) S 231-236)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 15

there is still a gap to be filled between spatial extension and corporeal-ityrsquo36 Trotz ihres Zugestaumlndnisses fuumlllt Carone diese Luumlcke leider nichtund offenbart auf diese Weise ihre nicht hinterfragte (oder bei Platonnicht bewaumlhrte) Cartesianische Praumlmisse37

Noch belegt unser Zusammenhang das andere Extrem einer ArtMentalismus nach dem das Koumlrperliche vom Seelischen ableitbar istSowohl die Darstellung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper alszwischen Ganzem und Teil (Chrm 156dff) als auch die oumlrtliche Meta-pher der den Koumlrper umhuumlllenden Seele (Ti 36e3f und Lg 898d11-e238)eroumlffnen dennoch den Raum fuumlr eine solche Auffassung Dennoch un-terstuumltzt der Kontext in den Gesetzen nicht diese Auffassung Anders alsder materialistisch gepraumlgte Typus vertreten die sbquoPhilosophierendenlsquokeine reduktionistische These was nicht nur den Materialismus sondernauch den Mentalismus ausschliesst

In modernen Diskussionen des Leib-Seele-Problems wird Platon allzuoft als Vertreter eines sbquorobusten Dualismuslsquo dargestellt39 Demgemaumlszlighandelt es sich bei Seele und Koumlrper um zwei selbststaumlndige vonei-nander abgetrennte Substanzen die erst nachtraumlglich vereinigt werden

35 Carone Mind and Body S 237 die Voraussetzungen eines solchen Ver-staumlndnisses hat Fronterotta ans Licht gebracht Carone on the Mind-Body Pro-blem S 233

36 Carone Mind and Body S 240 Anm 4337 Vgl Carones selbstverstaumlndliche Redeweise lsquospatial or material conditionsrsquo

lsquobody and spacersquo lsquospace and bodyrsquo Mind and Body S 264 Zu einer einsichtige-ren Unterscheidung der Arten vom Dualismus bei Platon und Descartes sSarah Broadie Soul and Body in Plato and Descartes In The AristotelianSociety 101 (2001) S 295-308

38 Die zweite zaumlhlt Robinson nicht mit auf The Defining Features of Mind-Body Dualism S 40 Anm 12 Lg 898d11-e2 hat mehrere Deutungen undUumlbersetzungen veranlasst Περιφύειν wird mit aumlhnlicher Bedeutung in R 612aangewendet (sbquoherum- oder anwachsenlsquo) Diese Metapher in den Gesetzen undderen Uumlbersetzung verfehlen Otto Apelt Platons Gesetze Zweiter Band Leip-zig 1916 S 419 Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 S 163 mit Anm 2 Robin Leacuteon Oeuvres completesPlaton Paris 1950 Zweiter Band S 1025 richtig verstehen die Stelle JowettBenjamin The Dialogues of Plato Oxford 41953 S 468f Taylor Alfred E TheLaws of Plato London 21960 S 291 Muumlller Studien S 92 Anm 1 Bury Rob-ert Plato with an English Translation IX and X Laws London-New York1952 S 346 mit Anm Saunders Plato The Laws S 430 Cooper John (Hrsg)Plato Complete Works Cambridge 1997 S 1555 Mayhew Plato Laws X S29

16 Georgia Mouroutsou

muumlssen was hier nicht ausdruumlcklich widerlegt wird Neuerdings hatFronterotta diese Auffassung vertreten40 wobei auch seine Deutung aufzwei unaufhebbaren Schwierigkeiten im Timaios stoumlszligt Zum ersten istdie Weltseele raumlumlich ausgedehnt Zum zweiten ist sie das Produkteiner Mischung was nicht nur Carones These widerlegt dass die Seelekoumlrperlich sei ndash da hat Fronterotta Recht ndash sondern auch gegen einen ab-soluten unuumlberbruumlckbaren Gegensatz zwischen einer rein rationalerSeele und dem Weltkoumlrper plaumldiert41

Auf dem ersten Blick scheint unser Kontext in den Gesetzen nicht aufexplizite Weise den weit verbreiteten Vorschlag eines Substanz-Dualis-mus abzuweisen Weil sich aber in diesem Zusammenhang sowohl dieseelische als auch die koumlrperliche Bewegung im Raum vollziehen (Lg893c1f) ist die Dimensionalitaumlt keinesfalls ausschlieszliglich dem Koumlrperzugeordnet was sich wiederum mit einem starren Dualismus nicht ver-traumlgt42

Jedenfalls ist ein gewisser Dualismus insofern nicht zu uumlbergehen alsdie seelische Bewegung die koumlrperliche nicht produzieren kann43 NachLg 896e8-897b4 sbquonehmenrsquo die seelischen als die primaumlren Bewegungendie sekundaumlren koumlrperlichen sbquoaufrsquo Das gleiche Verb (παραλαμβάνειν897a5) wendet auch der Timaios an Der Demiurg nimmt das auf unge-ordnete und fast verbrecherische Weise bewegte Wahrnehmbare sowiespaumlter im Dialog das was ἀνάγκη bewirkt (68e3) auf Die unterstehendenGottheiten nehmen ihrerseits den rationalen Teil der Seele auf um ihn mitdem sterblichen Teil im Koumlrper zu verknuumlpfen (Ti 69c5) Diesen ver-schiedenen Zusammenhaumlngen koumlnnen wir keine Umkehrung der Prio-ritaumlt der Seele gegenuumlber dem Koumlrper entnehmen Was sich mit einer anSicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ausschlieszligen laumlsst ist eine

39 S Burnyeat Myles Is An Aristotelian Philosophy of Mind Still CredibleA Draft In Nussbaum A M-Rorty (Hrsg) Essays on Aristotlersquos De AnimaOxford 1992 S 15-26 Hier S 16 Putnam Hilary The Threefold Cord MindBody and World New York 1999 S 97 Stephen Priest Theories of the MindLondon 1991 S 8-15 57 162)

40 Fronterotta Carone on the Mind-Body Problem41 Platon behandelt das Problem der Verbindung zwischen der Seele und dem

Koumlrper wie die Vermittlung durch das Mark beweist (Ti 73b-c) was wir abernicht als Beleg dafuumlr betrachten sollten dass Platon zum Vorlaumlufer von Descar-tes wird

42 Thomas Johansen begeht diesen Weg in seiner Timaios-Auslegung43 Vgl Mason Andrew Plato on the Self-Moving Soul In Philosophical

Inquiry 1998 S 18-28 Hier S 24 28

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 17

Herleitung des Koumlrperlichen aus dem Seelischen44 Diese Unterscheidungzwischen Koumlrper und Seele erlaubt es dem Dialektiker je nachZusammenhang die Seele qua Seele (so in der vorliegenden Passage der Ge-setze) und den Koumlrper qua Koumlrper (so im Timaios) zu betrachten ohne einereduktionistische Auslegung vorauszusetzen

Auf dieser Basis wird ein Reduktionismus des Koumlrpers auf die Seele aus-geschlossen Ausserdem unterstuumltzt der Wortlaut des Textes nicht das Ver-staumlndnis der ontologischen Prioritaumlt die Aristoteles in Metaph V11 an-spricht Es geht in unserem Kontext nicht darum was Aristoteles undAlexander als platonische Auffassung und akademisches Gut dar-stellen45 Als Kriterium der ontologischen Rangfolge wird dassbquoMitaufgehobenwerdenrsquo des Spaumlteren angegeben Demgemaumlszlig setzt dasontologisch Spaumltere das Fruumlhere voraus aber nicht umgekehrt Wenndas Fruumlhere aufgehoben wuumlrde wuumlrde auch das Spaumltere aufgehobenwas sich aber nicht umkehren laumlsst Soweit geht Platon bei der hiesigenBetrachtung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper jedoch nichtDie Rede von der sbquoAufnahmersquo der koumlrperlichen Bewegungen von denseelischen ist weniger mit einer ontologischen Prioritaumlt der Seele (wieoben dargelegt) als vielmehr mit einer Aufeinanderbezogenheit vonSeele und Koumlrper vertraumlglich

Um eine uumlber den Rahmen dieses Beitrags hinausgehende positive Louml-sung fuumlr Platons Leib-Seele-Dualismus zu entwickeln ist es noumltigeinige falsche Meinungen zu korrigieren wozu die obere Darlegung bei-traumlgt

iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Ar-gument

44 Pace England Edwin The Laws of Plato London 1921 Zweiter Band S476 der παραλαμβάνειν als lsquobring in their trainrsquo versteht In allen obenerwaumlhnten Zusammenhaumlngen ist klar dass das Aufgenommene nicht vomAufnehmenden geschaffen wird Die Uumlberlegenheit des letzteren bleibt davonunberuumlhrt

45 Vor allem in Arist Metaph V11 1019a2-4 vgl Alexander In AristotMetaph I 6 987b33 Gaiser Testimonium Platonicum 22B

18 Georgia Mouroutsou

Wir kehren zu unserem Text zuruumlck Da der Seele ontologische Prioritaumltgegenuumlber dem Koumlrper verliehen wird ist auch das der Seele Verwandteontologisch fruumlher als das was dem Koumlrper zugehoumlrt

raquoVerhaltensweisen aber und Gemuumltsarten Willensakte Schluss-folgerungen wahre Meinungen Fuumlrsorge und Erinnerungen duumlrftenfruumlher entstanden sein als koumlrperliche Laumlnge Breite Tiefe und Staumlrkewenn eben die Seele fruumlher als der Koumlrper entstanden sein solltelaquo46

Im Anschluss daran hilft uns der Athener nachzuvollziehen warumPlaton eben hier die sbquoschlechte Seelersquo einfuumlhrt Man muumlsse darin uumlberein-stimmen dass die Seele Ursache sowohl des Guten als auch des Boumlsendes Schoumlnen und des Schlechten des Gerechten und des Ungerechtenund aller Gegensaumltze sei

raquoIst es denn nicht noumltig darin uumlbereinzustimmen dass die Seele dieUrsache des Guten sowie des Schlechten des Schoumlnen sowie des Haumlszlig-lichen des Gerechten sowie des Ungerechten und uumlberhaupt allerGegensaumltze wenn wir sie als Ursache von allem setzenlaquo47

Diese Zeilen sind aumluszligerst wichtig weil hier und nicht erst in 896e4ffder Gegensatz von sbquogut und schlechtlsquo eingefuumlhrt wird Dem Argumentist vorgeworfen worden es sei schwach Unter den Kritikern verstehtStalley den Schluss auf folgende Weise lsquoSoul since it is the source ofeverything must be the source of valuesrsquo Er wundert sich dass Werteohne Begruumlndung und ohne Erklaumlrung ihrer Existenzweise eingefuumlhrtwerden48 Dementgegen werde ich eine wohlwollendere Annaumlherungvorschlagen Nach der Rekonstruktion des Arguments werde ich eineArt sbquoanthropozentrischer Wendelsquo in einen breiteren Kontext situieren

Wie er expliziert (896d8) zieht der Gast aus Athen diesen Schlussdaraus dass die Seele als Ursache von allem angesetzt worden ist Bevorwir diese Begruumlndung als einen Fehlschritt charakterisieren sollten wiruns zusammen mit Kleinias erinnern dass die sbquoSeelersquo die Veraumlnderungvon allem herbeifuumlhrt49 Mit Hilfe einer anderen Formulierung ist dieSeele raquodie Veraumlnderung und Bewegung von allem Seiendenlaquo50

46 Lg 896c9-d3 raquoΤρόποι δὲ καὶ ἤθη καὶ βουλήσεις καὶ λογισμοὶ καὶ δόξαιἀληθεῖς ἐπιμέλειαί τε καὶ μνῆμαι πρότερα μήκους σωμάτων καὶ πλάτους καὶβάθους καὶ ῥώμης εἴη γεγονότα ἄν εἰπερ καὶ ψυχὴ σώματοςlaquo

47 Lg 896d5-7 raquoἎρrsquo οὖν τὸ μετὰ τοῦτο ὁμολογεῖν ἀναγκαῖον τῶν τε ἀγαθῶναἰτίαν εἶναι ψυχὴν καὶ τῶν κακῶν καὶ καλῶν καὶ αἰσχρῶν δικαίων τε καὶ ἀδίκωνκαὶ πάντων τῶν ἐναντίων εἴπερ τῶν πάντων γε αὐτὴν θήσομεν αἰτίανlaquo

48 Stalley An Introduction S 172 49 Lg 892a6f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 19

Die Bewegung ist hier als Wechsel und Veraumlnderung (μεταβολή) in ih-ren weitesten Sinn zu verstehen seien sie im Raum in Bezug auf dieSubstanz die Qualitaumlt oder die Quantitaumlt Der Uumlbergang findet zwi-schen Gegensaumltzen statt Die ersten Paare von Gegensaumltzen die derAthener vor der Verallgemeinerung in 897d7 anspricht sind Ver-bindungen und Trennungen Wachstum und Schwund sowie Prozessedes Wedens und Vergehens (894b10f) Die Seele zeigt sich als dieUrsache von aller Art koumlrperlicher Veraumlnderung Wenn eine Seele einenWechsel von einem schlechten zu einem guten Zustand verursacht dannist diese Seele in sich selbst gut Wenn eine Seele einen schlechtenEinfluss auf einen Zustand uumlbt dann ist sie dafuumlr verantwortlich Es istbemerkenswert dass der Gegensatz zwischen sbquogutlsquo und sbquoschlechtlsquo nichtauf die Unterscheidung zwischen sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo oder diejenigezwischen sbquoseelischer Bewegunglsquo und sbquokoumlrperlicher Bewegunglsquo zu-ruumlckgefuumlhrt wird Der Koumlrper kann nicht als schlecht charakterisiertwerden weil nach dem spaumlten Platon der Koumlrper qua Koumlrper weder gutnoch schlecht in sich selbst ist

Wenn die Seele die Ursache von allem ist so der Athener dann musssie die Ursache von allen Gegensaumltzen sein einschlieszliglich des Bereichsder Ethik Die gleichen Gegensatzspaare von sbquogut und schlecht schoumlnund haumlszliglich sowie gerecht und ungerechtlsquo tauchen in Euthph 7c10ff alsder Zankapfel der menschlichen Debatten auf die vor Gericht gefuumlhrtwerden koumlnnen Auch in Grg 459d1ff gehoumlren sie zur rhetorischenKunst die kein Wissen daruumlber erwerben kann In Plt 296c5-7 erfahrenwir dass ein Irrtum im Rahmen der politischen Kunst das Schaumlndlichedas Schlechte und das Ungerechte verursacht Was der Rhetor verfehltweiszlig der Staatsmann Der goumlttliche Teil der menschlichen Seele mag einewahre Meinung uumlber Schoumlnes Gutes und Gerechtes stiften (Plt 309c5-8)

Indem die Seele fuumlr alle moumlglichen koumlrperlichen Veraumlnderungen ver-antwortlich gemacht wird gelangen wir in unserem Zusammenhang zuder Seele als der primaumlren Ursache auch des Schlechten und nichtaufgrund der Frage woher das Schlechte komme Der Athener machtnirgends explizit dass er die Seele als die einzige Ursache des Schlechtensei Bedenken sollte daher gegen Englands Beobachtung geaumluszligert wer-den in 896d5 werde die Frage nach dem Uumlbel eingefuumlhrt und insbe-

50 Lg 894c6f raquoκαλουμένην δὲ ὄντως τῶν ὄντων πάντων μεταβολὴν καὶκίνησινlaquo

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sondere gegen seine Folgerung lsquoHaving identified ψυχή with the αἰτίαἀγαθοῦ τε καὶ κακοῦ he is bound to talk of the αἰτία κακοῦ as ψυχήrsquo51

Auf das seelische Uumlbel konzentriert sich hier der Athener Verabsolutie-rende Konklusionen uumlber das Uumlbel schlechthin sind daher der Ge-spraumlchssituation nicht zu entnehmen Jedenfalls waumlre der bestimmte Ar-tikel noumltig vor αἰτίαν (sowohl in 896d6 als auch in d8)

Der Athener zielt darauf die Natur der Seele als die Ursache von allenGegensaumltzen auszulotten und fuumlhrt dann das Feld der menschlichenEthik ein ohne seinen Uumlbergang oder eher seine Einschraumlnkung zu er-klaumlren52 Die konkrete politische Situation in den Gesetzen bietet eineplausible Erklaumlrung fuumlr diesen Uumlbergang von der Seele qua Seele zurmenschlichen Seele Die Buumlrger von Magnesia sollten ihre Machtwahrnehmen sowohl zum Guten als auch zum Schlechten beizutragenAuszligerdem sollten sie die Verantwortung ihrer politischen Taumltigkeit ineinem kosmischen All uumlbernehmen das von einer guten Seele verwaltetwird Die primaumlre Ursache der Bewegung ist die Seele Beinahe waumlre dieSeele als Selbst-Bewegung ie ihre absolute Spontaneitaumlt als Bedingungihrer moralischen Verantwortung zum ersten Mal in der Geschichte derPhilosophie vorgekommen haumltte Platon diese Verbindung ausbuch-stabiert53

Eine Art Anthropozentrismus kommt in den spaumlteren platonischenSchriften vor Die Entscheidung ob wir dieses Konzept einer philoso-

51 Platorsquos Laws S 474 Auf aumlhnliche Weise auch Carone Evil and Teleology S295 Anm41

52 Mayhew argumentiert seinerseits dass es nicht darum gehe dass die Seeledie Ursache aller Dinge und daher sowohl schlechter wie guter Dinge sei DerInterpret meint die Seele sei fruumlher als der Koumlrper und in dieser Weise das Seeli-sche ndash einschlieszliglich der Moral ndash entsprechend fruumlher als das Koumlrperliche (PlatoLaws X S 131) Dennoch liegt die Pointe meines Erachtens nicht darin eineneingegrenzten Bereich ndash den der Ethik ndash anzusprechen sondern das Wesen derSeele als Ursache aller Gegensaumltze auszubuchstabieren was wiederum nichtheiszligt man sollte den Bereich der Moral voumlllig leugnen wie es Raphael Demostut lsquo[hellip] the soul is non-moral apt for both good and evil and so far forth inde-terminatersquo (Demosrsquo Hervorhebung Platorsquos Doctrine of the Psyche as a Self-Moving Motion In Journal of History of Philosophy (1968) S 133-145 HierS136)

53 Vgl Horn Christoph Der Begriff der Selbstbewegung bei Alkmaion undPlaton In Rechenauer Georg (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen2005 S 152-173 bes S 168ff und Baumgarten Hans-Ulrich Handlungstheoriebei Platon Platon auf dem Weg zum Willen Stuttgart 1998 S 241-264

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 21

phischen Kritik unterziehen sollten oden nicht mag hier dahingestelltbleiben Mit dem sbquoAnthropozentrismuslsquo bei Platon meine ich dass dasErschaffen des Weltalls auf der Basis einer Teleologie geschieht die aufden Menschen und seinen Beduumlrfnissen zentriert ist Man mag denTimaios heranziehen Der Anthropozentrismus scheint sich durch denganzen Monolog durchzusetzen in dem Timaios auf das Schaffen desMannes fokussiert ist Gemaumlszlig der Lehre der Wiedergeburt sind Frauenund Tiere schlechtere Formen von Lebewesen Es gibt zwei Passagendie als besonders anthropozentrisch gepraumlgt vorkommen Zum erstensind die Pflanzen um der Ernaumlhrung der sterblichen Lebewesen willengeschaffen worden (77e7-b1) Zum zweiten schafft der Demiurg dieuumlber das ganze All scheinende Sonne damit die dementsprechend aus-geruumlsteten Lebewesen an der Zahl teilnehmen nachdem sie von derBeobachtung der kosmischen Bewegung viel gelernt haben (39b2-c1)Um der Menschen und der Kultivierung der Philosophie willen schafftGott die Sonne und ermoumlglicht die Wahrnehmung der Sicht Dank desStudiums der himmlischen Bewegungen koumlnnen wir nach der Natur derZeit und des Alls fragen Auf diese Weise duumlrfen wir hoffen unsere ge-stoumlrte Bewegung der Vernunft der ungestoumlrten Bahn der kosmischenVernunft zu assimilieren (46e-47c 90c-d)

Wir haben die Kritik an der Einschraumlnkung im moralischen Bereichwiderlegt indem wir unseren unmittelbaren sowie weiteren Kontextberuumlcksichtigten Wegen des Fokuses auf den menschlichen Bereich unddie menschliche Seele geht die allgemeine Frage der Seele qua Seele nichtverloren Der Hintergrund der jetzigen Diskussion bleibt dieseallgemeine Fragestellung obgleich die menschliche Seele diejenige istdie sich gemaumlszlig der Vernunft oder gegen die Vernunft verhaumllt (897b1-5)Wir sollten die Unterscheidung zwischen weiteren kosmischen undmenschlichen Dimensionen bewahren wenn auch der spaumlte Platon denkosmischen Zusammenhang auf eine anthropozentrische oder sogar an-thropomorphische Weise beschreibt54 Es waumlre weder gerechtfertigtnoch legitim dass die Untersuchung uumlber die menschliche Seelediejenige uumlber die Seele qua Seele dominieren oder ausschoumlpfen wuumlrde

54 Zur Zentrierung des kosmischen Alls auf dem menschlichen Leben bei spauml-tem Platon s Carone Evil and Teleology S 296

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v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6

Von der allgemeinen Seelenlehre und der Seele qua Seele die bis dahindas Untersuchungsobjekt bildete gelangt der Athener jetzt zu einer be-sonderen Seele zur Weltseele Der Blickwechsel den der Athener imBereich seiner Betrachtung vollzieht sollte im Rahmen der platonischenSpaumltdialoge in denen Ontologie und Seelenlehre haumlufig in Kosmologiemuumlnden kein Erstaunen hervorrufen Als zwei Beispiele dafuumlr koumlnnender kosmologische Exkurs im Philebos (s oben Abschnitt I) und derUumlbergang von ψυχὴ πᾶσα (alles was Seele ist) zur Weltseele im Phaidros(245c5-246a2) gelten Was uumlber die Seele qua Seele gesagt wurde sollteauch im Fall der Weltseele Guumlltigkeit haben

raquoUnd weil die Seele in allem waltet und wohnt was sich auf ir-gendeine Weise bewegt muumlssen wir etwa nicht sagen dass sie auch denHimmel durchwaltelaquo55

Auf seine nur scheinbar unvermittelte und ploumltzliche Frage56 antwor-tet der Athener selbst

raquoEine oder mehrere Seelen Mehrere Ich werde fuumlr Euch antwortendass wir nicht weniger als zwei ansetzen sollten naumlmlich diejenige diedas Gute vervollkommnet und diejenige die faumlhig ist Entgegengesetztesdurchzufuumlhrenlaquo57

Dass der Athener im Namen seiner Gespraumlchspartner antwortet be-trachte ich als kein ausschlaggebendes Argument gegen die Realitaumlt einersbquoschlechten Weltseelersquo58 weil er sich noch auf die Seele qua Seele bezieht

55 Lg 896d10-e2 raquoΨυχὴν δὴ διοικοῦσαν καὶ ἐνοικοῦσαν ἐν ἅπασιν τοῖς πάντῃκινουμένοις μῶν οὐ καὶ τὸν οὐρανὸν ἀνάγκη διοικεῖν φάναιlaquo

56 Wilamowitz charakterisiert diese Frage zu Unrecht als sbquohereingeschneitlsquo(Platon II S 316) wogegen sich Kerschensteiner einsetzt (Platon und der Ori-ent S 73)

57 Lg 896e4-6 raquoΜίαν ἢ πλείους πλείους ἐγὼ ὑπέρ σφῷν ἀποκρινούμαι Δυοῖνμέν γέ που ἔλαττον μηδὲν τιθῶμεν τῆς τε εὐεργέτιδος καὶ τῆς τἀναντία δυναμένηςἐξεργάζεσθαιlaquo

58 Vgl Apelt Platons Gesetze S 539 Anm 48

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 23

Ist die Seele die das All verwaltet eine oder mehrere Haumltte Platon indi-viduelle Seelen ohne Bezug auf einen generellen Terminus sbquoSeelelsquo auf-zaumlhlen wollen haumltte er von mehr als zwei Seelen gesprochen Die Frageist sehr oft als Frage nach zwei Weltseelen verstanden worden Koumlnnteder Athener nicht die allgemeine Lehre der Seele qua Seele verlassen umsich auf die zwei partikulaumlren Weltseelen zu beziehen Dies haumltte derFall sein koumlnnen wenn die Weltseele mit Realitaumlt ausgestattet waumlre wassich aber nicht so verhaumllt Die oben genannte Frage kann nur die Seelequa Seele betreffen

Obgleich er haumlufig uumlberhoumlrt wird sollte der oben angewendete Dual beruumlcksichtigt werden weil er gegen ein Verstaumlndnis von zwei von-einander getrennten entgegengesetzten Seelen plaumldiert59 Auszliger demDual in 896e5 uumlberhoumlrt die Mehrheit der Interpreten hier noch etwasEntscheidendes Die der wohltaumltigen Seele entgegensetzte ist nicht eineeinfachhin und ohne Weiteres sbquoschlechte Seelersquo60 sondern die Seele raquodieimstande ist das Gegenteil zu bewirkenlaquo Genau in diesem Punkt uumlber-schneiden sich die allgemeine Seelenlehre nach der die Seele qua SeeleSelbstbewegung ist und als solche gut oder schlecht sein kann und diespezielle Lehre uumlber die kosmische Seele die ebenfalls qua Seele in derLage ist gut oder schlecht zu sein Deswegen sollten wir die Rede vonδύναμις in unserer Uumlbersetzung von sbquoτἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαιlsquo(Lg 896e6)61 nicht vernachlaumlssigen Die sbquoschlechte Seelelsquo wird nicht alseine bloszlige Privation der guten Seele eingefuumlhrt sondern als mit ihrereigenen Macht (δύναμις) ausgestattet Schlechtes zu bewirken62 als einenegative und destruktive Macht63

Wir sind dabei weit enfernt δύνασθαι mit einer aristotelischen sbquoerstenMoumlglichkeitlsquo zu identifizieren um die Ausscheidung einer schlechten

59 raquoDie Sprache hat die Dualform geschaffen nicht etwa um den Begriff derZahl zwei sondern um den Begriff der Zweiheit der paarweisenZusammengehoumlrigkeit auszudruumlckenlaquo (Wilhelm von Humboldt Uumlber denDualis Berlin 1828 S 18) Erst nach Platon als das Sprachgefuumlhl fuumlr die eigent-liche Bedeutung der Sprachformen an Lebendigkeit nachlieszlig bedeutete der Dualnicht selten den bloszligen Begriff sbquozweilsquo wobei die wahre und urspruumlngliche Naturdes Duals sich darin zeigt dass er entweder auf paarweise in der Natur verbun-dene Gegenstaumlnde angewendet wird oder auf solche welche in einer engen undgegenseitigen Beziehung gedacht werden (vgl Kuumlhner Raphael und FriedrichBlass Ausfuumlhrliche Grammatik der griechischen Sprache Zweiter Teil Satz-lehre Erster Teil Darmstadt 31966 S 69

60 Er spricht nur spaumlter von einer sbquoschlechten Seelersquo (897d1 vgl 898c4f)

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Weltseele schon in den oberen Zeilen zu finden Nach dieser Lektuumlrewaumlre die zweite Art von Seele nur imstande Schlechtes durchzufuumlhrenaber wuumlrde nicht tatsaumlchlich so etwas tun Waumlre das der Fall warumsollte der Athener uumlberhaupt erst zwischen zwei Arten von Seele unter-scheiden In einem Kontext wo die Staumlrke die praktische Macht sowieEffizienz und Dominanz der Seele uumlberwiegen64 ist die Option einersbquoersten Moumlglichkeitlsquo keine gelungene Annahme65 Nur in dem Fall desgoumlttlichen Demiurgen koumlnnten wir eine solche sbquoerste Moumlglichkeitlsquo an-wenden die sich nie wirklich durchsetzen wird Trotz seiner Faumlhigkeites zu tun ist der Demiurg nicht bereit die guten Mischungen aufzuloumlsenund die kosmische Ordnung zugrunde zu richten Das Konzept einesDemiurgen der faumlhig ist beides zu tun sowohl Gutes als auch Schlech-tes ist fuumlr Platon undenkbar weil Gott wesentlich gut ist66 Zu-gegebenermaszligen waumlre es zu weitreichend all das in 896e5f hineinzule-sen und die zweite Art der Seele mit dem goumlttlichen Demiurgen zuidentifizieren

61 Der δύναμις-Aspekt geht verloren bei Plutarch der stattdessen von der gutwirkenden und der entgegengesetzten Seele spricht die das Gegenteil vollbringtDe Is Et Osir 370F4-6 raquoὧν τὴν μὲν ἀγαθουργόν εἶναι τὴν δrsquo ἐναντίαν ταύτῃ καὶτῶν ἐναντίων δημιουργόνlaquo Den wichtigen Bezug auf δύναμις verpassen Jowettlsquoone the author of good and the other of the evilrsquo (The Dialogues of Plato S466) sowie Grube Platorsquos Thought lsquoone that does good and one that does evilrsquo(Platorsquos Thought S 146)

Brisson spricht von der Neutralitaumlt der Seele die faumlhig ist gut oder schlecht zusein (Vernunft Natur und Gesetz im zehnten Buch von Platons Gesetzen InHavlicek Ales (Hrsg) The Republic and the Laws of Plato Proceedings of theFirst Symposium Plato Symposium Platonicum Pragense 1 (1997) S 182-200Hier S189) ohne diese Textstelle heranzuziehen

62 Das Verb ist sbquoἐξεργάζεσθαιlsquo das nicht nur das Schlechte bewirken sondern esauch vollenden heiszligt (vgl ἔργον sowohl in als auch in ἐξεργάζεσθαι)

63 Vgl Dillons allgemeine Folgerung uumlber das ontologische Problem desSchlechten bei Platon (Monist and Dualist Tendencies S 11) Der Fall einerschlechten Seele die nicht als Privation der guten Seele vorkommt sondern alsraquofaumlhig Schlechtes zu vollendenlaquo unterstuumltzt Dillons Konklusion dass diesbquoschlechte Seelelsquo eine negative zerstoumlrende Macht sei

64 Vgl die Charakterisierung der Seele in 894d1f 895b665 Dank der Beobachtung von David Sedley wurde es mir klar dass ich

unabsichtlich eine aristotelsiche sbquoerste Potenzialitaumltlsquo in einer fruumlheren Versionvorgeschlagen hatte

66 Vgl oben Fuszlignote 7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 25

Bevor wir zur allgemeinen platonischen Psychologie uumlbergehen er-waumlgen wir eine zweite moumlgliche Unterscheidung der Seele in 896e4-6Bis jetzt habe ich die Distinktion zwischen guter und schlechter Seele alsselbstverstaumlndlich betrachtet Eine vorsichtigere Lektuumlre ermoumlglicht einezweite Option naumlmlich die Unterscheidung zwischen derwohlwollenden Seele die immer das Gute vollendet und derjenigen diefaumlhig ist entgegengesetzte Dinge (Plural) durchzufuumlhren sowohl Gutesals auch Schlechtes (τῆς τἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαι) Die ersteSeele kann keine andere als die goumlttliche sein67 Fuumlr die zweite Seele istder einzige Kandidat die menschliche Seele Auszligerdem wuumlrde die Seeleder Tiere unter die Seele fallen die sowohl Gutes als auch Schlechtestun kann weil sie einen logischen Teil beinhaltet auch wenn deformiertDas Goumlttliche ist immer gut Die Pflanzen moumlgen gut sein insofern siein eine globale Teleologie integriert sind Sie wuumlrden aber nie als faumlhigcharakterisiert etwas Gutes oder noch weniger etwas Schlechtes zutun noch wuumlrden sie die Verantwortung fuumlr die herbeigefuumlhrten gutenoder schlechten Wirkungen tragen Wenn diese Lektuumlre als die einzigemoumlgliche aufgewiesen werden koumlnnte wuumlrden wir mit Sicherheit dieFrage nach der schlechten Seele auf spaumlter verschieben68

Wie es auch sein mag befinden wir uns noch im Rahmen derallgemeinen Lehre der Seele qua Seele als Selbstbewegung Die kosmi-sche Seele ist in 896e1f aufgetaucht aber die Unterscheidung zwischender guten und der schlechten Seele oder der goumlttlichen und men-schlichen Seele wird auf einer allgemeinen Ebene gezogen69 Obgleichder Athener nicht die theorethischen Anspruumlche des Sophistes erhebtsetzt er die allgemeine platonische Ontologie voraus dergemaumlszlig dasSeiende qua Seiendes δύναμις sei Das Kriterium fuumlr alles was Seiendesist sei es Intelligibles oder Koumlrperliches Koumlrper oder Seele ist das Ver-moumlgen zu tun oder zu leiden70 Die Erforschung der Seele als Seiendesverlangt daher die Frage nach ihrer Kraft und ihrem Vermoumlgen (Lg892a2f) Der Gast aus Athen bezieht sich stets auf die δύναμις-Ontolo-

67 Der Athener kann noch nicht die gute Seele als goumlttlich charakterisierenDas Argument hat noch nicht die Goumlttlichkeit der Seele bewiesen

68 Der kreative Charakter der Dialektik ermoumlglicht mehr als eine richtige Ein-teilung Zu diesem Aspekt s Plt 286d-e und Delcomminettes Monographie

69 Anders als Taylor der den Uumlbergang von 896e2 zu e4 durch die Praumlmisseder Aktualitaumlt des Guten und Schlechten in der gegenwaumlrtigen Welt verhilft (TheLaws S 289 Anm 1) sehe ich keinen Eintritt eines a posteriori Arguments adhoc Alles bisherige entnimmt der Athener der allgemeinen Seelenlehre

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gie des Phaidros sowie des Sophistes Er stellt die Frage was die Seele istund was fuumlr ein Vermoumlgen sie hat οἷόν τε ὂν τυγχάνει καὶ δύναμιν ἣνἔχει71

Obwohl die Frage nach dem Tun (ποιεῖν) oder Leiden (πάσχειν) derSeele als δύναμις nicht explizit gestellt wird72 bringt ihre Definition alsSelbstbewegung ein gleichzeitiges Tun (als Bewegen) und Leiden (alsBewegtwerden) zum Ausdruck73 Die Seele ist die Kraft die sich selbstund anderes bewegt74 Die Definition der Seele als Selbstbewegung kannentweder als Aktivitaumlt oder Passivitaumlt ausgedruumlckt werden Die Seele be-wegt sich selbst und wird von sich selbst bewegt Ein gleichzeitiges Tunund Leiden das aber nicht das gleiche Seiende verursacht geschieht beikoumlrperlicher Bewegung Ein Koumlrper mag auf einen anderen Koumlrper wir-ken und zu gleicher Zeit kann er von einer Seele oder einem anderenKoumlrper bewegt werden aber nicht von sich selbst75

Platon gibt die Definition der Seele in ihrer Allgemeinheit d hunabhaumlngig von ihren moumlglichen Manifestationen in konkretenLebewesen Alles was Seele ist soll Selbstbewegung sein mag es sichum die Seele des Menschen oder des Tieres oder der Pflanze handelnWeil die individuellen Manifestationen der Seele nicht beruumlcksichtigtwerden fehlt bei der Formel der Definition τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴνκινεῖν κίνησιν (896a1f) auch der Bezug auf den Koumlrper den die jeweiligekonkrete Seele beseelt Im Falle der Absenz der Materie in einer Defini-

70 Der Vorschlag des Gastes aus Elea in Sph 247d-e wird nicht allgemein alsPlatons Vorschlag uumlber Ontologie gedeutet Sehr haumlufig beschraumlnken Exegetendas Seiende als δύναμις auf die ad loc Argumentation gegen die MaterialistenAuch wenn dieses Argument als Platons Argument charakterisiert wird bleibtes sehr umstritten ob es eine allgemeine Ontologie betrifft (Brown) oder in eineOntologie der Ideen einmuumlndet (Gerson Politis) Darauf gehe ich hier nicht ein

71 Lg 892a3 vgl Lg 894b8-c1 und 896a1f72 Der Athener bezieht sich auf Tun und Leiden nur in 894c5f und meint

wahrscheinlich sowohl Seelisches als auch Koumlrperliches mit dem die Seele har-monisiert

73 In Lg 894b8-c1 und 896a1f beantwortet der Athener seine Frage nach derArt des Vermoumlgens mit dem die Seele ausgestattet ist Der gesamteZusammenhang verbindet die Frage nach dem Wesen eines Seienden mit derFrage nach seinem Vermoumlgen

74 Lg 893c4f75 Gaiser fuumlhrt den Ausgleich zwischen Passivitaumlt und Aktivitaumlt in der selbst-

bewegenden Seele auf das Zusammenwirken der zwei platonischen Prinzipienzuruumlck (Platons Ungeschriebene Lehre S 195f)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 27

tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

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Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

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tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 31

welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

32 Georgia Mouroutsou

zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

34 Georgia Mouroutsou

Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

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werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

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abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

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ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

6 Georgia Mouroutsou

Ursprung oder andere Urspruumlnge zuruumlckgefuumlhrt werden Dafuumlr schlaumlgtSokrates leider keine Kandidaten vor

raquoAlso Gott weil er ja gut ist kann nicht Ursache von allem sein wieviele Menschen sagen sondern er ist zwar die Ursache von Wenigem beiden Menschen an Vielem aber unschuldig Denn es gibt weit wenigerGutes als Boumlses bei uns und fuumlr das Gute darf man keinen anderen ver-antwortlich machen man muszlig aber gewisse andere Ursachen vom Bouml-sen aufsuchen nur nicht Gottlaquo

Diese Passage erwaumlhnt keine schlechte Weltseele noch weist sie auf siehin Hier geht es um das Problem des Schlechten in seiner aumluszligerstenAllgemeinheit und nicht in seiner kosmischen Dimension Ich ziehe zuBeginn diese Passage heran weil sie beweist dass die Frage nach demUrsprung des Schlechten genuin platonisch ist Dieses Problem findethaumlufig die Forschung im Kontext der Gesetze wieder was nicht gerecht-fertigt ist Darauf ist noch im zweiten Abschnitt zu kommen

Im ontologischen Herzstuumlck des Philebos (23b-27c) fuumlhrt Sokrates dasvierfache Gefuumlge alles Seienden ein Nach der Auszeichnung desgemischten Lebens mit dem ersten Preis muss noch entschieden werdenwelcher Platz der Vernunft beizumessen ist Jede Erscheinung der Naturoder Kunst die als gute Mischung charakterisiert werden kann entstehtaus der Begrenzung des jeweiligen Unbegrenzten durch die VernunftNach der sokratischen Einleitung fragt Protarchos in 23d9f

raquoWirst du nicht noch eine fuumlnfte [Gattung] haben muumlssen die dieTrennung der guten Mischung bewirken kannlaquo

Sokrates erwidert dem Protarchos zoumlgerndraquoJa vielleicht aber ich glaube fuumlr jetzt noch nicht Sollte es aber noumltig

werden so wirst du mich wohl entschuldigen wenn ich noch einerfuumlnften [Gattung] nachgehelaquo (23d11-e1)

Wie jeder guter Dramatiker ist auch Platon nicht ausschlieszliglich in demfuumlhrenden Gespraumlchspartner sondern in allen seinen fiktiven Personenwiederzufinden einschlieszliglich des Protarchos im Philebos und desKleinias in den Gesetzen Daher ist Protarchosrsquo Frage entsprechenderAufmerksamkeit und Uumlberlegung wuumlrdig Zunaumlchst fragt Protarchosnach dem Schlechten weil sich jemand als schlecht erweist wenn er dasgut Zusammengefuumlgte aufloumlsen will7 Dann laumluft die sokratische Dar-stellung in diesem Kontext (ab 28d5ff) auf die platonische Kosmologiehinaus Die Vernunft faumlllt unter die vierte Gattung der Ursache weil daskosmische Ganze durch Vernunft geschaffen geordnet und durchwaltet

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 7

wird Sokrates unterstreicht eine Analogie zwischen Koumlrper und Seeledes Menschen einerseits und Koumlrper und Seele der Welt andererseitsAuf die Letztere weisen Zeusrsquo koumlnigliche Seele und Vernunft hin (30d1-4) In diesem kosmologischen Kontext ist es nicht abwegig den oben zi-tierten Vorschlag des Protarchos als eine Frage nach der Moumlglichkeiteiner schlechten kosmischen Seele zu deuten die die Zerstoumlrung derguten Mischung im All verursachen koumlnnte

Im Philebos kommt es dennoch nicht zur Einfuumlhrung einer fuumlnftenGattung und noch weniger zu Uumlberlegungen bezuumlglich ihrer Natur DieMischung des menschlichen Lebens ist nicht vorgegeben sondern bleibteine stets aufs Neue zu erfuumlllende Aufgabe Die immerwaumlhrend praumlsenteMoumlglichkeit des Misslingens ist darauf zuruumlckzufuumlhren dass dasUnbegrenzte nie voumlllig begrenzt werden kann jedenfalls nicht wenn esum Menschen geht Es bleibt stets als solches bewahrt und soll diesauch8

Vergegenwaumlrtigen wir uns also Erstens gehoumlrt die allgemeine Fragenach dem Ursprung des Schlechten durch und durch zum platonischenAnsatz Zweitens erweckt Platon den Eindruck die Frage nach demSchlechten auf der kosmischen Ebene zu stellen Die folgende Analysewird beweisen dass der Athener keine allgemeine Frage nach demSchlechten uumlberhaupt im Kontext der Gesetze stellt Auszligerdem bietet erdort eine negative Antwort auf die Frage nach einer schlechten Welt-seele

II Nomoi X Die Einfuumlhrung einer sbquoschlechten Seelersquo vor dem Hinter-grund des Leib-Seele-Dualismus

i Die Agenda und die Methode des Atheners

7 Ti 41a8-b2 Derjenige der etwas zusammenbindet ist auch der einzige deres wieder aufzuloumlsen vermag (vgl Ti 32c2-4) Obgleich nur der Demiurg der-jenige ist der sein Produkt vernichten kann zerstoumlrt er nicht die guten kosmi-schen Mischungen In diesem Fall waumlre er schlecht und wuumlrde seinerGoumlttlichkeit widersprechen

8 Im Gegensatz zu August Diegravesrsquo Redeweise von sbquoplaisanterie vouluelsquo (PlatonŒuvres Complegravetes Tome IX2 Philegravebe Paris 1959 Einleitung xxvi) wurde dieVerbindung der fuumlnften Gattung des Philebos mit der sbquoschlechten Seelersquo derNomoi schon von Heinze aufgezeigt (S 25-29)

8 Georgia Mouroutsou

Kleinias zeichnet den sehr umfangreichen einleitenden Teil des zehntenBuches der Gesetze (885b-907d) als raquodie schoumlnste und beste Praumlambelaller Gesetzelaquo aus (887b8-c2) und besteht wiederholt auf einer angemes-senen Verlaumlngerung dieser Einleitung9 Die Aufgabe eines gesetzlichenVorgehens gegen die Asebie wird erst im letzten Teil des Buches erfuumlllt10

Der Athener versucht in seiner Vorrede die drei Arten des Gottesfre-vels11 auf ihre Ursachen zuruumlckzufuumlhren bevor er von der Uumlber-zeugungskraft der Rede zur Strenge der entsprechenden Strafen uumlber-geht12 die der Gesetzgeber des zu gruumlndenden Staates aufunveraumlnderliche ndash da schriftliche ndash Weise festlegen wird Nach der erstenAuffassung wird die Existenz der Goumltter geleugnet Gemaumlszlig der zweitenkuumlmmern sich die Goumltter nicht um die menschlichen AngelegenheitenDie dritte zu widerlegende Meinung laumlsst sich folgendermaszligen formu-lieren Die sich um die Menschen kuumlmmernden Goumltter koumlnnen mittelsGebet und Opfer beeinflusst und umgestimmt werden Wie sich leichterahnen laumlsst erregt die Erforschung der Ursache der ersten Form vonGottlosigkeit im Rahmen der Argumentation gegen die Asebie diegroumlszligte Aufmerksamkeit13

Das zehnte Buch gilt seit der Antike als der philosophisch anspruchs-vollste Teil der Gesetze obwohl man die heikle Argumentationaufgrund der Zirkularitaumlt und der Subjektabhaumlngigkeit des Beweis-ganges immer wieder verworfen hat14 Der Charakter der beabsichtigtenUumlberzeugung in allen Einleitungen bleibt in der Forschung weiter um-stritten wobei den Zankapfel die Frage bildet inwiefern die Uumlber-

9 Lg 887b1-c4 890e4-891a710 Lg 907d4 bis 910d411 Die unvernuumlnftige Meinung (δόξα 888b7 c2 903a4 νόητος δόξα 891c7)

oder der (leidende) Zustand ( 885b6 πάθος 888c4 900b3 908c5) des Fre-vels wider die Goumltter werden als Abweichung (διαφορά 886a9) und alsKrankheit (νόσος 888b8) gekennzeichnet

12 Tί χρὴ πάσχειν (885b1f) (885b3f) Es werden die Ursachen einesbestimmten Uumlbels und nicht des Schlechten uumlberhaupt erforscht naumlmlich derwegen Asebie veruumlbten Missetaten Darauf bezieht sich κακά in 884a5 undkakvn 886d3 Als moralisch schlecht gelten die Gottlosen die die Gesetze inBezug auf die wichtigsten Dinge zugrunde richten (891b4-6 vgl 886a6)

13 Die Widerlegung der ersten Auffassung geht bis 899d4 Anschlieszligend wehrtsich der Athener gegen die zweite verfehlte Meinung bis 903a9 mit Hilfe vonArgumenten und mit dem Nachtrag des Mythos bis 905d3 Die Behandlung derdritten Abweichung folgt bis 907b4

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 9

zeugung sich mit rationalen oder irrationalen Mitteln vollzieht15 Einerationale Fundierung darf keinesfalls mit einer raquodurchgehend philoso-phische[n] Begruumlndunglaquo identifiziert16 sondern muss als eine Annauml-herung an die philosophische Argumentation verstanden werden17 Beider Widerlegung der ersten Uumlberzeugung der Gottlosen zielt derAthener nicht auf die Bezauberung seiner Gegner18 sondern wendeteine rationale Argumentation an Er druumlckt das Zusammenspiel von ra-tionaler und irrationaler Vorgehensweise am praumlgnantesten aus wenn erseine Zielsetzung folgendermaszligen formuliert

raquoDenn zoumlge sich wohl die Rede nicht wenig in die Laumlnge falls wireinerseits mit hinreichenden Argumenten gegenuumlber denjenigen diegottlos zu sein wuumlnschen das bewiesen woruumlber geredet werden musswie sie sagten falls wir andererseits unseren Anklaumlger in Furcht ver-

14 Auf eine exemplarische Weise hat Stalley die Argumentation als misslungendargelegt (An Introduction besonders S 169-172) Was die Zirkularitaumlt betrifftwill der Athener die Existenz der Goumltter beweisen die er dennoch voraussetztwenn er sie zur Hilfe ruft (Lg 893b1-4) s unter vielen anderen John ClearyThe Role of Theology in Platorsquos Laws In Lisi F L (Hrsg) Platorsquos Laws and ItsHistorical Significance Selected Papers of the International Congress onAncient Thought Salamanca 1998 S 125-140 Hier S 130 Auf derSubjektabhaumlngigkeit des dialektischen Vorgehens basiert die InterpretationSteiners (Platon Nomoi X) noch entschiedener ist Christian Pietsch Die Dihai-resis der Bewegung in Platon Nomoi X Rheinisches Museum fuumlr Philologie146 (2003) S 303-327 hier 319ff

15 Die Diskussion zwischen Christopher Bobonitch (Persuasion Compulsionand Freedom in Platorsquos Laws In Classical Quarterly 41 (1992) S 234-250) undStalley (Persuasion in Platorsquos Laws In History of Political Thought 15 (1994) S157-177) hat dieses Problem neuerdings zur Sprache gebracht Die rationaleUumlberzeugung muss rationale und irrationale Mittel kombinieren weil der zuUumlberzeugende (wenn auch nur Spuren von) Rationalitaumlt mitbringt aber zugleichgegen die Vernunft Widerstand leistet Stalley der die Praumlambel fuumlr lsquorathercoventional sermonsrsquo haumllt (An Introduction S 43) raumlumt eine Ausnahme fuumlrdas zehnte Buch ein (Persuasion S173f)

16 Pace Stalley Persuasion S 16717 Der wahrhaftige Gesetzgeber soll die Aufgabe erfuumlllen den Gesetzeswidri-

gen mithilfe beinahe philosophischer Argumente (καὶ τοῦ φιλοσοφεῖν ἐγγὺςχρώμενον μὲν τοῖς λόγοις 857d2) nicht nur zu heilen sondern auch zu erziehen(vgl Lg 857e3-6)

18 Einen verzaubernden Mythos nimmt der athener Gast erst bei seinerWiderlegung der goumlttlichen Sorglosigkeit gegenuumlber dem Menschlichen inAnspruch (Lg 903a10-905d3)

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setzten und nachdem wir in ihnen Abscheu uumlber diese Missetaten erregthaumltten wir erst nachher die Gesetze aufstellten wie es sich gebuumlhrtlaquo19

ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platoni-sche Theorie der Bewegung

Kurz vor der Einfuumlhrung der schlechten Seele bezieht sich der Athenerexplizit auf den in 893b1-896b9 demonstrierten Vorrang der Seele uumlberden Koumlrper

raquoDenn wir duumlrften wohl richtig und vollguumlltig wahrhaftig undvollkommen gesagt haben dass fuumlr uns die Seele fruumlher entstand als derKoumlrper der Koumlrper aber an zweiter Stelle und spaumlter und beherrschtgemaumlszlig der Natur waumlhrend dagegen die Seele herrschtlaquo20

Platon gelingt es aus den Goumltterfrevlern ganz unterschiedlicherHerkunft ndash es sind Naturwissenschaftler Sophisten und Dichter darun-ter ndash einen einheitlichen Typus zu entwerfen der eine Prioritaumlt des Koumlr-pers ja noch mehr eine Derivation des Seelischen aus dem Koumlrperlichenvertritt21 Letztendlich plaumldiert er fuumlr einen materialistischen Reduktio-nismus der Form sbquoalles ist Koumlrperlsquo Eine Kosmogonie unterliegt seinerAuffassung gemaumlszlig der die Seele nach dem Koumlrper geschafft worden istDer Seele wird sowohl kausale als auch zeitliche Prioritaumlt zugesprochen

Nicht nur die Seele sondern alles was mit der Seele verbunden ist ndasheinschlieszliglich des Gesetzes und der Goumltter ndash werden nach dieser

19 Lg 887a3-8 raquoοὐ γάρ τι βραχὺς ὁ λόγος ἐκταθεὶς ἂν γίγνοιτο εἰ τοῖσινἐπιθυμοῦσιν ἀσεβεῖν τὰ μὲν ἀποδείξαιμεν μετρίως τοῖς λόγοις ὧν ἔφραζον δεῖν πέριλέγειν τὸν δὲ εἰς φόβον τρέψαιμεν τὰ δὲ δυσχεραίνειν ποιήσαντες ὅσα πρέπει μετὰταῦτα ἤδη νομοθετοῖμενlaquo Durch den Singular (887a6 τὸν δέ) bezieht sich derAthener auf denjenigen der die Anklage gegen die Glaumlubigen einbringt(886e8f)

20 Lg 896b10-c3 raquoὈρθῶς ἄρα καὶ κυρίως ἀληθέστατά τε καὶ τελεώταταεἰρηκότες ἂν εἶμεν ψυχὴν μὲν προτέραν γεγονέναι σώματος ἡμῖν σῶμα δὲδεύτερόν τε καὶ ὕστερον ψυχῆς ἀρχούσης ἀρχόμενον κατὰ φύσινlaquo

21 Es handelt sich um ein lsquoamalgam of several views rather than a single clear-cut doctrinersquo (Saunders Plato The Laws S 408) Glenn Morrow spricht vonlsquobody of ideasrsquo (The Cretan City Princeton 1960 S 480) Robert Muth nochtreffender von einer sbquomaterialistische[n] philosophische[n] κοινήlsquo der damaligenattischen Aufklaumlrungsbewegung (Studien zu Platons sbquoNomoirsquo X 885b2-899d3In Wiener Studien 69 (1956) S 140-153 Hier S 146)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 11

Auffassung als abgeleitet herabgesetzt Als abbildende Setzungenkoumlnnen sie die abgebildete Natur und Wahrheit nur verfehlen

raquo[hellip] er scheint Feuer und Wasser und Erde und Luft fuumlr das Erstevon allem zu halten und diese Dinge als sbquoNaturrsquo zu bezeichnen dieSeele aber fuumlr ein Spaumlteres aus diesen [Entstandenes]laquo22

Nun stellt der Athener seine Bewegungslehre dar mit der Absicht diePrioritaumlt der Seele zu beweisen23 Nach den sbquoPhilosophierendenlsquo24 lassensich die oumlrtlichen Bewegungen in sechs Arten unterteilen (1) Rotation(2) gleitende Bewegung (3) rollende Bewegung (4) Wachstum (5)Schwund (6) Zugrundegehen Dabei faumlllt das ontologische Werden (7)und Vergehen (8) als ein ausgezeichnetes Paar heraus da es ur-spruumlnglicher ist als die bisher entfalteten oumlrtlichen Bewegungsarten25

Die entscheidende Zweiteilung jedoch kommt erst am Ende der Auf-zaumlhlung zur Sprache Danach gibt es einerseits die koumlrperliche Be-wegung die als Fremdbewegung bestimmt wird (9) andererseits die alsSelbstbewegung definierte seelische Bewegung (10)26 Der Athener ver-steht den Namen sbquoSeelelsquo als den Namen dessen Definition sbquoSelbst-Be-wegunglsquo (895e10-896a2) erst nach der methodologischen Unter-scheidung zwischen dem Wesen und dessen Namen erfolgt (895d1-e9)Nach dieser Distinktion charakterisiert er die zweite Bewegung als sbquokoumlr-perlichlsquo (896b4-8) sbquoKoumlrperlsquo ist der Name dessen Definition dieFremdbewegung ist (896b10-c3)

Erst gemaumlszlig dieser Einteilung koumlnnen alle bereits aufgezaumlhltenraumlumlichen Bewegungsarten als seelisch oder koumlrperlich verstandenwerden Anders als Pietsch27 finde ich keinen Textbeleg nach dem dieSelbstbewegung im Gegensatz zu den raumlumlichen Arten der Fremdbe-wegung unraumlumlich sein soll Pietsch argumentiert dass das ganze dihai-

22 Lg 891c1-4 Eine aumlhnliche sbquoAll-Thesersquo vertreten die materialistisch ver-anlagten Ontologen im Rahmen der sbquoRiesenschlachtlsquo im Sophistes bevor ihnender Gast aus Elea durch seinen δύναμις-Vorschlag zur Hilfe kommt ImGegensatz zu den Ideenfreunden die schon mit der Unterscheidung zwischenSein und Werden auftreten macht nach den Materialisten ausschlieszliglich derKoumlrper das Sein aus (Sph 246b1)

23 Auf diese Weise begruumlndet der Gast alle vorgebrachten Auflistungen derGuumlter nach denen der Vorrang immer seelischen und nicht koumlrperlichen Guumlternbeigemessen wurde Vgl Lg 631b-c 661a ff 688a-b 697a-c 726a-729a 743e

24 So werden die Vertreter der Prioritaumlt der Seele ausgezeichnet Lg 967c8 (diezweite und letzte Erwaumlhnung von Philosophie in den Gesetzen auszliger in Lg857d2)

12 Georgia Mouroutsou

retische Stemma sbquonur raumlumliche Bewegungsartenlsquo bieten kann weil derAthener von der Physik des Gegners ausgeht28 Platon offenbart jedochein Stuumlck von seiner eigenen Philosophie immer dann wenn er seinesbquoGegnerrsquo verbessert seien es die Herakliteer im Theaitetos die Materia-listen des Sophistes oder diejenigen der Gesetze Das Platonische derRaumlumlichkeit der seelischen Bewegung erklaumlrt auszligerdem Timaios fuumlrguumlltig der der Weltseele raumlumliche Bewegung beimisst Zur Bekraumlf-tigung dient daruumlber hinaus die aristotelische Kritik am platonischenVerstaumlndnis der Selbstbewegung als raumlumlicher Bewegung (de an I3)

Dass der Bewegung in der spaumlteren platonischen Philosophie einegrundlegende Rolle zukommt zeigen neben dem Timaios die DialogeSophistes und der Theaitetos Im Sophistes wird das ausgezeichnete so-wohl bewegte als auch im Stillstand befindliche Sein der Idee qua Ideebehandelt Im Theaitetos werden heraklitische Allbewegungs-Modelleim Bereich der Wahrnehmung kritisiert Im Timaios wird die Bewegungin ihrer ganzen kosmologischen Tragweite ausgelotet In dem letztenDialog zeigt Platon seine Aneignung und Transformation des Herakli-

25 Gemaumlszlig der Aufzaumlhlung Konrad Gaisers (Platons Ungeschriebene LehreStuttgart 19983 S 176f) und ohne Besprechung der immensen einzelnen Pro-bleme Die ontologische γένεσις uumlber die Linie und Flaumlche bis hin zumdreidimensionalen Koumlrper (894a2-5) gilt als noch urspruumlnglicher als die vorhererwaumlhnten raumlumlichen Bewegungsarten (893c1f) Dieser Primat unterscheidetsich von Aristotelesrsquo Auffassung wie die Kritik des Stagiriten belegt (GC I2315a29ff) Der Bewegungskatalog ist von grundlegender Bedeutung fuumlr das Ver-staumlndnis der Prioritaumlt der Seele Hier begnuumlge ich mich mit der Hervorhebungder Beitraumlge von Gaiser und Solmsen (Aristotlersquos System of the Physical WorldA Comparison With His Predecessors New York 1960) Gaiser hat den sys-tematischen Charakter der Aufzaumlhlung der Bewegungsarten in Verbindung zuder indirekten Uumlberlieferung ausgearbeitet (Platons Ungeschriebene Lehre S173-186) Man folgt oft seiner Interpretation der besonders dunklen Stelle Lg894a1-8 und zwar mit oder ohne explizite Erwaumlhnung seines Beitrags zum Bei-spiel Pietsch C Die Dihairesis der Bewegung hier S 316 Anm 45 SchoumlpsdauK Platon Werke in Acht Baumlnden Griechisch und Deutsch Achter Band Zwei-ter Teil Platon Gesetze Buch VII-XII Minos Darmstadt 20054 S 291 Anm 26Mayhew R Plato Laws X Oxford 2008 S 112ff Solmsen (Aristotlersquos System)bietet seinerseits eine sehr ausgewogene Hermeneutik der platonischen undaristotelischen Bewegungslehre an die gegenuumlber der neueren oft hinter ihrzuruumlckbleibenden Forschung noch immer als exemplarisch gelten sollte

26 Lg 894b8-c1 894c3-827 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 304 und oumlfters28 Ebd S 320

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 13

tismus im Bereich der Ontologie des Wahrnehmbaren auf (48eff) des-sen Ausarbeitung nach wie vor eine Aufgabe fuumlr die Platon-Forschungdarstellt

Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich dass sbquoKoumlrperrsquo undsbquoSeelersquo als verschiedene Arten von Bewegung aufgefasst werden Hiersehe ich keine Verwirrung bei Platon zwischen einer Bewegungsart(Selbstbewegung) und der Seele als unabhaumlngiger Substanz Anders alsRichard Stalley29 verstehe ich sowohl die Selbstbewegung als auch dieSeele qua Seele als auf einen Koumlrper bezogen wenn auch unabhaumlngigvom jeweiligen Koumlrper gedacht und definiert Sogar die schlechte Welt-seele bliebe somit bezogen auf den Weltkoumlrper waumlre sie real

iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer an-tiken Auffassung

Halten wir inne Der Seele wird eine Art Prioritaumlt beigemessen die sichauf die in ihrer Definition widergespiegelte Natur als Selbstbewegungstuumltzt Als solche zeigt sich die Seele qua Seele und unabhaumlngig von allihren konkreten Manifestationen als aumllter wirksamer und maumlchtiger un-ter allen Bewegungen Und nicht nur dies Sie zeigt sich auch als dieeigentliche Bewegung und Veraumlnderung alles anderen Seienden30 Wirbefinden uns also im Rahmen der Problematik des Leib-Seele-Dualis-mus der neben dem Dualismus von Idee und Erscheinung der alssbquoZwei-Welten-Lehrelsquo beruumlhmt bzw beruumlchtigt wurde sowie dem in derAntike und Moderne debattierten Dualismus der zwei platonischenPrinzipien weitlaumlufig Karriere in der Geschichte des Platonismusgemacht hat31

29 Stalley An Introduction to Platorsquos Laws Oxford 1983 S 171f30 Lg 894c6f31 Die Tatsache dass hier die zwei letzteren Arten von Dualismus nicht vor-

kommen bedeutet keinesfalls dass der alte resignierte Platon seine Ideen- oderPrinzipienlehre aufgegeben habe (so Muumlller Gerhard Studien zu den Platoni-schen Nomoi Muumlnchen 1951 19682 aumlhnlich Rist Eros and Psyche S 87ff)Auf die platonische Ideenlehre weist der Gast als auf einen wesentlichen Teil derErziehung der sbquonaumlchtlichen Versammlungrsquo hin (Lg 965b-966b) Hier sei dieschwierigere Frage dahingestellt inwieweit die angedeutete Lehre der klassi-schen Ideenlehre der mittleren Dialoge entspricht

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Platon problematisiert den Leib-Seele Dualismus nicht nur aufgrundder allgemeinen Frage nach sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo sondern auch weil erauf der moumlglichen Interaktion zwischen der intelligiblen Seele (derSonne) und ihrem wahrnehmbaren Koumlrper reflektiert (in Lg 898e8-899a4)32 Obgleich wir nicht viel Positives uumlber die platonische Auffas-sung der Art der Beziehung zwischen Koumlrper und Seele aussagenkoumlnnen sind wir damit doch imstande auf entschiedene Weise einigesauszuschlieszligen Wir werden mit dem Materialismus und dem Mentalis-mus anfangen die mit weniger Muumlhe abgelehnt werden koumlnnen als derso charakterisierte sbquorobuster Dualismuslsquo dem wir uns anschlieszligendwidmen

Die These des Materialismus wonach das Seelische auf Koumlrperlicheszuruumlckzufuumlhren sei gewinnt nicht die Oberhand in diesem KontextDie Materialisten bleiben die Gegner des Atheners durch das ganze Ar-gument hindurch Noch modifizierte Materialisten finden einen Belegfuumlr ihre These dass das Seelische unsichtbares Koumlrperliches sei Neu-erdings hat Gabriela Carone diese Auffassung des sbquomodifizierten Mate-rialismuslsquo als genuin platonisch vertreten33 was eine gerechtfertigteReaktion von Francesco Fronterotta hervorgerufen hat34 Bei ihrem Ver-such die Materialitaumlt der Seele aufzuweisen begeht Carone einengrundsaumltzlichen Fehler Sie geht ohne jede Argumentation von der Moumlg-lichkeit eines unsichtbaren Koumlrpers zu einem Verstaumlndnis der Seele alskoumlrperlich uumlber35 Die Ausdehnung sei (nach Platon) wesentliche Eigen-schaft des Koumlrperlichen Weil sie raumlumlich ist muumlsste die Seele daher ir-gendeine Art koumlrperlicher Natur besitzen Carone gibt zu lsquoOf course

32 Die Stelle charakterisiert Thomas Robinson als lsquoa splendid memorial to his[Platorsquos] intellectual honestyrsquo (The Defining Features of Mind-Body Dualism inthe Writings of Plato In John Wright und Paul Potter (Hrsg) Psyche andSoma Physicians and Metaphysicians on the Mind-Body Problem From Antiq-uity to Enlightenment S 37-55 Hier S 55) lsquoTo the end he is wrestling with theproblem that lies at the heart of all psycho-physical dualism the problem ofrelating a physical substance to an immaterial one and to the end he openlyadmits his bafflementrsquo (ebd)

33 Carone Gabriela Mind and Body in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichteder Philosophie 87 (2005) S 227-269 Hier S 256f

34 Fronterotta schmaumllert gewisse Staumlrken des Argumentes von Carone undbringt daher die platonische Methode der sbquoVerbesserungrsquo des Gegners in diesemFall der Materialisten nicht zur Anwendung (Fronterotta Fransesco Carone onthe Mind-Body Problem in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichte der Philoso-phie 89 (2007) S 231-236)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 15

there is still a gap to be filled between spatial extension and corporeal-ityrsquo36 Trotz ihres Zugestaumlndnisses fuumlllt Carone diese Luumlcke leider nichtund offenbart auf diese Weise ihre nicht hinterfragte (oder bei Platonnicht bewaumlhrte) Cartesianische Praumlmisse37

Noch belegt unser Zusammenhang das andere Extrem einer ArtMentalismus nach dem das Koumlrperliche vom Seelischen ableitbar istSowohl die Darstellung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper alszwischen Ganzem und Teil (Chrm 156dff) als auch die oumlrtliche Meta-pher der den Koumlrper umhuumlllenden Seele (Ti 36e3f und Lg 898d11-e238)eroumlffnen dennoch den Raum fuumlr eine solche Auffassung Dennoch un-terstuumltzt der Kontext in den Gesetzen nicht diese Auffassung Anders alsder materialistisch gepraumlgte Typus vertreten die sbquoPhilosophierendenlsquokeine reduktionistische These was nicht nur den Materialismus sondernauch den Mentalismus ausschliesst

In modernen Diskussionen des Leib-Seele-Problems wird Platon allzuoft als Vertreter eines sbquorobusten Dualismuslsquo dargestellt39 Demgemaumlszlighandelt es sich bei Seele und Koumlrper um zwei selbststaumlndige vonei-nander abgetrennte Substanzen die erst nachtraumlglich vereinigt werden

35 Carone Mind and Body S 237 die Voraussetzungen eines solchen Ver-staumlndnisses hat Fronterotta ans Licht gebracht Carone on the Mind-Body Pro-blem S 233

36 Carone Mind and Body S 240 Anm 4337 Vgl Carones selbstverstaumlndliche Redeweise lsquospatial or material conditionsrsquo

lsquobody and spacersquo lsquospace and bodyrsquo Mind and Body S 264 Zu einer einsichtige-ren Unterscheidung der Arten vom Dualismus bei Platon und Descartes sSarah Broadie Soul and Body in Plato and Descartes In The AristotelianSociety 101 (2001) S 295-308

38 Die zweite zaumlhlt Robinson nicht mit auf The Defining Features of Mind-Body Dualism S 40 Anm 12 Lg 898d11-e2 hat mehrere Deutungen undUumlbersetzungen veranlasst Περιφύειν wird mit aumlhnlicher Bedeutung in R 612aangewendet (sbquoherum- oder anwachsenlsquo) Diese Metapher in den Gesetzen undderen Uumlbersetzung verfehlen Otto Apelt Platons Gesetze Zweiter Band Leip-zig 1916 S 419 Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 S 163 mit Anm 2 Robin Leacuteon Oeuvres completesPlaton Paris 1950 Zweiter Band S 1025 richtig verstehen die Stelle JowettBenjamin The Dialogues of Plato Oxford 41953 S 468f Taylor Alfred E TheLaws of Plato London 21960 S 291 Muumlller Studien S 92 Anm 1 Bury Rob-ert Plato with an English Translation IX and X Laws London-New York1952 S 346 mit Anm Saunders Plato The Laws S 430 Cooper John (Hrsg)Plato Complete Works Cambridge 1997 S 1555 Mayhew Plato Laws X S29

16 Georgia Mouroutsou

muumlssen was hier nicht ausdruumlcklich widerlegt wird Neuerdings hatFronterotta diese Auffassung vertreten40 wobei auch seine Deutung aufzwei unaufhebbaren Schwierigkeiten im Timaios stoumlszligt Zum ersten istdie Weltseele raumlumlich ausgedehnt Zum zweiten ist sie das Produkteiner Mischung was nicht nur Carones These widerlegt dass die Seelekoumlrperlich sei ndash da hat Fronterotta Recht ndash sondern auch gegen einen ab-soluten unuumlberbruumlckbaren Gegensatz zwischen einer rein rationalerSeele und dem Weltkoumlrper plaumldiert41

Auf dem ersten Blick scheint unser Kontext in den Gesetzen nicht aufexplizite Weise den weit verbreiteten Vorschlag eines Substanz-Dualis-mus abzuweisen Weil sich aber in diesem Zusammenhang sowohl dieseelische als auch die koumlrperliche Bewegung im Raum vollziehen (Lg893c1f) ist die Dimensionalitaumlt keinesfalls ausschlieszliglich dem Koumlrperzugeordnet was sich wiederum mit einem starren Dualismus nicht ver-traumlgt42

Jedenfalls ist ein gewisser Dualismus insofern nicht zu uumlbergehen alsdie seelische Bewegung die koumlrperliche nicht produzieren kann43 NachLg 896e8-897b4 sbquonehmenrsquo die seelischen als die primaumlren Bewegungendie sekundaumlren koumlrperlichen sbquoaufrsquo Das gleiche Verb (παραλαμβάνειν897a5) wendet auch der Timaios an Der Demiurg nimmt das auf unge-ordnete und fast verbrecherische Weise bewegte Wahrnehmbare sowiespaumlter im Dialog das was ἀνάγκη bewirkt (68e3) auf Die unterstehendenGottheiten nehmen ihrerseits den rationalen Teil der Seele auf um ihn mitdem sterblichen Teil im Koumlrper zu verknuumlpfen (Ti 69c5) Diesen ver-schiedenen Zusammenhaumlngen koumlnnen wir keine Umkehrung der Prio-ritaumlt der Seele gegenuumlber dem Koumlrper entnehmen Was sich mit einer anSicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ausschlieszligen laumlsst ist eine

39 S Burnyeat Myles Is An Aristotelian Philosophy of Mind Still CredibleA Draft In Nussbaum A M-Rorty (Hrsg) Essays on Aristotlersquos De AnimaOxford 1992 S 15-26 Hier S 16 Putnam Hilary The Threefold Cord MindBody and World New York 1999 S 97 Stephen Priest Theories of the MindLondon 1991 S 8-15 57 162)

40 Fronterotta Carone on the Mind-Body Problem41 Platon behandelt das Problem der Verbindung zwischen der Seele und dem

Koumlrper wie die Vermittlung durch das Mark beweist (Ti 73b-c) was wir abernicht als Beleg dafuumlr betrachten sollten dass Platon zum Vorlaumlufer von Descar-tes wird

42 Thomas Johansen begeht diesen Weg in seiner Timaios-Auslegung43 Vgl Mason Andrew Plato on the Self-Moving Soul In Philosophical

Inquiry 1998 S 18-28 Hier S 24 28

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 17

Herleitung des Koumlrperlichen aus dem Seelischen44 Diese Unterscheidungzwischen Koumlrper und Seele erlaubt es dem Dialektiker je nachZusammenhang die Seele qua Seele (so in der vorliegenden Passage der Ge-setze) und den Koumlrper qua Koumlrper (so im Timaios) zu betrachten ohne einereduktionistische Auslegung vorauszusetzen

Auf dieser Basis wird ein Reduktionismus des Koumlrpers auf die Seele aus-geschlossen Ausserdem unterstuumltzt der Wortlaut des Textes nicht das Ver-staumlndnis der ontologischen Prioritaumlt die Aristoteles in Metaph V11 an-spricht Es geht in unserem Kontext nicht darum was Aristoteles undAlexander als platonische Auffassung und akademisches Gut dar-stellen45 Als Kriterium der ontologischen Rangfolge wird dassbquoMitaufgehobenwerdenrsquo des Spaumlteren angegeben Demgemaumlszlig setzt dasontologisch Spaumltere das Fruumlhere voraus aber nicht umgekehrt Wenndas Fruumlhere aufgehoben wuumlrde wuumlrde auch das Spaumltere aufgehobenwas sich aber nicht umkehren laumlsst Soweit geht Platon bei der hiesigenBetrachtung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper jedoch nichtDie Rede von der sbquoAufnahmersquo der koumlrperlichen Bewegungen von denseelischen ist weniger mit einer ontologischen Prioritaumlt der Seele (wieoben dargelegt) als vielmehr mit einer Aufeinanderbezogenheit vonSeele und Koumlrper vertraumlglich

Um eine uumlber den Rahmen dieses Beitrags hinausgehende positive Louml-sung fuumlr Platons Leib-Seele-Dualismus zu entwickeln ist es noumltigeinige falsche Meinungen zu korrigieren wozu die obere Darlegung bei-traumlgt

iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Ar-gument

44 Pace England Edwin The Laws of Plato London 1921 Zweiter Band S476 der παραλαμβάνειν als lsquobring in their trainrsquo versteht In allen obenerwaumlhnten Zusammenhaumlngen ist klar dass das Aufgenommene nicht vomAufnehmenden geschaffen wird Die Uumlberlegenheit des letzteren bleibt davonunberuumlhrt

45 Vor allem in Arist Metaph V11 1019a2-4 vgl Alexander In AristotMetaph I 6 987b33 Gaiser Testimonium Platonicum 22B

18 Georgia Mouroutsou

Wir kehren zu unserem Text zuruumlck Da der Seele ontologische Prioritaumltgegenuumlber dem Koumlrper verliehen wird ist auch das der Seele Verwandteontologisch fruumlher als das was dem Koumlrper zugehoumlrt

raquoVerhaltensweisen aber und Gemuumltsarten Willensakte Schluss-folgerungen wahre Meinungen Fuumlrsorge und Erinnerungen duumlrftenfruumlher entstanden sein als koumlrperliche Laumlnge Breite Tiefe und Staumlrkewenn eben die Seele fruumlher als der Koumlrper entstanden sein solltelaquo46

Im Anschluss daran hilft uns der Athener nachzuvollziehen warumPlaton eben hier die sbquoschlechte Seelersquo einfuumlhrt Man muumlsse darin uumlberein-stimmen dass die Seele Ursache sowohl des Guten als auch des Boumlsendes Schoumlnen und des Schlechten des Gerechten und des Ungerechtenund aller Gegensaumltze sei

raquoIst es denn nicht noumltig darin uumlbereinzustimmen dass die Seele dieUrsache des Guten sowie des Schlechten des Schoumlnen sowie des Haumlszlig-lichen des Gerechten sowie des Ungerechten und uumlberhaupt allerGegensaumltze wenn wir sie als Ursache von allem setzenlaquo47

Diese Zeilen sind aumluszligerst wichtig weil hier und nicht erst in 896e4ffder Gegensatz von sbquogut und schlechtlsquo eingefuumlhrt wird Dem Argumentist vorgeworfen worden es sei schwach Unter den Kritikern verstehtStalley den Schluss auf folgende Weise lsquoSoul since it is the source ofeverything must be the source of valuesrsquo Er wundert sich dass Werteohne Begruumlndung und ohne Erklaumlrung ihrer Existenzweise eingefuumlhrtwerden48 Dementgegen werde ich eine wohlwollendere Annaumlherungvorschlagen Nach der Rekonstruktion des Arguments werde ich eineArt sbquoanthropozentrischer Wendelsquo in einen breiteren Kontext situieren

Wie er expliziert (896d8) zieht der Gast aus Athen diesen Schlussdaraus dass die Seele als Ursache von allem angesetzt worden ist Bevorwir diese Begruumlndung als einen Fehlschritt charakterisieren sollten wiruns zusammen mit Kleinias erinnern dass die sbquoSeelersquo die Veraumlnderungvon allem herbeifuumlhrt49 Mit Hilfe einer anderen Formulierung ist dieSeele raquodie Veraumlnderung und Bewegung von allem Seiendenlaquo50

46 Lg 896c9-d3 raquoΤρόποι δὲ καὶ ἤθη καὶ βουλήσεις καὶ λογισμοὶ καὶ δόξαιἀληθεῖς ἐπιμέλειαί τε καὶ μνῆμαι πρότερα μήκους σωμάτων καὶ πλάτους καὶβάθους καὶ ῥώμης εἴη γεγονότα ἄν εἰπερ καὶ ψυχὴ σώματοςlaquo

47 Lg 896d5-7 raquoἎρrsquo οὖν τὸ μετὰ τοῦτο ὁμολογεῖν ἀναγκαῖον τῶν τε ἀγαθῶναἰτίαν εἶναι ψυχὴν καὶ τῶν κακῶν καὶ καλῶν καὶ αἰσχρῶν δικαίων τε καὶ ἀδίκωνκαὶ πάντων τῶν ἐναντίων εἴπερ τῶν πάντων γε αὐτὴν θήσομεν αἰτίανlaquo

48 Stalley An Introduction S 172 49 Lg 892a6f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 19

Die Bewegung ist hier als Wechsel und Veraumlnderung (μεταβολή) in ih-ren weitesten Sinn zu verstehen seien sie im Raum in Bezug auf dieSubstanz die Qualitaumlt oder die Quantitaumlt Der Uumlbergang findet zwi-schen Gegensaumltzen statt Die ersten Paare von Gegensaumltzen die derAthener vor der Verallgemeinerung in 897d7 anspricht sind Ver-bindungen und Trennungen Wachstum und Schwund sowie Prozessedes Wedens und Vergehens (894b10f) Die Seele zeigt sich als dieUrsache von aller Art koumlrperlicher Veraumlnderung Wenn eine Seele einenWechsel von einem schlechten zu einem guten Zustand verursacht dannist diese Seele in sich selbst gut Wenn eine Seele einen schlechtenEinfluss auf einen Zustand uumlbt dann ist sie dafuumlr verantwortlich Es istbemerkenswert dass der Gegensatz zwischen sbquogutlsquo und sbquoschlechtlsquo nichtauf die Unterscheidung zwischen sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo oder diejenigezwischen sbquoseelischer Bewegunglsquo und sbquokoumlrperlicher Bewegunglsquo zu-ruumlckgefuumlhrt wird Der Koumlrper kann nicht als schlecht charakterisiertwerden weil nach dem spaumlten Platon der Koumlrper qua Koumlrper weder gutnoch schlecht in sich selbst ist

Wenn die Seele die Ursache von allem ist so der Athener dann musssie die Ursache von allen Gegensaumltzen sein einschlieszliglich des Bereichsder Ethik Die gleichen Gegensatzspaare von sbquogut und schlecht schoumlnund haumlszliglich sowie gerecht und ungerechtlsquo tauchen in Euthph 7c10ff alsder Zankapfel der menschlichen Debatten auf die vor Gericht gefuumlhrtwerden koumlnnen Auch in Grg 459d1ff gehoumlren sie zur rhetorischenKunst die kein Wissen daruumlber erwerben kann In Plt 296c5-7 erfahrenwir dass ein Irrtum im Rahmen der politischen Kunst das Schaumlndlichedas Schlechte und das Ungerechte verursacht Was der Rhetor verfehltweiszlig der Staatsmann Der goumlttliche Teil der menschlichen Seele mag einewahre Meinung uumlber Schoumlnes Gutes und Gerechtes stiften (Plt 309c5-8)

Indem die Seele fuumlr alle moumlglichen koumlrperlichen Veraumlnderungen ver-antwortlich gemacht wird gelangen wir in unserem Zusammenhang zuder Seele als der primaumlren Ursache auch des Schlechten und nichtaufgrund der Frage woher das Schlechte komme Der Athener machtnirgends explizit dass er die Seele als die einzige Ursache des Schlechtensei Bedenken sollte daher gegen Englands Beobachtung geaumluszligert wer-den in 896d5 werde die Frage nach dem Uumlbel eingefuumlhrt und insbe-

50 Lg 894c6f raquoκαλουμένην δὲ ὄντως τῶν ὄντων πάντων μεταβολὴν καὶκίνησινlaquo

20 Georgia Mouroutsou

sondere gegen seine Folgerung lsquoHaving identified ψυχή with the αἰτίαἀγαθοῦ τε καὶ κακοῦ he is bound to talk of the αἰτία κακοῦ as ψυχήrsquo51

Auf das seelische Uumlbel konzentriert sich hier der Athener Verabsolutie-rende Konklusionen uumlber das Uumlbel schlechthin sind daher der Ge-spraumlchssituation nicht zu entnehmen Jedenfalls waumlre der bestimmte Ar-tikel noumltig vor αἰτίαν (sowohl in 896d6 als auch in d8)

Der Athener zielt darauf die Natur der Seele als die Ursache von allenGegensaumltzen auszulotten und fuumlhrt dann das Feld der menschlichenEthik ein ohne seinen Uumlbergang oder eher seine Einschraumlnkung zu er-klaumlren52 Die konkrete politische Situation in den Gesetzen bietet eineplausible Erklaumlrung fuumlr diesen Uumlbergang von der Seele qua Seele zurmenschlichen Seele Die Buumlrger von Magnesia sollten ihre Machtwahrnehmen sowohl zum Guten als auch zum Schlechten beizutragenAuszligerdem sollten sie die Verantwortung ihrer politischen Taumltigkeit ineinem kosmischen All uumlbernehmen das von einer guten Seele verwaltetwird Die primaumlre Ursache der Bewegung ist die Seele Beinahe waumlre dieSeele als Selbst-Bewegung ie ihre absolute Spontaneitaumlt als Bedingungihrer moralischen Verantwortung zum ersten Mal in der Geschichte derPhilosophie vorgekommen haumltte Platon diese Verbindung ausbuch-stabiert53

Eine Art Anthropozentrismus kommt in den spaumlteren platonischenSchriften vor Die Entscheidung ob wir dieses Konzept einer philoso-

51 Platorsquos Laws S 474 Auf aumlhnliche Weise auch Carone Evil and Teleology S295 Anm41

52 Mayhew argumentiert seinerseits dass es nicht darum gehe dass die Seeledie Ursache aller Dinge und daher sowohl schlechter wie guter Dinge sei DerInterpret meint die Seele sei fruumlher als der Koumlrper und in dieser Weise das Seeli-sche ndash einschlieszliglich der Moral ndash entsprechend fruumlher als das Koumlrperliche (PlatoLaws X S 131) Dennoch liegt die Pointe meines Erachtens nicht darin eineneingegrenzten Bereich ndash den der Ethik ndash anzusprechen sondern das Wesen derSeele als Ursache aller Gegensaumltze auszubuchstabieren was wiederum nichtheiszligt man sollte den Bereich der Moral voumlllig leugnen wie es Raphael Demostut lsquo[hellip] the soul is non-moral apt for both good and evil and so far forth inde-terminatersquo (Demosrsquo Hervorhebung Platorsquos Doctrine of the Psyche as a Self-Moving Motion In Journal of History of Philosophy (1968) S 133-145 HierS136)

53 Vgl Horn Christoph Der Begriff der Selbstbewegung bei Alkmaion undPlaton In Rechenauer Georg (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen2005 S 152-173 bes S 168ff und Baumgarten Hans-Ulrich Handlungstheoriebei Platon Platon auf dem Weg zum Willen Stuttgart 1998 S 241-264

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 21

phischen Kritik unterziehen sollten oden nicht mag hier dahingestelltbleiben Mit dem sbquoAnthropozentrismuslsquo bei Platon meine ich dass dasErschaffen des Weltalls auf der Basis einer Teleologie geschieht die aufden Menschen und seinen Beduumlrfnissen zentriert ist Man mag denTimaios heranziehen Der Anthropozentrismus scheint sich durch denganzen Monolog durchzusetzen in dem Timaios auf das Schaffen desMannes fokussiert ist Gemaumlszlig der Lehre der Wiedergeburt sind Frauenund Tiere schlechtere Formen von Lebewesen Es gibt zwei Passagendie als besonders anthropozentrisch gepraumlgt vorkommen Zum erstensind die Pflanzen um der Ernaumlhrung der sterblichen Lebewesen willengeschaffen worden (77e7-b1) Zum zweiten schafft der Demiurg dieuumlber das ganze All scheinende Sonne damit die dementsprechend aus-geruumlsteten Lebewesen an der Zahl teilnehmen nachdem sie von derBeobachtung der kosmischen Bewegung viel gelernt haben (39b2-c1)Um der Menschen und der Kultivierung der Philosophie willen schafftGott die Sonne und ermoumlglicht die Wahrnehmung der Sicht Dank desStudiums der himmlischen Bewegungen koumlnnen wir nach der Natur derZeit und des Alls fragen Auf diese Weise duumlrfen wir hoffen unsere ge-stoumlrte Bewegung der Vernunft der ungestoumlrten Bahn der kosmischenVernunft zu assimilieren (46e-47c 90c-d)

Wir haben die Kritik an der Einschraumlnkung im moralischen Bereichwiderlegt indem wir unseren unmittelbaren sowie weiteren Kontextberuumlcksichtigten Wegen des Fokuses auf den menschlichen Bereich unddie menschliche Seele geht die allgemeine Frage der Seele qua Seele nichtverloren Der Hintergrund der jetzigen Diskussion bleibt dieseallgemeine Fragestellung obgleich die menschliche Seele diejenige istdie sich gemaumlszlig der Vernunft oder gegen die Vernunft verhaumllt (897b1-5)Wir sollten die Unterscheidung zwischen weiteren kosmischen undmenschlichen Dimensionen bewahren wenn auch der spaumlte Platon denkosmischen Zusammenhang auf eine anthropozentrische oder sogar an-thropomorphische Weise beschreibt54 Es waumlre weder gerechtfertigtnoch legitim dass die Untersuchung uumlber die menschliche Seelediejenige uumlber die Seele qua Seele dominieren oder ausschoumlpfen wuumlrde

54 Zur Zentrierung des kosmischen Alls auf dem menschlichen Leben bei spauml-tem Platon s Carone Evil and Teleology S 296

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v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6

Von der allgemeinen Seelenlehre und der Seele qua Seele die bis dahindas Untersuchungsobjekt bildete gelangt der Athener jetzt zu einer be-sonderen Seele zur Weltseele Der Blickwechsel den der Athener imBereich seiner Betrachtung vollzieht sollte im Rahmen der platonischenSpaumltdialoge in denen Ontologie und Seelenlehre haumlufig in Kosmologiemuumlnden kein Erstaunen hervorrufen Als zwei Beispiele dafuumlr koumlnnender kosmologische Exkurs im Philebos (s oben Abschnitt I) und derUumlbergang von ψυχὴ πᾶσα (alles was Seele ist) zur Weltseele im Phaidros(245c5-246a2) gelten Was uumlber die Seele qua Seele gesagt wurde sollteauch im Fall der Weltseele Guumlltigkeit haben

raquoUnd weil die Seele in allem waltet und wohnt was sich auf ir-gendeine Weise bewegt muumlssen wir etwa nicht sagen dass sie auch denHimmel durchwaltelaquo55

Auf seine nur scheinbar unvermittelte und ploumltzliche Frage56 antwor-tet der Athener selbst

raquoEine oder mehrere Seelen Mehrere Ich werde fuumlr Euch antwortendass wir nicht weniger als zwei ansetzen sollten naumlmlich diejenige diedas Gute vervollkommnet und diejenige die faumlhig ist Entgegengesetztesdurchzufuumlhrenlaquo57

Dass der Athener im Namen seiner Gespraumlchspartner antwortet be-trachte ich als kein ausschlaggebendes Argument gegen die Realitaumlt einersbquoschlechten Weltseelersquo58 weil er sich noch auf die Seele qua Seele bezieht

55 Lg 896d10-e2 raquoΨυχὴν δὴ διοικοῦσαν καὶ ἐνοικοῦσαν ἐν ἅπασιν τοῖς πάντῃκινουμένοις μῶν οὐ καὶ τὸν οὐρανὸν ἀνάγκη διοικεῖν φάναιlaquo

56 Wilamowitz charakterisiert diese Frage zu Unrecht als sbquohereingeschneitlsquo(Platon II S 316) wogegen sich Kerschensteiner einsetzt (Platon und der Ori-ent S 73)

57 Lg 896e4-6 raquoΜίαν ἢ πλείους πλείους ἐγὼ ὑπέρ σφῷν ἀποκρινούμαι Δυοῖνμέν γέ που ἔλαττον μηδὲν τιθῶμεν τῆς τε εὐεργέτιδος καὶ τῆς τἀναντία δυναμένηςἐξεργάζεσθαιlaquo

58 Vgl Apelt Platons Gesetze S 539 Anm 48

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 23

Ist die Seele die das All verwaltet eine oder mehrere Haumltte Platon indi-viduelle Seelen ohne Bezug auf einen generellen Terminus sbquoSeelelsquo auf-zaumlhlen wollen haumltte er von mehr als zwei Seelen gesprochen Die Frageist sehr oft als Frage nach zwei Weltseelen verstanden worden Koumlnnteder Athener nicht die allgemeine Lehre der Seele qua Seele verlassen umsich auf die zwei partikulaumlren Weltseelen zu beziehen Dies haumltte derFall sein koumlnnen wenn die Weltseele mit Realitaumlt ausgestattet waumlre wassich aber nicht so verhaumllt Die oben genannte Frage kann nur die Seelequa Seele betreffen

Obgleich er haumlufig uumlberhoumlrt wird sollte der oben angewendete Dual beruumlcksichtigt werden weil er gegen ein Verstaumlndnis von zwei von-einander getrennten entgegengesetzten Seelen plaumldiert59 Auszliger demDual in 896e5 uumlberhoumlrt die Mehrheit der Interpreten hier noch etwasEntscheidendes Die der wohltaumltigen Seele entgegensetzte ist nicht eineeinfachhin und ohne Weiteres sbquoschlechte Seelersquo60 sondern die Seele raquodieimstande ist das Gegenteil zu bewirkenlaquo Genau in diesem Punkt uumlber-schneiden sich die allgemeine Seelenlehre nach der die Seele qua SeeleSelbstbewegung ist und als solche gut oder schlecht sein kann und diespezielle Lehre uumlber die kosmische Seele die ebenfalls qua Seele in derLage ist gut oder schlecht zu sein Deswegen sollten wir die Rede vonδύναμις in unserer Uumlbersetzung von sbquoτἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαιlsquo(Lg 896e6)61 nicht vernachlaumlssigen Die sbquoschlechte Seelelsquo wird nicht alseine bloszlige Privation der guten Seele eingefuumlhrt sondern als mit ihrereigenen Macht (δύναμις) ausgestattet Schlechtes zu bewirken62 als einenegative und destruktive Macht63

Wir sind dabei weit enfernt δύνασθαι mit einer aristotelischen sbquoerstenMoumlglichkeitlsquo zu identifizieren um die Ausscheidung einer schlechten

59 raquoDie Sprache hat die Dualform geschaffen nicht etwa um den Begriff derZahl zwei sondern um den Begriff der Zweiheit der paarweisenZusammengehoumlrigkeit auszudruumlckenlaquo (Wilhelm von Humboldt Uumlber denDualis Berlin 1828 S 18) Erst nach Platon als das Sprachgefuumlhl fuumlr die eigent-liche Bedeutung der Sprachformen an Lebendigkeit nachlieszlig bedeutete der Dualnicht selten den bloszligen Begriff sbquozweilsquo wobei die wahre und urspruumlngliche Naturdes Duals sich darin zeigt dass er entweder auf paarweise in der Natur verbun-dene Gegenstaumlnde angewendet wird oder auf solche welche in einer engen undgegenseitigen Beziehung gedacht werden (vgl Kuumlhner Raphael und FriedrichBlass Ausfuumlhrliche Grammatik der griechischen Sprache Zweiter Teil Satz-lehre Erster Teil Darmstadt 31966 S 69

60 Er spricht nur spaumlter von einer sbquoschlechten Seelersquo (897d1 vgl 898c4f)

24 Georgia Mouroutsou

Weltseele schon in den oberen Zeilen zu finden Nach dieser Lektuumlrewaumlre die zweite Art von Seele nur imstande Schlechtes durchzufuumlhrenaber wuumlrde nicht tatsaumlchlich so etwas tun Waumlre das der Fall warumsollte der Athener uumlberhaupt erst zwischen zwei Arten von Seele unter-scheiden In einem Kontext wo die Staumlrke die praktische Macht sowieEffizienz und Dominanz der Seele uumlberwiegen64 ist die Option einersbquoersten Moumlglichkeitlsquo keine gelungene Annahme65 Nur in dem Fall desgoumlttlichen Demiurgen koumlnnten wir eine solche sbquoerste Moumlglichkeitlsquo an-wenden die sich nie wirklich durchsetzen wird Trotz seiner Faumlhigkeites zu tun ist der Demiurg nicht bereit die guten Mischungen aufzuloumlsenund die kosmische Ordnung zugrunde zu richten Das Konzept einesDemiurgen der faumlhig ist beides zu tun sowohl Gutes als auch Schlech-tes ist fuumlr Platon undenkbar weil Gott wesentlich gut ist66 Zu-gegebenermaszligen waumlre es zu weitreichend all das in 896e5f hineinzule-sen und die zweite Art der Seele mit dem goumlttlichen Demiurgen zuidentifizieren

61 Der δύναμις-Aspekt geht verloren bei Plutarch der stattdessen von der gutwirkenden und der entgegengesetzten Seele spricht die das Gegenteil vollbringtDe Is Et Osir 370F4-6 raquoὧν τὴν μὲν ἀγαθουργόν εἶναι τὴν δrsquo ἐναντίαν ταύτῃ καὶτῶν ἐναντίων δημιουργόνlaquo Den wichtigen Bezug auf δύναμις verpassen Jowettlsquoone the author of good and the other of the evilrsquo (The Dialogues of Plato S466) sowie Grube Platorsquos Thought lsquoone that does good and one that does evilrsquo(Platorsquos Thought S 146)

Brisson spricht von der Neutralitaumlt der Seele die faumlhig ist gut oder schlecht zusein (Vernunft Natur und Gesetz im zehnten Buch von Platons Gesetzen InHavlicek Ales (Hrsg) The Republic and the Laws of Plato Proceedings of theFirst Symposium Plato Symposium Platonicum Pragense 1 (1997) S 182-200Hier S189) ohne diese Textstelle heranzuziehen

62 Das Verb ist sbquoἐξεργάζεσθαιlsquo das nicht nur das Schlechte bewirken sondern esauch vollenden heiszligt (vgl ἔργον sowohl in als auch in ἐξεργάζεσθαι)

63 Vgl Dillons allgemeine Folgerung uumlber das ontologische Problem desSchlechten bei Platon (Monist and Dualist Tendencies S 11) Der Fall einerschlechten Seele die nicht als Privation der guten Seele vorkommt sondern alsraquofaumlhig Schlechtes zu vollendenlaquo unterstuumltzt Dillons Konklusion dass diesbquoschlechte Seelelsquo eine negative zerstoumlrende Macht sei

64 Vgl die Charakterisierung der Seele in 894d1f 895b665 Dank der Beobachtung von David Sedley wurde es mir klar dass ich

unabsichtlich eine aristotelsiche sbquoerste Potenzialitaumltlsquo in einer fruumlheren Versionvorgeschlagen hatte

66 Vgl oben Fuszlignote 7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 25

Bevor wir zur allgemeinen platonischen Psychologie uumlbergehen er-waumlgen wir eine zweite moumlgliche Unterscheidung der Seele in 896e4-6Bis jetzt habe ich die Distinktion zwischen guter und schlechter Seele alsselbstverstaumlndlich betrachtet Eine vorsichtigere Lektuumlre ermoumlglicht einezweite Option naumlmlich die Unterscheidung zwischen derwohlwollenden Seele die immer das Gute vollendet und derjenigen diefaumlhig ist entgegengesetzte Dinge (Plural) durchzufuumlhren sowohl Gutesals auch Schlechtes (τῆς τἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαι) Die ersteSeele kann keine andere als die goumlttliche sein67 Fuumlr die zweite Seele istder einzige Kandidat die menschliche Seele Auszligerdem wuumlrde die Seeleder Tiere unter die Seele fallen die sowohl Gutes als auch Schlechtestun kann weil sie einen logischen Teil beinhaltet auch wenn deformiertDas Goumlttliche ist immer gut Die Pflanzen moumlgen gut sein insofern siein eine globale Teleologie integriert sind Sie wuumlrden aber nie als faumlhigcharakterisiert etwas Gutes oder noch weniger etwas Schlechtes zutun noch wuumlrden sie die Verantwortung fuumlr die herbeigefuumlhrten gutenoder schlechten Wirkungen tragen Wenn diese Lektuumlre als die einzigemoumlgliche aufgewiesen werden koumlnnte wuumlrden wir mit Sicherheit dieFrage nach der schlechten Seele auf spaumlter verschieben68

Wie es auch sein mag befinden wir uns noch im Rahmen derallgemeinen Lehre der Seele qua Seele als Selbstbewegung Die kosmi-sche Seele ist in 896e1f aufgetaucht aber die Unterscheidung zwischender guten und der schlechten Seele oder der goumlttlichen und men-schlichen Seele wird auf einer allgemeinen Ebene gezogen69 Obgleichder Athener nicht die theorethischen Anspruumlche des Sophistes erhebtsetzt er die allgemeine platonische Ontologie voraus dergemaumlszlig dasSeiende qua Seiendes δύναμις sei Das Kriterium fuumlr alles was Seiendesist sei es Intelligibles oder Koumlrperliches Koumlrper oder Seele ist das Ver-moumlgen zu tun oder zu leiden70 Die Erforschung der Seele als Seiendesverlangt daher die Frage nach ihrer Kraft und ihrem Vermoumlgen (Lg892a2f) Der Gast aus Athen bezieht sich stets auf die δύναμις-Ontolo-

67 Der Athener kann noch nicht die gute Seele als goumlttlich charakterisierenDas Argument hat noch nicht die Goumlttlichkeit der Seele bewiesen

68 Der kreative Charakter der Dialektik ermoumlglicht mehr als eine richtige Ein-teilung Zu diesem Aspekt s Plt 286d-e und Delcomminettes Monographie

69 Anders als Taylor der den Uumlbergang von 896e2 zu e4 durch die Praumlmisseder Aktualitaumlt des Guten und Schlechten in der gegenwaumlrtigen Welt verhilft (TheLaws S 289 Anm 1) sehe ich keinen Eintritt eines a posteriori Arguments adhoc Alles bisherige entnimmt der Athener der allgemeinen Seelenlehre

26 Georgia Mouroutsou

gie des Phaidros sowie des Sophistes Er stellt die Frage was die Seele istund was fuumlr ein Vermoumlgen sie hat οἷόν τε ὂν τυγχάνει καὶ δύναμιν ἣνἔχει71

Obwohl die Frage nach dem Tun (ποιεῖν) oder Leiden (πάσχειν) derSeele als δύναμις nicht explizit gestellt wird72 bringt ihre Definition alsSelbstbewegung ein gleichzeitiges Tun (als Bewegen) und Leiden (alsBewegtwerden) zum Ausdruck73 Die Seele ist die Kraft die sich selbstund anderes bewegt74 Die Definition der Seele als Selbstbewegung kannentweder als Aktivitaumlt oder Passivitaumlt ausgedruumlckt werden Die Seele be-wegt sich selbst und wird von sich selbst bewegt Ein gleichzeitiges Tunund Leiden das aber nicht das gleiche Seiende verursacht geschieht beikoumlrperlicher Bewegung Ein Koumlrper mag auf einen anderen Koumlrper wir-ken und zu gleicher Zeit kann er von einer Seele oder einem anderenKoumlrper bewegt werden aber nicht von sich selbst75

Platon gibt die Definition der Seele in ihrer Allgemeinheit d hunabhaumlngig von ihren moumlglichen Manifestationen in konkretenLebewesen Alles was Seele ist soll Selbstbewegung sein mag es sichum die Seele des Menschen oder des Tieres oder der Pflanze handelnWeil die individuellen Manifestationen der Seele nicht beruumlcksichtigtwerden fehlt bei der Formel der Definition τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴνκινεῖν κίνησιν (896a1f) auch der Bezug auf den Koumlrper den die jeweiligekonkrete Seele beseelt Im Falle der Absenz der Materie in einer Defini-

70 Der Vorschlag des Gastes aus Elea in Sph 247d-e wird nicht allgemein alsPlatons Vorschlag uumlber Ontologie gedeutet Sehr haumlufig beschraumlnken Exegetendas Seiende als δύναμις auf die ad loc Argumentation gegen die MaterialistenAuch wenn dieses Argument als Platons Argument charakterisiert wird bleibtes sehr umstritten ob es eine allgemeine Ontologie betrifft (Brown) oder in eineOntologie der Ideen einmuumlndet (Gerson Politis) Darauf gehe ich hier nicht ein

71 Lg 892a3 vgl Lg 894b8-c1 und 896a1f72 Der Athener bezieht sich auf Tun und Leiden nur in 894c5f und meint

wahrscheinlich sowohl Seelisches als auch Koumlrperliches mit dem die Seele har-monisiert

73 In Lg 894b8-c1 und 896a1f beantwortet der Athener seine Frage nach derArt des Vermoumlgens mit dem die Seele ausgestattet ist Der gesamteZusammenhang verbindet die Frage nach dem Wesen eines Seienden mit derFrage nach seinem Vermoumlgen

74 Lg 893c4f75 Gaiser fuumlhrt den Ausgleich zwischen Passivitaumlt und Aktivitaumlt in der selbst-

bewegenden Seele auf das Zusammenwirken der zwei platonischen Prinzipienzuruumlck (Platons Ungeschriebene Lehre S 195f)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 27

tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

28 Georgia Mouroutsou

Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

30 Georgia Mouroutsou

tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 31

welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

32 Georgia Mouroutsou

zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

34 Georgia Mouroutsou

Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

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werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

42 Georgia Mouroutsou

abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

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ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

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atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

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Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 7

wird Sokrates unterstreicht eine Analogie zwischen Koumlrper und Seeledes Menschen einerseits und Koumlrper und Seele der Welt andererseitsAuf die Letztere weisen Zeusrsquo koumlnigliche Seele und Vernunft hin (30d1-4) In diesem kosmologischen Kontext ist es nicht abwegig den oben zi-tierten Vorschlag des Protarchos als eine Frage nach der Moumlglichkeiteiner schlechten kosmischen Seele zu deuten die die Zerstoumlrung derguten Mischung im All verursachen koumlnnte

Im Philebos kommt es dennoch nicht zur Einfuumlhrung einer fuumlnftenGattung und noch weniger zu Uumlberlegungen bezuumlglich ihrer Natur DieMischung des menschlichen Lebens ist nicht vorgegeben sondern bleibteine stets aufs Neue zu erfuumlllende Aufgabe Die immerwaumlhrend praumlsenteMoumlglichkeit des Misslingens ist darauf zuruumlckzufuumlhren dass dasUnbegrenzte nie voumlllig begrenzt werden kann jedenfalls nicht wenn esum Menschen geht Es bleibt stets als solches bewahrt und soll diesauch8

Vergegenwaumlrtigen wir uns also Erstens gehoumlrt die allgemeine Fragenach dem Ursprung des Schlechten durch und durch zum platonischenAnsatz Zweitens erweckt Platon den Eindruck die Frage nach demSchlechten auf der kosmischen Ebene zu stellen Die folgende Analysewird beweisen dass der Athener keine allgemeine Frage nach demSchlechten uumlberhaupt im Kontext der Gesetze stellt Auszligerdem bietet erdort eine negative Antwort auf die Frage nach einer schlechten Welt-seele

II Nomoi X Die Einfuumlhrung einer sbquoschlechten Seelersquo vor dem Hinter-grund des Leib-Seele-Dualismus

i Die Agenda und die Methode des Atheners

7 Ti 41a8-b2 Derjenige der etwas zusammenbindet ist auch der einzige deres wieder aufzuloumlsen vermag (vgl Ti 32c2-4) Obgleich nur der Demiurg der-jenige ist der sein Produkt vernichten kann zerstoumlrt er nicht die guten kosmi-schen Mischungen In diesem Fall waumlre er schlecht und wuumlrde seinerGoumlttlichkeit widersprechen

8 Im Gegensatz zu August Diegravesrsquo Redeweise von sbquoplaisanterie vouluelsquo (PlatonŒuvres Complegravetes Tome IX2 Philegravebe Paris 1959 Einleitung xxvi) wurde dieVerbindung der fuumlnften Gattung des Philebos mit der sbquoschlechten Seelersquo derNomoi schon von Heinze aufgezeigt (S 25-29)

8 Georgia Mouroutsou

Kleinias zeichnet den sehr umfangreichen einleitenden Teil des zehntenBuches der Gesetze (885b-907d) als raquodie schoumlnste und beste Praumlambelaller Gesetzelaquo aus (887b8-c2) und besteht wiederholt auf einer angemes-senen Verlaumlngerung dieser Einleitung9 Die Aufgabe eines gesetzlichenVorgehens gegen die Asebie wird erst im letzten Teil des Buches erfuumlllt10

Der Athener versucht in seiner Vorrede die drei Arten des Gottesfre-vels11 auf ihre Ursachen zuruumlckzufuumlhren bevor er von der Uumlber-zeugungskraft der Rede zur Strenge der entsprechenden Strafen uumlber-geht12 die der Gesetzgeber des zu gruumlndenden Staates aufunveraumlnderliche ndash da schriftliche ndash Weise festlegen wird Nach der erstenAuffassung wird die Existenz der Goumltter geleugnet Gemaumlszlig der zweitenkuumlmmern sich die Goumltter nicht um die menschlichen AngelegenheitenDie dritte zu widerlegende Meinung laumlsst sich folgendermaszligen formu-lieren Die sich um die Menschen kuumlmmernden Goumltter koumlnnen mittelsGebet und Opfer beeinflusst und umgestimmt werden Wie sich leichterahnen laumlsst erregt die Erforschung der Ursache der ersten Form vonGottlosigkeit im Rahmen der Argumentation gegen die Asebie diegroumlszligte Aufmerksamkeit13

Das zehnte Buch gilt seit der Antike als der philosophisch anspruchs-vollste Teil der Gesetze obwohl man die heikle Argumentationaufgrund der Zirkularitaumlt und der Subjektabhaumlngigkeit des Beweis-ganges immer wieder verworfen hat14 Der Charakter der beabsichtigtenUumlberzeugung in allen Einleitungen bleibt in der Forschung weiter um-stritten wobei den Zankapfel die Frage bildet inwiefern die Uumlber-

9 Lg 887b1-c4 890e4-891a710 Lg 907d4 bis 910d411 Die unvernuumlnftige Meinung (δόξα 888b7 c2 903a4 νόητος δόξα 891c7)

oder der (leidende) Zustand ( 885b6 πάθος 888c4 900b3 908c5) des Fre-vels wider die Goumltter werden als Abweichung (διαφορά 886a9) und alsKrankheit (νόσος 888b8) gekennzeichnet

12 Tί χρὴ πάσχειν (885b1f) (885b3f) Es werden die Ursachen einesbestimmten Uumlbels und nicht des Schlechten uumlberhaupt erforscht naumlmlich derwegen Asebie veruumlbten Missetaten Darauf bezieht sich κακά in 884a5 undkakvn 886d3 Als moralisch schlecht gelten die Gottlosen die die Gesetze inBezug auf die wichtigsten Dinge zugrunde richten (891b4-6 vgl 886a6)

13 Die Widerlegung der ersten Auffassung geht bis 899d4 Anschlieszligend wehrtsich der Athener gegen die zweite verfehlte Meinung bis 903a9 mit Hilfe vonArgumenten und mit dem Nachtrag des Mythos bis 905d3 Die Behandlung derdritten Abweichung folgt bis 907b4

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 9

zeugung sich mit rationalen oder irrationalen Mitteln vollzieht15 Einerationale Fundierung darf keinesfalls mit einer raquodurchgehend philoso-phische[n] Begruumlndunglaquo identifiziert16 sondern muss als eine Annauml-herung an die philosophische Argumentation verstanden werden17 Beider Widerlegung der ersten Uumlberzeugung der Gottlosen zielt derAthener nicht auf die Bezauberung seiner Gegner18 sondern wendeteine rationale Argumentation an Er druumlckt das Zusammenspiel von ra-tionaler und irrationaler Vorgehensweise am praumlgnantesten aus wenn erseine Zielsetzung folgendermaszligen formuliert

raquoDenn zoumlge sich wohl die Rede nicht wenig in die Laumlnge falls wireinerseits mit hinreichenden Argumenten gegenuumlber denjenigen diegottlos zu sein wuumlnschen das bewiesen woruumlber geredet werden musswie sie sagten falls wir andererseits unseren Anklaumlger in Furcht ver-

14 Auf eine exemplarische Weise hat Stalley die Argumentation als misslungendargelegt (An Introduction besonders S 169-172) Was die Zirkularitaumlt betrifftwill der Athener die Existenz der Goumltter beweisen die er dennoch voraussetztwenn er sie zur Hilfe ruft (Lg 893b1-4) s unter vielen anderen John ClearyThe Role of Theology in Platorsquos Laws In Lisi F L (Hrsg) Platorsquos Laws and ItsHistorical Significance Selected Papers of the International Congress onAncient Thought Salamanca 1998 S 125-140 Hier S 130 Auf derSubjektabhaumlngigkeit des dialektischen Vorgehens basiert die InterpretationSteiners (Platon Nomoi X) noch entschiedener ist Christian Pietsch Die Dihai-resis der Bewegung in Platon Nomoi X Rheinisches Museum fuumlr Philologie146 (2003) S 303-327 hier 319ff

15 Die Diskussion zwischen Christopher Bobonitch (Persuasion Compulsionand Freedom in Platorsquos Laws In Classical Quarterly 41 (1992) S 234-250) undStalley (Persuasion in Platorsquos Laws In History of Political Thought 15 (1994) S157-177) hat dieses Problem neuerdings zur Sprache gebracht Die rationaleUumlberzeugung muss rationale und irrationale Mittel kombinieren weil der zuUumlberzeugende (wenn auch nur Spuren von) Rationalitaumlt mitbringt aber zugleichgegen die Vernunft Widerstand leistet Stalley der die Praumlambel fuumlr lsquorathercoventional sermonsrsquo haumllt (An Introduction S 43) raumlumt eine Ausnahme fuumlrdas zehnte Buch ein (Persuasion S173f)

16 Pace Stalley Persuasion S 16717 Der wahrhaftige Gesetzgeber soll die Aufgabe erfuumlllen den Gesetzeswidri-

gen mithilfe beinahe philosophischer Argumente (καὶ τοῦ φιλοσοφεῖν ἐγγὺςχρώμενον μὲν τοῖς λόγοις 857d2) nicht nur zu heilen sondern auch zu erziehen(vgl Lg 857e3-6)

18 Einen verzaubernden Mythos nimmt der athener Gast erst bei seinerWiderlegung der goumlttlichen Sorglosigkeit gegenuumlber dem Menschlichen inAnspruch (Lg 903a10-905d3)

10 Georgia Mouroutsou

setzten und nachdem wir in ihnen Abscheu uumlber diese Missetaten erregthaumltten wir erst nachher die Gesetze aufstellten wie es sich gebuumlhrtlaquo19

ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platoni-sche Theorie der Bewegung

Kurz vor der Einfuumlhrung der schlechten Seele bezieht sich der Athenerexplizit auf den in 893b1-896b9 demonstrierten Vorrang der Seele uumlberden Koumlrper

raquoDenn wir duumlrften wohl richtig und vollguumlltig wahrhaftig undvollkommen gesagt haben dass fuumlr uns die Seele fruumlher entstand als derKoumlrper der Koumlrper aber an zweiter Stelle und spaumlter und beherrschtgemaumlszlig der Natur waumlhrend dagegen die Seele herrschtlaquo20

Platon gelingt es aus den Goumltterfrevlern ganz unterschiedlicherHerkunft ndash es sind Naturwissenschaftler Sophisten und Dichter darun-ter ndash einen einheitlichen Typus zu entwerfen der eine Prioritaumlt des Koumlr-pers ja noch mehr eine Derivation des Seelischen aus dem Koumlrperlichenvertritt21 Letztendlich plaumldiert er fuumlr einen materialistischen Reduktio-nismus der Form sbquoalles ist Koumlrperlsquo Eine Kosmogonie unterliegt seinerAuffassung gemaumlszlig der die Seele nach dem Koumlrper geschafft worden istDer Seele wird sowohl kausale als auch zeitliche Prioritaumlt zugesprochen

Nicht nur die Seele sondern alles was mit der Seele verbunden ist ndasheinschlieszliglich des Gesetzes und der Goumltter ndash werden nach dieser

19 Lg 887a3-8 raquoοὐ γάρ τι βραχὺς ὁ λόγος ἐκταθεὶς ἂν γίγνοιτο εἰ τοῖσινἐπιθυμοῦσιν ἀσεβεῖν τὰ μὲν ἀποδείξαιμεν μετρίως τοῖς λόγοις ὧν ἔφραζον δεῖν πέριλέγειν τὸν δὲ εἰς φόβον τρέψαιμεν τὰ δὲ δυσχεραίνειν ποιήσαντες ὅσα πρέπει μετὰταῦτα ἤδη νομοθετοῖμενlaquo Durch den Singular (887a6 τὸν δέ) bezieht sich derAthener auf denjenigen der die Anklage gegen die Glaumlubigen einbringt(886e8f)

20 Lg 896b10-c3 raquoὈρθῶς ἄρα καὶ κυρίως ἀληθέστατά τε καὶ τελεώταταεἰρηκότες ἂν εἶμεν ψυχὴν μὲν προτέραν γεγονέναι σώματος ἡμῖν σῶμα δὲδεύτερόν τε καὶ ὕστερον ψυχῆς ἀρχούσης ἀρχόμενον κατὰ φύσινlaquo

21 Es handelt sich um ein lsquoamalgam of several views rather than a single clear-cut doctrinersquo (Saunders Plato The Laws S 408) Glenn Morrow spricht vonlsquobody of ideasrsquo (The Cretan City Princeton 1960 S 480) Robert Muth nochtreffender von einer sbquomaterialistische[n] philosophische[n] κοινήlsquo der damaligenattischen Aufklaumlrungsbewegung (Studien zu Platons sbquoNomoirsquo X 885b2-899d3In Wiener Studien 69 (1956) S 140-153 Hier S 146)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 11

Auffassung als abgeleitet herabgesetzt Als abbildende Setzungenkoumlnnen sie die abgebildete Natur und Wahrheit nur verfehlen

raquo[hellip] er scheint Feuer und Wasser und Erde und Luft fuumlr das Erstevon allem zu halten und diese Dinge als sbquoNaturrsquo zu bezeichnen dieSeele aber fuumlr ein Spaumlteres aus diesen [Entstandenes]laquo22

Nun stellt der Athener seine Bewegungslehre dar mit der Absicht diePrioritaumlt der Seele zu beweisen23 Nach den sbquoPhilosophierendenlsquo24 lassensich die oumlrtlichen Bewegungen in sechs Arten unterteilen (1) Rotation(2) gleitende Bewegung (3) rollende Bewegung (4) Wachstum (5)Schwund (6) Zugrundegehen Dabei faumlllt das ontologische Werden (7)und Vergehen (8) als ein ausgezeichnetes Paar heraus da es ur-spruumlnglicher ist als die bisher entfalteten oumlrtlichen Bewegungsarten25

Die entscheidende Zweiteilung jedoch kommt erst am Ende der Auf-zaumlhlung zur Sprache Danach gibt es einerseits die koumlrperliche Be-wegung die als Fremdbewegung bestimmt wird (9) andererseits die alsSelbstbewegung definierte seelische Bewegung (10)26 Der Athener ver-steht den Namen sbquoSeelelsquo als den Namen dessen Definition sbquoSelbst-Be-wegunglsquo (895e10-896a2) erst nach der methodologischen Unter-scheidung zwischen dem Wesen und dessen Namen erfolgt (895d1-e9)Nach dieser Distinktion charakterisiert er die zweite Bewegung als sbquokoumlr-perlichlsquo (896b4-8) sbquoKoumlrperlsquo ist der Name dessen Definition dieFremdbewegung ist (896b10-c3)

Erst gemaumlszlig dieser Einteilung koumlnnen alle bereits aufgezaumlhltenraumlumlichen Bewegungsarten als seelisch oder koumlrperlich verstandenwerden Anders als Pietsch27 finde ich keinen Textbeleg nach dem dieSelbstbewegung im Gegensatz zu den raumlumlichen Arten der Fremdbe-wegung unraumlumlich sein soll Pietsch argumentiert dass das ganze dihai-

22 Lg 891c1-4 Eine aumlhnliche sbquoAll-Thesersquo vertreten die materialistisch ver-anlagten Ontologen im Rahmen der sbquoRiesenschlachtlsquo im Sophistes bevor ihnender Gast aus Elea durch seinen δύναμις-Vorschlag zur Hilfe kommt ImGegensatz zu den Ideenfreunden die schon mit der Unterscheidung zwischenSein und Werden auftreten macht nach den Materialisten ausschlieszliglich derKoumlrper das Sein aus (Sph 246b1)

23 Auf diese Weise begruumlndet der Gast alle vorgebrachten Auflistungen derGuumlter nach denen der Vorrang immer seelischen und nicht koumlrperlichen Guumlternbeigemessen wurde Vgl Lg 631b-c 661a ff 688a-b 697a-c 726a-729a 743e

24 So werden die Vertreter der Prioritaumlt der Seele ausgezeichnet Lg 967c8 (diezweite und letzte Erwaumlhnung von Philosophie in den Gesetzen auszliger in Lg857d2)

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retische Stemma sbquonur raumlumliche Bewegungsartenlsquo bieten kann weil derAthener von der Physik des Gegners ausgeht28 Platon offenbart jedochein Stuumlck von seiner eigenen Philosophie immer dann wenn er seinesbquoGegnerrsquo verbessert seien es die Herakliteer im Theaitetos die Materia-listen des Sophistes oder diejenigen der Gesetze Das Platonische derRaumlumlichkeit der seelischen Bewegung erklaumlrt auszligerdem Timaios fuumlrguumlltig der der Weltseele raumlumliche Bewegung beimisst Zur Bekraumlf-tigung dient daruumlber hinaus die aristotelische Kritik am platonischenVerstaumlndnis der Selbstbewegung als raumlumlicher Bewegung (de an I3)

Dass der Bewegung in der spaumlteren platonischen Philosophie einegrundlegende Rolle zukommt zeigen neben dem Timaios die DialogeSophistes und der Theaitetos Im Sophistes wird das ausgezeichnete so-wohl bewegte als auch im Stillstand befindliche Sein der Idee qua Ideebehandelt Im Theaitetos werden heraklitische Allbewegungs-Modelleim Bereich der Wahrnehmung kritisiert Im Timaios wird die Bewegungin ihrer ganzen kosmologischen Tragweite ausgelotet In dem letztenDialog zeigt Platon seine Aneignung und Transformation des Herakli-

25 Gemaumlszlig der Aufzaumlhlung Konrad Gaisers (Platons Ungeschriebene LehreStuttgart 19983 S 176f) und ohne Besprechung der immensen einzelnen Pro-bleme Die ontologische γένεσις uumlber die Linie und Flaumlche bis hin zumdreidimensionalen Koumlrper (894a2-5) gilt als noch urspruumlnglicher als die vorhererwaumlhnten raumlumlichen Bewegungsarten (893c1f) Dieser Primat unterscheidetsich von Aristotelesrsquo Auffassung wie die Kritik des Stagiriten belegt (GC I2315a29ff) Der Bewegungskatalog ist von grundlegender Bedeutung fuumlr das Ver-staumlndnis der Prioritaumlt der Seele Hier begnuumlge ich mich mit der Hervorhebungder Beitraumlge von Gaiser und Solmsen (Aristotlersquos System of the Physical WorldA Comparison With His Predecessors New York 1960) Gaiser hat den sys-tematischen Charakter der Aufzaumlhlung der Bewegungsarten in Verbindung zuder indirekten Uumlberlieferung ausgearbeitet (Platons Ungeschriebene Lehre S173-186) Man folgt oft seiner Interpretation der besonders dunklen Stelle Lg894a1-8 und zwar mit oder ohne explizite Erwaumlhnung seines Beitrags zum Bei-spiel Pietsch C Die Dihairesis der Bewegung hier S 316 Anm 45 SchoumlpsdauK Platon Werke in Acht Baumlnden Griechisch und Deutsch Achter Band Zwei-ter Teil Platon Gesetze Buch VII-XII Minos Darmstadt 20054 S 291 Anm 26Mayhew R Plato Laws X Oxford 2008 S 112ff Solmsen (Aristotlersquos System)bietet seinerseits eine sehr ausgewogene Hermeneutik der platonischen undaristotelischen Bewegungslehre an die gegenuumlber der neueren oft hinter ihrzuruumlckbleibenden Forschung noch immer als exemplarisch gelten sollte

26 Lg 894b8-c1 894c3-827 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 304 und oumlfters28 Ebd S 320

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 13

tismus im Bereich der Ontologie des Wahrnehmbaren auf (48eff) des-sen Ausarbeitung nach wie vor eine Aufgabe fuumlr die Platon-Forschungdarstellt

Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich dass sbquoKoumlrperrsquo undsbquoSeelersquo als verschiedene Arten von Bewegung aufgefasst werden Hiersehe ich keine Verwirrung bei Platon zwischen einer Bewegungsart(Selbstbewegung) und der Seele als unabhaumlngiger Substanz Anders alsRichard Stalley29 verstehe ich sowohl die Selbstbewegung als auch dieSeele qua Seele als auf einen Koumlrper bezogen wenn auch unabhaumlngigvom jeweiligen Koumlrper gedacht und definiert Sogar die schlechte Welt-seele bliebe somit bezogen auf den Weltkoumlrper waumlre sie real

iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer an-tiken Auffassung

Halten wir inne Der Seele wird eine Art Prioritaumlt beigemessen die sichauf die in ihrer Definition widergespiegelte Natur als Selbstbewegungstuumltzt Als solche zeigt sich die Seele qua Seele und unabhaumlngig von allihren konkreten Manifestationen als aumllter wirksamer und maumlchtiger un-ter allen Bewegungen Und nicht nur dies Sie zeigt sich auch als dieeigentliche Bewegung und Veraumlnderung alles anderen Seienden30 Wirbefinden uns also im Rahmen der Problematik des Leib-Seele-Dualis-mus der neben dem Dualismus von Idee und Erscheinung der alssbquoZwei-Welten-Lehrelsquo beruumlhmt bzw beruumlchtigt wurde sowie dem in derAntike und Moderne debattierten Dualismus der zwei platonischenPrinzipien weitlaumlufig Karriere in der Geschichte des Platonismusgemacht hat31

29 Stalley An Introduction to Platorsquos Laws Oxford 1983 S 171f30 Lg 894c6f31 Die Tatsache dass hier die zwei letzteren Arten von Dualismus nicht vor-

kommen bedeutet keinesfalls dass der alte resignierte Platon seine Ideen- oderPrinzipienlehre aufgegeben habe (so Muumlller Gerhard Studien zu den Platoni-schen Nomoi Muumlnchen 1951 19682 aumlhnlich Rist Eros and Psyche S 87ff)Auf die platonische Ideenlehre weist der Gast als auf einen wesentlichen Teil derErziehung der sbquonaumlchtlichen Versammlungrsquo hin (Lg 965b-966b) Hier sei dieschwierigere Frage dahingestellt inwieweit die angedeutete Lehre der klassi-schen Ideenlehre der mittleren Dialoge entspricht

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Platon problematisiert den Leib-Seele Dualismus nicht nur aufgrundder allgemeinen Frage nach sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo sondern auch weil erauf der moumlglichen Interaktion zwischen der intelligiblen Seele (derSonne) und ihrem wahrnehmbaren Koumlrper reflektiert (in Lg 898e8-899a4)32 Obgleich wir nicht viel Positives uumlber die platonische Auffas-sung der Art der Beziehung zwischen Koumlrper und Seele aussagenkoumlnnen sind wir damit doch imstande auf entschiedene Weise einigesauszuschlieszligen Wir werden mit dem Materialismus und dem Mentalis-mus anfangen die mit weniger Muumlhe abgelehnt werden koumlnnen als derso charakterisierte sbquorobuster Dualismuslsquo dem wir uns anschlieszligendwidmen

Die These des Materialismus wonach das Seelische auf Koumlrperlicheszuruumlckzufuumlhren sei gewinnt nicht die Oberhand in diesem KontextDie Materialisten bleiben die Gegner des Atheners durch das ganze Ar-gument hindurch Noch modifizierte Materialisten finden einen Belegfuumlr ihre These dass das Seelische unsichtbares Koumlrperliches sei Neu-erdings hat Gabriela Carone diese Auffassung des sbquomodifizierten Mate-rialismuslsquo als genuin platonisch vertreten33 was eine gerechtfertigteReaktion von Francesco Fronterotta hervorgerufen hat34 Bei ihrem Ver-such die Materialitaumlt der Seele aufzuweisen begeht Carone einengrundsaumltzlichen Fehler Sie geht ohne jede Argumentation von der Moumlg-lichkeit eines unsichtbaren Koumlrpers zu einem Verstaumlndnis der Seele alskoumlrperlich uumlber35 Die Ausdehnung sei (nach Platon) wesentliche Eigen-schaft des Koumlrperlichen Weil sie raumlumlich ist muumlsste die Seele daher ir-gendeine Art koumlrperlicher Natur besitzen Carone gibt zu lsquoOf course

32 Die Stelle charakterisiert Thomas Robinson als lsquoa splendid memorial to his[Platorsquos] intellectual honestyrsquo (The Defining Features of Mind-Body Dualism inthe Writings of Plato In John Wright und Paul Potter (Hrsg) Psyche andSoma Physicians and Metaphysicians on the Mind-Body Problem From Antiq-uity to Enlightenment S 37-55 Hier S 55) lsquoTo the end he is wrestling with theproblem that lies at the heart of all psycho-physical dualism the problem ofrelating a physical substance to an immaterial one and to the end he openlyadmits his bafflementrsquo (ebd)

33 Carone Gabriela Mind and Body in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichteder Philosophie 87 (2005) S 227-269 Hier S 256f

34 Fronterotta schmaumllert gewisse Staumlrken des Argumentes von Carone undbringt daher die platonische Methode der sbquoVerbesserungrsquo des Gegners in diesemFall der Materialisten nicht zur Anwendung (Fronterotta Fransesco Carone onthe Mind-Body Problem in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichte der Philoso-phie 89 (2007) S 231-236)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 15

there is still a gap to be filled between spatial extension and corporeal-ityrsquo36 Trotz ihres Zugestaumlndnisses fuumlllt Carone diese Luumlcke leider nichtund offenbart auf diese Weise ihre nicht hinterfragte (oder bei Platonnicht bewaumlhrte) Cartesianische Praumlmisse37

Noch belegt unser Zusammenhang das andere Extrem einer ArtMentalismus nach dem das Koumlrperliche vom Seelischen ableitbar istSowohl die Darstellung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper alszwischen Ganzem und Teil (Chrm 156dff) als auch die oumlrtliche Meta-pher der den Koumlrper umhuumlllenden Seele (Ti 36e3f und Lg 898d11-e238)eroumlffnen dennoch den Raum fuumlr eine solche Auffassung Dennoch un-terstuumltzt der Kontext in den Gesetzen nicht diese Auffassung Anders alsder materialistisch gepraumlgte Typus vertreten die sbquoPhilosophierendenlsquokeine reduktionistische These was nicht nur den Materialismus sondernauch den Mentalismus ausschliesst

In modernen Diskussionen des Leib-Seele-Problems wird Platon allzuoft als Vertreter eines sbquorobusten Dualismuslsquo dargestellt39 Demgemaumlszlighandelt es sich bei Seele und Koumlrper um zwei selbststaumlndige vonei-nander abgetrennte Substanzen die erst nachtraumlglich vereinigt werden

35 Carone Mind and Body S 237 die Voraussetzungen eines solchen Ver-staumlndnisses hat Fronterotta ans Licht gebracht Carone on the Mind-Body Pro-blem S 233

36 Carone Mind and Body S 240 Anm 4337 Vgl Carones selbstverstaumlndliche Redeweise lsquospatial or material conditionsrsquo

lsquobody and spacersquo lsquospace and bodyrsquo Mind and Body S 264 Zu einer einsichtige-ren Unterscheidung der Arten vom Dualismus bei Platon und Descartes sSarah Broadie Soul and Body in Plato and Descartes In The AristotelianSociety 101 (2001) S 295-308

38 Die zweite zaumlhlt Robinson nicht mit auf The Defining Features of Mind-Body Dualism S 40 Anm 12 Lg 898d11-e2 hat mehrere Deutungen undUumlbersetzungen veranlasst Περιφύειν wird mit aumlhnlicher Bedeutung in R 612aangewendet (sbquoherum- oder anwachsenlsquo) Diese Metapher in den Gesetzen undderen Uumlbersetzung verfehlen Otto Apelt Platons Gesetze Zweiter Band Leip-zig 1916 S 419 Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 S 163 mit Anm 2 Robin Leacuteon Oeuvres completesPlaton Paris 1950 Zweiter Band S 1025 richtig verstehen die Stelle JowettBenjamin The Dialogues of Plato Oxford 41953 S 468f Taylor Alfred E TheLaws of Plato London 21960 S 291 Muumlller Studien S 92 Anm 1 Bury Rob-ert Plato with an English Translation IX and X Laws London-New York1952 S 346 mit Anm Saunders Plato The Laws S 430 Cooper John (Hrsg)Plato Complete Works Cambridge 1997 S 1555 Mayhew Plato Laws X S29

16 Georgia Mouroutsou

muumlssen was hier nicht ausdruumlcklich widerlegt wird Neuerdings hatFronterotta diese Auffassung vertreten40 wobei auch seine Deutung aufzwei unaufhebbaren Schwierigkeiten im Timaios stoumlszligt Zum ersten istdie Weltseele raumlumlich ausgedehnt Zum zweiten ist sie das Produkteiner Mischung was nicht nur Carones These widerlegt dass die Seelekoumlrperlich sei ndash da hat Fronterotta Recht ndash sondern auch gegen einen ab-soluten unuumlberbruumlckbaren Gegensatz zwischen einer rein rationalerSeele und dem Weltkoumlrper plaumldiert41

Auf dem ersten Blick scheint unser Kontext in den Gesetzen nicht aufexplizite Weise den weit verbreiteten Vorschlag eines Substanz-Dualis-mus abzuweisen Weil sich aber in diesem Zusammenhang sowohl dieseelische als auch die koumlrperliche Bewegung im Raum vollziehen (Lg893c1f) ist die Dimensionalitaumlt keinesfalls ausschlieszliglich dem Koumlrperzugeordnet was sich wiederum mit einem starren Dualismus nicht ver-traumlgt42

Jedenfalls ist ein gewisser Dualismus insofern nicht zu uumlbergehen alsdie seelische Bewegung die koumlrperliche nicht produzieren kann43 NachLg 896e8-897b4 sbquonehmenrsquo die seelischen als die primaumlren Bewegungendie sekundaumlren koumlrperlichen sbquoaufrsquo Das gleiche Verb (παραλαμβάνειν897a5) wendet auch der Timaios an Der Demiurg nimmt das auf unge-ordnete und fast verbrecherische Weise bewegte Wahrnehmbare sowiespaumlter im Dialog das was ἀνάγκη bewirkt (68e3) auf Die unterstehendenGottheiten nehmen ihrerseits den rationalen Teil der Seele auf um ihn mitdem sterblichen Teil im Koumlrper zu verknuumlpfen (Ti 69c5) Diesen ver-schiedenen Zusammenhaumlngen koumlnnen wir keine Umkehrung der Prio-ritaumlt der Seele gegenuumlber dem Koumlrper entnehmen Was sich mit einer anSicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ausschlieszligen laumlsst ist eine

39 S Burnyeat Myles Is An Aristotelian Philosophy of Mind Still CredibleA Draft In Nussbaum A M-Rorty (Hrsg) Essays on Aristotlersquos De AnimaOxford 1992 S 15-26 Hier S 16 Putnam Hilary The Threefold Cord MindBody and World New York 1999 S 97 Stephen Priest Theories of the MindLondon 1991 S 8-15 57 162)

40 Fronterotta Carone on the Mind-Body Problem41 Platon behandelt das Problem der Verbindung zwischen der Seele und dem

Koumlrper wie die Vermittlung durch das Mark beweist (Ti 73b-c) was wir abernicht als Beleg dafuumlr betrachten sollten dass Platon zum Vorlaumlufer von Descar-tes wird

42 Thomas Johansen begeht diesen Weg in seiner Timaios-Auslegung43 Vgl Mason Andrew Plato on the Self-Moving Soul In Philosophical

Inquiry 1998 S 18-28 Hier S 24 28

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 17

Herleitung des Koumlrperlichen aus dem Seelischen44 Diese Unterscheidungzwischen Koumlrper und Seele erlaubt es dem Dialektiker je nachZusammenhang die Seele qua Seele (so in der vorliegenden Passage der Ge-setze) und den Koumlrper qua Koumlrper (so im Timaios) zu betrachten ohne einereduktionistische Auslegung vorauszusetzen

Auf dieser Basis wird ein Reduktionismus des Koumlrpers auf die Seele aus-geschlossen Ausserdem unterstuumltzt der Wortlaut des Textes nicht das Ver-staumlndnis der ontologischen Prioritaumlt die Aristoteles in Metaph V11 an-spricht Es geht in unserem Kontext nicht darum was Aristoteles undAlexander als platonische Auffassung und akademisches Gut dar-stellen45 Als Kriterium der ontologischen Rangfolge wird dassbquoMitaufgehobenwerdenrsquo des Spaumlteren angegeben Demgemaumlszlig setzt dasontologisch Spaumltere das Fruumlhere voraus aber nicht umgekehrt Wenndas Fruumlhere aufgehoben wuumlrde wuumlrde auch das Spaumltere aufgehobenwas sich aber nicht umkehren laumlsst Soweit geht Platon bei der hiesigenBetrachtung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper jedoch nichtDie Rede von der sbquoAufnahmersquo der koumlrperlichen Bewegungen von denseelischen ist weniger mit einer ontologischen Prioritaumlt der Seele (wieoben dargelegt) als vielmehr mit einer Aufeinanderbezogenheit vonSeele und Koumlrper vertraumlglich

Um eine uumlber den Rahmen dieses Beitrags hinausgehende positive Louml-sung fuumlr Platons Leib-Seele-Dualismus zu entwickeln ist es noumltigeinige falsche Meinungen zu korrigieren wozu die obere Darlegung bei-traumlgt

iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Ar-gument

44 Pace England Edwin The Laws of Plato London 1921 Zweiter Band S476 der παραλαμβάνειν als lsquobring in their trainrsquo versteht In allen obenerwaumlhnten Zusammenhaumlngen ist klar dass das Aufgenommene nicht vomAufnehmenden geschaffen wird Die Uumlberlegenheit des letzteren bleibt davonunberuumlhrt

45 Vor allem in Arist Metaph V11 1019a2-4 vgl Alexander In AristotMetaph I 6 987b33 Gaiser Testimonium Platonicum 22B

18 Georgia Mouroutsou

Wir kehren zu unserem Text zuruumlck Da der Seele ontologische Prioritaumltgegenuumlber dem Koumlrper verliehen wird ist auch das der Seele Verwandteontologisch fruumlher als das was dem Koumlrper zugehoumlrt

raquoVerhaltensweisen aber und Gemuumltsarten Willensakte Schluss-folgerungen wahre Meinungen Fuumlrsorge und Erinnerungen duumlrftenfruumlher entstanden sein als koumlrperliche Laumlnge Breite Tiefe und Staumlrkewenn eben die Seele fruumlher als der Koumlrper entstanden sein solltelaquo46

Im Anschluss daran hilft uns der Athener nachzuvollziehen warumPlaton eben hier die sbquoschlechte Seelersquo einfuumlhrt Man muumlsse darin uumlberein-stimmen dass die Seele Ursache sowohl des Guten als auch des Boumlsendes Schoumlnen und des Schlechten des Gerechten und des Ungerechtenund aller Gegensaumltze sei

raquoIst es denn nicht noumltig darin uumlbereinzustimmen dass die Seele dieUrsache des Guten sowie des Schlechten des Schoumlnen sowie des Haumlszlig-lichen des Gerechten sowie des Ungerechten und uumlberhaupt allerGegensaumltze wenn wir sie als Ursache von allem setzenlaquo47

Diese Zeilen sind aumluszligerst wichtig weil hier und nicht erst in 896e4ffder Gegensatz von sbquogut und schlechtlsquo eingefuumlhrt wird Dem Argumentist vorgeworfen worden es sei schwach Unter den Kritikern verstehtStalley den Schluss auf folgende Weise lsquoSoul since it is the source ofeverything must be the source of valuesrsquo Er wundert sich dass Werteohne Begruumlndung und ohne Erklaumlrung ihrer Existenzweise eingefuumlhrtwerden48 Dementgegen werde ich eine wohlwollendere Annaumlherungvorschlagen Nach der Rekonstruktion des Arguments werde ich eineArt sbquoanthropozentrischer Wendelsquo in einen breiteren Kontext situieren

Wie er expliziert (896d8) zieht der Gast aus Athen diesen Schlussdaraus dass die Seele als Ursache von allem angesetzt worden ist Bevorwir diese Begruumlndung als einen Fehlschritt charakterisieren sollten wiruns zusammen mit Kleinias erinnern dass die sbquoSeelersquo die Veraumlnderungvon allem herbeifuumlhrt49 Mit Hilfe einer anderen Formulierung ist dieSeele raquodie Veraumlnderung und Bewegung von allem Seiendenlaquo50

46 Lg 896c9-d3 raquoΤρόποι δὲ καὶ ἤθη καὶ βουλήσεις καὶ λογισμοὶ καὶ δόξαιἀληθεῖς ἐπιμέλειαί τε καὶ μνῆμαι πρότερα μήκους σωμάτων καὶ πλάτους καὶβάθους καὶ ῥώμης εἴη γεγονότα ἄν εἰπερ καὶ ψυχὴ σώματοςlaquo

47 Lg 896d5-7 raquoἎρrsquo οὖν τὸ μετὰ τοῦτο ὁμολογεῖν ἀναγκαῖον τῶν τε ἀγαθῶναἰτίαν εἶναι ψυχὴν καὶ τῶν κακῶν καὶ καλῶν καὶ αἰσχρῶν δικαίων τε καὶ ἀδίκωνκαὶ πάντων τῶν ἐναντίων εἴπερ τῶν πάντων γε αὐτὴν θήσομεν αἰτίανlaquo

48 Stalley An Introduction S 172 49 Lg 892a6f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 19

Die Bewegung ist hier als Wechsel und Veraumlnderung (μεταβολή) in ih-ren weitesten Sinn zu verstehen seien sie im Raum in Bezug auf dieSubstanz die Qualitaumlt oder die Quantitaumlt Der Uumlbergang findet zwi-schen Gegensaumltzen statt Die ersten Paare von Gegensaumltzen die derAthener vor der Verallgemeinerung in 897d7 anspricht sind Ver-bindungen und Trennungen Wachstum und Schwund sowie Prozessedes Wedens und Vergehens (894b10f) Die Seele zeigt sich als dieUrsache von aller Art koumlrperlicher Veraumlnderung Wenn eine Seele einenWechsel von einem schlechten zu einem guten Zustand verursacht dannist diese Seele in sich selbst gut Wenn eine Seele einen schlechtenEinfluss auf einen Zustand uumlbt dann ist sie dafuumlr verantwortlich Es istbemerkenswert dass der Gegensatz zwischen sbquogutlsquo und sbquoschlechtlsquo nichtauf die Unterscheidung zwischen sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo oder diejenigezwischen sbquoseelischer Bewegunglsquo und sbquokoumlrperlicher Bewegunglsquo zu-ruumlckgefuumlhrt wird Der Koumlrper kann nicht als schlecht charakterisiertwerden weil nach dem spaumlten Platon der Koumlrper qua Koumlrper weder gutnoch schlecht in sich selbst ist

Wenn die Seele die Ursache von allem ist so der Athener dann musssie die Ursache von allen Gegensaumltzen sein einschlieszliglich des Bereichsder Ethik Die gleichen Gegensatzspaare von sbquogut und schlecht schoumlnund haumlszliglich sowie gerecht und ungerechtlsquo tauchen in Euthph 7c10ff alsder Zankapfel der menschlichen Debatten auf die vor Gericht gefuumlhrtwerden koumlnnen Auch in Grg 459d1ff gehoumlren sie zur rhetorischenKunst die kein Wissen daruumlber erwerben kann In Plt 296c5-7 erfahrenwir dass ein Irrtum im Rahmen der politischen Kunst das Schaumlndlichedas Schlechte und das Ungerechte verursacht Was der Rhetor verfehltweiszlig der Staatsmann Der goumlttliche Teil der menschlichen Seele mag einewahre Meinung uumlber Schoumlnes Gutes und Gerechtes stiften (Plt 309c5-8)

Indem die Seele fuumlr alle moumlglichen koumlrperlichen Veraumlnderungen ver-antwortlich gemacht wird gelangen wir in unserem Zusammenhang zuder Seele als der primaumlren Ursache auch des Schlechten und nichtaufgrund der Frage woher das Schlechte komme Der Athener machtnirgends explizit dass er die Seele als die einzige Ursache des Schlechtensei Bedenken sollte daher gegen Englands Beobachtung geaumluszligert wer-den in 896d5 werde die Frage nach dem Uumlbel eingefuumlhrt und insbe-

50 Lg 894c6f raquoκαλουμένην δὲ ὄντως τῶν ὄντων πάντων μεταβολὴν καὶκίνησινlaquo

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sondere gegen seine Folgerung lsquoHaving identified ψυχή with the αἰτίαἀγαθοῦ τε καὶ κακοῦ he is bound to talk of the αἰτία κακοῦ as ψυχήrsquo51

Auf das seelische Uumlbel konzentriert sich hier der Athener Verabsolutie-rende Konklusionen uumlber das Uumlbel schlechthin sind daher der Ge-spraumlchssituation nicht zu entnehmen Jedenfalls waumlre der bestimmte Ar-tikel noumltig vor αἰτίαν (sowohl in 896d6 als auch in d8)

Der Athener zielt darauf die Natur der Seele als die Ursache von allenGegensaumltzen auszulotten und fuumlhrt dann das Feld der menschlichenEthik ein ohne seinen Uumlbergang oder eher seine Einschraumlnkung zu er-klaumlren52 Die konkrete politische Situation in den Gesetzen bietet eineplausible Erklaumlrung fuumlr diesen Uumlbergang von der Seele qua Seele zurmenschlichen Seele Die Buumlrger von Magnesia sollten ihre Machtwahrnehmen sowohl zum Guten als auch zum Schlechten beizutragenAuszligerdem sollten sie die Verantwortung ihrer politischen Taumltigkeit ineinem kosmischen All uumlbernehmen das von einer guten Seele verwaltetwird Die primaumlre Ursache der Bewegung ist die Seele Beinahe waumlre dieSeele als Selbst-Bewegung ie ihre absolute Spontaneitaumlt als Bedingungihrer moralischen Verantwortung zum ersten Mal in der Geschichte derPhilosophie vorgekommen haumltte Platon diese Verbindung ausbuch-stabiert53

Eine Art Anthropozentrismus kommt in den spaumlteren platonischenSchriften vor Die Entscheidung ob wir dieses Konzept einer philoso-

51 Platorsquos Laws S 474 Auf aumlhnliche Weise auch Carone Evil and Teleology S295 Anm41

52 Mayhew argumentiert seinerseits dass es nicht darum gehe dass die Seeledie Ursache aller Dinge und daher sowohl schlechter wie guter Dinge sei DerInterpret meint die Seele sei fruumlher als der Koumlrper und in dieser Weise das Seeli-sche ndash einschlieszliglich der Moral ndash entsprechend fruumlher als das Koumlrperliche (PlatoLaws X S 131) Dennoch liegt die Pointe meines Erachtens nicht darin eineneingegrenzten Bereich ndash den der Ethik ndash anzusprechen sondern das Wesen derSeele als Ursache aller Gegensaumltze auszubuchstabieren was wiederum nichtheiszligt man sollte den Bereich der Moral voumlllig leugnen wie es Raphael Demostut lsquo[hellip] the soul is non-moral apt for both good and evil and so far forth inde-terminatersquo (Demosrsquo Hervorhebung Platorsquos Doctrine of the Psyche as a Self-Moving Motion In Journal of History of Philosophy (1968) S 133-145 HierS136)

53 Vgl Horn Christoph Der Begriff der Selbstbewegung bei Alkmaion undPlaton In Rechenauer Georg (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen2005 S 152-173 bes S 168ff und Baumgarten Hans-Ulrich Handlungstheoriebei Platon Platon auf dem Weg zum Willen Stuttgart 1998 S 241-264

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 21

phischen Kritik unterziehen sollten oden nicht mag hier dahingestelltbleiben Mit dem sbquoAnthropozentrismuslsquo bei Platon meine ich dass dasErschaffen des Weltalls auf der Basis einer Teleologie geschieht die aufden Menschen und seinen Beduumlrfnissen zentriert ist Man mag denTimaios heranziehen Der Anthropozentrismus scheint sich durch denganzen Monolog durchzusetzen in dem Timaios auf das Schaffen desMannes fokussiert ist Gemaumlszlig der Lehre der Wiedergeburt sind Frauenund Tiere schlechtere Formen von Lebewesen Es gibt zwei Passagendie als besonders anthropozentrisch gepraumlgt vorkommen Zum erstensind die Pflanzen um der Ernaumlhrung der sterblichen Lebewesen willengeschaffen worden (77e7-b1) Zum zweiten schafft der Demiurg dieuumlber das ganze All scheinende Sonne damit die dementsprechend aus-geruumlsteten Lebewesen an der Zahl teilnehmen nachdem sie von derBeobachtung der kosmischen Bewegung viel gelernt haben (39b2-c1)Um der Menschen und der Kultivierung der Philosophie willen schafftGott die Sonne und ermoumlglicht die Wahrnehmung der Sicht Dank desStudiums der himmlischen Bewegungen koumlnnen wir nach der Natur derZeit und des Alls fragen Auf diese Weise duumlrfen wir hoffen unsere ge-stoumlrte Bewegung der Vernunft der ungestoumlrten Bahn der kosmischenVernunft zu assimilieren (46e-47c 90c-d)

Wir haben die Kritik an der Einschraumlnkung im moralischen Bereichwiderlegt indem wir unseren unmittelbaren sowie weiteren Kontextberuumlcksichtigten Wegen des Fokuses auf den menschlichen Bereich unddie menschliche Seele geht die allgemeine Frage der Seele qua Seele nichtverloren Der Hintergrund der jetzigen Diskussion bleibt dieseallgemeine Fragestellung obgleich die menschliche Seele diejenige istdie sich gemaumlszlig der Vernunft oder gegen die Vernunft verhaumllt (897b1-5)Wir sollten die Unterscheidung zwischen weiteren kosmischen undmenschlichen Dimensionen bewahren wenn auch der spaumlte Platon denkosmischen Zusammenhang auf eine anthropozentrische oder sogar an-thropomorphische Weise beschreibt54 Es waumlre weder gerechtfertigtnoch legitim dass die Untersuchung uumlber die menschliche Seelediejenige uumlber die Seele qua Seele dominieren oder ausschoumlpfen wuumlrde

54 Zur Zentrierung des kosmischen Alls auf dem menschlichen Leben bei spauml-tem Platon s Carone Evil and Teleology S 296

22 Georgia Mouroutsou

v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6

Von der allgemeinen Seelenlehre und der Seele qua Seele die bis dahindas Untersuchungsobjekt bildete gelangt der Athener jetzt zu einer be-sonderen Seele zur Weltseele Der Blickwechsel den der Athener imBereich seiner Betrachtung vollzieht sollte im Rahmen der platonischenSpaumltdialoge in denen Ontologie und Seelenlehre haumlufig in Kosmologiemuumlnden kein Erstaunen hervorrufen Als zwei Beispiele dafuumlr koumlnnender kosmologische Exkurs im Philebos (s oben Abschnitt I) und derUumlbergang von ψυχὴ πᾶσα (alles was Seele ist) zur Weltseele im Phaidros(245c5-246a2) gelten Was uumlber die Seele qua Seele gesagt wurde sollteauch im Fall der Weltseele Guumlltigkeit haben

raquoUnd weil die Seele in allem waltet und wohnt was sich auf ir-gendeine Weise bewegt muumlssen wir etwa nicht sagen dass sie auch denHimmel durchwaltelaquo55

Auf seine nur scheinbar unvermittelte und ploumltzliche Frage56 antwor-tet der Athener selbst

raquoEine oder mehrere Seelen Mehrere Ich werde fuumlr Euch antwortendass wir nicht weniger als zwei ansetzen sollten naumlmlich diejenige diedas Gute vervollkommnet und diejenige die faumlhig ist Entgegengesetztesdurchzufuumlhrenlaquo57

Dass der Athener im Namen seiner Gespraumlchspartner antwortet be-trachte ich als kein ausschlaggebendes Argument gegen die Realitaumlt einersbquoschlechten Weltseelersquo58 weil er sich noch auf die Seele qua Seele bezieht

55 Lg 896d10-e2 raquoΨυχὴν δὴ διοικοῦσαν καὶ ἐνοικοῦσαν ἐν ἅπασιν τοῖς πάντῃκινουμένοις μῶν οὐ καὶ τὸν οὐρανὸν ἀνάγκη διοικεῖν φάναιlaquo

56 Wilamowitz charakterisiert diese Frage zu Unrecht als sbquohereingeschneitlsquo(Platon II S 316) wogegen sich Kerschensteiner einsetzt (Platon und der Ori-ent S 73)

57 Lg 896e4-6 raquoΜίαν ἢ πλείους πλείους ἐγὼ ὑπέρ σφῷν ἀποκρινούμαι Δυοῖνμέν γέ που ἔλαττον μηδὲν τιθῶμεν τῆς τε εὐεργέτιδος καὶ τῆς τἀναντία δυναμένηςἐξεργάζεσθαιlaquo

58 Vgl Apelt Platons Gesetze S 539 Anm 48

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 23

Ist die Seele die das All verwaltet eine oder mehrere Haumltte Platon indi-viduelle Seelen ohne Bezug auf einen generellen Terminus sbquoSeelelsquo auf-zaumlhlen wollen haumltte er von mehr als zwei Seelen gesprochen Die Frageist sehr oft als Frage nach zwei Weltseelen verstanden worden Koumlnnteder Athener nicht die allgemeine Lehre der Seele qua Seele verlassen umsich auf die zwei partikulaumlren Weltseelen zu beziehen Dies haumltte derFall sein koumlnnen wenn die Weltseele mit Realitaumlt ausgestattet waumlre wassich aber nicht so verhaumllt Die oben genannte Frage kann nur die Seelequa Seele betreffen

Obgleich er haumlufig uumlberhoumlrt wird sollte der oben angewendete Dual beruumlcksichtigt werden weil er gegen ein Verstaumlndnis von zwei von-einander getrennten entgegengesetzten Seelen plaumldiert59 Auszliger demDual in 896e5 uumlberhoumlrt die Mehrheit der Interpreten hier noch etwasEntscheidendes Die der wohltaumltigen Seele entgegensetzte ist nicht eineeinfachhin und ohne Weiteres sbquoschlechte Seelersquo60 sondern die Seele raquodieimstande ist das Gegenteil zu bewirkenlaquo Genau in diesem Punkt uumlber-schneiden sich die allgemeine Seelenlehre nach der die Seele qua SeeleSelbstbewegung ist und als solche gut oder schlecht sein kann und diespezielle Lehre uumlber die kosmische Seele die ebenfalls qua Seele in derLage ist gut oder schlecht zu sein Deswegen sollten wir die Rede vonδύναμις in unserer Uumlbersetzung von sbquoτἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαιlsquo(Lg 896e6)61 nicht vernachlaumlssigen Die sbquoschlechte Seelelsquo wird nicht alseine bloszlige Privation der guten Seele eingefuumlhrt sondern als mit ihrereigenen Macht (δύναμις) ausgestattet Schlechtes zu bewirken62 als einenegative und destruktive Macht63

Wir sind dabei weit enfernt δύνασθαι mit einer aristotelischen sbquoerstenMoumlglichkeitlsquo zu identifizieren um die Ausscheidung einer schlechten

59 raquoDie Sprache hat die Dualform geschaffen nicht etwa um den Begriff derZahl zwei sondern um den Begriff der Zweiheit der paarweisenZusammengehoumlrigkeit auszudruumlckenlaquo (Wilhelm von Humboldt Uumlber denDualis Berlin 1828 S 18) Erst nach Platon als das Sprachgefuumlhl fuumlr die eigent-liche Bedeutung der Sprachformen an Lebendigkeit nachlieszlig bedeutete der Dualnicht selten den bloszligen Begriff sbquozweilsquo wobei die wahre und urspruumlngliche Naturdes Duals sich darin zeigt dass er entweder auf paarweise in der Natur verbun-dene Gegenstaumlnde angewendet wird oder auf solche welche in einer engen undgegenseitigen Beziehung gedacht werden (vgl Kuumlhner Raphael und FriedrichBlass Ausfuumlhrliche Grammatik der griechischen Sprache Zweiter Teil Satz-lehre Erster Teil Darmstadt 31966 S 69

60 Er spricht nur spaumlter von einer sbquoschlechten Seelersquo (897d1 vgl 898c4f)

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Weltseele schon in den oberen Zeilen zu finden Nach dieser Lektuumlrewaumlre die zweite Art von Seele nur imstande Schlechtes durchzufuumlhrenaber wuumlrde nicht tatsaumlchlich so etwas tun Waumlre das der Fall warumsollte der Athener uumlberhaupt erst zwischen zwei Arten von Seele unter-scheiden In einem Kontext wo die Staumlrke die praktische Macht sowieEffizienz und Dominanz der Seele uumlberwiegen64 ist die Option einersbquoersten Moumlglichkeitlsquo keine gelungene Annahme65 Nur in dem Fall desgoumlttlichen Demiurgen koumlnnten wir eine solche sbquoerste Moumlglichkeitlsquo an-wenden die sich nie wirklich durchsetzen wird Trotz seiner Faumlhigkeites zu tun ist der Demiurg nicht bereit die guten Mischungen aufzuloumlsenund die kosmische Ordnung zugrunde zu richten Das Konzept einesDemiurgen der faumlhig ist beides zu tun sowohl Gutes als auch Schlech-tes ist fuumlr Platon undenkbar weil Gott wesentlich gut ist66 Zu-gegebenermaszligen waumlre es zu weitreichend all das in 896e5f hineinzule-sen und die zweite Art der Seele mit dem goumlttlichen Demiurgen zuidentifizieren

61 Der δύναμις-Aspekt geht verloren bei Plutarch der stattdessen von der gutwirkenden und der entgegengesetzten Seele spricht die das Gegenteil vollbringtDe Is Et Osir 370F4-6 raquoὧν τὴν μὲν ἀγαθουργόν εἶναι τὴν δrsquo ἐναντίαν ταύτῃ καὶτῶν ἐναντίων δημιουργόνlaquo Den wichtigen Bezug auf δύναμις verpassen Jowettlsquoone the author of good and the other of the evilrsquo (The Dialogues of Plato S466) sowie Grube Platorsquos Thought lsquoone that does good and one that does evilrsquo(Platorsquos Thought S 146)

Brisson spricht von der Neutralitaumlt der Seele die faumlhig ist gut oder schlecht zusein (Vernunft Natur und Gesetz im zehnten Buch von Platons Gesetzen InHavlicek Ales (Hrsg) The Republic and the Laws of Plato Proceedings of theFirst Symposium Plato Symposium Platonicum Pragense 1 (1997) S 182-200Hier S189) ohne diese Textstelle heranzuziehen

62 Das Verb ist sbquoἐξεργάζεσθαιlsquo das nicht nur das Schlechte bewirken sondern esauch vollenden heiszligt (vgl ἔργον sowohl in als auch in ἐξεργάζεσθαι)

63 Vgl Dillons allgemeine Folgerung uumlber das ontologische Problem desSchlechten bei Platon (Monist and Dualist Tendencies S 11) Der Fall einerschlechten Seele die nicht als Privation der guten Seele vorkommt sondern alsraquofaumlhig Schlechtes zu vollendenlaquo unterstuumltzt Dillons Konklusion dass diesbquoschlechte Seelelsquo eine negative zerstoumlrende Macht sei

64 Vgl die Charakterisierung der Seele in 894d1f 895b665 Dank der Beobachtung von David Sedley wurde es mir klar dass ich

unabsichtlich eine aristotelsiche sbquoerste Potenzialitaumltlsquo in einer fruumlheren Versionvorgeschlagen hatte

66 Vgl oben Fuszlignote 7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 25

Bevor wir zur allgemeinen platonischen Psychologie uumlbergehen er-waumlgen wir eine zweite moumlgliche Unterscheidung der Seele in 896e4-6Bis jetzt habe ich die Distinktion zwischen guter und schlechter Seele alsselbstverstaumlndlich betrachtet Eine vorsichtigere Lektuumlre ermoumlglicht einezweite Option naumlmlich die Unterscheidung zwischen derwohlwollenden Seele die immer das Gute vollendet und derjenigen diefaumlhig ist entgegengesetzte Dinge (Plural) durchzufuumlhren sowohl Gutesals auch Schlechtes (τῆς τἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαι) Die ersteSeele kann keine andere als die goumlttliche sein67 Fuumlr die zweite Seele istder einzige Kandidat die menschliche Seele Auszligerdem wuumlrde die Seeleder Tiere unter die Seele fallen die sowohl Gutes als auch Schlechtestun kann weil sie einen logischen Teil beinhaltet auch wenn deformiertDas Goumlttliche ist immer gut Die Pflanzen moumlgen gut sein insofern siein eine globale Teleologie integriert sind Sie wuumlrden aber nie als faumlhigcharakterisiert etwas Gutes oder noch weniger etwas Schlechtes zutun noch wuumlrden sie die Verantwortung fuumlr die herbeigefuumlhrten gutenoder schlechten Wirkungen tragen Wenn diese Lektuumlre als die einzigemoumlgliche aufgewiesen werden koumlnnte wuumlrden wir mit Sicherheit dieFrage nach der schlechten Seele auf spaumlter verschieben68

Wie es auch sein mag befinden wir uns noch im Rahmen derallgemeinen Lehre der Seele qua Seele als Selbstbewegung Die kosmi-sche Seele ist in 896e1f aufgetaucht aber die Unterscheidung zwischender guten und der schlechten Seele oder der goumlttlichen und men-schlichen Seele wird auf einer allgemeinen Ebene gezogen69 Obgleichder Athener nicht die theorethischen Anspruumlche des Sophistes erhebtsetzt er die allgemeine platonische Ontologie voraus dergemaumlszlig dasSeiende qua Seiendes δύναμις sei Das Kriterium fuumlr alles was Seiendesist sei es Intelligibles oder Koumlrperliches Koumlrper oder Seele ist das Ver-moumlgen zu tun oder zu leiden70 Die Erforschung der Seele als Seiendesverlangt daher die Frage nach ihrer Kraft und ihrem Vermoumlgen (Lg892a2f) Der Gast aus Athen bezieht sich stets auf die δύναμις-Ontolo-

67 Der Athener kann noch nicht die gute Seele als goumlttlich charakterisierenDas Argument hat noch nicht die Goumlttlichkeit der Seele bewiesen

68 Der kreative Charakter der Dialektik ermoumlglicht mehr als eine richtige Ein-teilung Zu diesem Aspekt s Plt 286d-e und Delcomminettes Monographie

69 Anders als Taylor der den Uumlbergang von 896e2 zu e4 durch die Praumlmisseder Aktualitaumlt des Guten und Schlechten in der gegenwaumlrtigen Welt verhilft (TheLaws S 289 Anm 1) sehe ich keinen Eintritt eines a posteriori Arguments adhoc Alles bisherige entnimmt der Athener der allgemeinen Seelenlehre

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gie des Phaidros sowie des Sophistes Er stellt die Frage was die Seele istund was fuumlr ein Vermoumlgen sie hat οἷόν τε ὂν τυγχάνει καὶ δύναμιν ἣνἔχει71

Obwohl die Frage nach dem Tun (ποιεῖν) oder Leiden (πάσχειν) derSeele als δύναμις nicht explizit gestellt wird72 bringt ihre Definition alsSelbstbewegung ein gleichzeitiges Tun (als Bewegen) und Leiden (alsBewegtwerden) zum Ausdruck73 Die Seele ist die Kraft die sich selbstund anderes bewegt74 Die Definition der Seele als Selbstbewegung kannentweder als Aktivitaumlt oder Passivitaumlt ausgedruumlckt werden Die Seele be-wegt sich selbst und wird von sich selbst bewegt Ein gleichzeitiges Tunund Leiden das aber nicht das gleiche Seiende verursacht geschieht beikoumlrperlicher Bewegung Ein Koumlrper mag auf einen anderen Koumlrper wir-ken und zu gleicher Zeit kann er von einer Seele oder einem anderenKoumlrper bewegt werden aber nicht von sich selbst75

Platon gibt die Definition der Seele in ihrer Allgemeinheit d hunabhaumlngig von ihren moumlglichen Manifestationen in konkretenLebewesen Alles was Seele ist soll Selbstbewegung sein mag es sichum die Seele des Menschen oder des Tieres oder der Pflanze handelnWeil die individuellen Manifestationen der Seele nicht beruumlcksichtigtwerden fehlt bei der Formel der Definition τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴνκινεῖν κίνησιν (896a1f) auch der Bezug auf den Koumlrper den die jeweiligekonkrete Seele beseelt Im Falle der Absenz der Materie in einer Defini-

70 Der Vorschlag des Gastes aus Elea in Sph 247d-e wird nicht allgemein alsPlatons Vorschlag uumlber Ontologie gedeutet Sehr haumlufig beschraumlnken Exegetendas Seiende als δύναμις auf die ad loc Argumentation gegen die MaterialistenAuch wenn dieses Argument als Platons Argument charakterisiert wird bleibtes sehr umstritten ob es eine allgemeine Ontologie betrifft (Brown) oder in eineOntologie der Ideen einmuumlndet (Gerson Politis) Darauf gehe ich hier nicht ein

71 Lg 892a3 vgl Lg 894b8-c1 und 896a1f72 Der Athener bezieht sich auf Tun und Leiden nur in 894c5f und meint

wahrscheinlich sowohl Seelisches als auch Koumlrperliches mit dem die Seele har-monisiert

73 In Lg 894b8-c1 und 896a1f beantwortet der Athener seine Frage nach derArt des Vermoumlgens mit dem die Seele ausgestattet ist Der gesamteZusammenhang verbindet die Frage nach dem Wesen eines Seienden mit derFrage nach seinem Vermoumlgen

74 Lg 893c4f75 Gaiser fuumlhrt den Ausgleich zwischen Passivitaumlt und Aktivitaumlt in der selbst-

bewegenden Seele auf das Zusammenwirken der zwei platonischen Prinzipienzuruumlck (Platons Ungeschriebene Lehre S 195f)

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tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

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Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

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tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

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welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

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zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

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Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

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werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

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abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

8 Georgia Mouroutsou

Kleinias zeichnet den sehr umfangreichen einleitenden Teil des zehntenBuches der Gesetze (885b-907d) als raquodie schoumlnste und beste Praumlambelaller Gesetzelaquo aus (887b8-c2) und besteht wiederholt auf einer angemes-senen Verlaumlngerung dieser Einleitung9 Die Aufgabe eines gesetzlichenVorgehens gegen die Asebie wird erst im letzten Teil des Buches erfuumlllt10

Der Athener versucht in seiner Vorrede die drei Arten des Gottesfre-vels11 auf ihre Ursachen zuruumlckzufuumlhren bevor er von der Uumlber-zeugungskraft der Rede zur Strenge der entsprechenden Strafen uumlber-geht12 die der Gesetzgeber des zu gruumlndenden Staates aufunveraumlnderliche ndash da schriftliche ndash Weise festlegen wird Nach der erstenAuffassung wird die Existenz der Goumltter geleugnet Gemaumlszlig der zweitenkuumlmmern sich die Goumltter nicht um die menschlichen AngelegenheitenDie dritte zu widerlegende Meinung laumlsst sich folgendermaszligen formu-lieren Die sich um die Menschen kuumlmmernden Goumltter koumlnnen mittelsGebet und Opfer beeinflusst und umgestimmt werden Wie sich leichterahnen laumlsst erregt die Erforschung der Ursache der ersten Form vonGottlosigkeit im Rahmen der Argumentation gegen die Asebie diegroumlszligte Aufmerksamkeit13

Das zehnte Buch gilt seit der Antike als der philosophisch anspruchs-vollste Teil der Gesetze obwohl man die heikle Argumentationaufgrund der Zirkularitaumlt und der Subjektabhaumlngigkeit des Beweis-ganges immer wieder verworfen hat14 Der Charakter der beabsichtigtenUumlberzeugung in allen Einleitungen bleibt in der Forschung weiter um-stritten wobei den Zankapfel die Frage bildet inwiefern die Uumlber-

9 Lg 887b1-c4 890e4-891a710 Lg 907d4 bis 910d411 Die unvernuumlnftige Meinung (δόξα 888b7 c2 903a4 νόητος δόξα 891c7)

oder der (leidende) Zustand ( 885b6 πάθος 888c4 900b3 908c5) des Fre-vels wider die Goumltter werden als Abweichung (διαφορά 886a9) und alsKrankheit (νόσος 888b8) gekennzeichnet

12 Tί χρὴ πάσχειν (885b1f) (885b3f) Es werden die Ursachen einesbestimmten Uumlbels und nicht des Schlechten uumlberhaupt erforscht naumlmlich derwegen Asebie veruumlbten Missetaten Darauf bezieht sich κακά in 884a5 undkakvn 886d3 Als moralisch schlecht gelten die Gottlosen die die Gesetze inBezug auf die wichtigsten Dinge zugrunde richten (891b4-6 vgl 886a6)

13 Die Widerlegung der ersten Auffassung geht bis 899d4 Anschlieszligend wehrtsich der Athener gegen die zweite verfehlte Meinung bis 903a9 mit Hilfe vonArgumenten und mit dem Nachtrag des Mythos bis 905d3 Die Behandlung derdritten Abweichung folgt bis 907b4

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 9

zeugung sich mit rationalen oder irrationalen Mitteln vollzieht15 Einerationale Fundierung darf keinesfalls mit einer raquodurchgehend philoso-phische[n] Begruumlndunglaquo identifiziert16 sondern muss als eine Annauml-herung an die philosophische Argumentation verstanden werden17 Beider Widerlegung der ersten Uumlberzeugung der Gottlosen zielt derAthener nicht auf die Bezauberung seiner Gegner18 sondern wendeteine rationale Argumentation an Er druumlckt das Zusammenspiel von ra-tionaler und irrationaler Vorgehensweise am praumlgnantesten aus wenn erseine Zielsetzung folgendermaszligen formuliert

raquoDenn zoumlge sich wohl die Rede nicht wenig in die Laumlnge falls wireinerseits mit hinreichenden Argumenten gegenuumlber denjenigen diegottlos zu sein wuumlnschen das bewiesen woruumlber geredet werden musswie sie sagten falls wir andererseits unseren Anklaumlger in Furcht ver-

14 Auf eine exemplarische Weise hat Stalley die Argumentation als misslungendargelegt (An Introduction besonders S 169-172) Was die Zirkularitaumlt betrifftwill der Athener die Existenz der Goumltter beweisen die er dennoch voraussetztwenn er sie zur Hilfe ruft (Lg 893b1-4) s unter vielen anderen John ClearyThe Role of Theology in Platorsquos Laws In Lisi F L (Hrsg) Platorsquos Laws and ItsHistorical Significance Selected Papers of the International Congress onAncient Thought Salamanca 1998 S 125-140 Hier S 130 Auf derSubjektabhaumlngigkeit des dialektischen Vorgehens basiert die InterpretationSteiners (Platon Nomoi X) noch entschiedener ist Christian Pietsch Die Dihai-resis der Bewegung in Platon Nomoi X Rheinisches Museum fuumlr Philologie146 (2003) S 303-327 hier 319ff

15 Die Diskussion zwischen Christopher Bobonitch (Persuasion Compulsionand Freedom in Platorsquos Laws In Classical Quarterly 41 (1992) S 234-250) undStalley (Persuasion in Platorsquos Laws In History of Political Thought 15 (1994) S157-177) hat dieses Problem neuerdings zur Sprache gebracht Die rationaleUumlberzeugung muss rationale und irrationale Mittel kombinieren weil der zuUumlberzeugende (wenn auch nur Spuren von) Rationalitaumlt mitbringt aber zugleichgegen die Vernunft Widerstand leistet Stalley der die Praumlambel fuumlr lsquorathercoventional sermonsrsquo haumllt (An Introduction S 43) raumlumt eine Ausnahme fuumlrdas zehnte Buch ein (Persuasion S173f)

16 Pace Stalley Persuasion S 16717 Der wahrhaftige Gesetzgeber soll die Aufgabe erfuumlllen den Gesetzeswidri-

gen mithilfe beinahe philosophischer Argumente (καὶ τοῦ φιλοσοφεῖν ἐγγὺςχρώμενον μὲν τοῖς λόγοις 857d2) nicht nur zu heilen sondern auch zu erziehen(vgl Lg 857e3-6)

18 Einen verzaubernden Mythos nimmt der athener Gast erst bei seinerWiderlegung der goumlttlichen Sorglosigkeit gegenuumlber dem Menschlichen inAnspruch (Lg 903a10-905d3)

10 Georgia Mouroutsou

setzten und nachdem wir in ihnen Abscheu uumlber diese Missetaten erregthaumltten wir erst nachher die Gesetze aufstellten wie es sich gebuumlhrtlaquo19

ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platoni-sche Theorie der Bewegung

Kurz vor der Einfuumlhrung der schlechten Seele bezieht sich der Athenerexplizit auf den in 893b1-896b9 demonstrierten Vorrang der Seele uumlberden Koumlrper

raquoDenn wir duumlrften wohl richtig und vollguumlltig wahrhaftig undvollkommen gesagt haben dass fuumlr uns die Seele fruumlher entstand als derKoumlrper der Koumlrper aber an zweiter Stelle und spaumlter und beherrschtgemaumlszlig der Natur waumlhrend dagegen die Seele herrschtlaquo20

Platon gelingt es aus den Goumltterfrevlern ganz unterschiedlicherHerkunft ndash es sind Naturwissenschaftler Sophisten und Dichter darun-ter ndash einen einheitlichen Typus zu entwerfen der eine Prioritaumlt des Koumlr-pers ja noch mehr eine Derivation des Seelischen aus dem Koumlrperlichenvertritt21 Letztendlich plaumldiert er fuumlr einen materialistischen Reduktio-nismus der Form sbquoalles ist Koumlrperlsquo Eine Kosmogonie unterliegt seinerAuffassung gemaumlszlig der die Seele nach dem Koumlrper geschafft worden istDer Seele wird sowohl kausale als auch zeitliche Prioritaumlt zugesprochen

Nicht nur die Seele sondern alles was mit der Seele verbunden ist ndasheinschlieszliglich des Gesetzes und der Goumltter ndash werden nach dieser

19 Lg 887a3-8 raquoοὐ γάρ τι βραχὺς ὁ λόγος ἐκταθεὶς ἂν γίγνοιτο εἰ τοῖσινἐπιθυμοῦσιν ἀσεβεῖν τὰ μὲν ἀποδείξαιμεν μετρίως τοῖς λόγοις ὧν ἔφραζον δεῖν πέριλέγειν τὸν δὲ εἰς φόβον τρέψαιμεν τὰ δὲ δυσχεραίνειν ποιήσαντες ὅσα πρέπει μετὰταῦτα ἤδη νομοθετοῖμενlaquo Durch den Singular (887a6 τὸν δέ) bezieht sich derAthener auf denjenigen der die Anklage gegen die Glaumlubigen einbringt(886e8f)

20 Lg 896b10-c3 raquoὈρθῶς ἄρα καὶ κυρίως ἀληθέστατά τε καὶ τελεώταταεἰρηκότες ἂν εἶμεν ψυχὴν μὲν προτέραν γεγονέναι σώματος ἡμῖν σῶμα δὲδεύτερόν τε καὶ ὕστερον ψυχῆς ἀρχούσης ἀρχόμενον κατὰ φύσινlaquo

21 Es handelt sich um ein lsquoamalgam of several views rather than a single clear-cut doctrinersquo (Saunders Plato The Laws S 408) Glenn Morrow spricht vonlsquobody of ideasrsquo (The Cretan City Princeton 1960 S 480) Robert Muth nochtreffender von einer sbquomaterialistische[n] philosophische[n] κοινήlsquo der damaligenattischen Aufklaumlrungsbewegung (Studien zu Platons sbquoNomoirsquo X 885b2-899d3In Wiener Studien 69 (1956) S 140-153 Hier S 146)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 11

Auffassung als abgeleitet herabgesetzt Als abbildende Setzungenkoumlnnen sie die abgebildete Natur und Wahrheit nur verfehlen

raquo[hellip] er scheint Feuer und Wasser und Erde und Luft fuumlr das Erstevon allem zu halten und diese Dinge als sbquoNaturrsquo zu bezeichnen dieSeele aber fuumlr ein Spaumlteres aus diesen [Entstandenes]laquo22

Nun stellt der Athener seine Bewegungslehre dar mit der Absicht diePrioritaumlt der Seele zu beweisen23 Nach den sbquoPhilosophierendenlsquo24 lassensich die oumlrtlichen Bewegungen in sechs Arten unterteilen (1) Rotation(2) gleitende Bewegung (3) rollende Bewegung (4) Wachstum (5)Schwund (6) Zugrundegehen Dabei faumlllt das ontologische Werden (7)und Vergehen (8) als ein ausgezeichnetes Paar heraus da es ur-spruumlnglicher ist als die bisher entfalteten oumlrtlichen Bewegungsarten25

Die entscheidende Zweiteilung jedoch kommt erst am Ende der Auf-zaumlhlung zur Sprache Danach gibt es einerseits die koumlrperliche Be-wegung die als Fremdbewegung bestimmt wird (9) andererseits die alsSelbstbewegung definierte seelische Bewegung (10)26 Der Athener ver-steht den Namen sbquoSeelelsquo als den Namen dessen Definition sbquoSelbst-Be-wegunglsquo (895e10-896a2) erst nach der methodologischen Unter-scheidung zwischen dem Wesen und dessen Namen erfolgt (895d1-e9)Nach dieser Distinktion charakterisiert er die zweite Bewegung als sbquokoumlr-perlichlsquo (896b4-8) sbquoKoumlrperlsquo ist der Name dessen Definition dieFremdbewegung ist (896b10-c3)

Erst gemaumlszlig dieser Einteilung koumlnnen alle bereits aufgezaumlhltenraumlumlichen Bewegungsarten als seelisch oder koumlrperlich verstandenwerden Anders als Pietsch27 finde ich keinen Textbeleg nach dem dieSelbstbewegung im Gegensatz zu den raumlumlichen Arten der Fremdbe-wegung unraumlumlich sein soll Pietsch argumentiert dass das ganze dihai-

22 Lg 891c1-4 Eine aumlhnliche sbquoAll-Thesersquo vertreten die materialistisch ver-anlagten Ontologen im Rahmen der sbquoRiesenschlachtlsquo im Sophistes bevor ihnender Gast aus Elea durch seinen δύναμις-Vorschlag zur Hilfe kommt ImGegensatz zu den Ideenfreunden die schon mit der Unterscheidung zwischenSein und Werden auftreten macht nach den Materialisten ausschlieszliglich derKoumlrper das Sein aus (Sph 246b1)

23 Auf diese Weise begruumlndet der Gast alle vorgebrachten Auflistungen derGuumlter nach denen der Vorrang immer seelischen und nicht koumlrperlichen Guumlternbeigemessen wurde Vgl Lg 631b-c 661a ff 688a-b 697a-c 726a-729a 743e

24 So werden die Vertreter der Prioritaumlt der Seele ausgezeichnet Lg 967c8 (diezweite und letzte Erwaumlhnung von Philosophie in den Gesetzen auszliger in Lg857d2)

12 Georgia Mouroutsou

retische Stemma sbquonur raumlumliche Bewegungsartenlsquo bieten kann weil derAthener von der Physik des Gegners ausgeht28 Platon offenbart jedochein Stuumlck von seiner eigenen Philosophie immer dann wenn er seinesbquoGegnerrsquo verbessert seien es die Herakliteer im Theaitetos die Materia-listen des Sophistes oder diejenigen der Gesetze Das Platonische derRaumlumlichkeit der seelischen Bewegung erklaumlrt auszligerdem Timaios fuumlrguumlltig der der Weltseele raumlumliche Bewegung beimisst Zur Bekraumlf-tigung dient daruumlber hinaus die aristotelische Kritik am platonischenVerstaumlndnis der Selbstbewegung als raumlumlicher Bewegung (de an I3)

Dass der Bewegung in der spaumlteren platonischen Philosophie einegrundlegende Rolle zukommt zeigen neben dem Timaios die DialogeSophistes und der Theaitetos Im Sophistes wird das ausgezeichnete so-wohl bewegte als auch im Stillstand befindliche Sein der Idee qua Ideebehandelt Im Theaitetos werden heraklitische Allbewegungs-Modelleim Bereich der Wahrnehmung kritisiert Im Timaios wird die Bewegungin ihrer ganzen kosmologischen Tragweite ausgelotet In dem letztenDialog zeigt Platon seine Aneignung und Transformation des Herakli-

25 Gemaumlszlig der Aufzaumlhlung Konrad Gaisers (Platons Ungeschriebene LehreStuttgart 19983 S 176f) und ohne Besprechung der immensen einzelnen Pro-bleme Die ontologische γένεσις uumlber die Linie und Flaumlche bis hin zumdreidimensionalen Koumlrper (894a2-5) gilt als noch urspruumlnglicher als die vorhererwaumlhnten raumlumlichen Bewegungsarten (893c1f) Dieser Primat unterscheidetsich von Aristotelesrsquo Auffassung wie die Kritik des Stagiriten belegt (GC I2315a29ff) Der Bewegungskatalog ist von grundlegender Bedeutung fuumlr das Ver-staumlndnis der Prioritaumlt der Seele Hier begnuumlge ich mich mit der Hervorhebungder Beitraumlge von Gaiser und Solmsen (Aristotlersquos System of the Physical WorldA Comparison With His Predecessors New York 1960) Gaiser hat den sys-tematischen Charakter der Aufzaumlhlung der Bewegungsarten in Verbindung zuder indirekten Uumlberlieferung ausgearbeitet (Platons Ungeschriebene Lehre S173-186) Man folgt oft seiner Interpretation der besonders dunklen Stelle Lg894a1-8 und zwar mit oder ohne explizite Erwaumlhnung seines Beitrags zum Bei-spiel Pietsch C Die Dihairesis der Bewegung hier S 316 Anm 45 SchoumlpsdauK Platon Werke in Acht Baumlnden Griechisch und Deutsch Achter Band Zwei-ter Teil Platon Gesetze Buch VII-XII Minos Darmstadt 20054 S 291 Anm 26Mayhew R Plato Laws X Oxford 2008 S 112ff Solmsen (Aristotlersquos System)bietet seinerseits eine sehr ausgewogene Hermeneutik der platonischen undaristotelischen Bewegungslehre an die gegenuumlber der neueren oft hinter ihrzuruumlckbleibenden Forschung noch immer als exemplarisch gelten sollte

26 Lg 894b8-c1 894c3-827 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 304 und oumlfters28 Ebd S 320

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 13

tismus im Bereich der Ontologie des Wahrnehmbaren auf (48eff) des-sen Ausarbeitung nach wie vor eine Aufgabe fuumlr die Platon-Forschungdarstellt

Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich dass sbquoKoumlrperrsquo undsbquoSeelersquo als verschiedene Arten von Bewegung aufgefasst werden Hiersehe ich keine Verwirrung bei Platon zwischen einer Bewegungsart(Selbstbewegung) und der Seele als unabhaumlngiger Substanz Anders alsRichard Stalley29 verstehe ich sowohl die Selbstbewegung als auch dieSeele qua Seele als auf einen Koumlrper bezogen wenn auch unabhaumlngigvom jeweiligen Koumlrper gedacht und definiert Sogar die schlechte Welt-seele bliebe somit bezogen auf den Weltkoumlrper waumlre sie real

iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer an-tiken Auffassung

Halten wir inne Der Seele wird eine Art Prioritaumlt beigemessen die sichauf die in ihrer Definition widergespiegelte Natur als Selbstbewegungstuumltzt Als solche zeigt sich die Seele qua Seele und unabhaumlngig von allihren konkreten Manifestationen als aumllter wirksamer und maumlchtiger un-ter allen Bewegungen Und nicht nur dies Sie zeigt sich auch als dieeigentliche Bewegung und Veraumlnderung alles anderen Seienden30 Wirbefinden uns also im Rahmen der Problematik des Leib-Seele-Dualis-mus der neben dem Dualismus von Idee und Erscheinung der alssbquoZwei-Welten-Lehrelsquo beruumlhmt bzw beruumlchtigt wurde sowie dem in derAntike und Moderne debattierten Dualismus der zwei platonischenPrinzipien weitlaumlufig Karriere in der Geschichte des Platonismusgemacht hat31

29 Stalley An Introduction to Platorsquos Laws Oxford 1983 S 171f30 Lg 894c6f31 Die Tatsache dass hier die zwei letzteren Arten von Dualismus nicht vor-

kommen bedeutet keinesfalls dass der alte resignierte Platon seine Ideen- oderPrinzipienlehre aufgegeben habe (so Muumlller Gerhard Studien zu den Platoni-schen Nomoi Muumlnchen 1951 19682 aumlhnlich Rist Eros and Psyche S 87ff)Auf die platonische Ideenlehre weist der Gast als auf einen wesentlichen Teil derErziehung der sbquonaumlchtlichen Versammlungrsquo hin (Lg 965b-966b) Hier sei dieschwierigere Frage dahingestellt inwieweit die angedeutete Lehre der klassi-schen Ideenlehre der mittleren Dialoge entspricht

14 Georgia Mouroutsou

Platon problematisiert den Leib-Seele Dualismus nicht nur aufgrundder allgemeinen Frage nach sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo sondern auch weil erauf der moumlglichen Interaktion zwischen der intelligiblen Seele (derSonne) und ihrem wahrnehmbaren Koumlrper reflektiert (in Lg 898e8-899a4)32 Obgleich wir nicht viel Positives uumlber die platonische Auffas-sung der Art der Beziehung zwischen Koumlrper und Seele aussagenkoumlnnen sind wir damit doch imstande auf entschiedene Weise einigesauszuschlieszligen Wir werden mit dem Materialismus und dem Mentalis-mus anfangen die mit weniger Muumlhe abgelehnt werden koumlnnen als derso charakterisierte sbquorobuster Dualismuslsquo dem wir uns anschlieszligendwidmen

Die These des Materialismus wonach das Seelische auf Koumlrperlicheszuruumlckzufuumlhren sei gewinnt nicht die Oberhand in diesem KontextDie Materialisten bleiben die Gegner des Atheners durch das ganze Ar-gument hindurch Noch modifizierte Materialisten finden einen Belegfuumlr ihre These dass das Seelische unsichtbares Koumlrperliches sei Neu-erdings hat Gabriela Carone diese Auffassung des sbquomodifizierten Mate-rialismuslsquo als genuin platonisch vertreten33 was eine gerechtfertigteReaktion von Francesco Fronterotta hervorgerufen hat34 Bei ihrem Ver-such die Materialitaumlt der Seele aufzuweisen begeht Carone einengrundsaumltzlichen Fehler Sie geht ohne jede Argumentation von der Moumlg-lichkeit eines unsichtbaren Koumlrpers zu einem Verstaumlndnis der Seele alskoumlrperlich uumlber35 Die Ausdehnung sei (nach Platon) wesentliche Eigen-schaft des Koumlrperlichen Weil sie raumlumlich ist muumlsste die Seele daher ir-gendeine Art koumlrperlicher Natur besitzen Carone gibt zu lsquoOf course

32 Die Stelle charakterisiert Thomas Robinson als lsquoa splendid memorial to his[Platorsquos] intellectual honestyrsquo (The Defining Features of Mind-Body Dualism inthe Writings of Plato In John Wright und Paul Potter (Hrsg) Psyche andSoma Physicians and Metaphysicians on the Mind-Body Problem From Antiq-uity to Enlightenment S 37-55 Hier S 55) lsquoTo the end he is wrestling with theproblem that lies at the heart of all psycho-physical dualism the problem ofrelating a physical substance to an immaterial one and to the end he openlyadmits his bafflementrsquo (ebd)

33 Carone Gabriela Mind and Body in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichteder Philosophie 87 (2005) S 227-269 Hier S 256f

34 Fronterotta schmaumllert gewisse Staumlrken des Argumentes von Carone undbringt daher die platonische Methode der sbquoVerbesserungrsquo des Gegners in diesemFall der Materialisten nicht zur Anwendung (Fronterotta Fransesco Carone onthe Mind-Body Problem in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichte der Philoso-phie 89 (2007) S 231-236)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 15

there is still a gap to be filled between spatial extension and corporeal-ityrsquo36 Trotz ihres Zugestaumlndnisses fuumlllt Carone diese Luumlcke leider nichtund offenbart auf diese Weise ihre nicht hinterfragte (oder bei Platonnicht bewaumlhrte) Cartesianische Praumlmisse37

Noch belegt unser Zusammenhang das andere Extrem einer ArtMentalismus nach dem das Koumlrperliche vom Seelischen ableitbar istSowohl die Darstellung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper alszwischen Ganzem und Teil (Chrm 156dff) als auch die oumlrtliche Meta-pher der den Koumlrper umhuumlllenden Seele (Ti 36e3f und Lg 898d11-e238)eroumlffnen dennoch den Raum fuumlr eine solche Auffassung Dennoch un-terstuumltzt der Kontext in den Gesetzen nicht diese Auffassung Anders alsder materialistisch gepraumlgte Typus vertreten die sbquoPhilosophierendenlsquokeine reduktionistische These was nicht nur den Materialismus sondernauch den Mentalismus ausschliesst

In modernen Diskussionen des Leib-Seele-Problems wird Platon allzuoft als Vertreter eines sbquorobusten Dualismuslsquo dargestellt39 Demgemaumlszlighandelt es sich bei Seele und Koumlrper um zwei selbststaumlndige vonei-nander abgetrennte Substanzen die erst nachtraumlglich vereinigt werden

35 Carone Mind and Body S 237 die Voraussetzungen eines solchen Ver-staumlndnisses hat Fronterotta ans Licht gebracht Carone on the Mind-Body Pro-blem S 233

36 Carone Mind and Body S 240 Anm 4337 Vgl Carones selbstverstaumlndliche Redeweise lsquospatial or material conditionsrsquo

lsquobody and spacersquo lsquospace and bodyrsquo Mind and Body S 264 Zu einer einsichtige-ren Unterscheidung der Arten vom Dualismus bei Platon und Descartes sSarah Broadie Soul and Body in Plato and Descartes In The AristotelianSociety 101 (2001) S 295-308

38 Die zweite zaumlhlt Robinson nicht mit auf The Defining Features of Mind-Body Dualism S 40 Anm 12 Lg 898d11-e2 hat mehrere Deutungen undUumlbersetzungen veranlasst Περιφύειν wird mit aumlhnlicher Bedeutung in R 612aangewendet (sbquoherum- oder anwachsenlsquo) Diese Metapher in den Gesetzen undderen Uumlbersetzung verfehlen Otto Apelt Platons Gesetze Zweiter Band Leip-zig 1916 S 419 Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 S 163 mit Anm 2 Robin Leacuteon Oeuvres completesPlaton Paris 1950 Zweiter Band S 1025 richtig verstehen die Stelle JowettBenjamin The Dialogues of Plato Oxford 41953 S 468f Taylor Alfred E TheLaws of Plato London 21960 S 291 Muumlller Studien S 92 Anm 1 Bury Rob-ert Plato with an English Translation IX and X Laws London-New York1952 S 346 mit Anm Saunders Plato The Laws S 430 Cooper John (Hrsg)Plato Complete Works Cambridge 1997 S 1555 Mayhew Plato Laws X S29

16 Georgia Mouroutsou

muumlssen was hier nicht ausdruumlcklich widerlegt wird Neuerdings hatFronterotta diese Auffassung vertreten40 wobei auch seine Deutung aufzwei unaufhebbaren Schwierigkeiten im Timaios stoumlszligt Zum ersten istdie Weltseele raumlumlich ausgedehnt Zum zweiten ist sie das Produkteiner Mischung was nicht nur Carones These widerlegt dass die Seelekoumlrperlich sei ndash da hat Fronterotta Recht ndash sondern auch gegen einen ab-soluten unuumlberbruumlckbaren Gegensatz zwischen einer rein rationalerSeele und dem Weltkoumlrper plaumldiert41

Auf dem ersten Blick scheint unser Kontext in den Gesetzen nicht aufexplizite Weise den weit verbreiteten Vorschlag eines Substanz-Dualis-mus abzuweisen Weil sich aber in diesem Zusammenhang sowohl dieseelische als auch die koumlrperliche Bewegung im Raum vollziehen (Lg893c1f) ist die Dimensionalitaumlt keinesfalls ausschlieszliglich dem Koumlrperzugeordnet was sich wiederum mit einem starren Dualismus nicht ver-traumlgt42

Jedenfalls ist ein gewisser Dualismus insofern nicht zu uumlbergehen alsdie seelische Bewegung die koumlrperliche nicht produzieren kann43 NachLg 896e8-897b4 sbquonehmenrsquo die seelischen als die primaumlren Bewegungendie sekundaumlren koumlrperlichen sbquoaufrsquo Das gleiche Verb (παραλαμβάνειν897a5) wendet auch der Timaios an Der Demiurg nimmt das auf unge-ordnete und fast verbrecherische Weise bewegte Wahrnehmbare sowiespaumlter im Dialog das was ἀνάγκη bewirkt (68e3) auf Die unterstehendenGottheiten nehmen ihrerseits den rationalen Teil der Seele auf um ihn mitdem sterblichen Teil im Koumlrper zu verknuumlpfen (Ti 69c5) Diesen ver-schiedenen Zusammenhaumlngen koumlnnen wir keine Umkehrung der Prio-ritaumlt der Seele gegenuumlber dem Koumlrper entnehmen Was sich mit einer anSicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ausschlieszligen laumlsst ist eine

39 S Burnyeat Myles Is An Aristotelian Philosophy of Mind Still CredibleA Draft In Nussbaum A M-Rorty (Hrsg) Essays on Aristotlersquos De AnimaOxford 1992 S 15-26 Hier S 16 Putnam Hilary The Threefold Cord MindBody and World New York 1999 S 97 Stephen Priest Theories of the MindLondon 1991 S 8-15 57 162)

40 Fronterotta Carone on the Mind-Body Problem41 Platon behandelt das Problem der Verbindung zwischen der Seele und dem

Koumlrper wie die Vermittlung durch das Mark beweist (Ti 73b-c) was wir abernicht als Beleg dafuumlr betrachten sollten dass Platon zum Vorlaumlufer von Descar-tes wird

42 Thomas Johansen begeht diesen Weg in seiner Timaios-Auslegung43 Vgl Mason Andrew Plato on the Self-Moving Soul In Philosophical

Inquiry 1998 S 18-28 Hier S 24 28

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 17

Herleitung des Koumlrperlichen aus dem Seelischen44 Diese Unterscheidungzwischen Koumlrper und Seele erlaubt es dem Dialektiker je nachZusammenhang die Seele qua Seele (so in der vorliegenden Passage der Ge-setze) und den Koumlrper qua Koumlrper (so im Timaios) zu betrachten ohne einereduktionistische Auslegung vorauszusetzen

Auf dieser Basis wird ein Reduktionismus des Koumlrpers auf die Seele aus-geschlossen Ausserdem unterstuumltzt der Wortlaut des Textes nicht das Ver-staumlndnis der ontologischen Prioritaumlt die Aristoteles in Metaph V11 an-spricht Es geht in unserem Kontext nicht darum was Aristoteles undAlexander als platonische Auffassung und akademisches Gut dar-stellen45 Als Kriterium der ontologischen Rangfolge wird dassbquoMitaufgehobenwerdenrsquo des Spaumlteren angegeben Demgemaumlszlig setzt dasontologisch Spaumltere das Fruumlhere voraus aber nicht umgekehrt Wenndas Fruumlhere aufgehoben wuumlrde wuumlrde auch das Spaumltere aufgehobenwas sich aber nicht umkehren laumlsst Soweit geht Platon bei der hiesigenBetrachtung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper jedoch nichtDie Rede von der sbquoAufnahmersquo der koumlrperlichen Bewegungen von denseelischen ist weniger mit einer ontologischen Prioritaumlt der Seele (wieoben dargelegt) als vielmehr mit einer Aufeinanderbezogenheit vonSeele und Koumlrper vertraumlglich

Um eine uumlber den Rahmen dieses Beitrags hinausgehende positive Louml-sung fuumlr Platons Leib-Seele-Dualismus zu entwickeln ist es noumltigeinige falsche Meinungen zu korrigieren wozu die obere Darlegung bei-traumlgt

iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Ar-gument

44 Pace England Edwin The Laws of Plato London 1921 Zweiter Band S476 der παραλαμβάνειν als lsquobring in their trainrsquo versteht In allen obenerwaumlhnten Zusammenhaumlngen ist klar dass das Aufgenommene nicht vomAufnehmenden geschaffen wird Die Uumlberlegenheit des letzteren bleibt davonunberuumlhrt

45 Vor allem in Arist Metaph V11 1019a2-4 vgl Alexander In AristotMetaph I 6 987b33 Gaiser Testimonium Platonicum 22B

18 Georgia Mouroutsou

Wir kehren zu unserem Text zuruumlck Da der Seele ontologische Prioritaumltgegenuumlber dem Koumlrper verliehen wird ist auch das der Seele Verwandteontologisch fruumlher als das was dem Koumlrper zugehoumlrt

raquoVerhaltensweisen aber und Gemuumltsarten Willensakte Schluss-folgerungen wahre Meinungen Fuumlrsorge und Erinnerungen duumlrftenfruumlher entstanden sein als koumlrperliche Laumlnge Breite Tiefe und Staumlrkewenn eben die Seele fruumlher als der Koumlrper entstanden sein solltelaquo46

Im Anschluss daran hilft uns der Athener nachzuvollziehen warumPlaton eben hier die sbquoschlechte Seelersquo einfuumlhrt Man muumlsse darin uumlberein-stimmen dass die Seele Ursache sowohl des Guten als auch des Boumlsendes Schoumlnen und des Schlechten des Gerechten und des Ungerechtenund aller Gegensaumltze sei

raquoIst es denn nicht noumltig darin uumlbereinzustimmen dass die Seele dieUrsache des Guten sowie des Schlechten des Schoumlnen sowie des Haumlszlig-lichen des Gerechten sowie des Ungerechten und uumlberhaupt allerGegensaumltze wenn wir sie als Ursache von allem setzenlaquo47

Diese Zeilen sind aumluszligerst wichtig weil hier und nicht erst in 896e4ffder Gegensatz von sbquogut und schlechtlsquo eingefuumlhrt wird Dem Argumentist vorgeworfen worden es sei schwach Unter den Kritikern verstehtStalley den Schluss auf folgende Weise lsquoSoul since it is the source ofeverything must be the source of valuesrsquo Er wundert sich dass Werteohne Begruumlndung und ohne Erklaumlrung ihrer Existenzweise eingefuumlhrtwerden48 Dementgegen werde ich eine wohlwollendere Annaumlherungvorschlagen Nach der Rekonstruktion des Arguments werde ich eineArt sbquoanthropozentrischer Wendelsquo in einen breiteren Kontext situieren

Wie er expliziert (896d8) zieht der Gast aus Athen diesen Schlussdaraus dass die Seele als Ursache von allem angesetzt worden ist Bevorwir diese Begruumlndung als einen Fehlschritt charakterisieren sollten wiruns zusammen mit Kleinias erinnern dass die sbquoSeelersquo die Veraumlnderungvon allem herbeifuumlhrt49 Mit Hilfe einer anderen Formulierung ist dieSeele raquodie Veraumlnderung und Bewegung von allem Seiendenlaquo50

46 Lg 896c9-d3 raquoΤρόποι δὲ καὶ ἤθη καὶ βουλήσεις καὶ λογισμοὶ καὶ δόξαιἀληθεῖς ἐπιμέλειαί τε καὶ μνῆμαι πρότερα μήκους σωμάτων καὶ πλάτους καὶβάθους καὶ ῥώμης εἴη γεγονότα ἄν εἰπερ καὶ ψυχὴ σώματοςlaquo

47 Lg 896d5-7 raquoἎρrsquo οὖν τὸ μετὰ τοῦτο ὁμολογεῖν ἀναγκαῖον τῶν τε ἀγαθῶναἰτίαν εἶναι ψυχὴν καὶ τῶν κακῶν καὶ καλῶν καὶ αἰσχρῶν δικαίων τε καὶ ἀδίκωνκαὶ πάντων τῶν ἐναντίων εἴπερ τῶν πάντων γε αὐτὴν θήσομεν αἰτίανlaquo

48 Stalley An Introduction S 172 49 Lg 892a6f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 19

Die Bewegung ist hier als Wechsel und Veraumlnderung (μεταβολή) in ih-ren weitesten Sinn zu verstehen seien sie im Raum in Bezug auf dieSubstanz die Qualitaumlt oder die Quantitaumlt Der Uumlbergang findet zwi-schen Gegensaumltzen statt Die ersten Paare von Gegensaumltzen die derAthener vor der Verallgemeinerung in 897d7 anspricht sind Ver-bindungen und Trennungen Wachstum und Schwund sowie Prozessedes Wedens und Vergehens (894b10f) Die Seele zeigt sich als dieUrsache von aller Art koumlrperlicher Veraumlnderung Wenn eine Seele einenWechsel von einem schlechten zu einem guten Zustand verursacht dannist diese Seele in sich selbst gut Wenn eine Seele einen schlechtenEinfluss auf einen Zustand uumlbt dann ist sie dafuumlr verantwortlich Es istbemerkenswert dass der Gegensatz zwischen sbquogutlsquo und sbquoschlechtlsquo nichtauf die Unterscheidung zwischen sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo oder diejenigezwischen sbquoseelischer Bewegunglsquo und sbquokoumlrperlicher Bewegunglsquo zu-ruumlckgefuumlhrt wird Der Koumlrper kann nicht als schlecht charakterisiertwerden weil nach dem spaumlten Platon der Koumlrper qua Koumlrper weder gutnoch schlecht in sich selbst ist

Wenn die Seele die Ursache von allem ist so der Athener dann musssie die Ursache von allen Gegensaumltzen sein einschlieszliglich des Bereichsder Ethik Die gleichen Gegensatzspaare von sbquogut und schlecht schoumlnund haumlszliglich sowie gerecht und ungerechtlsquo tauchen in Euthph 7c10ff alsder Zankapfel der menschlichen Debatten auf die vor Gericht gefuumlhrtwerden koumlnnen Auch in Grg 459d1ff gehoumlren sie zur rhetorischenKunst die kein Wissen daruumlber erwerben kann In Plt 296c5-7 erfahrenwir dass ein Irrtum im Rahmen der politischen Kunst das Schaumlndlichedas Schlechte und das Ungerechte verursacht Was der Rhetor verfehltweiszlig der Staatsmann Der goumlttliche Teil der menschlichen Seele mag einewahre Meinung uumlber Schoumlnes Gutes und Gerechtes stiften (Plt 309c5-8)

Indem die Seele fuumlr alle moumlglichen koumlrperlichen Veraumlnderungen ver-antwortlich gemacht wird gelangen wir in unserem Zusammenhang zuder Seele als der primaumlren Ursache auch des Schlechten und nichtaufgrund der Frage woher das Schlechte komme Der Athener machtnirgends explizit dass er die Seele als die einzige Ursache des Schlechtensei Bedenken sollte daher gegen Englands Beobachtung geaumluszligert wer-den in 896d5 werde die Frage nach dem Uumlbel eingefuumlhrt und insbe-

50 Lg 894c6f raquoκαλουμένην δὲ ὄντως τῶν ὄντων πάντων μεταβολὴν καὶκίνησινlaquo

20 Georgia Mouroutsou

sondere gegen seine Folgerung lsquoHaving identified ψυχή with the αἰτίαἀγαθοῦ τε καὶ κακοῦ he is bound to talk of the αἰτία κακοῦ as ψυχήrsquo51

Auf das seelische Uumlbel konzentriert sich hier der Athener Verabsolutie-rende Konklusionen uumlber das Uumlbel schlechthin sind daher der Ge-spraumlchssituation nicht zu entnehmen Jedenfalls waumlre der bestimmte Ar-tikel noumltig vor αἰτίαν (sowohl in 896d6 als auch in d8)

Der Athener zielt darauf die Natur der Seele als die Ursache von allenGegensaumltzen auszulotten und fuumlhrt dann das Feld der menschlichenEthik ein ohne seinen Uumlbergang oder eher seine Einschraumlnkung zu er-klaumlren52 Die konkrete politische Situation in den Gesetzen bietet eineplausible Erklaumlrung fuumlr diesen Uumlbergang von der Seele qua Seele zurmenschlichen Seele Die Buumlrger von Magnesia sollten ihre Machtwahrnehmen sowohl zum Guten als auch zum Schlechten beizutragenAuszligerdem sollten sie die Verantwortung ihrer politischen Taumltigkeit ineinem kosmischen All uumlbernehmen das von einer guten Seele verwaltetwird Die primaumlre Ursache der Bewegung ist die Seele Beinahe waumlre dieSeele als Selbst-Bewegung ie ihre absolute Spontaneitaumlt als Bedingungihrer moralischen Verantwortung zum ersten Mal in der Geschichte derPhilosophie vorgekommen haumltte Platon diese Verbindung ausbuch-stabiert53

Eine Art Anthropozentrismus kommt in den spaumlteren platonischenSchriften vor Die Entscheidung ob wir dieses Konzept einer philoso-

51 Platorsquos Laws S 474 Auf aumlhnliche Weise auch Carone Evil and Teleology S295 Anm41

52 Mayhew argumentiert seinerseits dass es nicht darum gehe dass die Seeledie Ursache aller Dinge und daher sowohl schlechter wie guter Dinge sei DerInterpret meint die Seele sei fruumlher als der Koumlrper und in dieser Weise das Seeli-sche ndash einschlieszliglich der Moral ndash entsprechend fruumlher als das Koumlrperliche (PlatoLaws X S 131) Dennoch liegt die Pointe meines Erachtens nicht darin eineneingegrenzten Bereich ndash den der Ethik ndash anzusprechen sondern das Wesen derSeele als Ursache aller Gegensaumltze auszubuchstabieren was wiederum nichtheiszligt man sollte den Bereich der Moral voumlllig leugnen wie es Raphael Demostut lsquo[hellip] the soul is non-moral apt for both good and evil and so far forth inde-terminatersquo (Demosrsquo Hervorhebung Platorsquos Doctrine of the Psyche as a Self-Moving Motion In Journal of History of Philosophy (1968) S 133-145 HierS136)

53 Vgl Horn Christoph Der Begriff der Selbstbewegung bei Alkmaion undPlaton In Rechenauer Georg (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen2005 S 152-173 bes S 168ff und Baumgarten Hans-Ulrich Handlungstheoriebei Platon Platon auf dem Weg zum Willen Stuttgart 1998 S 241-264

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 21

phischen Kritik unterziehen sollten oden nicht mag hier dahingestelltbleiben Mit dem sbquoAnthropozentrismuslsquo bei Platon meine ich dass dasErschaffen des Weltalls auf der Basis einer Teleologie geschieht die aufden Menschen und seinen Beduumlrfnissen zentriert ist Man mag denTimaios heranziehen Der Anthropozentrismus scheint sich durch denganzen Monolog durchzusetzen in dem Timaios auf das Schaffen desMannes fokussiert ist Gemaumlszlig der Lehre der Wiedergeburt sind Frauenund Tiere schlechtere Formen von Lebewesen Es gibt zwei Passagendie als besonders anthropozentrisch gepraumlgt vorkommen Zum erstensind die Pflanzen um der Ernaumlhrung der sterblichen Lebewesen willengeschaffen worden (77e7-b1) Zum zweiten schafft der Demiurg dieuumlber das ganze All scheinende Sonne damit die dementsprechend aus-geruumlsteten Lebewesen an der Zahl teilnehmen nachdem sie von derBeobachtung der kosmischen Bewegung viel gelernt haben (39b2-c1)Um der Menschen und der Kultivierung der Philosophie willen schafftGott die Sonne und ermoumlglicht die Wahrnehmung der Sicht Dank desStudiums der himmlischen Bewegungen koumlnnen wir nach der Natur derZeit und des Alls fragen Auf diese Weise duumlrfen wir hoffen unsere ge-stoumlrte Bewegung der Vernunft der ungestoumlrten Bahn der kosmischenVernunft zu assimilieren (46e-47c 90c-d)

Wir haben die Kritik an der Einschraumlnkung im moralischen Bereichwiderlegt indem wir unseren unmittelbaren sowie weiteren Kontextberuumlcksichtigten Wegen des Fokuses auf den menschlichen Bereich unddie menschliche Seele geht die allgemeine Frage der Seele qua Seele nichtverloren Der Hintergrund der jetzigen Diskussion bleibt dieseallgemeine Fragestellung obgleich die menschliche Seele diejenige istdie sich gemaumlszlig der Vernunft oder gegen die Vernunft verhaumllt (897b1-5)Wir sollten die Unterscheidung zwischen weiteren kosmischen undmenschlichen Dimensionen bewahren wenn auch der spaumlte Platon denkosmischen Zusammenhang auf eine anthropozentrische oder sogar an-thropomorphische Weise beschreibt54 Es waumlre weder gerechtfertigtnoch legitim dass die Untersuchung uumlber die menschliche Seelediejenige uumlber die Seele qua Seele dominieren oder ausschoumlpfen wuumlrde

54 Zur Zentrierung des kosmischen Alls auf dem menschlichen Leben bei spauml-tem Platon s Carone Evil and Teleology S 296

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v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6

Von der allgemeinen Seelenlehre und der Seele qua Seele die bis dahindas Untersuchungsobjekt bildete gelangt der Athener jetzt zu einer be-sonderen Seele zur Weltseele Der Blickwechsel den der Athener imBereich seiner Betrachtung vollzieht sollte im Rahmen der platonischenSpaumltdialoge in denen Ontologie und Seelenlehre haumlufig in Kosmologiemuumlnden kein Erstaunen hervorrufen Als zwei Beispiele dafuumlr koumlnnender kosmologische Exkurs im Philebos (s oben Abschnitt I) und derUumlbergang von ψυχὴ πᾶσα (alles was Seele ist) zur Weltseele im Phaidros(245c5-246a2) gelten Was uumlber die Seele qua Seele gesagt wurde sollteauch im Fall der Weltseele Guumlltigkeit haben

raquoUnd weil die Seele in allem waltet und wohnt was sich auf ir-gendeine Weise bewegt muumlssen wir etwa nicht sagen dass sie auch denHimmel durchwaltelaquo55

Auf seine nur scheinbar unvermittelte und ploumltzliche Frage56 antwor-tet der Athener selbst

raquoEine oder mehrere Seelen Mehrere Ich werde fuumlr Euch antwortendass wir nicht weniger als zwei ansetzen sollten naumlmlich diejenige diedas Gute vervollkommnet und diejenige die faumlhig ist Entgegengesetztesdurchzufuumlhrenlaquo57

Dass der Athener im Namen seiner Gespraumlchspartner antwortet be-trachte ich als kein ausschlaggebendes Argument gegen die Realitaumlt einersbquoschlechten Weltseelersquo58 weil er sich noch auf die Seele qua Seele bezieht

55 Lg 896d10-e2 raquoΨυχὴν δὴ διοικοῦσαν καὶ ἐνοικοῦσαν ἐν ἅπασιν τοῖς πάντῃκινουμένοις μῶν οὐ καὶ τὸν οὐρανὸν ἀνάγκη διοικεῖν φάναιlaquo

56 Wilamowitz charakterisiert diese Frage zu Unrecht als sbquohereingeschneitlsquo(Platon II S 316) wogegen sich Kerschensteiner einsetzt (Platon und der Ori-ent S 73)

57 Lg 896e4-6 raquoΜίαν ἢ πλείους πλείους ἐγὼ ὑπέρ σφῷν ἀποκρινούμαι Δυοῖνμέν γέ που ἔλαττον μηδὲν τιθῶμεν τῆς τε εὐεργέτιδος καὶ τῆς τἀναντία δυναμένηςἐξεργάζεσθαιlaquo

58 Vgl Apelt Platons Gesetze S 539 Anm 48

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 23

Ist die Seele die das All verwaltet eine oder mehrere Haumltte Platon indi-viduelle Seelen ohne Bezug auf einen generellen Terminus sbquoSeelelsquo auf-zaumlhlen wollen haumltte er von mehr als zwei Seelen gesprochen Die Frageist sehr oft als Frage nach zwei Weltseelen verstanden worden Koumlnnteder Athener nicht die allgemeine Lehre der Seele qua Seele verlassen umsich auf die zwei partikulaumlren Weltseelen zu beziehen Dies haumltte derFall sein koumlnnen wenn die Weltseele mit Realitaumlt ausgestattet waumlre wassich aber nicht so verhaumllt Die oben genannte Frage kann nur die Seelequa Seele betreffen

Obgleich er haumlufig uumlberhoumlrt wird sollte der oben angewendete Dual beruumlcksichtigt werden weil er gegen ein Verstaumlndnis von zwei von-einander getrennten entgegengesetzten Seelen plaumldiert59 Auszliger demDual in 896e5 uumlberhoumlrt die Mehrheit der Interpreten hier noch etwasEntscheidendes Die der wohltaumltigen Seele entgegensetzte ist nicht eineeinfachhin und ohne Weiteres sbquoschlechte Seelersquo60 sondern die Seele raquodieimstande ist das Gegenteil zu bewirkenlaquo Genau in diesem Punkt uumlber-schneiden sich die allgemeine Seelenlehre nach der die Seele qua SeeleSelbstbewegung ist und als solche gut oder schlecht sein kann und diespezielle Lehre uumlber die kosmische Seele die ebenfalls qua Seele in derLage ist gut oder schlecht zu sein Deswegen sollten wir die Rede vonδύναμις in unserer Uumlbersetzung von sbquoτἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαιlsquo(Lg 896e6)61 nicht vernachlaumlssigen Die sbquoschlechte Seelelsquo wird nicht alseine bloszlige Privation der guten Seele eingefuumlhrt sondern als mit ihrereigenen Macht (δύναμις) ausgestattet Schlechtes zu bewirken62 als einenegative und destruktive Macht63

Wir sind dabei weit enfernt δύνασθαι mit einer aristotelischen sbquoerstenMoumlglichkeitlsquo zu identifizieren um die Ausscheidung einer schlechten

59 raquoDie Sprache hat die Dualform geschaffen nicht etwa um den Begriff derZahl zwei sondern um den Begriff der Zweiheit der paarweisenZusammengehoumlrigkeit auszudruumlckenlaquo (Wilhelm von Humboldt Uumlber denDualis Berlin 1828 S 18) Erst nach Platon als das Sprachgefuumlhl fuumlr die eigent-liche Bedeutung der Sprachformen an Lebendigkeit nachlieszlig bedeutete der Dualnicht selten den bloszligen Begriff sbquozweilsquo wobei die wahre und urspruumlngliche Naturdes Duals sich darin zeigt dass er entweder auf paarweise in der Natur verbun-dene Gegenstaumlnde angewendet wird oder auf solche welche in einer engen undgegenseitigen Beziehung gedacht werden (vgl Kuumlhner Raphael und FriedrichBlass Ausfuumlhrliche Grammatik der griechischen Sprache Zweiter Teil Satz-lehre Erster Teil Darmstadt 31966 S 69

60 Er spricht nur spaumlter von einer sbquoschlechten Seelersquo (897d1 vgl 898c4f)

24 Georgia Mouroutsou

Weltseele schon in den oberen Zeilen zu finden Nach dieser Lektuumlrewaumlre die zweite Art von Seele nur imstande Schlechtes durchzufuumlhrenaber wuumlrde nicht tatsaumlchlich so etwas tun Waumlre das der Fall warumsollte der Athener uumlberhaupt erst zwischen zwei Arten von Seele unter-scheiden In einem Kontext wo die Staumlrke die praktische Macht sowieEffizienz und Dominanz der Seele uumlberwiegen64 ist die Option einersbquoersten Moumlglichkeitlsquo keine gelungene Annahme65 Nur in dem Fall desgoumlttlichen Demiurgen koumlnnten wir eine solche sbquoerste Moumlglichkeitlsquo an-wenden die sich nie wirklich durchsetzen wird Trotz seiner Faumlhigkeites zu tun ist der Demiurg nicht bereit die guten Mischungen aufzuloumlsenund die kosmische Ordnung zugrunde zu richten Das Konzept einesDemiurgen der faumlhig ist beides zu tun sowohl Gutes als auch Schlech-tes ist fuumlr Platon undenkbar weil Gott wesentlich gut ist66 Zu-gegebenermaszligen waumlre es zu weitreichend all das in 896e5f hineinzule-sen und die zweite Art der Seele mit dem goumlttlichen Demiurgen zuidentifizieren

61 Der δύναμις-Aspekt geht verloren bei Plutarch der stattdessen von der gutwirkenden und der entgegengesetzten Seele spricht die das Gegenteil vollbringtDe Is Et Osir 370F4-6 raquoὧν τὴν μὲν ἀγαθουργόν εἶναι τὴν δrsquo ἐναντίαν ταύτῃ καὶτῶν ἐναντίων δημιουργόνlaquo Den wichtigen Bezug auf δύναμις verpassen Jowettlsquoone the author of good and the other of the evilrsquo (The Dialogues of Plato S466) sowie Grube Platorsquos Thought lsquoone that does good and one that does evilrsquo(Platorsquos Thought S 146)

Brisson spricht von der Neutralitaumlt der Seele die faumlhig ist gut oder schlecht zusein (Vernunft Natur und Gesetz im zehnten Buch von Platons Gesetzen InHavlicek Ales (Hrsg) The Republic and the Laws of Plato Proceedings of theFirst Symposium Plato Symposium Platonicum Pragense 1 (1997) S 182-200Hier S189) ohne diese Textstelle heranzuziehen

62 Das Verb ist sbquoἐξεργάζεσθαιlsquo das nicht nur das Schlechte bewirken sondern esauch vollenden heiszligt (vgl ἔργον sowohl in als auch in ἐξεργάζεσθαι)

63 Vgl Dillons allgemeine Folgerung uumlber das ontologische Problem desSchlechten bei Platon (Monist and Dualist Tendencies S 11) Der Fall einerschlechten Seele die nicht als Privation der guten Seele vorkommt sondern alsraquofaumlhig Schlechtes zu vollendenlaquo unterstuumltzt Dillons Konklusion dass diesbquoschlechte Seelelsquo eine negative zerstoumlrende Macht sei

64 Vgl die Charakterisierung der Seele in 894d1f 895b665 Dank der Beobachtung von David Sedley wurde es mir klar dass ich

unabsichtlich eine aristotelsiche sbquoerste Potenzialitaumltlsquo in einer fruumlheren Versionvorgeschlagen hatte

66 Vgl oben Fuszlignote 7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 25

Bevor wir zur allgemeinen platonischen Psychologie uumlbergehen er-waumlgen wir eine zweite moumlgliche Unterscheidung der Seele in 896e4-6Bis jetzt habe ich die Distinktion zwischen guter und schlechter Seele alsselbstverstaumlndlich betrachtet Eine vorsichtigere Lektuumlre ermoumlglicht einezweite Option naumlmlich die Unterscheidung zwischen derwohlwollenden Seele die immer das Gute vollendet und derjenigen diefaumlhig ist entgegengesetzte Dinge (Plural) durchzufuumlhren sowohl Gutesals auch Schlechtes (τῆς τἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαι) Die ersteSeele kann keine andere als die goumlttliche sein67 Fuumlr die zweite Seele istder einzige Kandidat die menschliche Seele Auszligerdem wuumlrde die Seeleder Tiere unter die Seele fallen die sowohl Gutes als auch Schlechtestun kann weil sie einen logischen Teil beinhaltet auch wenn deformiertDas Goumlttliche ist immer gut Die Pflanzen moumlgen gut sein insofern siein eine globale Teleologie integriert sind Sie wuumlrden aber nie als faumlhigcharakterisiert etwas Gutes oder noch weniger etwas Schlechtes zutun noch wuumlrden sie die Verantwortung fuumlr die herbeigefuumlhrten gutenoder schlechten Wirkungen tragen Wenn diese Lektuumlre als die einzigemoumlgliche aufgewiesen werden koumlnnte wuumlrden wir mit Sicherheit dieFrage nach der schlechten Seele auf spaumlter verschieben68

Wie es auch sein mag befinden wir uns noch im Rahmen derallgemeinen Lehre der Seele qua Seele als Selbstbewegung Die kosmi-sche Seele ist in 896e1f aufgetaucht aber die Unterscheidung zwischender guten und der schlechten Seele oder der goumlttlichen und men-schlichen Seele wird auf einer allgemeinen Ebene gezogen69 Obgleichder Athener nicht die theorethischen Anspruumlche des Sophistes erhebtsetzt er die allgemeine platonische Ontologie voraus dergemaumlszlig dasSeiende qua Seiendes δύναμις sei Das Kriterium fuumlr alles was Seiendesist sei es Intelligibles oder Koumlrperliches Koumlrper oder Seele ist das Ver-moumlgen zu tun oder zu leiden70 Die Erforschung der Seele als Seiendesverlangt daher die Frage nach ihrer Kraft und ihrem Vermoumlgen (Lg892a2f) Der Gast aus Athen bezieht sich stets auf die δύναμις-Ontolo-

67 Der Athener kann noch nicht die gute Seele als goumlttlich charakterisierenDas Argument hat noch nicht die Goumlttlichkeit der Seele bewiesen

68 Der kreative Charakter der Dialektik ermoumlglicht mehr als eine richtige Ein-teilung Zu diesem Aspekt s Plt 286d-e und Delcomminettes Monographie

69 Anders als Taylor der den Uumlbergang von 896e2 zu e4 durch die Praumlmisseder Aktualitaumlt des Guten und Schlechten in der gegenwaumlrtigen Welt verhilft (TheLaws S 289 Anm 1) sehe ich keinen Eintritt eines a posteriori Arguments adhoc Alles bisherige entnimmt der Athener der allgemeinen Seelenlehre

26 Georgia Mouroutsou

gie des Phaidros sowie des Sophistes Er stellt die Frage was die Seele istund was fuumlr ein Vermoumlgen sie hat οἷόν τε ὂν τυγχάνει καὶ δύναμιν ἣνἔχει71

Obwohl die Frage nach dem Tun (ποιεῖν) oder Leiden (πάσχειν) derSeele als δύναμις nicht explizit gestellt wird72 bringt ihre Definition alsSelbstbewegung ein gleichzeitiges Tun (als Bewegen) und Leiden (alsBewegtwerden) zum Ausdruck73 Die Seele ist die Kraft die sich selbstund anderes bewegt74 Die Definition der Seele als Selbstbewegung kannentweder als Aktivitaumlt oder Passivitaumlt ausgedruumlckt werden Die Seele be-wegt sich selbst und wird von sich selbst bewegt Ein gleichzeitiges Tunund Leiden das aber nicht das gleiche Seiende verursacht geschieht beikoumlrperlicher Bewegung Ein Koumlrper mag auf einen anderen Koumlrper wir-ken und zu gleicher Zeit kann er von einer Seele oder einem anderenKoumlrper bewegt werden aber nicht von sich selbst75

Platon gibt die Definition der Seele in ihrer Allgemeinheit d hunabhaumlngig von ihren moumlglichen Manifestationen in konkretenLebewesen Alles was Seele ist soll Selbstbewegung sein mag es sichum die Seele des Menschen oder des Tieres oder der Pflanze handelnWeil die individuellen Manifestationen der Seele nicht beruumlcksichtigtwerden fehlt bei der Formel der Definition τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴνκινεῖν κίνησιν (896a1f) auch der Bezug auf den Koumlrper den die jeweiligekonkrete Seele beseelt Im Falle der Absenz der Materie in einer Defini-

70 Der Vorschlag des Gastes aus Elea in Sph 247d-e wird nicht allgemein alsPlatons Vorschlag uumlber Ontologie gedeutet Sehr haumlufig beschraumlnken Exegetendas Seiende als δύναμις auf die ad loc Argumentation gegen die MaterialistenAuch wenn dieses Argument als Platons Argument charakterisiert wird bleibtes sehr umstritten ob es eine allgemeine Ontologie betrifft (Brown) oder in eineOntologie der Ideen einmuumlndet (Gerson Politis) Darauf gehe ich hier nicht ein

71 Lg 892a3 vgl Lg 894b8-c1 und 896a1f72 Der Athener bezieht sich auf Tun und Leiden nur in 894c5f und meint

wahrscheinlich sowohl Seelisches als auch Koumlrperliches mit dem die Seele har-monisiert

73 In Lg 894b8-c1 und 896a1f beantwortet der Athener seine Frage nach derArt des Vermoumlgens mit dem die Seele ausgestattet ist Der gesamteZusammenhang verbindet die Frage nach dem Wesen eines Seienden mit derFrage nach seinem Vermoumlgen

74 Lg 893c4f75 Gaiser fuumlhrt den Ausgleich zwischen Passivitaumlt und Aktivitaumlt in der selbst-

bewegenden Seele auf das Zusammenwirken der zwei platonischen Prinzipienzuruumlck (Platons Ungeschriebene Lehre S 195f)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 27

tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

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Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

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reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

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tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

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welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

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zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

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Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

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(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

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werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

42 Georgia Mouroutsou

abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

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Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 9

zeugung sich mit rationalen oder irrationalen Mitteln vollzieht15 Einerationale Fundierung darf keinesfalls mit einer raquodurchgehend philoso-phische[n] Begruumlndunglaquo identifiziert16 sondern muss als eine Annauml-herung an die philosophische Argumentation verstanden werden17 Beider Widerlegung der ersten Uumlberzeugung der Gottlosen zielt derAthener nicht auf die Bezauberung seiner Gegner18 sondern wendeteine rationale Argumentation an Er druumlckt das Zusammenspiel von ra-tionaler und irrationaler Vorgehensweise am praumlgnantesten aus wenn erseine Zielsetzung folgendermaszligen formuliert

raquoDenn zoumlge sich wohl die Rede nicht wenig in die Laumlnge falls wireinerseits mit hinreichenden Argumenten gegenuumlber denjenigen diegottlos zu sein wuumlnschen das bewiesen woruumlber geredet werden musswie sie sagten falls wir andererseits unseren Anklaumlger in Furcht ver-

14 Auf eine exemplarische Weise hat Stalley die Argumentation als misslungendargelegt (An Introduction besonders S 169-172) Was die Zirkularitaumlt betrifftwill der Athener die Existenz der Goumltter beweisen die er dennoch voraussetztwenn er sie zur Hilfe ruft (Lg 893b1-4) s unter vielen anderen John ClearyThe Role of Theology in Platorsquos Laws In Lisi F L (Hrsg) Platorsquos Laws and ItsHistorical Significance Selected Papers of the International Congress onAncient Thought Salamanca 1998 S 125-140 Hier S 130 Auf derSubjektabhaumlngigkeit des dialektischen Vorgehens basiert die InterpretationSteiners (Platon Nomoi X) noch entschiedener ist Christian Pietsch Die Dihai-resis der Bewegung in Platon Nomoi X Rheinisches Museum fuumlr Philologie146 (2003) S 303-327 hier 319ff

15 Die Diskussion zwischen Christopher Bobonitch (Persuasion Compulsionand Freedom in Platorsquos Laws In Classical Quarterly 41 (1992) S 234-250) undStalley (Persuasion in Platorsquos Laws In History of Political Thought 15 (1994) S157-177) hat dieses Problem neuerdings zur Sprache gebracht Die rationaleUumlberzeugung muss rationale und irrationale Mittel kombinieren weil der zuUumlberzeugende (wenn auch nur Spuren von) Rationalitaumlt mitbringt aber zugleichgegen die Vernunft Widerstand leistet Stalley der die Praumlambel fuumlr lsquorathercoventional sermonsrsquo haumllt (An Introduction S 43) raumlumt eine Ausnahme fuumlrdas zehnte Buch ein (Persuasion S173f)

16 Pace Stalley Persuasion S 16717 Der wahrhaftige Gesetzgeber soll die Aufgabe erfuumlllen den Gesetzeswidri-

gen mithilfe beinahe philosophischer Argumente (καὶ τοῦ φιλοσοφεῖν ἐγγὺςχρώμενον μὲν τοῖς λόγοις 857d2) nicht nur zu heilen sondern auch zu erziehen(vgl Lg 857e3-6)

18 Einen verzaubernden Mythos nimmt der athener Gast erst bei seinerWiderlegung der goumlttlichen Sorglosigkeit gegenuumlber dem Menschlichen inAnspruch (Lg 903a10-905d3)

10 Georgia Mouroutsou

setzten und nachdem wir in ihnen Abscheu uumlber diese Missetaten erregthaumltten wir erst nachher die Gesetze aufstellten wie es sich gebuumlhrtlaquo19

ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platoni-sche Theorie der Bewegung

Kurz vor der Einfuumlhrung der schlechten Seele bezieht sich der Athenerexplizit auf den in 893b1-896b9 demonstrierten Vorrang der Seele uumlberden Koumlrper

raquoDenn wir duumlrften wohl richtig und vollguumlltig wahrhaftig undvollkommen gesagt haben dass fuumlr uns die Seele fruumlher entstand als derKoumlrper der Koumlrper aber an zweiter Stelle und spaumlter und beherrschtgemaumlszlig der Natur waumlhrend dagegen die Seele herrschtlaquo20

Platon gelingt es aus den Goumltterfrevlern ganz unterschiedlicherHerkunft ndash es sind Naturwissenschaftler Sophisten und Dichter darun-ter ndash einen einheitlichen Typus zu entwerfen der eine Prioritaumlt des Koumlr-pers ja noch mehr eine Derivation des Seelischen aus dem Koumlrperlichenvertritt21 Letztendlich plaumldiert er fuumlr einen materialistischen Reduktio-nismus der Form sbquoalles ist Koumlrperlsquo Eine Kosmogonie unterliegt seinerAuffassung gemaumlszlig der die Seele nach dem Koumlrper geschafft worden istDer Seele wird sowohl kausale als auch zeitliche Prioritaumlt zugesprochen

Nicht nur die Seele sondern alles was mit der Seele verbunden ist ndasheinschlieszliglich des Gesetzes und der Goumltter ndash werden nach dieser

19 Lg 887a3-8 raquoοὐ γάρ τι βραχὺς ὁ λόγος ἐκταθεὶς ἂν γίγνοιτο εἰ τοῖσινἐπιθυμοῦσιν ἀσεβεῖν τὰ μὲν ἀποδείξαιμεν μετρίως τοῖς λόγοις ὧν ἔφραζον δεῖν πέριλέγειν τὸν δὲ εἰς φόβον τρέψαιμεν τὰ δὲ δυσχεραίνειν ποιήσαντες ὅσα πρέπει μετὰταῦτα ἤδη νομοθετοῖμενlaquo Durch den Singular (887a6 τὸν δέ) bezieht sich derAthener auf denjenigen der die Anklage gegen die Glaumlubigen einbringt(886e8f)

20 Lg 896b10-c3 raquoὈρθῶς ἄρα καὶ κυρίως ἀληθέστατά τε καὶ τελεώταταεἰρηκότες ἂν εἶμεν ψυχὴν μὲν προτέραν γεγονέναι σώματος ἡμῖν σῶμα δὲδεύτερόν τε καὶ ὕστερον ψυχῆς ἀρχούσης ἀρχόμενον κατὰ φύσινlaquo

21 Es handelt sich um ein lsquoamalgam of several views rather than a single clear-cut doctrinersquo (Saunders Plato The Laws S 408) Glenn Morrow spricht vonlsquobody of ideasrsquo (The Cretan City Princeton 1960 S 480) Robert Muth nochtreffender von einer sbquomaterialistische[n] philosophische[n] κοινήlsquo der damaligenattischen Aufklaumlrungsbewegung (Studien zu Platons sbquoNomoirsquo X 885b2-899d3In Wiener Studien 69 (1956) S 140-153 Hier S 146)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 11

Auffassung als abgeleitet herabgesetzt Als abbildende Setzungenkoumlnnen sie die abgebildete Natur und Wahrheit nur verfehlen

raquo[hellip] er scheint Feuer und Wasser und Erde und Luft fuumlr das Erstevon allem zu halten und diese Dinge als sbquoNaturrsquo zu bezeichnen dieSeele aber fuumlr ein Spaumlteres aus diesen [Entstandenes]laquo22

Nun stellt der Athener seine Bewegungslehre dar mit der Absicht diePrioritaumlt der Seele zu beweisen23 Nach den sbquoPhilosophierendenlsquo24 lassensich die oumlrtlichen Bewegungen in sechs Arten unterteilen (1) Rotation(2) gleitende Bewegung (3) rollende Bewegung (4) Wachstum (5)Schwund (6) Zugrundegehen Dabei faumlllt das ontologische Werden (7)und Vergehen (8) als ein ausgezeichnetes Paar heraus da es ur-spruumlnglicher ist als die bisher entfalteten oumlrtlichen Bewegungsarten25

Die entscheidende Zweiteilung jedoch kommt erst am Ende der Auf-zaumlhlung zur Sprache Danach gibt es einerseits die koumlrperliche Be-wegung die als Fremdbewegung bestimmt wird (9) andererseits die alsSelbstbewegung definierte seelische Bewegung (10)26 Der Athener ver-steht den Namen sbquoSeelelsquo als den Namen dessen Definition sbquoSelbst-Be-wegunglsquo (895e10-896a2) erst nach der methodologischen Unter-scheidung zwischen dem Wesen und dessen Namen erfolgt (895d1-e9)Nach dieser Distinktion charakterisiert er die zweite Bewegung als sbquokoumlr-perlichlsquo (896b4-8) sbquoKoumlrperlsquo ist der Name dessen Definition dieFremdbewegung ist (896b10-c3)

Erst gemaumlszlig dieser Einteilung koumlnnen alle bereits aufgezaumlhltenraumlumlichen Bewegungsarten als seelisch oder koumlrperlich verstandenwerden Anders als Pietsch27 finde ich keinen Textbeleg nach dem dieSelbstbewegung im Gegensatz zu den raumlumlichen Arten der Fremdbe-wegung unraumlumlich sein soll Pietsch argumentiert dass das ganze dihai-

22 Lg 891c1-4 Eine aumlhnliche sbquoAll-Thesersquo vertreten die materialistisch ver-anlagten Ontologen im Rahmen der sbquoRiesenschlachtlsquo im Sophistes bevor ihnender Gast aus Elea durch seinen δύναμις-Vorschlag zur Hilfe kommt ImGegensatz zu den Ideenfreunden die schon mit der Unterscheidung zwischenSein und Werden auftreten macht nach den Materialisten ausschlieszliglich derKoumlrper das Sein aus (Sph 246b1)

23 Auf diese Weise begruumlndet der Gast alle vorgebrachten Auflistungen derGuumlter nach denen der Vorrang immer seelischen und nicht koumlrperlichen Guumlternbeigemessen wurde Vgl Lg 631b-c 661a ff 688a-b 697a-c 726a-729a 743e

24 So werden die Vertreter der Prioritaumlt der Seele ausgezeichnet Lg 967c8 (diezweite und letzte Erwaumlhnung von Philosophie in den Gesetzen auszliger in Lg857d2)

12 Georgia Mouroutsou

retische Stemma sbquonur raumlumliche Bewegungsartenlsquo bieten kann weil derAthener von der Physik des Gegners ausgeht28 Platon offenbart jedochein Stuumlck von seiner eigenen Philosophie immer dann wenn er seinesbquoGegnerrsquo verbessert seien es die Herakliteer im Theaitetos die Materia-listen des Sophistes oder diejenigen der Gesetze Das Platonische derRaumlumlichkeit der seelischen Bewegung erklaumlrt auszligerdem Timaios fuumlrguumlltig der der Weltseele raumlumliche Bewegung beimisst Zur Bekraumlf-tigung dient daruumlber hinaus die aristotelische Kritik am platonischenVerstaumlndnis der Selbstbewegung als raumlumlicher Bewegung (de an I3)

Dass der Bewegung in der spaumlteren platonischen Philosophie einegrundlegende Rolle zukommt zeigen neben dem Timaios die DialogeSophistes und der Theaitetos Im Sophistes wird das ausgezeichnete so-wohl bewegte als auch im Stillstand befindliche Sein der Idee qua Ideebehandelt Im Theaitetos werden heraklitische Allbewegungs-Modelleim Bereich der Wahrnehmung kritisiert Im Timaios wird die Bewegungin ihrer ganzen kosmologischen Tragweite ausgelotet In dem letztenDialog zeigt Platon seine Aneignung und Transformation des Herakli-

25 Gemaumlszlig der Aufzaumlhlung Konrad Gaisers (Platons Ungeschriebene LehreStuttgart 19983 S 176f) und ohne Besprechung der immensen einzelnen Pro-bleme Die ontologische γένεσις uumlber die Linie und Flaumlche bis hin zumdreidimensionalen Koumlrper (894a2-5) gilt als noch urspruumlnglicher als die vorhererwaumlhnten raumlumlichen Bewegungsarten (893c1f) Dieser Primat unterscheidetsich von Aristotelesrsquo Auffassung wie die Kritik des Stagiriten belegt (GC I2315a29ff) Der Bewegungskatalog ist von grundlegender Bedeutung fuumlr das Ver-staumlndnis der Prioritaumlt der Seele Hier begnuumlge ich mich mit der Hervorhebungder Beitraumlge von Gaiser und Solmsen (Aristotlersquos System of the Physical WorldA Comparison With His Predecessors New York 1960) Gaiser hat den sys-tematischen Charakter der Aufzaumlhlung der Bewegungsarten in Verbindung zuder indirekten Uumlberlieferung ausgearbeitet (Platons Ungeschriebene Lehre S173-186) Man folgt oft seiner Interpretation der besonders dunklen Stelle Lg894a1-8 und zwar mit oder ohne explizite Erwaumlhnung seines Beitrags zum Bei-spiel Pietsch C Die Dihairesis der Bewegung hier S 316 Anm 45 SchoumlpsdauK Platon Werke in Acht Baumlnden Griechisch und Deutsch Achter Band Zwei-ter Teil Platon Gesetze Buch VII-XII Minos Darmstadt 20054 S 291 Anm 26Mayhew R Plato Laws X Oxford 2008 S 112ff Solmsen (Aristotlersquos System)bietet seinerseits eine sehr ausgewogene Hermeneutik der platonischen undaristotelischen Bewegungslehre an die gegenuumlber der neueren oft hinter ihrzuruumlckbleibenden Forschung noch immer als exemplarisch gelten sollte

26 Lg 894b8-c1 894c3-827 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 304 und oumlfters28 Ebd S 320

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 13

tismus im Bereich der Ontologie des Wahrnehmbaren auf (48eff) des-sen Ausarbeitung nach wie vor eine Aufgabe fuumlr die Platon-Forschungdarstellt

Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich dass sbquoKoumlrperrsquo undsbquoSeelersquo als verschiedene Arten von Bewegung aufgefasst werden Hiersehe ich keine Verwirrung bei Platon zwischen einer Bewegungsart(Selbstbewegung) und der Seele als unabhaumlngiger Substanz Anders alsRichard Stalley29 verstehe ich sowohl die Selbstbewegung als auch dieSeele qua Seele als auf einen Koumlrper bezogen wenn auch unabhaumlngigvom jeweiligen Koumlrper gedacht und definiert Sogar die schlechte Welt-seele bliebe somit bezogen auf den Weltkoumlrper waumlre sie real

iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer an-tiken Auffassung

Halten wir inne Der Seele wird eine Art Prioritaumlt beigemessen die sichauf die in ihrer Definition widergespiegelte Natur als Selbstbewegungstuumltzt Als solche zeigt sich die Seele qua Seele und unabhaumlngig von allihren konkreten Manifestationen als aumllter wirksamer und maumlchtiger un-ter allen Bewegungen Und nicht nur dies Sie zeigt sich auch als dieeigentliche Bewegung und Veraumlnderung alles anderen Seienden30 Wirbefinden uns also im Rahmen der Problematik des Leib-Seele-Dualis-mus der neben dem Dualismus von Idee und Erscheinung der alssbquoZwei-Welten-Lehrelsquo beruumlhmt bzw beruumlchtigt wurde sowie dem in derAntike und Moderne debattierten Dualismus der zwei platonischenPrinzipien weitlaumlufig Karriere in der Geschichte des Platonismusgemacht hat31

29 Stalley An Introduction to Platorsquos Laws Oxford 1983 S 171f30 Lg 894c6f31 Die Tatsache dass hier die zwei letzteren Arten von Dualismus nicht vor-

kommen bedeutet keinesfalls dass der alte resignierte Platon seine Ideen- oderPrinzipienlehre aufgegeben habe (so Muumlller Gerhard Studien zu den Platoni-schen Nomoi Muumlnchen 1951 19682 aumlhnlich Rist Eros and Psyche S 87ff)Auf die platonische Ideenlehre weist der Gast als auf einen wesentlichen Teil derErziehung der sbquonaumlchtlichen Versammlungrsquo hin (Lg 965b-966b) Hier sei dieschwierigere Frage dahingestellt inwieweit die angedeutete Lehre der klassi-schen Ideenlehre der mittleren Dialoge entspricht

14 Georgia Mouroutsou

Platon problematisiert den Leib-Seele Dualismus nicht nur aufgrundder allgemeinen Frage nach sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo sondern auch weil erauf der moumlglichen Interaktion zwischen der intelligiblen Seele (derSonne) und ihrem wahrnehmbaren Koumlrper reflektiert (in Lg 898e8-899a4)32 Obgleich wir nicht viel Positives uumlber die platonische Auffas-sung der Art der Beziehung zwischen Koumlrper und Seele aussagenkoumlnnen sind wir damit doch imstande auf entschiedene Weise einigesauszuschlieszligen Wir werden mit dem Materialismus und dem Mentalis-mus anfangen die mit weniger Muumlhe abgelehnt werden koumlnnen als derso charakterisierte sbquorobuster Dualismuslsquo dem wir uns anschlieszligendwidmen

Die These des Materialismus wonach das Seelische auf Koumlrperlicheszuruumlckzufuumlhren sei gewinnt nicht die Oberhand in diesem KontextDie Materialisten bleiben die Gegner des Atheners durch das ganze Ar-gument hindurch Noch modifizierte Materialisten finden einen Belegfuumlr ihre These dass das Seelische unsichtbares Koumlrperliches sei Neu-erdings hat Gabriela Carone diese Auffassung des sbquomodifizierten Mate-rialismuslsquo als genuin platonisch vertreten33 was eine gerechtfertigteReaktion von Francesco Fronterotta hervorgerufen hat34 Bei ihrem Ver-such die Materialitaumlt der Seele aufzuweisen begeht Carone einengrundsaumltzlichen Fehler Sie geht ohne jede Argumentation von der Moumlg-lichkeit eines unsichtbaren Koumlrpers zu einem Verstaumlndnis der Seele alskoumlrperlich uumlber35 Die Ausdehnung sei (nach Platon) wesentliche Eigen-schaft des Koumlrperlichen Weil sie raumlumlich ist muumlsste die Seele daher ir-gendeine Art koumlrperlicher Natur besitzen Carone gibt zu lsquoOf course

32 Die Stelle charakterisiert Thomas Robinson als lsquoa splendid memorial to his[Platorsquos] intellectual honestyrsquo (The Defining Features of Mind-Body Dualism inthe Writings of Plato In John Wright und Paul Potter (Hrsg) Psyche andSoma Physicians and Metaphysicians on the Mind-Body Problem From Antiq-uity to Enlightenment S 37-55 Hier S 55) lsquoTo the end he is wrestling with theproblem that lies at the heart of all psycho-physical dualism the problem ofrelating a physical substance to an immaterial one and to the end he openlyadmits his bafflementrsquo (ebd)

33 Carone Gabriela Mind and Body in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichteder Philosophie 87 (2005) S 227-269 Hier S 256f

34 Fronterotta schmaumllert gewisse Staumlrken des Argumentes von Carone undbringt daher die platonische Methode der sbquoVerbesserungrsquo des Gegners in diesemFall der Materialisten nicht zur Anwendung (Fronterotta Fransesco Carone onthe Mind-Body Problem in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichte der Philoso-phie 89 (2007) S 231-236)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 15

there is still a gap to be filled between spatial extension and corporeal-ityrsquo36 Trotz ihres Zugestaumlndnisses fuumlllt Carone diese Luumlcke leider nichtund offenbart auf diese Weise ihre nicht hinterfragte (oder bei Platonnicht bewaumlhrte) Cartesianische Praumlmisse37

Noch belegt unser Zusammenhang das andere Extrem einer ArtMentalismus nach dem das Koumlrperliche vom Seelischen ableitbar istSowohl die Darstellung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper alszwischen Ganzem und Teil (Chrm 156dff) als auch die oumlrtliche Meta-pher der den Koumlrper umhuumlllenden Seele (Ti 36e3f und Lg 898d11-e238)eroumlffnen dennoch den Raum fuumlr eine solche Auffassung Dennoch un-terstuumltzt der Kontext in den Gesetzen nicht diese Auffassung Anders alsder materialistisch gepraumlgte Typus vertreten die sbquoPhilosophierendenlsquokeine reduktionistische These was nicht nur den Materialismus sondernauch den Mentalismus ausschliesst

In modernen Diskussionen des Leib-Seele-Problems wird Platon allzuoft als Vertreter eines sbquorobusten Dualismuslsquo dargestellt39 Demgemaumlszlighandelt es sich bei Seele und Koumlrper um zwei selbststaumlndige vonei-nander abgetrennte Substanzen die erst nachtraumlglich vereinigt werden

35 Carone Mind and Body S 237 die Voraussetzungen eines solchen Ver-staumlndnisses hat Fronterotta ans Licht gebracht Carone on the Mind-Body Pro-blem S 233

36 Carone Mind and Body S 240 Anm 4337 Vgl Carones selbstverstaumlndliche Redeweise lsquospatial or material conditionsrsquo

lsquobody and spacersquo lsquospace and bodyrsquo Mind and Body S 264 Zu einer einsichtige-ren Unterscheidung der Arten vom Dualismus bei Platon und Descartes sSarah Broadie Soul and Body in Plato and Descartes In The AristotelianSociety 101 (2001) S 295-308

38 Die zweite zaumlhlt Robinson nicht mit auf The Defining Features of Mind-Body Dualism S 40 Anm 12 Lg 898d11-e2 hat mehrere Deutungen undUumlbersetzungen veranlasst Περιφύειν wird mit aumlhnlicher Bedeutung in R 612aangewendet (sbquoherum- oder anwachsenlsquo) Diese Metapher in den Gesetzen undderen Uumlbersetzung verfehlen Otto Apelt Platons Gesetze Zweiter Band Leip-zig 1916 S 419 Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 S 163 mit Anm 2 Robin Leacuteon Oeuvres completesPlaton Paris 1950 Zweiter Band S 1025 richtig verstehen die Stelle JowettBenjamin The Dialogues of Plato Oxford 41953 S 468f Taylor Alfred E TheLaws of Plato London 21960 S 291 Muumlller Studien S 92 Anm 1 Bury Rob-ert Plato with an English Translation IX and X Laws London-New York1952 S 346 mit Anm Saunders Plato The Laws S 430 Cooper John (Hrsg)Plato Complete Works Cambridge 1997 S 1555 Mayhew Plato Laws X S29

16 Georgia Mouroutsou

muumlssen was hier nicht ausdruumlcklich widerlegt wird Neuerdings hatFronterotta diese Auffassung vertreten40 wobei auch seine Deutung aufzwei unaufhebbaren Schwierigkeiten im Timaios stoumlszligt Zum ersten istdie Weltseele raumlumlich ausgedehnt Zum zweiten ist sie das Produkteiner Mischung was nicht nur Carones These widerlegt dass die Seelekoumlrperlich sei ndash da hat Fronterotta Recht ndash sondern auch gegen einen ab-soluten unuumlberbruumlckbaren Gegensatz zwischen einer rein rationalerSeele und dem Weltkoumlrper plaumldiert41

Auf dem ersten Blick scheint unser Kontext in den Gesetzen nicht aufexplizite Weise den weit verbreiteten Vorschlag eines Substanz-Dualis-mus abzuweisen Weil sich aber in diesem Zusammenhang sowohl dieseelische als auch die koumlrperliche Bewegung im Raum vollziehen (Lg893c1f) ist die Dimensionalitaumlt keinesfalls ausschlieszliglich dem Koumlrperzugeordnet was sich wiederum mit einem starren Dualismus nicht ver-traumlgt42

Jedenfalls ist ein gewisser Dualismus insofern nicht zu uumlbergehen alsdie seelische Bewegung die koumlrperliche nicht produzieren kann43 NachLg 896e8-897b4 sbquonehmenrsquo die seelischen als die primaumlren Bewegungendie sekundaumlren koumlrperlichen sbquoaufrsquo Das gleiche Verb (παραλαμβάνειν897a5) wendet auch der Timaios an Der Demiurg nimmt das auf unge-ordnete und fast verbrecherische Weise bewegte Wahrnehmbare sowiespaumlter im Dialog das was ἀνάγκη bewirkt (68e3) auf Die unterstehendenGottheiten nehmen ihrerseits den rationalen Teil der Seele auf um ihn mitdem sterblichen Teil im Koumlrper zu verknuumlpfen (Ti 69c5) Diesen ver-schiedenen Zusammenhaumlngen koumlnnen wir keine Umkehrung der Prio-ritaumlt der Seele gegenuumlber dem Koumlrper entnehmen Was sich mit einer anSicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ausschlieszligen laumlsst ist eine

39 S Burnyeat Myles Is An Aristotelian Philosophy of Mind Still CredibleA Draft In Nussbaum A M-Rorty (Hrsg) Essays on Aristotlersquos De AnimaOxford 1992 S 15-26 Hier S 16 Putnam Hilary The Threefold Cord MindBody and World New York 1999 S 97 Stephen Priest Theories of the MindLondon 1991 S 8-15 57 162)

40 Fronterotta Carone on the Mind-Body Problem41 Platon behandelt das Problem der Verbindung zwischen der Seele und dem

Koumlrper wie die Vermittlung durch das Mark beweist (Ti 73b-c) was wir abernicht als Beleg dafuumlr betrachten sollten dass Platon zum Vorlaumlufer von Descar-tes wird

42 Thomas Johansen begeht diesen Weg in seiner Timaios-Auslegung43 Vgl Mason Andrew Plato on the Self-Moving Soul In Philosophical

Inquiry 1998 S 18-28 Hier S 24 28

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 17

Herleitung des Koumlrperlichen aus dem Seelischen44 Diese Unterscheidungzwischen Koumlrper und Seele erlaubt es dem Dialektiker je nachZusammenhang die Seele qua Seele (so in der vorliegenden Passage der Ge-setze) und den Koumlrper qua Koumlrper (so im Timaios) zu betrachten ohne einereduktionistische Auslegung vorauszusetzen

Auf dieser Basis wird ein Reduktionismus des Koumlrpers auf die Seele aus-geschlossen Ausserdem unterstuumltzt der Wortlaut des Textes nicht das Ver-staumlndnis der ontologischen Prioritaumlt die Aristoteles in Metaph V11 an-spricht Es geht in unserem Kontext nicht darum was Aristoteles undAlexander als platonische Auffassung und akademisches Gut dar-stellen45 Als Kriterium der ontologischen Rangfolge wird dassbquoMitaufgehobenwerdenrsquo des Spaumlteren angegeben Demgemaumlszlig setzt dasontologisch Spaumltere das Fruumlhere voraus aber nicht umgekehrt Wenndas Fruumlhere aufgehoben wuumlrde wuumlrde auch das Spaumltere aufgehobenwas sich aber nicht umkehren laumlsst Soweit geht Platon bei der hiesigenBetrachtung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper jedoch nichtDie Rede von der sbquoAufnahmersquo der koumlrperlichen Bewegungen von denseelischen ist weniger mit einer ontologischen Prioritaumlt der Seele (wieoben dargelegt) als vielmehr mit einer Aufeinanderbezogenheit vonSeele und Koumlrper vertraumlglich

Um eine uumlber den Rahmen dieses Beitrags hinausgehende positive Louml-sung fuumlr Platons Leib-Seele-Dualismus zu entwickeln ist es noumltigeinige falsche Meinungen zu korrigieren wozu die obere Darlegung bei-traumlgt

iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Ar-gument

44 Pace England Edwin The Laws of Plato London 1921 Zweiter Band S476 der παραλαμβάνειν als lsquobring in their trainrsquo versteht In allen obenerwaumlhnten Zusammenhaumlngen ist klar dass das Aufgenommene nicht vomAufnehmenden geschaffen wird Die Uumlberlegenheit des letzteren bleibt davonunberuumlhrt

45 Vor allem in Arist Metaph V11 1019a2-4 vgl Alexander In AristotMetaph I 6 987b33 Gaiser Testimonium Platonicum 22B

18 Georgia Mouroutsou

Wir kehren zu unserem Text zuruumlck Da der Seele ontologische Prioritaumltgegenuumlber dem Koumlrper verliehen wird ist auch das der Seele Verwandteontologisch fruumlher als das was dem Koumlrper zugehoumlrt

raquoVerhaltensweisen aber und Gemuumltsarten Willensakte Schluss-folgerungen wahre Meinungen Fuumlrsorge und Erinnerungen duumlrftenfruumlher entstanden sein als koumlrperliche Laumlnge Breite Tiefe und Staumlrkewenn eben die Seele fruumlher als der Koumlrper entstanden sein solltelaquo46

Im Anschluss daran hilft uns der Athener nachzuvollziehen warumPlaton eben hier die sbquoschlechte Seelersquo einfuumlhrt Man muumlsse darin uumlberein-stimmen dass die Seele Ursache sowohl des Guten als auch des Boumlsendes Schoumlnen und des Schlechten des Gerechten und des Ungerechtenund aller Gegensaumltze sei

raquoIst es denn nicht noumltig darin uumlbereinzustimmen dass die Seele dieUrsache des Guten sowie des Schlechten des Schoumlnen sowie des Haumlszlig-lichen des Gerechten sowie des Ungerechten und uumlberhaupt allerGegensaumltze wenn wir sie als Ursache von allem setzenlaquo47

Diese Zeilen sind aumluszligerst wichtig weil hier und nicht erst in 896e4ffder Gegensatz von sbquogut und schlechtlsquo eingefuumlhrt wird Dem Argumentist vorgeworfen worden es sei schwach Unter den Kritikern verstehtStalley den Schluss auf folgende Weise lsquoSoul since it is the source ofeverything must be the source of valuesrsquo Er wundert sich dass Werteohne Begruumlndung und ohne Erklaumlrung ihrer Existenzweise eingefuumlhrtwerden48 Dementgegen werde ich eine wohlwollendere Annaumlherungvorschlagen Nach der Rekonstruktion des Arguments werde ich eineArt sbquoanthropozentrischer Wendelsquo in einen breiteren Kontext situieren

Wie er expliziert (896d8) zieht der Gast aus Athen diesen Schlussdaraus dass die Seele als Ursache von allem angesetzt worden ist Bevorwir diese Begruumlndung als einen Fehlschritt charakterisieren sollten wiruns zusammen mit Kleinias erinnern dass die sbquoSeelersquo die Veraumlnderungvon allem herbeifuumlhrt49 Mit Hilfe einer anderen Formulierung ist dieSeele raquodie Veraumlnderung und Bewegung von allem Seiendenlaquo50

46 Lg 896c9-d3 raquoΤρόποι δὲ καὶ ἤθη καὶ βουλήσεις καὶ λογισμοὶ καὶ δόξαιἀληθεῖς ἐπιμέλειαί τε καὶ μνῆμαι πρότερα μήκους σωμάτων καὶ πλάτους καὶβάθους καὶ ῥώμης εἴη γεγονότα ἄν εἰπερ καὶ ψυχὴ σώματοςlaquo

47 Lg 896d5-7 raquoἎρrsquo οὖν τὸ μετὰ τοῦτο ὁμολογεῖν ἀναγκαῖον τῶν τε ἀγαθῶναἰτίαν εἶναι ψυχὴν καὶ τῶν κακῶν καὶ καλῶν καὶ αἰσχρῶν δικαίων τε καὶ ἀδίκωνκαὶ πάντων τῶν ἐναντίων εἴπερ τῶν πάντων γε αὐτὴν θήσομεν αἰτίανlaquo

48 Stalley An Introduction S 172 49 Lg 892a6f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 19

Die Bewegung ist hier als Wechsel und Veraumlnderung (μεταβολή) in ih-ren weitesten Sinn zu verstehen seien sie im Raum in Bezug auf dieSubstanz die Qualitaumlt oder die Quantitaumlt Der Uumlbergang findet zwi-schen Gegensaumltzen statt Die ersten Paare von Gegensaumltzen die derAthener vor der Verallgemeinerung in 897d7 anspricht sind Ver-bindungen und Trennungen Wachstum und Schwund sowie Prozessedes Wedens und Vergehens (894b10f) Die Seele zeigt sich als dieUrsache von aller Art koumlrperlicher Veraumlnderung Wenn eine Seele einenWechsel von einem schlechten zu einem guten Zustand verursacht dannist diese Seele in sich selbst gut Wenn eine Seele einen schlechtenEinfluss auf einen Zustand uumlbt dann ist sie dafuumlr verantwortlich Es istbemerkenswert dass der Gegensatz zwischen sbquogutlsquo und sbquoschlechtlsquo nichtauf die Unterscheidung zwischen sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo oder diejenigezwischen sbquoseelischer Bewegunglsquo und sbquokoumlrperlicher Bewegunglsquo zu-ruumlckgefuumlhrt wird Der Koumlrper kann nicht als schlecht charakterisiertwerden weil nach dem spaumlten Platon der Koumlrper qua Koumlrper weder gutnoch schlecht in sich selbst ist

Wenn die Seele die Ursache von allem ist so der Athener dann musssie die Ursache von allen Gegensaumltzen sein einschlieszliglich des Bereichsder Ethik Die gleichen Gegensatzspaare von sbquogut und schlecht schoumlnund haumlszliglich sowie gerecht und ungerechtlsquo tauchen in Euthph 7c10ff alsder Zankapfel der menschlichen Debatten auf die vor Gericht gefuumlhrtwerden koumlnnen Auch in Grg 459d1ff gehoumlren sie zur rhetorischenKunst die kein Wissen daruumlber erwerben kann In Plt 296c5-7 erfahrenwir dass ein Irrtum im Rahmen der politischen Kunst das Schaumlndlichedas Schlechte und das Ungerechte verursacht Was der Rhetor verfehltweiszlig der Staatsmann Der goumlttliche Teil der menschlichen Seele mag einewahre Meinung uumlber Schoumlnes Gutes und Gerechtes stiften (Plt 309c5-8)

Indem die Seele fuumlr alle moumlglichen koumlrperlichen Veraumlnderungen ver-antwortlich gemacht wird gelangen wir in unserem Zusammenhang zuder Seele als der primaumlren Ursache auch des Schlechten und nichtaufgrund der Frage woher das Schlechte komme Der Athener machtnirgends explizit dass er die Seele als die einzige Ursache des Schlechtensei Bedenken sollte daher gegen Englands Beobachtung geaumluszligert wer-den in 896d5 werde die Frage nach dem Uumlbel eingefuumlhrt und insbe-

50 Lg 894c6f raquoκαλουμένην δὲ ὄντως τῶν ὄντων πάντων μεταβολὴν καὶκίνησινlaquo

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sondere gegen seine Folgerung lsquoHaving identified ψυχή with the αἰτίαἀγαθοῦ τε καὶ κακοῦ he is bound to talk of the αἰτία κακοῦ as ψυχήrsquo51

Auf das seelische Uumlbel konzentriert sich hier der Athener Verabsolutie-rende Konklusionen uumlber das Uumlbel schlechthin sind daher der Ge-spraumlchssituation nicht zu entnehmen Jedenfalls waumlre der bestimmte Ar-tikel noumltig vor αἰτίαν (sowohl in 896d6 als auch in d8)

Der Athener zielt darauf die Natur der Seele als die Ursache von allenGegensaumltzen auszulotten und fuumlhrt dann das Feld der menschlichenEthik ein ohne seinen Uumlbergang oder eher seine Einschraumlnkung zu er-klaumlren52 Die konkrete politische Situation in den Gesetzen bietet eineplausible Erklaumlrung fuumlr diesen Uumlbergang von der Seele qua Seele zurmenschlichen Seele Die Buumlrger von Magnesia sollten ihre Machtwahrnehmen sowohl zum Guten als auch zum Schlechten beizutragenAuszligerdem sollten sie die Verantwortung ihrer politischen Taumltigkeit ineinem kosmischen All uumlbernehmen das von einer guten Seele verwaltetwird Die primaumlre Ursache der Bewegung ist die Seele Beinahe waumlre dieSeele als Selbst-Bewegung ie ihre absolute Spontaneitaumlt als Bedingungihrer moralischen Verantwortung zum ersten Mal in der Geschichte derPhilosophie vorgekommen haumltte Platon diese Verbindung ausbuch-stabiert53

Eine Art Anthropozentrismus kommt in den spaumlteren platonischenSchriften vor Die Entscheidung ob wir dieses Konzept einer philoso-

51 Platorsquos Laws S 474 Auf aumlhnliche Weise auch Carone Evil and Teleology S295 Anm41

52 Mayhew argumentiert seinerseits dass es nicht darum gehe dass die Seeledie Ursache aller Dinge und daher sowohl schlechter wie guter Dinge sei DerInterpret meint die Seele sei fruumlher als der Koumlrper und in dieser Weise das Seeli-sche ndash einschlieszliglich der Moral ndash entsprechend fruumlher als das Koumlrperliche (PlatoLaws X S 131) Dennoch liegt die Pointe meines Erachtens nicht darin eineneingegrenzten Bereich ndash den der Ethik ndash anzusprechen sondern das Wesen derSeele als Ursache aller Gegensaumltze auszubuchstabieren was wiederum nichtheiszligt man sollte den Bereich der Moral voumlllig leugnen wie es Raphael Demostut lsquo[hellip] the soul is non-moral apt for both good and evil and so far forth inde-terminatersquo (Demosrsquo Hervorhebung Platorsquos Doctrine of the Psyche as a Self-Moving Motion In Journal of History of Philosophy (1968) S 133-145 HierS136)

53 Vgl Horn Christoph Der Begriff der Selbstbewegung bei Alkmaion undPlaton In Rechenauer Georg (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen2005 S 152-173 bes S 168ff und Baumgarten Hans-Ulrich Handlungstheoriebei Platon Platon auf dem Weg zum Willen Stuttgart 1998 S 241-264

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 21

phischen Kritik unterziehen sollten oden nicht mag hier dahingestelltbleiben Mit dem sbquoAnthropozentrismuslsquo bei Platon meine ich dass dasErschaffen des Weltalls auf der Basis einer Teleologie geschieht die aufden Menschen und seinen Beduumlrfnissen zentriert ist Man mag denTimaios heranziehen Der Anthropozentrismus scheint sich durch denganzen Monolog durchzusetzen in dem Timaios auf das Schaffen desMannes fokussiert ist Gemaumlszlig der Lehre der Wiedergeburt sind Frauenund Tiere schlechtere Formen von Lebewesen Es gibt zwei Passagendie als besonders anthropozentrisch gepraumlgt vorkommen Zum erstensind die Pflanzen um der Ernaumlhrung der sterblichen Lebewesen willengeschaffen worden (77e7-b1) Zum zweiten schafft der Demiurg dieuumlber das ganze All scheinende Sonne damit die dementsprechend aus-geruumlsteten Lebewesen an der Zahl teilnehmen nachdem sie von derBeobachtung der kosmischen Bewegung viel gelernt haben (39b2-c1)Um der Menschen und der Kultivierung der Philosophie willen schafftGott die Sonne und ermoumlglicht die Wahrnehmung der Sicht Dank desStudiums der himmlischen Bewegungen koumlnnen wir nach der Natur derZeit und des Alls fragen Auf diese Weise duumlrfen wir hoffen unsere ge-stoumlrte Bewegung der Vernunft der ungestoumlrten Bahn der kosmischenVernunft zu assimilieren (46e-47c 90c-d)

Wir haben die Kritik an der Einschraumlnkung im moralischen Bereichwiderlegt indem wir unseren unmittelbaren sowie weiteren Kontextberuumlcksichtigten Wegen des Fokuses auf den menschlichen Bereich unddie menschliche Seele geht die allgemeine Frage der Seele qua Seele nichtverloren Der Hintergrund der jetzigen Diskussion bleibt dieseallgemeine Fragestellung obgleich die menschliche Seele diejenige istdie sich gemaumlszlig der Vernunft oder gegen die Vernunft verhaumllt (897b1-5)Wir sollten die Unterscheidung zwischen weiteren kosmischen undmenschlichen Dimensionen bewahren wenn auch der spaumlte Platon denkosmischen Zusammenhang auf eine anthropozentrische oder sogar an-thropomorphische Weise beschreibt54 Es waumlre weder gerechtfertigtnoch legitim dass die Untersuchung uumlber die menschliche Seelediejenige uumlber die Seele qua Seele dominieren oder ausschoumlpfen wuumlrde

54 Zur Zentrierung des kosmischen Alls auf dem menschlichen Leben bei spauml-tem Platon s Carone Evil and Teleology S 296

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v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6

Von der allgemeinen Seelenlehre und der Seele qua Seele die bis dahindas Untersuchungsobjekt bildete gelangt der Athener jetzt zu einer be-sonderen Seele zur Weltseele Der Blickwechsel den der Athener imBereich seiner Betrachtung vollzieht sollte im Rahmen der platonischenSpaumltdialoge in denen Ontologie und Seelenlehre haumlufig in Kosmologiemuumlnden kein Erstaunen hervorrufen Als zwei Beispiele dafuumlr koumlnnender kosmologische Exkurs im Philebos (s oben Abschnitt I) und derUumlbergang von ψυχὴ πᾶσα (alles was Seele ist) zur Weltseele im Phaidros(245c5-246a2) gelten Was uumlber die Seele qua Seele gesagt wurde sollteauch im Fall der Weltseele Guumlltigkeit haben

raquoUnd weil die Seele in allem waltet und wohnt was sich auf ir-gendeine Weise bewegt muumlssen wir etwa nicht sagen dass sie auch denHimmel durchwaltelaquo55

Auf seine nur scheinbar unvermittelte und ploumltzliche Frage56 antwor-tet der Athener selbst

raquoEine oder mehrere Seelen Mehrere Ich werde fuumlr Euch antwortendass wir nicht weniger als zwei ansetzen sollten naumlmlich diejenige diedas Gute vervollkommnet und diejenige die faumlhig ist Entgegengesetztesdurchzufuumlhrenlaquo57

Dass der Athener im Namen seiner Gespraumlchspartner antwortet be-trachte ich als kein ausschlaggebendes Argument gegen die Realitaumlt einersbquoschlechten Weltseelersquo58 weil er sich noch auf die Seele qua Seele bezieht

55 Lg 896d10-e2 raquoΨυχὴν δὴ διοικοῦσαν καὶ ἐνοικοῦσαν ἐν ἅπασιν τοῖς πάντῃκινουμένοις μῶν οὐ καὶ τὸν οὐρανὸν ἀνάγκη διοικεῖν φάναιlaquo

56 Wilamowitz charakterisiert diese Frage zu Unrecht als sbquohereingeschneitlsquo(Platon II S 316) wogegen sich Kerschensteiner einsetzt (Platon und der Ori-ent S 73)

57 Lg 896e4-6 raquoΜίαν ἢ πλείους πλείους ἐγὼ ὑπέρ σφῷν ἀποκρινούμαι Δυοῖνμέν γέ που ἔλαττον μηδὲν τιθῶμεν τῆς τε εὐεργέτιδος καὶ τῆς τἀναντία δυναμένηςἐξεργάζεσθαιlaquo

58 Vgl Apelt Platons Gesetze S 539 Anm 48

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 23

Ist die Seele die das All verwaltet eine oder mehrere Haumltte Platon indi-viduelle Seelen ohne Bezug auf einen generellen Terminus sbquoSeelelsquo auf-zaumlhlen wollen haumltte er von mehr als zwei Seelen gesprochen Die Frageist sehr oft als Frage nach zwei Weltseelen verstanden worden Koumlnnteder Athener nicht die allgemeine Lehre der Seele qua Seele verlassen umsich auf die zwei partikulaumlren Weltseelen zu beziehen Dies haumltte derFall sein koumlnnen wenn die Weltseele mit Realitaumlt ausgestattet waumlre wassich aber nicht so verhaumllt Die oben genannte Frage kann nur die Seelequa Seele betreffen

Obgleich er haumlufig uumlberhoumlrt wird sollte der oben angewendete Dual beruumlcksichtigt werden weil er gegen ein Verstaumlndnis von zwei von-einander getrennten entgegengesetzten Seelen plaumldiert59 Auszliger demDual in 896e5 uumlberhoumlrt die Mehrheit der Interpreten hier noch etwasEntscheidendes Die der wohltaumltigen Seele entgegensetzte ist nicht eineeinfachhin und ohne Weiteres sbquoschlechte Seelersquo60 sondern die Seele raquodieimstande ist das Gegenteil zu bewirkenlaquo Genau in diesem Punkt uumlber-schneiden sich die allgemeine Seelenlehre nach der die Seele qua SeeleSelbstbewegung ist und als solche gut oder schlecht sein kann und diespezielle Lehre uumlber die kosmische Seele die ebenfalls qua Seele in derLage ist gut oder schlecht zu sein Deswegen sollten wir die Rede vonδύναμις in unserer Uumlbersetzung von sbquoτἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαιlsquo(Lg 896e6)61 nicht vernachlaumlssigen Die sbquoschlechte Seelelsquo wird nicht alseine bloszlige Privation der guten Seele eingefuumlhrt sondern als mit ihrereigenen Macht (δύναμις) ausgestattet Schlechtes zu bewirken62 als einenegative und destruktive Macht63

Wir sind dabei weit enfernt δύνασθαι mit einer aristotelischen sbquoerstenMoumlglichkeitlsquo zu identifizieren um die Ausscheidung einer schlechten

59 raquoDie Sprache hat die Dualform geschaffen nicht etwa um den Begriff derZahl zwei sondern um den Begriff der Zweiheit der paarweisenZusammengehoumlrigkeit auszudruumlckenlaquo (Wilhelm von Humboldt Uumlber denDualis Berlin 1828 S 18) Erst nach Platon als das Sprachgefuumlhl fuumlr die eigent-liche Bedeutung der Sprachformen an Lebendigkeit nachlieszlig bedeutete der Dualnicht selten den bloszligen Begriff sbquozweilsquo wobei die wahre und urspruumlngliche Naturdes Duals sich darin zeigt dass er entweder auf paarweise in der Natur verbun-dene Gegenstaumlnde angewendet wird oder auf solche welche in einer engen undgegenseitigen Beziehung gedacht werden (vgl Kuumlhner Raphael und FriedrichBlass Ausfuumlhrliche Grammatik der griechischen Sprache Zweiter Teil Satz-lehre Erster Teil Darmstadt 31966 S 69

60 Er spricht nur spaumlter von einer sbquoschlechten Seelersquo (897d1 vgl 898c4f)

24 Georgia Mouroutsou

Weltseele schon in den oberen Zeilen zu finden Nach dieser Lektuumlrewaumlre die zweite Art von Seele nur imstande Schlechtes durchzufuumlhrenaber wuumlrde nicht tatsaumlchlich so etwas tun Waumlre das der Fall warumsollte der Athener uumlberhaupt erst zwischen zwei Arten von Seele unter-scheiden In einem Kontext wo die Staumlrke die praktische Macht sowieEffizienz und Dominanz der Seele uumlberwiegen64 ist die Option einersbquoersten Moumlglichkeitlsquo keine gelungene Annahme65 Nur in dem Fall desgoumlttlichen Demiurgen koumlnnten wir eine solche sbquoerste Moumlglichkeitlsquo an-wenden die sich nie wirklich durchsetzen wird Trotz seiner Faumlhigkeites zu tun ist der Demiurg nicht bereit die guten Mischungen aufzuloumlsenund die kosmische Ordnung zugrunde zu richten Das Konzept einesDemiurgen der faumlhig ist beides zu tun sowohl Gutes als auch Schlech-tes ist fuumlr Platon undenkbar weil Gott wesentlich gut ist66 Zu-gegebenermaszligen waumlre es zu weitreichend all das in 896e5f hineinzule-sen und die zweite Art der Seele mit dem goumlttlichen Demiurgen zuidentifizieren

61 Der δύναμις-Aspekt geht verloren bei Plutarch der stattdessen von der gutwirkenden und der entgegengesetzten Seele spricht die das Gegenteil vollbringtDe Is Et Osir 370F4-6 raquoὧν τὴν μὲν ἀγαθουργόν εἶναι τὴν δrsquo ἐναντίαν ταύτῃ καὶτῶν ἐναντίων δημιουργόνlaquo Den wichtigen Bezug auf δύναμις verpassen Jowettlsquoone the author of good and the other of the evilrsquo (The Dialogues of Plato S466) sowie Grube Platorsquos Thought lsquoone that does good and one that does evilrsquo(Platorsquos Thought S 146)

Brisson spricht von der Neutralitaumlt der Seele die faumlhig ist gut oder schlecht zusein (Vernunft Natur und Gesetz im zehnten Buch von Platons Gesetzen InHavlicek Ales (Hrsg) The Republic and the Laws of Plato Proceedings of theFirst Symposium Plato Symposium Platonicum Pragense 1 (1997) S 182-200Hier S189) ohne diese Textstelle heranzuziehen

62 Das Verb ist sbquoἐξεργάζεσθαιlsquo das nicht nur das Schlechte bewirken sondern esauch vollenden heiszligt (vgl ἔργον sowohl in als auch in ἐξεργάζεσθαι)

63 Vgl Dillons allgemeine Folgerung uumlber das ontologische Problem desSchlechten bei Platon (Monist and Dualist Tendencies S 11) Der Fall einerschlechten Seele die nicht als Privation der guten Seele vorkommt sondern alsraquofaumlhig Schlechtes zu vollendenlaquo unterstuumltzt Dillons Konklusion dass diesbquoschlechte Seelelsquo eine negative zerstoumlrende Macht sei

64 Vgl die Charakterisierung der Seele in 894d1f 895b665 Dank der Beobachtung von David Sedley wurde es mir klar dass ich

unabsichtlich eine aristotelsiche sbquoerste Potenzialitaumltlsquo in einer fruumlheren Versionvorgeschlagen hatte

66 Vgl oben Fuszlignote 7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 25

Bevor wir zur allgemeinen platonischen Psychologie uumlbergehen er-waumlgen wir eine zweite moumlgliche Unterscheidung der Seele in 896e4-6Bis jetzt habe ich die Distinktion zwischen guter und schlechter Seele alsselbstverstaumlndlich betrachtet Eine vorsichtigere Lektuumlre ermoumlglicht einezweite Option naumlmlich die Unterscheidung zwischen derwohlwollenden Seele die immer das Gute vollendet und derjenigen diefaumlhig ist entgegengesetzte Dinge (Plural) durchzufuumlhren sowohl Gutesals auch Schlechtes (τῆς τἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαι) Die ersteSeele kann keine andere als die goumlttliche sein67 Fuumlr die zweite Seele istder einzige Kandidat die menschliche Seele Auszligerdem wuumlrde die Seeleder Tiere unter die Seele fallen die sowohl Gutes als auch Schlechtestun kann weil sie einen logischen Teil beinhaltet auch wenn deformiertDas Goumlttliche ist immer gut Die Pflanzen moumlgen gut sein insofern siein eine globale Teleologie integriert sind Sie wuumlrden aber nie als faumlhigcharakterisiert etwas Gutes oder noch weniger etwas Schlechtes zutun noch wuumlrden sie die Verantwortung fuumlr die herbeigefuumlhrten gutenoder schlechten Wirkungen tragen Wenn diese Lektuumlre als die einzigemoumlgliche aufgewiesen werden koumlnnte wuumlrden wir mit Sicherheit dieFrage nach der schlechten Seele auf spaumlter verschieben68

Wie es auch sein mag befinden wir uns noch im Rahmen derallgemeinen Lehre der Seele qua Seele als Selbstbewegung Die kosmi-sche Seele ist in 896e1f aufgetaucht aber die Unterscheidung zwischender guten und der schlechten Seele oder der goumlttlichen und men-schlichen Seele wird auf einer allgemeinen Ebene gezogen69 Obgleichder Athener nicht die theorethischen Anspruumlche des Sophistes erhebtsetzt er die allgemeine platonische Ontologie voraus dergemaumlszlig dasSeiende qua Seiendes δύναμις sei Das Kriterium fuumlr alles was Seiendesist sei es Intelligibles oder Koumlrperliches Koumlrper oder Seele ist das Ver-moumlgen zu tun oder zu leiden70 Die Erforschung der Seele als Seiendesverlangt daher die Frage nach ihrer Kraft und ihrem Vermoumlgen (Lg892a2f) Der Gast aus Athen bezieht sich stets auf die δύναμις-Ontolo-

67 Der Athener kann noch nicht die gute Seele als goumlttlich charakterisierenDas Argument hat noch nicht die Goumlttlichkeit der Seele bewiesen

68 Der kreative Charakter der Dialektik ermoumlglicht mehr als eine richtige Ein-teilung Zu diesem Aspekt s Plt 286d-e und Delcomminettes Monographie

69 Anders als Taylor der den Uumlbergang von 896e2 zu e4 durch die Praumlmisseder Aktualitaumlt des Guten und Schlechten in der gegenwaumlrtigen Welt verhilft (TheLaws S 289 Anm 1) sehe ich keinen Eintritt eines a posteriori Arguments adhoc Alles bisherige entnimmt der Athener der allgemeinen Seelenlehre

26 Georgia Mouroutsou

gie des Phaidros sowie des Sophistes Er stellt die Frage was die Seele istund was fuumlr ein Vermoumlgen sie hat οἷόν τε ὂν τυγχάνει καὶ δύναμιν ἣνἔχει71

Obwohl die Frage nach dem Tun (ποιεῖν) oder Leiden (πάσχειν) derSeele als δύναμις nicht explizit gestellt wird72 bringt ihre Definition alsSelbstbewegung ein gleichzeitiges Tun (als Bewegen) und Leiden (alsBewegtwerden) zum Ausdruck73 Die Seele ist die Kraft die sich selbstund anderes bewegt74 Die Definition der Seele als Selbstbewegung kannentweder als Aktivitaumlt oder Passivitaumlt ausgedruumlckt werden Die Seele be-wegt sich selbst und wird von sich selbst bewegt Ein gleichzeitiges Tunund Leiden das aber nicht das gleiche Seiende verursacht geschieht beikoumlrperlicher Bewegung Ein Koumlrper mag auf einen anderen Koumlrper wir-ken und zu gleicher Zeit kann er von einer Seele oder einem anderenKoumlrper bewegt werden aber nicht von sich selbst75

Platon gibt die Definition der Seele in ihrer Allgemeinheit d hunabhaumlngig von ihren moumlglichen Manifestationen in konkretenLebewesen Alles was Seele ist soll Selbstbewegung sein mag es sichum die Seele des Menschen oder des Tieres oder der Pflanze handelnWeil die individuellen Manifestationen der Seele nicht beruumlcksichtigtwerden fehlt bei der Formel der Definition τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴνκινεῖν κίνησιν (896a1f) auch der Bezug auf den Koumlrper den die jeweiligekonkrete Seele beseelt Im Falle der Absenz der Materie in einer Defini-

70 Der Vorschlag des Gastes aus Elea in Sph 247d-e wird nicht allgemein alsPlatons Vorschlag uumlber Ontologie gedeutet Sehr haumlufig beschraumlnken Exegetendas Seiende als δύναμις auf die ad loc Argumentation gegen die MaterialistenAuch wenn dieses Argument als Platons Argument charakterisiert wird bleibtes sehr umstritten ob es eine allgemeine Ontologie betrifft (Brown) oder in eineOntologie der Ideen einmuumlndet (Gerson Politis) Darauf gehe ich hier nicht ein

71 Lg 892a3 vgl Lg 894b8-c1 und 896a1f72 Der Athener bezieht sich auf Tun und Leiden nur in 894c5f und meint

wahrscheinlich sowohl Seelisches als auch Koumlrperliches mit dem die Seele har-monisiert

73 In Lg 894b8-c1 und 896a1f beantwortet der Athener seine Frage nach derArt des Vermoumlgens mit dem die Seele ausgestattet ist Der gesamteZusammenhang verbindet die Frage nach dem Wesen eines Seienden mit derFrage nach seinem Vermoumlgen

74 Lg 893c4f75 Gaiser fuumlhrt den Ausgleich zwischen Passivitaumlt und Aktivitaumlt in der selbst-

bewegenden Seele auf das Zusammenwirken der zwei platonischen Prinzipienzuruumlck (Platons Ungeschriebene Lehre S 195f)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 27

tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

28 Georgia Mouroutsou

Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

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tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 31

welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

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zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

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Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

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werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

42 Georgia Mouroutsou

abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

10 Georgia Mouroutsou

setzten und nachdem wir in ihnen Abscheu uumlber diese Missetaten erregthaumltten wir erst nachher die Gesetze aufstellten wie es sich gebuumlhrtlaquo19

ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platoni-sche Theorie der Bewegung

Kurz vor der Einfuumlhrung der schlechten Seele bezieht sich der Athenerexplizit auf den in 893b1-896b9 demonstrierten Vorrang der Seele uumlberden Koumlrper

raquoDenn wir duumlrften wohl richtig und vollguumlltig wahrhaftig undvollkommen gesagt haben dass fuumlr uns die Seele fruumlher entstand als derKoumlrper der Koumlrper aber an zweiter Stelle und spaumlter und beherrschtgemaumlszlig der Natur waumlhrend dagegen die Seele herrschtlaquo20

Platon gelingt es aus den Goumltterfrevlern ganz unterschiedlicherHerkunft ndash es sind Naturwissenschaftler Sophisten und Dichter darun-ter ndash einen einheitlichen Typus zu entwerfen der eine Prioritaumlt des Koumlr-pers ja noch mehr eine Derivation des Seelischen aus dem Koumlrperlichenvertritt21 Letztendlich plaumldiert er fuumlr einen materialistischen Reduktio-nismus der Form sbquoalles ist Koumlrperlsquo Eine Kosmogonie unterliegt seinerAuffassung gemaumlszlig der die Seele nach dem Koumlrper geschafft worden istDer Seele wird sowohl kausale als auch zeitliche Prioritaumlt zugesprochen

Nicht nur die Seele sondern alles was mit der Seele verbunden ist ndasheinschlieszliglich des Gesetzes und der Goumltter ndash werden nach dieser

19 Lg 887a3-8 raquoοὐ γάρ τι βραχὺς ὁ λόγος ἐκταθεὶς ἂν γίγνοιτο εἰ τοῖσινἐπιθυμοῦσιν ἀσεβεῖν τὰ μὲν ἀποδείξαιμεν μετρίως τοῖς λόγοις ὧν ἔφραζον δεῖν πέριλέγειν τὸν δὲ εἰς φόβον τρέψαιμεν τὰ δὲ δυσχεραίνειν ποιήσαντες ὅσα πρέπει μετὰταῦτα ἤδη νομοθετοῖμενlaquo Durch den Singular (887a6 τὸν δέ) bezieht sich derAthener auf denjenigen der die Anklage gegen die Glaumlubigen einbringt(886e8f)

20 Lg 896b10-c3 raquoὈρθῶς ἄρα καὶ κυρίως ἀληθέστατά τε καὶ τελεώταταεἰρηκότες ἂν εἶμεν ψυχὴν μὲν προτέραν γεγονέναι σώματος ἡμῖν σῶμα δὲδεύτερόν τε καὶ ὕστερον ψυχῆς ἀρχούσης ἀρχόμενον κατὰ φύσινlaquo

21 Es handelt sich um ein lsquoamalgam of several views rather than a single clear-cut doctrinersquo (Saunders Plato The Laws S 408) Glenn Morrow spricht vonlsquobody of ideasrsquo (The Cretan City Princeton 1960 S 480) Robert Muth nochtreffender von einer sbquomaterialistische[n] philosophische[n] κοινήlsquo der damaligenattischen Aufklaumlrungsbewegung (Studien zu Platons sbquoNomoirsquo X 885b2-899d3In Wiener Studien 69 (1956) S 140-153 Hier S 146)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 11

Auffassung als abgeleitet herabgesetzt Als abbildende Setzungenkoumlnnen sie die abgebildete Natur und Wahrheit nur verfehlen

raquo[hellip] er scheint Feuer und Wasser und Erde und Luft fuumlr das Erstevon allem zu halten und diese Dinge als sbquoNaturrsquo zu bezeichnen dieSeele aber fuumlr ein Spaumlteres aus diesen [Entstandenes]laquo22

Nun stellt der Athener seine Bewegungslehre dar mit der Absicht diePrioritaumlt der Seele zu beweisen23 Nach den sbquoPhilosophierendenlsquo24 lassensich die oumlrtlichen Bewegungen in sechs Arten unterteilen (1) Rotation(2) gleitende Bewegung (3) rollende Bewegung (4) Wachstum (5)Schwund (6) Zugrundegehen Dabei faumlllt das ontologische Werden (7)und Vergehen (8) als ein ausgezeichnetes Paar heraus da es ur-spruumlnglicher ist als die bisher entfalteten oumlrtlichen Bewegungsarten25

Die entscheidende Zweiteilung jedoch kommt erst am Ende der Auf-zaumlhlung zur Sprache Danach gibt es einerseits die koumlrperliche Be-wegung die als Fremdbewegung bestimmt wird (9) andererseits die alsSelbstbewegung definierte seelische Bewegung (10)26 Der Athener ver-steht den Namen sbquoSeelelsquo als den Namen dessen Definition sbquoSelbst-Be-wegunglsquo (895e10-896a2) erst nach der methodologischen Unter-scheidung zwischen dem Wesen und dessen Namen erfolgt (895d1-e9)Nach dieser Distinktion charakterisiert er die zweite Bewegung als sbquokoumlr-perlichlsquo (896b4-8) sbquoKoumlrperlsquo ist der Name dessen Definition dieFremdbewegung ist (896b10-c3)

Erst gemaumlszlig dieser Einteilung koumlnnen alle bereits aufgezaumlhltenraumlumlichen Bewegungsarten als seelisch oder koumlrperlich verstandenwerden Anders als Pietsch27 finde ich keinen Textbeleg nach dem dieSelbstbewegung im Gegensatz zu den raumlumlichen Arten der Fremdbe-wegung unraumlumlich sein soll Pietsch argumentiert dass das ganze dihai-

22 Lg 891c1-4 Eine aumlhnliche sbquoAll-Thesersquo vertreten die materialistisch ver-anlagten Ontologen im Rahmen der sbquoRiesenschlachtlsquo im Sophistes bevor ihnender Gast aus Elea durch seinen δύναμις-Vorschlag zur Hilfe kommt ImGegensatz zu den Ideenfreunden die schon mit der Unterscheidung zwischenSein und Werden auftreten macht nach den Materialisten ausschlieszliglich derKoumlrper das Sein aus (Sph 246b1)

23 Auf diese Weise begruumlndet der Gast alle vorgebrachten Auflistungen derGuumlter nach denen der Vorrang immer seelischen und nicht koumlrperlichen Guumlternbeigemessen wurde Vgl Lg 631b-c 661a ff 688a-b 697a-c 726a-729a 743e

24 So werden die Vertreter der Prioritaumlt der Seele ausgezeichnet Lg 967c8 (diezweite und letzte Erwaumlhnung von Philosophie in den Gesetzen auszliger in Lg857d2)

12 Georgia Mouroutsou

retische Stemma sbquonur raumlumliche Bewegungsartenlsquo bieten kann weil derAthener von der Physik des Gegners ausgeht28 Platon offenbart jedochein Stuumlck von seiner eigenen Philosophie immer dann wenn er seinesbquoGegnerrsquo verbessert seien es die Herakliteer im Theaitetos die Materia-listen des Sophistes oder diejenigen der Gesetze Das Platonische derRaumlumlichkeit der seelischen Bewegung erklaumlrt auszligerdem Timaios fuumlrguumlltig der der Weltseele raumlumliche Bewegung beimisst Zur Bekraumlf-tigung dient daruumlber hinaus die aristotelische Kritik am platonischenVerstaumlndnis der Selbstbewegung als raumlumlicher Bewegung (de an I3)

Dass der Bewegung in der spaumlteren platonischen Philosophie einegrundlegende Rolle zukommt zeigen neben dem Timaios die DialogeSophistes und der Theaitetos Im Sophistes wird das ausgezeichnete so-wohl bewegte als auch im Stillstand befindliche Sein der Idee qua Ideebehandelt Im Theaitetos werden heraklitische Allbewegungs-Modelleim Bereich der Wahrnehmung kritisiert Im Timaios wird die Bewegungin ihrer ganzen kosmologischen Tragweite ausgelotet In dem letztenDialog zeigt Platon seine Aneignung und Transformation des Herakli-

25 Gemaumlszlig der Aufzaumlhlung Konrad Gaisers (Platons Ungeschriebene LehreStuttgart 19983 S 176f) und ohne Besprechung der immensen einzelnen Pro-bleme Die ontologische γένεσις uumlber die Linie und Flaumlche bis hin zumdreidimensionalen Koumlrper (894a2-5) gilt als noch urspruumlnglicher als die vorhererwaumlhnten raumlumlichen Bewegungsarten (893c1f) Dieser Primat unterscheidetsich von Aristotelesrsquo Auffassung wie die Kritik des Stagiriten belegt (GC I2315a29ff) Der Bewegungskatalog ist von grundlegender Bedeutung fuumlr das Ver-staumlndnis der Prioritaumlt der Seele Hier begnuumlge ich mich mit der Hervorhebungder Beitraumlge von Gaiser und Solmsen (Aristotlersquos System of the Physical WorldA Comparison With His Predecessors New York 1960) Gaiser hat den sys-tematischen Charakter der Aufzaumlhlung der Bewegungsarten in Verbindung zuder indirekten Uumlberlieferung ausgearbeitet (Platons Ungeschriebene Lehre S173-186) Man folgt oft seiner Interpretation der besonders dunklen Stelle Lg894a1-8 und zwar mit oder ohne explizite Erwaumlhnung seines Beitrags zum Bei-spiel Pietsch C Die Dihairesis der Bewegung hier S 316 Anm 45 SchoumlpsdauK Platon Werke in Acht Baumlnden Griechisch und Deutsch Achter Band Zwei-ter Teil Platon Gesetze Buch VII-XII Minos Darmstadt 20054 S 291 Anm 26Mayhew R Plato Laws X Oxford 2008 S 112ff Solmsen (Aristotlersquos System)bietet seinerseits eine sehr ausgewogene Hermeneutik der platonischen undaristotelischen Bewegungslehre an die gegenuumlber der neueren oft hinter ihrzuruumlckbleibenden Forschung noch immer als exemplarisch gelten sollte

26 Lg 894b8-c1 894c3-827 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 304 und oumlfters28 Ebd S 320

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 13

tismus im Bereich der Ontologie des Wahrnehmbaren auf (48eff) des-sen Ausarbeitung nach wie vor eine Aufgabe fuumlr die Platon-Forschungdarstellt

Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich dass sbquoKoumlrperrsquo undsbquoSeelersquo als verschiedene Arten von Bewegung aufgefasst werden Hiersehe ich keine Verwirrung bei Platon zwischen einer Bewegungsart(Selbstbewegung) und der Seele als unabhaumlngiger Substanz Anders alsRichard Stalley29 verstehe ich sowohl die Selbstbewegung als auch dieSeele qua Seele als auf einen Koumlrper bezogen wenn auch unabhaumlngigvom jeweiligen Koumlrper gedacht und definiert Sogar die schlechte Welt-seele bliebe somit bezogen auf den Weltkoumlrper waumlre sie real

iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer an-tiken Auffassung

Halten wir inne Der Seele wird eine Art Prioritaumlt beigemessen die sichauf die in ihrer Definition widergespiegelte Natur als Selbstbewegungstuumltzt Als solche zeigt sich die Seele qua Seele und unabhaumlngig von allihren konkreten Manifestationen als aumllter wirksamer und maumlchtiger un-ter allen Bewegungen Und nicht nur dies Sie zeigt sich auch als dieeigentliche Bewegung und Veraumlnderung alles anderen Seienden30 Wirbefinden uns also im Rahmen der Problematik des Leib-Seele-Dualis-mus der neben dem Dualismus von Idee und Erscheinung der alssbquoZwei-Welten-Lehrelsquo beruumlhmt bzw beruumlchtigt wurde sowie dem in derAntike und Moderne debattierten Dualismus der zwei platonischenPrinzipien weitlaumlufig Karriere in der Geschichte des Platonismusgemacht hat31

29 Stalley An Introduction to Platorsquos Laws Oxford 1983 S 171f30 Lg 894c6f31 Die Tatsache dass hier die zwei letzteren Arten von Dualismus nicht vor-

kommen bedeutet keinesfalls dass der alte resignierte Platon seine Ideen- oderPrinzipienlehre aufgegeben habe (so Muumlller Gerhard Studien zu den Platoni-schen Nomoi Muumlnchen 1951 19682 aumlhnlich Rist Eros and Psyche S 87ff)Auf die platonische Ideenlehre weist der Gast als auf einen wesentlichen Teil derErziehung der sbquonaumlchtlichen Versammlungrsquo hin (Lg 965b-966b) Hier sei dieschwierigere Frage dahingestellt inwieweit die angedeutete Lehre der klassi-schen Ideenlehre der mittleren Dialoge entspricht

14 Georgia Mouroutsou

Platon problematisiert den Leib-Seele Dualismus nicht nur aufgrundder allgemeinen Frage nach sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo sondern auch weil erauf der moumlglichen Interaktion zwischen der intelligiblen Seele (derSonne) und ihrem wahrnehmbaren Koumlrper reflektiert (in Lg 898e8-899a4)32 Obgleich wir nicht viel Positives uumlber die platonische Auffas-sung der Art der Beziehung zwischen Koumlrper und Seele aussagenkoumlnnen sind wir damit doch imstande auf entschiedene Weise einigesauszuschlieszligen Wir werden mit dem Materialismus und dem Mentalis-mus anfangen die mit weniger Muumlhe abgelehnt werden koumlnnen als derso charakterisierte sbquorobuster Dualismuslsquo dem wir uns anschlieszligendwidmen

Die These des Materialismus wonach das Seelische auf Koumlrperlicheszuruumlckzufuumlhren sei gewinnt nicht die Oberhand in diesem KontextDie Materialisten bleiben die Gegner des Atheners durch das ganze Ar-gument hindurch Noch modifizierte Materialisten finden einen Belegfuumlr ihre These dass das Seelische unsichtbares Koumlrperliches sei Neu-erdings hat Gabriela Carone diese Auffassung des sbquomodifizierten Mate-rialismuslsquo als genuin platonisch vertreten33 was eine gerechtfertigteReaktion von Francesco Fronterotta hervorgerufen hat34 Bei ihrem Ver-such die Materialitaumlt der Seele aufzuweisen begeht Carone einengrundsaumltzlichen Fehler Sie geht ohne jede Argumentation von der Moumlg-lichkeit eines unsichtbaren Koumlrpers zu einem Verstaumlndnis der Seele alskoumlrperlich uumlber35 Die Ausdehnung sei (nach Platon) wesentliche Eigen-schaft des Koumlrperlichen Weil sie raumlumlich ist muumlsste die Seele daher ir-gendeine Art koumlrperlicher Natur besitzen Carone gibt zu lsquoOf course

32 Die Stelle charakterisiert Thomas Robinson als lsquoa splendid memorial to his[Platorsquos] intellectual honestyrsquo (The Defining Features of Mind-Body Dualism inthe Writings of Plato In John Wright und Paul Potter (Hrsg) Psyche andSoma Physicians and Metaphysicians on the Mind-Body Problem From Antiq-uity to Enlightenment S 37-55 Hier S 55) lsquoTo the end he is wrestling with theproblem that lies at the heart of all psycho-physical dualism the problem ofrelating a physical substance to an immaterial one and to the end he openlyadmits his bafflementrsquo (ebd)

33 Carone Gabriela Mind and Body in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichteder Philosophie 87 (2005) S 227-269 Hier S 256f

34 Fronterotta schmaumllert gewisse Staumlrken des Argumentes von Carone undbringt daher die platonische Methode der sbquoVerbesserungrsquo des Gegners in diesemFall der Materialisten nicht zur Anwendung (Fronterotta Fransesco Carone onthe Mind-Body Problem in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichte der Philoso-phie 89 (2007) S 231-236)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 15

there is still a gap to be filled between spatial extension and corporeal-ityrsquo36 Trotz ihres Zugestaumlndnisses fuumlllt Carone diese Luumlcke leider nichtund offenbart auf diese Weise ihre nicht hinterfragte (oder bei Platonnicht bewaumlhrte) Cartesianische Praumlmisse37

Noch belegt unser Zusammenhang das andere Extrem einer ArtMentalismus nach dem das Koumlrperliche vom Seelischen ableitbar istSowohl die Darstellung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper alszwischen Ganzem und Teil (Chrm 156dff) als auch die oumlrtliche Meta-pher der den Koumlrper umhuumlllenden Seele (Ti 36e3f und Lg 898d11-e238)eroumlffnen dennoch den Raum fuumlr eine solche Auffassung Dennoch un-terstuumltzt der Kontext in den Gesetzen nicht diese Auffassung Anders alsder materialistisch gepraumlgte Typus vertreten die sbquoPhilosophierendenlsquokeine reduktionistische These was nicht nur den Materialismus sondernauch den Mentalismus ausschliesst

In modernen Diskussionen des Leib-Seele-Problems wird Platon allzuoft als Vertreter eines sbquorobusten Dualismuslsquo dargestellt39 Demgemaumlszlighandelt es sich bei Seele und Koumlrper um zwei selbststaumlndige vonei-nander abgetrennte Substanzen die erst nachtraumlglich vereinigt werden

35 Carone Mind and Body S 237 die Voraussetzungen eines solchen Ver-staumlndnisses hat Fronterotta ans Licht gebracht Carone on the Mind-Body Pro-blem S 233

36 Carone Mind and Body S 240 Anm 4337 Vgl Carones selbstverstaumlndliche Redeweise lsquospatial or material conditionsrsquo

lsquobody and spacersquo lsquospace and bodyrsquo Mind and Body S 264 Zu einer einsichtige-ren Unterscheidung der Arten vom Dualismus bei Platon und Descartes sSarah Broadie Soul and Body in Plato and Descartes In The AristotelianSociety 101 (2001) S 295-308

38 Die zweite zaumlhlt Robinson nicht mit auf The Defining Features of Mind-Body Dualism S 40 Anm 12 Lg 898d11-e2 hat mehrere Deutungen undUumlbersetzungen veranlasst Περιφύειν wird mit aumlhnlicher Bedeutung in R 612aangewendet (sbquoherum- oder anwachsenlsquo) Diese Metapher in den Gesetzen undderen Uumlbersetzung verfehlen Otto Apelt Platons Gesetze Zweiter Band Leip-zig 1916 S 419 Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 S 163 mit Anm 2 Robin Leacuteon Oeuvres completesPlaton Paris 1950 Zweiter Band S 1025 richtig verstehen die Stelle JowettBenjamin The Dialogues of Plato Oxford 41953 S 468f Taylor Alfred E TheLaws of Plato London 21960 S 291 Muumlller Studien S 92 Anm 1 Bury Rob-ert Plato with an English Translation IX and X Laws London-New York1952 S 346 mit Anm Saunders Plato The Laws S 430 Cooper John (Hrsg)Plato Complete Works Cambridge 1997 S 1555 Mayhew Plato Laws X S29

16 Georgia Mouroutsou

muumlssen was hier nicht ausdruumlcklich widerlegt wird Neuerdings hatFronterotta diese Auffassung vertreten40 wobei auch seine Deutung aufzwei unaufhebbaren Schwierigkeiten im Timaios stoumlszligt Zum ersten istdie Weltseele raumlumlich ausgedehnt Zum zweiten ist sie das Produkteiner Mischung was nicht nur Carones These widerlegt dass die Seelekoumlrperlich sei ndash da hat Fronterotta Recht ndash sondern auch gegen einen ab-soluten unuumlberbruumlckbaren Gegensatz zwischen einer rein rationalerSeele und dem Weltkoumlrper plaumldiert41

Auf dem ersten Blick scheint unser Kontext in den Gesetzen nicht aufexplizite Weise den weit verbreiteten Vorschlag eines Substanz-Dualis-mus abzuweisen Weil sich aber in diesem Zusammenhang sowohl dieseelische als auch die koumlrperliche Bewegung im Raum vollziehen (Lg893c1f) ist die Dimensionalitaumlt keinesfalls ausschlieszliglich dem Koumlrperzugeordnet was sich wiederum mit einem starren Dualismus nicht ver-traumlgt42

Jedenfalls ist ein gewisser Dualismus insofern nicht zu uumlbergehen alsdie seelische Bewegung die koumlrperliche nicht produzieren kann43 NachLg 896e8-897b4 sbquonehmenrsquo die seelischen als die primaumlren Bewegungendie sekundaumlren koumlrperlichen sbquoaufrsquo Das gleiche Verb (παραλαμβάνειν897a5) wendet auch der Timaios an Der Demiurg nimmt das auf unge-ordnete und fast verbrecherische Weise bewegte Wahrnehmbare sowiespaumlter im Dialog das was ἀνάγκη bewirkt (68e3) auf Die unterstehendenGottheiten nehmen ihrerseits den rationalen Teil der Seele auf um ihn mitdem sterblichen Teil im Koumlrper zu verknuumlpfen (Ti 69c5) Diesen ver-schiedenen Zusammenhaumlngen koumlnnen wir keine Umkehrung der Prio-ritaumlt der Seele gegenuumlber dem Koumlrper entnehmen Was sich mit einer anSicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ausschlieszligen laumlsst ist eine

39 S Burnyeat Myles Is An Aristotelian Philosophy of Mind Still CredibleA Draft In Nussbaum A M-Rorty (Hrsg) Essays on Aristotlersquos De AnimaOxford 1992 S 15-26 Hier S 16 Putnam Hilary The Threefold Cord MindBody and World New York 1999 S 97 Stephen Priest Theories of the MindLondon 1991 S 8-15 57 162)

40 Fronterotta Carone on the Mind-Body Problem41 Platon behandelt das Problem der Verbindung zwischen der Seele und dem

Koumlrper wie die Vermittlung durch das Mark beweist (Ti 73b-c) was wir abernicht als Beleg dafuumlr betrachten sollten dass Platon zum Vorlaumlufer von Descar-tes wird

42 Thomas Johansen begeht diesen Weg in seiner Timaios-Auslegung43 Vgl Mason Andrew Plato on the Self-Moving Soul In Philosophical

Inquiry 1998 S 18-28 Hier S 24 28

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 17

Herleitung des Koumlrperlichen aus dem Seelischen44 Diese Unterscheidungzwischen Koumlrper und Seele erlaubt es dem Dialektiker je nachZusammenhang die Seele qua Seele (so in der vorliegenden Passage der Ge-setze) und den Koumlrper qua Koumlrper (so im Timaios) zu betrachten ohne einereduktionistische Auslegung vorauszusetzen

Auf dieser Basis wird ein Reduktionismus des Koumlrpers auf die Seele aus-geschlossen Ausserdem unterstuumltzt der Wortlaut des Textes nicht das Ver-staumlndnis der ontologischen Prioritaumlt die Aristoteles in Metaph V11 an-spricht Es geht in unserem Kontext nicht darum was Aristoteles undAlexander als platonische Auffassung und akademisches Gut dar-stellen45 Als Kriterium der ontologischen Rangfolge wird dassbquoMitaufgehobenwerdenrsquo des Spaumlteren angegeben Demgemaumlszlig setzt dasontologisch Spaumltere das Fruumlhere voraus aber nicht umgekehrt Wenndas Fruumlhere aufgehoben wuumlrde wuumlrde auch das Spaumltere aufgehobenwas sich aber nicht umkehren laumlsst Soweit geht Platon bei der hiesigenBetrachtung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper jedoch nichtDie Rede von der sbquoAufnahmersquo der koumlrperlichen Bewegungen von denseelischen ist weniger mit einer ontologischen Prioritaumlt der Seele (wieoben dargelegt) als vielmehr mit einer Aufeinanderbezogenheit vonSeele und Koumlrper vertraumlglich

Um eine uumlber den Rahmen dieses Beitrags hinausgehende positive Louml-sung fuumlr Platons Leib-Seele-Dualismus zu entwickeln ist es noumltigeinige falsche Meinungen zu korrigieren wozu die obere Darlegung bei-traumlgt

iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Ar-gument

44 Pace England Edwin The Laws of Plato London 1921 Zweiter Band S476 der παραλαμβάνειν als lsquobring in their trainrsquo versteht In allen obenerwaumlhnten Zusammenhaumlngen ist klar dass das Aufgenommene nicht vomAufnehmenden geschaffen wird Die Uumlberlegenheit des letzteren bleibt davonunberuumlhrt

45 Vor allem in Arist Metaph V11 1019a2-4 vgl Alexander In AristotMetaph I 6 987b33 Gaiser Testimonium Platonicum 22B

18 Georgia Mouroutsou

Wir kehren zu unserem Text zuruumlck Da der Seele ontologische Prioritaumltgegenuumlber dem Koumlrper verliehen wird ist auch das der Seele Verwandteontologisch fruumlher als das was dem Koumlrper zugehoumlrt

raquoVerhaltensweisen aber und Gemuumltsarten Willensakte Schluss-folgerungen wahre Meinungen Fuumlrsorge und Erinnerungen duumlrftenfruumlher entstanden sein als koumlrperliche Laumlnge Breite Tiefe und Staumlrkewenn eben die Seele fruumlher als der Koumlrper entstanden sein solltelaquo46

Im Anschluss daran hilft uns der Athener nachzuvollziehen warumPlaton eben hier die sbquoschlechte Seelersquo einfuumlhrt Man muumlsse darin uumlberein-stimmen dass die Seele Ursache sowohl des Guten als auch des Boumlsendes Schoumlnen und des Schlechten des Gerechten und des Ungerechtenund aller Gegensaumltze sei

raquoIst es denn nicht noumltig darin uumlbereinzustimmen dass die Seele dieUrsache des Guten sowie des Schlechten des Schoumlnen sowie des Haumlszlig-lichen des Gerechten sowie des Ungerechten und uumlberhaupt allerGegensaumltze wenn wir sie als Ursache von allem setzenlaquo47

Diese Zeilen sind aumluszligerst wichtig weil hier und nicht erst in 896e4ffder Gegensatz von sbquogut und schlechtlsquo eingefuumlhrt wird Dem Argumentist vorgeworfen worden es sei schwach Unter den Kritikern verstehtStalley den Schluss auf folgende Weise lsquoSoul since it is the source ofeverything must be the source of valuesrsquo Er wundert sich dass Werteohne Begruumlndung und ohne Erklaumlrung ihrer Existenzweise eingefuumlhrtwerden48 Dementgegen werde ich eine wohlwollendere Annaumlherungvorschlagen Nach der Rekonstruktion des Arguments werde ich eineArt sbquoanthropozentrischer Wendelsquo in einen breiteren Kontext situieren

Wie er expliziert (896d8) zieht der Gast aus Athen diesen Schlussdaraus dass die Seele als Ursache von allem angesetzt worden ist Bevorwir diese Begruumlndung als einen Fehlschritt charakterisieren sollten wiruns zusammen mit Kleinias erinnern dass die sbquoSeelersquo die Veraumlnderungvon allem herbeifuumlhrt49 Mit Hilfe einer anderen Formulierung ist dieSeele raquodie Veraumlnderung und Bewegung von allem Seiendenlaquo50

46 Lg 896c9-d3 raquoΤρόποι δὲ καὶ ἤθη καὶ βουλήσεις καὶ λογισμοὶ καὶ δόξαιἀληθεῖς ἐπιμέλειαί τε καὶ μνῆμαι πρότερα μήκους σωμάτων καὶ πλάτους καὶβάθους καὶ ῥώμης εἴη γεγονότα ἄν εἰπερ καὶ ψυχὴ σώματοςlaquo

47 Lg 896d5-7 raquoἎρrsquo οὖν τὸ μετὰ τοῦτο ὁμολογεῖν ἀναγκαῖον τῶν τε ἀγαθῶναἰτίαν εἶναι ψυχὴν καὶ τῶν κακῶν καὶ καλῶν καὶ αἰσχρῶν δικαίων τε καὶ ἀδίκωνκαὶ πάντων τῶν ἐναντίων εἴπερ τῶν πάντων γε αὐτὴν θήσομεν αἰτίανlaquo

48 Stalley An Introduction S 172 49 Lg 892a6f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 19

Die Bewegung ist hier als Wechsel und Veraumlnderung (μεταβολή) in ih-ren weitesten Sinn zu verstehen seien sie im Raum in Bezug auf dieSubstanz die Qualitaumlt oder die Quantitaumlt Der Uumlbergang findet zwi-schen Gegensaumltzen statt Die ersten Paare von Gegensaumltzen die derAthener vor der Verallgemeinerung in 897d7 anspricht sind Ver-bindungen und Trennungen Wachstum und Schwund sowie Prozessedes Wedens und Vergehens (894b10f) Die Seele zeigt sich als dieUrsache von aller Art koumlrperlicher Veraumlnderung Wenn eine Seele einenWechsel von einem schlechten zu einem guten Zustand verursacht dannist diese Seele in sich selbst gut Wenn eine Seele einen schlechtenEinfluss auf einen Zustand uumlbt dann ist sie dafuumlr verantwortlich Es istbemerkenswert dass der Gegensatz zwischen sbquogutlsquo und sbquoschlechtlsquo nichtauf die Unterscheidung zwischen sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo oder diejenigezwischen sbquoseelischer Bewegunglsquo und sbquokoumlrperlicher Bewegunglsquo zu-ruumlckgefuumlhrt wird Der Koumlrper kann nicht als schlecht charakterisiertwerden weil nach dem spaumlten Platon der Koumlrper qua Koumlrper weder gutnoch schlecht in sich selbst ist

Wenn die Seele die Ursache von allem ist so der Athener dann musssie die Ursache von allen Gegensaumltzen sein einschlieszliglich des Bereichsder Ethik Die gleichen Gegensatzspaare von sbquogut und schlecht schoumlnund haumlszliglich sowie gerecht und ungerechtlsquo tauchen in Euthph 7c10ff alsder Zankapfel der menschlichen Debatten auf die vor Gericht gefuumlhrtwerden koumlnnen Auch in Grg 459d1ff gehoumlren sie zur rhetorischenKunst die kein Wissen daruumlber erwerben kann In Plt 296c5-7 erfahrenwir dass ein Irrtum im Rahmen der politischen Kunst das Schaumlndlichedas Schlechte und das Ungerechte verursacht Was der Rhetor verfehltweiszlig der Staatsmann Der goumlttliche Teil der menschlichen Seele mag einewahre Meinung uumlber Schoumlnes Gutes und Gerechtes stiften (Plt 309c5-8)

Indem die Seele fuumlr alle moumlglichen koumlrperlichen Veraumlnderungen ver-antwortlich gemacht wird gelangen wir in unserem Zusammenhang zuder Seele als der primaumlren Ursache auch des Schlechten und nichtaufgrund der Frage woher das Schlechte komme Der Athener machtnirgends explizit dass er die Seele als die einzige Ursache des Schlechtensei Bedenken sollte daher gegen Englands Beobachtung geaumluszligert wer-den in 896d5 werde die Frage nach dem Uumlbel eingefuumlhrt und insbe-

50 Lg 894c6f raquoκαλουμένην δὲ ὄντως τῶν ὄντων πάντων μεταβολὴν καὶκίνησινlaquo

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sondere gegen seine Folgerung lsquoHaving identified ψυχή with the αἰτίαἀγαθοῦ τε καὶ κακοῦ he is bound to talk of the αἰτία κακοῦ as ψυχήrsquo51

Auf das seelische Uumlbel konzentriert sich hier der Athener Verabsolutie-rende Konklusionen uumlber das Uumlbel schlechthin sind daher der Ge-spraumlchssituation nicht zu entnehmen Jedenfalls waumlre der bestimmte Ar-tikel noumltig vor αἰτίαν (sowohl in 896d6 als auch in d8)

Der Athener zielt darauf die Natur der Seele als die Ursache von allenGegensaumltzen auszulotten und fuumlhrt dann das Feld der menschlichenEthik ein ohne seinen Uumlbergang oder eher seine Einschraumlnkung zu er-klaumlren52 Die konkrete politische Situation in den Gesetzen bietet eineplausible Erklaumlrung fuumlr diesen Uumlbergang von der Seele qua Seele zurmenschlichen Seele Die Buumlrger von Magnesia sollten ihre Machtwahrnehmen sowohl zum Guten als auch zum Schlechten beizutragenAuszligerdem sollten sie die Verantwortung ihrer politischen Taumltigkeit ineinem kosmischen All uumlbernehmen das von einer guten Seele verwaltetwird Die primaumlre Ursache der Bewegung ist die Seele Beinahe waumlre dieSeele als Selbst-Bewegung ie ihre absolute Spontaneitaumlt als Bedingungihrer moralischen Verantwortung zum ersten Mal in der Geschichte derPhilosophie vorgekommen haumltte Platon diese Verbindung ausbuch-stabiert53

Eine Art Anthropozentrismus kommt in den spaumlteren platonischenSchriften vor Die Entscheidung ob wir dieses Konzept einer philoso-

51 Platorsquos Laws S 474 Auf aumlhnliche Weise auch Carone Evil and Teleology S295 Anm41

52 Mayhew argumentiert seinerseits dass es nicht darum gehe dass die Seeledie Ursache aller Dinge und daher sowohl schlechter wie guter Dinge sei DerInterpret meint die Seele sei fruumlher als der Koumlrper und in dieser Weise das Seeli-sche ndash einschlieszliglich der Moral ndash entsprechend fruumlher als das Koumlrperliche (PlatoLaws X S 131) Dennoch liegt die Pointe meines Erachtens nicht darin eineneingegrenzten Bereich ndash den der Ethik ndash anzusprechen sondern das Wesen derSeele als Ursache aller Gegensaumltze auszubuchstabieren was wiederum nichtheiszligt man sollte den Bereich der Moral voumlllig leugnen wie es Raphael Demostut lsquo[hellip] the soul is non-moral apt for both good and evil and so far forth inde-terminatersquo (Demosrsquo Hervorhebung Platorsquos Doctrine of the Psyche as a Self-Moving Motion In Journal of History of Philosophy (1968) S 133-145 HierS136)

53 Vgl Horn Christoph Der Begriff der Selbstbewegung bei Alkmaion undPlaton In Rechenauer Georg (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen2005 S 152-173 bes S 168ff und Baumgarten Hans-Ulrich Handlungstheoriebei Platon Platon auf dem Weg zum Willen Stuttgart 1998 S 241-264

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 21

phischen Kritik unterziehen sollten oden nicht mag hier dahingestelltbleiben Mit dem sbquoAnthropozentrismuslsquo bei Platon meine ich dass dasErschaffen des Weltalls auf der Basis einer Teleologie geschieht die aufden Menschen und seinen Beduumlrfnissen zentriert ist Man mag denTimaios heranziehen Der Anthropozentrismus scheint sich durch denganzen Monolog durchzusetzen in dem Timaios auf das Schaffen desMannes fokussiert ist Gemaumlszlig der Lehre der Wiedergeburt sind Frauenund Tiere schlechtere Formen von Lebewesen Es gibt zwei Passagendie als besonders anthropozentrisch gepraumlgt vorkommen Zum erstensind die Pflanzen um der Ernaumlhrung der sterblichen Lebewesen willengeschaffen worden (77e7-b1) Zum zweiten schafft der Demiurg dieuumlber das ganze All scheinende Sonne damit die dementsprechend aus-geruumlsteten Lebewesen an der Zahl teilnehmen nachdem sie von derBeobachtung der kosmischen Bewegung viel gelernt haben (39b2-c1)Um der Menschen und der Kultivierung der Philosophie willen schafftGott die Sonne und ermoumlglicht die Wahrnehmung der Sicht Dank desStudiums der himmlischen Bewegungen koumlnnen wir nach der Natur derZeit und des Alls fragen Auf diese Weise duumlrfen wir hoffen unsere ge-stoumlrte Bewegung der Vernunft der ungestoumlrten Bahn der kosmischenVernunft zu assimilieren (46e-47c 90c-d)

Wir haben die Kritik an der Einschraumlnkung im moralischen Bereichwiderlegt indem wir unseren unmittelbaren sowie weiteren Kontextberuumlcksichtigten Wegen des Fokuses auf den menschlichen Bereich unddie menschliche Seele geht die allgemeine Frage der Seele qua Seele nichtverloren Der Hintergrund der jetzigen Diskussion bleibt dieseallgemeine Fragestellung obgleich die menschliche Seele diejenige istdie sich gemaumlszlig der Vernunft oder gegen die Vernunft verhaumllt (897b1-5)Wir sollten die Unterscheidung zwischen weiteren kosmischen undmenschlichen Dimensionen bewahren wenn auch der spaumlte Platon denkosmischen Zusammenhang auf eine anthropozentrische oder sogar an-thropomorphische Weise beschreibt54 Es waumlre weder gerechtfertigtnoch legitim dass die Untersuchung uumlber die menschliche Seelediejenige uumlber die Seele qua Seele dominieren oder ausschoumlpfen wuumlrde

54 Zur Zentrierung des kosmischen Alls auf dem menschlichen Leben bei spauml-tem Platon s Carone Evil and Teleology S 296

22 Georgia Mouroutsou

v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6

Von der allgemeinen Seelenlehre und der Seele qua Seele die bis dahindas Untersuchungsobjekt bildete gelangt der Athener jetzt zu einer be-sonderen Seele zur Weltseele Der Blickwechsel den der Athener imBereich seiner Betrachtung vollzieht sollte im Rahmen der platonischenSpaumltdialoge in denen Ontologie und Seelenlehre haumlufig in Kosmologiemuumlnden kein Erstaunen hervorrufen Als zwei Beispiele dafuumlr koumlnnender kosmologische Exkurs im Philebos (s oben Abschnitt I) und derUumlbergang von ψυχὴ πᾶσα (alles was Seele ist) zur Weltseele im Phaidros(245c5-246a2) gelten Was uumlber die Seele qua Seele gesagt wurde sollteauch im Fall der Weltseele Guumlltigkeit haben

raquoUnd weil die Seele in allem waltet und wohnt was sich auf ir-gendeine Weise bewegt muumlssen wir etwa nicht sagen dass sie auch denHimmel durchwaltelaquo55

Auf seine nur scheinbar unvermittelte und ploumltzliche Frage56 antwor-tet der Athener selbst

raquoEine oder mehrere Seelen Mehrere Ich werde fuumlr Euch antwortendass wir nicht weniger als zwei ansetzen sollten naumlmlich diejenige diedas Gute vervollkommnet und diejenige die faumlhig ist Entgegengesetztesdurchzufuumlhrenlaquo57

Dass der Athener im Namen seiner Gespraumlchspartner antwortet be-trachte ich als kein ausschlaggebendes Argument gegen die Realitaumlt einersbquoschlechten Weltseelersquo58 weil er sich noch auf die Seele qua Seele bezieht

55 Lg 896d10-e2 raquoΨυχὴν δὴ διοικοῦσαν καὶ ἐνοικοῦσαν ἐν ἅπασιν τοῖς πάντῃκινουμένοις μῶν οὐ καὶ τὸν οὐρανὸν ἀνάγκη διοικεῖν φάναιlaquo

56 Wilamowitz charakterisiert diese Frage zu Unrecht als sbquohereingeschneitlsquo(Platon II S 316) wogegen sich Kerschensteiner einsetzt (Platon und der Ori-ent S 73)

57 Lg 896e4-6 raquoΜίαν ἢ πλείους πλείους ἐγὼ ὑπέρ σφῷν ἀποκρινούμαι Δυοῖνμέν γέ που ἔλαττον μηδὲν τιθῶμεν τῆς τε εὐεργέτιδος καὶ τῆς τἀναντία δυναμένηςἐξεργάζεσθαιlaquo

58 Vgl Apelt Platons Gesetze S 539 Anm 48

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 23

Ist die Seele die das All verwaltet eine oder mehrere Haumltte Platon indi-viduelle Seelen ohne Bezug auf einen generellen Terminus sbquoSeelelsquo auf-zaumlhlen wollen haumltte er von mehr als zwei Seelen gesprochen Die Frageist sehr oft als Frage nach zwei Weltseelen verstanden worden Koumlnnteder Athener nicht die allgemeine Lehre der Seele qua Seele verlassen umsich auf die zwei partikulaumlren Weltseelen zu beziehen Dies haumltte derFall sein koumlnnen wenn die Weltseele mit Realitaumlt ausgestattet waumlre wassich aber nicht so verhaumllt Die oben genannte Frage kann nur die Seelequa Seele betreffen

Obgleich er haumlufig uumlberhoumlrt wird sollte der oben angewendete Dual beruumlcksichtigt werden weil er gegen ein Verstaumlndnis von zwei von-einander getrennten entgegengesetzten Seelen plaumldiert59 Auszliger demDual in 896e5 uumlberhoumlrt die Mehrheit der Interpreten hier noch etwasEntscheidendes Die der wohltaumltigen Seele entgegensetzte ist nicht eineeinfachhin und ohne Weiteres sbquoschlechte Seelersquo60 sondern die Seele raquodieimstande ist das Gegenteil zu bewirkenlaquo Genau in diesem Punkt uumlber-schneiden sich die allgemeine Seelenlehre nach der die Seele qua SeeleSelbstbewegung ist und als solche gut oder schlecht sein kann und diespezielle Lehre uumlber die kosmische Seele die ebenfalls qua Seele in derLage ist gut oder schlecht zu sein Deswegen sollten wir die Rede vonδύναμις in unserer Uumlbersetzung von sbquoτἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαιlsquo(Lg 896e6)61 nicht vernachlaumlssigen Die sbquoschlechte Seelelsquo wird nicht alseine bloszlige Privation der guten Seele eingefuumlhrt sondern als mit ihrereigenen Macht (δύναμις) ausgestattet Schlechtes zu bewirken62 als einenegative und destruktive Macht63

Wir sind dabei weit enfernt δύνασθαι mit einer aristotelischen sbquoerstenMoumlglichkeitlsquo zu identifizieren um die Ausscheidung einer schlechten

59 raquoDie Sprache hat die Dualform geschaffen nicht etwa um den Begriff derZahl zwei sondern um den Begriff der Zweiheit der paarweisenZusammengehoumlrigkeit auszudruumlckenlaquo (Wilhelm von Humboldt Uumlber denDualis Berlin 1828 S 18) Erst nach Platon als das Sprachgefuumlhl fuumlr die eigent-liche Bedeutung der Sprachformen an Lebendigkeit nachlieszlig bedeutete der Dualnicht selten den bloszligen Begriff sbquozweilsquo wobei die wahre und urspruumlngliche Naturdes Duals sich darin zeigt dass er entweder auf paarweise in der Natur verbun-dene Gegenstaumlnde angewendet wird oder auf solche welche in einer engen undgegenseitigen Beziehung gedacht werden (vgl Kuumlhner Raphael und FriedrichBlass Ausfuumlhrliche Grammatik der griechischen Sprache Zweiter Teil Satz-lehre Erster Teil Darmstadt 31966 S 69

60 Er spricht nur spaumlter von einer sbquoschlechten Seelersquo (897d1 vgl 898c4f)

24 Georgia Mouroutsou

Weltseele schon in den oberen Zeilen zu finden Nach dieser Lektuumlrewaumlre die zweite Art von Seele nur imstande Schlechtes durchzufuumlhrenaber wuumlrde nicht tatsaumlchlich so etwas tun Waumlre das der Fall warumsollte der Athener uumlberhaupt erst zwischen zwei Arten von Seele unter-scheiden In einem Kontext wo die Staumlrke die praktische Macht sowieEffizienz und Dominanz der Seele uumlberwiegen64 ist die Option einersbquoersten Moumlglichkeitlsquo keine gelungene Annahme65 Nur in dem Fall desgoumlttlichen Demiurgen koumlnnten wir eine solche sbquoerste Moumlglichkeitlsquo an-wenden die sich nie wirklich durchsetzen wird Trotz seiner Faumlhigkeites zu tun ist der Demiurg nicht bereit die guten Mischungen aufzuloumlsenund die kosmische Ordnung zugrunde zu richten Das Konzept einesDemiurgen der faumlhig ist beides zu tun sowohl Gutes als auch Schlech-tes ist fuumlr Platon undenkbar weil Gott wesentlich gut ist66 Zu-gegebenermaszligen waumlre es zu weitreichend all das in 896e5f hineinzule-sen und die zweite Art der Seele mit dem goumlttlichen Demiurgen zuidentifizieren

61 Der δύναμις-Aspekt geht verloren bei Plutarch der stattdessen von der gutwirkenden und der entgegengesetzten Seele spricht die das Gegenteil vollbringtDe Is Et Osir 370F4-6 raquoὧν τὴν μὲν ἀγαθουργόν εἶναι τὴν δrsquo ἐναντίαν ταύτῃ καὶτῶν ἐναντίων δημιουργόνlaquo Den wichtigen Bezug auf δύναμις verpassen Jowettlsquoone the author of good and the other of the evilrsquo (The Dialogues of Plato S466) sowie Grube Platorsquos Thought lsquoone that does good and one that does evilrsquo(Platorsquos Thought S 146)

Brisson spricht von der Neutralitaumlt der Seele die faumlhig ist gut oder schlecht zusein (Vernunft Natur und Gesetz im zehnten Buch von Platons Gesetzen InHavlicek Ales (Hrsg) The Republic and the Laws of Plato Proceedings of theFirst Symposium Plato Symposium Platonicum Pragense 1 (1997) S 182-200Hier S189) ohne diese Textstelle heranzuziehen

62 Das Verb ist sbquoἐξεργάζεσθαιlsquo das nicht nur das Schlechte bewirken sondern esauch vollenden heiszligt (vgl ἔργον sowohl in als auch in ἐξεργάζεσθαι)

63 Vgl Dillons allgemeine Folgerung uumlber das ontologische Problem desSchlechten bei Platon (Monist and Dualist Tendencies S 11) Der Fall einerschlechten Seele die nicht als Privation der guten Seele vorkommt sondern alsraquofaumlhig Schlechtes zu vollendenlaquo unterstuumltzt Dillons Konklusion dass diesbquoschlechte Seelelsquo eine negative zerstoumlrende Macht sei

64 Vgl die Charakterisierung der Seele in 894d1f 895b665 Dank der Beobachtung von David Sedley wurde es mir klar dass ich

unabsichtlich eine aristotelsiche sbquoerste Potenzialitaumltlsquo in einer fruumlheren Versionvorgeschlagen hatte

66 Vgl oben Fuszlignote 7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 25

Bevor wir zur allgemeinen platonischen Psychologie uumlbergehen er-waumlgen wir eine zweite moumlgliche Unterscheidung der Seele in 896e4-6Bis jetzt habe ich die Distinktion zwischen guter und schlechter Seele alsselbstverstaumlndlich betrachtet Eine vorsichtigere Lektuumlre ermoumlglicht einezweite Option naumlmlich die Unterscheidung zwischen derwohlwollenden Seele die immer das Gute vollendet und derjenigen diefaumlhig ist entgegengesetzte Dinge (Plural) durchzufuumlhren sowohl Gutesals auch Schlechtes (τῆς τἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαι) Die ersteSeele kann keine andere als die goumlttliche sein67 Fuumlr die zweite Seele istder einzige Kandidat die menschliche Seele Auszligerdem wuumlrde die Seeleder Tiere unter die Seele fallen die sowohl Gutes als auch Schlechtestun kann weil sie einen logischen Teil beinhaltet auch wenn deformiertDas Goumlttliche ist immer gut Die Pflanzen moumlgen gut sein insofern siein eine globale Teleologie integriert sind Sie wuumlrden aber nie als faumlhigcharakterisiert etwas Gutes oder noch weniger etwas Schlechtes zutun noch wuumlrden sie die Verantwortung fuumlr die herbeigefuumlhrten gutenoder schlechten Wirkungen tragen Wenn diese Lektuumlre als die einzigemoumlgliche aufgewiesen werden koumlnnte wuumlrden wir mit Sicherheit dieFrage nach der schlechten Seele auf spaumlter verschieben68

Wie es auch sein mag befinden wir uns noch im Rahmen derallgemeinen Lehre der Seele qua Seele als Selbstbewegung Die kosmi-sche Seele ist in 896e1f aufgetaucht aber die Unterscheidung zwischender guten und der schlechten Seele oder der goumlttlichen und men-schlichen Seele wird auf einer allgemeinen Ebene gezogen69 Obgleichder Athener nicht die theorethischen Anspruumlche des Sophistes erhebtsetzt er die allgemeine platonische Ontologie voraus dergemaumlszlig dasSeiende qua Seiendes δύναμις sei Das Kriterium fuumlr alles was Seiendesist sei es Intelligibles oder Koumlrperliches Koumlrper oder Seele ist das Ver-moumlgen zu tun oder zu leiden70 Die Erforschung der Seele als Seiendesverlangt daher die Frage nach ihrer Kraft und ihrem Vermoumlgen (Lg892a2f) Der Gast aus Athen bezieht sich stets auf die δύναμις-Ontolo-

67 Der Athener kann noch nicht die gute Seele als goumlttlich charakterisierenDas Argument hat noch nicht die Goumlttlichkeit der Seele bewiesen

68 Der kreative Charakter der Dialektik ermoumlglicht mehr als eine richtige Ein-teilung Zu diesem Aspekt s Plt 286d-e und Delcomminettes Monographie

69 Anders als Taylor der den Uumlbergang von 896e2 zu e4 durch die Praumlmisseder Aktualitaumlt des Guten und Schlechten in der gegenwaumlrtigen Welt verhilft (TheLaws S 289 Anm 1) sehe ich keinen Eintritt eines a posteriori Arguments adhoc Alles bisherige entnimmt der Athener der allgemeinen Seelenlehre

26 Georgia Mouroutsou

gie des Phaidros sowie des Sophistes Er stellt die Frage was die Seele istund was fuumlr ein Vermoumlgen sie hat οἷόν τε ὂν τυγχάνει καὶ δύναμιν ἣνἔχει71

Obwohl die Frage nach dem Tun (ποιεῖν) oder Leiden (πάσχειν) derSeele als δύναμις nicht explizit gestellt wird72 bringt ihre Definition alsSelbstbewegung ein gleichzeitiges Tun (als Bewegen) und Leiden (alsBewegtwerden) zum Ausdruck73 Die Seele ist die Kraft die sich selbstund anderes bewegt74 Die Definition der Seele als Selbstbewegung kannentweder als Aktivitaumlt oder Passivitaumlt ausgedruumlckt werden Die Seele be-wegt sich selbst und wird von sich selbst bewegt Ein gleichzeitiges Tunund Leiden das aber nicht das gleiche Seiende verursacht geschieht beikoumlrperlicher Bewegung Ein Koumlrper mag auf einen anderen Koumlrper wir-ken und zu gleicher Zeit kann er von einer Seele oder einem anderenKoumlrper bewegt werden aber nicht von sich selbst75

Platon gibt die Definition der Seele in ihrer Allgemeinheit d hunabhaumlngig von ihren moumlglichen Manifestationen in konkretenLebewesen Alles was Seele ist soll Selbstbewegung sein mag es sichum die Seele des Menschen oder des Tieres oder der Pflanze handelnWeil die individuellen Manifestationen der Seele nicht beruumlcksichtigtwerden fehlt bei der Formel der Definition τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴνκινεῖν κίνησιν (896a1f) auch der Bezug auf den Koumlrper den die jeweiligekonkrete Seele beseelt Im Falle der Absenz der Materie in einer Defini-

70 Der Vorschlag des Gastes aus Elea in Sph 247d-e wird nicht allgemein alsPlatons Vorschlag uumlber Ontologie gedeutet Sehr haumlufig beschraumlnken Exegetendas Seiende als δύναμις auf die ad loc Argumentation gegen die MaterialistenAuch wenn dieses Argument als Platons Argument charakterisiert wird bleibtes sehr umstritten ob es eine allgemeine Ontologie betrifft (Brown) oder in eineOntologie der Ideen einmuumlndet (Gerson Politis) Darauf gehe ich hier nicht ein

71 Lg 892a3 vgl Lg 894b8-c1 und 896a1f72 Der Athener bezieht sich auf Tun und Leiden nur in 894c5f und meint

wahrscheinlich sowohl Seelisches als auch Koumlrperliches mit dem die Seele har-monisiert

73 In Lg 894b8-c1 und 896a1f beantwortet der Athener seine Frage nach derArt des Vermoumlgens mit dem die Seele ausgestattet ist Der gesamteZusammenhang verbindet die Frage nach dem Wesen eines Seienden mit derFrage nach seinem Vermoumlgen

74 Lg 893c4f75 Gaiser fuumlhrt den Ausgleich zwischen Passivitaumlt und Aktivitaumlt in der selbst-

bewegenden Seele auf das Zusammenwirken der zwei platonischen Prinzipienzuruumlck (Platons Ungeschriebene Lehre S 195f)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 27

tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

28 Georgia Mouroutsou

Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

30 Georgia Mouroutsou

tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 31

welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

32 Georgia Mouroutsou

zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

34 Georgia Mouroutsou

Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

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werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

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abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

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ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 11

Auffassung als abgeleitet herabgesetzt Als abbildende Setzungenkoumlnnen sie die abgebildete Natur und Wahrheit nur verfehlen

raquo[hellip] er scheint Feuer und Wasser und Erde und Luft fuumlr das Erstevon allem zu halten und diese Dinge als sbquoNaturrsquo zu bezeichnen dieSeele aber fuumlr ein Spaumlteres aus diesen [Entstandenes]laquo22

Nun stellt der Athener seine Bewegungslehre dar mit der Absicht diePrioritaumlt der Seele zu beweisen23 Nach den sbquoPhilosophierendenlsquo24 lassensich die oumlrtlichen Bewegungen in sechs Arten unterteilen (1) Rotation(2) gleitende Bewegung (3) rollende Bewegung (4) Wachstum (5)Schwund (6) Zugrundegehen Dabei faumlllt das ontologische Werden (7)und Vergehen (8) als ein ausgezeichnetes Paar heraus da es ur-spruumlnglicher ist als die bisher entfalteten oumlrtlichen Bewegungsarten25

Die entscheidende Zweiteilung jedoch kommt erst am Ende der Auf-zaumlhlung zur Sprache Danach gibt es einerseits die koumlrperliche Be-wegung die als Fremdbewegung bestimmt wird (9) andererseits die alsSelbstbewegung definierte seelische Bewegung (10)26 Der Athener ver-steht den Namen sbquoSeelelsquo als den Namen dessen Definition sbquoSelbst-Be-wegunglsquo (895e10-896a2) erst nach der methodologischen Unter-scheidung zwischen dem Wesen und dessen Namen erfolgt (895d1-e9)Nach dieser Distinktion charakterisiert er die zweite Bewegung als sbquokoumlr-perlichlsquo (896b4-8) sbquoKoumlrperlsquo ist der Name dessen Definition dieFremdbewegung ist (896b10-c3)

Erst gemaumlszlig dieser Einteilung koumlnnen alle bereits aufgezaumlhltenraumlumlichen Bewegungsarten als seelisch oder koumlrperlich verstandenwerden Anders als Pietsch27 finde ich keinen Textbeleg nach dem dieSelbstbewegung im Gegensatz zu den raumlumlichen Arten der Fremdbe-wegung unraumlumlich sein soll Pietsch argumentiert dass das ganze dihai-

22 Lg 891c1-4 Eine aumlhnliche sbquoAll-Thesersquo vertreten die materialistisch ver-anlagten Ontologen im Rahmen der sbquoRiesenschlachtlsquo im Sophistes bevor ihnender Gast aus Elea durch seinen δύναμις-Vorschlag zur Hilfe kommt ImGegensatz zu den Ideenfreunden die schon mit der Unterscheidung zwischenSein und Werden auftreten macht nach den Materialisten ausschlieszliglich derKoumlrper das Sein aus (Sph 246b1)

23 Auf diese Weise begruumlndet der Gast alle vorgebrachten Auflistungen derGuumlter nach denen der Vorrang immer seelischen und nicht koumlrperlichen Guumlternbeigemessen wurde Vgl Lg 631b-c 661a ff 688a-b 697a-c 726a-729a 743e

24 So werden die Vertreter der Prioritaumlt der Seele ausgezeichnet Lg 967c8 (diezweite und letzte Erwaumlhnung von Philosophie in den Gesetzen auszliger in Lg857d2)

12 Georgia Mouroutsou

retische Stemma sbquonur raumlumliche Bewegungsartenlsquo bieten kann weil derAthener von der Physik des Gegners ausgeht28 Platon offenbart jedochein Stuumlck von seiner eigenen Philosophie immer dann wenn er seinesbquoGegnerrsquo verbessert seien es die Herakliteer im Theaitetos die Materia-listen des Sophistes oder diejenigen der Gesetze Das Platonische derRaumlumlichkeit der seelischen Bewegung erklaumlrt auszligerdem Timaios fuumlrguumlltig der der Weltseele raumlumliche Bewegung beimisst Zur Bekraumlf-tigung dient daruumlber hinaus die aristotelische Kritik am platonischenVerstaumlndnis der Selbstbewegung als raumlumlicher Bewegung (de an I3)

Dass der Bewegung in der spaumlteren platonischen Philosophie einegrundlegende Rolle zukommt zeigen neben dem Timaios die DialogeSophistes und der Theaitetos Im Sophistes wird das ausgezeichnete so-wohl bewegte als auch im Stillstand befindliche Sein der Idee qua Ideebehandelt Im Theaitetos werden heraklitische Allbewegungs-Modelleim Bereich der Wahrnehmung kritisiert Im Timaios wird die Bewegungin ihrer ganzen kosmologischen Tragweite ausgelotet In dem letztenDialog zeigt Platon seine Aneignung und Transformation des Herakli-

25 Gemaumlszlig der Aufzaumlhlung Konrad Gaisers (Platons Ungeschriebene LehreStuttgart 19983 S 176f) und ohne Besprechung der immensen einzelnen Pro-bleme Die ontologische γένεσις uumlber die Linie und Flaumlche bis hin zumdreidimensionalen Koumlrper (894a2-5) gilt als noch urspruumlnglicher als die vorhererwaumlhnten raumlumlichen Bewegungsarten (893c1f) Dieser Primat unterscheidetsich von Aristotelesrsquo Auffassung wie die Kritik des Stagiriten belegt (GC I2315a29ff) Der Bewegungskatalog ist von grundlegender Bedeutung fuumlr das Ver-staumlndnis der Prioritaumlt der Seele Hier begnuumlge ich mich mit der Hervorhebungder Beitraumlge von Gaiser und Solmsen (Aristotlersquos System of the Physical WorldA Comparison With His Predecessors New York 1960) Gaiser hat den sys-tematischen Charakter der Aufzaumlhlung der Bewegungsarten in Verbindung zuder indirekten Uumlberlieferung ausgearbeitet (Platons Ungeschriebene Lehre S173-186) Man folgt oft seiner Interpretation der besonders dunklen Stelle Lg894a1-8 und zwar mit oder ohne explizite Erwaumlhnung seines Beitrags zum Bei-spiel Pietsch C Die Dihairesis der Bewegung hier S 316 Anm 45 SchoumlpsdauK Platon Werke in Acht Baumlnden Griechisch und Deutsch Achter Band Zwei-ter Teil Platon Gesetze Buch VII-XII Minos Darmstadt 20054 S 291 Anm 26Mayhew R Plato Laws X Oxford 2008 S 112ff Solmsen (Aristotlersquos System)bietet seinerseits eine sehr ausgewogene Hermeneutik der platonischen undaristotelischen Bewegungslehre an die gegenuumlber der neueren oft hinter ihrzuruumlckbleibenden Forschung noch immer als exemplarisch gelten sollte

26 Lg 894b8-c1 894c3-827 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 304 und oumlfters28 Ebd S 320

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 13

tismus im Bereich der Ontologie des Wahrnehmbaren auf (48eff) des-sen Ausarbeitung nach wie vor eine Aufgabe fuumlr die Platon-Forschungdarstellt

Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich dass sbquoKoumlrperrsquo undsbquoSeelersquo als verschiedene Arten von Bewegung aufgefasst werden Hiersehe ich keine Verwirrung bei Platon zwischen einer Bewegungsart(Selbstbewegung) und der Seele als unabhaumlngiger Substanz Anders alsRichard Stalley29 verstehe ich sowohl die Selbstbewegung als auch dieSeele qua Seele als auf einen Koumlrper bezogen wenn auch unabhaumlngigvom jeweiligen Koumlrper gedacht und definiert Sogar die schlechte Welt-seele bliebe somit bezogen auf den Weltkoumlrper waumlre sie real

iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer an-tiken Auffassung

Halten wir inne Der Seele wird eine Art Prioritaumlt beigemessen die sichauf die in ihrer Definition widergespiegelte Natur als Selbstbewegungstuumltzt Als solche zeigt sich die Seele qua Seele und unabhaumlngig von allihren konkreten Manifestationen als aumllter wirksamer und maumlchtiger un-ter allen Bewegungen Und nicht nur dies Sie zeigt sich auch als dieeigentliche Bewegung und Veraumlnderung alles anderen Seienden30 Wirbefinden uns also im Rahmen der Problematik des Leib-Seele-Dualis-mus der neben dem Dualismus von Idee und Erscheinung der alssbquoZwei-Welten-Lehrelsquo beruumlhmt bzw beruumlchtigt wurde sowie dem in derAntike und Moderne debattierten Dualismus der zwei platonischenPrinzipien weitlaumlufig Karriere in der Geschichte des Platonismusgemacht hat31

29 Stalley An Introduction to Platorsquos Laws Oxford 1983 S 171f30 Lg 894c6f31 Die Tatsache dass hier die zwei letzteren Arten von Dualismus nicht vor-

kommen bedeutet keinesfalls dass der alte resignierte Platon seine Ideen- oderPrinzipienlehre aufgegeben habe (so Muumlller Gerhard Studien zu den Platoni-schen Nomoi Muumlnchen 1951 19682 aumlhnlich Rist Eros and Psyche S 87ff)Auf die platonische Ideenlehre weist der Gast als auf einen wesentlichen Teil derErziehung der sbquonaumlchtlichen Versammlungrsquo hin (Lg 965b-966b) Hier sei dieschwierigere Frage dahingestellt inwieweit die angedeutete Lehre der klassi-schen Ideenlehre der mittleren Dialoge entspricht

14 Georgia Mouroutsou

Platon problematisiert den Leib-Seele Dualismus nicht nur aufgrundder allgemeinen Frage nach sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo sondern auch weil erauf der moumlglichen Interaktion zwischen der intelligiblen Seele (derSonne) und ihrem wahrnehmbaren Koumlrper reflektiert (in Lg 898e8-899a4)32 Obgleich wir nicht viel Positives uumlber die platonische Auffas-sung der Art der Beziehung zwischen Koumlrper und Seele aussagenkoumlnnen sind wir damit doch imstande auf entschiedene Weise einigesauszuschlieszligen Wir werden mit dem Materialismus und dem Mentalis-mus anfangen die mit weniger Muumlhe abgelehnt werden koumlnnen als derso charakterisierte sbquorobuster Dualismuslsquo dem wir uns anschlieszligendwidmen

Die These des Materialismus wonach das Seelische auf Koumlrperlicheszuruumlckzufuumlhren sei gewinnt nicht die Oberhand in diesem KontextDie Materialisten bleiben die Gegner des Atheners durch das ganze Ar-gument hindurch Noch modifizierte Materialisten finden einen Belegfuumlr ihre These dass das Seelische unsichtbares Koumlrperliches sei Neu-erdings hat Gabriela Carone diese Auffassung des sbquomodifizierten Mate-rialismuslsquo als genuin platonisch vertreten33 was eine gerechtfertigteReaktion von Francesco Fronterotta hervorgerufen hat34 Bei ihrem Ver-such die Materialitaumlt der Seele aufzuweisen begeht Carone einengrundsaumltzlichen Fehler Sie geht ohne jede Argumentation von der Moumlg-lichkeit eines unsichtbaren Koumlrpers zu einem Verstaumlndnis der Seele alskoumlrperlich uumlber35 Die Ausdehnung sei (nach Platon) wesentliche Eigen-schaft des Koumlrperlichen Weil sie raumlumlich ist muumlsste die Seele daher ir-gendeine Art koumlrperlicher Natur besitzen Carone gibt zu lsquoOf course

32 Die Stelle charakterisiert Thomas Robinson als lsquoa splendid memorial to his[Platorsquos] intellectual honestyrsquo (The Defining Features of Mind-Body Dualism inthe Writings of Plato In John Wright und Paul Potter (Hrsg) Psyche andSoma Physicians and Metaphysicians on the Mind-Body Problem From Antiq-uity to Enlightenment S 37-55 Hier S 55) lsquoTo the end he is wrestling with theproblem that lies at the heart of all psycho-physical dualism the problem ofrelating a physical substance to an immaterial one and to the end he openlyadmits his bafflementrsquo (ebd)

33 Carone Gabriela Mind and Body in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichteder Philosophie 87 (2005) S 227-269 Hier S 256f

34 Fronterotta schmaumllert gewisse Staumlrken des Argumentes von Carone undbringt daher die platonische Methode der sbquoVerbesserungrsquo des Gegners in diesemFall der Materialisten nicht zur Anwendung (Fronterotta Fransesco Carone onthe Mind-Body Problem in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichte der Philoso-phie 89 (2007) S 231-236)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 15

there is still a gap to be filled between spatial extension and corporeal-ityrsquo36 Trotz ihres Zugestaumlndnisses fuumlllt Carone diese Luumlcke leider nichtund offenbart auf diese Weise ihre nicht hinterfragte (oder bei Platonnicht bewaumlhrte) Cartesianische Praumlmisse37

Noch belegt unser Zusammenhang das andere Extrem einer ArtMentalismus nach dem das Koumlrperliche vom Seelischen ableitbar istSowohl die Darstellung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper alszwischen Ganzem und Teil (Chrm 156dff) als auch die oumlrtliche Meta-pher der den Koumlrper umhuumlllenden Seele (Ti 36e3f und Lg 898d11-e238)eroumlffnen dennoch den Raum fuumlr eine solche Auffassung Dennoch un-terstuumltzt der Kontext in den Gesetzen nicht diese Auffassung Anders alsder materialistisch gepraumlgte Typus vertreten die sbquoPhilosophierendenlsquokeine reduktionistische These was nicht nur den Materialismus sondernauch den Mentalismus ausschliesst

In modernen Diskussionen des Leib-Seele-Problems wird Platon allzuoft als Vertreter eines sbquorobusten Dualismuslsquo dargestellt39 Demgemaumlszlighandelt es sich bei Seele und Koumlrper um zwei selbststaumlndige vonei-nander abgetrennte Substanzen die erst nachtraumlglich vereinigt werden

35 Carone Mind and Body S 237 die Voraussetzungen eines solchen Ver-staumlndnisses hat Fronterotta ans Licht gebracht Carone on the Mind-Body Pro-blem S 233

36 Carone Mind and Body S 240 Anm 4337 Vgl Carones selbstverstaumlndliche Redeweise lsquospatial or material conditionsrsquo

lsquobody and spacersquo lsquospace and bodyrsquo Mind and Body S 264 Zu einer einsichtige-ren Unterscheidung der Arten vom Dualismus bei Platon und Descartes sSarah Broadie Soul and Body in Plato and Descartes In The AristotelianSociety 101 (2001) S 295-308

38 Die zweite zaumlhlt Robinson nicht mit auf The Defining Features of Mind-Body Dualism S 40 Anm 12 Lg 898d11-e2 hat mehrere Deutungen undUumlbersetzungen veranlasst Περιφύειν wird mit aumlhnlicher Bedeutung in R 612aangewendet (sbquoherum- oder anwachsenlsquo) Diese Metapher in den Gesetzen undderen Uumlbersetzung verfehlen Otto Apelt Platons Gesetze Zweiter Band Leip-zig 1916 S 419 Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 S 163 mit Anm 2 Robin Leacuteon Oeuvres completesPlaton Paris 1950 Zweiter Band S 1025 richtig verstehen die Stelle JowettBenjamin The Dialogues of Plato Oxford 41953 S 468f Taylor Alfred E TheLaws of Plato London 21960 S 291 Muumlller Studien S 92 Anm 1 Bury Rob-ert Plato with an English Translation IX and X Laws London-New York1952 S 346 mit Anm Saunders Plato The Laws S 430 Cooper John (Hrsg)Plato Complete Works Cambridge 1997 S 1555 Mayhew Plato Laws X S29

16 Georgia Mouroutsou

muumlssen was hier nicht ausdruumlcklich widerlegt wird Neuerdings hatFronterotta diese Auffassung vertreten40 wobei auch seine Deutung aufzwei unaufhebbaren Schwierigkeiten im Timaios stoumlszligt Zum ersten istdie Weltseele raumlumlich ausgedehnt Zum zweiten ist sie das Produkteiner Mischung was nicht nur Carones These widerlegt dass die Seelekoumlrperlich sei ndash da hat Fronterotta Recht ndash sondern auch gegen einen ab-soluten unuumlberbruumlckbaren Gegensatz zwischen einer rein rationalerSeele und dem Weltkoumlrper plaumldiert41

Auf dem ersten Blick scheint unser Kontext in den Gesetzen nicht aufexplizite Weise den weit verbreiteten Vorschlag eines Substanz-Dualis-mus abzuweisen Weil sich aber in diesem Zusammenhang sowohl dieseelische als auch die koumlrperliche Bewegung im Raum vollziehen (Lg893c1f) ist die Dimensionalitaumlt keinesfalls ausschlieszliglich dem Koumlrperzugeordnet was sich wiederum mit einem starren Dualismus nicht ver-traumlgt42

Jedenfalls ist ein gewisser Dualismus insofern nicht zu uumlbergehen alsdie seelische Bewegung die koumlrperliche nicht produzieren kann43 NachLg 896e8-897b4 sbquonehmenrsquo die seelischen als die primaumlren Bewegungendie sekundaumlren koumlrperlichen sbquoaufrsquo Das gleiche Verb (παραλαμβάνειν897a5) wendet auch der Timaios an Der Demiurg nimmt das auf unge-ordnete und fast verbrecherische Weise bewegte Wahrnehmbare sowiespaumlter im Dialog das was ἀνάγκη bewirkt (68e3) auf Die unterstehendenGottheiten nehmen ihrerseits den rationalen Teil der Seele auf um ihn mitdem sterblichen Teil im Koumlrper zu verknuumlpfen (Ti 69c5) Diesen ver-schiedenen Zusammenhaumlngen koumlnnen wir keine Umkehrung der Prio-ritaumlt der Seele gegenuumlber dem Koumlrper entnehmen Was sich mit einer anSicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ausschlieszligen laumlsst ist eine

39 S Burnyeat Myles Is An Aristotelian Philosophy of Mind Still CredibleA Draft In Nussbaum A M-Rorty (Hrsg) Essays on Aristotlersquos De AnimaOxford 1992 S 15-26 Hier S 16 Putnam Hilary The Threefold Cord MindBody and World New York 1999 S 97 Stephen Priest Theories of the MindLondon 1991 S 8-15 57 162)

40 Fronterotta Carone on the Mind-Body Problem41 Platon behandelt das Problem der Verbindung zwischen der Seele und dem

Koumlrper wie die Vermittlung durch das Mark beweist (Ti 73b-c) was wir abernicht als Beleg dafuumlr betrachten sollten dass Platon zum Vorlaumlufer von Descar-tes wird

42 Thomas Johansen begeht diesen Weg in seiner Timaios-Auslegung43 Vgl Mason Andrew Plato on the Self-Moving Soul In Philosophical

Inquiry 1998 S 18-28 Hier S 24 28

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 17

Herleitung des Koumlrperlichen aus dem Seelischen44 Diese Unterscheidungzwischen Koumlrper und Seele erlaubt es dem Dialektiker je nachZusammenhang die Seele qua Seele (so in der vorliegenden Passage der Ge-setze) und den Koumlrper qua Koumlrper (so im Timaios) zu betrachten ohne einereduktionistische Auslegung vorauszusetzen

Auf dieser Basis wird ein Reduktionismus des Koumlrpers auf die Seele aus-geschlossen Ausserdem unterstuumltzt der Wortlaut des Textes nicht das Ver-staumlndnis der ontologischen Prioritaumlt die Aristoteles in Metaph V11 an-spricht Es geht in unserem Kontext nicht darum was Aristoteles undAlexander als platonische Auffassung und akademisches Gut dar-stellen45 Als Kriterium der ontologischen Rangfolge wird dassbquoMitaufgehobenwerdenrsquo des Spaumlteren angegeben Demgemaumlszlig setzt dasontologisch Spaumltere das Fruumlhere voraus aber nicht umgekehrt Wenndas Fruumlhere aufgehoben wuumlrde wuumlrde auch das Spaumltere aufgehobenwas sich aber nicht umkehren laumlsst Soweit geht Platon bei der hiesigenBetrachtung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper jedoch nichtDie Rede von der sbquoAufnahmersquo der koumlrperlichen Bewegungen von denseelischen ist weniger mit einer ontologischen Prioritaumlt der Seele (wieoben dargelegt) als vielmehr mit einer Aufeinanderbezogenheit vonSeele und Koumlrper vertraumlglich

Um eine uumlber den Rahmen dieses Beitrags hinausgehende positive Louml-sung fuumlr Platons Leib-Seele-Dualismus zu entwickeln ist es noumltigeinige falsche Meinungen zu korrigieren wozu die obere Darlegung bei-traumlgt

iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Ar-gument

44 Pace England Edwin The Laws of Plato London 1921 Zweiter Band S476 der παραλαμβάνειν als lsquobring in their trainrsquo versteht In allen obenerwaumlhnten Zusammenhaumlngen ist klar dass das Aufgenommene nicht vomAufnehmenden geschaffen wird Die Uumlberlegenheit des letzteren bleibt davonunberuumlhrt

45 Vor allem in Arist Metaph V11 1019a2-4 vgl Alexander In AristotMetaph I 6 987b33 Gaiser Testimonium Platonicum 22B

18 Georgia Mouroutsou

Wir kehren zu unserem Text zuruumlck Da der Seele ontologische Prioritaumltgegenuumlber dem Koumlrper verliehen wird ist auch das der Seele Verwandteontologisch fruumlher als das was dem Koumlrper zugehoumlrt

raquoVerhaltensweisen aber und Gemuumltsarten Willensakte Schluss-folgerungen wahre Meinungen Fuumlrsorge und Erinnerungen duumlrftenfruumlher entstanden sein als koumlrperliche Laumlnge Breite Tiefe und Staumlrkewenn eben die Seele fruumlher als der Koumlrper entstanden sein solltelaquo46

Im Anschluss daran hilft uns der Athener nachzuvollziehen warumPlaton eben hier die sbquoschlechte Seelersquo einfuumlhrt Man muumlsse darin uumlberein-stimmen dass die Seele Ursache sowohl des Guten als auch des Boumlsendes Schoumlnen und des Schlechten des Gerechten und des Ungerechtenund aller Gegensaumltze sei

raquoIst es denn nicht noumltig darin uumlbereinzustimmen dass die Seele dieUrsache des Guten sowie des Schlechten des Schoumlnen sowie des Haumlszlig-lichen des Gerechten sowie des Ungerechten und uumlberhaupt allerGegensaumltze wenn wir sie als Ursache von allem setzenlaquo47

Diese Zeilen sind aumluszligerst wichtig weil hier und nicht erst in 896e4ffder Gegensatz von sbquogut und schlechtlsquo eingefuumlhrt wird Dem Argumentist vorgeworfen worden es sei schwach Unter den Kritikern verstehtStalley den Schluss auf folgende Weise lsquoSoul since it is the source ofeverything must be the source of valuesrsquo Er wundert sich dass Werteohne Begruumlndung und ohne Erklaumlrung ihrer Existenzweise eingefuumlhrtwerden48 Dementgegen werde ich eine wohlwollendere Annaumlherungvorschlagen Nach der Rekonstruktion des Arguments werde ich eineArt sbquoanthropozentrischer Wendelsquo in einen breiteren Kontext situieren

Wie er expliziert (896d8) zieht der Gast aus Athen diesen Schlussdaraus dass die Seele als Ursache von allem angesetzt worden ist Bevorwir diese Begruumlndung als einen Fehlschritt charakterisieren sollten wiruns zusammen mit Kleinias erinnern dass die sbquoSeelersquo die Veraumlnderungvon allem herbeifuumlhrt49 Mit Hilfe einer anderen Formulierung ist dieSeele raquodie Veraumlnderung und Bewegung von allem Seiendenlaquo50

46 Lg 896c9-d3 raquoΤρόποι δὲ καὶ ἤθη καὶ βουλήσεις καὶ λογισμοὶ καὶ δόξαιἀληθεῖς ἐπιμέλειαί τε καὶ μνῆμαι πρότερα μήκους σωμάτων καὶ πλάτους καὶβάθους καὶ ῥώμης εἴη γεγονότα ἄν εἰπερ καὶ ψυχὴ σώματοςlaquo

47 Lg 896d5-7 raquoἎρrsquo οὖν τὸ μετὰ τοῦτο ὁμολογεῖν ἀναγκαῖον τῶν τε ἀγαθῶναἰτίαν εἶναι ψυχὴν καὶ τῶν κακῶν καὶ καλῶν καὶ αἰσχρῶν δικαίων τε καὶ ἀδίκωνκαὶ πάντων τῶν ἐναντίων εἴπερ τῶν πάντων γε αὐτὴν θήσομεν αἰτίανlaquo

48 Stalley An Introduction S 172 49 Lg 892a6f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 19

Die Bewegung ist hier als Wechsel und Veraumlnderung (μεταβολή) in ih-ren weitesten Sinn zu verstehen seien sie im Raum in Bezug auf dieSubstanz die Qualitaumlt oder die Quantitaumlt Der Uumlbergang findet zwi-schen Gegensaumltzen statt Die ersten Paare von Gegensaumltzen die derAthener vor der Verallgemeinerung in 897d7 anspricht sind Ver-bindungen und Trennungen Wachstum und Schwund sowie Prozessedes Wedens und Vergehens (894b10f) Die Seele zeigt sich als dieUrsache von aller Art koumlrperlicher Veraumlnderung Wenn eine Seele einenWechsel von einem schlechten zu einem guten Zustand verursacht dannist diese Seele in sich selbst gut Wenn eine Seele einen schlechtenEinfluss auf einen Zustand uumlbt dann ist sie dafuumlr verantwortlich Es istbemerkenswert dass der Gegensatz zwischen sbquogutlsquo und sbquoschlechtlsquo nichtauf die Unterscheidung zwischen sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo oder diejenigezwischen sbquoseelischer Bewegunglsquo und sbquokoumlrperlicher Bewegunglsquo zu-ruumlckgefuumlhrt wird Der Koumlrper kann nicht als schlecht charakterisiertwerden weil nach dem spaumlten Platon der Koumlrper qua Koumlrper weder gutnoch schlecht in sich selbst ist

Wenn die Seele die Ursache von allem ist so der Athener dann musssie die Ursache von allen Gegensaumltzen sein einschlieszliglich des Bereichsder Ethik Die gleichen Gegensatzspaare von sbquogut und schlecht schoumlnund haumlszliglich sowie gerecht und ungerechtlsquo tauchen in Euthph 7c10ff alsder Zankapfel der menschlichen Debatten auf die vor Gericht gefuumlhrtwerden koumlnnen Auch in Grg 459d1ff gehoumlren sie zur rhetorischenKunst die kein Wissen daruumlber erwerben kann In Plt 296c5-7 erfahrenwir dass ein Irrtum im Rahmen der politischen Kunst das Schaumlndlichedas Schlechte und das Ungerechte verursacht Was der Rhetor verfehltweiszlig der Staatsmann Der goumlttliche Teil der menschlichen Seele mag einewahre Meinung uumlber Schoumlnes Gutes und Gerechtes stiften (Plt 309c5-8)

Indem die Seele fuumlr alle moumlglichen koumlrperlichen Veraumlnderungen ver-antwortlich gemacht wird gelangen wir in unserem Zusammenhang zuder Seele als der primaumlren Ursache auch des Schlechten und nichtaufgrund der Frage woher das Schlechte komme Der Athener machtnirgends explizit dass er die Seele als die einzige Ursache des Schlechtensei Bedenken sollte daher gegen Englands Beobachtung geaumluszligert wer-den in 896d5 werde die Frage nach dem Uumlbel eingefuumlhrt und insbe-

50 Lg 894c6f raquoκαλουμένην δὲ ὄντως τῶν ὄντων πάντων μεταβολὴν καὶκίνησινlaquo

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sondere gegen seine Folgerung lsquoHaving identified ψυχή with the αἰτίαἀγαθοῦ τε καὶ κακοῦ he is bound to talk of the αἰτία κακοῦ as ψυχήrsquo51

Auf das seelische Uumlbel konzentriert sich hier der Athener Verabsolutie-rende Konklusionen uumlber das Uumlbel schlechthin sind daher der Ge-spraumlchssituation nicht zu entnehmen Jedenfalls waumlre der bestimmte Ar-tikel noumltig vor αἰτίαν (sowohl in 896d6 als auch in d8)

Der Athener zielt darauf die Natur der Seele als die Ursache von allenGegensaumltzen auszulotten und fuumlhrt dann das Feld der menschlichenEthik ein ohne seinen Uumlbergang oder eher seine Einschraumlnkung zu er-klaumlren52 Die konkrete politische Situation in den Gesetzen bietet eineplausible Erklaumlrung fuumlr diesen Uumlbergang von der Seele qua Seele zurmenschlichen Seele Die Buumlrger von Magnesia sollten ihre Machtwahrnehmen sowohl zum Guten als auch zum Schlechten beizutragenAuszligerdem sollten sie die Verantwortung ihrer politischen Taumltigkeit ineinem kosmischen All uumlbernehmen das von einer guten Seele verwaltetwird Die primaumlre Ursache der Bewegung ist die Seele Beinahe waumlre dieSeele als Selbst-Bewegung ie ihre absolute Spontaneitaumlt als Bedingungihrer moralischen Verantwortung zum ersten Mal in der Geschichte derPhilosophie vorgekommen haumltte Platon diese Verbindung ausbuch-stabiert53

Eine Art Anthropozentrismus kommt in den spaumlteren platonischenSchriften vor Die Entscheidung ob wir dieses Konzept einer philoso-

51 Platorsquos Laws S 474 Auf aumlhnliche Weise auch Carone Evil and Teleology S295 Anm41

52 Mayhew argumentiert seinerseits dass es nicht darum gehe dass die Seeledie Ursache aller Dinge und daher sowohl schlechter wie guter Dinge sei DerInterpret meint die Seele sei fruumlher als der Koumlrper und in dieser Weise das Seeli-sche ndash einschlieszliglich der Moral ndash entsprechend fruumlher als das Koumlrperliche (PlatoLaws X S 131) Dennoch liegt die Pointe meines Erachtens nicht darin eineneingegrenzten Bereich ndash den der Ethik ndash anzusprechen sondern das Wesen derSeele als Ursache aller Gegensaumltze auszubuchstabieren was wiederum nichtheiszligt man sollte den Bereich der Moral voumlllig leugnen wie es Raphael Demostut lsquo[hellip] the soul is non-moral apt for both good and evil and so far forth inde-terminatersquo (Demosrsquo Hervorhebung Platorsquos Doctrine of the Psyche as a Self-Moving Motion In Journal of History of Philosophy (1968) S 133-145 HierS136)

53 Vgl Horn Christoph Der Begriff der Selbstbewegung bei Alkmaion undPlaton In Rechenauer Georg (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen2005 S 152-173 bes S 168ff und Baumgarten Hans-Ulrich Handlungstheoriebei Platon Platon auf dem Weg zum Willen Stuttgart 1998 S 241-264

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 21

phischen Kritik unterziehen sollten oden nicht mag hier dahingestelltbleiben Mit dem sbquoAnthropozentrismuslsquo bei Platon meine ich dass dasErschaffen des Weltalls auf der Basis einer Teleologie geschieht die aufden Menschen und seinen Beduumlrfnissen zentriert ist Man mag denTimaios heranziehen Der Anthropozentrismus scheint sich durch denganzen Monolog durchzusetzen in dem Timaios auf das Schaffen desMannes fokussiert ist Gemaumlszlig der Lehre der Wiedergeburt sind Frauenund Tiere schlechtere Formen von Lebewesen Es gibt zwei Passagendie als besonders anthropozentrisch gepraumlgt vorkommen Zum erstensind die Pflanzen um der Ernaumlhrung der sterblichen Lebewesen willengeschaffen worden (77e7-b1) Zum zweiten schafft der Demiurg dieuumlber das ganze All scheinende Sonne damit die dementsprechend aus-geruumlsteten Lebewesen an der Zahl teilnehmen nachdem sie von derBeobachtung der kosmischen Bewegung viel gelernt haben (39b2-c1)Um der Menschen und der Kultivierung der Philosophie willen schafftGott die Sonne und ermoumlglicht die Wahrnehmung der Sicht Dank desStudiums der himmlischen Bewegungen koumlnnen wir nach der Natur derZeit und des Alls fragen Auf diese Weise duumlrfen wir hoffen unsere ge-stoumlrte Bewegung der Vernunft der ungestoumlrten Bahn der kosmischenVernunft zu assimilieren (46e-47c 90c-d)

Wir haben die Kritik an der Einschraumlnkung im moralischen Bereichwiderlegt indem wir unseren unmittelbaren sowie weiteren Kontextberuumlcksichtigten Wegen des Fokuses auf den menschlichen Bereich unddie menschliche Seele geht die allgemeine Frage der Seele qua Seele nichtverloren Der Hintergrund der jetzigen Diskussion bleibt dieseallgemeine Fragestellung obgleich die menschliche Seele diejenige istdie sich gemaumlszlig der Vernunft oder gegen die Vernunft verhaumllt (897b1-5)Wir sollten die Unterscheidung zwischen weiteren kosmischen undmenschlichen Dimensionen bewahren wenn auch der spaumlte Platon denkosmischen Zusammenhang auf eine anthropozentrische oder sogar an-thropomorphische Weise beschreibt54 Es waumlre weder gerechtfertigtnoch legitim dass die Untersuchung uumlber die menschliche Seelediejenige uumlber die Seele qua Seele dominieren oder ausschoumlpfen wuumlrde

54 Zur Zentrierung des kosmischen Alls auf dem menschlichen Leben bei spauml-tem Platon s Carone Evil and Teleology S 296

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v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6

Von der allgemeinen Seelenlehre und der Seele qua Seele die bis dahindas Untersuchungsobjekt bildete gelangt der Athener jetzt zu einer be-sonderen Seele zur Weltseele Der Blickwechsel den der Athener imBereich seiner Betrachtung vollzieht sollte im Rahmen der platonischenSpaumltdialoge in denen Ontologie und Seelenlehre haumlufig in Kosmologiemuumlnden kein Erstaunen hervorrufen Als zwei Beispiele dafuumlr koumlnnender kosmologische Exkurs im Philebos (s oben Abschnitt I) und derUumlbergang von ψυχὴ πᾶσα (alles was Seele ist) zur Weltseele im Phaidros(245c5-246a2) gelten Was uumlber die Seele qua Seele gesagt wurde sollteauch im Fall der Weltseele Guumlltigkeit haben

raquoUnd weil die Seele in allem waltet und wohnt was sich auf ir-gendeine Weise bewegt muumlssen wir etwa nicht sagen dass sie auch denHimmel durchwaltelaquo55

Auf seine nur scheinbar unvermittelte und ploumltzliche Frage56 antwor-tet der Athener selbst

raquoEine oder mehrere Seelen Mehrere Ich werde fuumlr Euch antwortendass wir nicht weniger als zwei ansetzen sollten naumlmlich diejenige diedas Gute vervollkommnet und diejenige die faumlhig ist Entgegengesetztesdurchzufuumlhrenlaquo57

Dass der Athener im Namen seiner Gespraumlchspartner antwortet be-trachte ich als kein ausschlaggebendes Argument gegen die Realitaumlt einersbquoschlechten Weltseelersquo58 weil er sich noch auf die Seele qua Seele bezieht

55 Lg 896d10-e2 raquoΨυχὴν δὴ διοικοῦσαν καὶ ἐνοικοῦσαν ἐν ἅπασιν τοῖς πάντῃκινουμένοις μῶν οὐ καὶ τὸν οὐρανὸν ἀνάγκη διοικεῖν φάναιlaquo

56 Wilamowitz charakterisiert diese Frage zu Unrecht als sbquohereingeschneitlsquo(Platon II S 316) wogegen sich Kerschensteiner einsetzt (Platon und der Ori-ent S 73)

57 Lg 896e4-6 raquoΜίαν ἢ πλείους πλείους ἐγὼ ὑπέρ σφῷν ἀποκρινούμαι Δυοῖνμέν γέ που ἔλαττον μηδὲν τιθῶμεν τῆς τε εὐεργέτιδος καὶ τῆς τἀναντία δυναμένηςἐξεργάζεσθαιlaquo

58 Vgl Apelt Platons Gesetze S 539 Anm 48

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 23

Ist die Seele die das All verwaltet eine oder mehrere Haumltte Platon indi-viduelle Seelen ohne Bezug auf einen generellen Terminus sbquoSeelelsquo auf-zaumlhlen wollen haumltte er von mehr als zwei Seelen gesprochen Die Frageist sehr oft als Frage nach zwei Weltseelen verstanden worden Koumlnnteder Athener nicht die allgemeine Lehre der Seele qua Seele verlassen umsich auf die zwei partikulaumlren Weltseelen zu beziehen Dies haumltte derFall sein koumlnnen wenn die Weltseele mit Realitaumlt ausgestattet waumlre wassich aber nicht so verhaumllt Die oben genannte Frage kann nur die Seelequa Seele betreffen

Obgleich er haumlufig uumlberhoumlrt wird sollte der oben angewendete Dual beruumlcksichtigt werden weil er gegen ein Verstaumlndnis von zwei von-einander getrennten entgegengesetzten Seelen plaumldiert59 Auszliger demDual in 896e5 uumlberhoumlrt die Mehrheit der Interpreten hier noch etwasEntscheidendes Die der wohltaumltigen Seele entgegensetzte ist nicht eineeinfachhin und ohne Weiteres sbquoschlechte Seelersquo60 sondern die Seele raquodieimstande ist das Gegenteil zu bewirkenlaquo Genau in diesem Punkt uumlber-schneiden sich die allgemeine Seelenlehre nach der die Seele qua SeeleSelbstbewegung ist und als solche gut oder schlecht sein kann und diespezielle Lehre uumlber die kosmische Seele die ebenfalls qua Seele in derLage ist gut oder schlecht zu sein Deswegen sollten wir die Rede vonδύναμις in unserer Uumlbersetzung von sbquoτἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαιlsquo(Lg 896e6)61 nicht vernachlaumlssigen Die sbquoschlechte Seelelsquo wird nicht alseine bloszlige Privation der guten Seele eingefuumlhrt sondern als mit ihrereigenen Macht (δύναμις) ausgestattet Schlechtes zu bewirken62 als einenegative und destruktive Macht63

Wir sind dabei weit enfernt δύνασθαι mit einer aristotelischen sbquoerstenMoumlglichkeitlsquo zu identifizieren um die Ausscheidung einer schlechten

59 raquoDie Sprache hat die Dualform geschaffen nicht etwa um den Begriff derZahl zwei sondern um den Begriff der Zweiheit der paarweisenZusammengehoumlrigkeit auszudruumlckenlaquo (Wilhelm von Humboldt Uumlber denDualis Berlin 1828 S 18) Erst nach Platon als das Sprachgefuumlhl fuumlr die eigent-liche Bedeutung der Sprachformen an Lebendigkeit nachlieszlig bedeutete der Dualnicht selten den bloszligen Begriff sbquozweilsquo wobei die wahre und urspruumlngliche Naturdes Duals sich darin zeigt dass er entweder auf paarweise in der Natur verbun-dene Gegenstaumlnde angewendet wird oder auf solche welche in einer engen undgegenseitigen Beziehung gedacht werden (vgl Kuumlhner Raphael und FriedrichBlass Ausfuumlhrliche Grammatik der griechischen Sprache Zweiter Teil Satz-lehre Erster Teil Darmstadt 31966 S 69

60 Er spricht nur spaumlter von einer sbquoschlechten Seelersquo (897d1 vgl 898c4f)

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Weltseele schon in den oberen Zeilen zu finden Nach dieser Lektuumlrewaumlre die zweite Art von Seele nur imstande Schlechtes durchzufuumlhrenaber wuumlrde nicht tatsaumlchlich so etwas tun Waumlre das der Fall warumsollte der Athener uumlberhaupt erst zwischen zwei Arten von Seele unter-scheiden In einem Kontext wo die Staumlrke die praktische Macht sowieEffizienz und Dominanz der Seele uumlberwiegen64 ist die Option einersbquoersten Moumlglichkeitlsquo keine gelungene Annahme65 Nur in dem Fall desgoumlttlichen Demiurgen koumlnnten wir eine solche sbquoerste Moumlglichkeitlsquo an-wenden die sich nie wirklich durchsetzen wird Trotz seiner Faumlhigkeites zu tun ist der Demiurg nicht bereit die guten Mischungen aufzuloumlsenund die kosmische Ordnung zugrunde zu richten Das Konzept einesDemiurgen der faumlhig ist beides zu tun sowohl Gutes als auch Schlech-tes ist fuumlr Platon undenkbar weil Gott wesentlich gut ist66 Zu-gegebenermaszligen waumlre es zu weitreichend all das in 896e5f hineinzule-sen und die zweite Art der Seele mit dem goumlttlichen Demiurgen zuidentifizieren

61 Der δύναμις-Aspekt geht verloren bei Plutarch der stattdessen von der gutwirkenden und der entgegengesetzten Seele spricht die das Gegenteil vollbringtDe Is Et Osir 370F4-6 raquoὧν τὴν μὲν ἀγαθουργόν εἶναι τὴν δrsquo ἐναντίαν ταύτῃ καὶτῶν ἐναντίων δημιουργόνlaquo Den wichtigen Bezug auf δύναμις verpassen Jowettlsquoone the author of good and the other of the evilrsquo (The Dialogues of Plato S466) sowie Grube Platorsquos Thought lsquoone that does good and one that does evilrsquo(Platorsquos Thought S 146)

Brisson spricht von der Neutralitaumlt der Seele die faumlhig ist gut oder schlecht zusein (Vernunft Natur und Gesetz im zehnten Buch von Platons Gesetzen InHavlicek Ales (Hrsg) The Republic and the Laws of Plato Proceedings of theFirst Symposium Plato Symposium Platonicum Pragense 1 (1997) S 182-200Hier S189) ohne diese Textstelle heranzuziehen

62 Das Verb ist sbquoἐξεργάζεσθαιlsquo das nicht nur das Schlechte bewirken sondern esauch vollenden heiszligt (vgl ἔργον sowohl in als auch in ἐξεργάζεσθαι)

63 Vgl Dillons allgemeine Folgerung uumlber das ontologische Problem desSchlechten bei Platon (Monist and Dualist Tendencies S 11) Der Fall einerschlechten Seele die nicht als Privation der guten Seele vorkommt sondern alsraquofaumlhig Schlechtes zu vollendenlaquo unterstuumltzt Dillons Konklusion dass diesbquoschlechte Seelelsquo eine negative zerstoumlrende Macht sei

64 Vgl die Charakterisierung der Seele in 894d1f 895b665 Dank der Beobachtung von David Sedley wurde es mir klar dass ich

unabsichtlich eine aristotelsiche sbquoerste Potenzialitaumltlsquo in einer fruumlheren Versionvorgeschlagen hatte

66 Vgl oben Fuszlignote 7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 25

Bevor wir zur allgemeinen platonischen Psychologie uumlbergehen er-waumlgen wir eine zweite moumlgliche Unterscheidung der Seele in 896e4-6Bis jetzt habe ich die Distinktion zwischen guter und schlechter Seele alsselbstverstaumlndlich betrachtet Eine vorsichtigere Lektuumlre ermoumlglicht einezweite Option naumlmlich die Unterscheidung zwischen derwohlwollenden Seele die immer das Gute vollendet und derjenigen diefaumlhig ist entgegengesetzte Dinge (Plural) durchzufuumlhren sowohl Gutesals auch Schlechtes (τῆς τἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαι) Die ersteSeele kann keine andere als die goumlttliche sein67 Fuumlr die zweite Seele istder einzige Kandidat die menschliche Seele Auszligerdem wuumlrde die Seeleder Tiere unter die Seele fallen die sowohl Gutes als auch Schlechtestun kann weil sie einen logischen Teil beinhaltet auch wenn deformiertDas Goumlttliche ist immer gut Die Pflanzen moumlgen gut sein insofern siein eine globale Teleologie integriert sind Sie wuumlrden aber nie als faumlhigcharakterisiert etwas Gutes oder noch weniger etwas Schlechtes zutun noch wuumlrden sie die Verantwortung fuumlr die herbeigefuumlhrten gutenoder schlechten Wirkungen tragen Wenn diese Lektuumlre als die einzigemoumlgliche aufgewiesen werden koumlnnte wuumlrden wir mit Sicherheit dieFrage nach der schlechten Seele auf spaumlter verschieben68

Wie es auch sein mag befinden wir uns noch im Rahmen derallgemeinen Lehre der Seele qua Seele als Selbstbewegung Die kosmi-sche Seele ist in 896e1f aufgetaucht aber die Unterscheidung zwischender guten und der schlechten Seele oder der goumlttlichen und men-schlichen Seele wird auf einer allgemeinen Ebene gezogen69 Obgleichder Athener nicht die theorethischen Anspruumlche des Sophistes erhebtsetzt er die allgemeine platonische Ontologie voraus dergemaumlszlig dasSeiende qua Seiendes δύναμις sei Das Kriterium fuumlr alles was Seiendesist sei es Intelligibles oder Koumlrperliches Koumlrper oder Seele ist das Ver-moumlgen zu tun oder zu leiden70 Die Erforschung der Seele als Seiendesverlangt daher die Frage nach ihrer Kraft und ihrem Vermoumlgen (Lg892a2f) Der Gast aus Athen bezieht sich stets auf die δύναμις-Ontolo-

67 Der Athener kann noch nicht die gute Seele als goumlttlich charakterisierenDas Argument hat noch nicht die Goumlttlichkeit der Seele bewiesen

68 Der kreative Charakter der Dialektik ermoumlglicht mehr als eine richtige Ein-teilung Zu diesem Aspekt s Plt 286d-e und Delcomminettes Monographie

69 Anders als Taylor der den Uumlbergang von 896e2 zu e4 durch die Praumlmisseder Aktualitaumlt des Guten und Schlechten in der gegenwaumlrtigen Welt verhilft (TheLaws S 289 Anm 1) sehe ich keinen Eintritt eines a posteriori Arguments adhoc Alles bisherige entnimmt der Athener der allgemeinen Seelenlehre

26 Georgia Mouroutsou

gie des Phaidros sowie des Sophistes Er stellt die Frage was die Seele istund was fuumlr ein Vermoumlgen sie hat οἷόν τε ὂν τυγχάνει καὶ δύναμιν ἣνἔχει71

Obwohl die Frage nach dem Tun (ποιεῖν) oder Leiden (πάσχειν) derSeele als δύναμις nicht explizit gestellt wird72 bringt ihre Definition alsSelbstbewegung ein gleichzeitiges Tun (als Bewegen) und Leiden (alsBewegtwerden) zum Ausdruck73 Die Seele ist die Kraft die sich selbstund anderes bewegt74 Die Definition der Seele als Selbstbewegung kannentweder als Aktivitaumlt oder Passivitaumlt ausgedruumlckt werden Die Seele be-wegt sich selbst und wird von sich selbst bewegt Ein gleichzeitiges Tunund Leiden das aber nicht das gleiche Seiende verursacht geschieht beikoumlrperlicher Bewegung Ein Koumlrper mag auf einen anderen Koumlrper wir-ken und zu gleicher Zeit kann er von einer Seele oder einem anderenKoumlrper bewegt werden aber nicht von sich selbst75

Platon gibt die Definition der Seele in ihrer Allgemeinheit d hunabhaumlngig von ihren moumlglichen Manifestationen in konkretenLebewesen Alles was Seele ist soll Selbstbewegung sein mag es sichum die Seele des Menschen oder des Tieres oder der Pflanze handelnWeil die individuellen Manifestationen der Seele nicht beruumlcksichtigtwerden fehlt bei der Formel der Definition τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴνκινεῖν κίνησιν (896a1f) auch der Bezug auf den Koumlrper den die jeweiligekonkrete Seele beseelt Im Falle der Absenz der Materie in einer Defini-

70 Der Vorschlag des Gastes aus Elea in Sph 247d-e wird nicht allgemein alsPlatons Vorschlag uumlber Ontologie gedeutet Sehr haumlufig beschraumlnken Exegetendas Seiende als δύναμις auf die ad loc Argumentation gegen die MaterialistenAuch wenn dieses Argument als Platons Argument charakterisiert wird bleibtes sehr umstritten ob es eine allgemeine Ontologie betrifft (Brown) oder in eineOntologie der Ideen einmuumlndet (Gerson Politis) Darauf gehe ich hier nicht ein

71 Lg 892a3 vgl Lg 894b8-c1 und 896a1f72 Der Athener bezieht sich auf Tun und Leiden nur in 894c5f und meint

wahrscheinlich sowohl Seelisches als auch Koumlrperliches mit dem die Seele har-monisiert

73 In Lg 894b8-c1 und 896a1f beantwortet der Athener seine Frage nach derArt des Vermoumlgens mit dem die Seele ausgestattet ist Der gesamteZusammenhang verbindet die Frage nach dem Wesen eines Seienden mit derFrage nach seinem Vermoumlgen

74 Lg 893c4f75 Gaiser fuumlhrt den Ausgleich zwischen Passivitaumlt und Aktivitaumlt in der selbst-

bewegenden Seele auf das Zusammenwirken der zwei platonischen Prinzipienzuruumlck (Platons Ungeschriebene Lehre S 195f)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 27

tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

28 Georgia Mouroutsou

Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

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tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 31

welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

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zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

34 Georgia Mouroutsou

Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

40 Georgia Mouroutsou

werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

42 Georgia Mouroutsou

abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

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ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

12 Georgia Mouroutsou

retische Stemma sbquonur raumlumliche Bewegungsartenlsquo bieten kann weil derAthener von der Physik des Gegners ausgeht28 Platon offenbart jedochein Stuumlck von seiner eigenen Philosophie immer dann wenn er seinesbquoGegnerrsquo verbessert seien es die Herakliteer im Theaitetos die Materia-listen des Sophistes oder diejenigen der Gesetze Das Platonische derRaumlumlichkeit der seelischen Bewegung erklaumlrt auszligerdem Timaios fuumlrguumlltig der der Weltseele raumlumliche Bewegung beimisst Zur Bekraumlf-tigung dient daruumlber hinaus die aristotelische Kritik am platonischenVerstaumlndnis der Selbstbewegung als raumlumlicher Bewegung (de an I3)

Dass der Bewegung in der spaumlteren platonischen Philosophie einegrundlegende Rolle zukommt zeigen neben dem Timaios die DialogeSophistes und der Theaitetos Im Sophistes wird das ausgezeichnete so-wohl bewegte als auch im Stillstand befindliche Sein der Idee qua Ideebehandelt Im Theaitetos werden heraklitische Allbewegungs-Modelleim Bereich der Wahrnehmung kritisiert Im Timaios wird die Bewegungin ihrer ganzen kosmologischen Tragweite ausgelotet In dem letztenDialog zeigt Platon seine Aneignung und Transformation des Herakli-

25 Gemaumlszlig der Aufzaumlhlung Konrad Gaisers (Platons Ungeschriebene LehreStuttgart 19983 S 176f) und ohne Besprechung der immensen einzelnen Pro-bleme Die ontologische γένεσις uumlber die Linie und Flaumlche bis hin zumdreidimensionalen Koumlrper (894a2-5) gilt als noch urspruumlnglicher als die vorhererwaumlhnten raumlumlichen Bewegungsarten (893c1f) Dieser Primat unterscheidetsich von Aristotelesrsquo Auffassung wie die Kritik des Stagiriten belegt (GC I2315a29ff) Der Bewegungskatalog ist von grundlegender Bedeutung fuumlr das Ver-staumlndnis der Prioritaumlt der Seele Hier begnuumlge ich mich mit der Hervorhebungder Beitraumlge von Gaiser und Solmsen (Aristotlersquos System of the Physical WorldA Comparison With His Predecessors New York 1960) Gaiser hat den sys-tematischen Charakter der Aufzaumlhlung der Bewegungsarten in Verbindung zuder indirekten Uumlberlieferung ausgearbeitet (Platons Ungeschriebene Lehre S173-186) Man folgt oft seiner Interpretation der besonders dunklen Stelle Lg894a1-8 und zwar mit oder ohne explizite Erwaumlhnung seines Beitrags zum Bei-spiel Pietsch C Die Dihairesis der Bewegung hier S 316 Anm 45 SchoumlpsdauK Platon Werke in Acht Baumlnden Griechisch und Deutsch Achter Band Zwei-ter Teil Platon Gesetze Buch VII-XII Minos Darmstadt 20054 S 291 Anm 26Mayhew R Plato Laws X Oxford 2008 S 112ff Solmsen (Aristotlersquos System)bietet seinerseits eine sehr ausgewogene Hermeneutik der platonischen undaristotelischen Bewegungslehre an die gegenuumlber der neueren oft hinter ihrzuruumlckbleibenden Forschung noch immer als exemplarisch gelten sollte

26 Lg 894b8-c1 894c3-827 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 304 und oumlfters28 Ebd S 320

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 13

tismus im Bereich der Ontologie des Wahrnehmbaren auf (48eff) des-sen Ausarbeitung nach wie vor eine Aufgabe fuumlr die Platon-Forschungdarstellt

Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich dass sbquoKoumlrperrsquo undsbquoSeelersquo als verschiedene Arten von Bewegung aufgefasst werden Hiersehe ich keine Verwirrung bei Platon zwischen einer Bewegungsart(Selbstbewegung) und der Seele als unabhaumlngiger Substanz Anders alsRichard Stalley29 verstehe ich sowohl die Selbstbewegung als auch dieSeele qua Seele als auf einen Koumlrper bezogen wenn auch unabhaumlngigvom jeweiligen Koumlrper gedacht und definiert Sogar die schlechte Welt-seele bliebe somit bezogen auf den Weltkoumlrper waumlre sie real

iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer an-tiken Auffassung

Halten wir inne Der Seele wird eine Art Prioritaumlt beigemessen die sichauf die in ihrer Definition widergespiegelte Natur als Selbstbewegungstuumltzt Als solche zeigt sich die Seele qua Seele und unabhaumlngig von allihren konkreten Manifestationen als aumllter wirksamer und maumlchtiger un-ter allen Bewegungen Und nicht nur dies Sie zeigt sich auch als dieeigentliche Bewegung und Veraumlnderung alles anderen Seienden30 Wirbefinden uns also im Rahmen der Problematik des Leib-Seele-Dualis-mus der neben dem Dualismus von Idee und Erscheinung der alssbquoZwei-Welten-Lehrelsquo beruumlhmt bzw beruumlchtigt wurde sowie dem in derAntike und Moderne debattierten Dualismus der zwei platonischenPrinzipien weitlaumlufig Karriere in der Geschichte des Platonismusgemacht hat31

29 Stalley An Introduction to Platorsquos Laws Oxford 1983 S 171f30 Lg 894c6f31 Die Tatsache dass hier die zwei letzteren Arten von Dualismus nicht vor-

kommen bedeutet keinesfalls dass der alte resignierte Platon seine Ideen- oderPrinzipienlehre aufgegeben habe (so Muumlller Gerhard Studien zu den Platoni-schen Nomoi Muumlnchen 1951 19682 aumlhnlich Rist Eros and Psyche S 87ff)Auf die platonische Ideenlehre weist der Gast als auf einen wesentlichen Teil derErziehung der sbquonaumlchtlichen Versammlungrsquo hin (Lg 965b-966b) Hier sei dieschwierigere Frage dahingestellt inwieweit die angedeutete Lehre der klassi-schen Ideenlehre der mittleren Dialoge entspricht

14 Georgia Mouroutsou

Platon problematisiert den Leib-Seele Dualismus nicht nur aufgrundder allgemeinen Frage nach sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo sondern auch weil erauf der moumlglichen Interaktion zwischen der intelligiblen Seele (derSonne) und ihrem wahrnehmbaren Koumlrper reflektiert (in Lg 898e8-899a4)32 Obgleich wir nicht viel Positives uumlber die platonische Auffas-sung der Art der Beziehung zwischen Koumlrper und Seele aussagenkoumlnnen sind wir damit doch imstande auf entschiedene Weise einigesauszuschlieszligen Wir werden mit dem Materialismus und dem Mentalis-mus anfangen die mit weniger Muumlhe abgelehnt werden koumlnnen als derso charakterisierte sbquorobuster Dualismuslsquo dem wir uns anschlieszligendwidmen

Die These des Materialismus wonach das Seelische auf Koumlrperlicheszuruumlckzufuumlhren sei gewinnt nicht die Oberhand in diesem KontextDie Materialisten bleiben die Gegner des Atheners durch das ganze Ar-gument hindurch Noch modifizierte Materialisten finden einen Belegfuumlr ihre These dass das Seelische unsichtbares Koumlrperliches sei Neu-erdings hat Gabriela Carone diese Auffassung des sbquomodifizierten Mate-rialismuslsquo als genuin platonisch vertreten33 was eine gerechtfertigteReaktion von Francesco Fronterotta hervorgerufen hat34 Bei ihrem Ver-such die Materialitaumlt der Seele aufzuweisen begeht Carone einengrundsaumltzlichen Fehler Sie geht ohne jede Argumentation von der Moumlg-lichkeit eines unsichtbaren Koumlrpers zu einem Verstaumlndnis der Seele alskoumlrperlich uumlber35 Die Ausdehnung sei (nach Platon) wesentliche Eigen-schaft des Koumlrperlichen Weil sie raumlumlich ist muumlsste die Seele daher ir-gendeine Art koumlrperlicher Natur besitzen Carone gibt zu lsquoOf course

32 Die Stelle charakterisiert Thomas Robinson als lsquoa splendid memorial to his[Platorsquos] intellectual honestyrsquo (The Defining Features of Mind-Body Dualism inthe Writings of Plato In John Wright und Paul Potter (Hrsg) Psyche andSoma Physicians and Metaphysicians on the Mind-Body Problem From Antiq-uity to Enlightenment S 37-55 Hier S 55) lsquoTo the end he is wrestling with theproblem that lies at the heart of all psycho-physical dualism the problem ofrelating a physical substance to an immaterial one and to the end he openlyadmits his bafflementrsquo (ebd)

33 Carone Gabriela Mind and Body in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichteder Philosophie 87 (2005) S 227-269 Hier S 256f

34 Fronterotta schmaumllert gewisse Staumlrken des Argumentes von Carone undbringt daher die platonische Methode der sbquoVerbesserungrsquo des Gegners in diesemFall der Materialisten nicht zur Anwendung (Fronterotta Fransesco Carone onthe Mind-Body Problem in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichte der Philoso-phie 89 (2007) S 231-236)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 15

there is still a gap to be filled between spatial extension and corporeal-ityrsquo36 Trotz ihres Zugestaumlndnisses fuumlllt Carone diese Luumlcke leider nichtund offenbart auf diese Weise ihre nicht hinterfragte (oder bei Platonnicht bewaumlhrte) Cartesianische Praumlmisse37

Noch belegt unser Zusammenhang das andere Extrem einer ArtMentalismus nach dem das Koumlrperliche vom Seelischen ableitbar istSowohl die Darstellung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper alszwischen Ganzem und Teil (Chrm 156dff) als auch die oumlrtliche Meta-pher der den Koumlrper umhuumlllenden Seele (Ti 36e3f und Lg 898d11-e238)eroumlffnen dennoch den Raum fuumlr eine solche Auffassung Dennoch un-terstuumltzt der Kontext in den Gesetzen nicht diese Auffassung Anders alsder materialistisch gepraumlgte Typus vertreten die sbquoPhilosophierendenlsquokeine reduktionistische These was nicht nur den Materialismus sondernauch den Mentalismus ausschliesst

In modernen Diskussionen des Leib-Seele-Problems wird Platon allzuoft als Vertreter eines sbquorobusten Dualismuslsquo dargestellt39 Demgemaumlszlighandelt es sich bei Seele und Koumlrper um zwei selbststaumlndige vonei-nander abgetrennte Substanzen die erst nachtraumlglich vereinigt werden

35 Carone Mind and Body S 237 die Voraussetzungen eines solchen Ver-staumlndnisses hat Fronterotta ans Licht gebracht Carone on the Mind-Body Pro-blem S 233

36 Carone Mind and Body S 240 Anm 4337 Vgl Carones selbstverstaumlndliche Redeweise lsquospatial or material conditionsrsquo

lsquobody and spacersquo lsquospace and bodyrsquo Mind and Body S 264 Zu einer einsichtige-ren Unterscheidung der Arten vom Dualismus bei Platon und Descartes sSarah Broadie Soul and Body in Plato and Descartes In The AristotelianSociety 101 (2001) S 295-308

38 Die zweite zaumlhlt Robinson nicht mit auf The Defining Features of Mind-Body Dualism S 40 Anm 12 Lg 898d11-e2 hat mehrere Deutungen undUumlbersetzungen veranlasst Περιφύειν wird mit aumlhnlicher Bedeutung in R 612aangewendet (sbquoherum- oder anwachsenlsquo) Diese Metapher in den Gesetzen undderen Uumlbersetzung verfehlen Otto Apelt Platons Gesetze Zweiter Band Leip-zig 1916 S 419 Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 S 163 mit Anm 2 Robin Leacuteon Oeuvres completesPlaton Paris 1950 Zweiter Band S 1025 richtig verstehen die Stelle JowettBenjamin The Dialogues of Plato Oxford 41953 S 468f Taylor Alfred E TheLaws of Plato London 21960 S 291 Muumlller Studien S 92 Anm 1 Bury Rob-ert Plato with an English Translation IX and X Laws London-New York1952 S 346 mit Anm Saunders Plato The Laws S 430 Cooper John (Hrsg)Plato Complete Works Cambridge 1997 S 1555 Mayhew Plato Laws X S29

16 Georgia Mouroutsou

muumlssen was hier nicht ausdruumlcklich widerlegt wird Neuerdings hatFronterotta diese Auffassung vertreten40 wobei auch seine Deutung aufzwei unaufhebbaren Schwierigkeiten im Timaios stoumlszligt Zum ersten istdie Weltseele raumlumlich ausgedehnt Zum zweiten ist sie das Produkteiner Mischung was nicht nur Carones These widerlegt dass die Seelekoumlrperlich sei ndash da hat Fronterotta Recht ndash sondern auch gegen einen ab-soluten unuumlberbruumlckbaren Gegensatz zwischen einer rein rationalerSeele und dem Weltkoumlrper plaumldiert41

Auf dem ersten Blick scheint unser Kontext in den Gesetzen nicht aufexplizite Weise den weit verbreiteten Vorschlag eines Substanz-Dualis-mus abzuweisen Weil sich aber in diesem Zusammenhang sowohl dieseelische als auch die koumlrperliche Bewegung im Raum vollziehen (Lg893c1f) ist die Dimensionalitaumlt keinesfalls ausschlieszliglich dem Koumlrperzugeordnet was sich wiederum mit einem starren Dualismus nicht ver-traumlgt42

Jedenfalls ist ein gewisser Dualismus insofern nicht zu uumlbergehen alsdie seelische Bewegung die koumlrperliche nicht produzieren kann43 NachLg 896e8-897b4 sbquonehmenrsquo die seelischen als die primaumlren Bewegungendie sekundaumlren koumlrperlichen sbquoaufrsquo Das gleiche Verb (παραλαμβάνειν897a5) wendet auch der Timaios an Der Demiurg nimmt das auf unge-ordnete und fast verbrecherische Weise bewegte Wahrnehmbare sowiespaumlter im Dialog das was ἀνάγκη bewirkt (68e3) auf Die unterstehendenGottheiten nehmen ihrerseits den rationalen Teil der Seele auf um ihn mitdem sterblichen Teil im Koumlrper zu verknuumlpfen (Ti 69c5) Diesen ver-schiedenen Zusammenhaumlngen koumlnnen wir keine Umkehrung der Prio-ritaumlt der Seele gegenuumlber dem Koumlrper entnehmen Was sich mit einer anSicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ausschlieszligen laumlsst ist eine

39 S Burnyeat Myles Is An Aristotelian Philosophy of Mind Still CredibleA Draft In Nussbaum A M-Rorty (Hrsg) Essays on Aristotlersquos De AnimaOxford 1992 S 15-26 Hier S 16 Putnam Hilary The Threefold Cord MindBody and World New York 1999 S 97 Stephen Priest Theories of the MindLondon 1991 S 8-15 57 162)

40 Fronterotta Carone on the Mind-Body Problem41 Platon behandelt das Problem der Verbindung zwischen der Seele und dem

Koumlrper wie die Vermittlung durch das Mark beweist (Ti 73b-c) was wir abernicht als Beleg dafuumlr betrachten sollten dass Platon zum Vorlaumlufer von Descar-tes wird

42 Thomas Johansen begeht diesen Weg in seiner Timaios-Auslegung43 Vgl Mason Andrew Plato on the Self-Moving Soul In Philosophical

Inquiry 1998 S 18-28 Hier S 24 28

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 17

Herleitung des Koumlrperlichen aus dem Seelischen44 Diese Unterscheidungzwischen Koumlrper und Seele erlaubt es dem Dialektiker je nachZusammenhang die Seele qua Seele (so in der vorliegenden Passage der Ge-setze) und den Koumlrper qua Koumlrper (so im Timaios) zu betrachten ohne einereduktionistische Auslegung vorauszusetzen

Auf dieser Basis wird ein Reduktionismus des Koumlrpers auf die Seele aus-geschlossen Ausserdem unterstuumltzt der Wortlaut des Textes nicht das Ver-staumlndnis der ontologischen Prioritaumlt die Aristoteles in Metaph V11 an-spricht Es geht in unserem Kontext nicht darum was Aristoteles undAlexander als platonische Auffassung und akademisches Gut dar-stellen45 Als Kriterium der ontologischen Rangfolge wird dassbquoMitaufgehobenwerdenrsquo des Spaumlteren angegeben Demgemaumlszlig setzt dasontologisch Spaumltere das Fruumlhere voraus aber nicht umgekehrt Wenndas Fruumlhere aufgehoben wuumlrde wuumlrde auch das Spaumltere aufgehobenwas sich aber nicht umkehren laumlsst Soweit geht Platon bei der hiesigenBetrachtung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper jedoch nichtDie Rede von der sbquoAufnahmersquo der koumlrperlichen Bewegungen von denseelischen ist weniger mit einer ontologischen Prioritaumlt der Seele (wieoben dargelegt) als vielmehr mit einer Aufeinanderbezogenheit vonSeele und Koumlrper vertraumlglich

Um eine uumlber den Rahmen dieses Beitrags hinausgehende positive Louml-sung fuumlr Platons Leib-Seele-Dualismus zu entwickeln ist es noumltigeinige falsche Meinungen zu korrigieren wozu die obere Darlegung bei-traumlgt

iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Ar-gument

44 Pace England Edwin The Laws of Plato London 1921 Zweiter Band S476 der παραλαμβάνειν als lsquobring in their trainrsquo versteht In allen obenerwaumlhnten Zusammenhaumlngen ist klar dass das Aufgenommene nicht vomAufnehmenden geschaffen wird Die Uumlberlegenheit des letzteren bleibt davonunberuumlhrt

45 Vor allem in Arist Metaph V11 1019a2-4 vgl Alexander In AristotMetaph I 6 987b33 Gaiser Testimonium Platonicum 22B

18 Georgia Mouroutsou

Wir kehren zu unserem Text zuruumlck Da der Seele ontologische Prioritaumltgegenuumlber dem Koumlrper verliehen wird ist auch das der Seele Verwandteontologisch fruumlher als das was dem Koumlrper zugehoumlrt

raquoVerhaltensweisen aber und Gemuumltsarten Willensakte Schluss-folgerungen wahre Meinungen Fuumlrsorge und Erinnerungen duumlrftenfruumlher entstanden sein als koumlrperliche Laumlnge Breite Tiefe und Staumlrkewenn eben die Seele fruumlher als der Koumlrper entstanden sein solltelaquo46

Im Anschluss daran hilft uns der Athener nachzuvollziehen warumPlaton eben hier die sbquoschlechte Seelersquo einfuumlhrt Man muumlsse darin uumlberein-stimmen dass die Seele Ursache sowohl des Guten als auch des Boumlsendes Schoumlnen und des Schlechten des Gerechten und des Ungerechtenund aller Gegensaumltze sei

raquoIst es denn nicht noumltig darin uumlbereinzustimmen dass die Seele dieUrsache des Guten sowie des Schlechten des Schoumlnen sowie des Haumlszlig-lichen des Gerechten sowie des Ungerechten und uumlberhaupt allerGegensaumltze wenn wir sie als Ursache von allem setzenlaquo47

Diese Zeilen sind aumluszligerst wichtig weil hier und nicht erst in 896e4ffder Gegensatz von sbquogut und schlechtlsquo eingefuumlhrt wird Dem Argumentist vorgeworfen worden es sei schwach Unter den Kritikern verstehtStalley den Schluss auf folgende Weise lsquoSoul since it is the source ofeverything must be the source of valuesrsquo Er wundert sich dass Werteohne Begruumlndung und ohne Erklaumlrung ihrer Existenzweise eingefuumlhrtwerden48 Dementgegen werde ich eine wohlwollendere Annaumlherungvorschlagen Nach der Rekonstruktion des Arguments werde ich eineArt sbquoanthropozentrischer Wendelsquo in einen breiteren Kontext situieren

Wie er expliziert (896d8) zieht der Gast aus Athen diesen Schlussdaraus dass die Seele als Ursache von allem angesetzt worden ist Bevorwir diese Begruumlndung als einen Fehlschritt charakterisieren sollten wiruns zusammen mit Kleinias erinnern dass die sbquoSeelersquo die Veraumlnderungvon allem herbeifuumlhrt49 Mit Hilfe einer anderen Formulierung ist dieSeele raquodie Veraumlnderung und Bewegung von allem Seiendenlaquo50

46 Lg 896c9-d3 raquoΤρόποι δὲ καὶ ἤθη καὶ βουλήσεις καὶ λογισμοὶ καὶ δόξαιἀληθεῖς ἐπιμέλειαί τε καὶ μνῆμαι πρότερα μήκους σωμάτων καὶ πλάτους καὶβάθους καὶ ῥώμης εἴη γεγονότα ἄν εἰπερ καὶ ψυχὴ σώματοςlaquo

47 Lg 896d5-7 raquoἎρrsquo οὖν τὸ μετὰ τοῦτο ὁμολογεῖν ἀναγκαῖον τῶν τε ἀγαθῶναἰτίαν εἶναι ψυχὴν καὶ τῶν κακῶν καὶ καλῶν καὶ αἰσχρῶν δικαίων τε καὶ ἀδίκωνκαὶ πάντων τῶν ἐναντίων εἴπερ τῶν πάντων γε αὐτὴν θήσομεν αἰτίανlaquo

48 Stalley An Introduction S 172 49 Lg 892a6f

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Die Bewegung ist hier als Wechsel und Veraumlnderung (μεταβολή) in ih-ren weitesten Sinn zu verstehen seien sie im Raum in Bezug auf dieSubstanz die Qualitaumlt oder die Quantitaumlt Der Uumlbergang findet zwi-schen Gegensaumltzen statt Die ersten Paare von Gegensaumltzen die derAthener vor der Verallgemeinerung in 897d7 anspricht sind Ver-bindungen und Trennungen Wachstum und Schwund sowie Prozessedes Wedens und Vergehens (894b10f) Die Seele zeigt sich als dieUrsache von aller Art koumlrperlicher Veraumlnderung Wenn eine Seele einenWechsel von einem schlechten zu einem guten Zustand verursacht dannist diese Seele in sich selbst gut Wenn eine Seele einen schlechtenEinfluss auf einen Zustand uumlbt dann ist sie dafuumlr verantwortlich Es istbemerkenswert dass der Gegensatz zwischen sbquogutlsquo und sbquoschlechtlsquo nichtauf die Unterscheidung zwischen sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo oder diejenigezwischen sbquoseelischer Bewegunglsquo und sbquokoumlrperlicher Bewegunglsquo zu-ruumlckgefuumlhrt wird Der Koumlrper kann nicht als schlecht charakterisiertwerden weil nach dem spaumlten Platon der Koumlrper qua Koumlrper weder gutnoch schlecht in sich selbst ist

Wenn die Seele die Ursache von allem ist so der Athener dann musssie die Ursache von allen Gegensaumltzen sein einschlieszliglich des Bereichsder Ethik Die gleichen Gegensatzspaare von sbquogut und schlecht schoumlnund haumlszliglich sowie gerecht und ungerechtlsquo tauchen in Euthph 7c10ff alsder Zankapfel der menschlichen Debatten auf die vor Gericht gefuumlhrtwerden koumlnnen Auch in Grg 459d1ff gehoumlren sie zur rhetorischenKunst die kein Wissen daruumlber erwerben kann In Plt 296c5-7 erfahrenwir dass ein Irrtum im Rahmen der politischen Kunst das Schaumlndlichedas Schlechte und das Ungerechte verursacht Was der Rhetor verfehltweiszlig der Staatsmann Der goumlttliche Teil der menschlichen Seele mag einewahre Meinung uumlber Schoumlnes Gutes und Gerechtes stiften (Plt 309c5-8)

Indem die Seele fuumlr alle moumlglichen koumlrperlichen Veraumlnderungen ver-antwortlich gemacht wird gelangen wir in unserem Zusammenhang zuder Seele als der primaumlren Ursache auch des Schlechten und nichtaufgrund der Frage woher das Schlechte komme Der Athener machtnirgends explizit dass er die Seele als die einzige Ursache des Schlechtensei Bedenken sollte daher gegen Englands Beobachtung geaumluszligert wer-den in 896d5 werde die Frage nach dem Uumlbel eingefuumlhrt und insbe-

50 Lg 894c6f raquoκαλουμένην δὲ ὄντως τῶν ὄντων πάντων μεταβολὴν καὶκίνησινlaquo

20 Georgia Mouroutsou

sondere gegen seine Folgerung lsquoHaving identified ψυχή with the αἰτίαἀγαθοῦ τε καὶ κακοῦ he is bound to talk of the αἰτία κακοῦ as ψυχήrsquo51

Auf das seelische Uumlbel konzentriert sich hier der Athener Verabsolutie-rende Konklusionen uumlber das Uumlbel schlechthin sind daher der Ge-spraumlchssituation nicht zu entnehmen Jedenfalls waumlre der bestimmte Ar-tikel noumltig vor αἰτίαν (sowohl in 896d6 als auch in d8)

Der Athener zielt darauf die Natur der Seele als die Ursache von allenGegensaumltzen auszulotten und fuumlhrt dann das Feld der menschlichenEthik ein ohne seinen Uumlbergang oder eher seine Einschraumlnkung zu er-klaumlren52 Die konkrete politische Situation in den Gesetzen bietet eineplausible Erklaumlrung fuumlr diesen Uumlbergang von der Seele qua Seele zurmenschlichen Seele Die Buumlrger von Magnesia sollten ihre Machtwahrnehmen sowohl zum Guten als auch zum Schlechten beizutragenAuszligerdem sollten sie die Verantwortung ihrer politischen Taumltigkeit ineinem kosmischen All uumlbernehmen das von einer guten Seele verwaltetwird Die primaumlre Ursache der Bewegung ist die Seele Beinahe waumlre dieSeele als Selbst-Bewegung ie ihre absolute Spontaneitaumlt als Bedingungihrer moralischen Verantwortung zum ersten Mal in der Geschichte derPhilosophie vorgekommen haumltte Platon diese Verbindung ausbuch-stabiert53

Eine Art Anthropozentrismus kommt in den spaumlteren platonischenSchriften vor Die Entscheidung ob wir dieses Konzept einer philoso-

51 Platorsquos Laws S 474 Auf aumlhnliche Weise auch Carone Evil and Teleology S295 Anm41

52 Mayhew argumentiert seinerseits dass es nicht darum gehe dass die Seeledie Ursache aller Dinge und daher sowohl schlechter wie guter Dinge sei DerInterpret meint die Seele sei fruumlher als der Koumlrper und in dieser Weise das Seeli-sche ndash einschlieszliglich der Moral ndash entsprechend fruumlher als das Koumlrperliche (PlatoLaws X S 131) Dennoch liegt die Pointe meines Erachtens nicht darin eineneingegrenzten Bereich ndash den der Ethik ndash anzusprechen sondern das Wesen derSeele als Ursache aller Gegensaumltze auszubuchstabieren was wiederum nichtheiszligt man sollte den Bereich der Moral voumlllig leugnen wie es Raphael Demostut lsquo[hellip] the soul is non-moral apt for both good and evil and so far forth inde-terminatersquo (Demosrsquo Hervorhebung Platorsquos Doctrine of the Psyche as a Self-Moving Motion In Journal of History of Philosophy (1968) S 133-145 HierS136)

53 Vgl Horn Christoph Der Begriff der Selbstbewegung bei Alkmaion undPlaton In Rechenauer Georg (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen2005 S 152-173 bes S 168ff und Baumgarten Hans-Ulrich Handlungstheoriebei Platon Platon auf dem Weg zum Willen Stuttgart 1998 S 241-264

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 21

phischen Kritik unterziehen sollten oden nicht mag hier dahingestelltbleiben Mit dem sbquoAnthropozentrismuslsquo bei Platon meine ich dass dasErschaffen des Weltalls auf der Basis einer Teleologie geschieht die aufden Menschen und seinen Beduumlrfnissen zentriert ist Man mag denTimaios heranziehen Der Anthropozentrismus scheint sich durch denganzen Monolog durchzusetzen in dem Timaios auf das Schaffen desMannes fokussiert ist Gemaumlszlig der Lehre der Wiedergeburt sind Frauenund Tiere schlechtere Formen von Lebewesen Es gibt zwei Passagendie als besonders anthropozentrisch gepraumlgt vorkommen Zum erstensind die Pflanzen um der Ernaumlhrung der sterblichen Lebewesen willengeschaffen worden (77e7-b1) Zum zweiten schafft der Demiurg dieuumlber das ganze All scheinende Sonne damit die dementsprechend aus-geruumlsteten Lebewesen an der Zahl teilnehmen nachdem sie von derBeobachtung der kosmischen Bewegung viel gelernt haben (39b2-c1)Um der Menschen und der Kultivierung der Philosophie willen schafftGott die Sonne und ermoumlglicht die Wahrnehmung der Sicht Dank desStudiums der himmlischen Bewegungen koumlnnen wir nach der Natur derZeit und des Alls fragen Auf diese Weise duumlrfen wir hoffen unsere ge-stoumlrte Bewegung der Vernunft der ungestoumlrten Bahn der kosmischenVernunft zu assimilieren (46e-47c 90c-d)

Wir haben die Kritik an der Einschraumlnkung im moralischen Bereichwiderlegt indem wir unseren unmittelbaren sowie weiteren Kontextberuumlcksichtigten Wegen des Fokuses auf den menschlichen Bereich unddie menschliche Seele geht die allgemeine Frage der Seele qua Seele nichtverloren Der Hintergrund der jetzigen Diskussion bleibt dieseallgemeine Fragestellung obgleich die menschliche Seele diejenige istdie sich gemaumlszlig der Vernunft oder gegen die Vernunft verhaumllt (897b1-5)Wir sollten die Unterscheidung zwischen weiteren kosmischen undmenschlichen Dimensionen bewahren wenn auch der spaumlte Platon denkosmischen Zusammenhang auf eine anthropozentrische oder sogar an-thropomorphische Weise beschreibt54 Es waumlre weder gerechtfertigtnoch legitim dass die Untersuchung uumlber die menschliche Seelediejenige uumlber die Seele qua Seele dominieren oder ausschoumlpfen wuumlrde

54 Zur Zentrierung des kosmischen Alls auf dem menschlichen Leben bei spauml-tem Platon s Carone Evil and Teleology S 296

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v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6

Von der allgemeinen Seelenlehre und der Seele qua Seele die bis dahindas Untersuchungsobjekt bildete gelangt der Athener jetzt zu einer be-sonderen Seele zur Weltseele Der Blickwechsel den der Athener imBereich seiner Betrachtung vollzieht sollte im Rahmen der platonischenSpaumltdialoge in denen Ontologie und Seelenlehre haumlufig in Kosmologiemuumlnden kein Erstaunen hervorrufen Als zwei Beispiele dafuumlr koumlnnender kosmologische Exkurs im Philebos (s oben Abschnitt I) und derUumlbergang von ψυχὴ πᾶσα (alles was Seele ist) zur Weltseele im Phaidros(245c5-246a2) gelten Was uumlber die Seele qua Seele gesagt wurde sollteauch im Fall der Weltseele Guumlltigkeit haben

raquoUnd weil die Seele in allem waltet und wohnt was sich auf ir-gendeine Weise bewegt muumlssen wir etwa nicht sagen dass sie auch denHimmel durchwaltelaquo55

Auf seine nur scheinbar unvermittelte und ploumltzliche Frage56 antwor-tet der Athener selbst

raquoEine oder mehrere Seelen Mehrere Ich werde fuumlr Euch antwortendass wir nicht weniger als zwei ansetzen sollten naumlmlich diejenige diedas Gute vervollkommnet und diejenige die faumlhig ist Entgegengesetztesdurchzufuumlhrenlaquo57

Dass der Athener im Namen seiner Gespraumlchspartner antwortet be-trachte ich als kein ausschlaggebendes Argument gegen die Realitaumlt einersbquoschlechten Weltseelersquo58 weil er sich noch auf die Seele qua Seele bezieht

55 Lg 896d10-e2 raquoΨυχὴν δὴ διοικοῦσαν καὶ ἐνοικοῦσαν ἐν ἅπασιν τοῖς πάντῃκινουμένοις μῶν οὐ καὶ τὸν οὐρανὸν ἀνάγκη διοικεῖν φάναιlaquo

56 Wilamowitz charakterisiert diese Frage zu Unrecht als sbquohereingeschneitlsquo(Platon II S 316) wogegen sich Kerschensteiner einsetzt (Platon und der Ori-ent S 73)

57 Lg 896e4-6 raquoΜίαν ἢ πλείους πλείους ἐγὼ ὑπέρ σφῷν ἀποκρινούμαι Δυοῖνμέν γέ που ἔλαττον μηδὲν τιθῶμεν τῆς τε εὐεργέτιδος καὶ τῆς τἀναντία δυναμένηςἐξεργάζεσθαιlaquo

58 Vgl Apelt Platons Gesetze S 539 Anm 48

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 23

Ist die Seele die das All verwaltet eine oder mehrere Haumltte Platon indi-viduelle Seelen ohne Bezug auf einen generellen Terminus sbquoSeelelsquo auf-zaumlhlen wollen haumltte er von mehr als zwei Seelen gesprochen Die Frageist sehr oft als Frage nach zwei Weltseelen verstanden worden Koumlnnteder Athener nicht die allgemeine Lehre der Seele qua Seele verlassen umsich auf die zwei partikulaumlren Weltseelen zu beziehen Dies haumltte derFall sein koumlnnen wenn die Weltseele mit Realitaumlt ausgestattet waumlre wassich aber nicht so verhaumllt Die oben genannte Frage kann nur die Seelequa Seele betreffen

Obgleich er haumlufig uumlberhoumlrt wird sollte der oben angewendete Dual beruumlcksichtigt werden weil er gegen ein Verstaumlndnis von zwei von-einander getrennten entgegengesetzten Seelen plaumldiert59 Auszliger demDual in 896e5 uumlberhoumlrt die Mehrheit der Interpreten hier noch etwasEntscheidendes Die der wohltaumltigen Seele entgegensetzte ist nicht eineeinfachhin und ohne Weiteres sbquoschlechte Seelersquo60 sondern die Seele raquodieimstande ist das Gegenteil zu bewirkenlaquo Genau in diesem Punkt uumlber-schneiden sich die allgemeine Seelenlehre nach der die Seele qua SeeleSelbstbewegung ist und als solche gut oder schlecht sein kann und diespezielle Lehre uumlber die kosmische Seele die ebenfalls qua Seele in derLage ist gut oder schlecht zu sein Deswegen sollten wir die Rede vonδύναμις in unserer Uumlbersetzung von sbquoτἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαιlsquo(Lg 896e6)61 nicht vernachlaumlssigen Die sbquoschlechte Seelelsquo wird nicht alseine bloszlige Privation der guten Seele eingefuumlhrt sondern als mit ihrereigenen Macht (δύναμις) ausgestattet Schlechtes zu bewirken62 als einenegative und destruktive Macht63

Wir sind dabei weit enfernt δύνασθαι mit einer aristotelischen sbquoerstenMoumlglichkeitlsquo zu identifizieren um die Ausscheidung einer schlechten

59 raquoDie Sprache hat die Dualform geschaffen nicht etwa um den Begriff derZahl zwei sondern um den Begriff der Zweiheit der paarweisenZusammengehoumlrigkeit auszudruumlckenlaquo (Wilhelm von Humboldt Uumlber denDualis Berlin 1828 S 18) Erst nach Platon als das Sprachgefuumlhl fuumlr die eigent-liche Bedeutung der Sprachformen an Lebendigkeit nachlieszlig bedeutete der Dualnicht selten den bloszligen Begriff sbquozweilsquo wobei die wahre und urspruumlngliche Naturdes Duals sich darin zeigt dass er entweder auf paarweise in der Natur verbun-dene Gegenstaumlnde angewendet wird oder auf solche welche in einer engen undgegenseitigen Beziehung gedacht werden (vgl Kuumlhner Raphael und FriedrichBlass Ausfuumlhrliche Grammatik der griechischen Sprache Zweiter Teil Satz-lehre Erster Teil Darmstadt 31966 S 69

60 Er spricht nur spaumlter von einer sbquoschlechten Seelersquo (897d1 vgl 898c4f)

24 Georgia Mouroutsou

Weltseele schon in den oberen Zeilen zu finden Nach dieser Lektuumlrewaumlre die zweite Art von Seele nur imstande Schlechtes durchzufuumlhrenaber wuumlrde nicht tatsaumlchlich so etwas tun Waumlre das der Fall warumsollte der Athener uumlberhaupt erst zwischen zwei Arten von Seele unter-scheiden In einem Kontext wo die Staumlrke die praktische Macht sowieEffizienz und Dominanz der Seele uumlberwiegen64 ist die Option einersbquoersten Moumlglichkeitlsquo keine gelungene Annahme65 Nur in dem Fall desgoumlttlichen Demiurgen koumlnnten wir eine solche sbquoerste Moumlglichkeitlsquo an-wenden die sich nie wirklich durchsetzen wird Trotz seiner Faumlhigkeites zu tun ist der Demiurg nicht bereit die guten Mischungen aufzuloumlsenund die kosmische Ordnung zugrunde zu richten Das Konzept einesDemiurgen der faumlhig ist beides zu tun sowohl Gutes als auch Schlech-tes ist fuumlr Platon undenkbar weil Gott wesentlich gut ist66 Zu-gegebenermaszligen waumlre es zu weitreichend all das in 896e5f hineinzule-sen und die zweite Art der Seele mit dem goumlttlichen Demiurgen zuidentifizieren

61 Der δύναμις-Aspekt geht verloren bei Plutarch der stattdessen von der gutwirkenden und der entgegengesetzten Seele spricht die das Gegenteil vollbringtDe Is Et Osir 370F4-6 raquoὧν τὴν μὲν ἀγαθουργόν εἶναι τὴν δrsquo ἐναντίαν ταύτῃ καὶτῶν ἐναντίων δημιουργόνlaquo Den wichtigen Bezug auf δύναμις verpassen Jowettlsquoone the author of good and the other of the evilrsquo (The Dialogues of Plato S466) sowie Grube Platorsquos Thought lsquoone that does good and one that does evilrsquo(Platorsquos Thought S 146)

Brisson spricht von der Neutralitaumlt der Seele die faumlhig ist gut oder schlecht zusein (Vernunft Natur und Gesetz im zehnten Buch von Platons Gesetzen InHavlicek Ales (Hrsg) The Republic and the Laws of Plato Proceedings of theFirst Symposium Plato Symposium Platonicum Pragense 1 (1997) S 182-200Hier S189) ohne diese Textstelle heranzuziehen

62 Das Verb ist sbquoἐξεργάζεσθαιlsquo das nicht nur das Schlechte bewirken sondern esauch vollenden heiszligt (vgl ἔργον sowohl in als auch in ἐξεργάζεσθαι)

63 Vgl Dillons allgemeine Folgerung uumlber das ontologische Problem desSchlechten bei Platon (Monist and Dualist Tendencies S 11) Der Fall einerschlechten Seele die nicht als Privation der guten Seele vorkommt sondern alsraquofaumlhig Schlechtes zu vollendenlaquo unterstuumltzt Dillons Konklusion dass diesbquoschlechte Seelelsquo eine negative zerstoumlrende Macht sei

64 Vgl die Charakterisierung der Seele in 894d1f 895b665 Dank der Beobachtung von David Sedley wurde es mir klar dass ich

unabsichtlich eine aristotelsiche sbquoerste Potenzialitaumltlsquo in einer fruumlheren Versionvorgeschlagen hatte

66 Vgl oben Fuszlignote 7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 25

Bevor wir zur allgemeinen platonischen Psychologie uumlbergehen er-waumlgen wir eine zweite moumlgliche Unterscheidung der Seele in 896e4-6Bis jetzt habe ich die Distinktion zwischen guter und schlechter Seele alsselbstverstaumlndlich betrachtet Eine vorsichtigere Lektuumlre ermoumlglicht einezweite Option naumlmlich die Unterscheidung zwischen derwohlwollenden Seele die immer das Gute vollendet und derjenigen diefaumlhig ist entgegengesetzte Dinge (Plural) durchzufuumlhren sowohl Gutesals auch Schlechtes (τῆς τἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαι) Die ersteSeele kann keine andere als die goumlttliche sein67 Fuumlr die zweite Seele istder einzige Kandidat die menschliche Seele Auszligerdem wuumlrde die Seeleder Tiere unter die Seele fallen die sowohl Gutes als auch Schlechtestun kann weil sie einen logischen Teil beinhaltet auch wenn deformiertDas Goumlttliche ist immer gut Die Pflanzen moumlgen gut sein insofern siein eine globale Teleologie integriert sind Sie wuumlrden aber nie als faumlhigcharakterisiert etwas Gutes oder noch weniger etwas Schlechtes zutun noch wuumlrden sie die Verantwortung fuumlr die herbeigefuumlhrten gutenoder schlechten Wirkungen tragen Wenn diese Lektuumlre als die einzigemoumlgliche aufgewiesen werden koumlnnte wuumlrden wir mit Sicherheit dieFrage nach der schlechten Seele auf spaumlter verschieben68

Wie es auch sein mag befinden wir uns noch im Rahmen derallgemeinen Lehre der Seele qua Seele als Selbstbewegung Die kosmi-sche Seele ist in 896e1f aufgetaucht aber die Unterscheidung zwischender guten und der schlechten Seele oder der goumlttlichen und men-schlichen Seele wird auf einer allgemeinen Ebene gezogen69 Obgleichder Athener nicht die theorethischen Anspruumlche des Sophistes erhebtsetzt er die allgemeine platonische Ontologie voraus dergemaumlszlig dasSeiende qua Seiendes δύναμις sei Das Kriterium fuumlr alles was Seiendesist sei es Intelligibles oder Koumlrperliches Koumlrper oder Seele ist das Ver-moumlgen zu tun oder zu leiden70 Die Erforschung der Seele als Seiendesverlangt daher die Frage nach ihrer Kraft und ihrem Vermoumlgen (Lg892a2f) Der Gast aus Athen bezieht sich stets auf die δύναμις-Ontolo-

67 Der Athener kann noch nicht die gute Seele als goumlttlich charakterisierenDas Argument hat noch nicht die Goumlttlichkeit der Seele bewiesen

68 Der kreative Charakter der Dialektik ermoumlglicht mehr als eine richtige Ein-teilung Zu diesem Aspekt s Plt 286d-e und Delcomminettes Monographie

69 Anders als Taylor der den Uumlbergang von 896e2 zu e4 durch die Praumlmisseder Aktualitaumlt des Guten und Schlechten in der gegenwaumlrtigen Welt verhilft (TheLaws S 289 Anm 1) sehe ich keinen Eintritt eines a posteriori Arguments adhoc Alles bisherige entnimmt der Athener der allgemeinen Seelenlehre

26 Georgia Mouroutsou

gie des Phaidros sowie des Sophistes Er stellt die Frage was die Seele istund was fuumlr ein Vermoumlgen sie hat οἷόν τε ὂν τυγχάνει καὶ δύναμιν ἣνἔχει71

Obwohl die Frage nach dem Tun (ποιεῖν) oder Leiden (πάσχειν) derSeele als δύναμις nicht explizit gestellt wird72 bringt ihre Definition alsSelbstbewegung ein gleichzeitiges Tun (als Bewegen) und Leiden (alsBewegtwerden) zum Ausdruck73 Die Seele ist die Kraft die sich selbstund anderes bewegt74 Die Definition der Seele als Selbstbewegung kannentweder als Aktivitaumlt oder Passivitaumlt ausgedruumlckt werden Die Seele be-wegt sich selbst und wird von sich selbst bewegt Ein gleichzeitiges Tunund Leiden das aber nicht das gleiche Seiende verursacht geschieht beikoumlrperlicher Bewegung Ein Koumlrper mag auf einen anderen Koumlrper wir-ken und zu gleicher Zeit kann er von einer Seele oder einem anderenKoumlrper bewegt werden aber nicht von sich selbst75

Platon gibt die Definition der Seele in ihrer Allgemeinheit d hunabhaumlngig von ihren moumlglichen Manifestationen in konkretenLebewesen Alles was Seele ist soll Selbstbewegung sein mag es sichum die Seele des Menschen oder des Tieres oder der Pflanze handelnWeil die individuellen Manifestationen der Seele nicht beruumlcksichtigtwerden fehlt bei der Formel der Definition τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴνκινεῖν κίνησιν (896a1f) auch der Bezug auf den Koumlrper den die jeweiligekonkrete Seele beseelt Im Falle der Absenz der Materie in einer Defini-

70 Der Vorschlag des Gastes aus Elea in Sph 247d-e wird nicht allgemein alsPlatons Vorschlag uumlber Ontologie gedeutet Sehr haumlufig beschraumlnken Exegetendas Seiende als δύναμις auf die ad loc Argumentation gegen die MaterialistenAuch wenn dieses Argument als Platons Argument charakterisiert wird bleibtes sehr umstritten ob es eine allgemeine Ontologie betrifft (Brown) oder in eineOntologie der Ideen einmuumlndet (Gerson Politis) Darauf gehe ich hier nicht ein

71 Lg 892a3 vgl Lg 894b8-c1 und 896a1f72 Der Athener bezieht sich auf Tun und Leiden nur in 894c5f und meint

wahrscheinlich sowohl Seelisches als auch Koumlrperliches mit dem die Seele har-monisiert

73 In Lg 894b8-c1 und 896a1f beantwortet der Athener seine Frage nach derArt des Vermoumlgens mit dem die Seele ausgestattet ist Der gesamteZusammenhang verbindet die Frage nach dem Wesen eines Seienden mit derFrage nach seinem Vermoumlgen

74 Lg 893c4f75 Gaiser fuumlhrt den Ausgleich zwischen Passivitaumlt und Aktivitaumlt in der selbst-

bewegenden Seele auf das Zusammenwirken der zwei platonischen Prinzipienzuruumlck (Platons Ungeschriebene Lehre S 195f)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 27

tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

28 Georgia Mouroutsou

Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

30 Georgia Mouroutsou

tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 31

welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

32 Georgia Mouroutsou

zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

34 Georgia Mouroutsou

Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

40 Georgia Mouroutsou

werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

42 Georgia Mouroutsou

abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

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tismus im Bereich der Ontologie des Wahrnehmbaren auf (48eff) des-sen Ausarbeitung nach wie vor eine Aufgabe fuumlr die Platon-Forschungdarstellt

Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich dass sbquoKoumlrperrsquo undsbquoSeelersquo als verschiedene Arten von Bewegung aufgefasst werden Hiersehe ich keine Verwirrung bei Platon zwischen einer Bewegungsart(Selbstbewegung) und der Seele als unabhaumlngiger Substanz Anders alsRichard Stalley29 verstehe ich sowohl die Selbstbewegung als auch dieSeele qua Seele als auf einen Koumlrper bezogen wenn auch unabhaumlngigvom jeweiligen Koumlrper gedacht und definiert Sogar die schlechte Welt-seele bliebe somit bezogen auf den Weltkoumlrper waumlre sie real

iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer an-tiken Auffassung

Halten wir inne Der Seele wird eine Art Prioritaumlt beigemessen die sichauf die in ihrer Definition widergespiegelte Natur als Selbstbewegungstuumltzt Als solche zeigt sich die Seele qua Seele und unabhaumlngig von allihren konkreten Manifestationen als aumllter wirksamer und maumlchtiger un-ter allen Bewegungen Und nicht nur dies Sie zeigt sich auch als dieeigentliche Bewegung und Veraumlnderung alles anderen Seienden30 Wirbefinden uns also im Rahmen der Problematik des Leib-Seele-Dualis-mus der neben dem Dualismus von Idee und Erscheinung der alssbquoZwei-Welten-Lehrelsquo beruumlhmt bzw beruumlchtigt wurde sowie dem in derAntike und Moderne debattierten Dualismus der zwei platonischenPrinzipien weitlaumlufig Karriere in der Geschichte des Platonismusgemacht hat31

29 Stalley An Introduction to Platorsquos Laws Oxford 1983 S 171f30 Lg 894c6f31 Die Tatsache dass hier die zwei letzteren Arten von Dualismus nicht vor-

kommen bedeutet keinesfalls dass der alte resignierte Platon seine Ideen- oderPrinzipienlehre aufgegeben habe (so Muumlller Gerhard Studien zu den Platoni-schen Nomoi Muumlnchen 1951 19682 aumlhnlich Rist Eros and Psyche S 87ff)Auf die platonische Ideenlehre weist der Gast als auf einen wesentlichen Teil derErziehung der sbquonaumlchtlichen Versammlungrsquo hin (Lg 965b-966b) Hier sei dieschwierigere Frage dahingestellt inwieweit die angedeutete Lehre der klassi-schen Ideenlehre der mittleren Dialoge entspricht

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Platon problematisiert den Leib-Seele Dualismus nicht nur aufgrundder allgemeinen Frage nach sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo sondern auch weil erauf der moumlglichen Interaktion zwischen der intelligiblen Seele (derSonne) und ihrem wahrnehmbaren Koumlrper reflektiert (in Lg 898e8-899a4)32 Obgleich wir nicht viel Positives uumlber die platonische Auffas-sung der Art der Beziehung zwischen Koumlrper und Seele aussagenkoumlnnen sind wir damit doch imstande auf entschiedene Weise einigesauszuschlieszligen Wir werden mit dem Materialismus und dem Mentalis-mus anfangen die mit weniger Muumlhe abgelehnt werden koumlnnen als derso charakterisierte sbquorobuster Dualismuslsquo dem wir uns anschlieszligendwidmen

Die These des Materialismus wonach das Seelische auf Koumlrperlicheszuruumlckzufuumlhren sei gewinnt nicht die Oberhand in diesem KontextDie Materialisten bleiben die Gegner des Atheners durch das ganze Ar-gument hindurch Noch modifizierte Materialisten finden einen Belegfuumlr ihre These dass das Seelische unsichtbares Koumlrperliches sei Neu-erdings hat Gabriela Carone diese Auffassung des sbquomodifizierten Mate-rialismuslsquo als genuin platonisch vertreten33 was eine gerechtfertigteReaktion von Francesco Fronterotta hervorgerufen hat34 Bei ihrem Ver-such die Materialitaumlt der Seele aufzuweisen begeht Carone einengrundsaumltzlichen Fehler Sie geht ohne jede Argumentation von der Moumlg-lichkeit eines unsichtbaren Koumlrpers zu einem Verstaumlndnis der Seele alskoumlrperlich uumlber35 Die Ausdehnung sei (nach Platon) wesentliche Eigen-schaft des Koumlrperlichen Weil sie raumlumlich ist muumlsste die Seele daher ir-gendeine Art koumlrperlicher Natur besitzen Carone gibt zu lsquoOf course

32 Die Stelle charakterisiert Thomas Robinson als lsquoa splendid memorial to his[Platorsquos] intellectual honestyrsquo (The Defining Features of Mind-Body Dualism inthe Writings of Plato In John Wright und Paul Potter (Hrsg) Psyche andSoma Physicians and Metaphysicians on the Mind-Body Problem From Antiq-uity to Enlightenment S 37-55 Hier S 55) lsquoTo the end he is wrestling with theproblem that lies at the heart of all psycho-physical dualism the problem ofrelating a physical substance to an immaterial one and to the end he openlyadmits his bafflementrsquo (ebd)

33 Carone Gabriela Mind and Body in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichteder Philosophie 87 (2005) S 227-269 Hier S 256f

34 Fronterotta schmaumllert gewisse Staumlrken des Argumentes von Carone undbringt daher die platonische Methode der sbquoVerbesserungrsquo des Gegners in diesemFall der Materialisten nicht zur Anwendung (Fronterotta Fransesco Carone onthe Mind-Body Problem in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichte der Philoso-phie 89 (2007) S 231-236)

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there is still a gap to be filled between spatial extension and corporeal-ityrsquo36 Trotz ihres Zugestaumlndnisses fuumlllt Carone diese Luumlcke leider nichtund offenbart auf diese Weise ihre nicht hinterfragte (oder bei Platonnicht bewaumlhrte) Cartesianische Praumlmisse37

Noch belegt unser Zusammenhang das andere Extrem einer ArtMentalismus nach dem das Koumlrperliche vom Seelischen ableitbar istSowohl die Darstellung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper alszwischen Ganzem und Teil (Chrm 156dff) als auch die oumlrtliche Meta-pher der den Koumlrper umhuumlllenden Seele (Ti 36e3f und Lg 898d11-e238)eroumlffnen dennoch den Raum fuumlr eine solche Auffassung Dennoch un-terstuumltzt der Kontext in den Gesetzen nicht diese Auffassung Anders alsder materialistisch gepraumlgte Typus vertreten die sbquoPhilosophierendenlsquokeine reduktionistische These was nicht nur den Materialismus sondernauch den Mentalismus ausschliesst

In modernen Diskussionen des Leib-Seele-Problems wird Platon allzuoft als Vertreter eines sbquorobusten Dualismuslsquo dargestellt39 Demgemaumlszlighandelt es sich bei Seele und Koumlrper um zwei selbststaumlndige vonei-nander abgetrennte Substanzen die erst nachtraumlglich vereinigt werden

35 Carone Mind and Body S 237 die Voraussetzungen eines solchen Ver-staumlndnisses hat Fronterotta ans Licht gebracht Carone on the Mind-Body Pro-blem S 233

36 Carone Mind and Body S 240 Anm 4337 Vgl Carones selbstverstaumlndliche Redeweise lsquospatial or material conditionsrsquo

lsquobody and spacersquo lsquospace and bodyrsquo Mind and Body S 264 Zu einer einsichtige-ren Unterscheidung der Arten vom Dualismus bei Platon und Descartes sSarah Broadie Soul and Body in Plato and Descartes In The AristotelianSociety 101 (2001) S 295-308

38 Die zweite zaumlhlt Robinson nicht mit auf The Defining Features of Mind-Body Dualism S 40 Anm 12 Lg 898d11-e2 hat mehrere Deutungen undUumlbersetzungen veranlasst Περιφύειν wird mit aumlhnlicher Bedeutung in R 612aangewendet (sbquoherum- oder anwachsenlsquo) Diese Metapher in den Gesetzen undderen Uumlbersetzung verfehlen Otto Apelt Platons Gesetze Zweiter Band Leip-zig 1916 S 419 Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 S 163 mit Anm 2 Robin Leacuteon Oeuvres completesPlaton Paris 1950 Zweiter Band S 1025 richtig verstehen die Stelle JowettBenjamin The Dialogues of Plato Oxford 41953 S 468f Taylor Alfred E TheLaws of Plato London 21960 S 291 Muumlller Studien S 92 Anm 1 Bury Rob-ert Plato with an English Translation IX and X Laws London-New York1952 S 346 mit Anm Saunders Plato The Laws S 430 Cooper John (Hrsg)Plato Complete Works Cambridge 1997 S 1555 Mayhew Plato Laws X S29

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muumlssen was hier nicht ausdruumlcklich widerlegt wird Neuerdings hatFronterotta diese Auffassung vertreten40 wobei auch seine Deutung aufzwei unaufhebbaren Schwierigkeiten im Timaios stoumlszligt Zum ersten istdie Weltseele raumlumlich ausgedehnt Zum zweiten ist sie das Produkteiner Mischung was nicht nur Carones These widerlegt dass die Seelekoumlrperlich sei ndash da hat Fronterotta Recht ndash sondern auch gegen einen ab-soluten unuumlberbruumlckbaren Gegensatz zwischen einer rein rationalerSeele und dem Weltkoumlrper plaumldiert41

Auf dem ersten Blick scheint unser Kontext in den Gesetzen nicht aufexplizite Weise den weit verbreiteten Vorschlag eines Substanz-Dualis-mus abzuweisen Weil sich aber in diesem Zusammenhang sowohl dieseelische als auch die koumlrperliche Bewegung im Raum vollziehen (Lg893c1f) ist die Dimensionalitaumlt keinesfalls ausschlieszliglich dem Koumlrperzugeordnet was sich wiederum mit einem starren Dualismus nicht ver-traumlgt42

Jedenfalls ist ein gewisser Dualismus insofern nicht zu uumlbergehen alsdie seelische Bewegung die koumlrperliche nicht produzieren kann43 NachLg 896e8-897b4 sbquonehmenrsquo die seelischen als die primaumlren Bewegungendie sekundaumlren koumlrperlichen sbquoaufrsquo Das gleiche Verb (παραλαμβάνειν897a5) wendet auch der Timaios an Der Demiurg nimmt das auf unge-ordnete und fast verbrecherische Weise bewegte Wahrnehmbare sowiespaumlter im Dialog das was ἀνάγκη bewirkt (68e3) auf Die unterstehendenGottheiten nehmen ihrerseits den rationalen Teil der Seele auf um ihn mitdem sterblichen Teil im Koumlrper zu verknuumlpfen (Ti 69c5) Diesen ver-schiedenen Zusammenhaumlngen koumlnnen wir keine Umkehrung der Prio-ritaumlt der Seele gegenuumlber dem Koumlrper entnehmen Was sich mit einer anSicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ausschlieszligen laumlsst ist eine

39 S Burnyeat Myles Is An Aristotelian Philosophy of Mind Still CredibleA Draft In Nussbaum A M-Rorty (Hrsg) Essays on Aristotlersquos De AnimaOxford 1992 S 15-26 Hier S 16 Putnam Hilary The Threefold Cord MindBody and World New York 1999 S 97 Stephen Priest Theories of the MindLondon 1991 S 8-15 57 162)

40 Fronterotta Carone on the Mind-Body Problem41 Platon behandelt das Problem der Verbindung zwischen der Seele und dem

Koumlrper wie die Vermittlung durch das Mark beweist (Ti 73b-c) was wir abernicht als Beleg dafuumlr betrachten sollten dass Platon zum Vorlaumlufer von Descar-tes wird

42 Thomas Johansen begeht diesen Weg in seiner Timaios-Auslegung43 Vgl Mason Andrew Plato on the Self-Moving Soul In Philosophical

Inquiry 1998 S 18-28 Hier S 24 28

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Herleitung des Koumlrperlichen aus dem Seelischen44 Diese Unterscheidungzwischen Koumlrper und Seele erlaubt es dem Dialektiker je nachZusammenhang die Seele qua Seele (so in der vorliegenden Passage der Ge-setze) und den Koumlrper qua Koumlrper (so im Timaios) zu betrachten ohne einereduktionistische Auslegung vorauszusetzen

Auf dieser Basis wird ein Reduktionismus des Koumlrpers auf die Seele aus-geschlossen Ausserdem unterstuumltzt der Wortlaut des Textes nicht das Ver-staumlndnis der ontologischen Prioritaumlt die Aristoteles in Metaph V11 an-spricht Es geht in unserem Kontext nicht darum was Aristoteles undAlexander als platonische Auffassung und akademisches Gut dar-stellen45 Als Kriterium der ontologischen Rangfolge wird dassbquoMitaufgehobenwerdenrsquo des Spaumlteren angegeben Demgemaumlszlig setzt dasontologisch Spaumltere das Fruumlhere voraus aber nicht umgekehrt Wenndas Fruumlhere aufgehoben wuumlrde wuumlrde auch das Spaumltere aufgehobenwas sich aber nicht umkehren laumlsst Soweit geht Platon bei der hiesigenBetrachtung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper jedoch nichtDie Rede von der sbquoAufnahmersquo der koumlrperlichen Bewegungen von denseelischen ist weniger mit einer ontologischen Prioritaumlt der Seele (wieoben dargelegt) als vielmehr mit einer Aufeinanderbezogenheit vonSeele und Koumlrper vertraumlglich

Um eine uumlber den Rahmen dieses Beitrags hinausgehende positive Louml-sung fuumlr Platons Leib-Seele-Dualismus zu entwickeln ist es noumltigeinige falsche Meinungen zu korrigieren wozu die obere Darlegung bei-traumlgt

iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Ar-gument

44 Pace England Edwin The Laws of Plato London 1921 Zweiter Band S476 der παραλαμβάνειν als lsquobring in their trainrsquo versteht In allen obenerwaumlhnten Zusammenhaumlngen ist klar dass das Aufgenommene nicht vomAufnehmenden geschaffen wird Die Uumlberlegenheit des letzteren bleibt davonunberuumlhrt

45 Vor allem in Arist Metaph V11 1019a2-4 vgl Alexander In AristotMetaph I 6 987b33 Gaiser Testimonium Platonicum 22B

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Wir kehren zu unserem Text zuruumlck Da der Seele ontologische Prioritaumltgegenuumlber dem Koumlrper verliehen wird ist auch das der Seele Verwandteontologisch fruumlher als das was dem Koumlrper zugehoumlrt

raquoVerhaltensweisen aber und Gemuumltsarten Willensakte Schluss-folgerungen wahre Meinungen Fuumlrsorge und Erinnerungen duumlrftenfruumlher entstanden sein als koumlrperliche Laumlnge Breite Tiefe und Staumlrkewenn eben die Seele fruumlher als der Koumlrper entstanden sein solltelaquo46

Im Anschluss daran hilft uns der Athener nachzuvollziehen warumPlaton eben hier die sbquoschlechte Seelersquo einfuumlhrt Man muumlsse darin uumlberein-stimmen dass die Seele Ursache sowohl des Guten als auch des Boumlsendes Schoumlnen und des Schlechten des Gerechten und des Ungerechtenund aller Gegensaumltze sei

raquoIst es denn nicht noumltig darin uumlbereinzustimmen dass die Seele dieUrsache des Guten sowie des Schlechten des Schoumlnen sowie des Haumlszlig-lichen des Gerechten sowie des Ungerechten und uumlberhaupt allerGegensaumltze wenn wir sie als Ursache von allem setzenlaquo47

Diese Zeilen sind aumluszligerst wichtig weil hier und nicht erst in 896e4ffder Gegensatz von sbquogut und schlechtlsquo eingefuumlhrt wird Dem Argumentist vorgeworfen worden es sei schwach Unter den Kritikern verstehtStalley den Schluss auf folgende Weise lsquoSoul since it is the source ofeverything must be the source of valuesrsquo Er wundert sich dass Werteohne Begruumlndung und ohne Erklaumlrung ihrer Existenzweise eingefuumlhrtwerden48 Dementgegen werde ich eine wohlwollendere Annaumlherungvorschlagen Nach der Rekonstruktion des Arguments werde ich eineArt sbquoanthropozentrischer Wendelsquo in einen breiteren Kontext situieren

Wie er expliziert (896d8) zieht der Gast aus Athen diesen Schlussdaraus dass die Seele als Ursache von allem angesetzt worden ist Bevorwir diese Begruumlndung als einen Fehlschritt charakterisieren sollten wiruns zusammen mit Kleinias erinnern dass die sbquoSeelersquo die Veraumlnderungvon allem herbeifuumlhrt49 Mit Hilfe einer anderen Formulierung ist dieSeele raquodie Veraumlnderung und Bewegung von allem Seiendenlaquo50

46 Lg 896c9-d3 raquoΤρόποι δὲ καὶ ἤθη καὶ βουλήσεις καὶ λογισμοὶ καὶ δόξαιἀληθεῖς ἐπιμέλειαί τε καὶ μνῆμαι πρότερα μήκους σωμάτων καὶ πλάτους καὶβάθους καὶ ῥώμης εἴη γεγονότα ἄν εἰπερ καὶ ψυχὴ σώματοςlaquo

47 Lg 896d5-7 raquoἎρrsquo οὖν τὸ μετὰ τοῦτο ὁμολογεῖν ἀναγκαῖον τῶν τε ἀγαθῶναἰτίαν εἶναι ψυχὴν καὶ τῶν κακῶν καὶ καλῶν καὶ αἰσχρῶν δικαίων τε καὶ ἀδίκωνκαὶ πάντων τῶν ἐναντίων εἴπερ τῶν πάντων γε αὐτὴν θήσομεν αἰτίανlaquo

48 Stalley An Introduction S 172 49 Lg 892a6f

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Die Bewegung ist hier als Wechsel und Veraumlnderung (μεταβολή) in ih-ren weitesten Sinn zu verstehen seien sie im Raum in Bezug auf dieSubstanz die Qualitaumlt oder die Quantitaumlt Der Uumlbergang findet zwi-schen Gegensaumltzen statt Die ersten Paare von Gegensaumltzen die derAthener vor der Verallgemeinerung in 897d7 anspricht sind Ver-bindungen und Trennungen Wachstum und Schwund sowie Prozessedes Wedens und Vergehens (894b10f) Die Seele zeigt sich als dieUrsache von aller Art koumlrperlicher Veraumlnderung Wenn eine Seele einenWechsel von einem schlechten zu einem guten Zustand verursacht dannist diese Seele in sich selbst gut Wenn eine Seele einen schlechtenEinfluss auf einen Zustand uumlbt dann ist sie dafuumlr verantwortlich Es istbemerkenswert dass der Gegensatz zwischen sbquogutlsquo und sbquoschlechtlsquo nichtauf die Unterscheidung zwischen sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo oder diejenigezwischen sbquoseelischer Bewegunglsquo und sbquokoumlrperlicher Bewegunglsquo zu-ruumlckgefuumlhrt wird Der Koumlrper kann nicht als schlecht charakterisiertwerden weil nach dem spaumlten Platon der Koumlrper qua Koumlrper weder gutnoch schlecht in sich selbst ist

Wenn die Seele die Ursache von allem ist so der Athener dann musssie die Ursache von allen Gegensaumltzen sein einschlieszliglich des Bereichsder Ethik Die gleichen Gegensatzspaare von sbquogut und schlecht schoumlnund haumlszliglich sowie gerecht und ungerechtlsquo tauchen in Euthph 7c10ff alsder Zankapfel der menschlichen Debatten auf die vor Gericht gefuumlhrtwerden koumlnnen Auch in Grg 459d1ff gehoumlren sie zur rhetorischenKunst die kein Wissen daruumlber erwerben kann In Plt 296c5-7 erfahrenwir dass ein Irrtum im Rahmen der politischen Kunst das Schaumlndlichedas Schlechte und das Ungerechte verursacht Was der Rhetor verfehltweiszlig der Staatsmann Der goumlttliche Teil der menschlichen Seele mag einewahre Meinung uumlber Schoumlnes Gutes und Gerechtes stiften (Plt 309c5-8)

Indem die Seele fuumlr alle moumlglichen koumlrperlichen Veraumlnderungen ver-antwortlich gemacht wird gelangen wir in unserem Zusammenhang zuder Seele als der primaumlren Ursache auch des Schlechten und nichtaufgrund der Frage woher das Schlechte komme Der Athener machtnirgends explizit dass er die Seele als die einzige Ursache des Schlechtensei Bedenken sollte daher gegen Englands Beobachtung geaumluszligert wer-den in 896d5 werde die Frage nach dem Uumlbel eingefuumlhrt und insbe-

50 Lg 894c6f raquoκαλουμένην δὲ ὄντως τῶν ὄντων πάντων μεταβολὴν καὶκίνησινlaquo

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sondere gegen seine Folgerung lsquoHaving identified ψυχή with the αἰτίαἀγαθοῦ τε καὶ κακοῦ he is bound to talk of the αἰτία κακοῦ as ψυχήrsquo51

Auf das seelische Uumlbel konzentriert sich hier der Athener Verabsolutie-rende Konklusionen uumlber das Uumlbel schlechthin sind daher der Ge-spraumlchssituation nicht zu entnehmen Jedenfalls waumlre der bestimmte Ar-tikel noumltig vor αἰτίαν (sowohl in 896d6 als auch in d8)

Der Athener zielt darauf die Natur der Seele als die Ursache von allenGegensaumltzen auszulotten und fuumlhrt dann das Feld der menschlichenEthik ein ohne seinen Uumlbergang oder eher seine Einschraumlnkung zu er-klaumlren52 Die konkrete politische Situation in den Gesetzen bietet eineplausible Erklaumlrung fuumlr diesen Uumlbergang von der Seele qua Seele zurmenschlichen Seele Die Buumlrger von Magnesia sollten ihre Machtwahrnehmen sowohl zum Guten als auch zum Schlechten beizutragenAuszligerdem sollten sie die Verantwortung ihrer politischen Taumltigkeit ineinem kosmischen All uumlbernehmen das von einer guten Seele verwaltetwird Die primaumlre Ursache der Bewegung ist die Seele Beinahe waumlre dieSeele als Selbst-Bewegung ie ihre absolute Spontaneitaumlt als Bedingungihrer moralischen Verantwortung zum ersten Mal in der Geschichte derPhilosophie vorgekommen haumltte Platon diese Verbindung ausbuch-stabiert53

Eine Art Anthropozentrismus kommt in den spaumlteren platonischenSchriften vor Die Entscheidung ob wir dieses Konzept einer philoso-

51 Platorsquos Laws S 474 Auf aumlhnliche Weise auch Carone Evil and Teleology S295 Anm41

52 Mayhew argumentiert seinerseits dass es nicht darum gehe dass die Seeledie Ursache aller Dinge und daher sowohl schlechter wie guter Dinge sei DerInterpret meint die Seele sei fruumlher als der Koumlrper und in dieser Weise das Seeli-sche ndash einschlieszliglich der Moral ndash entsprechend fruumlher als das Koumlrperliche (PlatoLaws X S 131) Dennoch liegt die Pointe meines Erachtens nicht darin eineneingegrenzten Bereich ndash den der Ethik ndash anzusprechen sondern das Wesen derSeele als Ursache aller Gegensaumltze auszubuchstabieren was wiederum nichtheiszligt man sollte den Bereich der Moral voumlllig leugnen wie es Raphael Demostut lsquo[hellip] the soul is non-moral apt for both good and evil and so far forth inde-terminatersquo (Demosrsquo Hervorhebung Platorsquos Doctrine of the Psyche as a Self-Moving Motion In Journal of History of Philosophy (1968) S 133-145 HierS136)

53 Vgl Horn Christoph Der Begriff der Selbstbewegung bei Alkmaion undPlaton In Rechenauer Georg (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen2005 S 152-173 bes S 168ff und Baumgarten Hans-Ulrich Handlungstheoriebei Platon Platon auf dem Weg zum Willen Stuttgart 1998 S 241-264

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phischen Kritik unterziehen sollten oden nicht mag hier dahingestelltbleiben Mit dem sbquoAnthropozentrismuslsquo bei Platon meine ich dass dasErschaffen des Weltalls auf der Basis einer Teleologie geschieht die aufden Menschen und seinen Beduumlrfnissen zentriert ist Man mag denTimaios heranziehen Der Anthropozentrismus scheint sich durch denganzen Monolog durchzusetzen in dem Timaios auf das Schaffen desMannes fokussiert ist Gemaumlszlig der Lehre der Wiedergeburt sind Frauenund Tiere schlechtere Formen von Lebewesen Es gibt zwei Passagendie als besonders anthropozentrisch gepraumlgt vorkommen Zum erstensind die Pflanzen um der Ernaumlhrung der sterblichen Lebewesen willengeschaffen worden (77e7-b1) Zum zweiten schafft der Demiurg dieuumlber das ganze All scheinende Sonne damit die dementsprechend aus-geruumlsteten Lebewesen an der Zahl teilnehmen nachdem sie von derBeobachtung der kosmischen Bewegung viel gelernt haben (39b2-c1)Um der Menschen und der Kultivierung der Philosophie willen schafftGott die Sonne und ermoumlglicht die Wahrnehmung der Sicht Dank desStudiums der himmlischen Bewegungen koumlnnen wir nach der Natur derZeit und des Alls fragen Auf diese Weise duumlrfen wir hoffen unsere ge-stoumlrte Bewegung der Vernunft der ungestoumlrten Bahn der kosmischenVernunft zu assimilieren (46e-47c 90c-d)

Wir haben die Kritik an der Einschraumlnkung im moralischen Bereichwiderlegt indem wir unseren unmittelbaren sowie weiteren Kontextberuumlcksichtigten Wegen des Fokuses auf den menschlichen Bereich unddie menschliche Seele geht die allgemeine Frage der Seele qua Seele nichtverloren Der Hintergrund der jetzigen Diskussion bleibt dieseallgemeine Fragestellung obgleich die menschliche Seele diejenige istdie sich gemaumlszlig der Vernunft oder gegen die Vernunft verhaumllt (897b1-5)Wir sollten die Unterscheidung zwischen weiteren kosmischen undmenschlichen Dimensionen bewahren wenn auch der spaumlte Platon denkosmischen Zusammenhang auf eine anthropozentrische oder sogar an-thropomorphische Weise beschreibt54 Es waumlre weder gerechtfertigtnoch legitim dass die Untersuchung uumlber die menschliche Seelediejenige uumlber die Seele qua Seele dominieren oder ausschoumlpfen wuumlrde

54 Zur Zentrierung des kosmischen Alls auf dem menschlichen Leben bei spauml-tem Platon s Carone Evil and Teleology S 296

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v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6

Von der allgemeinen Seelenlehre und der Seele qua Seele die bis dahindas Untersuchungsobjekt bildete gelangt der Athener jetzt zu einer be-sonderen Seele zur Weltseele Der Blickwechsel den der Athener imBereich seiner Betrachtung vollzieht sollte im Rahmen der platonischenSpaumltdialoge in denen Ontologie und Seelenlehre haumlufig in Kosmologiemuumlnden kein Erstaunen hervorrufen Als zwei Beispiele dafuumlr koumlnnender kosmologische Exkurs im Philebos (s oben Abschnitt I) und derUumlbergang von ψυχὴ πᾶσα (alles was Seele ist) zur Weltseele im Phaidros(245c5-246a2) gelten Was uumlber die Seele qua Seele gesagt wurde sollteauch im Fall der Weltseele Guumlltigkeit haben

raquoUnd weil die Seele in allem waltet und wohnt was sich auf ir-gendeine Weise bewegt muumlssen wir etwa nicht sagen dass sie auch denHimmel durchwaltelaquo55

Auf seine nur scheinbar unvermittelte und ploumltzliche Frage56 antwor-tet der Athener selbst

raquoEine oder mehrere Seelen Mehrere Ich werde fuumlr Euch antwortendass wir nicht weniger als zwei ansetzen sollten naumlmlich diejenige diedas Gute vervollkommnet und diejenige die faumlhig ist Entgegengesetztesdurchzufuumlhrenlaquo57

Dass der Athener im Namen seiner Gespraumlchspartner antwortet be-trachte ich als kein ausschlaggebendes Argument gegen die Realitaumlt einersbquoschlechten Weltseelersquo58 weil er sich noch auf die Seele qua Seele bezieht

55 Lg 896d10-e2 raquoΨυχὴν δὴ διοικοῦσαν καὶ ἐνοικοῦσαν ἐν ἅπασιν τοῖς πάντῃκινουμένοις μῶν οὐ καὶ τὸν οὐρανὸν ἀνάγκη διοικεῖν φάναιlaquo

56 Wilamowitz charakterisiert diese Frage zu Unrecht als sbquohereingeschneitlsquo(Platon II S 316) wogegen sich Kerschensteiner einsetzt (Platon und der Ori-ent S 73)

57 Lg 896e4-6 raquoΜίαν ἢ πλείους πλείους ἐγὼ ὑπέρ σφῷν ἀποκρινούμαι Δυοῖνμέν γέ που ἔλαττον μηδὲν τιθῶμεν τῆς τε εὐεργέτιδος καὶ τῆς τἀναντία δυναμένηςἐξεργάζεσθαιlaquo

58 Vgl Apelt Platons Gesetze S 539 Anm 48

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 23

Ist die Seele die das All verwaltet eine oder mehrere Haumltte Platon indi-viduelle Seelen ohne Bezug auf einen generellen Terminus sbquoSeelelsquo auf-zaumlhlen wollen haumltte er von mehr als zwei Seelen gesprochen Die Frageist sehr oft als Frage nach zwei Weltseelen verstanden worden Koumlnnteder Athener nicht die allgemeine Lehre der Seele qua Seele verlassen umsich auf die zwei partikulaumlren Weltseelen zu beziehen Dies haumltte derFall sein koumlnnen wenn die Weltseele mit Realitaumlt ausgestattet waumlre wassich aber nicht so verhaumllt Die oben genannte Frage kann nur die Seelequa Seele betreffen

Obgleich er haumlufig uumlberhoumlrt wird sollte der oben angewendete Dual beruumlcksichtigt werden weil er gegen ein Verstaumlndnis von zwei von-einander getrennten entgegengesetzten Seelen plaumldiert59 Auszliger demDual in 896e5 uumlberhoumlrt die Mehrheit der Interpreten hier noch etwasEntscheidendes Die der wohltaumltigen Seele entgegensetzte ist nicht eineeinfachhin und ohne Weiteres sbquoschlechte Seelersquo60 sondern die Seele raquodieimstande ist das Gegenteil zu bewirkenlaquo Genau in diesem Punkt uumlber-schneiden sich die allgemeine Seelenlehre nach der die Seele qua SeeleSelbstbewegung ist und als solche gut oder schlecht sein kann und diespezielle Lehre uumlber die kosmische Seele die ebenfalls qua Seele in derLage ist gut oder schlecht zu sein Deswegen sollten wir die Rede vonδύναμις in unserer Uumlbersetzung von sbquoτἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαιlsquo(Lg 896e6)61 nicht vernachlaumlssigen Die sbquoschlechte Seelelsquo wird nicht alseine bloszlige Privation der guten Seele eingefuumlhrt sondern als mit ihrereigenen Macht (δύναμις) ausgestattet Schlechtes zu bewirken62 als einenegative und destruktive Macht63

Wir sind dabei weit enfernt δύνασθαι mit einer aristotelischen sbquoerstenMoumlglichkeitlsquo zu identifizieren um die Ausscheidung einer schlechten

59 raquoDie Sprache hat die Dualform geschaffen nicht etwa um den Begriff derZahl zwei sondern um den Begriff der Zweiheit der paarweisenZusammengehoumlrigkeit auszudruumlckenlaquo (Wilhelm von Humboldt Uumlber denDualis Berlin 1828 S 18) Erst nach Platon als das Sprachgefuumlhl fuumlr die eigent-liche Bedeutung der Sprachformen an Lebendigkeit nachlieszlig bedeutete der Dualnicht selten den bloszligen Begriff sbquozweilsquo wobei die wahre und urspruumlngliche Naturdes Duals sich darin zeigt dass er entweder auf paarweise in der Natur verbun-dene Gegenstaumlnde angewendet wird oder auf solche welche in einer engen undgegenseitigen Beziehung gedacht werden (vgl Kuumlhner Raphael und FriedrichBlass Ausfuumlhrliche Grammatik der griechischen Sprache Zweiter Teil Satz-lehre Erster Teil Darmstadt 31966 S 69

60 Er spricht nur spaumlter von einer sbquoschlechten Seelersquo (897d1 vgl 898c4f)

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Weltseele schon in den oberen Zeilen zu finden Nach dieser Lektuumlrewaumlre die zweite Art von Seele nur imstande Schlechtes durchzufuumlhrenaber wuumlrde nicht tatsaumlchlich so etwas tun Waumlre das der Fall warumsollte der Athener uumlberhaupt erst zwischen zwei Arten von Seele unter-scheiden In einem Kontext wo die Staumlrke die praktische Macht sowieEffizienz und Dominanz der Seele uumlberwiegen64 ist die Option einersbquoersten Moumlglichkeitlsquo keine gelungene Annahme65 Nur in dem Fall desgoumlttlichen Demiurgen koumlnnten wir eine solche sbquoerste Moumlglichkeitlsquo an-wenden die sich nie wirklich durchsetzen wird Trotz seiner Faumlhigkeites zu tun ist der Demiurg nicht bereit die guten Mischungen aufzuloumlsenund die kosmische Ordnung zugrunde zu richten Das Konzept einesDemiurgen der faumlhig ist beides zu tun sowohl Gutes als auch Schlech-tes ist fuumlr Platon undenkbar weil Gott wesentlich gut ist66 Zu-gegebenermaszligen waumlre es zu weitreichend all das in 896e5f hineinzule-sen und die zweite Art der Seele mit dem goumlttlichen Demiurgen zuidentifizieren

61 Der δύναμις-Aspekt geht verloren bei Plutarch der stattdessen von der gutwirkenden und der entgegengesetzten Seele spricht die das Gegenteil vollbringtDe Is Et Osir 370F4-6 raquoὧν τὴν μὲν ἀγαθουργόν εἶναι τὴν δrsquo ἐναντίαν ταύτῃ καὶτῶν ἐναντίων δημιουργόνlaquo Den wichtigen Bezug auf δύναμις verpassen Jowettlsquoone the author of good and the other of the evilrsquo (The Dialogues of Plato S466) sowie Grube Platorsquos Thought lsquoone that does good and one that does evilrsquo(Platorsquos Thought S 146)

Brisson spricht von der Neutralitaumlt der Seele die faumlhig ist gut oder schlecht zusein (Vernunft Natur und Gesetz im zehnten Buch von Platons Gesetzen InHavlicek Ales (Hrsg) The Republic and the Laws of Plato Proceedings of theFirst Symposium Plato Symposium Platonicum Pragense 1 (1997) S 182-200Hier S189) ohne diese Textstelle heranzuziehen

62 Das Verb ist sbquoἐξεργάζεσθαιlsquo das nicht nur das Schlechte bewirken sondern esauch vollenden heiszligt (vgl ἔργον sowohl in als auch in ἐξεργάζεσθαι)

63 Vgl Dillons allgemeine Folgerung uumlber das ontologische Problem desSchlechten bei Platon (Monist and Dualist Tendencies S 11) Der Fall einerschlechten Seele die nicht als Privation der guten Seele vorkommt sondern alsraquofaumlhig Schlechtes zu vollendenlaquo unterstuumltzt Dillons Konklusion dass diesbquoschlechte Seelelsquo eine negative zerstoumlrende Macht sei

64 Vgl die Charakterisierung der Seele in 894d1f 895b665 Dank der Beobachtung von David Sedley wurde es mir klar dass ich

unabsichtlich eine aristotelsiche sbquoerste Potenzialitaumltlsquo in einer fruumlheren Versionvorgeschlagen hatte

66 Vgl oben Fuszlignote 7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 25

Bevor wir zur allgemeinen platonischen Psychologie uumlbergehen er-waumlgen wir eine zweite moumlgliche Unterscheidung der Seele in 896e4-6Bis jetzt habe ich die Distinktion zwischen guter und schlechter Seele alsselbstverstaumlndlich betrachtet Eine vorsichtigere Lektuumlre ermoumlglicht einezweite Option naumlmlich die Unterscheidung zwischen derwohlwollenden Seele die immer das Gute vollendet und derjenigen diefaumlhig ist entgegengesetzte Dinge (Plural) durchzufuumlhren sowohl Gutesals auch Schlechtes (τῆς τἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαι) Die ersteSeele kann keine andere als die goumlttliche sein67 Fuumlr die zweite Seele istder einzige Kandidat die menschliche Seele Auszligerdem wuumlrde die Seeleder Tiere unter die Seele fallen die sowohl Gutes als auch Schlechtestun kann weil sie einen logischen Teil beinhaltet auch wenn deformiertDas Goumlttliche ist immer gut Die Pflanzen moumlgen gut sein insofern siein eine globale Teleologie integriert sind Sie wuumlrden aber nie als faumlhigcharakterisiert etwas Gutes oder noch weniger etwas Schlechtes zutun noch wuumlrden sie die Verantwortung fuumlr die herbeigefuumlhrten gutenoder schlechten Wirkungen tragen Wenn diese Lektuumlre als die einzigemoumlgliche aufgewiesen werden koumlnnte wuumlrden wir mit Sicherheit dieFrage nach der schlechten Seele auf spaumlter verschieben68

Wie es auch sein mag befinden wir uns noch im Rahmen derallgemeinen Lehre der Seele qua Seele als Selbstbewegung Die kosmi-sche Seele ist in 896e1f aufgetaucht aber die Unterscheidung zwischender guten und der schlechten Seele oder der goumlttlichen und men-schlichen Seele wird auf einer allgemeinen Ebene gezogen69 Obgleichder Athener nicht die theorethischen Anspruumlche des Sophistes erhebtsetzt er die allgemeine platonische Ontologie voraus dergemaumlszlig dasSeiende qua Seiendes δύναμις sei Das Kriterium fuumlr alles was Seiendesist sei es Intelligibles oder Koumlrperliches Koumlrper oder Seele ist das Ver-moumlgen zu tun oder zu leiden70 Die Erforschung der Seele als Seiendesverlangt daher die Frage nach ihrer Kraft und ihrem Vermoumlgen (Lg892a2f) Der Gast aus Athen bezieht sich stets auf die δύναμις-Ontolo-

67 Der Athener kann noch nicht die gute Seele als goumlttlich charakterisierenDas Argument hat noch nicht die Goumlttlichkeit der Seele bewiesen

68 Der kreative Charakter der Dialektik ermoumlglicht mehr als eine richtige Ein-teilung Zu diesem Aspekt s Plt 286d-e und Delcomminettes Monographie

69 Anders als Taylor der den Uumlbergang von 896e2 zu e4 durch die Praumlmisseder Aktualitaumlt des Guten und Schlechten in der gegenwaumlrtigen Welt verhilft (TheLaws S 289 Anm 1) sehe ich keinen Eintritt eines a posteriori Arguments adhoc Alles bisherige entnimmt der Athener der allgemeinen Seelenlehre

26 Georgia Mouroutsou

gie des Phaidros sowie des Sophistes Er stellt die Frage was die Seele istund was fuumlr ein Vermoumlgen sie hat οἷόν τε ὂν τυγχάνει καὶ δύναμιν ἣνἔχει71

Obwohl die Frage nach dem Tun (ποιεῖν) oder Leiden (πάσχειν) derSeele als δύναμις nicht explizit gestellt wird72 bringt ihre Definition alsSelbstbewegung ein gleichzeitiges Tun (als Bewegen) und Leiden (alsBewegtwerden) zum Ausdruck73 Die Seele ist die Kraft die sich selbstund anderes bewegt74 Die Definition der Seele als Selbstbewegung kannentweder als Aktivitaumlt oder Passivitaumlt ausgedruumlckt werden Die Seele be-wegt sich selbst und wird von sich selbst bewegt Ein gleichzeitiges Tunund Leiden das aber nicht das gleiche Seiende verursacht geschieht beikoumlrperlicher Bewegung Ein Koumlrper mag auf einen anderen Koumlrper wir-ken und zu gleicher Zeit kann er von einer Seele oder einem anderenKoumlrper bewegt werden aber nicht von sich selbst75

Platon gibt die Definition der Seele in ihrer Allgemeinheit d hunabhaumlngig von ihren moumlglichen Manifestationen in konkretenLebewesen Alles was Seele ist soll Selbstbewegung sein mag es sichum die Seele des Menschen oder des Tieres oder der Pflanze handelnWeil die individuellen Manifestationen der Seele nicht beruumlcksichtigtwerden fehlt bei der Formel der Definition τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴνκινεῖν κίνησιν (896a1f) auch der Bezug auf den Koumlrper den die jeweiligekonkrete Seele beseelt Im Falle der Absenz der Materie in einer Defini-

70 Der Vorschlag des Gastes aus Elea in Sph 247d-e wird nicht allgemein alsPlatons Vorschlag uumlber Ontologie gedeutet Sehr haumlufig beschraumlnken Exegetendas Seiende als δύναμις auf die ad loc Argumentation gegen die MaterialistenAuch wenn dieses Argument als Platons Argument charakterisiert wird bleibtes sehr umstritten ob es eine allgemeine Ontologie betrifft (Brown) oder in eineOntologie der Ideen einmuumlndet (Gerson Politis) Darauf gehe ich hier nicht ein

71 Lg 892a3 vgl Lg 894b8-c1 und 896a1f72 Der Athener bezieht sich auf Tun und Leiden nur in 894c5f und meint

wahrscheinlich sowohl Seelisches als auch Koumlrperliches mit dem die Seele har-monisiert

73 In Lg 894b8-c1 und 896a1f beantwortet der Athener seine Frage nach derArt des Vermoumlgens mit dem die Seele ausgestattet ist Der gesamteZusammenhang verbindet die Frage nach dem Wesen eines Seienden mit derFrage nach seinem Vermoumlgen

74 Lg 893c4f75 Gaiser fuumlhrt den Ausgleich zwischen Passivitaumlt und Aktivitaumlt in der selbst-

bewegenden Seele auf das Zusammenwirken der zwei platonischen Prinzipienzuruumlck (Platons Ungeschriebene Lehre S 195f)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 27

tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

28 Georgia Mouroutsou

Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

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tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 31

welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

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zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

34 Georgia Mouroutsou

Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

40 Georgia Mouroutsou

werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

42 Georgia Mouroutsou

abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

14 Georgia Mouroutsou

Platon problematisiert den Leib-Seele Dualismus nicht nur aufgrundder allgemeinen Frage nach sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo sondern auch weil erauf der moumlglichen Interaktion zwischen der intelligiblen Seele (derSonne) und ihrem wahrnehmbaren Koumlrper reflektiert (in Lg 898e8-899a4)32 Obgleich wir nicht viel Positives uumlber die platonische Auffas-sung der Art der Beziehung zwischen Koumlrper und Seele aussagenkoumlnnen sind wir damit doch imstande auf entschiedene Weise einigesauszuschlieszligen Wir werden mit dem Materialismus und dem Mentalis-mus anfangen die mit weniger Muumlhe abgelehnt werden koumlnnen als derso charakterisierte sbquorobuster Dualismuslsquo dem wir uns anschlieszligendwidmen

Die These des Materialismus wonach das Seelische auf Koumlrperlicheszuruumlckzufuumlhren sei gewinnt nicht die Oberhand in diesem KontextDie Materialisten bleiben die Gegner des Atheners durch das ganze Ar-gument hindurch Noch modifizierte Materialisten finden einen Belegfuumlr ihre These dass das Seelische unsichtbares Koumlrperliches sei Neu-erdings hat Gabriela Carone diese Auffassung des sbquomodifizierten Mate-rialismuslsquo als genuin platonisch vertreten33 was eine gerechtfertigteReaktion von Francesco Fronterotta hervorgerufen hat34 Bei ihrem Ver-such die Materialitaumlt der Seele aufzuweisen begeht Carone einengrundsaumltzlichen Fehler Sie geht ohne jede Argumentation von der Moumlg-lichkeit eines unsichtbaren Koumlrpers zu einem Verstaumlndnis der Seele alskoumlrperlich uumlber35 Die Ausdehnung sei (nach Platon) wesentliche Eigen-schaft des Koumlrperlichen Weil sie raumlumlich ist muumlsste die Seele daher ir-gendeine Art koumlrperlicher Natur besitzen Carone gibt zu lsquoOf course

32 Die Stelle charakterisiert Thomas Robinson als lsquoa splendid memorial to his[Platorsquos] intellectual honestyrsquo (The Defining Features of Mind-Body Dualism inthe Writings of Plato In John Wright und Paul Potter (Hrsg) Psyche andSoma Physicians and Metaphysicians on the Mind-Body Problem From Antiq-uity to Enlightenment S 37-55 Hier S 55) lsquoTo the end he is wrestling with theproblem that lies at the heart of all psycho-physical dualism the problem ofrelating a physical substance to an immaterial one and to the end he openlyadmits his bafflementrsquo (ebd)

33 Carone Gabriela Mind and Body in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichteder Philosophie 87 (2005) S 227-269 Hier S 256f

34 Fronterotta schmaumllert gewisse Staumlrken des Argumentes von Carone undbringt daher die platonische Methode der sbquoVerbesserungrsquo des Gegners in diesemFall der Materialisten nicht zur Anwendung (Fronterotta Fransesco Carone onthe Mind-Body Problem in Late Plato In Archiv fuumlr Geschichte der Philoso-phie 89 (2007) S 231-236)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 15

there is still a gap to be filled between spatial extension and corporeal-ityrsquo36 Trotz ihres Zugestaumlndnisses fuumlllt Carone diese Luumlcke leider nichtund offenbart auf diese Weise ihre nicht hinterfragte (oder bei Platonnicht bewaumlhrte) Cartesianische Praumlmisse37

Noch belegt unser Zusammenhang das andere Extrem einer ArtMentalismus nach dem das Koumlrperliche vom Seelischen ableitbar istSowohl die Darstellung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper alszwischen Ganzem und Teil (Chrm 156dff) als auch die oumlrtliche Meta-pher der den Koumlrper umhuumlllenden Seele (Ti 36e3f und Lg 898d11-e238)eroumlffnen dennoch den Raum fuumlr eine solche Auffassung Dennoch un-terstuumltzt der Kontext in den Gesetzen nicht diese Auffassung Anders alsder materialistisch gepraumlgte Typus vertreten die sbquoPhilosophierendenlsquokeine reduktionistische These was nicht nur den Materialismus sondernauch den Mentalismus ausschliesst

In modernen Diskussionen des Leib-Seele-Problems wird Platon allzuoft als Vertreter eines sbquorobusten Dualismuslsquo dargestellt39 Demgemaumlszlighandelt es sich bei Seele und Koumlrper um zwei selbststaumlndige vonei-nander abgetrennte Substanzen die erst nachtraumlglich vereinigt werden

35 Carone Mind and Body S 237 die Voraussetzungen eines solchen Ver-staumlndnisses hat Fronterotta ans Licht gebracht Carone on the Mind-Body Pro-blem S 233

36 Carone Mind and Body S 240 Anm 4337 Vgl Carones selbstverstaumlndliche Redeweise lsquospatial or material conditionsrsquo

lsquobody and spacersquo lsquospace and bodyrsquo Mind and Body S 264 Zu einer einsichtige-ren Unterscheidung der Arten vom Dualismus bei Platon und Descartes sSarah Broadie Soul and Body in Plato and Descartes In The AristotelianSociety 101 (2001) S 295-308

38 Die zweite zaumlhlt Robinson nicht mit auf The Defining Features of Mind-Body Dualism S 40 Anm 12 Lg 898d11-e2 hat mehrere Deutungen undUumlbersetzungen veranlasst Περιφύειν wird mit aumlhnlicher Bedeutung in R 612aangewendet (sbquoherum- oder anwachsenlsquo) Diese Metapher in den Gesetzen undderen Uumlbersetzung verfehlen Otto Apelt Platons Gesetze Zweiter Band Leip-zig 1916 S 419 Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 S 163 mit Anm 2 Robin Leacuteon Oeuvres completesPlaton Paris 1950 Zweiter Band S 1025 richtig verstehen die Stelle JowettBenjamin The Dialogues of Plato Oxford 41953 S 468f Taylor Alfred E TheLaws of Plato London 21960 S 291 Muumlller Studien S 92 Anm 1 Bury Rob-ert Plato with an English Translation IX and X Laws London-New York1952 S 346 mit Anm Saunders Plato The Laws S 430 Cooper John (Hrsg)Plato Complete Works Cambridge 1997 S 1555 Mayhew Plato Laws X S29

16 Georgia Mouroutsou

muumlssen was hier nicht ausdruumlcklich widerlegt wird Neuerdings hatFronterotta diese Auffassung vertreten40 wobei auch seine Deutung aufzwei unaufhebbaren Schwierigkeiten im Timaios stoumlszligt Zum ersten istdie Weltseele raumlumlich ausgedehnt Zum zweiten ist sie das Produkteiner Mischung was nicht nur Carones These widerlegt dass die Seelekoumlrperlich sei ndash da hat Fronterotta Recht ndash sondern auch gegen einen ab-soluten unuumlberbruumlckbaren Gegensatz zwischen einer rein rationalerSeele und dem Weltkoumlrper plaumldiert41

Auf dem ersten Blick scheint unser Kontext in den Gesetzen nicht aufexplizite Weise den weit verbreiteten Vorschlag eines Substanz-Dualis-mus abzuweisen Weil sich aber in diesem Zusammenhang sowohl dieseelische als auch die koumlrperliche Bewegung im Raum vollziehen (Lg893c1f) ist die Dimensionalitaumlt keinesfalls ausschlieszliglich dem Koumlrperzugeordnet was sich wiederum mit einem starren Dualismus nicht ver-traumlgt42

Jedenfalls ist ein gewisser Dualismus insofern nicht zu uumlbergehen alsdie seelische Bewegung die koumlrperliche nicht produzieren kann43 NachLg 896e8-897b4 sbquonehmenrsquo die seelischen als die primaumlren Bewegungendie sekundaumlren koumlrperlichen sbquoaufrsquo Das gleiche Verb (παραλαμβάνειν897a5) wendet auch der Timaios an Der Demiurg nimmt das auf unge-ordnete und fast verbrecherische Weise bewegte Wahrnehmbare sowiespaumlter im Dialog das was ἀνάγκη bewirkt (68e3) auf Die unterstehendenGottheiten nehmen ihrerseits den rationalen Teil der Seele auf um ihn mitdem sterblichen Teil im Koumlrper zu verknuumlpfen (Ti 69c5) Diesen ver-schiedenen Zusammenhaumlngen koumlnnen wir keine Umkehrung der Prio-ritaumlt der Seele gegenuumlber dem Koumlrper entnehmen Was sich mit einer anSicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ausschlieszligen laumlsst ist eine

39 S Burnyeat Myles Is An Aristotelian Philosophy of Mind Still CredibleA Draft In Nussbaum A M-Rorty (Hrsg) Essays on Aristotlersquos De AnimaOxford 1992 S 15-26 Hier S 16 Putnam Hilary The Threefold Cord MindBody and World New York 1999 S 97 Stephen Priest Theories of the MindLondon 1991 S 8-15 57 162)

40 Fronterotta Carone on the Mind-Body Problem41 Platon behandelt das Problem der Verbindung zwischen der Seele und dem

Koumlrper wie die Vermittlung durch das Mark beweist (Ti 73b-c) was wir abernicht als Beleg dafuumlr betrachten sollten dass Platon zum Vorlaumlufer von Descar-tes wird

42 Thomas Johansen begeht diesen Weg in seiner Timaios-Auslegung43 Vgl Mason Andrew Plato on the Self-Moving Soul In Philosophical

Inquiry 1998 S 18-28 Hier S 24 28

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 17

Herleitung des Koumlrperlichen aus dem Seelischen44 Diese Unterscheidungzwischen Koumlrper und Seele erlaubt es dem Dialektiker je nachZusammenhang die Seele qua Seele (so in der vorliegenden Passage der Ge-setze) und den Koumlrper qua Koumlrper (so im Timaios) zu betrachten ohne einereduktionistische Auslegung vorauszusetzen

Auf dieser Basis wird ein Reduktionismus des Koumlrpers auf die Seele aus-geschlossen Ausserdem unterstuumltzt der Wortlaut des Textes nicht das Ver-staumlndnis der ontologischen Prioritaumlt die Aristoteles in Metaph V11 an-spricht Es geht in unserem Kontext nicht darum was Aristoteles undAlexander als platonische Auffassung und akademisches Gut dar-stellen45 Als Kriterium der ontologischen Rangfolge wird dassbquoMitaufgehobenwerdenrsquo des Spaumlteren angegeben Demgemaumlszlig setzt dasontologisch Spaumltere das Fruumlhere voraus aber nicht umgekehrt Wenndas Fruumlhere aufgehoben wuumlrde wuumlrde auch das Spaumltere aufgehobenwas sich aber nicht umkehren laumlsst Soweit geht Platon bei der hiesigenBetrachtung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper jedoch nichtDie Rede von der sbquoAufnahmersquo der koumlrperlichen Bewegungen von denseelischen ist weniger mit einer ontologischen Prioritaumlt der Seele (wieoben dargelegt) als vielmehr mit einer Aufeinanderbezogenheit vonSeele und Koumlrper vertraumlglich

Um eine uumlber den Rahmen dieses Beitrags hinausgehende positive Louml-sung fuumlr Platons Leib-Seele-Dualismus zu entwickeln ist es noumltigeinige falsche Meinungen zu korrigieren wozu die obere Darlegung bei-traumlgt

iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Ar-gument

44 Pace England Edwin The Laws of Plato London 1921 Zweiter Band S476 der παραλαμβάνειν als lsquobring in their trainrsquo versteht In allen obenerwaumlhnten Zusammenhaumlngen ist klar dass das Aufgenommene nicht vomAufnehmenden geschaffen wird Die Uumlberlegenheit des letzteren bleibt davonunberuumlhrt

45 Vor allem in Arist Metaph V11 1019a2-4 vgl Alexander In AristotMetaph I 6 987b33 Gaiser Testimonium Platonicum 22B

18 Georgia Mouroutsou

Wir kehren zu unserem Text zuruumlck Da der Seele ontologische Prioritaumltgegenuumlber dem Koumlrper verliehen wird ist auch das der Seele Verwandteontologisch fruumlher als das was dem Koumlrper zugehoumlrt

raquoVerhaltensweisen aber und Gemuumltsarten Willensakte Schluss-folgerungen wahre Meinungen Fuumlrsorge und Erinnerungen duumlrftenfruumlher entstanden sein als koumlrperliche Laumlnge Breite Tiefe und Staumlrkewenn eben die Seele fruumlher als der Koumlrper entstanden sein solltelaquo46

Im Anschluss daran hilft uns der Athener nachzuvollziehen warumPlaton eben hier die sbquoschlechte Seelersquo einfuumlhrt Man muumlsse darin uumlberein-stimmen dass die Seele Ursache sowohl des Guten als auch des Boumlsendes Schoumlnen und des Schlechten des Gerechten und des Ungerechtenund aller Gegensaumltze sei

raquoIst es denn nicht noumltig darin uumlbereinzustimmen dass die Seele dieUrsache des Guten sowie des Schlechten des Schoumlnen sowie des Haumlszlig-lichen des Gerechten sowie des Ungerechten und uumlberhaupt allerGegensaumltze wenn wir sie als Ursache von allem setzenlaquo47

Diese Zeilen sind aumluszligerst wichtig weil hier und nicht erst in 896e4ffder Gegensatz von sbquogut und schlechtlsquo eingefuumlhrt wird Dem Argumentist vorgeworfen worden es sei schwach Unter den Kritikern verstehtStalley den Schluss auf folgende Weise lsquoSoul since it is the source ofeverything must be the source of valuesrsquo Er wundert sich dass Werteohne Begruumlndung und ohne Erklaumlrung ihrer Existenzweise eingefuumlhrtwerden48 Dementgegen werde ich eine wohlwollendere Annaumlherungvorschlagen Nach der Rekonstruktion des Arguments werde ich eineArt sbquoanthropozentrischer Wendelsquo in einen breiteren Kontext situieren

Wie er expliziert (896d8) zieht der Gast aus Athen diesen Schlussdaraus dass die Seele als Ursache von allem angesetzt worden ist Bevorwir diese Begruumlndung als einen Fehlschritt charakterisieren sollten wiruns zusammen mit Kleinias erinnern dass die sbquoSeelersquo die Veraumlnderungvon allem herbeifuumlhrt49 Mit Hilfe einer anderen Formulierung ist dieSeele raquodie Veraumlnderung und Bewegung von allem Seiendenlaquo50

46 Lg 896c9-d3 raquoΤρόποι δὲ καὶ ἤθη καὶ βουλήσεις καὶ λογισμοὶ καὶ δόξαιἀληθεῖς ἐπιμέλειαί τε καὶ μνῆμαι πρότερα μήκους σωμάτων καὶ πλάτους καὶβάθους καὶ ῥώμης εἴη γεγονότα ἄν εἰπερ καὶ ψυχὴ σώματοςlaquo

47 Lg 896d5-7 raquoἎρrsquo οὖν τὸ μετὰ τοῦτο ὁμολογεῖν ἀναγκαῖον τῶν τε ἀγαθῶναἰτίαν εἶναι ψυχὴν καὶ τῶν κακῶν καὶ καλῶν καὶ αἰσχρῶν δικαίων τε καὶ ἀδίκωνκαὶ πάντων τῶν ἐναντίων εἴπερ τῶν πάντων γε αὐτὴν θήσομεν αἰτίανlaquo

48 Stalley An Introduction S 172 49 Lg 892a6f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 19

Die Bewegung ist hier als Wechsel und Veraumlnderung (μεταβολή) in ih-ren weitesten Sinn zu verstehen seien sie im Raum in Bezug auf dieSubstanz die Qualitaumlt oder die Quantitaumlt Der Uumlbergang findet zwi-schen Gegensaumltzen statt Die ersten Paare von Gegensaumltzen die derAthener vor der Verallgemeinerung in 897d7 anspricht sind Ver-bindungen und Trennungen Wachstum und Schwund sowie Prozessedes Wedens und Vergehens (894b10f) Die Seele zeigt sich als dieUrsache von aller Art koumlrperlicher Veraumlnderung Wenn eine Seele einenWechsel von einem schlechten zu einem guten Zustand verursacht dannist diese Seele in sich selbst gut Wenn eine Seele einen schlechtenEinfluss auf einen Zustand uumlbt dann ist sie dafuumlr verantwortlich Es istbemerkenswert dass der Gegensatz zwischen sbquogutlsquo und sbquoschlechtlsquo nichtauf die Unterscheidung zwischen sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo oder diejenigezwischen sbquoseelischer Bewegunglsquo und sbquokoumlrperlicher Bewegunglsquo zu-ruumlckgefuumlhrt wird Der Koumlrper kann nicht als schlecht charakterisiertwerden weil nach dem spaumlten Platon der Koumlrper qua Koumlrper weder gutnoch schlecht in sich selbst ist

Wenn die Seele die Ursache von allem ist so der Athener dann musssie die Ursache von allen Gegensaumltzen sein einschlieszliglich des Bereichsder Ethik Die gleichen Gegensatzspaare von sbquogut und schlecht schoumlnund haumlszliglich sowie gerecht und ungerechtlsquo tauchen in Euthph 7c10ff alsder Zankapfel der menschlichen Debatten auf die vor Gericht gefuumlhrtwerden koumlnnen Auch in Grg 459d1ff gehoumlren sie zur rhetorischenKunst die kein Wissen daruumlber erwerben kann In Plt 296c5-7 erfahrenwir dass ein Irrtum im Rahmen der politischen Kunst das Schaumlndlichedas Schlechte und das Ungerechte verursacht Was der Rhetor verfehltweiszlig der Staatsmann Der goumlttliche Teil der menschlichen Seele mag einewahre Meinung uumlber Schoumlnes Gutes und Gerechtes stiften (Plt 309c5-8)

Indem die Seele fuumlr alle moumlglichen koumlrperlichen Veraumlnderungen ver-antwortlich gemacht wird gelangen wir in unserem Zusammenhang zuder Seele als der primaumlren Ursache auch des Schlechten und nichtaufgrund der Frage woher das Schlechte komme Der Athener machtnirgends explizit dass er die Seele als die einzige Ursache des Schlechtensei Bedenken sollte daher gegen Englands Beobachtung geaumluszligert wer-den in 896d5 werde die Frage nach dem Uumlbel eingefuumlhrt und insbe-

50 Lg 894c6f raquoκαλουμένην δὲ ὄντως τῶν ὄντων πάντων μεταβολὴν καὶκίνησινlaquo

20 Georgia Mouroutsou

sondere gegen seine Folgerung lsquoHaving identified ψυχή with the αἰτίαἀγαθοῦ τε καὶ κακοῦ he is bound to talk of the αἰτία κακοῦ as ψυχήrsquo51

Auf das seelische Uumlbel konzentriert sich hier der Athener Verabsolutie-rende Konklusionen uumlber das Uumlbel schlechthin sind daher der Ge-spraumlchssituation nicht zu entnehmen Jedenfalls waumlre der bestimmte Ar-tikel noumltig vor αἰτίαν (sowohl in 896d6 als auch in d8)

Der Athener zielt darauf die Natur der Seele als die Ursache von allenGegensaumltzen auszulotten und fuumlhrt dann das Feld der menschlichenEthik ein ohne seinen Uumlbergang oder eher seine Einschraumlnkung zu er-klaumlren52 Die konkrete politische Situation in den Gesetzen bietet eineplausible Erklaumlrung fuumlr diesen Uumlbergang von der Seele qua Seele zurmenschlichen Seele Die Buumlrger von Magnesia sollten ihre Machtwahrnehmen sowohl zum Guten als auch zum Schlechten beizutragenAuszligerdem sollten sie die Verantwortung ihrer politischen Taumltigkeit ineinem kosmischen All uumlbernehmen das von einer guten Seele verwaltetwird Die primaumlre Ursache der Bewegung ist die Seele Beinahe waumlre dieSeele als Selbst-Bewegung ie ihre absolute Spontaneitaumlt als Bedingungihrer moralischen Verantwortung zum ersten Mal in der Geschichte derPhilosophie vorgekommen haumltte Platon diese Verbindung ausbuch-stabiert53

Eine Art Anthropozentrismus kommt in den spaumlteren platonischenSchriften vor Die Entscheidung ob wir dieses Konzept einer philoso-

51 Platorsquos Laws S 474 Auf aumlhnliche Weise auch Carone Evil and Teleology S295 Anm41

52 Mayhew argumentiert seinerseits dass es nicht darum gehe dass die Seeledie Ursache aller Dinge und daher sowohl schlechter wie guter Dinge sei DerInterpret meint die Seele sei fruumlher als der Koumlrper und in dieser Weise das Seeli-sche ndash einschlieszliglich der Moral ndash entsprechend fruumlher als das Koumlrperliche (PlatoLaws X S 131) Dennoch liegt die Pointe meines Erachtens nicht darin eineneingegrenzten Bereich ndash den der Ethik ndash anzusprechen sondern das Wesen derSeele als Ursache aller Gegensaumltze auszubuchstabieren was wiederum nichtheiszligt man sollte den Bereich der Moral voumlllig leugnen wie es Raphael Demostut lsquo[hellip] the soul is non-moral apt for both good and evil and so far forth inde-terminatersquo (Demosrsquo Hervorhebung Platorsquos Doctrine of the Psyche as a Self-Moving Motion In Journal of History of Philosophy (1968) S 133-145 HierS136)

53 Vgl Horn Christoph Der Begriff der Selbstbewegung bei Alkmaion undPlaton In Rechenauer Georg (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen2005 S 152-173 bes S 168ff und Baumgarten Hans-Ulrich Handlungstheoriebei Platon Platon auf dem Weg zum Willen Stuttgart 1998 S 241-264

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phischen Kritik unterziehen sollten oden nicht mag hier dahingestelltbleiben Mit dem sbquoAnthropozentrismuslsquo bei Platon meine ich dass dasErschaffen des Weltalls auf der Basis einer Teleologie geschieht die aufden Menschen und seinen Beduumlrfnissen zentriert ist Man mag denTimaios heranziehen Der Anthropozentrismus scheint sich durch denganzen Monolog durchzusetzen in dem Timaios auf das Schaffen desMannes fokussiert ist Gemaumlszlig der Lehre der Wiedergeburt sind Frauenund Tiere schlechtere Formen von Lebewesen Es gibt zwei Passagendie als besonders anthropozentrisch gepraumlgt vorkommen Zum erstensind die Pflanzen um der Ernaumlhrung der sterblichen Lebewesen willengeschaffen worden (77e7-b1) Zum zweiten schafft der Demiurg dieuumlber das ganze All scheinende Sonne damit die dementsprechend aus-geruumlsteten Lebewesen an der Zahl teilnehmen nachdem sie von derBeobachtung der kosmischen Bewegung viel gelernt haben (39b2-c1)Um der Menschen und der Kultivierung der Philosophie willen schafftGott die Sonne und ermoumlglicht die Wahrnehmung der Sicht Dank desStudiums der himmlischen Bewegungen koumlnnen wir nach der Natur derZeit und des Alls fragen Auf diese Weise duumlrfen wir hoffen unsere ge-stoumlrte Bewegung der Vernunft der ungestoumlrten Bahn der kosmischenVernunft zu assimilieren (46e-47c 90c-d)

Wir haben die Kritik an der Einschraumlnkung im moralischen Bereichwiderlegt indem wir unseren unmittelbaren sowie weiteren Kontextberuumlcksichtigten Wegen des Fokuses auf den menschlichen Bereich unddie menschliche Seele geht die allgemeine Frage der Seele qua Seele nichtverloren Der Hintergrund der jetzigen Diskussion bleibt dieseallgemeine Fragestellung obgleich die menschliche Seele diejenige istdie sich gemaumlszlig der Vernunft oder gegen die Vernunft verhaumllt (897b1-5)Wir sollten die Unterscheidung zwischen weiteren kosmischen undmenschlichen Dimensionen bewahren wenn auch der spaumlte Platon denkosmischen Zusammenhang auf eine anthropozentrische oder sogar an-thropomorphische Weise beschreibt54 Es waumlre weder gerechtfertigtnoch legitim dass die Untersuchung uumlber die menschliche Seelediejenige uumlber die Seele qua Seele dominieren oder ausschoumlpfen wuumlrde

54 Zur Zentrierung des kosmischen Alls auf dem menschlichen Leben bei spauml-tem Platon s Carone Evil and Teleology S 296

22 Georgia Mouroutsou

v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6

Von der allgemeinen Seelenlehre und der Seele qua Seele die bis dahindas Untersuchungsobjekt bildete gelangt der Athener jetzt zu einer be-sonderen Seele zur Weltseele Der Blickwechsel den der Athener imBereich seiner Betrachtung vollzieht sollte im Rahmen der platonischenSpaumltdialoge in denen Ontologie und Seelenlehre haumlufig in Kosmologiemuumlnden kein Erstaunen hervorrufen Als zwei Beispiele dafuumlr koumlnnender kosmologische Exkurs im Philebos (s oben Abschnitt I) und derUumlbergang von ψυχὴ πᾶσα (alles was Seele ist) zur Weltseele im Phaidros(245c5-246a2) gelten Was uumlber die Seele qua Seele gesagt wurde sollteauch im Fall der Weltseele Guumlltigkeit haben

raquoUnd weil die Seele in allem waltet und wohnt was sich auf ir-gendeine Weise bewegt muumlssen wir etwa nicht sagen dass sie auch denHimmel durchwaltelaquo55

Auf seine nur scheinbar unvermittelte und ploumltzliche Frage56 antwor-tet der Athener selbst

raquoEine oder mehrere Seelen Mehrere Ich werde fuumlr Euch antwortendass wir nicht weniger als zwei ansetzen sollten naumlmlich diejenige diedas Gute vervollkommnet und diejenige die faumlhig ist Entgegengesetztesdurchzufuumlhrenlaquo57

Dass der Athener im Namen seiner Gespraumlchspartner antwortet be-trachte ich als kein ausschlaggebendes Argument gegen die Realitaumlt einersbquoschlechten Weltseelersquo58 weil er sich noch auf die Seele qua Seele bezieht

55 Lg 896d10-e2 raquoΨυχὴν δὴ διοικοῦσαν καὶ ἐνοικοῦσαν ἐν ἅπασιν τοῖς πάντῃκινουμένοις μῶν οὐ καὶ τὸν οὐρανὸν ἀνάγκη διοικεῖν φάναιlaquo

56 Wilamowitz charakterisiert diese Frage zu Unrecht als sbquohereingeschneitlsquo(Platon II S 316) wogegen sich Kerschensteiner einsetzt (Platon und der Ori-ent S 73)

57 Lg 896e4-6 raquoΜίαν ἢ πλείους πλείους ἐγὼ ὑπέρ σφῷν ἀποκρινούμαι Δυοῖνμέν γέ που ἔλαττον μηδὲν τιθῶμεν τῆς τε εὐεργέτιδος καὶ τῆς τἀναντία δυναμένηςἐξεργάζεσθαιlaquo

58 Vgl Apelt Platons Gesetze S 539 Anm 48

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 23

Ist die Seele die das All verwaltet eine oder mehrere Haumltte Platon indi-viduelle Seelen ohne Bezug auf einen generellen Terminus sbquoSeelelsquo auf-zaumlhlen wollen haumltte er von mehr als zwei Seelen gesprochen Die Frageist sehr oft als Frage nach zwei Weltseelen verstanden worden Koumlnnteder Athener nicht die allgemeine Lehre der Seele qua Seele verlassen umsich auf die zwei partikulaumlren Weltseelen zu beziehen Dies haumltte derFall sein koumlnnen wenn die Weltseele mit Realitaumlt ausgestattet waumlre wassich aber nicht so verhaumllt Die oben genannte Frage kann nur die Seelequa Seele betreffen

Obgleich er haumlufig uumlberhoumlrt wird sollte der oben angewendete Dual beruumlcksichtigt werden weil er gegen ein Verstaumlndnis von zwei von-einander getrennten entgegengesetzten Seelen plaumldiert59 Auszliger demDual in 896e5 uumlberhoumlrt die Mehrheit der Interpreten hier noch etwasEntscheidendes Die der wohltaumltigen Seele entgegensetzte ist nicht eineeinfachhin und ohne Weiteres sbquoschlechte Seelersquo60 sondern die Seele raquodieimstande ist das Gegenteil zu bewirkenlaquo Genau in diesem Punkt uumlber-schneiden sich die allgemeine Seelenlehre nach der die Seele qua SeeleSelbstbewegung ist und als solche gut oder schlecht sein kann und diespezielle Lehre uumlber die kosmische Seele die ebenfalls qua Seele in derLage ist gut oder schlecht zu sein Deswegen sollten wir die Rede vonδύναμις in unserer Uumlbersetzung von sbquoτἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαιlsquo(Lg 896e6)61 nicht vernachlaumlssigen Die sbquoschlechte Seelelsquo wird nicht alseine bloszlige Privation der guten Seele eingefuumlhrt sondern als mit ihrereigenen Macht (δύναμις) ausgestattet Schlechtes zu bewirken62 als einenegative und destruktive Macht63

Wir sind dabei weit enfernt δύνασθαι mit einer aristotelischen sbquoerstenMoumlglichkeitlsquo zu identifizieren um die Ausscheidung einer schlechten

59 raquoDie Sprache hat die Dualform geschaffen nicht etwa um den Begriff derZahl zwei sondern um den Begriff der Zweiheit der paarweisenZusammengehoumlrigkeit auszudruumlckenlaquo (Wilhelm von Humboldt Uumlber denDualis Berlin 1828 S 18) Erst nach Platon als das Sprachgefuumlhl fuumlr die eigent-liche Bedeutung der Sprachformen an Lebendigkeit nachlieszlig bedeutete der Dualnicht selten den bloszligen Begriff sbquozweilsquo wobei die wahre und urspruumlngliche Naturdes Duals sich darin zeigt dass er entweder auf paarweise in der Natur verbun-dene Gegenstaumlnde angewendet wird oder auf solche welche in einer engen undgegenseitigen Beziehung gedacht werden (vgl Kuumlhner Raphael und FriedrichBlass Ausfuumlhrliche Grammatik der griechischen Sprache Zweiter Teil Satz-lehre Erster Teil Darmstadt 31966 S 69

60 Er spricht nur spaumlter von einer sbquoschlechten Seelersquo (897d1 vgl 898c4f)

24 Georgia Mouroutsou

Weltseele schon in den oberen Zeilen zu finden Nach dieser Lektuumlrewaumlre die zweite Art von Seele nur imstande Schlechtes durchzufuumlhrenaber wuumlrde nicht tatsaumlchlich so etwas tun Waumlre das der Fall warumsollte der Athener uumlberhaupt erst zwischen zwei Arten von Seele unter-scheiden In einem Kontext wo die Staumlrke die praktische Macht sowieEffizienz und Dominanz der Seele uumlberwiegen64 ist die Option einersbquoersten Moumlglichkeitlsquo keine gelungene Annahme65 Nur in dem Fall desgoumlttlichen Demiurgen koumlnnten wir eine solche sbquoerste Moumlglichkeitlsquo an-wenden die sich nie wirklich durchsetzen wird Trotz seiner Faumlhigkeites zu tun ist der Demiurg nicht bereit die guten Mischungen aufzuloumlsenund die kosmische Ordnung zugrunde zu richten Das Konzept einesDemiurgen der faumlhig ist beides zu tun sowohl Gutes als auch Schlech-tes ist fuumlr Platon undenkbar weil Gott wesentlich gut ist66 Zu-gegebenermaszligen waumlre es zu weitreichend all das in 896e5f hineinzule-sen und die zweite Art der Seele mit dem goumlttlichen Demiurgen zuidentifizieren

61 Der δύναμις-Aspekt geht verloren bei Plutarch der stattdessen von der gutwirkenden und der entgegengesetzten Seele spricht die das Gegenteil vollbringtDe Is Et Osir 370F4-6 raquoὧν τὴν μὲν ἀγαθουργόν εἶναι τὴν δrsquo ἐναντίαν ταύτῃ καὶτῶν ἐναντίων δημιουργόνlaquo Den wichtigen Bezug auf δύναμις verpassen Jowettlsquoone the author of good and the other of the evilrsquo (The Dialogues of Plato S466) sowie Grube Platorsquos Thought lsquoone that does good and one that does evilrsquo(Platorsquos Thought S 146)

Brisson spricht von der Neutralitaumlt der Seele die faumlhig ist gut oder schlecht zusein (Vernunft Natur und Gesetz im zehnten Buch von Platons Gesetzen InHavlicek Ales (Hrsg) The Republic and the Laws of Plato Proceedings of theFirst Symposium Plato Symposium Platonicum Pragense 1 (1997) S 182-200Hier S189) ohne diese Textstelle heranzuziehen

62 Das Verb ist sbquoἐξεργάζεσθαιlsquo das nicht nur das Schlechte bewirken sondern esauch vollenden heiszligt (vgl ἔργον sowohl in als auch in ἐξεργάζεσθαι)

63 Vgl Dillons allgemeine Folgerung uumlber das ontologische Problem desSchlechten bei Platon (Monist and Dualist Tendencies S 11) Der Fall einerschlechten Seele die nicht als Privation der guten Seele vorkommt sondern alsraquofaumlhig Schlechtes zu vollendenlaquo unterstuumltzt Dillons Konklusion dass diesbquoschlechte Seelelsquo eine negative zerstoumlrende Macht sei

64 Vgl die Charakterisierung der Seele in 894d1f 895b665 Dank der Beobachtung von David Sedley wurde es mir klar dass ich

unabsichtlich eine aristotelsiche sbquoerste Potenzialitaumltlsquo in einer fruumlheren Versionvorgeschlagen hatte

66 Vgl oben Fuszlignote 7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 25

Bevor wir zur allgemeinen platonischen Psychologie uumlbergehen er-waumlgen wir eine zweite moumlgliche Unterscheidung der Seele in 896e4-6Bis jetzt habe ich die Distinktion zwischen guter und schlechter Seele alsselbstverstaumlndlich betrachtet Eine vorsichtigere Lektuumlre ermoumlglicht einezweite Option naumlmlich die Unterscheidung zwischen derwohlwollenden Seele die immer das Gute vollendet und derjenigen diefaumlhig ist entgegengesetzte Dinge (Plural) durchzufuumlhren sowohl Gutesals auch Schlechtes (τῆς τἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαι) Die ersteSeele kann keine andere als die goumlttliche sein67 Fuumlr die zweite Seele istder einzige Kandidat die menschliche Seele Auszligerdem wuumlrde die Seeleder Tiere unter die Seele fallen die sowohl Gutes als auch Schlechtestun kann weil sie einen logischen Teil beinhaltet auch wenn deformiertDas Goumlttliche ist immer gut Die Pflanzen moumlgen gut sein insofern siein eine globale Teleologie integriert sind Sie wuumlrden aber nie als faumlhigcharakterisiert etwas Gutes oder noch weniger etwas Schlechtes zutun noch wuumlrden sie die Verantwortung fuumlr die herbeigefuumlhrten gutenoder schlechten Wirkungen tragen Wenn diese Lektuumlre als die einzigemoumlgliche aufgewiesen werden koumlnnte wuumlrden wir mit Sicherheit dieFrage nach der schlechten Seele auf spaumlter verschieben68

Wie es auch sein mag befinden wir uns noch im Rahmen derallgemeinen Lehre der Seele qua Seele als Selbstbewegung Die kosmi-sche Seele ist in 896e1f aufgetaucht aber die Unterscheidung zwischender guten und der schlechten Seele oder der goumlttlichen und men-schlichen Seele wird auf einer allgemeinen Ebene gezogen69 Obgleichder Athener nicht die theorethischen Anspruumlche des Sophistes erhebtsetzt er die allgemeine platonische Ontologie voraus dergemaumlszlig dasSeiende qua Seiendes δύναμις sei Das Kriterium fuumlr alles was Seiendesist sei es Intelligibles oder Koumlrperliches Koumlrper oder Seele ist das Ver-moumlgen zu tun oder zu leiden70 Die Erforschung der Seele als Seiendesverlangt daher die Frage nach ihrer Kraft und ihrem Vermoumlgen (Lg892a2f) Der Gast aus Athen bezieht sich stets auf die δύναμις-Ontolo-

67 Der Athener kann noch nicht die gute Seele als goumlttlich charakterisierenDas Argument hat noch nicht die Goumlttlichkeit der Seele bewiesen

68 Der kreative Charakter der Dialektik ermoumlglicht mehr als eine richtige Ein-teilung Zu diesem Aspekt s Plt 286d-e und Delcomminettes Monographie

69 Anders als Taylor der den Uumlbergang von 896e2 zu e4 durch die Praumlmisseder Aktualitaumlt des Guten und Schlechten in der gegenwaumlrtigen Welt verhilft (TheLaws S 289 Anm 1) sehe ich keinen Eintritt eines a posteriori Arguments adhoc Alles bisherige entnimmt der Athener der allgemeinen Seelenlehre

26 Georgia Mouroutsou

gie des Phaidros sowie des Sophistes Er stellt die Frage was die Seele istund was fuumlr ein Vermoumlgen sie hat οἷόν τε ὂν τυγχάνει καὶ δύναμιν ἣνἔχει71

Obwohl die Frage nach dem Tun (ποιεῖν) oder Leiden (πάσχειν) derSeele als δύναμις nicht explizit gestellt wird72 bringt ihre Definition alsSelbstbewegung ein gleichzeitiges Tun (als Bewegen) und Leiden (alsBewegtwerden) zum Ausdruck73 Die Seele ist die Kraft die sich selbstund anderes bewegt74 Die Definition der Seele als Selbstbewegung kannentweder als Aktivitaumlt oder Passivitaumlt ausgedruumlckt werden Die Seele be-wegt sich selbst und wird von sich selbst bewegt Ein gleichzeitiges Tunund Leiden das aber nicht das gleiche Seiende verursacht geschieht beikoumlrperlicher Bewegung Ein Koumlrper mag auf einen anderen Koumlrper wir-ken und zu gleicher Zeit kann er von einer Seele oder einem anderenKoumlrper bewegt werden aber nicht von sich selbst75

Platon gibt die Definition der Seele in ihrer Allgemeinheit d hunabhaumlngig von ihren moumlglichen Manifestationen in konkretenLebewesen Alles was Seele ist soll Selbstbewegung sein mag es sichum die Seele des Menschen oder des Tieres oder der Pflanze handelnWeil die individuellen Manifestationen der Seele nicht beruumlcksichtigtwerden fehlt bei der Formel der Definition τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴνκινεῖν κίνησιν (896a1f) auch der Bezug auf den Koumlrper den die jeweiligekonkrete Seele beseelt Im Falle der Absenz der Materie in einer Defini-

70 Der Vorschlag des Gastes aus Elea in Sph 247d-e wird nicht allgemein alsPlatons Vorschlag uumlber Ontologie gedeutet Sehr haumlufig beschraumlnken Exegetendas Seiende als δύναμις auf die ad loc Argumentation gegen die MaterialistenAuch wenn dieses Argument als Platons Argument charakterisiert wird bleibtes sehr umstritten ob es eine allgemeine Ontologie betrifft (Brown) oder in eineOntologie der Ideen einmuumlndet (Gerson Politis) Darauf gehe ich hier nicht ein

71 Lg 892a3 vgl Lg 894b8-c1 und 896a1f72 Der Athener bezieht sich auf Tun und Leiden nur in 894c5f und meint

wahrscheinlich sowohl Seelisches als auch Koumlrperliches mit dem die Seele har-monisiert

73 In Lg 894b8-c1 und 896a1f beantwortet der Athener seine Frage nach derArt des Vermoumlgens mit dem die Seele ausgestattet ist Der gesamteZusammenhang verbindet die Frage nach dem Wesen eines Seienden mit derFrage nach seinem Vermoumlgen

74 Lg 893c4f75 Gaiser fuumlhrt den Ausgleich zwischen Passivitaumlt und Aktivitaumlt in der selbst-

bewegenden Seele auf das Zusammenwirken der zwei platonischen Prinzipienzuruumlck (Platons Ungeschriebene Lehre S 195f)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 27

tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

28 Georgia Mouroutsou

Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

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tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 31

welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

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zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

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Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

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werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

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abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 15

there is still a gap to be filled between spatial extension and corporeal-ityrsquo36 Trotz ihres Zugestaumlndnisses fuumlllt Carone diese Luumlcke leider nichtund offenbart auf diese Weise ihre nicht hinterfragte (oder bei Platonnicht bewaumlhrte) Cartesianische Praumlmisse37

Noch belegt unser Zusammenhang das andere Extrem einer ArtMentalismus nach dem das Koumlrperliche vom Seelischen ableitbar istSowohl die Darstellung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper alszwischen Ganzem und Teil (Chrm 156dff) als auch die oumlrtliche Meta-pher der den Koumlrper umhuumlllenden Seele (Ti 36e3f und Lg 898d11-e238)eroumlffnen dennoch den Raum fuumlr eine solche Auffassung Dennoch un-terstuumltzt der Kontext in den Gesetzen nicht diese Auffassung Anders alsder materialistisch gepraumlgte Typus vertreten die sbquoPhilosophierendenlsquokeine reduktionistische These was nicht nur den Materialismus sondernauch den Mentalismus ausschliesst

In modernen Diskussionen des Leib-Seele-Problems wird Platon allzuoft als Vertreter eines sbquorobusten Dualismuslsquo dargestellt39 Demgemaumlszlighandelt es sich bei Seele und Koumlrper um zwei selbststaumlndige vonei-nander abgetrennte Substanzen die erst nachtraumlglich vereinigt werden

35 Carone Mind and Body S 237 die Voraussetzungen eines solchen Ver-staumlndnisses hat Fronterotta ans Licht gebracht Carone on the Mind-Body Pro-blem S 233

36 Carone Mind and Body S 240 Anm 4337 Vgl Carones selbstverstaumlndliche Redeweise lsquospatial or material conditionsrsquo

lsquobody and spacersquo lsquospace and bodyrsquo Mind and Body S 264 Zu einer einsichtige-ren Unterscheidung der Arten vom Dualismus bei Platon und Descartes sSarah Broadie Soul and Body in Plato and Descartes In The AristotelianSociety 101 (2001) S 295-308

38 Die zweite zaumlhlt Robinson nicht mit auf The Defining Features of Mind-Body Dualism S 40 Anm 12 Lg 898d11-e2 hat mehrere Deutungen undUumlbersetzungen veranlasst Περιφύειν wird mit aumlhnlicher Bedeutung in R 612aangewendet (sbquoherum- oder anwachsenlsquo) Diese Metapher in den Gesetzen undderen Uumlbersetzung verfehlen Otto Apelt Platons Gesetze Zweiter Band Leip-zig 1916 S 419 Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 S 163 mit Anm 2 Robin Leacuteon Oeuvres completesPlaton Paris 1950 Zweiter Band S 1025 richtig verstehen die Stelle JowettBenjamin The Dialogues of Plato Oxford 41953 S 468f Taylor Alfred E TheLaws of Plato London 21960 S 291 Muumlller Studien S 92 Anm 1 Bury Rob-ert Plato with an English Translation IX and X Laws London-New York1952 S 346 mit Anm Saunders Plato The Laws S 430 Cooper John (Hrsg)Plato Complete Works Cambridge 1997 S 1555 Mayhew Plato Laws X S29

16 Georgia Mouroutsou

muumlssen was hier nicht ausdruumlcklich widerlegt wird Neuerdings hatFronterotta diese Auffassung vertreten40 wobei auch seine Deutung aufzwei unaufhebbaren Schwierigkeiten im Timaios stoumlszligt Zum ersten istdie Weltseele raumlumlich ausgedehnt Zum zweiten ist sie das Produkteiner Mischung was nicht nur Carones These widerlegt dass die Seelekoumlrperlich sei ndash da hat Fronterotta Recht ndash sondern auch gegen einen ab-soluten unuumlberbruumlckbaren Gegensatz zwischen einer rein rationalerSeele und dem Weltkoumlrper plaumldiert41

Auf dem ersten Blick scheint unser Kontext in den Gesetzen nicht aufexplizite Weise den weit verbreiteten Vorschlag eines Substanz-Dualis-mus abzuweisen Weil sich aber in diesem Zusammenhang sowohl dieseelische als auch die koumlrperliche Bewegung im Raum vollziehen (Lg893c1f) ist die Dimensionalitaumlt keinesfalls ausschlieszliglich dem Koumlrperzugeordnet was sich wiederum mit einem starren Dualismus nicht ver-traumlgt42

Jedenfalls ist ein gewisser Dualismus insofern nicht zu uumlbergehen alsdie seelische Bewegung die koumlrperliche nicht produzieren kann43 NachLg 896e8-897b4 sbquonehmenrsquo die seelischen als die primaumlren Bewegungendie sekundaumlren koumlrperlichen sbquoaufrsquo Das gleiche Verb (παραλαμβάνειν897a5) wendet auch der Timaios an Der Demiurg nimmt das auf unge-ordnete und fast verbrecherische Weise bewegte Wahrnehmbare sowiespaumlter im Dialog das was ἀνάγκη bewirkt (68e3) auf Die unterstehendenGottheiten nehmen ihrerseits den rationalen Teil der Seele auf um ihn mitdem sterblichen Teil im Koumlrper zu verknuumlpfen (Ti 69c5) Diesen ver-schiedenen Zusammenhaumlngen koumlnnen wir keine Umkehrung der Prio-ritaumlt der Seele gegenuumlber dem Koumlrper entnehmen Was sich mit einer anSicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ausschlieszligen laumlsst ist eine

39 S Burnyeat Myles Is An Aristotelian Philosophy of Mind Still CredibleA Draft In Nussbaum A M-Rorty (Hrsg) Essays on Aristotlersquos De AnimaOxford 1992 S 15-26 Hier S 16 Putnam Hilary The Threefold Cord MindBody and World New York 1999 S 97 Stephen Priest Theories of the MindLondon 1991 S 8-15 57 162)

40 Fronterotta Carone on the Mind-Body Problem41 Platon behandelt das Problem der Verbindung zwischen der Seele und dem

Koumlrper wie die Vermittlung durch das Mark beweist (Ti 73b-c) was wir abernicht als Beleg dafuumlr betrachten sollten dass Platon zum Vorlaumlufer von Descar-tes wird

42 Thomas Johansen begeht diesen Weg in seiner Timaios-Auslegung43 Vgl Mason Andrew Plato on the Self-Moving Soul In Philosophical

Inquiry 1998 S 18-28 Hier S 24 28

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 17

Herleitung des Koumlrperlichen aus dem Seelischen44 Diese Unterscheidungzwischen Koumlrper und Seele erlaubt es dem Dialektiker je nachZusammenhang die Seele qua Seele (so in der vorliegenden Passage der Ge-setze) und den Koumlrper qua Koumlrper (so im Timaios) zu betrachten ohne einereduktionistische Auslegung vorauszusetzen

Auf dieser Basis wird ein Reduktionismus des Koumlrpers auf die Seele aus-geschlossen Ausserdem unterstuumltzt der Wortlaut des Textes nicht das Ver-staumlndnis der ontologischen Prioritaumlt die Aristoteles in Metaph V11 an-spricht Es geht in unserem Kontext nicht darum was Aristoteles undAlexander als platonische Auffassung und akademisches Gut dar-stellen45 Als Kriterium der ontologischen Rangfolge wird dassbquoMitaufgehobenwerdenrsquo des Spaumlteren angegeben Demgemaumlszlig setzt dasontologisch Spaumltere das Fruumlhere voraus aber nicht umgekehrt Wenndas Fruumlhere aufgehoben wuumlrde wuumlrde auch das Spaumltere aufgehobenwas sich aber nicht umkehren laumlsst Soweit geht Platon bei der hiesigenBetrachtung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper jedoch nichtDie Rede von der sbquoAufnahmersquo der koumlrperlichen Bewegungen von denseelischen ist weniger mit einer ontologischen Prioritaumlt der Seele (wieoben dargelegt) als vielmehr mit einer Aufeinanderbezogenheit vonSeele und Koumlrper vertraumlglich

Um eine uumlber den Rahmen dieses Beitrags hinausgehende positive Louml-sung fuumlr Platons Leib-Seele-Dualismus zu entwickeln ist es noumltigeinige falsche Meinungen zu korrigieren wozu die obere Darlegung bei-traumlgt

iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Ar-gument

44 Pace England Edwin The Laws of Plato London 1921 Zweiter Band S476 der παραλαμβάνειν als lsquobring in their trainrsquo versteht In allen obenerwaumlhnten Zusammenhaumlngen ist klar dass das Aufgenommene nicht vomAufnehmenden geschaffen wird Die Uumlberlegenheit des letzteren bleibt davonunberuumlhrt

45 Vor allem in Arist Metaph V11 1019a2-4 vgl Alexander In AristotMetaph I 6 987b33 Gaiser Testimonium Platonicum 22B

18 Georgia Mouroutsou

Wir kehren zu unserem Text zuruumlck Da der Seele ontologische Prioritaumltgegenuumlber dem Koumlrper verliehen wird ist auch das der Seele Verwandteontologisch fruumlher als das was dem Koumlrper zugehoumlrt

raquoVerhaltensweisen aber und Gemuumltsarten Willensakte Schluss-folgerungen wahre Meinungen Fuumlrsorge und Erinnerungen duumlrftenfruumlher entstanden sein als koumlrperliche Laumlnge Breite Tiefe und Staumlrkewenn eben die Seele fruumlher als der Koumlrper entstanden sein solltelaquo46

Im Anschluss daran hilft uns der Athener nachzuvollziehen warumPlaton eben hier die sbquoschlechte Seelersquo einfuumlhrt Man muumlsse darin uumlberein-stimmen dass die Seele Ursache sowohl des Guten als auch des Boumlsendes Schoumlnen und des Schlechten des Gerechten und des Ungerechtenund aller Gegensaumltze sei

raquoIst es denn nicht noumltig darin uumlbereinzustimmen dass die Seele dieUrsache des Guten sowie des Schlechten des Schoumlnen sowie des Haumlszlig-lichen des Gerechten sowie des Ungerechten und uumlberhaupt allerGegensaumltze wenn wir sie als Ursache von allem setzenlaquo47

Diese Zeilen sind aumluszligerst wichtig weil hier und nicht erst in 896e4ffder Gegensatz von sbquogut und schlechtlsquo eingefuumlhrt wird Dem Argumentist vorgeworfen worden es sei schwach Unter den Kritikern verstehtStalley den Schluss auf folgende Weise lsquoSoul since it is the source ofeverything must be the source of valuesrsquo Er wundert sich dass Werteohne Begruumlndung und ohne Erklaumlrung ihrer Existenzweise eingefuumlhrtwerden48 Dementgegen werde ich eine wohlwollendere Annaumlherungvorschlagen Nach der Rekonstruktion des Arguments werde ich eineArt sbquoanthropozentrischer Wendelsquo in einen breiteren Kontext situieren

Wie er expliziert (896d8) zieht der Gast aus Athen diesen Schlussdaraus dass die Seele als Ursache von allem angesetzt worden ist Bevorwir diese Begruumlndung als einen Fehlschritt charakterisieren sollten wiruns zusammen mit Kleinias erinnern dass die sbquoSeelersquo die Veraumlnderungvon allem herbeifuumlhrt49 Mit Hilfe einer anderen Formulierung ist dieSeele raquodie Veraumlnderung und Bewegung von allem Seiendenlaquo50

46 Lg 896c9-d3 raquoΤρόποι δὲ καὶ ἤθη καὶ βουλήσεις καὶ λογισμοὶ καὶ δόξαιἀληθεῖς ἐπιμέλειαί τε καὶ μνῆμαι πρότερα μήκους σωμάτων καὶ πλάτους καὶβάθους καὶ ῥώμης εἴη γεγονότα ἄν εἰπερ καὶ ψυχὴ σώματοςlaquo

47 Lg 896d5-7 raquoἎρrsquo οὖν τὸ μετὰ τοῦτο ὁμολογεῖν ἀναγκαῖον τῶν τε ἀγαθῶναἰτίαν εἶναι ψυχὴν καὶ τῶν κακῶν καὶ καλῶν καὶ αἰσχρῶν δικαίων τε καὶ ἀδίκωνκαὶ πάντων τῶν ἐναντίων εἴπερ τῶν πάντων γε αὐτὴν θήσομεν αἰτίανlaquo

48 Stalley An Introduction S 172 49 Lg 892a6f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 19

Die Bewegung ist hier als Wechsel und Veraumlnderung (μεταβολή) in ih-ren weitesten Sinn zu verstehen seien sie im Raum in Bezug auf dieSubstanz die Qualitaumlt oder die Quantitaumlt Der Uumlbergang findet zwi-schen Gegensaumltzen statt Die ersten Paare von Gegensaumltzen die derAthener vor der Verallgemeinerung in 897d7 anspricht sind Ver-bindungen und Trennungen Wachstum und Schwund sowie Prozessedes Wedens und Vergehens (894b10f) Die Seele zeigt sich als dieUrsache von aller Art koumlrperlicher Veraumlnderung Wenn eine Seele einenWechsel von einem schlechten zu einem guten Zustand verursacht dannist diese Seele in sich selbst gut Wenn eine Seele einen schlechtenEinfluss auf einen Zustand uumlbt dann ist sie dafuumlr verantwortlich Es istbemerkenswert dass der Gegensatz zwischen sbquogutlsquo und sbquoschlechtlsquo nichtauf die Unterscheidung zwischen sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo oder diejenigezwischen sbquoseelischer Bewegunglsquo und sbquokoumlrperlicher Bewegunglsquo zu-ruumlckgefuumlhrt wird Der Koumlrper kann nicht als schlecht charakterisiertwerden weil nach dem spaumlten Platon der Koumlrper qua Koumlrper weder gutnoch schlecht in sich selbst ist

Wenn die Seele die Ursache von allem ist so der Athener dann musssie die Ursache von allen Gegensaumltzen sein einschlieszliglich des Bereichsder Ethik Die gleichen Gegensatzspaare von sbquogut und schlecht schoumlnund haumlszliglich sowie gerecht und ungerechtlsquo tauchen in Euthph 7c10ff alsder Zankapfel der menschlichen Debatten auf die vor Gericht gefuumlhrtwerden koumlnnen Auch in Grg 459d1ff gehoumlren sie zur rhetorischenKunst die kein Wissen daruumlber erwerben kann In Plt 296c5-7 erfahrenwir dass ein Irrtum im Rahmen der politischen Kunst das Schaumlndlichedas Schlechte und das Ungerechte verursacht Was der Rhetor verfehltweiszlig der Staatsmann Der goumlttliche Teil der menschlichen Seele mag einewahre Meinung uumlber Schoumlnes Gutes und Gerechtes stiften (Plt 309c5-8)

Indem die Seele fuumlr alle moumlglichen koumlrperlichen Veraumlnderungen ver-antwortlich gemacht wird gelangen wir in unserem Zusammenhang zuder Seele als der primaumlren Ursache auch des Schlechten und nichtaufgrund der Frage woher das Schlechte komme Der Athener machtnirgends explizit dass er die Seele als die einzige Ursache des Schlechtensei Bedenken sollte daher gegen Englands Beobachtung geaumluszligert wer-den in 896d5 werde die Frage nach dem Uumlbel eingefuumlhrt und insbe-

50 Lg 894c6f raquoκαλουμένην δὲ ὄντως τῶν ὄντων πάντων μεταβολὴν καὶκίνησινlaquo

20 Georgia Mouroutsou

sondere gegen seine Folgerung lsquoHaving identified ψυχή with the αἰτίαἀγαθοῦ τε καὶ κακοῦ he is bound to talk of the αἰτία κακοῦ as ψυχήrsquo51

Auf das seelische Uumlbel konzentriert sich hier der Athener Verabsolutie-rende Konklusionen uumlber das Uumlbel schlechthin sind daher der Ge-spraumlchssituation nicht zu entnehmen Jedenfalls waumlre der bestimmte Ar-tikel noumltig vor αἰτίαν (sowohl in 896d6 als auch in d8)

Der Athener zielt darauf die Natur der Seele als die Ursache von allenGegensaumltzen auszulotten und fuumlhrt dann das Feld der menschlichenEthik ein ohne seinen Uumlbergang oder eher seine Einschraumlnkung zu er-klaumlren52 Die konkrete politische Situation in den Gesetzen bietet eineplausible Erklaumlrung fuumlr diesen Uumlbergang von der Seele qua Seele zurmenschlichen Seele Die Buumlrger von Magnesia sollten ihre Machtwahrnehmen sowohl zum Guten als auch zum Schlechten beizutragenAuszligerdem sollten sie die Verantwortung ihrer politischen Taumltigkeit ineinem kosmischen All uumlbernehmen das von einer guten Seele verwaltetwird Die primaumlre Ursache der Bewegung ist die Seele Beinahe waumlre dieSeele als Selbst-Bewegung ie ihre absolute Spontaneitaumlt als Bedingungihrer moralischen Verantwortung zum ersten Mal in der Geschichte derPhilosophie vorgekommen haumltte Platon diese Verbindung ausbuch-stabiert53

Eine Art Anthropozentrismus kommt in den spaumlteren platonischenSchriften vor Die Entscheidung ob wir dieses Konzept einer philoso-

51 Platorsquos Laws S 474 Auf aumlhnliche Weise auch Carone Evil and Teleology S295 Anm41

52 Mayhew argumentiert seinerseits dass es nicht darum gehe dass die Seeledie Ursache aller Dinge und daher sowohl schlechter wie guter Dinge sei DerInterpret meint die Seele sei fruumlher als der Koumlrper und in dieser Weise das Seeli-sche ndash einschlieszliglich der Moral ndash entsprechend fruumlher als das Koumlrperliche (PlatoLaws X S 131) Dennoch liegt die Pointe meines Erachtens nicht darin eineneingegrenzten Bereich ndash den der Ethik ndash anzusprechen sondern das Wesen derSeele als Ursache aller Gegensaumltze auszubuchstabieren was wiederum nichtheiszligt man sollte den Bereich der Moral voumlllig leugnen wie es Raphael Demostut lsquo[hellip] the soul is non-moral apt for both good and evil and so far forth inde-terminatersquo (Demosrsquo Hervorhebung Platorsquos Doctrine of the Psyche as a Self-Moving Motion In Journal of History of Philosophy (1968) S 133-145 HierS136)

53 Vgl Horn Christoph Der Begriff der Selbstbewegung bei Alkmaion undPlaton In Rechenauer Georg (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen2005 S 152-173 bes S 168ff und Baumgarten Hans-Ulrich Handlungstheoriebei Platon Platon auf dem Weg zum Willen Stuttgart 1998 S 241-264

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 21

phischen Kritik unterziehen sollten oden nicht mag hier dahingestelltbleiben Mit dem sbquoAnthropozentrismuslsquo bei Platon meine ich dass dasErschaffen des Weltalls auf der Basis einer Teleologie geschieht die aufden Menschen und seinen Beduumlrfnissen zentriert ist Man mag denTimaios heranziehen Der Anthropozentrismus scheint sich durch denganzen Monolog durchzusetzen in dem Timaios auf das Schaffen desMannes fokussiert ist Gemaumlszlig der Lehre der Wiedergeburt sind Frauenund Tiere schlechtere Formen von Lebewesen Es gibt zwei Passagendie als besonders anthropozentrisch gepraumlgt vorkommen Zum erstensind die Pflanzen um der Ernaumlhrung der sterblichen Lebewesen willengeschaffen worden (77e7-b1) Zum zweiten schafft der Demiurg dieuumlber das ganze All scheinende Sonne damit die dementsprechend aus-geruumlsteten Lebewesen an der Zahl teilnehmen nachdem sie von derBeobachtung der kosmischen Bewegung viel gelernt haben (39b2-c1)Um der Menschen und der Kultivierung der Philosophie willen schafftGott die Sonne und ermoumlglicht die Wahrnehmung der Sicht Dank desStudiums der himmlischen Bewegungen koumlnnen wir nach der Natur derZeit und des Alls fragen Auf diese Weise duumlrfen wir hoffen unsere ge-stoumlrte Bewegung der Vernunft der ungestoumlrten Bahn der kosmischenVernunft zu assimilieren (46e-47c 90c-d)

Wir haben die Kritik an der Einschraumlnkung im moralischen Bereichwiderlegt indem wir unseren unmittelbaren sowie weiteren Kontextberuumlcksichtigten Wegen des Fokuses auf den menschlichen Bereich unddie menschliche Seele geht die allgemeine Frage der Seele qua Seele nichtverloren Der Hintergrund der jetzigen Diskussion bleibt dieseallgemeine Fragestellung obgleich die menschliche Seele diejenige istdie sich gemaumlszlig der Vernunft oder gegen die Vernunft verhaumllt (897b1-5)Wir sollten die Unterscheidung zwischen weiteren kosmischen undmenschlichen Dimensionen bewahren wenn auch der spaumlte Platon denkosmischen Zusammenhang auf eine anthropozentrische oder sogar an-thropomorphische Weise beschreibt54 Es waumlre weder gerechtfertigtnoch legitim dass die Untersuchung uumlber die menschliche Seelediejenige uumlber die Seele qua Seele dominieren oder ausschoumlpfen wuumlrde

54 Zur Zentrierung des kosmischen Alls auf dem menschlichen Leben bei spauml-tem Platon s Carone Evil and Teleology S 296

22 Georgia Mouroutsou

v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6

Von der allgemeinen Seelenlehre und der Seele qua Seele die bis dahindas Untersuchungsobjekt bildete gelangt der Athener jetzt zu einer be-sonderen Seele zur Weltseele Der Blickwechsel den der Athener imBereich seiner Betrachtung vollzieht sollte im Rahmen der platonischenSpaumltdialoge in denen Ontologie und Seelenlehre haumlufig in Kosmologiemuumlnden kein Erstaunen hervorrufen Als zwei Beispiele dafuumlr koumlnnender kosmologische Exkurs im Philebos (s oben Abschnitt I) und derUumlbergang von ψυχὴ πᾶσα (alles was Seele ist) zur Weltseele im Phaidros(245c5-246a2) gelten Was uumlber die Seele qua Seele gesagt wurde sollteauch im Fall der Weltseele Guumlltigkeit haben

raquoUnd weil die Seele in allem waltet und wohnt was sich auf ir-gendeine Weise bewegt muumlssen wir etwa nicht sagen dass sie auch denHimmel durchwaltelaquo55

Auf seine nur scheinbar unvermittelte und ploumltzliche Frage56 antwor-tet der Athener selbst

raquoEine oder mehrere Seelen Mehrere Ich werde fuumlr Euch antwortendass wir nicht weniger als zwei ansetzen sollten naumlmlich diejenige diedas Gute vervollkommnet und diejenige die faumlhig ist Entgegengesetztesdurchzufuumlhrenlaquo57

Dass der Athener im Namen seiner Gespraumlchspartner antwortet be-trachte ich als kein ausschlaggebendes Argument gegen die Realitaumlt einersbquoschlechten Weltseelersquo58 weil er sich noch auf die Seele qua Seele bezieht

55 Lg 896d10-e2 raquoΨυχὴν δὴ διοικοῦσαν καὶ ἐνοικοῦσαν ἐν ἅπασιν τοῖς πάντῃκινουμένοις μῶν οὐ καὶ τὸν οὐρανὸν ἀνάγκη διοικεῖν φάναιlaquo

56 Wilamowitz charakterisiert diese Frage zu Unrecht als sbquohereingeschneitlsquo(Platon II S 316) wogegen sich Kerschensteiner einsetzt (Platon und der Ori-ent S 73)

57 Lg 896e4-6 raquoΜίαν ἢ πλείους πλείους ἐγὼ ὑπέρ σφῷν ἀποκρινούμαι Δυοῖνμέν γέ που ἔλαττον μηδὲν τιθῶμεν τῆς τε εὐεργέτιδος καὶ τῆς τἀναντία δυναμένηςἐξεργάζεσθαιlaquo

58 Vgl Apelt Platons Gesetze S 539 Anm 48

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 23

Ist die Seele die das All verwaltet eine oder mehrere Haumltte Platon indi-viduelle Seelen ohne Bezug auf einen generellen Terminus sbquoSeelelsquo auf-zaumlhlen wollen haumltte er von mehr als zwei Seelen gesprochen Die Frageist sehr oft als Frage nach zwei Weltseelen verstanden worden Koumlnnteder Athener nicht die allgemeine Lehre der Seele qua Seele verlassen umsich auf die zwei partikulaumlren Weltseelen zu beziehen Dies haumltte derFall sein koumlnnen wenn die Weltseele mit Realitaumlt ausgestattet waumlre wassich aber nicht so verhaumllt Die oben genannte Frage kann nur die Seelequa Seele betreffen

Obgleich er haumlufig uumlberhoumlrt wird sollte der oben angewendete Dual beruumlcksichtigt werden weil er gegen ein Verstaumlndnis von zwei von-einander getrennten entgegengesetzten Seelen plaumldiert59 Auszliger demDual in 896e5 uumlberhoumlrt die Mehrheit der Interpreten hier noch etwasEntscheidendes Die der wohltaumltigen Seele entgegensetzte ist nicht eineeinfachhin und ohne Weiteres sbquoschlechte Seelersquo60 sondern die Seele raquodieimstande ist das Gegenteil zu bewirkenlaquo Genau in diesem Punkt uumlber-schneiden sich die allgemeine Seelenlehre nach der die Seele qua SeeleSelbstbewegung ist und als solche gut oder schlecht sein kann und diespezielle Lehre uumlber die kosmische Seele die ebenfalls qua Seele in derLage ist gut oder schlecht zu sein Deswegen sollten wir die Rede vonδύναμις in unserer Uumlbersetzung von sbquoτἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαιlsquo(Lg 896e6)61 nicht vernachlaumlssigen Die sbquoschlechte Seelelsquo wird nicht alseine bloszlige Privation der guten Seele eingefuumlhrt sondern als mit ihrereigenen Macht (δύναμις) ausgestattet Schlechtes zu bewirken62 als einenegative und destruktive Macht63

Wir sind dabei weit enfernt δύνασθαι mit einer aristotelischen sbquoerstenMoumlglichkeitlsquo zu identifizieren um die Ausscheidung einer schlechten

59 raquoDie Sprache hat die Dualform geschaffen nicht etwa um den Begriff derZahl zwei sondern um den Begriff der Zweiheit der paarweisenZusammengehoumlrigkeit auszudruumlckenlaquo (Wilhelm von Humboldt Uumlber denDualis Berlin 1828 S 18) Erst nach Platon als das Sprachgefuumlhl fuumlr die eigent-liche Bedeutung der Sprachformen an Lebendigkeit nachlieszlig bedeutete der Dualnicht selten den bloszligen Begriff sbquozweilsquo wobei die wahre und urspruumlngliche Naturdes Duals sich darin zeigt dass er entweder auf paarweise in der Natur verbun-dene Gegenstaumlnde angewendet wird oder auf solche welche in einer engen undgegenseitigen Beziehung gedacht werden (vgl Kuumlhner Raphael und FriedrichBlass Ausfuumlhrliche Grammatik der griechischen Sprache Zweiter Teil Satz-lehre Erster Teil Darmstadt 31966 S 69

60 Er spricht nur spaumlter von einer sbquoschlechten Seelersquo (897d1 vgl 898c4f)

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Weltseele schon in den oberen Zeilen zu finden Nach dieser Lektuumlrewaumlre die zweite Art von Seele nur imstande Schlechtes durchzufuumlhrenaber wuumlrde nicht tatsaumlchlich so etwas tun Waumlre das der Fall warumsollte der Athener uumlberhaupt erst zwischen zwei Arten von Seele unter-scheiden In einem Kontext wo die Staumlrke die praktische Macht sowieEffizienz und Dominanz der Seele uumlberwiegen64 ist die Option einersbquoersten Moumlglichkeitlsquo keine gelungene Annahme65 Nur in dem Fall desgoumlttlichen Demiurgen koumlnnten wir eine solche sbquoerste Moumlglichkeitlsquo an-wenden die sich nie wirklich durchsetzen wird Trotz seiner Faumlhigkeites zu tun ist der Demiurg nicht bereit die guten Mischungen aufzuloumlsenund die kosmische Ordnung zugrunde zu richten Das Konzept einesDemiurgen der faumlhig ist beides zu tun sowohl Gutes als auch Schlech-tes ist fuumlr Platon undenkbar weil Gott wesentlich gut ist66 Zu-gegebenermaszligen waumlre es zu weitreichend all das in 896e5f hineinzule-sen und die zweite Art der Seele mit dem goumlttlichen Demiurgen zuidentifizieren

61 Der δύναμις-Aspekt geht verloren bei Plutarch der stattdessen von der gutwirkenden und der entgegengesetzten Seele spricht die das Gegenteil vollbringtDe Is Et Osir 370F4-6 raquoὧν τὴν μὲν ἀγαθουργόν εἶναι τὴν δrsquo ἐναντίαν ταύτῃ καὶτῶν ἐναντίων δημιουργόνlaquo Den wichtigen Bezug auf δύναμις verpassen Jowettlsquoone the author of good and the other of the evilrsquo (The Dialogues of Plato S466) sowie Grube Platorsquos Thought lsquoone that does good and one that does evilrsquo(Platorsquos Thought S 146)

Brisson spricht von der Neutralitaumlt der Seele die faumlhig ist gut oder schlecht zusein (Vernunft Natur und Gesetz im zehnten Buch von Platons Gesetzen InHavlicek Ales (Hrsg) The Republic and the Laws of Plato Proceedings of theFirst Symposium Plato Symposium Platonicum Pragense 1 (1997) S 182-200Hier S189) ohne diese Textstelle heranzuziehen

62 Das Verb ist sbquoἐξεργάζεσθαιlsquo das nicht nur das Schlechte bewirken sondern esauch vollenden heiszligt (vgl ἔργον sowohl in als auch in ἐξεργάζεσθαι)

63 Vgl Dillons allgemeine Folgerung uumlber das ontologische Problem desSchlechten bei Platon (Monist and Dualist Tendencies S 11) Der Fall einerschlechten Seele die nicht als Privation der guten Seele vorkommt sondern alsraquofaumlhig Schlechtes zu vollendenlaquo unterstuumltzt Dillons Konklusion dass diesbquoschlechte Seelelsquo eine negative zerstoumlrende Macht sei

64 Vgl die Charakterisierung der Seele in 894d1f 895b665 Dank der Beobachtung von David Sedley wurde es mir klar dass ich

unabsichtlich eine aristotelsiche sbquoerste Potenzialitaumltlsquo in einer fruumlheren Versionvorgeschlagen hatte

66 Vgl oben Fuszlignote 7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 25

Bevor wir zur allgemeinen platonischen Psychologie uumlbergehen er-waumlgen wir eine zweite moumlgliche Unterscheidung der Seele in 896e4-6Bis jetzt habe ich die Distinktion zwischen guter und schlechter Seele alsselbstverstaumlndlich betrachtet Eine vorsichtigere Lektuumlre ermoumlglicht einezweite Option naumlmlich die Unterscheidung zwischen derwohlwollenden Seele die immer das Gute vollendet und derjenigen diefaumlhig ist entgegengesetzte Dinge (Plural) durchzufuumlhren sowohl Gutesals auch Schlechtes (τῆς τἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαι) Die ersteSeele kann keine andere als die goumlttliche sein67 Fuumlr die zweite Seele istder einzige Kandidat die menschliche Seele Auszligerdem wuumlrde die Seeleder Tiere unter die Seele fallen die sowohl Gutes als auch Schlechtestun kann weil sie einen logischen Teil beinhaltet auch wenn deformiertDas Goumlttliche ist immer gut Die Pflanzen moumlgen gut sein insofern siein eine globale Teleologie integriert sind Sie wuumlrden aber nie als faumlhigcharakterisiert etwas Gutes oder noch weniger etwas Schlechtes zutun noch wuumlrden sie die Verantwortung fuumlr die herbeigefuumlhrten gutenoder schlechten Wirkungen tragen Wenn diese Lektuumlre als die einzigemoumlgliche aufgewiesen werden koumlnnte wuumlrden wir mit Sicherheit dieFrage nach der schlechten Seele auf spaumlter verschieben68

Wie es auch sein mag befinden wir uns noch im Rahmen derallgemeinen Lehre der Seele qua Seele als Selbstbewegung Die kosmi-sche Seele ist in 896e1f aufgetaucht aber die Unterscheidung zwischender guten und der schlechten Seele oder der goumlttlichen und men-schlichen Seele wird auf einer allgemeinen Ebene gezogen69 Obgleichder Athener nicht die theorethischen Anspruumlche des Sophistes erhebtsetzt er die allgemeine platonische Ontologie voraus dergemaumlszlig dasSeiende qua Seiendes δύναμις sei Das Kriterium fuumlr alles was Seiendesist sei es Intelligibles oder Koumlrperliches Koumlrper oder Seele ist das Ver-moumlgen zu tun oder zu leiden70 Die Erforschung der Seele als Seiendesverlangt daher die Frage nach ihrer Kraft und ihrem Vermoumlgen (Lg892a2f) Der Gast aus Athen bezieht sich stets auf die δύναμις-Ontolo-

67 Der Athener kann noch nicht die gute Seele als goumlttlich charakterisierenDas Argument hat noch nicht die Goumlttlichkeit der Seele bewiesen

68 Der kreative Charakter der Dialektik ermoumlglicht mehr als eine richtige Ein-teilung Zu diesem Aspekt s Plt 286d-e und Delcomminettes Monographie

69 Anders als Taylor der den Uumlbergang von 896e2 zu e4 durch die Praumlmisseder Aktualitaumlt des Guten und Schlechten in der gegenwaumlrtigen Welt verhilft (TheLaws S 289 Anm 1) sehe ich keinen Eintritt eines a posteriori Arguments adhoc Alles bisherige entnimmt der Athener der allgemeinen Seelenlehre

26 Georgia Mouroutsou

gie des Phaidros sowie des Sophistes Er stellt die Frage was die Seele istund was fuumlr ein Vermoumlgen sie hat οἷόν τε ὂν τυγχάνει καὶ δύναμιν ἣνἔχει71

Obwohl die Frage nach dem Tun (ποιεῖν) oder Leiden (πάσχειν) derSeele als δύναμις nicht explizit gestellt wird72 bringt ihre Definition alsSelbstbewegung ein gleichzeitiges Tun (als Bewegen) und Leiden (alsBewegtwerden) zum Ausdruck73 Die Seele ist die Kraft die sich selbstund anderes bewegt74 Die Definition der Seele als Selbstbewegung kannentweder als Aktivitaumlt oder Passivitaumlt ausgedruumlckt werden Die Seele be-wegt sich selbst und wird von sich selbst bewegt Ein gleichzeitiges Tunund Leiden das aber nicht das gleiche Seiende verursacht geschieht beikoumlrperlicher Bewegung Ein Koumlrper mag auf einen anderen Koumlrper wir-ken und zu gleicher Zeit kann er von einer Seele oder einem anderenKoumlrper bewegt werden aber nicht von sich selbst75

Platon gibt die Definition der Seele in ihrer Allgemeinheit d hunabhaumlngig von ihren moumlglichen Manifestationen in konkretenLebewesen Alles was Seele ist soll Selbstbewegung sein mag es sichum die Seele des Menschen oder des Tieres oder der Pflanze handelnWeil die individuellen Manifestationen der Seele nicht beruumlcksichtigtwerden fehlt bei der Formel der Definition τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴνκινεῖν κίνησιν (896a1f) auch der Bezug auf den Koumlrper den die jeweiligekonkrete Seele beseelt Im Falle der Absenz der Materie in einer Defini-

70 Der Vorschlag des Gastes aus Elea in Sph 247d-e wird nicht allgemein alsPlatons Vorschlag uumlber Ontologie gedeutet Sehr haumlufig beschraumlnken Exegetendas Seiende als δύναμις auf die ad loc Argumentation gegen die MaterialistenAuch wenn dieses Argument als Platons Argument charakterisiert wird bleibtes sehr umstritten ob es eine allgemeine Ontologie betrifft (Brown) oder in eineOntologie der Ideen einmuumlndet (Gerson Politis) Darauf gehe ich hier nicht ein

71 Lg 892a3 vgl Lg 894b8-c1 und 896a1f72 Der Athener bezieht sich auf Tun und Leiden nur in 894c5f und meint

wahrscheinlich sowohl Seelisches als auch Koumlrperliches mit dem die Seele har-monisiert

73 In Lg 894b8-c1 und 896a1f beantwortet der Athener seine Frage nach derArt des Vermoumlgens mit dem die Seele ausgestattet ist Der gesamteZusammenhang verbindet die Frage nach dem Wesen eines Seienden mit derFrage nach seinem Vermoumlgen

74 Lg 893c4f75 Gaiser fuumlhrt den Ausgleich zwischen Passivitaumlt und Aktivitaumlt in der selbst-

bewegenden Seele auf das Zusammenwirken der zwei platonischen Prinzipienzuruumlck (Platons Ungeschriebene Lehre S 195f)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 27

tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

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Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

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tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 31

welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

32 Georgia Mouroutsou

zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

34 Georgia Mouroutsou

Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

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raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

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werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

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Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

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abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

16 Georgia Mouroutsou

muumlssen was hier nicht ausdruumlcklich widerlegt wird Neuerdings hatFronterotta diese Auffassung vertreten40 wobei auch seine Deutung aufzwei unaufhebbaren Schwierigkeiten im Timaios stoumlszligt Zum ersten istdie Weltseele raumlumlich ausgedehnt Zum zweiten ist sie das Produkteiner Mischung was nicht nur Carones These widerlegt dass die Seelekoumlrperlich sei ndash da hat Fronterotta Recht ndash sondern auch gegen einen ab-soluten unuumlberbruumlckbaren Gegensatz zwischen einer rein rationalerSeele und dem Weltkoumlrper plaumldiert41

Auf dem ersten Blick scheint unser Kontext in den Gesetzen nicht aufexplizite Weise den weit verbreiteten Vorschlag eines Substanz-Dualis-mus abzuweisen Weil sich aber in diesem Zusammenhang sowohl dieseelische als auch die koumlrperliche Bewegung im Raum vollziehen (Lg893c1f) ist die Dimensionalitaumlt keinesfalls ausschlieszliglich dem Koumlrperzugeordnet was sich wiederum mit einem starren Dualismus nicht ver-traumlgt42

Jedenfalls ist ein gewisser Dualismus insofern nicht zu uumlbergehen alsdie seelische Bewegung die koumlrperliche nicht produzieren kann43 NachLg 896e8-897b4 sbquonehmenrsquo die seelischen als die primaumlren Bewegungendie sekundaumlren koumlrperlichen sbquoaufrsquo Das gleiche Verb (παραλαμβάνειν897a5) wendet auch der Timaios an Der Demiurg nimmt das auf unge-ordnete und fast verbrecherische Weise bewegte Wahrnehmbare sowiespaumlter im Dialog das was ἀνάγκη bewirkt (68e3) auf Die unterstehendenGottheiten nehmen ihrerseits den rationalen Teil der Seele auf um ihn mitdem sterblichen Teil im Koumlrper zu verknuumlpfen (Ti 69c5) Diesen ver-schiedenen Zusammenhaumlngen koumlnnen wir keine Umkehrung der Prio-ritaumlt der Seele gegenuumlber dem Koumlrper entnehmen Was sich mit einer anSicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ausschlieszligen laumlsst ist eine

39 S Burnyeat Myles Is An Aristotelian Philosophy of Mind Still CredibleA Draft In Nussbaum A M-Rorty (Hrsg) Essays on Aristotlersquos De AnimaOxford 1992 S 15-26 Hier S 16 Putnam Hilary The Threefold Cord MindBody and World New York 1999 S 97 Stephen Priest Theories of the MindLondon 1991 S 8-15 57 162)

40 Fronterotta Carone on the Mind-Body Problem41 Platon behandelt das Problem der Verbindung zwischen der Seele und dem

Koumlrper wie die Vermittlung durch das Mark beweist (Ti 73b-c) was wir abernicht als Beleg dafuumlr betrachten sollten dass Platon zum Vorlaumlufer von Descar-tes wird

42 Thomas Johansen begeht diesen Weg in seiner Timaios-Auslegung43 Vgl Mason Andrew Plato on the Self-Moving Soul In Philosophical

Inquiry 1998 S 18-28 Hier S 24 28

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 17

Herleitung des Koumlrperlichen aus dem Seelischen44 Diese Unterscheidungzwischen Koumlrper und Seele erlaubt es dem Dialektiker je nachZusammenhang die Seele qua Seele (so in der vorliegenden Passage der Ge-setze) und den Koumlrper qua Koumlrper (so im Timaios) zu betrachten ohne einereduktionistische Auslegung vorauszusetzen

Auf dieser Basis wird ein Reduktionismus des Koumlrpers auf die Seele aus-geschlossen Ausserdem unterstuumltzt der Wortlaut des Textes nicht das Ver-staumlndnis der ontologischen Prioritaumlt die Aristoteles in Metaph V11 an-spricht Es geht in unserem Kontext nicht darum was Aristoteles undAlexander als platonische Auffassung und akademisches Gut dar-stellen45 Als Kriterium der ontologischen Rangfolge wird dassbquoMitaufgehobenwerdenrsquo des Spaumlteren angegeben Demgemaumlszlig setzt dasontologisch Spaumltere das Fruumlhere voraus aber nicht umgekehrt Wenndas Fruumlhere aufgehoben wuumlrde wuumlrde auch das Spaumltere aufgehobenwas sich aber nicht umkehren laumlsst Soweit geht Platon bei der hiesigenBetrachtung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper jedoch nichtDie Rede von der sbquoAufnahmersquo der koumlrperlichen Bewegungen von denseelischen ist weniger mit einer ontologischen Prioritaumlt der Seele (wieoben dargelegt) als vielmehr mit einer Aufeinanderbezogenheit vonSeele und Koumlrper vertraumlglich

Um eine uumlber den Rahmen dieses Beitrags hinausgehende positive Louml-sung fuumlr Platons Leib-Seele-Dualismus zu entwickeln ist es noumltigeinige falsche Meinungen zu korrigieren wozu die obere Darlegung bei-traumlgt

iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Ar-gument

44 Pace England Edwin The Laws of Plato London 1921 Zweiter Band S476 der παραλαμβάνειν als lsquobring in their trainrsquo versteht In allen obenerwaumlhnten Zusammenhaumlngen ist klar dass das Aufgenommene nicht vomAufnehmenden geschaffen wird Die Uumlberlegenheit des letzteren bleibt davonunberuumlhrt

45 Vor allem in Arist Metaph V11 1019a2-4 vgl Alexander In AristotMetaph I 6 987b33 Gaiser Testimonium Platonicum 22B

18 Georgia Mouroutsou

Wir kehren zu unserem Text zuruumlck Da der Seele ontologische Prioritaumltgegenuumlber dem Koumlrper verliehen wird ist auch das der Seele Verwandteontologisch fruumlher als das was dem Koumlrper zugehoumlrt

raquoVerhaltensweisen aber und Gemuumltsarten Willensakte Schluss-folgerungen wahre Meinungen Fuumlrsorge und Erinnerungen duumlrftenfruumlher entstanden sein als koumlrperliche Laumlnge Breite Tiefe und Staumlrkewenn eben die Seele fruumlher als der Koumlrper entstanden sein solltelaquo46

Im Anschluss daran hilft uns der Athener nachzuvollziehen warumPlaton eben hier die sbquoschlechte Seelersquo einfuumlhrt Man muumlsse darin uumlberein-stimmen dass die Seele Ursache sowohl des Guten als auch des Boumlsendes Schoumlnen und des Schlechten des Gerechten und des Ungerechtenund aller Gegensaumltze sei

raquoIst es denn nicht noumltig darin uumlbereinzustimmen dass die Seele dieUrsache des Guten sowie des Schlechten des Schoumlnen sowie des Haumlszlig-lichen des Gerechten sowie des Ungerechten und uumlberhaupt allerGegensaumltze wenn wir sie als Ursache von allem setzenlaquo47

Diese Zeilen sind aumluszligerst wichtig weil hier und nicht erst in 896e4ffder Gegensatz von sbquogut und schlechtlsquo eingefuumlhrt wird Dem Argumentist vorgeworfen worden es sei schwach Unter den Kritikern verstehtStalley den Schluss auf folgende Weise lsquoSoul since it is the source ofeverything must be the source of valuesrsquo Er wundert sich dass Werteohne Begruumlndung und ohne Erklaumlrung ihrer Existenzweise eingefuumlhrtwerden48 Dementgegen werde ich eine wohlwollendere Annaumlherungvorschlagen Nach der Rekonstruktion des Arguments werde ich eineArt sbquoanthropozentrischer Wendelsquo in einen breiteren Kontext situieren

Wie er expliziert (896d8) zieht der Gast aus Athen diesen Schlussdaraus dass die Seele als Ursache von allem angesetzt worden ist Bevorwir diese Begruumlndung als einen Fehlschritt charakterisieren sollten wiruns zusammen mit Kleinias erinnern dass die sbquoSeelersquo die Veraumlnderungvon allem herbeifuumlhrt49 Mit Hilfe einer anderen Formulierung ist dieSeele raquodie Veraumlnderung und Bewegung von allem Seiendenlaquo50

46 Lg 896c9-d3 raquoΤρόποι δὲ καὶ ἤθη καὶ βουλήσεις καὶ λογισμοὶ καὶ δόξαιἀληθεῖς ἐπιμέλειαί τε καὶ μνῆμαι πρότερα μήκους σωμάτων καὶ πλάτους καὶβάθους καὶ ῥώμης εἴη γεγονότα ἄν εἰπερ καὶ ψυχὴ σώματοςlaquo

47 Lg 896d5-7 raquoἎρrsquo οὖν τὸ μετὰ τοῦτο ὁμολογεῖν ἀναγκαῖον τῶν τε ἀγαθῶναἰτίαν εἶναι ψυχὴν καὶ τῶν κακῶν καὶ καλῶν καὶ αἰσχρῶν δικαίων τε καὶ ἀδίκωνκαὶ πάντων τῶν ἐναντίων εἴπερ τῶν πάντων γε αὐτὴν θήσομεν αἰτίανlaquo

48 Stalley An Introduction S 172 49 Lg 892a6f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 19

Die Bewegung ist hier als Wechsel und Veraumlnderung (μεταβολή) in ih-ren weitesten Sinn zu verstehen seien sie im Raum in Bezug auf dieSubstanz die Qualitaumlt oder die Quantitaumlt Der Uumlbergang findet zwi-schen Gegensaumltzen statt Die ersten Paare von Gegensaumltzen die derAthener vor der Verallgemeinerung in 897d7 anspricht sind Ver-bindungen und Trennungen Wachstum und Schwund sowie Prozessedes Wedens und Vergehens (894b10f) Die Seele zeigt sich als dieUrsache von aller Art koumlrperlicher Veraumlnderung Wenn eine Seele einenWechsel von einem schlechten zu einem guten Zustand verursacht dannist diese Seele in sich selbst gut Wenn eine Seele einen schlechtenEinfluss auf einen Zustand uumlbt dann ist sie dafuumlr verantwortlich Es istbemerkenswert dass der Gegensatz zwischen sbquogutlsquo und sbquoschlechtlsquo nichtauf die Unterscheidung zwischen sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo oder diejenigezwischen sbquoseelischer Bewegunglsquo und sbquokoumlrperlicher Bewegunglsquo zu-ruumlckgefuumlhrt wird Der Koumlrper kann nicht als schlecht charakterisiertwerden weil nach dem spaumlten Platon der Koumlrper qua Koumlrper weder gutnoch schlecht in sich selbst ist

Wenn die Seele die Ursache von allem ist so der Athener dann musssie die Ursache von allen Gegensaumltzen sein einschlieszliglich des Bereichsder Ethik Die gleichen Gegensatzspaare von sbquogut und schlecht schoumlnund haumlszliglich sowie gerecht und ungerechtlsquo tauchen in Euthph 7c10ff alsder Zankapfel der menschlichen Debatten auf die vor Gericht gefuumlhrtwerden koumlnnen Auch in Grg 459d1ff gehoumlren sie zur rhetorischenKunst die kein Wissen daruumlber erwerben kann In Plt 296c5-7 erfahrenwir dass ein Irrtum im Rahmen der politischen Kunst das Schaumlndlichedas Schlechte und das Ungerechte verursacht Was der Rhetor verfehltweiszlig der Staatsmann Der goumlttliche Teil der menschlichen Seele mag einewahre Meinung uumlber Schoumlnes Gutes und Gerechtes stiften (Plt 309c5-8)

Indem die Seele fuumlr alle moumlglichen koumlrperlichen Veraumlnderungen ver-antwortlich gemacht wird gelangen wir in unserem Zusammenhang zuder Seele als der primaumlren Ursache auch des Schlechten und nichtaufgrund der Frage woher das Schlechte komme Der Athener machtnirgends explizit dass er die Seele als die einzige Ursache des Schlechtensei Bedenken sollte daher gegen Englands Beobachtung geaumluszligert wer-den in 896d5 werde die Frage nach dem Uumlbel eingefuumlhrt und insbe-

50 Lg 894c6f raquoκαλουμένην δὲ ὄντως τῶν ὄντων πάντων μεταβολὴν καὶκίνησινlaquo

20 Georgia Mouroutsou

sondere gegen seine Folgerung lsquoHaving identified ψυχή with the αἰτίαἀγαθοῦ τε καὶ κακοῦ he is bound to talk of the αἰτία κακοῦ as ψυχήrsquo51

Auf das seelische Uumlbel konzentriert sich hier der Athener Verabsolutie-rende Konklusionen uumlber das Uumlbel schlechthin sind daher der Ge-spraumlchssituation nicht zu entnehmen Jedenfalls waumlre der bestimmte Ar-tikel noumltig vor αἰτίαν (sowohl in 896d6 als auch in d8)

Der Athener zielt darauf die Natur der Seele als die Ursache von allenGegensaumltzen auszulotten und fuumlhrt dann das Feld der menschlichenEthik ein ohne seinen Uumlbergang oder eher seine Einschraumlnkung zu er-klaumlren52 Die konkrete politische Situation in den Gesetzen bietet eineplausible Erklaumlrung fuumlr diesen Uumlbergang von der Seele qua Seele zurmenschlichen Seele Die Buumlrger von Magnesia sollten ihre Machtwahrnehmen sowohl zum Guten als auch zum Schlechten beizutragenAuszligerdem sollten sie die Verantwortung ihrer politischen Taumltigkeit ineinem kosmischen All uumlbernehmen das von einer guten Seele verwaltetwird Die primaumlre Ursache der Bewegung ist die Seele Beinahe waumlre dieSeele als Selbst-Bewegung ie ihre absolute Spontaneitaumlt als Bedingungihrer moralischen Verantwortung zum ersten Mal in der Geschichte derPhilosophie vorgekommen haumltte Platon diese Verbindung ausbuch-stabiert53

Eine Art Anthropozentrismus kommt in den spaumlteren platonischenSchriften vor Die Entscheidung ob wir dieses Konzept einer philoso-

51 Platorsquos Laws S 474 Auf aumlhnliche Weise auch Carone Evil and Teleology S295 Anm41

52 Mayhew argumentiert seinerseits dass es nicht darum gehe dass die Seeledie Ursache aller Dinge und daher sowohl schlechter wie guter Dinge sei DerInterpret meint die Seele sei fruumlher als der Koumlrper und in dieser Weise das Seeli-sche ndash einschlieszliglich der Moral ndash entsprechend fruumlher als das Koumlrperliche (PlatoLaws X S 131) Dennoch liegt die Pointe meines Erachtens nicht darin eineneingegrenzten Bereich ndash den der Ethik ndash anzusprechen sondern das Wesen derSeele als Ursache aller Gegensaumltze auszubuchstabieren was wiederum nichtheiszligt man sollte den Bereich der Moral voumlllig leugnen wie es Raphael Demostut lsquo[hellip] the soul is non-moral apt for both good and evil and so far forth inde-terminatersquo (Demosrsquo Hervorhebung Platorsquos Doctrine of the Psyche as a Self-Moving Motion In Journal of History of Philosophy (1968) S 133-145 HierS136)

53 Vgl Horn Christoph Der Begriff der Selbstbewegung bei Alkmaion undPlaton In Rechenauer Georg (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen2005 S 152-173 bes S 168ff und Baumgarten Hans-Ulrich Handlungstheoriebei Platon Platon auf dem Weg zum Willen Stuttgart 1998 S 241-264

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 21

phischen Kritik unterziehen sollten oden nicht mag hier dahingestelltbleiben Mit dem sbquoAnthropozentrismuslsquo bei Platon meine ich dass dasErschaffen des Weltalls auf der Basis einer Teleologie geschieht die aufden Menschen und seinen Beduumlrfnissen zentriert ist Man mag denTimaios heranziehen Der Anthropozentrismus scheint sich durch denganzen Monolog durchzusetzen in dem Timaios auf das Schaffen desMannes fokussiert ist Gemaumlszlig der Lehre der Wiedergeburt sind Frauenund Tiere schlechtere Formen von Lebewesen Es gibt zwei Passagendie als besonders anthropozentrisch gepraumlgt vorkommen Zum erstensind die Pflanzen um der Ernaumlhrung der sterblichen Lebewesen willengeschaffen worden (77e7-b1) Zum zweiten schafft der Demiurg dieuumlber das ganze All scheinende Sonne damit die dementsprechend aus-geruumlsteten Lebewesen an der Zahl teilnehmen nachdem sie von derBeobachtung der kosmischen Bewegung viel gelernt haben (39b2-c1)Um der Menschen und der Kultivierung der Philosophie willen schafftGott die Sonne und ermoumlglicht die Wahrnehmung der Sicht Dank desStudiums der himmlischen Bewegungen koumlnnen wir nach der Natur derZeit und des Alls fragen Auf diese Weise duumlrfen wir hoffen unsere ge-stoumlrte Bewegung der Vernunft der ungestoumlrten Bahn der kosmischenVernunft zu assimilieren (46e-47c 90c-d)

Wir haben die Kritik an der Einschraumlnkung im moralischen Bereichwiderlegt indem wir unseren unmittelbaren sowie weiteren Kontextberuumlcksichtigten Wegen des Fokuses auf den menschlichen Bereich unddie menschliche Seele geht die allgemeine Frage der Seele qua Seele nichtverloren Der Hintergrund der jetzigen Diskussion bleibt dieseallgemeine Fragestellung obgleich die menschliche Seele diejenige istdie sich gemaumlszlig der Vernunft oder gegen die Vernunft verhaumllt (897b1-5)Wir sollten die Unterscheidung zwischen weiteren kosmischen undmenschlichen Dimensionen bewahren wenn auch der spaumlte Platon denkosmischen Zusammenhang auf eine anthropozentrische oder sogar an-thropomorphische Weise beschreibt54 Es waumlre weder gerechtfertigtnoch legitim dass die Untersuchung uumlber die menschliche Seelediejenige uumlber die Seele qua Seele dominieren oder ausschoumlpfen wuumlrde

54 Zur Zentrierung des kosmischen Alls auf dem menschlichen Leben bei spauml-tem Platon s Carone Evil and Teleology S 296

22 Georgia Mouroutsou

v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6

Von der allgemeinen Seelenlehre und der Seele qua Seele die bis dahindas Untersuchungsobjekt bildete gelangt der Athener jetzt zu einer be-sonderen Seele zur Weltseele Der Blickwechsel den der Athener imBereich seiner Betrachtung vollzieht sollte im Rahmen der platonischenSpaumltdialoge in denen Ontologie und Seelenlehre haumlufig in Kosmologiemuumlnden kein Erstaunen hervorrufen Als zwei Beispiele dafuumlr koumlnnender kosmologische Exkurs im Philebos (s oben Abschnitt I) und derUumlbergang von ψυχὴ πᾶσα (alles was Seele ist) zur Weltseele im Phaidros(245c5-246a2) gelten Was uumlber die Seele qua Seele gesagt wurde sollteauch im Fall der Weltseele Guumlltigkeit haben

raquoUnd weil die Seele in allem waltet und wohnt was sich auf ir-gendeine Weise bewegt muumlssen wir etwa nicht sagen dass sie auch denHimmel durchwaltelaquo55

Auf seine nur scheinbar unvermittelte und ploumltzliche Frage56 antwor-tet der Athener selbst

raquoEine oder mehrere Seelen Mehrere Ich werde fuumlr Euch antwortendass wir nicht weniger als zwei ansetzen sollten naumlmlich diejenige diedas Gute vervollkommnet und diejenige die faumlhig ist Entgegengesetztesdurchzufuumlhrenlaquo57

Dass der Athener im Namen seiner Gespraumlchspartner antwortet be-trachte ich als kein ausschlaggebendes Argument gegen die Realitaumlt einersbquoschlechten Weltseelersquo58 weil er sich noch auf die Seele qua Seele bezieht

55 Lg 896d10-e2 raquoΨυχὴν δὴ διοικοῦσαν καὶ ἐνοικοῦσαν ἐν ἅπασιν τοῖς πάντῃκινουμένοις μῶν οὐ καὶ τὸν οὐρανὸν ἀνάγκη διοικεῖν φάναιlaquo

56 Wilamowitz charakterisiert diese Frage zu Unrecht als sbquohereingeschneitlsquo(Platon II S 316) wogegen sich Kerschensteiner einsetzt (Platon und der Ori-ent S 73)

57 Lg 896e4-6 raquoΜίαν ἢ πλείους πλείους ἐγὼ ὑπέρ σφῷν ἀποκρινούμαι Δυοῖνμέν γέ που ἔλαττον μηδὲν τιθῶμεν τῆς τε εὐεργέτιδος καὶ τῆς τἀναντία δυναμένηςἐξεργάζεσθαιlaquo

58 Vgl Apelt Platons Gesetze S 539 Anm 48

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 23

Ist die Seele die das All verwaltet eine oder mehrere Haumltte Platon indi-viduelle Seelen ohne Bezug auf einen generellen Terminus sbquoSeelelsquo auf-zaumlhlen wollen haumltte er von mehr als zwei Seelen gesprochen Die Frageist sehr oft als Frage nach zwei Weltseelen verstanden worden Koumlnnteder Athener nicht die allgemeine Lehre der Seele qua Seele verlassen umsich auf die zwei partikulaumlren Weltseelen zu beziehen Dies haumltte derFall sein koumlnnen wenn die Weltseele mit Realitaumlt ausgestattet waumlre wassich aber nicht so verhaumllt Die oben genannte Frage kann nur die Seelequa Seele betreffen

Obgleich er haumlufig uumlberhoumlrt wird sollte der oben angewendete Dual beruumlcksichtigt werden weil er gegen ein Verstaumlndnis von zwei von-einander getrennten entgegengesetzten Seelen plaumldiert59 Auszliger demDual in 896e5 uumlberhoumlrt die Mehrheit der Interpreten hier noch etwasEntscheidendes Die der wohltaumltigen Seele entgegensetzte ist nicht eineeinfachhin und ohne Weiteres sbquoschlechte Seelersquo60 sondern die Seele raquodieimstande ist das Gegenteil zu bewirkenlaquo Genau in diesem Punkt uumlber-schneiden sich die allgemeine Seelenlehre nach der die Seele qua SeeleSelbstbewegung ist und als solche gut oder schlecht sein kann und diespezielle Lehre uumlber die kosmische Seele die ebenfalls qua Seele in derLage ist gut oder schlecht zu sein Deswegen sollten wir die Rede vonδύναμις in unserer Uumlbersetzung von sbquoτἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαιlsquo(Lg 896e6)61 nicht vernachlaumlssigen Die sbquoschlechte Seelelsquo wird nicht alseine bloszlige Privation der guten Seele eingefuumlhrt sondern als mit ihrereigenen Macht (δύναμις) ausgestattet Schlechtes zu bewirken62 als einenegative und destruktive Macht63

Wir sind dabei weit enfernt δύνασθαι mit einer aristotelischen sbquoerstenMoumlglichkeitlsquo zu identifizieren um die Ausscheidung einer schlechten

59 raquoDie Sprache hat die Dualform geschaffen nicht etwa um den Begriff derZahl zwei sondern um den Begriff der Zweiheit der paarweisenZusammengehoumlrigkeit auszudruumlckenlaquo (Wilhelm von Humboldt Uumlber denDualis Berlin 1828 S 18) Erst nach Platon als das Sprachgefuumlhl fuumlr die eigent-liche Bedeutung der Sprachformen an Lebendigkeit nachlieszlig bedeutete der Dualnicht selten den bloszligen Begriff sbquozweilsquo wobei die wahre und urspruumlngliche Naturdes Duals sich darin zeigt dass er entweder auf paarweise in der Natur verbun-dene Gegenstaumlnde angewendet wird oder auf solche welche in einer engen undgegenseitigen Beziehung gedacht werden (vgl Kuumlhner Raphael und FriedrichBlass Ausfuumlhrliche Grammatik der griechischen Sprache Zweiter Teil Satz-lehre Erster Teil Darmstadt 31966 S 69

60 Er spricht nur spaumlter von einer sbquoschlechten Seelersquo (897d1 vgl 898c4f)

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Weltseele schon in den oberen Zeilen zu finden Nach dieser Lektuumlrewaumlre die zweite Art von Seele nur imstande Schlechtes durchzufuumlhrenaber wuumlrde nicht tatsaumlchlich so etwas tun Waumlre das der Fall warumsollte der Athener uumlberhaupt erst zwischen zwei Arten von Seele unter-scheiden In einem Kontext wo die Staumlrke die praktische Macht sowieEffizienz und Dominanz der Seele uumlberwiegen64 ist die Option einersbquoersten Moumlglichkeitlsquo keine gelungene Annahme65 Nur in dem Fall desgoumlttlichen Demiurgen koumlnnten wir eine solche sbquoerste Moumlglichkeitlsquo an-wenden die sich nie wirklich durchsetzen wird Trotz seiner Faumlhigkeites zu tun ist der Demiurg nicht bereit die guten Mischungen aufzuloumlsenund die kosmische Ordnung zugrunde zu richten Das Konzept einesDemiurgen der faumlhig ist beides zu tun sowohl Gutes als auch Schlech-tes ist fuumlr Platon undenkbar weil Gott wesentlich gut ist66 Zu-gegebenermaszligen waumlre es zu weitreichend all das in 896e5f hineinzule-sen und die zweite Art der Seele mit dem goumlttlichen Demiurgen zuidentifizieren

61 Der δύναμις-Aspekt geht verloren bei Plutarch der stattdessen von der gutwirkenden und der entgegengesetzten Seele spricht die das Gegenteil vollbringtDe Is Et Osir 370F4-6 raquoὧν τὴν μὲν ἀγαθουργόν εἶναι τὴν δrsquo ἐναντίαν ταύτῃ καὶτῶν ἐναντίων δημιουργόνlaquo Den wichtigen Bezug auf δύναμις verpassen Jowettlsquoone the author of good and the other of the evilrsquo (The Dialogues of Plato S466) sowie Grube Platorsquos Thought lsquoone that does good and one that does evilrsquo(Platorsquos Thought S 146)

Brisson spricht von der Neutralitaumlt der Seele die faumlhig ist gut oder schlecht zusein (Vernunft Natur und Gesetz im zehnten Buch von Platons Gesetzen InHavlicek Ales (Hrsg) The Republic and the Laws of Plato Proceedings of theFirst Symposium Plato Symposium Platonicum Pragense 1 (1997) S 182-200Hier S189) ohne diese Textstelle heranzuziehen

62 Das Verb ist sbquoἐξεργάζεσθαιlsquo das nicht nur das Schlechte bewirken sondern esauch vollenden heiszligt (vgl ἔργον sowohl in als auch in ἐξεργάζεσθαι)

63 Vgl Dillons allgemeine Folgerung uumlber das ontologische Problem desSchlechten bei Platon (Monist and Dualist Tendencies S 11) Der Fall einerschlechten Seele die nicht als Privation der guten Seele vorkommt sondern alsraquofaumlhig Schlechtes zu vollendenlaquo unterstuumltzt Dillons Konklusion dass diesbquoschlechte Seelelsquo eine negative zerstoumlrende Macht sei

64 Vgl die Charakterisierung der Seele in 894d1f 895b665 Dank der Beobachtung von David Sedley wurde es mir klar dass ich

unabsichtlich eine aristotelsiche sbquoerste Potenzialitaumltlsquo in einer fruumlheren Versionvorgeschlagen hatte

66 Vgl oben Fuszlignote 7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 25

Bevor wir zur allgemeinen platonischen Psychologie uumlbergehen er-waumlgen wir eine zweite moumlgliche Unterscheidung der Seele in 896e4-6Bis jetzt habe ich die Distinktion zwischen guter und schlechter Seele alsselbstverstaumlndlich betrachtet Eine vorsichtigere Lektuumlre ermoumlglicht einezweite Option naumlmlich die Unterscheidung zwischen derwohlwollenden Seele die immer das Gute vollendet und derjenigen diefaumlhig ist entgegengesetzte Dinge (Plural) durchzufuumlhren sowohl Gutesals auch Schlechtes (τῆς τἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαι) Die ersteSeele kann keine andere als die goumlttliche sein67 Fuumlr die zweite Seele istder einzige Kandidat die menschliche Seele Auszligerdem wuumlrde die Seeleder Tiere unter die Seele fallen die sowohl Gutes als auch Schlechtestun kann weil sie einen logischen Teil beinhaltet auch wenn deformiertDas Goumlttliche ist immer gut Die Pflanzen moumlgen gut sein insofern siein eine globale Teleologie integriert sind Sie wuumlrden aber nie als faumlhigcharakterisiert etwas Gutes oder noch weniger etwas Schlechtes zutun noch wuumlrden sie die Verantwortung fuumlr die herbeigefuumlhrten gutenoder schlechten Wirkungen tragen Wenn diese Lektuumlre als die einzigemoumlgliche aufgewiesen werden koumlnnte wuumlrden wir mit Sicherheit dieFrage nach der schlechten Seele auf spaumlter verschieben68

Wie es auch sein mag befinden wir uns noch im Rahmen derallgemeinen Lehre der Seele qua Seele als Selbstbewegung Die kosmi-sche Seele ist in 896e1f aufgetaucht aber die Unterscheidung zwischender guten und der schlechten Seele oder der goumlttlichen und men-schlichen Seele wird auf einer allgemeinen Ebene gezogen69 Obgleichder Athener nicht die theorethischen Anspruumlche des Sophistes erhebtsetzt er die allgemeine platonische Ontologie voraus dergemaumlszlig dasSeiende qua Seiendes δύναμις sei Das Kriterium fuumlr alles was Seiendesist sei es Intelligibles oder Koumlrperliches Koumlrper oder Seele ist das Ver-moumlgen zu tun oder zu leiden70 Die Erforschung der Seele als Seiendesverlangt daher die Frage nach ihrer Kraft und ihrem Vermoumlgen (Lg892a2f) Der Gast aus Athen bezieht sich stets auf die δύναμις-Ontolo-

67 Der Athener kann noch nicht die gute Seele als goumlttlich charakterisierenDas Argument hat noch nicht die Goumlttlichkeit der Seele bewiesen

68 Der kreative Charakter der Dialektik ermoumlglicht mehr als eine richtige Ein-teilung Zu diesem Aspekt s Plt 286d-e und Delcomminettes Monographie

69 Anders als Taylor der den Uumlbergang von 896e2 zu e4 durch die Praumlmisseder Aktualitaumlt des Guten und Schlechten in der gegenwaumlrtigen Welt verhilft (TheLaws S 289 Anm 1) sehe ich keinen Eintritt eines a posteriori Arguments adhoc Alles bisherige entnimmt der Athener der allgemeinen Seelenlehre

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gie des Phaidros sowie des Sophistes Er stellt die Frage was die Seele istund was fuumlr ein Vermoumlgen sie hat οἷόν τε ὂν τυγχάνει καὶ δύναμιν ἣνἔχει71

Obwohl die Frage nach dem Tun (ποιεῖν) oder Leiden (πάσχειν) derSeele als δύναμις nicht explizit gestellt wird72 bringt ihre Definition alsSelbstbewegung ein gleichzeitiges Tun (als Bewegen) und Leiden (alsBewegtwerden) zum Ausdruck73 Die Seele ist die Kraft die sich selbstund anderes bewegt74 Die Definition der Seele als Selbstbewegung kannentweder als Aktivitaumlt oder Passivitaumlt ausgedruumlckt werden Die Seele be-wegt sich selbst und wird von sich selbst bewegt Ein gleichzeitiges Tunund Leiden das aber nicht das gleiche Seiende verursacht geschieht beikoumlrperlicher Bewegung Ein Koumlrper mag auf einen anderen Koumlrper wir-ken und zu gleicher Zeit kann er von einer Seele oder einem anderenKoumlrper bewegt werden aber nicht von sich selbst75

Platon gibt die Definition der Seele in ihrer Allgemeinheit d hunabhaumlngig von ihren moumlglichen Manifestationen in konkretenLebewesen Alles was Seele ist soll Selbstbewegung sein mag es sichum die Seele des Menschen oder des Tieres oder der Pflanze handelnWeil die individuellen Manifestationen der Seele nicht beruumlcksichtigtwerden fehlt bei der Formel der Definition τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴνκινεῖν κίνησιν (896a1f) auch der Bezug auf den Koumlrper den die jeweiligekonkrete Seele beseelt Im Falle der Absenz der Materie in einer Defini-

70 Der Vorschlag des Gastes aus Elea in Sph 247d-e wird nicht allgemein alsPlatons Vorschlag uumlber Ontologie gedeutet Sehr haumlufig beschraumlnken Exegetendas Seiende als δύναμις auf die ad loc Argumentation gegen die MaterialistenAuch wenn dieses Argument als Platons Argument charakterisiert wird bleibtes sehr umstritten ob es eine allgemeine Ontologie betrifft (Brown) oder in eineOntologie der Ideen einmuumlndet (Gerson Politis) Darauf gehe ich hier nicht ein

71 Lg 892a3 vgl Lg 894b8-c1 und 896a1f72 Der Athener bezieht sich auf Tun und Leiden nur in 894c5f und meint

wahrscheinlich sowohl Seelisches als auch Koumlrperliches mit dem die Seele har-monisiert

73 In Lg 894b8-c1 und 896a1f beantwortet der Athener seine Frage nach derArt des Vermoumlgens mit dem die Seele ausgestattet ist Der gesamteZusammenhang verbindet die Frage nach dem Wesen eines Seienden mit derFrage nach seinem Vermoumlgen

74 Lg 893c4f75 Gaiser fuumlhrt den Ausgleich zwischen Passivitaumlt und Aktivitaumlt in der selbst-

bewegenden Seele auf das Zusammenwirken der zwei platonischen Prinzipienzuruumlck (Platons Ungeschriebene Lehre S 195f)

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tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

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Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

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tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

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welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

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zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

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Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

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werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

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abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 17

Herleitung des Koumlrperlichen aus dem Seelischen44 Diese Unterscheidungzwischen Koumlrper und Seele erlaubt es dem Dialektiker je nachZusammenhang die Seele qua Seele (so in der vorliegenden Passage der Ge-setze) und den Koumlrper qua Koumlrper (so im Timaios) zu betrachten ohne einereduktionistische Auslegung vorauszusetzen

Auf dieser Basis wird ein Reduktionismus des Koumlrpers auf die Seele aus-geschlossen Ausserdem unterstuumltzt der Wortlaut des Textes nicht das Ver-staumlndnis der ontologischen Prioritaumlt die Aristoteles in Metaph V11 an-spricht Es geht in unserem Kontext nicht darum was Aristoteles undAlexander als platonische Auffassung und akademisches Gut dar-stellen45 Als Kriterium der ontologischen Rangfolge wird dassbquoMitaufgehobenwerdenrsquo des Spaumlteren angegeben Demgemaumlszlig setzt dasontologisch Spaumltere das Fruumlhere voraus aber nicht umgekehrt Wenndas Fruumlhere aufgehoben wuumlrde wuumlrde auch das Spaumltere aufgehobenwas sich aber nicht umkehren laumlsst Soweit geht Platon bei der hiesigenBetrachtung der Beziehung zwischen Seele und Koumlrper jedoch nichtDie Rede von der sbquoAufnahmersquo der koumlrperlichen Bewegungen von denseelischen ist weniger mit einer ontologischen Prioritaumlt der Seele (wieoben dargelegt) als vielmehr mit einer Aufeinanderbezogenheit vonSeele und Koumlrper vertraumlglich

Um eine uumlber den Rahmen dieses Beitrags hinausgehende positive Louml-sung fuumlr Platons Leib-Seele-Dualismus zu entwickeln ist es noumltigeinige falsche Meinungen zu korrigieren wozu die obere Darlegung bei-traumlgt

iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Ar-gument

44 Pace England Edwin The Laws of Plato London 1921 Zweiter Band S476 der παραλαμβάνειν als lsquobring in their trainrsquo versteht In allen obenerwaumlhnten Zusammenhaumlngen ist klar dass das Aufgenommene nicht vomAufnehmenden geschaffen wird Die Uumlberlegenheit des letzteren bleibt davonunberuumlhrt

45 Vor allem in Arist Metaph V11 1019a2-4 vgl Alexander In AristotMetaph I 6 987b33 Gaiser Testimonium Platonicum 22B

18 Georgia Mouroutsou

Wir kehren zu unserem Text zuruumlck Da der Seele ontologische Prioritaumltgegenuumlber dem Koumlrper verliehen wird ist auch das der Seele Verwandteontologisch fruumlher als das was dem Koumlrper zugehoumlrt

raquoVerhaltensweisen aber und Gemuumltsarten Willensakte Schluss-folgerungen wahre Meinungen Fuumlrsorge und Erinnerungen duumlrftenfruumlher entstanden sein als koumlrperliche Laumlnge Breite Tiefe und Staumlrkewenn eben die Seele fruumlher als der Koumlrper entstanden sein solltelaquo46

Im Anschluss daran hilft uns der Athener nachzuvollziehen warumPlaton eben hier die sbquoschlechte Seelersquo einfuumlhrt Man muumlsse darin uumlberein-stimmen dass die Seele Ursache sowohl des Guten als auch des Boumlsendes Schoumlnen und des Schlechten des Gerechten und des Ungerechtenund aller Gegensaumltze sei

raquoIst es denn nicht noumltig darin uumlbereinzustimmen dass die Seele dieUrsache des Guten sowie des Schlechten des Schoumlnen sowie des Haumlszlig-lichen des Gerechten sowie des Ungerechten und uumlberhaupt allerGegensaumltze wenn wir sie als Ursache von allem setzenlaquo47

Diese Zeilen sind aumluszligerst wichtig weil hier und nicht erst in 896e4ffder Gegensatz von sbquogut und schlechtlsquo eingefuumlhrt wird Dem Argumentist vorgeworfen worden es sei schwach Unter den Kritikern verstehtStalley den Schluss auf folgende Weise lsquoSoul since it is the source ofeverything must be the source of valuesrsquo Er wundert sich dass Werteohne Begruumlndung und ohne Erklaumlrung ihrer Existenzweise eingefuumlhrtwerden48 Dementgegen werde ich eine wohlwollendere Annaumlherungvorschlagen Nach der Rekonstruktion des Arguments werde ich eineArt sbquoanthropozentrischer Wendelsquo in einen breiteren Kontext situieren

Wie er expliziert (896d8) zieht der Gast aus Athen diesen Schlussdaraus dass die Seele als Ursache von allem angesetzt worden ist Bevorwir diese Begruumlndung als einen Fehlschritt charakterisieren sollten wiruns zusammen mit Kleinias erinnern dass die sbquoSeelersquo die Veraumlnderungvon allem herbeifuumlhrt49 Mit Hilfe einer anderen Formulierung ist dieSeele raquodie Veraumlnderung und Bewegung von allem Seiendenlaquo50

46 Lg 896c9-d3 raquoΤρόποι δὲ καὶ ἤθη καὶ βουλήσεις καὶ λογισμοὶ καὶ δόξαιἀληθεῖς ἐπιμέλειαί τε καὶ μνῆμαι πρότερα μήκους σωμάτων καὶ πλάτους καὶβάθους καὶ ῥώμης εἴη γεγονότα ἄν εἰπερ καὶ ψυχὴ σώματοςlaquo

47 Lg 896d5-7 raquoἎρrsquo οὖν τὸ μετὰ τοῦτο ὁμολογεῖν ἀναγκαῖον τῶν τε ἀγαθῶναἰτίαν εἶναι ψυχὴν καὶ τῶν κακῶν καὶ καλῶν καὶ αἰσχρῶν δικαίων τε καὶ ἀδίκωνκαὶ πάντων τῶν ἐναντίων εἴπερ τῶν πάντων γε αὐτὴν θήσομεν αἰτίανlaquo

48 Stalley An Introduction S 172 49 Lg 892a6f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 19

Die Bewegung ist hier als Wechsel und Veraumlnderung (μεταβολή) in ih-ren weitesten Sinn zu verstehen seien sie im Raum in Bezug auf dieSubstanz die Qualitaumlt oder die Quantitaumlt Der Uumlbergang findet zwi-schen Gegensaumltzen statt Die ersten Paare von Gegensaumltzen die derAthener vor der Verallgemeinerung in 897d7 anspricht sind Ver-bindungen und Trennungen Wachstum und Schwund sowie Prozessedes Wedens und Vergehens (894b10f) Die Seele zeigt sich als dieUrsache von aller Art koumlrperlicher Veraumlnderung Wenn eine Seele einenWechsel von einem schlechten zu einem guten Zustand verursacht dannist diese Seele in sich selbst gut Wenn eine Seele einen schlechtenEinfluss auf einen Zustand uumlbt dann ist sie dafuumlr verantwortlich Es istbemerkenswert dass der Gegensatz zwischen sbquogutlsquo und sbquoschlechtlsquo nichtauf die Unterscheidung zwischen sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo oder diejenigezwischen sbquoseelischer Bewegunglsquo und sbquokoumlrperlicher Bewegunglsquo zu-ruumlckgefuumlhrt wird Der Koumlrper kann nicht als schlecht charakterisiertwerden weil nach dem spaumlten Platon der Koumlrper qua Koumlrper weder gutnoch schlecht in sich selbst ist

Wenn die Seele die Ursache von allem ist so der Athener dann musssie die Ursache von allen Gegensaumltzen sein einschlieszliglich des Bereichsder Ethik Die gleichen Gegensatzspaare von sbquogut und schlecht schoumlnund haumlszliglich sowie gerecht und ungerechtlsquo tauchen in Euthph 7c10ff alsder Zankapfel der menschlichen Debatten auf die vor Gericht gefuumlhrtwerden koumlnnen Auch in Grg 459d1ff gehoumlren sie zur rhetorischenKunst die kein Wissen daruumlber erwerben kann In Plt 296c5-7 erfahrenwir dass ein Irrtum im Rahmen der politischen Kunst das Schaumlndlichedas Schlechte und das Ungerechte verursacht Was der Rhetor verfehltweiszlig der Staatsmann Der goumlttliche Teil der menschlichen Seele mag einewahre Meinung uumlber Schoumlnes Gutes und Gerechtes stiften (Plt 309c5-8)

Indem die Seele fuumlr alle moumlglichen koumlrperlichen Veraumlnderungen ver-antwortlich gemacht wird gelangen wir in unserem Zusammenhang zuder Seele als der primaumlren Ursache auch des Schlechten und nichtaufgrund der Frage woher das Schlechte komme Der Athener machtnirgends explizit dass er die Seele als die einzige Ursache des Schlechtensei Bedenken sollte daher gegen Englands Beobachtung geaumluszligert wer-den in 896d5 werde die Frage nach dem Uumlbel eingefuumlhrt und insbe-

50 Lg 894c6f raquoκαλουμένην δὲ ὄντως τῶν ὄντων πάντων μεταβολὴν καὶκίνησινlaquo

20 Georgia Mouroutsou

sondere gegen seine Folgerung lsquoHaving identified ψυχή with the αἰτίαἀγαθοῦ τε καὶ κακοῦ he is bound to talk of the αἰτία κακοῦ as ψυχήrsquo51

Auf das seelische Uumlbel konzentriert sich hier der Athener Verabsolutie-rende Konklusionen uumlber das Uumlbel schlechthin sind daher der Ge-spraumlchssituation nicht zu entnehmen Jedenfalls waumlre der bestimmte Ar-tikel noumltig vor αἰτίαν (sowohl in 896d6 als auch in d8)

Der Athener zielt darauf die Natur der Seele als die Ursache von allenGegensaumltzen auszulotten und fuumlhrt dann das Feld der menschlichenEthik ein ohne seinen Uumlbergang oder eher seine Einschraumlnkung zu er-klaumlren52 Die konkrete politische Situation in den Gesetzen bietet eineplausible Erklaumlrung fuumlr diesen Uumlbergang von der Seele qua Seele zurmenschlichen Seele Die Buumlrger von Magnesia sollten ihre Machtwahrnehmen sowohl zum Guten als auch zum Schlechten beizutragenAuszligerdem sollten sie die Verantwortung ihrer politischen Taumltigkeit ineinem kosmischen All uumlbernehmen das von einer guten Seele verwaltetwird Die primaumlre Ursache der Bewegung ist die Seele Beinahe waumlre dieSeele als Selbst-Bewegung ie ihre absolute Spontaneitaumlt als Bedingungihrer moralischen Verantwortung zum ersten Mal in der Geschichte derPhilosophie vorgekommen haumltte Platon diese Verbindung ausbuch-stabiert53

Eine Art Anthropozentrismus kommt in den spaumlteren platonischenSchriften vor Die Entscheidung ob wir dieses Konzept einer philoso-

51 Platorsquos Laws S 474 Auf aumlhnliche Weise auch Carone Evil and Teleology S295 Anm41

52 Mayhew argumentiert seinerseits dass es nicht darum gehe dass die Seeledie Ursache aller Dinge und daher sowohl schlechter wie guter Dinge sei DerInterpret meint die Seele sei fruumlher als der Koumlrper und in dieser Weise das Seeli-sche ndash einschlieszliglich der Moral ndash entsprechend fruumlher als das Koumlrperliche (PlatoLaws X S 131) Dennoch liegt die Pointe meines Erachtens nicht darin eineneingegrenzten Bereich ndash den der Ethik ndash anzusprechen sondern das Wesen derSeele als Ursache aller Gegensaumltze auszubuchstabieren was wiederum nichtheiszligt man sollte den Bereich der Moral voumlllig leugnen wie es Raphael Demostut lsquo[hellip] the soul is non-moral apt for both good and evil and so far forth inde-terminatersquo (Demosrsquo Hervorhebung Platorsquos Doctrine of the Psyche as a Self-Moving Motion In Journal of History of Philosophy (1968) S 133-145 HierS136)

53 Vgl Horn Christoph Der Begriff der Selbstbewegung bei Alkmaion undPlaton In Rechenauer Georg (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen2005 S 152-173 bes S 168ff und Baumgarten Hans-Ulrich Handlungstheoriebei Platon Platon auf dem Weg zum Willen Stuttgart 1998 S 241-264

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 21

phischen Kritik unterziehen sollten oden nicht mag hier dahingestelltbleiben Mit dem sbquoAnthropozentrismuslsquo bei Platon meine ich dass dasErschaffen des Weltalls auf der Basis einer Teleologie geschieht die aufden Menschen und seinen Beduumlrfnissen zentriert ist Man mag denTimaios heranziehen Der Anthropozentrismus scheint sich durch denganzen Monolog durchzusetzen in dem Timaios auf das Schaffen desMannes fokussiert ist Gemaumlszlig der Lehre der Wiedergeburt sind Frauenund Tiere schlechtere Formen von Lebewesen Es gibt zwei Passagendie als besonders anthropozentrisch gepraumlgt vorkommen Zum erstensind die Pflanzen um der Ernaumlhrung der sterblichen Lebewesen willengeschaffen worden (77e7-b1) Zum zweiten schafft der Demiurg dieuumlber das ganze All scheinende Sonne damit die dementsprechend aus-geruumlsteten Lebewesen an der Zahl teilnehmen nachdem sie von derBeobachtung der kosmischen Bewegung viel gelernt haben (39b2-c1)Um der Menschen und der Kultivierung der Philosophie willen schafftGott die Sonne und ermoumlglicht die Wahrnehmung der Sicht Dank desStudiums der himmlischen Bewegungen koumlnnen wir nach der Natur derZeit und des Alls fragen Auf diese Weise duumlrfen wir hoffen unsere ge-stoumlrte Bewegung der Vernunft der ungestoumlrten Bahn der kosmischenVernunft zu assimilieren (46e-47c 90c-d)

Wir haben die Kritik an der Einschraumlnkung im moralischen Bereichwiderlegt indem wir unseren unmittelbaren sowie weiteren Kontextberuumlcksichtigten Wegen des Fokuses auf den menschlichen Bereich unddie menschliche Seele geht die allgemeine Frage der Seele qua Seele nichtverloren Der Hintergrund der jetzigen Diskussion bleibt dieseallgemeine Fragestellung obgleich die menschliche Seele diejenige istdie sich gemaumlszlig der Vernunft oder gegen die Vernunft verhaumllt (897b1-5)Wir sollten die Unterscheidung zwischen weiteren kosmischen undmenschlichen Dimensionen bewahren wenn auch der spaumlte Platon denkosmischen Zusammenhang auf eine anthropozentrische oder sogar an-thropomorphische Weise beschreibt54 Es waumlre weder gerechtfertigtnoch legitim dass die Untersuchung uumlber die menschliche Seelediejenige uumlber die Seele qua Seele dominieren oder ausschoumlpfen wuumlrde

54 Zur Zentrierung des kosmischen Alls auf dem menschlichen Leben bei spauml-tem Platon s Carone Evil and Teleology S 296

22 Georgia Mouroutsou

v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6

Von der allgemeinen Seelenlehre und der Seele qua Seele die bis dahindas Untersuchungsobjekt bildete gelangt der Athener jetzt zu einer be-sonderen Seele zur Weltseele Der Blickwechsel den der Athener imBereich seiner Betrachtung vollzieht sollte im Rahmen der platonischenSpaumltdialoge in denen Ontologie und Seelenlehre haumlufig in Kosmologiemuumlnden kein Erstaunen hervorrufen Als zwei Beispiele dafuumlr koumlnnender kosmologische Exkurs im Philebos (s oben Abschnitt I) und derUumlbergang von ψυχὴ πᾶσα (alles was Seele ist) zur Weltseele im Phaidros(245c5-246a2) gelten Was uumlber die Seele qua Seele gesagt wurde sollteauch im Fall der Weltseele Guumlltigkeit haben

raquoUnd weil die Seele in allem waltet und wohnt was sich auf ir-gendeine Weise bewegt muumlssen wir etwa nicht sagen dass sie auch denHimmel durchwaltelaquo55

Auf seine nur scheinbar unvermittelte und ploumltzliche Frage56 antwor-tet der Athener selbst

raquoEine oder mehrere Seelen Mehrere Ich werde fuumlr Euch antwortendass wir nicht weniger als zwei ansetzen sollten naumlmlich diejenige diedas Gute vervollkommnet und diejenige die faumlhig ist Entgegengesetztesdurchzufuumlhrenlaquo57

Dass der Athener im Namen seiner Gespraumlchspartner antwortet be-trachte ich als kein ausschlaggebendes Argument gegen die Realitaumlt einersbquoschlechten Weltseelersquo58 weil er sich noch auf die Seele qua Seele bezieht

55 Lg 896d10-e2 raquoΨυχὴν δὴ διοικοῦσαν καὶ ἐνοικοῦσαν ἐν ἅπασιν τοῖς πάντῃκινουμένοις μῶν οὐ καὶ τὸν οὐρανὸν ἀνάγκη διοικεῖν φάναιlaquo

56 Wilamowitz charakterisiert diese Frage zu Unrecht als sbquohereingeschneitlsquo(Platon II S 316) wogegen sich Kerschensteiner einsetzt (Platon und der Ori-ent S 73)

57 Lg 896e4-6 raquoΜίαν ἢ πλείους πλείους ἐγὼ ὑπέρ σφῷν ἀποκρινούμαι Δυοῖνμέν γέ που ἔλαττον μηδὲν τιθῶμεν τῆς τε εὐεργέτιδος καὶ τῆς τἀναντία δυναμένηςἐξεργάζεσθαιlaquo

58 Vgl Apelt Platons Gesetze S 539 Anm 48

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 23

Ist die Seele die das All verwaltet eine oder mehrere Haumltte Platon indi-viduelle Seelen ohne Bezug auf einen generellen Terminus sbquoSeelelsquo auf-zaumlhlen wollen haumltte er von mehr als zwei Seelen gesprochen Die Frageist sehr oft als Frage nach zwei Weltseelen verstanden worden Koumlnnteder Athener nicht die allgemeine Lehre der Seele qua Seele verlassen umsich auf die zwei partikulaumlren Weltseelen zu beziehen Dies haumltte derFall sein koumlnnen wenn die Weltseele mit Realitaumlt ausgestattet waumlre wassich aber nicht so verhaumllt Die oben genannte Frage kann nur die Seelequa Seele betreffen

Obgleich er haumlufig uumlberhoumlrt wird sollte der oben angewendete Dual beruumlcksichtigt werden weil er gegen ein Verstaumlndnis von zwei von-einander getrennten entgegengesetzten Seelen plaumldiert59 Auszliger demDual in 896e5 uumlberhoumlrt die Mehrheit der Interpreten hier noch etwasEntscheidendes Die der wohltaumltigen Seele entgegensetzte ist nicht eineeinfachhin und ohne Weiteres sbquoschlechte Seelersquo60 sondern die Seele raquodieimstande ist das Gegenteil zu bewirkenlaquo Genau in diesem Punkt uumlber-schneiden sich die allgemeine Seelenlehre nach der die Seele qua SeeleSelbstbewegung ist und als solche gut oder schlecht sein kann und diespezielle Lehre uumlber die kosmische Seele die ebenfalls qua Seele in derLage ist gut oder schlecht zu sein Deswegen sollten wir die Rede vonδύναμις in unserer Uumlbersetzung von sbquoτἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαιlsquo(Lg 896e6)61 nicht vernachlaumlssigen Die sbquoschlechte Seelelsquo wird nicht alseine bloszlige Privation der guten Seele eingefuumlhrt sondern als mit ihrereigenen Macht (δύναμις) ausgestattet Schlechtes zu bewirken62 als einenegative und destruktive Macht63

Wir sind dabei weit enfernt δύνασθαι mit einer aristotelischen sbquoerstenMoumlglichkeitlsquo zu identifizieren um die Ausscheidung einer schlechten

59 raquoDie Sprache hat die Dualform geschaffen nicht etwa um den Begriff derZahl zwei sondern um den Begriff der Zweiheit der paarweisenZusammengehoumlrigkeit auszudruumlckenlaquo (Wilhelm von Humboldt Uumlber denDualis Berlin 1828 S 18) Erst nach Platon als das Sprachgefuumlhl fuumlr die eigent-liche Bedeutung der Sprachformen an Lebendigkeit nachlieszlig bedeutete der Dualnicht selten den bloszligen Begriff sbquozweilsquo wobei die wahre und urspruumlngliche Naturdes Duals sich darin zeigt dass er entweder auf paarweise in der Natur verbun-dene Gegenstaumlnde angewendet wird oder auf solche welche in einer engen undgegenseitigen Beziehung gedacht werden (vgl Kuumlhner Raphael und FriedrichBlass Ausfuumlhrliche Grammatik der griechischen Sprache Zweiter Teil Satz-lehre Erster Teil Darmstadt 31966 S 69

60 Er spricht nur spaumlter von einer sbquoschlechten Seelersquo (897d1 vgl 898c4f)

24 Georgia Mouroutsou

Weltseele schon in den oberen Zeilen zu finden Nach dieser Lektuumlrewaumlre die zweite Art von Seele nur imstande Schlechtes durchzufuumlhrenaber wuumlrde nicht tatsaumlchlich so etwas tun Waumlre das der Fall warumsollte der Athener uumlberhaupt erst zwischen zwei Arten von Seele unter-scheiden In einem Kontext wo die Staumlrke die praktische Macht sowieEffizienz und Dominanz der Seele uumlberwiegen64 ist die Option einersbquoersten Moumlglichkeitlsquo keine gelungene Annahme65 Nur in dem Fall desgoumlttlichen Demiurgen koumlnnten wir eine solche sbquoerste Moumlglichkeitlsquo an-wenden die sich nie wirklich durchsetzen wird Trotz seiner Faumlhigkeites zu tun ist der Demiurg nicht bereit die guten Mischungen aufzuloumlsenund die kosmische Ordnung zugrunde zu richten Das Konzept einesDemiurgen der faumlhig ist beides zu tun sowohl Gutes als auch Schlech-tes ist fuumlr Platon undenkbar weil Gott wesentlich gut ist66 Zu-gegebenermaszligen waumlre es zu weitreichend all das in 896e5f hineinzule-sen und die zweite Art der Seele mit dem goumlttlichen Demiurgen zuidentifizieren

61 Der δύναμις-Aspekt geht verloren bei Plutarch der stattdessen von der gutwirkenden und der entgegengesetzten Seele spricht die das Gegenteil vollbringtDe Is Et Osir 370F4-6 raquoὧν τὴν μὲν ἀγαθουργόν εἶναι τὴν δrsquo ἐναντίαν ταύτῃ καὶτῶν ἐναντίων δημιουργόνlaquo Den wichtigen Bezug auf δύναμις verpassen Jowettlsquoone the author of good and the other of the evilrsquo (The Dialogues of Plato S466) sowie Grube Platorsquos Thought lsquoone that does good and one that does evilrsquo(Platorsquos Thought S 146)

Brisson spricht von der Neutralitaumlt der Seele die faumlhig ist gut oder schlecht zusein (Vernunft Natur und Gesetz im zehnten Buch von Platons Gesetzen InHavlicek Ales (Hrsg) The Republic and the Laws of Plato Proceedings of theFirst Symposium Plato Symposium Platonicum Pragense 1 (1997) S 182-200Hier S189) ohne diese Textstelle heranzuziehen

62 Das Verb ist sbquoἐξεργάζεσθαιlsquo das nicht nur das Schlechte bewirken sondern esauch vollenden heiszligt (vgl ἔργον sowohl in als auch in ἐξεργάζεσθαι)

63 Vgl Dillons allgemeine Folgerung uumlber das ontologische Problem desSchlechten bei Platon (Monist and Dualist Tendencies S 11) Der Fall einerschlechten Seele die nicht als Privation der guten Seele vorkommt sondern alsraquofaumlhig Schlechtes zu vollendenlaquo unterstuumltzt Dillons Konklusion dass diesbquoschlechte Seelelsquo eine negative zerstoumlrende Macht sei

64 Vgl die Charakterisierung der Seele in 894d1f 895b665 Dank der Beobachtung von David Sedley wurde es mir klar dass ich

unabsichtlich eine aristotelsiche sbquoerste Potenzialitaumltlsquo in einer fruumlheren Versionvorgeschlagen hatte

66 Vgl oben Fuszlignote 7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 25

Bevor wir zur allgemeinen platonischen Psychologie uumlbergehen er-waumlgen wir eine zweite moumlgliche Unterscheidung der Seele in 896e4-6Bis jetzt habe ich die Distinktion zwischen guter und schlechter Seele alsselbstverstaumlndlich betrachtet Eine vorsichtigere Lektuumlre ermoumlglicht einezweite Option naumlmlich die Unterscheidung zwischen derwohlwollenden Seele die immer das Gute vollendet und derjenigen diefaumlhig ist entgegengesetzte Dinge (Plural) durchzufuumlhren sowohl Gutesals auch Schlechtes (τῆς τἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαι) Die ersteSeele kann keine andere als die goumlttliche sein67 Fuumlr die zweite Seele istder einzige Kandidat die menschliche Seele Auszligerdem wuumlrde die Seeleder Tiere unter die Seele fallen die sowohl Gutes als auch Schlechtestun kann weil sie einen logischen Teil beinhaltet auch wenn deformiertDas Goumlttliche ist immer gut Die Pflanzen moumlgen gut sein insofern siein eine globale Teleologie integriert sind Sie wuumlrden aber nie als faumlhigcharakterisiert etwas Gutes oder noch weniger etwas Schlechtes zutun noch wuumlrden sie die Verantwortung fuumlr die herbeigefuumlhrten gutenoder schlechten Wirkungen tragen Wenn diese Lektuumlre als die einzigemoumlgliche aufgewiesen werden koumlnnte wuumlrden wir mit Sicherheit dieFrage nach der schlechten Seele auf spaumlter verschieben68

Wie es auch sein mag befinden wir uns noch im Rahmen derallgemeinen Lehre der Seele qua Seele als Selbstbewegung Die kosmi-sche Seele ist in 896e1f aufgetaucht aber die Unterscheidung zwischender guten und der schlechten Seele oder der goumlttlichen und men-schlichen Seele wird auf einer allgemeinen Ebene gezogen69 Obgleichder Athener nicht die theorethischen Anspruumlche des Sophistes erhebtsetzt er die allgemeine platonische Ontologie voraus dergemaumlszlig dasSeiende qua Seiendes δύναμις sei Das Kriterium fuumlr alles was Seiendesist sei es Intelligibles oder Koumlrperliches Koumlrper oder Seele ist das Ver-moumlgen zu tun oder zu leiden70 Die Erforschung der Seele als Seiendesverlangt daher die Frage nach ihrer Kraft und ihrem Vermoumlgen (Lg892a2f) Der Gast aus Athen bezieht sich stets auf die δύναμις-Ontolo-

67 Der Athener kann noch nicht die gute Seele als goumlttlich charakterisierenDas Argument hat noch nicht die Goumlttlichkeit der Seele bewiesen

68 Der kreative Charakter der Dialektik ermoumlglicht mehr als eine richtige Ein-teilung Zu diesem Aspekt s Plt 286d-e und Delcomminettes Monographie

69 Anders als Taylor der den Uumlbergang von 896e2 zu e4 durch die Praumlmisseder Aktualitaumlt des Guten und Schlechten in der gegenwaumlrtigen Welt verhilft (TheLaws S 289 Anm 1) sehe ich keinen Eintritt eines a posteriori Arguments adhoc Alles bisherige entnimmt der Athener der allgemeinen Seelenlehre

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gie des Phaidros sowie des Sophistes Er stellt die Frage was die Seele istund was fuumlr ein Vermoumlgen sie hat οἷόν τε ὂν τυγχάνει καὶ δύναμιν ἣνἔχει71

Obwohl die Frage nach dem Tun (ποιεῖν) oder Leiden (πάσχειν) derSeele als δύναμις nicht explizit gestellt wird72 bringt ihre Definition alsSelbstbewegung ein gleichzeitiges Tun (als Bewegen) und Leiden (alsBewegtwerden) zum Ausdruck73 Die Seele ist die Kraft die sich selbstund anderes bewegt74 Die Definition der Seele als Selbstbewegung kannentweder als Aktivitaumlt oder Passivitaumlt ausgedruumlckt werden Die Seele be-wegt sich selbst und wird von sich selbst bewegt Ein gleichzeitiges Tunund Leiden das aber nicht das gleiche Seiende verursacht geschieht beikoumlrperlicher Bewegung Ein Koumlrper mag auf einen anderen Koumlrper wir-ken und zu gleicher Zeit kann er von einer Seele oder einem anderenKoumlrper bewegt werden aber nicht von sich selbst75

Platon gibt die Definition der Seele in ihrer Allgemeinheit d hunabhaumlngig von ihren moumlglichen Manifestationen in konkretenLebewesen Alles was Seele ist soll Selbstbewegung sein mag es sichum die Seele des Menschen oder des Tieres oder der Pflanze handelnWeil die individuellen Manifestationen der Seele nicht beruumlcksichtigtwerden fehlt bei der Formel der Definition τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴνκινεῖν κίνησιν (896a1f) auch der Bezug auf den Koumlrper den die jeweiligekonkrete Seele beseelt Im Falle der Absenz der Materie in einer Defini-

70 Der Vorschlag des Gastes aus Elea in Sph 247d-e wird nicht allgemein alsPlatons Vorschlag uumlber Ontologie gedeutet Sehr haumlufig beschraumlnken Exegetendas Seiende als δύναμις auf die ad loc Argumentation gegen die MaterialistenAuch wenn dieses Argument als Platons Argument charakterisiert wird bleibtes sehr umstritten ob es eine allgemeine Ontologie betrifft (Brown) oder in eineOntologie der Ideen einmuumlndet (Gerson Politis) Darauf gehe ich hier nicht ein

71 Lg 892a3 vgl Lg 894b8-c1 und 896a1f72 Der Athener bezieht sich auf Tun und Leiden nur in 894c5f und meint

wahrscheinlich sowohl Seelisches als auch Koumlrperliches mit dem die Seele har-monisiert

73 In Lg 894b8-c1 und 896a1f beantwortet der Athener seine Frage nach derArt des Vermoumlgens mit dem die Seele ausgestattet ist Der gesamteZusammenhang verbindet die Frage nach dem Wesen eines Seienden mit derFrage nach seinem Vermoumlgen

74 Lg 893c4f75 Gaiser fuumlhrt den Ausgleich zwischen Passivitaumlt und Aktivitaumlt in der selbst-

bewegenden Seele auf das Zusammenwirken der zwei platonischen Prinzipienzuruumlck (Platons Ungeschriebene Lehre S 195f)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 27

tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

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Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

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tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 31

welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

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zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

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Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

40 Georgia Mouroutsou

werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

42 Georgia Mouroutsou

abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

18 Georgia Mouroutsou

Wir kehren zu unserem Text zuruumlck Da der Seele ontologische Prioritaumltgegenuumlber dem Koumlrper verliehen wird ist auch das der Seele Verwandteontologisch fruumlher als das was dem Koumlrper zugehoumlrt

raquoVerhaltensweisen aber und Gemuumltsarten Willensakte Schluss-folgerungen wahre Meinungen Fuumlrsorge und Erinnerungen duumlrftenfruumlher entstanden sein als koumlrperliche Laumlnge Breite Tiefe und Staumlrkewenn eben die Seele fruumlher als der Koumlrper entstanden sein solltelaquo46

Im Anschluss daran hilft uns der Athener nachzuvollziehen warumPlaton eben hier die sbquoschlechte Seelersquo einfuumlhrt Man muumlsse darin uumlberein-stimmen dass die Seele Ursache sowohl des Guten als auch des Boumlsendes Schoumlnen und des Schlechten des Gerechten und des Ungerechtenund aller Gegensaumltze sei

raquoIst es denn nicht noumltig darin uumlbereinzustimmen dass die Seele dieUrsache des Guten sowie des Schlechten des Schoumlnen sowie des Haumlszlig-lichen des Gerechten sowie des Ungerechten und uumlberhaupt allerGegensaumltze wenn wir sie als Ursache von allem setzenlaquo47

Diese Zeilen sind aumluszligerst wichtig weil hier und nicht erst in 896e4ffder Gegensatz von sbquogut und schlechtlsquo eingefuumlhrt wird Dem Argumentist vorgeworfen worden es sei schwach Unter den Kritikern verstehtStalley den Schluss auf folgende Weise lsquoSoul since it is the source ofeverything must be the source of valuesrsquo Er wundert sich dass Werteohne Begruumlndung und ohne Erklaumlrung ihrer Existenzweise eingefuumlhrtwerden48 Dementgegen werde ich eine wohlwollendere Annaumlherungvorschlagen Nach der Rekonstruktion des Arguments werde ich eineArt sbquoanthropozentrischer Wendelsquo in einen breiteren Kontext situieren

Wie er expliziert (896d8) zieht der Gast aus Athen diesen Schlussdaraus dass die Seele als Ursache von allem angesetzt worden ist Bevorwir diese Begruumlndung als einen Fehlschritt charakterisieren sollten wiruns zusammen mit Kleinias erinnern dass die sbquoSeelersquo die Veraumlnderungvon allem herbeifuumlhrt49 Mit Hilfe einer anderen Formulierung ist dieSeele raquodie Veraumlnderung und Bewegung von allem Seiendenlaquo50

46 Lg 896c9-d3 raquoΤρόποι δὲ καὶ ἤθη καὶ βουλήσεις καὶ λογισμοὶ καὶ δόξαιἀληθεῖς ἐπιμέλειαί τε καὶ μνῆμαι πρότερα μήκους σωμάτων καὶ πλάτους καὶβάθους καὶ ῥώμης εἴη γεγονότα ἄν εἰπερ καὶ ψυχὴ σώματοςlaquo

47 Lg 896d5-7 raquoἎρrsquo οὖν τὸ μετὰ τοῦτο ὁμολογεῖν ἀναγκαῖον τῶν τε ἀγαθῶναἰτίαν εἶναι ψυχὴν καὶ τῶν κακῶν καὶ καλῶν καὶ αἰσχρῶν δικαίων τε καὶ ἀδίκωνκαὶ πάντων τῶν ἐναντίων εἴπερ τῶν πάντων γε αὐτὴν θήσομεν αἰτίανlaquo

48 Stalley An Introduction S 172 49 Lg 892a6f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 19

Die Bewegung ist hier als Wechsel und Veraumlnderung (μεταβολή) in ih-ren weitesten Sinn zu verstehen seien sie im Raum in Bezug auf dieSubstanz die Qualitaumlt oder die Quantitaumlt Der Uumlbergang findet zwi-schen Gegensaumltzen statt Die ersten Paare von Gegensaumltzen die derAthener vor der Verallgemeinerung in 897d7 anspricht sind Ver-bindungen und Trennungen Wachstum und Schwund sowie Prozessedes Wedens und Vergehens (894b10f) Die Seele zeigt sich als dieUrsache von aller Art koumlrperlicher Veraumlnderung Wenn eine Seele einenWechsel von einem schlechten zu einem guten Zustand verursacht dannist diese Seele in sich selbst gut Wenn eine Seele einen schlechtenEinfluss auf einen Zustand uumlbt dann ist sie dafuumlr verantwortlich Es istbemerkenswert dass der Gegensatz zwischen sbquogutlsquo und sbquoschlechtlsquo nichtauf die Unterscheidung zwischen sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo oder diejenigezwischen sbquoseelischer Bewegunglsquo und sbquokoumlrperlicher Bewegunglsquo zu-ruumlckgefuumlhrt wird Der Koumlrper kann nicht als schlecht charakterisiertwerden weil nach dem spaumlten Platon der Koumlrper qua Koumlrper weder gutnoch schlecht in sich selbst ist

Wenn die Seele die Ursache von allem ist so der Athener dann musssie die Ursache von allen Gegensaumltzen sein einschlieszliglich des Bereichsder Ethik Die gleichen Gegensatzspaare von sbquogut und schlecht schoumlnund haumlszliglich sowie gerecht und ungerechtlsquo tauchen in Euthph 7c10ff alsder Zankapfel der menschlichen Debatten auf die vor Gericht gefuumlhrtwerden koumlnnen Auch in Grg 459d1ff gehoumlren sie zur rhetorischenKunst die kein Wissen daruumlber erwerben kann In Plt 296c5-7 erfahrenwir dass ein Irrtum im Rahmen der politischen Kunst das Schaumlndlichedas Schlechte und das Ungerechte verursacht Was der Rhetor verfehltweiszlig der Staatsmann Der goumlttliche Teil der menschlichen Seele mag einewahre Meinung uumlber Schoumlnes Gutes und Gerechtes stiften (Plt 309c5-8)

Indem die Seele fuumlr alle moumlglichen koumlrperlichen Veraumlnderungen ver-antwortlich gemacht wird gelangen wir in unserem Zusammenhang zuder Seele als der primaumlren Ursache auch des Schlechten und nichtaufgrund der Frage woher das Schlechte komme Der Athener machtnirgends explizit dass er die Seele als die einzige Ursache des Schlechtensei Bedenken sollte daher gegen Englands Beobachtung geaumluszligert wer-den in 896d5 werde die Frage nach dem Uumlbel eingefuumlhrt und insbe-

50 Lg 894c6f raquoκαλουμένην δὲ ὄντως τῶν ὄντων πάντων μεταβολὴν καὶκίνησινlaquo

20 Georgia Mouroutsou

sondere gegen seine Folgerung lsquoHaving identified ψυχή with the αἰτίαἀγαθοῦ τε καὶ κακοῦ he is bound to talk of the αἰτία κακοῦ as ψυχήrsquo51

Auf das seelische Uumlbel konzentriert sich hier der Athener Verabsolutie-rende Konklusionen uumlber das Uumlbel schlechthin sind daher der Ge-spraumlchssituation nicht zu entnehmen Jedenfalls waumlre der bestimmte Ar-tikel noumltig vor αἰτίαν (sowohl in 896d6 als auch in d8)

Der Athener zielt darauf die Natur der Seele als die Ursache von allenGegensaumltzen auszulotten und fuumlhrt dann das Feld der menschlichenEthik ein ohne seinen Uumlbergang oder eher seine Einschraumlnkung zu er-klaumlren52 Die konkrete politische Situation in den Gesetzen bietet eineplausible Erklaumlrung fuumlr diesen Uumlbergang von der Seele qua Seele zurmenschlichen Seele Die Buumlrger von Magnesia sollten ihre Machtwahrnehmen sowohl zum Guten als auch zum Schlechten beizutragenAuszligerdem sollten sie die Verantwortung ihrer politischen Taumltigkeit ineinem kosmischen All uumlbernehmen das von einer guten Seele verwaltetwird Die primaumlre Ursache der Bewegung ist die Seele Beinahe waumlre dieSeele als Selbst-Bewegung ie ihre absolute Spontaneitaumlt als Bedingungihrer moralischen Verantwortung zum ersten Mal in der Geschichte derPhilosophie vorgekommen haumltte Platon diese Verbindung ausbuch-stabiert53

Eine Art Anthropozentrismus kommt in den spaumlteren platonischenSchriften vor Die Entscheidung ob wir dieses Konzept einer philoso-

51 Platorsquos Laws S 474 Auf aumlhnliche Weise auch Carone Evil and Teleology S295 Anm41

52 Mayhew argumentiert seinerseits dass es nicht darum gehe dass die Seeledie Ursache aller Dinge und daher sowohl schlechter wie guter Dinge sei DerInterpret meint die Seele sei fruumlher als der Koumlrper und in dieser Weise das Seeli-sche ndash einschlieszliglich der Moral ndash entsprechend fruumlher als das Koumlrperliche (PlatoLaws X S 131) Dennoch liegt die Pointe meines Erachtens nicht darin eineneingegrenzten Bereich ndash den der Ethik ndash anzusprechen sondern das Wesen derSeele als Ursache aller Gegensaumltze auszubuchstabieren was wiederum nichtheiszligt man sollte den Bereich der Moral voumlllig leugnen wie es Raphael Demostut lsquo[hellip] the soul is non-moral apt for both good and evil and so far forth inde-terminatersquo (Demosrsquo Hervorhebung Platorsquos Doctrine of the Psyche as a Self-Moving Motion In Journal of History of Philosophy (1968) S 133-145 HierS136)

53 Vgl Horn Christoph Der Begriff der Selbstbewegung bei Alkmaion undPlaton In Rechenauer Georg (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen2005 S 152-173 bes S 168ff und Baumgarten Hans-Ulrich Handlungstheoriebei Platon Platon auf dem Weg zum Willen Stuttgart 1998 S 241-264

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 21

phischen Kritik unterziehen sollten oden nicht mag hier dahingestelltbleiben Mit dem sbquoAnthropozentrismuslsquo bei Platon meine ich dass dasErschaffen des Weltalls auf der Basis einer Teleologie geschieht die aufden Menschen und seinen Beduumlrfnissen zentriert ist Man mag denTimaios heranziehen Der Anthropozentrismus scheint sich durch denganzen Monolog durchzusetzen in dem Timaios auf das Schaffen desMannes fokussiert ist Gemaumlszlig der Lehre der Wiedergeburt sind Frauenund Tiere schlechtere Formen von Lebewesen Es gibt zwei Passagendie als besonders anthropozentrisch gepraumlgt vorkommen Zum erstensind die Pflanzen um der Ernaumlhrung der sterblichen Lebewesen willengeschaffen worden (77e7-b1) Zum zweiten schafft der Demiurg dieuumlber das ganze All scheinende Sonne damit die dementsprechend aus-geruumlsteten Lebewesen an der Zahl teilnehmen nachdem sie von derBeobachtung der kosmischen Bewegung viel gelernt haben (39b2-c1)Um der Menschen und der Kultivierung der Philosophie willen schafftGott die Sonne und ermoumlglicht die Wahrnehmung der Sicht Dank desStudiums der himmlischen Bewegungen koumlnnen wir nach der Natur derZeit und des Alls fragen Auf diese Weise duumlrfen wir hoffen unsere ge-stoumlrte Bewegung der Vernunft der ungestoumlrten Bahn der kosmischenVernunft zu assimilieren (46e-47c 90c-d)

Wir haben die Kritik an der Einschraumlnkung im moralischen Bereichwiderlegt indem wir unseren unmittelbaren sowie weiteren Kontextberuumlcksichtigten Wegen des Fokuses auf den menschlichen Bereich unddie menschliche Seele geht die allgemeine Frage der Seele qua Seele nichtverloren Der Hintergrund der jetzigen Diskussion bleibt dieseallgemeine Fragestellung obgleich die menschliche Seele diejenige istdie sich gemaumlszlig der Vernunft oder gegen die Vernunft verhaumllt (897b1-5)Wir sollten die Unterscheidung zwischen weiteren kosmischen undmenschlichen Dimensionen bewahren wenn auch der spaumlte Platon denkosmischen Zusammenhang auf eine anthropozentrische oder sogar an-thropomorphische Weise beschreibt54 Es waumlre weder gerechtfertigtnoch legitim dass die Untersuchung uumlber die menschliche Seelediejenige uumlber die Seele qua Seele dominieren oder ausschoumlpfen wuumlrde

54 Zur Zentrierung des kosmischen Alls auf dem menschlichen Leben bei spauml-tem Platon s Carone Evil and Teleology S 296

22 Georgia Mouroutsou

v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6

Von der allgemeinen Seelenlehre und der Seele qua Seele die bis dahindas Untersuchungsobjekt bildete gelangt der Athener jetzt zu einer be-sonderen Seele zur Weltseele Der Blickwechsel den der Athener imBereich seiner Betrachtung vollzieht sollte im Rahmen der platonischenSpaumltdialoge in denen Ontologie und Seelenlehre haumlufig in Kosmologiemuumlnden kein Erstaunen hervorrufen Als zwei Beispiele dafuumlr koumlnnender kosmologische Exkurs im Philebos (s oben Abschnitt I) und derUumlbergang von ψυχὴ πᾶσα (alles was Seele ist) zur Weltseele im Phaidros(245c5-246a2) gelten Was uumlber die Seele qua Seele gesagt wurde sollteauch im Fall der Weltseele Guumlltigkeit haben

raquoUnd weil die Seele in allem waltet und wohnt was sich auf ir-gendeine Weise bewegt muumlssen wir etwa nicht sagen dass sie auch denHimmel durchwaltelaquo55

Auf seine nur scheinbar unvermittelte und ploumltzliche Frage56 antwor-tet der Athener selbst

raquoEine oder mehrere Seelen Mehrere Ich werde fuumlr Euch antwortendass wir nicht weniger als zwei ansetzen sollten naumlmlich diejenige diedas Gute vervollkommnet und diejenige die faumlhig ist Entgegengesetztesdurchzufuumlhrenlaquo57

Dass der Athener im Namen seiner Gespraumlchspartner antwortet be-trachte ich als kein ausschlaggebendes Argument gegen die Realitaumlt einersbquoschlechten Weltseelersquo58 weil er sich noch auf die Seele qua Seele bezieht

55 Lg 896d10-e2 raquoΨυχὴν δὴ διοικοῦσαν καὶ ἐνοικοῦσαν ἐν ἅπασιν τοῖς πάντῃκινουμένοις μῶν οὐ καὶ τὸν οὐρανὸν ἀνάγκη διοικεῖν φάναιlaquo

56 Wilamowitz charakterisiert diese Frage zu Unrecht als sbquohereingeschneitlsquo(Platon II S 316) wogegen sich Kerschensteiner einsetzt (Platon und der Ori-ent S 73)

57 Lg 896e4-6 raquoΜίαν ἢ πλείους πλείους ἐγὼ ὑπέρ σφῷν ἀποκρινούμαι Δυοῖνμέν γέ που ἔλαττον μηδὲν τιθῶμεν τῆς τε εὐεργέτιδος καὶ τῆς τἀναντία δυναμένηςἐξεργάζεσθαιlaquo

58 Vgl Apelt Platons Gesetze S 539 Anm 48

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 23

Ist die Seele die das All verwaltet eine oder mehrere Haumltte Platon indi-viduelle Seelen ohne Bezug auf einen generellen Terminus sbquoSeelelsquo auf-zaumlhlen wollen haumltte er von mehr als zwei Seelen gesprochen Die Frageist sehr oft als Frage nach zwei Weltseelen verstanden worden Koumlnnteder Athener nicht die allgemeine Lehre der Seele qua Seele verlassen umsich auf die zwei partikulaumlren Weltseelen zu beziehen Dies haumltte derFall sein koumlnnen wenn die Weltseele mit Realitaumlt ausgestattet waumlre wassich aber nicht so verhaumllt Die oben genannte Frage kann nur die Seelequa Seele betreffen

Obgleich er haumlufig uumlberhoumlrt wird sollte der oben angewendete Dual beruumlcksichtigt werden weil er gegen ein Verstaumlndnis von zwei von-einander getrennten entgegengesetzten Seelen plaumldiert59 Auszliger demDual in 896e5 uumlberhoumlrt die Mehrheit der Interpreten hier noch etwasEntscheidendes Die der wohltaumltigen Seele entgegensetzte ist nicht eineeinfachhin und ohne Weiteres sbquoschlechte Seelersquo60 sondern die Seele raquodieimstande ist das Gegenteil zu bewirkenlaquo Genau in diesem Punkt uumlber-schneiden sich die allgemeine Seelenlehre nach der die Seele qua SeeleSelbstbewegung ist und als solche gut oder schlecht sein kann und diespezielle Lehre uumlber die kosmische Seele die ebenfalls qua Seele in derLage ist gut oder schlecht zu sein Deswegen sollten wir die Rede vonδύναμις in unserer Uumlbersetzung von sbquoτἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαιlsquo(Lg 896e6)61 nicht vernachlaumlssigen Die sbquoschlechte Seelelsquo wird nicht alseine bloszlige Privation der guten Seele eingefuumlhrt sondern als mit ihrereigenen Macht (δύναμις) ausgestattet Schlechtes zu bewirken62 als einenegative und destruktive Macht63

Wir sind dabei weit enfernt δύνασθαι mit einer aristotelischen sbquoerstenMoumlglichkeitlsquo zu identifizieren um die Ausscheidung einer schlechten

59 raquoDie Sprache hat die Dualform geschaffen nicht etwa um den Begriff derZahl zwei sondern um den Begriff der Zweiheit der paarweisenZusammengehoumlrigkeit auszudruumlckenlaquo (Wilhelm von Humboldt Uumlber denDualis Berlin 1828 S 18) Erst nach Platon als das Sprachgefuumlhl fuumlr die eigent-liche Bedeutung der Sprachformen an Lebendigkeit nachlieszlig bedeutete der Dualnicht selten den bloszligen Begriff sbquozweilsquo wobei die wahre und urspruumlngliche Naturdes Duals sich darin zeigt dass er entweder auf paarweise in der Natur verbun-dene Gegenstaumlnde angewendet wird oder auf solche welche in einer engen undgegenseitigen Beziehung gedacht werden (vgl Kuumlhner Raphael und FriedrichBlass Ausfuumlhrliche Grammatik der griechischen Sprache Zweiter Teil Satz-lehre Erster Teil Darmstadt 31966 S 69

60 Er spricht nur spaumlter von einer sbquoschlechten Seelersquo (897d1 vgl 898c4f)

24 Georgia Mouroutsou

Weltseele schon in den oberen Zeilen zu finden Nach dieser Lektuumlrewaumlre die zweite Art von Seele nur imstande Schlechtes durchzufuumlhrenaber wuumlrde nicht tatsaumlchlich so etwas tun Waumlre das der Fall warumsollte der Athener uumlberhaupt erst zwischen zwei Arten von Seele unter-scheiden In einem Kontext wo die Staumlrke die praktische Macht sowieEffizienz und Dominanz der Seele uumlberwiegen64 ist die Option einersbquoersten Moumlglichkeitlsquo keine gelungene Annahme65 Nur in dem Fall desgoumlttlichen Demiurgen koumlnnten wir eine solche sbquoerste Moumlglichkeitlsquo an-wenden die sich nie wirklich durchsetzen wird Trotz seiner Faumlhigkeites zu tun ist der Demiurg nicht bereit die guten Mischungen aufzuloumlsenund die kosmische Ordnung zugrunde zu richten Das Konzept einesDemiurgen der faumlhig ist beides zu tun sowohl Gutes als auch Schlech-tes ist fuumlr Platon undenkbar weil Gott wesentlich gut ist66 Zu-gegebenermaszligen waumlre es zu weitreichend all das in 896e5f hineinzule-sen und die zweite Art der Seele mit dem goumlttlichen Demiurgen zuidentifizieren

61 Der δύναμις-Aspekt geht verloren bei Plutarch der stattdessen von der gutwirkenden und der entgegengesetzten Seele spricht die das Gegenteil vollbringtDe Is Et Osir 370F4-6 raquoὧν τὴν μὲν ἀγαθουργόν εἶναι τὴν δrsquo ἐναντίαν ταύτῃ καὶτῶν ἐναντίων δημιουργόνlaquo Den wichtigen Bezug auf δύναμις verpassen Jowettlsquoone the author of good and the other of the evilrsquo (The Dialogues of Plato S466) sowie Grube Platorsquos Thought lsquoone that does good and one that does evilrsquo(Platorsquos Thought S 146)

Brisson spricht von der Neutralitaumlt der Seele die faumlhig ist gut oder schlecht zusein (Vernunft Natur und Gesetz im zehnten Buch von Platons Gesetzen InHavlicek Ales (Hrsg) The Republic and the Laws of Plato Proceedings of theFirst Symposium Plato Symposium Platonicum Pragense 1 (1997) S 182-200Hier S189) ohne diese Textstelle heranzuziehen

62 Das Verb ist sbquoἐξεργάζεσθαιlsquo das nicht nur das Schlechte bewirken sondern esauch vollenden heiszligt (vgl ἔργον sowohl in als auch in ἐξεργάζεσθαι)

63 Vgl Dillons allgemeine Folgerung uumlber das ontologische Problem desSchlechten bei Platon (Monist and Dualist Tendencies S 11) Der Fall einerschlechten Seele die nicht als Privation der guten Seele vorkommt sondern alsraquofaumlhig Schlechtes zu vollendenlaquo unterstuumltzt Dillons Konklusion dass diesbquoschlechte Seelelsquo eine negative zerstoumlrende Macht sei

64 Vgl die Charakterisierung der Seele in 894d1f 895b665 Dank der Beobachtung von David Sedley wurde es mir klar dass ich

unabsichtlich eine aristotelsiche sbquoerste Potenzialitaumltlsquo in einer fruumlheren Versionvorgeschlagen hatte

66 Vgl oben Fuszlignote 7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 25

Bevor wir zur allgemeinen platonischen Psychologie uumlbergehen er-waumlgen wir eine zweite moumlgliche Unterscheidung der Seele in 896e4-6Bis jetzt habe ich die Distinktion zwischen guter und schlechter Seele alsselbstverstaumlndlich betrachtet Eine vorsichtigere Lektuumlre ermoumlglicht einezweite Option naumlmlich die Unterscheidung zwischen derwohlwollenden Seele die immer das Gute vollendet und derjenigen diefaumlhig ist entgegengesetzte Dinge (Plural) durchzufuumlhren sowohl Gutesals auch Schlechtes (τῆς τἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαι) Die ersteSeele kann keine andere als die goumlttliche sein67 Fuumlr die zweite Seele istder einzige Kandidat die menschliche Seele Auszligerdem wuumlrde die Seeleder Tiere unter die Seele fallen die sowohl Gutes als auch Schlechtestun kann weil sie einen logischen Teil beinhaltet auch wenn deformiertDas Goumlttliche ist immer gut Die Pflanzen moumlgen gut sein insofern siein eine globale Teleologie integriert sind Sie wuumlrden aber nie als faumlhigcharakterisiert etwas Gutes oder noch weniger etwas Schlechtes zutun noch wuumlrden sie die Verantwortung fuumlr die herbeigefuumlhrten gutenoder schlechten Wirkungen tragen Wenn diese Lektuumlre als die einzigemoumlgliche aufgewiesen werden koumlnnte wuumlrden wir mit Sicherheit dieFrage nach der schlechten Seele auf spaumlter verschieben68

Wie es auch sein mag befinden wir uns noch im Rahmen derallgemeinen Lehre der Seele qua Seele als Selbstbewegung Die kosmi-sche Seele ist in 896e1f aufgetaucht aber die Unterscheidung zwischender guten und der schlechten Seele oder der goumlttlichen und men-schlichen Seele wird auf einer allgemeinen Ebene gezogen69 Obgleichder Athener nicht die theorethischen Anspruumlche des Sophistes erhebtsetzt er die allgemeine platonische Ontologie voraus dergemaumlszlig dasSeiende qua Seiendes δύναμις sei Das Kriterium fuumlr alles was Seiendesist sei es Intelligibles oder Koumlrperliches Koumlrper oder Seele ist das Ver-moumlgen zu tun oder zu leiden70 Die Erforschung der Seele als Seiendesverlangt daher die Frage nach ihrer Kraft und ihrem Vermoumlgen (Lg892a2f) Der Gast aus Athen bezieht sich stets auf die δύναμις-Ontolo-

67 Der Athener kann noch nicht die gute Seele als goumlttlich charakterisierenDas Argument hat noch nicht die Goumlttlichkeit der Seele bewiesen

68 Der kreative Charakter der Dialektik ermoumlglicht mehr als eine richtige Ein-teilung Zu diesem Aspekt s Plt 286d-e und Delcomminettes Monographie

69 Anders als Taylor der den Uumlbergang von 896e2 zu e4 durch die Praumlmisseder Aktualitaumlt des Guten und Schlechten in der gegenwaumlrtigen Welt verhilft (TheLaws S 289 Anm 1) sehe ich keinen Eintritt eines a posteriori Arguments adhoc Alles bisherige entnimmt der Athener der allgemeinen Seelenlehre

26 Georgia Mouroutsou

gie des Phaidros sowie des Sophistes Er stellt die Frage was die Seele istund was fuumlr ein Vermoumlgen sie hat οἷόν τε ὂν τυγχάνει καὶ δύναμιν ἣνἔχει71

Obwohl die Frage nach dem Tun (ποιεῖν) oder Leiden (πάσχειν) derSeele als δύναμις nicht explizit gestellt wird72 bringt ihre Definition alsSelbstbewegung ein gleichzeitiges Tun (als Bewegen) und Leiden (alsBewegtwerden) zum Ausdruck73 Die Seele ist die Kraft die sich selbstund anderes bewegt74 Die Definition der Seele als Selbstbewegung kannentweder als Aktivitaumlt oder Passivitaumlt ausgedruumlckt werden Die Seele be-wegt sich selbst und wird von sich selbst bewegt Ein gleichzeitiges Tunund Leiden das aber nicht das gleiche Seiende verursacht geschieht beikoumlrperlicher Bewegung Ein Koumlrper mag auf einen anderen Koumlrper wir-ken und zu gleicher Zeit kann er von einer Seele oder einem anderenKoumlrper bewegt werden aber nicht von sich selbst75

Platon gibt die Definition der Seele in ihrer Allgemeinheit d hunabhaumlngig von ihren moumlglichen Manifestationen in konkretenLebewesen Alles was Seele ist soll Selbstbewegung sein mag es sichum die Seele des Menschen oder des Tieres oder der Pflanze handelnWeil die individuellen Manifestationen der Seele nicht beruumlcksichtigtwerden fehlt bei der Formel der Definition τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴνκινεῖν κίνησιν (896a1f) auch der Bezug auf den Koumlrper den die jeweiligekonkrete Seele beseelt Im Falle der Absenz der Materie in einer Defini-

70 Der Vorschlag des Gastes aus Elea in Sph 247d-e wird nicht allgemein alsPlatons Vorschlag uumlber Ontologie gedeutet Sehr haumlufig beschraumlnken Exegetendas Seiende als δύναμις auf die ad loc Argumentation gegen die MaterialistenAuch wenn dieses Argument als Platons Argument charakterisiert wird bleibtes sehr umstritten ob es eine allgemeine Ontologie betrifft (Brown) oder in eineOntologie der Ideen einmuumlndet (Gerson Politis) Darauf gehe ich hier nicht ein

71 Lg 892a3 vgl Lg 894b8-c1 und 896a1f72 Der Athener bezieht sich auf Tun und Leiden nur in 894c5f und meint

wahrscheinlich sowohl Seelisches als auch Koumlrperliches mit dem die Seele har-monisiert

73 In Lg 894b8-c1 und 896a1f beantwortet der Athener seine Frage nach derArt des Vermoumlgens mit dem die Seele ausgestattet ist Der gesamteZusammenhang verbindet die Frage nach dem Wesen eines Seienden mit derFrage nach seinem Vermoumlgen

74 Lg 893c4f75 Gaiser fuumlhrt den Ausgleich zwischen Passivitaumlt und Aktivitaumlt in der selbst-

bewegenden Seele auf das Zusammenwirken der zwei platonischen Prinzipienzuruumlck (Platons Ungeschriebene Lehre S 195f)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 27

tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

28 Georgia Mouroutsou

Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

30 Georgia Mouroutsou

tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 31

welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

32 Georgia Mouroutsou

zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

34 Georgia Mouroutsou

Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

40 Georgia Mouroutsou

werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

42 Georgia Mouroutsou

abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 19

Die Bewegung ist hier als Wechsel und Veraumlnderung (μεταβολή) in ih-ren weitesten Sinn zu verstehen seien sie im Raum in Bezug auf dieSubstanz die Qualitaumlt oder die Quantitaumlt Der Uumlbergang findet zwi-schen Gegensaumltzen statt Die ersten Paare von Gegensaumltzen die derAthener vor der Verallgemeinerung in 897d7 anspricht sind Ver-bindungen und Trennungen Wachstum und Schwund sowie Prozessedes Wedens und Vergehens (894b10f) Die Seele zeigt sich als dieUrsache von aller Art koumlrperlicher Veraumlnderung Wenn eine Seele einenWechsel von einem schlechten zu einem guten Zustand verursacht dannist diese Seele in sich selbst gut Wenn eine Seele einen schlechtenEinfluss auf einen Zustand uumlbt dann ist sie dafuumlr verantwortlich Es istbemerkenswert dass der Gegensatz zwischen sbquogutlsquo und sbquoschlechtlsquo nichtauf die Unterscheidung zwischen sbquoSeelelsquo und sbquoKoumlrperlsquo oder diejenigezwischen sbquoseelischer Bewegunglsquo und sbquokoumlrperlicher Bewegunglsquo zu-ruumlckgefuumlhrt wird Der Koumlrper kann nicht als schlecht charakterisiertwerden weil nach dem spaumlten Platon der Koumlrper qua Koumlrper weder gutnoch schlecht in sich selbst ist

Wenn die Seele die Ursache von allem ist so der Athener dann musssie die Ursache von allen Gegensaumltzen sein einschlieszliglich des Bereichsder Ethik Die gleichen Gegensatzspaare von sbquogut und schlecht schoumlnund haumlszliglich sowie gerecht und ungerechtlsquo tauchen in Euthph 7c10ff alsder Zankapfel der menschlichen Debatten auf die vor Gericht gefuumlhrtwerden koumlnnen Auch in Grg 459d1ff gehoumlren sie zur rhetorischenKunst die kein Wissen daruumlber erwerben kann In Plt 296c5-7 erfahrenwir dass ein Irrtum im Rahmen der politischen Kunst das Schaumlndlichedas Schlechte und das Ungerechte verursacht Was der Rhetor verfehltweiszlig der Staatsmann Der goumlttliche Teil der menschlichen Seele mag einewahre Meinung uumlber Schoumlnes Gutes und Gerechtes stiften (Plt 309c5-8)

Indem die Seele fuumlr alle moumlglichen koumlrperlichen Veraumlnderungen ver-antwortlich gemacht wird gelangen wir in unserem Zusammenhang zuder Seele als der primaumlren Ursache auch des Schlechten und nichtaufgrund der Frage woher das Schlechte komme Der Athener machtnirgends explizit dass er die Seele als die einzige Ursache des Schlechtensei Bedenken sollte daher gegen Englands Beobachtung geaumluszligert wer-den in 896d5 werde die Frage nach dem Uumlbel eingefuumlhrt und insbe-

50 Lg 894c6f raquoκαλουμένην δὲ ὄντως τῶν ὄντων πάντων μεταβολὴν καὶκίνησινlaquo

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sondere gegen seine Folgerung lsquoHaving identified ψυχή with the αἰτίαἀγαθοῦ τε καὶ κακοῦ he is bound to talk of the αἰτία κακοῦ as ψυχήrsquo51

Auf das seelische Uumlbel konzentriert sich hier der Athener Verabsolutie-rende Konklusionen uumlber das Uumlbel schlechthin sind daher der Ge-spraumlchssituation nicht zu entnehmen Jedenfalls waumlre der bestimmte Ar-tikel noumltig vor αἰτίαν (sowohl in 896d6 als auch in d8)

Der Athener zielt darauf die Natur der Seele als die Ursache von allenGegensaumltzen auszulotten und fuumlhrt dann das Feld der menschlichenEthik ein ohne seinen Uumlbergang oder eher seine Einschraumlnkung zu er-klaumlren52 Die konkrete politische Situation in den Gesetzen bietet eineplausible Erklaumlrung fuumlr diesen Uumlbergang von der Seele qua Seele zurmenschlichen Seele Die Buumlrger von Magnesia sollten ihre Machtwahrnehmen sowohl zum Guten als auch zum Schlechten beizutragenAuszligerdem sollten sie die Verantwortung ihrer politischen Taumltigkeit ineinem kosmischen All uumlbernehmen das von einer guten Seele verwaltetwird Die primaumlre Ursache der Bewegung ist die Seele Beinahe waumlre dieSeele als Selbst-Bewegung ie ihre absolute Spontaneitaumlt als Bedingungihrer moralischen Verantwortung zum ersten Mal in der Geschichte derPhilosophie vorgekommen haumltte Platon diese Verbindung ausbuch-stabiert53

Eine Art Anthropozentrismus kommt in den spaumlteren platonischenSchriften vor Die Entscheidung ob wir dieses Konzept einer philoso-

51 Platorsquos Laws S 474 Auf aumlhnliche Weise auch Carone Evil and Teleology S295 Anm41

52 Mayhew argumentiert seinerseits dass es nicht darum gehe dass die Seeledie Ursache aller Dinge und daher sowohl schlechter wie guter Dinge sei DerInterpret meint die Seele sei fruumlher als der Koumlrper und in dieser Weise das Seeli-sche ndash einschlieszliglich der Moral ndash entsprechend fruumlher als das Koumlrperliche (PlatoLaws X S 131) Dennoch liegt die Pointe meines Erachtens nicht darin eineneingegrenzten Bereich ndash den der Ethik ndash anzusprechen sondern das Wesen derSeele als Ursache aller Gegensaumltze auszubuchstabieren was wiederum nichtheiszligt man sollte den Bereich der Moral voumlllig leugnen wie es Raphael Demostut lsquo[hellip] the soul is non-moral apt for both good and evil and so far forth inde-terminatersquo (Demosrsquo Hervorhebung Platorsquos Doctrine of the Psyche as a Self-Moving Motion In Journal of History of Philosophy (1968) S 133-145 HierS136)

53 Vgl Horn Christoph Der Begriff der Selbstbewegung bei Alkmaion undPlaton In Rechenauer Georg (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen2005 S 152-173 bes S 168ff und Baumgarten Hans-Ulrich Handlungstheoriebei Platon Platon auf dem Weg zum Willen Stuttgart 1998 S 241-264

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 21

phischen Kritik unterziehen sollten oden nicht mag hier dahingestelltbleiben Mit dem sbquoAnthropozentrismuslsquo bei Platon meine ich dass dasErschaffen des Weltalls auf der Basis einer Teleologie geschieht die aufden Menschen und seinen Beduumlrfnissen zentriert ist Man mag denTimaios heranziehen Der Anthropozentrismus scheint sich durch denganzen Monolog durchzusetzen in dem Timaios auf das Schaffen desMannes fokussiert ist Gemaumlszlig der Lehre der Wiedergeburt sind Frauenund Tiere schlechtere Formen von Lebewesen Es gibt zwei Passagendie als besonders anthropozentrisch gepraumlgt vorkommen Zum erstensind die Pflanzen um der Ernaumlhrung der sterblichen Lebewesen willengeschaffen worden (77e7-b1) Zum zweiten schafft der Demiurg dieuumlber das ganze All scheinende Sonne damit die dementsprechend aus-geruumlsteten Lebewesen an der Zahl teilnehmen nachdem sie von derBeobachtung der kosmischen Bewegung viel gelernt haben (39b2-c1)Um der Menschen und der Kultivierung der Philosophie willen schafftGott die Sonne und ermoumlglicht die Wahrnehmung der Sicht Dank desStudiums der himmlischen Bewegungen koumlnnen wir nach der Natur derZeit und des Alls fragen Auf diese Weise duumlrfen wir hoffen unsere ge-stoumlrte Bewegung der Vernunft der ungestoumlrten Bahn der kosmischenVernunft zu assimilieren (46e-47c 90c-d)

Wir haben die Kritik an der Einschraumlnkung im moralischen Bereichwiderlegt indem wir unseren unmittelbaren sowie weiteren Kontextberuumlcksichtigten Wegen des Fokuses auf den menschlichen Bereich unddie menschliche Seele geht die allgemeine Frage der Seele qua Seele nichtverloren Der Hintergrund der jetzigen Diskussion bleibt dieseallgemeine Fragestellung obgleich die menschliche Seele diejenige istdie sich gemaumlszlig der Vernunft oder gegen die Vernunft verhaumllt (897b1-5)Wir sollten die Unterscheidung zwischen weiteren kosmischen undmenschlichen Dimensionen bewahren wenn auch der spaumlte Platon denkosmischen Zusammenhang auf eine anthropozentrische oder sogar an-thropomorphische Weise beschreibt54 Es waumlre weder gerechtfertigtnoch legitim dass die Untersuchung uumlber die menschliche Seelediejenige uumlber die Seele qua Seele dominieren oder ausschoumlpfen wuumlrde

54 Zur Zentrierung des kosmischen Alls auf dem menschlichen Leben bei spauml-tem Platon s Carone Evil and Teleology S 296

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v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6

Von der allgemeinen Seelenlehre und der Seele qua Seele die bis dahindas Untersuchungsobjekt bildete gelangt der Athener jetzt zu einer be-sonderen Seele zur Weltseele Der Blickwechsel den der Athener imBereich seiner Betrachtung vollzieht sollte im Rahmen der platonischenSpaumltdialoge in denen Ontologie und Seelenlehre haumlufig in Kosmologiemuumlnden kein Erstaunen hervorrufen Als zwei Beispiele dafuumlr koumlnnender kosmologische Exkurs im Philebos (s oben Abschnitt I) und derUumlbergang von ψυχὴ πᾶσα (alles was Seele ist) zur Weltseele im Phaidros(245c5-246a2) gelten Was uumlber die Seele qua Seele gesagt wurde sollteauch im Fall der Weltseele Guumlltigkeit haben

raquoUnd weil die Seele in allem waltet und wohnt was sich auf ir-gendeine Weise bewegt muumlssen wir etwa nicht sagen dass sie auch denHimmel durchwaltelaquo55

Auf seine nur scheinbar unvermittelte und ploumltzliche Frage56 antwor-tet der Athener selbst

raquoEine oder mehrere Seelen Mehrere Ich werde fuumlr Euch antwortendass wir nicht weniger als zwei ansetzen sollten naumlmlich diejenige diedas Gute vervollkommnet und diejenige die faumlhig ist Entgegengesetztesdurchzufuumlhrenlaquo57

Dass der Athener im Namen seiner Gespraumlchspartner antwortet be-trachte ich als kein ausschlaggebendes Argument gegen die Realitaumlt einersbquoschlechten Weltseelersquo58 weil er sich noch auf die Seele qua Seele bezieht

55 Lg 896d10-e2 raquoΨυχὴν δὴ διοικοῦσαν καὶ ἐνοικοῦσαν ἐν ἅπασιν τοῖς πάντῃκινουμένοις μῶν οὐ καὶ τὸν οὐρανὸν ἀνάγκη διοικεῖν φάναιlaquo

56 Wilamowitz charakterisiert diese Frage zu Unrecht als sbquohereingeschneitlsquo(Platon II S 316) wogegen sich Kerschensteiner einsetzt (Platon und der Ori-ent S 73)

57 Lg 896e4-6 raquoΜίαν ἢ πλείους πλείους ἐγὼ ὑπέρ σφῷν ἀποκρινούμαι Δυοῖνμέν γέ που ἔλαττον μηδὲν τιθῶμεν τῆς τε εὐεργέτιδος καὶ τῆς τἀναντία δυναμένηςἐξεργάζεσθαιlaquo

58 Vgl Apelt Platons Gesetze S 539 Anm 48

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 23

Ist die Seele die das All verwaltet eine oder mehrere Haumltte Platon indi-viduelle Seelen ohne Bezug auf einen generellen Terminus sbquoSeelelsquo auf-zaumlhlen wollen haumltte er von mehr als zwei Seelen gesprochen Die Frageist sehr oft als Frage nach zwei Weltseelen verstanden worden Koumlnnteder Athener nicht die allgemeine Lehre der Seele qua Seele verlassen umsich auf die zwei partikulaumlren Weltseelen zu beziehen Dies haumltte derFall sein koumlnnen wenn die Weltseele mit Realitaumlt ausgestattet waumlre wassich aber nicht so verhaumllt Die oben genannte Frage kann nur die Seelequa Seele betreffen

Obgleich er haumlufig uumlberhoumlrt wird sollte der oben angewendete Dual beruumlcksichtigt werden weil er gegen ein Verstaumlndnis von zwei von-einander getrennten entgegengesetzten Seelen plaumldiert59 Auszliger demDual in 896e5 uumlberhoumlrt die Mehrheit der Interpreten hier noch etwasEntscheidendes Die der wohltaumltigen Seele entgegensetzte ist nicht eineeinfachhin und ohne Weiteres sbquoschlechte Seelersquo60 sondern die Seele raquodieimstande ist das Gegenteil zu bewirkenlaquo Genau in diesem Punkt uumlber-schneiden sich die allgemeine Seelenlehre nach der die Seele qua SeeleSelbstbewegung ist und als solche gut oder schlecht sein kann und diespezielle Lehre uumlber die kosmische Seele die ebenfalls qua Seele in derLage ist gut oder schlecht zu sein Deswegen sollten wir die Rede vonδύναμις in unserer Uumlbersetzung von sbquoτἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαιlsquo(Lg 896e6)61 nicht vernachlaumlssigen Die sbquoschlechte Seelelsquo wird nicht alseine bloszlige Privation der guten Seele eingefuumlhrt sondern als mit ihrereigenen Macht (δύναμις) ausgestattet Schlechtes zu bewirken62 als einenegative und destruktive Macht63

Wir sind dabei weit enfernt δύνασθαι mit einer aristotelischen sbquoerstenMoumlglichkeitlsquo zu identifizieren um die Ausscheidung einer schlechten

59 raquoDie Sprache hat die Dualform geschaffen nicht etwa um den Begriff derZahl zwei sondern um den Begriff der Zweiheit der paarweisenZusammengehoumlrigkeit auszudruumlckenlaquo (Wilhelm von Humboldt Uumlber denDualis Berlin 1828 S 18) Erst nach Platon als das Sprachgefuumlhl fuumlr die eigent-liche Bedeutung der Sprachformen an Lebendigkeit nachlieszlig bedeutete der Dualnicht selten den bloszligen Begriff sbquozweilsquo wobei die wahre und urspruumlngliche Naturdes Duals sich darin zeigt dass er entweder auf paarweise in der Natur verbun-dene Gegenstaumlnde angewendet wird oder auf solche welche in einer engen undgegenseitigen Beziehung gedacht werden (vgl Kuumlhner Raphael und FriedrichBlass Ausfuumlhrliche Grammatik der griechischen Sprache Zweiter Teil Satz-lehre Erster Teil Darmstadt 31966 S 69

60 Er spricht nur spaumlter von einer sbquoschlechten Seelersquo (897d1 vgl 898c4f)

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Weltseele schon in den oberen Zeilen zu finden Nach dieser Lektuumlrewaumlre die zweite Art von Seele nur imstande Schlechtes durchzufuumlhrenaber wuumlrde nicht tatsaumlchlich so etwas tun Waumlre das der Fall warumsollte der Athener uumlberhaupt erst zwischen zwei Arten von Seele unter-scheiden In einem Kontext wo die Staumlrke die praktische Macht sowieEffizienz und Dominanz der Seele uumlberwiegen64 ist die Option einersbquoersten Moumlglichkeitlsquo keine gelungene Annahme65 Nur in dem Fall desgoumlttlichen Demiurgen koumlnnten wir eine solche sbquoerste Moumlglichkeitlsquo an-wenden die sich nie wirklich durchsetzen wird Trotz seiner Faumlhigkeites zu tun ist der Demiurg nicht bereit die guten Mischungen aufzuloumlsenund die kosmische Ordnung zugrunde zu richten Das Konzept einesDemiurgen der faumlhig ist beides zu tun sowohl Gutes als auch Schlech-tes ist fuumlr Platon undenkbar weil Gott wesentlich gut ist66 Zu-gegebenermaszligen waumlre es zu weitreichend all das in 896e5f hineinzule-sen und die zweite Art der Seele mit dem goumlttlichen Demiurgen zuidentifizieren

61 Der δύναμις-Aspekt geht verloren bei Plutarch der stattdessen von der gutwirkenden und der entgegengesetzten Seele spricht die das Gegenteil vollbringtDe Is Et Osir 370F4-6 raquoὧν τὴν μὲν ἀγαθουργόν εἶναι τὴν δrsquo ἐναντίαν ταύτῃ καὶτῶν ἐναντίων δημιουργόνlaquo Den wichtigen Bezug auf δύναμις verpassen Jowettlsquoone the author of good and the other of the evilrsquo (The Dialogues of Plato S466) sowie Grube Platorsquos Thought lsquoone that does good and one that does evilrsquo(Platorsquos Thought S 146)

Brisson spricht von der Neutralitaumlt der Seele die faumlhig ist gut oder schlecht zusein (Vernunft Natur und Gesetz im zehnten Buch von Platons Gesetzen InHavlicek Ales (Hrsg) The Republic and the Laws of Plato Proceedings of theFirst Symposium Plato Symposium Platonicum Pragense 1 (1997) S 182-200Hier S189) ohne diese Textstelle heranzuziehen

62 Das Verb ist sbquoἐξεργάζεσθαιlsquo das nicht nur das Schlechte bewirken sondern esauch vollenden heiszligt (vgl ἔργον sowohl in als auch in ἐξεργάζεσθαι)

63 Vgl Dillons allgemeine Folgerung uumlber das ontologische Problem desSchlechten bei Platon (Monist and Dualist Tendencies S 11) Der Fall einerschlechten Seele die nicht als Privation der guten Seele vorkommt sondern alsraquofaumlhig Schlechtes zu vollendenlaquo unterstuumltzt Dillons Konklusion dass diesbquoschlechte Seelelsquo eine negative zerstoumlrende Macht sei

64 Vgl die Charakterisierung der Seele in 894d1f 895b665 Dank der Beobachtung von David Sedley wurde es mir klar dass ich

unabsichtlich eine aristotelsiche sbquoerste Potenzialitaumltlsquo in einer fruumlheren Versionvorgeschlagen hatte

66 Vgl oben Fuszlignote 7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 25

Bevor wir zur allgemeinen platonischen Psychologie uumlbergehen er-waumlgen wir eine zweite moumlgliche Unterscheidung der Seele in 896e4-6Bis jetzt habe ich die Distinktion zwischen guter und schlechter Seele alsselbstverstaumlndlich betrachtet Eine vorsichtigere Lektuumlre ermoumlglicht einezweite Option naumlmlich die Unterscheidung zwischen derwohlwollenden Seele die immer das Gute vollendet und derjenigen diefaumlhig ist entgegengesetzte Dinge (Plural) durchzufuumlhren sowohl Gutesals auch Schlechtes (τῆς τἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαι) Die ersteSeele kann keine andere als die goumlttliche sein67 Fuumlr die zweite Seele istder einzige Kandidat die menschliche Seele Auszligerdem wuumlrde die Seeleder Tiere unter die Seele fallen die sowohl Gutes als auch Schlechtestun kann weil sie einen logischen Teil beinhaltet auch wenn deformiertDas Goumlttliche ist immer gut Die Pflanzen moumlgen gut sein insofern siein eine globale Teleologie integriert sind Sie wuumlrden aber nie als faumlhigcharakterisiert etwas Gutes oder noch weniger etwas Schlechtes zutun noch wuumlrden sie die Verantwortung fuumlr die herbeigefuumlhrten gutenoder schlechten Wirkungen tragen Wenn diese Lektuumlre als die einzigemoumlgliche aufgewiesen werden koumlnnte wuumlrden wir mit Sicherheit dieFrage nach der schlechten Seele auf spaumlter verschieben68

Wie es auch sein mag befinden wir uns noch im Rahmen derallgemeinen Lehre der Seele qua Seele als Selbstbewegung Die kosmi-sche Seele ist in 896e1f aufgetaucht aber die Unterscheidung zwischender guten und der schlechten Seele oder der goumlttlichen und men-schlichen Seele wird auf einer allgemeinen Ebene gezogen69 Obgleichder Athener nicht die theorethischen Anspruumlche des Sophistes erhebtsetzt er die allgemeine platonische Ontologie voraus dergemaumlszlig dasSeiende qua Seiendes δύναμις sei Das Kriterium fuumlr alles was Seiendesist sei es Intelligibles oder Koumlrperliches Koumlrper oder Seele ist das Ver-moumlgen zu tun oder zu leiden70 Die Erforschung der Seele als Seiendesverlangt daher die Frage nach ihrer Kraft und ihrem Vermoumlgen (Lg892a2f) Der Gast aus Athen bezieht sich stets auf die δύναμις-Ontolo-

67 Der Athener kann noch nicht die gute Seele als goumlttlich charakterisierenDas Argument hat noch nicht die Goumlttlichkeit der Seele bewiesen

68 Der kreative Charakter der Dialektik ermoumlglicht mehr als eine richtige Ein-teilung Zu diesem Aspekt s Plt 286d-e und Delcomminettes Monographie

69 Anders als Taylor der den Uumlbergang von 896e2 zu e4 durch die Praumlmisseder Aktualitaumlt des Guten und Schlechten in der gegenwaumlrtigen Welt verhilft (TheLaws S 289 Anm 1) sehe ich keinen Eintritt eines a posteriori Arguments adhoc Alles bisherige entnimmt der Athener der allgemeinen Seelenlehre

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gie des Phaidros sowie des Sophistes Er stellt die Frage was die Seele istund was fuumlr ein Vermoumlgen sie hat οἷόν τε ὂν τυγχάνει καὶ δύναμιν ἣνἔχει71

Obwohl die Frage nach dem Tun (ποιεῖν) oder Leiden (πάσχειν) derSeele als δύναμις nicht explizit gestellt wird72 bringt ihre Definition alsSelbstbewegung ein gleichzeitiges Tun (als Bewegen) und Leiden (alsBewegtwerden) zum Ausdruck73 Die Seele ist die Kraft die sich selbstund anderes bewegt74 Die Definition der Seele als Selbstbewegung kannentweder als Aktivitaumlt oder Passivitaumlt ausgedruumlckt werden Die Seele be-wegt sich selbst und wird von sich selbst bewegt Ein gleichzeitiges Tunund Leiden das aber nicht das gleiche Seiende verursacht geschieht beikoumlrperlicher Bewegung Ein Koumlrper mag auf einen anderen Koumlrper wir-ken und zu gleicher Zeit kann er von einer Seele oder einem anderenKoumlrper bewegt werden aber nicht von sich selbst75

Platon gibt die Definition der Seele in ihrer Allgemeinheit d hunabhaumlngig von ihren moumlglichen Manifestationen in konkretenLebewesen Alles was Seele ist soll Selbstbewegung sein mag es sichum die Seele des Menschen oder des Tieres oder der Pflanze handelnWeil die individuellen Manifestationen der Seele nicht beruumlcksichtigtwerden fehlt bei der Formel der Definition τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴνκινεῖν κίνησιν (896a1f) auch der Bezug auf den Koumlrper den die jeweiligekonkrete Seele beseelt Im Falle der Absenz der Materie in einer Defini-

70 Der Vorschlag des Gastes aus Elea in Sph 247d-e wird nicht allgemein alsPlatons Vorschlag uumlber Ontologie gedeutet Sehr haumlufig beschraumlnken Exegetendas Seiende als δύναμις auf die ad loc Argumentation gegen die MaterialistenAuch wenn dieses Argument als Platons Argument charakterisiert wird bleibtes sehr umstritten ob es eine allgemeine Ontologie betrifft (Brown) oder in eineOntologie der Ideen einmuumlndet (Gerson Politis) Darauf gehe ich hier nicht ein

71 Lg 892a3 vgl Lg 894b8-c1 und 896a1f72 Der Athener bezieht sich auf Tun und Leiden nur in 894c5f und meint

wahrscheinlich sowohl Seelisches als auch Koumlrperliches mit dem die Seele har-monisiert

73 In Lg 894b8-c1 und 896a1f beantwortet der Athener seine Frage nach derArt des Vermoumlgens mit dem die Seele ausgestattet ist Der gesamteZusammenhang verbindet die Frage nach dem Wesen eines Seienden mit derFrage nach seinem Vermoumlgen

74 Lg 893c4f75 Gaiser fuumlhrt den Ausgleich zwischen Passivitaumlt und Aktivitaumlt in der selbst-

bewegenden Seele auf das Zusammenwirken der zwei platonischen Prinzipienzuruumlck (Platons Ungeschriebene Lehre S 195f)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 27

tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

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Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

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tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 31

welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

32 Georgia Mouroutsou

zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

34 Georgia Mouroutsou

Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

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werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

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abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

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ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

20 Georgia Mouroutsou

sondere gegen seine Folgerung lsquoHaving identified ψυχή with the αἰτίαἀγαθοῦ τε καὶ κακοῦ he is bound to talk of the αἰτία κακοῦ as ψυχήrsquo51

Auf das seelische Uumlbel konzentriert sich hier der Athener Verabsolutie-rende Konklusionen uumlber das Uumlbel schlechthin sind daher der Ge-spraumlchssituation nicht zu entnehmen Jedenfalls waumlre der bestimmte Ar-tikel noumltig vor αἰτίαν (sowohl in 896d6 als auch in d8)

Der Athener zielt darauf die Natur der Seele als die Ursache von allenGegensaumltzen auszulotten und fuumlhrt dann das Feld der menschlichenEthik ein ohne seinen Uumlbergang oder eher seine Einschraumlnkung zu er-klaumlren52 Die konkrete politische Situation in den Gesetzen bietet eineplausible Erklaumlrung fuumlr diesen Uumlbergang von der Seele qua Seele zurmenschlichen Seele Die Buumlrger von Magnesia sollten ihre Machtwahrnehmen sowohl zum Guten als auch zum Schlechten beizutragenAuszligerdem sollten sie die Verantwortung ihrer politischen Taumltigkeit ineinem kosmischen All uumlbernehmen das von einer guten Seele verwaltetwird Die primaumlre Ursache der Bewegung ist die Seele Beinahe waumlre dieSeele als Selbst-Bewegung ie ihre absolute Spontaneitaumlt als Bedingungihrer moralischen Verantwortung zum ersten Mal in der Geschichte derPhilosophie vorgekommen haumltte Platon diese Verbindung ausbuch-stabiert53

Eine Art Anthropozentrismus kommt in den spaumlteren platonischenSchriften vor Die Entscheidung ob wir dieses Konzept einer philoso-

51 Platorsquos Laws S 474 Auf aumlhnliche Weise auch Carone Evil and Teleology S295 Anm41

52 Mayhew argumentiert seinerseits dass es nicht darum gehe dass die Seeledie Ursache aller Dinge und daher sowohl schlechter wie guter Dinge sei DerInterpret meint die Seele sei fruumlher als der Koumlrper und in dieser Weise das Seeli-sche ndash einschlieszliglich der Moral ndash entsprechend fruumlher als das Koumlrperliche (PlatoLaws X S 131) Dennoch liegt die Pointe meines Erachtens nicht darin eineneingegrenzten Bereich ndash den der Ethik ndash anzusprechen sondern das Wesen derSeele als Ursache aller Gegensaumltze auszubuchstabieren was wiederum nichtheiszligt man sollte den Bereich der Moral voumlllig leugnen wie es Raphael Demostut lsquo[hellip] the soul is non-moral apt for both good and evil and so far forth inde-terminatersquo (Demosrsquo Hervorhebung Platorsquos Doctrine of the Psyche as a Self-Moving Motion In Journal of History of Philosophy (1968) S 133-145 HierS136)

53 Vgl Horn Christoph Der Begriff der Selbstbewegung bei Alkmaion undPlaton In Rechenauer Georg (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen2005 S 152-173 bes S 168ff und Baumgarten Hans-Ulrich Handlungstheoriebei Platon Platon auf dem Weg zum Willen Stuttgart 1998 S 241-264

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 21

phischen Kritik unterziehen sollten oden nicht mag hier dahingestelltbleiben Mit dem sbquoAnthropozentrismuslsquo bei Platon meine ich dass dasErschaffen des Weltalls auf der Basis einer Teleologie geschieht die aufden Menschen und seinen Beduumlrfnissen zentriert ist Man mag denTimaios heranziehen Der Anthropozentrismus scheint sich durch denganzen Monolog durchzusetzen in dem Timaios auf das Schaffen desMannes fokussiert ist Gemaumlszlig der Lehre der Wiedergeburt sind Frauenund Tiere schlechtere Formen von Lebewesen Es gibt zwei Passagendie als besonders anthropozentrisch gepraumlgt vorkommen Zum erstensind die Pflanzen um der Ernaumlhrung der sterblichen Lebewesen willengeschaffen worden (77e7-b1) Zum zweiten schafft der Demiurg dieuumlber das ganze All scheinende Sonne damit die dementsprechend aus-geruumlsteten Lebewesen an der Zahl teilnehmen nachdem sie von derBeobachtung der kosmischen Bewegung viel gelernt haben (39b2-c1)Um der Menschen und der Kultivierung der Philosophie willen schafftGott die Sonne und ermoumlglicht die Wahrnehmung der Sicht Dank desStudiums der himmlischen Bewegungen koumlnnen wir nach der Natur derZeit und des Alls fragen Auf diese Weise duumlrfen wir hoffen unsere ge-stoumlrte Bewegung der Vernunft der ungestoumlrten Bahn der kosmischenVernunft zu assimilieren (46e-47c 90c-d)

Wir haben die Kritik an der Einschraumlnkung im moralischen Bereichwiderlegt indem wir unseren unmittelbaren sowie weiteren Kontextberuumlcksichtigten Wegen des Fokuses auf den menschlichen Bereich unddie menschliche Seele geht die allgemeine Frage der Seele qua Seele nichtverloren Der Hintergrund der jetzigen Diskussion bleibt dieseallgemeine Fragestellung obgleich die menschliche Seele diejenige istdie sich gemaumlszlig der Vernunft oder gegen die Vernunft verhaumllt (897b1-5)Wir sollten die Unterscheidung zwischen weiteren kosmischen undmenschlichen Dimensionen bewahren wenn auch der spaumlte Platon denkosmischen Zusammenhang auf eine anthropozentrische oder sogar an-thropomorphische Weise beschreibt54 Es waumlre weder gerechtfertigtnoch legitim dass die Untersuchung uumlber die menschliche Seelediejenige uumlber die Seele qua Seele dominieren oder ausschoumlpfen wuumlrde

54 Zur Zentrierung des kosmischen Alls auf dem menschlichen Leben bei spauml-tem Platon s Carone Evil and Teleology S 296

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v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6

Von der allgemeinen Seelenlehre und der Seele qua Seele die bis dahindas Untersuchungsobjekt bildete gelangt der Athener jetzt zu einer be-sonderen Seele zur Weltseele Der Blickwechsel den der Athener imBereich seiner Betrachtung vollzieht sollte im Rahmen der platonischenSpaumltdialoge in denen Ontologie und Seelenlehre haumlufig in Kosmologiemuumlnden kein Erstaunen hervorrufen Als zwei Beispiele dafuumlr koumlnnender kosmologische Exkurs im Philebos (s oben Abschnitt I) und derUumlbergang von ψυχὴ πᾶσα (alles was Seele ist) zur Weltseele im Phaidros(245c5-246a2) gelten Was uumlber die Seele qua Seele gesagt wurde sollteauch im Fall der Weltseele Guumlltigkeit haben

raquoUnd weil die Seele in allem waltet und wohnt was sich auf ir-gendeine Weise bewegt muumlssen wir etwa nicht sagen dass sie auch denHimmel durchwaltelaquo55

Auf seine nur scheinbar unvermittelte und ploumltzliche Frage56 antwor-tet der Athener selbst

raquoEine oder mehrere Seelen Mehrere Ich werde fuumlr Euch antwortendass wir nicht weniger als zwei ansetzen sollten naumlmlich diejenige diedas Gute vervollkommnet und diejenige die faumlhig ist Entgegengesetztesdurchzufuumlhrenlaquo57

Dass der Athener im Namen seiner Gespraumlchspartner antwortet be-trachte ich als kein ausschlaggebendes Argument gegen die Realitaumlt einersbquoschlechten Weltseelersquo58 weil er sich noch auf die Seele qua Seele bezieht

55 Lg 896d10-e2 raquoΨυχὴν δὴ διοικοῦσαν καὶ ἐνοικοῦσαν ἐν ἅπασιν τοῖς πάντῃκινουμένοις μῶν οὐ καὶ τὸν οὐρανὸν ἀνάγκη διοικεῖν φάναιlaquo

56 Wilamowitz charakterisiert diese Frage zu Unrecht als sbquohereingeschneitlsquo(Platon II S 316) wogegen sich Kerschensteiner einsetzt (Platon und der Ori-ent S 73)

57 Lg 896e4-6 raquoΜίαν ἢ πλείους πλείους ἐγὼ ὑπέρ σφῷν ἀποκρινούμαι Δυοῖνμέν γέ που ἔλαττον μηδὲν τιθῶμεν τῆς τε εὐεργέτιδος καὶ τῆς τἀναντία δυναμένηςἐξεργάζεσθαιlaquo

58 Vgl Apelt Platons Gesetze S 539 Anm 48

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 23

Ist die Seele die das All verwaltet eine oder mehrere Haumltte Platon indi-viduelle Seelen ohne Bezug auf einen generellen Terminus sbquoSeelelsquo auf-zaumlhlen wollen haumltte er von mehr als zwei Seelen gesprochen Die Frageist sehr oft als Frage nach zwei Weltseelen verstanden worden Koumlnnteder Athener nicht die allgemeine Lehre der Seele qua Seele verlassen umsich auf die zwei partikulaumlren Weltseelen zu beziehen Dies haumltte derFall sein koumlnnen wenn die Weltseele mit Realitaumlt ausgestattet waumlre wassich aber nicht so verhaumllt Die oben genannte Frage kann nur die Seelequa Seele betreffen

Obgleich er haumlufig uumlberhoumlrt wird sollte der oben angewendete Dual beruumlcksichtigt werden weil er gegen ein Verstaumlndnis von zwei von-einander getrennten entgegengesetzten Seelen plaumldiert59 Auszliger demDual in 896e5 uumlberhoumlrt die Mehrheit der Interpreten hier noch etwasEntscheidendes Die der wohltaumltigen Seele entgegensetzte ist nicht eineeinfachhin und ohne Weiteres sbquoschlechte Seelersquo60 sondern die Seele raquodieimstande ist das Gegenteil zu bewirkenlaquo Genau in diesem Punkt uumlber-schneiden sich die allgemeine Seelenlehre nach der die Seele qua SeeleSelbstbewegung ist und als solche gut oder schlecht sein kann und diespezielle Lehre uumlber die kosmische Seele die ebenfalls qua Seele in derLage ist gut oder schlecht zu sein Deswegen sollten wir die Rede vonδύναμις in unserer Uumlbersetzung von sbquoτἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαιlsquo(Lg 896e6)61 nicht vernachlaumlssigen Die sbquoschlechte Seelelsquo wird nicht alseine bloszlige Privation der guten Seele eingefuumlhrt sondern als mit ihrereigenen Macht (δύναμις) ausgestattet Schlechtes zu bewirken62 als einenegative und destruktive Macht63

Wir sind dabei weit enfernt δύνασθαι mit einer aristotelischen sbquoerstenMoumlglichkeitlsquo zu identifizieren um die Ausscheidung einer schlechten

59 raquoDie Sprache hat die Dualform geschaffen nicht etwa um den Begriff derZahl zwei sondern um den Begriff der Zweiheit der paarweisenZusammengehoumlrigkeit auszudruumlckenlaquo (Wilhelm von Humboldt Uumlber denDualis Berlin 1828 S 18) Erst nach Platon als das Sprachgefuumlhl fuumlr die eigent-liche Bedeutung der Sprachformen an Lebendigkeit nachlieszlig bedeutete der Dualnicht selten den bloszligen Begriff sbquozweilsquo wobei die wahre und urspruumlngliche Naturdes Duals sich darin zeigt dass er entweder auf paarweise in der Natur verbun-dene Gegenstaumlnde angewendet wird oder auf solche welche in einer engen undgegenseitigen Beziehung gedacht werden (vgl Kuumlhner Raphael und FriedrichBlass Ausfuumlhrliche Grammatik der griechischen Sprache Zweiter Teil Satz-lehre Erster Teil Darmstadt 31966 S 69

60 Er spricht nur spaumlter von einer sbquoschlechten Seelersquo (897d1 vgl 898c4f)

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Weltseele schon in den oberen Zeilen zu finden Nach dieser Lektuumlrewaumlre die zweite Art von Seele nur imstande Schlechtes durchzufuumlhrenaber wuumlrde nicht tatsaumlchlich so etwas tun Waumlre das der Fall warumsollte der Athener uumlberhaupt erst zwischen zwei Arten von Seele unter-scheiden In einem Kontext wo die Staumlrke die praktische Macht sowieEffizienz und Dominanz der Seele uumlberwiegen64 ist die Option einersbquoersten Moumlglichkeitlsquo keine gelungene Annahme65 Nur in dem Fall desgoumlttlichen Demiurgen koumlnnten wir eine solche sbquoerste Moumlglichkeitlsquo an-wenden die sich nie wirklich durchsetzen wird Trotz seiner Faumlhigkeites zu tun ist der Demiurg nicht bereit die guten Mischungen aufzuloumlsenund die kosmische Ordnung zugrunde zu richten Das Konzept einesDemiurgen der faumlhig ist beides zu tun sowohl Gutes als auch Schlech-tes ist fuumlr Platon undenkbar weil Gott wesentlich gut ist66 Zu-gegebenermaszligen waumlre es zu weitreichend all das in 896e5f hineinzule-sen und die zweite Art der Seele mit dem goumlttlichen Demiurgen zuidentifizieren

61 Der δύναμις-Aspekt geht verloren bei Plutarch der stattdessen von der gutwirkenden und der entgegengesetzten Seele spricht die das Gegenteil vollbringtDe Is Et Osir 370F4-6 raquoὧν τὴν μὲν ἀγαθουργόν εἶναι τὴν δrsquo ἐναντίαν ταύτῃ καὶτῶν ἐναντίων δημιουργόνlaquo Den wichtigen Bezug auf δύναμις verpassen Jowettlsquoone the author of good and the other of the evilrsquo (The Dialogues of Plato S466) sowie Grube Platorsquos Thought lsquoone that does good and one that does evilrsquo(Platorsquos Thought S 146)

Brisson spricht von der Neutralitaumlt der Seele die faumlhig ist gut oder schlecht zusein (Vernunft Natur und Gesetz im zehnten Buch von Platons Gesetzen InHavlicek Ales (Hrsg) The Republic and the Laws of Plato Proceedings of theFirst Symposium Plato Symposium Platonicum Pragense 1 (1997) S 182-200Hier S189) ohne diese Textstelle heranzuziehen

62 Das Verb ist sbquoἐξεργάζεσθαιlsquo das nicht nur das Schlechte bewirken sondern esauch vollenden heiszligt (vgl ἔργον sowohl in als auch in ἐξεργάζεσθαι)

63 Vgl Dillons allgemeine Folgerung uumlber das ontologische Problem desSchlechten bei Platon (Monist and Dualist Tendencies S 11) Der Fall einerschlechten Seele die nicht als Privation der guten Seele vorkommt sondern alsraquofaumlhig Schlechtes zu vollendenlaquo unterstuumltzt Dillons Konklusion dass diesbquoschlechte Seelelsquo eine negative zerstoumlrende Macht sei

64 Vgl die Charakterisierung der Seele in 894d1f 895b665 Dank der Beobachtung von David Sedley wurde es mir klar dass ich

unabsichtlich eine aristotelsiche sbquoerste Potenzialitaumltlsquo in einer fruumlheren Versionvorgeschlagen hatte

66 Vgl oben Fuszlignote 7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 25

Bevor wir zur allgemeinen platonischen Psychologie uumlbergehen er-waumlgen wir eine zweite moumlgliche Unterscheidung der Seele in 896e4-6Bis jetzt habe ich die Distinktion zwischen guter und schlechter Seele alsselbstverstaumlndlich betrachtet Eine vorsichtigere Lektuumlre ermoumlglicht einezweite Option naumlmlich die Unterscheidung zwischen derwohlwollenden Seele die immer das Gute vollendet und derjenigen diefaumlhig ist entgegengesetzte Dinge (Plural) durchzufuumlhren sowohl Gutesals auch Schlechtes (τῆς τἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαι) Die ersteSeele kann keine andere als die goumlttliche sein67 Fuumlr die zweite Seele istder einzige Kandidat die menschliche Seele Auszligerdem wuumlrde die Seeleder Tiere unter die Seele fallen die sowohl Gutes als auch Schlechtestun kann weil sie einen logischen Teil beinhaltet auch wenn deformiertDas Goumlttliche ist immer gut Die Pflanzen moumlgen gut sein insofern siein eine globale Teleologie integriert sind Sie wuumlrden aber nie als faumlhigcharakterisiert etwas Gutes oder noch weniger etwas Schlechtes zutun noch wuumlrden sie die Verantwortung fuumlr die herbeigefuumlhrten gutenoder schlechten Wirkungen tragen Wenn diese Lektuumlre als die einzigemoumlgliche aufgewiesen werden koumlnnte wuumlrden wir mit Sicherheit dieFrage nach der schlechten Seele auf spaumlter verschieben68

Wie es auch sein mag befinden wir uns noch im Rahmen derallgemeinen Lehre der Seele qua Seele als Selbstbewegung Die kosmi-sche Seele ist in 896e1f aufgetaucht aber die Unterscheidung zwischender guten und der schlechten Seele oder der goumlttlichen und men-schlichen Seele wird auf einer allgemeinen Ebene gezogen69 Obgleichder Athener nicht die theorethischen Anspruumlche des Sophistes erhebtsetzt er die allgemeine platonische Ontologie voraus dergemaumlszlig dasSeiende qua Seiendes δύναμις sei Das Kriterium fuumlr alles was Seiendesist sei es Intelligibles oder Koumlrperliches Koumlrper oder Seele ist das Ver-moumlgen zu tun oder zu leiden70 Die Erforschung der Seele als Seiendesverlangt daher die Frage nach ihrer Kraft und ihrem Vermoumlgen (Lg892a2f) Der Gast aus Athen bezieht sich stets auf die δύναμις-Ontolo-

67 Der Athener kann noch nicht die gute Seele als goumlttlich charakterisierenDas Argument hat noch nicht die Goumlttlichkeit der Seele bewiesen

68 Der kreative Charakter der Dialektik ermoumlglicht mehr als eine richtige Ein-teilung Zu diesem Aspekt s Plt 286d-e und Delcomminettes Monographie

69 Anders als Taylor der den Uumlbergang von 896e2 zu e4 durch die Praumlmisseder Aktualitaumlt des Guten und Schlechten in der gegenwaumlrtigen Welt verhilft (TheLaws S 289 Anm 1) sehe ich keinen Eintritt eines a posteriori Arguments adhoc Alles bisherige entnimmt der Athener der allgemeinen Seelenlehre

26 Georgia Mouroutsou

gie des Phaidros sowie des Sophistes Er stellt die Frage was die Seele istund was fuumlr ein Vermoumlgen sie hat οἷόν τε ὂν τυγχάνει καὶ δύναμιν ἣνἔχει71

Obwohl die Frage nach dem Tun (ποιεῖν) oder Leiden (πάσχειν) derSeele als δύναμις nicht explizit gestellt wird72 bringt ihre Definition alsSelbstbewegung ein gleichzeitiges Tun (als Bewegen) und Leiden (alsBewegtwerden) zum Ausdruck73 Die Seele ist die Kraft die sich selbstund anderes bewegt74 Die Definition der Seele als Selbstbewegung kannentweder als Aktivitaumlt oder Passivitaumlt ausgedruumlckt werden Die Seele be-wegt sich selbst und wird von sich selbst bewegt Ein gleichzeitiges Tunund Leiden das aber nicht das gleiche Seiende verursacht geschieht beikoumlrperlicher Bewegung Ein Koumlrper mag auf einen anderen Koumlrper wir-ken und zu gleicher Zeit kann er von einer Seele oder einem anderenKoumlrper bewegt werden aber nicht von sich selbst75

Platon gibt die Definition der Seele in ihrer Allgemeinheit d hunabhaumlngig von ihren moumlglichen Manifestationen in konkretenLebewesen Alles was Seele ist soll Selbstbewegung sein mag es sichum die Seele des Menschen oder des Tieres oder der Pflanze handelnWeil die individuellen Manifestationen der Seele nicht beruumlcksichtigtwerden fehlt bei der Formel der Definition τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴνκινεῖν κίνησιν (896a1f) auch der Bezug auf den Koumlrper den die jeweiligekonkrete Seele beseelt Im Falle der Absenz der Materie in einer Defini-

70 Der Vorschlag des Gastes aus Elea in Sph 247d-e wird nicht allgemein alsPlatons Vorschlag uumlber Ontologie gedeutet Sehr haumlufig beschraumlnken Exegetendas Seiende als δύναμις auf die ad loc Argumentation gegen die MaterialistenAuch wenn dieses Argument als Platons Argument charakterisiert wird bleibtes sehr umstritten ob es eine allgemeine Ontologie betrifft (Brown) oder in eineOntologie der Ideen einmuumlndet (Gerson Politis) Darauf gehe ich hier nicht ein

71 Lg 892a3 vgl Lg 894b8-c1 und 896a1f72 Der Athener bezieht sich auf Tun und Leiden nur in 894c5f und meint

wahrscheinlich sowohl Seelisches als auch Koumlrperliches mit dem die Seele har-monisiert

73 In Lg 894b8-c1 und 896a1f beantwortet der Athener seine Frage nach derArt des Vermoumlgens mit dem die Seele ausgestattet ist Der gesamteZusammenhang verbindet die Frage nach dem Wesen eines Seienden mit derFrage nach seinem Vermoumlgen

74 Lg 893c4f75 Gaiser fuumlhrt den Ausgleich zwischen Passivitaumlt und Aktivitaumlt in der selbst-

bewegenden Seele auf das Zusammenwirken der zwei platonischen Prinzipienzuruumlck (Platons Ungeschriebene Lehre S 195f)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 27

tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

28 Georgia Mouroutsou

Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

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tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 31

welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

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zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

34 Georgia Mouroutsou

Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

40 Georgia Mouroutsou

werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

42 Georgia Mouroutsou

abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 21

phischen Kritik unterziehen sollten oden nicht mag hier dahingestelltbleiben Mit dem sbquoAnthropozentrismuslsquo bei Platon meine ich dass dasErschaffen des Weltalls auf der Basis einer Teleologie geschieht die aufden Menschen und seinen Beduumlrfnissen zentriert ist Man mag denTimaios heranziehen Der Anthropozentrismus scheint sich durch denganzen Monolog durchzusetzen in dem Timaios auf das Schaffen desMannes fokussiert ist Gemaumlszlig der Lehre der Wiedergeburt sind Frauenund Tiere schlechtere Formen von Lebewesen Es gibt zwei Passagendie als besonders anthropozentrisch gepraumlgt vorkommen Zum erstensind die Pflanzen um der Ernaumlhrung der sterblichen Lebewesen willengeschaffen worden (77e7-b1) Zum zweiten schafft der Demiurg dieuumlber das ganze All scheinende Sonne damit die dementsprechend aus-geruumlsteten Lebewesen an der Zahl teilnehmen nachdem sie von derBeobachtung der kosmischen Bewegung viel gelernt haben (39b2-c1)Um der Menschen und der Kultivierung der Philosophie willen schafftGott die Sonne und ermoumlglicht die Wahrnehmung der Sicht Dank desStudiums der himmlischen Bewegungen koumlnnen wir nach der Natur derZeit und des Alls fragen Auf diese Weise duumlrfen wir hoffen unsere ge-stoumlrte Bewegung der Vernunft der ungestoumlrten Bahn der kosmischenVernunft zu assimilieren (46e-47c 90c-d)

Wir haben die Kritik an der Einschraumlnkung im moralischen Bereichwiderlegt indem wir unseren unmittelbaren sowie weiteren Kontextberuumlcksichtigten Wegen des Fokuses auf den menschlichen Bereich unddie menschliche Seele geht die allgemeine Frage der Seele qua Seele nichtverloren Der Hintergrund der jetzigen Diskussion bleibt dieseallgemeine Fragestellung obgleich die menschliche Seele diejenige istdie sich gemaumlszlig der Vernunft oder gegen die Vernunft verhaumllt (897b1-5)Wir sollten die Unterscheidung zwischen weiteren kosmischen undmenschlichen Dimensionen bewahren wenn auch der spaumlte Platon denkosmischen Zusammenhang auf eine anthropozentrische oder sogar an-thropomorphische Weise beschreibt54 Es waumlre weder gerechtfertigtnoch legitim dass die Untersuchung uumlber die menschliche Seelediejenige uumlber die Seele qua Seele dominieren oder ausschoumlpfen wuumlrde

54 Zur Zentrierung des kosmischen Alls auf dem menschlichen Leben bei spauml-tem Platon s Carone Evil and Teleology S 296

22 Georgia Mouroutsou

v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6

Von der allgemeinen Seelenlehre und der Seele qua Seele die bis dahindas Untersuchungsobjekt bildete gelangt der Athener jetzt zu einer be-sonderen Seele zur Weltseele Der Blickwechsel den der Athener imBereich seiner Betrachtung vollzieht sollte im Rahmen der platonischenSpaumltdialoge in denen Ontologie und Seelenlehre haumlufig in Kosmologiemuumlnden kein Erstaunen hervorrufen Als zwei Beispiele dafuumlr koumlnnender kosmologische Exkurs im Philebos (s oben Abschnitt I) und derUumlbergang von ψυχὴ πᾶσα (alles was Seele ist) zur Weltseele im Phaidros(245c5-246a2) gelten Was uumlber die Seele qua Seele gesagt wurde sollteauch im Fall der Weltseele Guumlltigkeit haben

raquoUnd weil die Seele in allem waltet und wohnt was sich auf ir-gendeine Weise bewegt muumlssen wir etwa nicht sagen dass sie auch denHimmel durchwaltelaquo55

Auf seine nur scheinbar unvermittelte und ploumltzliche Frage56 antwor-tet der Athener selbst

raquoEine oder mehrere Seelen Mehrere Ich werde fuumlr Euch antwortendass wir nicht weniger als zwei ansetzen sollten naumlmlich diejenige diedas Gute vervollkommnet und diejenige die faumlhig ist Entgegengesetztesdurchzufuumlhrenlaquo57

Dass der Athener im Namen seiner Gespraumlchspartner antwortet be-trachte ich als kein ausschlaggebendes Argument gegen die Realitaumlt einersbquoschlechten Weltseelersquo58 weil er sich noch auf die Seele qua Seele bezieht

55 Lg 896d10-e2 raquoΨυχὴν δὴ διοικοῦσαν καὶ ἐνοικοῦσαν ἐν ἅπασιν τοῖς πάντῃκινουμένοις μῶν οὐ καὶ τὸν οὐρανὸν ἀνάγκη διοικεῖν φάναιlaquo

56 Wilamowitz charakterisiert diese Frage zu Unrecht als sbquohereingeschneitlsquo(Platon II S 316) wogegen sich Kerschensteiner einsetzt (Platon und der Ori-ent S 73)

57 Lg 896e4-6 raquoΜίαν ἢ πλείους πλείους ἐγὼ ὑπέρ σφῷν ἀποκρινούμαι Δυοῖνμέν γέ που ἔλαττον μηδὲν τιθῶμεν τῆς τε εὐεργέτιδος καὶ τῆς τἀναντία δυναμένηςἐξεργάζεσθαιlaquo

58 Vgl Apelt Platons Gesetze S 539 Anm 48

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 23

Ist die Seele die das All verwaltet eine oder mehrere Haumltte Platon indi-viduelle Seelen ohne Bezug auf einen generellen Terminus sbquoSeelelsquo auf-zaumlhlen wollen haumltte er von mehr als zwei Seelen gesprochen Die Frageist sehr oft als Frage nach zwei Weltseelen verstanden worden Koumlnnteder Athener nicht die allgemeine Lehre der Seele qua Seele verlassen umsich auf die zwei partikulaumlren Weltseelen zu beziehen Dies haumltte derFall sein koumlnnen wenn die Weltseele mit Realitaumlt ausgestattet waumlre wassich aber nicht so verhaumllt Die oben genannte Frage kann nur die Seelequa Seele betreffen

Obgleich er haumlufig uumlberhoumlrt wird sollte der oben angewendete Dual beruumlcksichtigt werden weil er gegen ein Verstaumlndnis von zwei von-einander getrennten entgegengesetzten Seelen plaumldiert59 Auszliger demDual in 896e5 uumlberhoumlrt die Mehrheit der Interpreten hier noch etwasEntscheidendes Die der wohltaumltigen Seele entgegensetzte ist nicht eineeinfachhin und ohne Weiteres sbquoschlechte Seelersquo60 sondern die Seele raquodieimstande ist das Gegenteil zu bewirkenlaquo Genau in diesem Punkt uumlber-schneiden sich die allgemeine Seelenlehre nach der die Seele qua SeeleSelbstbewegung ist und als solche gut oder schlecht sein kann und diespezielle Lehre uumlber die kosmische Seele die ebenfalls qua Seele in derLage ist gut oder schlecht zu sein Deswegen sollten wir die Rede vonδύναμις in unserer Uumlbersetzung von sbquoτἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαιlsquo(Lg 896e6)61 nicht vernachlaumlssigen Die sbquoschlechte Seelelsquo wird nicht alseine bloszlige Privation der guten Seele eingefuumlhrt sondern als mit ihrereigenen Macht (δύναμις) ausgestattet Schlechtes zu bewirken62 als einenegative und destruktive Macht63

Wir sind dabei weit enfernt δύνασθαι mit einer aristotelischen sbquoerstenMoumlglichkeitlsquo zu identifizieren um die Ausscheidung einer schlechten

59 raquoDie Sprache hat die Dualform geschaffen nicht etwa um den Begriff derZahl zwei sondern um den Begriff der Zweiheit der paarweisenZusammengehoumlrigkeit auszudruumlckenlaquo (Wilhelm von Humboldt Uumlber denDualis Berlin 1828 S 18) Erst nach Platon als das Sprachgefuumlhl fuumlr die eigent-liche Bedeutung der Sprachformen an Lebendigkeit nachlieszlig bedeutete der Dualnicht selten den bloszligen Begriff sbquozweilsquo wobei die wahre und urspruumlngliche Naturdes Duals sich darin zeigt dass er entweder auf paarweise in der Natur verbun-dene Gegenstaumlnde angewendet wird oder auf solche welche in einer engen undgegenseitigen Beziehung gedacht werden (vgl Kuumlhner Raphael und FriedrichBlass Ausfuumlhrliche Grammatik der griechischen Sprache Zweiter Teil Satz-lehre Erster Teil Darmstadt 31966 S 69

60 Er spricht nur spaumlter von einer sbquoschlechten Seelersquo (897d1 vgl 898c4f)

24 Georgia Mouroutsou

Weltseele schon in den oberen Zeilen zu finden Nach dieser Lektuumlrewaumlre die zweite Art von Seele nur imstande Schlechtes durchzufuumlhrenaber wuumlrde nicht tatsaumlchlich so etwas tun Waumlre das der Fall warumsollte der Athener uumlberhaupt erst zwischen zwei Arten von Seele unter-scheiden In einem Kontext wo die Staumlrke die praktische Macht sowieEffizienz und Dominanz der Seele uumlberwiegen64 ist die Option einersbquoersten Moumlglichkeitlsquo keine gelungene Annahme65 Nur in dem Fall desgoumlttlichen Demiurgen koumlnnten wir eine solche sbquoerste Moumlglichkeitlsquo an-wenden die sich nie wirklich durchsetzen wird Trotz seiner Faumlhigkeites zu tun ist der Demiurg nicht bereit die guten Mischungen aufzuloumlsenund die kosmische Ordnung zugrunde zu richten Das Konzept einesDemiurgen der faumlhig ist beides zu tun sowohl Gutes als auch Schlech-tes ist fuumlr Platon undenkbar weil Gott wesentlich gut ist66 Zu-gegebenermaszligen waumlre es zu weitreichend all das in 896e5f hineinzule-sen und die zweite Art der Seele mit dem goumlttlichen Demiurgen zuidentifizieren

61 Der δύναμις-Aspekt geht verloren bei Plutarch der stattdessen von der gutwirkenden und der entgegengesetzten Seele spricht die das Gegenteil vollbringtDe Is Et Osir 370F4-6 raquoὧν τὴν μὲν ἀγαθουργόν εἶναι τὴν δrsquo ἐναντίαν ταύτῃ καὶτῶν ἐναντίων δημιουργόνlaquo Den wichtigen Bezug auf δύναμις verpassen Jowettlsquoone the author of good and the other of the evilrsquo (The Dialogues of Plato S466) sowie Grube Platorsquos Thought lsquoone that does good and one that does evilrsquo(Platorsquos Thought S 146)

Brisson spricht von der Neutralitaumlt der Seele die faumlhig ist gut oder schlecht zusein (Vernunft Natur und Gesetz im zehnten Buch von Platons Gesetzen InHavlicek Ales (Hrsg) The Republic and the Laws of Plato Proceedings of theFirst Symposium Plato Symposium Platonicum Pragense 1 (1997) S 182-200Hier S189) ohne diese Textstelle heranzuziehen

62 Das Verb ist sbquoἐξεργάζεσθαιlsquo das nicht nur das Schlechte bewirken sondern esauch vollenden heiszligt (vgl ἔργον sowohl in als auch in ἐξεργάζεσθαι)

63 Vgl Dillons allgemeine Folgerung uumlber das ontologische Problem desSchlechten bei Platon (Monist and Dualist Tendencies S 11) Der Fall einerschlechten Seele die nicht als Privation der guten Seele vorkommt sondern alsraquofaumlhig Schlechtes zu vollendenlaquo unterstuumltzt Dillons Konklusion dass diesbquoschlechte Seelelsquo eine negative zerstoumlrende Macht sei

64 Vgl die Charakterisierung der Seele in 894d1f 895b665 Dank der Beobachtung von David Sedley wurde es mir klar dass ich

unabsichtlich eine aristotelsiche sbquoerste Potenzialitaumltlsquo in einer fruumlheren Versionvorgeschlagen hatte

66 Vgl oben Fuszlignote 7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 25

Bevor wir zur allgemeinen platonischen Psychologie uumlbergehen er-waumlgen wir eine zweite moumlgliche Unterscheidung der Seele in 896e4-6Bis jetzt habe ich die Distinktion zwischen guter und schlechter Seele alsselbstverstaumlndlich betrachtet Eine vorsichtigere Lektuumlre ermoumlglicht einezweite Option naumlmlich die Unterscheidung zwischen derwohlwollenden Seele die immer das Gute vollendet und derjenigen diefaumlhig ist entgegengesetzte Dinge (Plural) durchzufuumlhren sowohl Gutesals auch Schlechtes (τῆς τἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαι) Die ersteSeele kann keine andere als die goumlttliche sein67 Fuumlr die zweite Seele istder einzige Kandidat die menschliche Seele Auszligerdem wuumlrde die Seeleder Tiere unter die Seele fallen die sowohl Gutes als auch Schlechtestun kann weil sie einen logischen Teil beinhaltet auch wenn deformiertDas Goumlttliche ist immer gut Die Pflanzen moumlgen gut sein insofern siein eine globale Teleologie integriert sind Sie wuumlrden aber nie als faumlhigcharakterisiert etwas Gutes oder noch weniger etwas Schlechtes zutun noch wuumlrden sie die Verantwortung fuumlr die herbeigefuumlhrten gutenoder schlechten Wirkungen tragen Wenn diese Lektuumlre als die einzigemoumlgliche aufgewiesen werden koumlnnte wuumlrden wir mit Sicherheit dieFrage nach der schlechten Seele auf spaumlter verschieben68

Wie es auch sein mag befinden wir uns noch im Rahmen derallgemeinen Lehre der Seele qua Seele als Selbstbewegung Die kosmi-sche Seele ist in 896e1f aufgetaucht aber die Unterscheidung zwischender guten und der schlechten Seele oder der goumlttlichen und men-schlichen Seele wird auf einer allgemeinen Ebene gezogen69 Obgleichder Athener nicht die theorethischen Anspruumlche des Sophistes erhebtsetzt er die allgemeine platonische Ontologie voraus dergemaumlszlig dasSeiende qua Seiendes δύναμις sei Das Kriterium fuumlr alles was Seiendesist sei es Intelligibles oder Koumlrperliches Koumlrper oder Seele ist das Ver-moumlgen zu tun oder zu leiden70 Die Erforschung der Seele als Seiendesverlangt daher die Frage nach ihrer Kraft und ihrem Vermoumlgen (Lg892a2f) Der Gast aus Athen bezieht sich stets auf die δύναμις-Ontolo-

67 Der Athener kann noch nicht die gute Seele als goumlttlich charakterisierenDas Argument hat noch nicht die Goumlttlichkeit der Seele bewiesen

68 Der kreative Charakter der Dialektik ermoumlglicht mehr als eine richtige Ein-teilung Zu diesem Aspekt s Plt 286d-e und Delcomminettes Monographie

69 Anders als Taylor der den Uumlbergang von 896e2 zu e4 durch die Praumlmisseder Aktualitaumlt des Guten und Schlechten in der gegenwaumlrtigen Welt verhilft (TheLaws S 289 Anm 1) sehe ich keinen Eintritt eines a posteriori Arguments adhoc Alles bisherige entnimmt der Athener der allgemeinen Seelenlehre

26 Georgia Mouroutsou

gie des Phaidros sowie des Sophistes Er stellt die Frage was die Seele istund was fuumlr ein Vermoumlgen sie hat οἷόν τε ὂν τυγχάνει καὶ δύναμιν ἣνἔχει71

Obwohl die Frage nach dem Tun (ποιεῖν) oder Leiden (πάσχειν) derSeele als δύναμις nicht explizit gestellt wird72 bringt ihre Definition alsSelbstbewegung ein gleichzeitiges Tun (als Bewegen) und Leiden (alsBewegtwerden) zum Ausdruck73 Die Seele ist die Kraft die sich selbstund anderes bewegt74 Die Definition der Seele als Selbstbewegung kannentweder als Aktivitaumlt oder Passivitaumlt ausgedruumlckt werden Die Seele be-wegt sich selbst und wird von sich selbst bewegt Ein gleichzeitiges Tunund Leiden das aber nicht das gleiche Seiende verursacht geschieht beikoumlrperlicher Bewegung Ein Koumlrper mag auf einen anderen Koumlrper wir-ken und zu gleicher Zeit kann er von einer Seele oder einem anderenKoumlrper bewegt werden aber nicht von sich selbst75

Platon gibt die Definition der Seele in ihrer Allgemeinheit d hunabhaumlngig von ihren moumlglichen Manifestationen in konkretenLebewesen Alles was Seele ist soll Selbstbewegung sein mag es sichum die Seele des Menschen oder des Tieres oder der Pflanze handelnWeil die individuellen Manifestationen der Seele nicht beruumlcksichtigtwerden fehlt bei der Formel der Definition τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴνκινεῖν κίνησιν (896a1f) auch der Bezug auf den Koumlrper den die jeweiligekonkrete Seele beseelt Im Falle der Absenz der Materie in einer Defini-

70 Der Vorschlag des Gastes aus Elea in Sph 247d-e wird nicht allgemein alsPlatons Vorschlag uumlber Ontologie gedeutet Sehr haumlufig beschraumlnken Exegetendas Seiende als δύναμις auf die ad loc Argumentation gegen die MaterialistenAuch wenn dieses Argument als Platons Argument charakterisiert wird bleibtes sehr umstritten ob es eine allgemeine Ontologie betrifft (Brown) oder in eineOntologie der Ideen einmuumlndet (Gerson Politis) Darauf gehe ich hier nicht ein

71 Lg 892a3 vgl Lg 894b8-c1 und 896a1f72 Der Athener bezieht sich auf Tun und Leiden nur in 894c5f und meint

wahrscheinlich sowohl Seelisches als auch Koumlrperliches mit dem die Seele har-monisiert

73 In Lg 894b8-c1 und 896a1f beantwortet der Athener seine Frage nach derArt des Vermoumlgens mit dem die Seele ausgestattet ist Der gesamteZusammenhang verbindet die Frage nach dem Wesen eines Seienden mit derFrage nach seinem Vermoumlgen

74 Lg 893c4f75 Gaiser fuumlhrt den Ausgleich zwischen Passivitaumlt und Aktivitaumlt in der selbst-

bewegenden Seele auf das Zusammenwirken der zwei platonischen Prinzipienzuruumlck (Platons Ungeschriebene Lehre S 195f)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 27

tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

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Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

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tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 31

welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

32 Georgia Mouroutsou

zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

34 Georgia Mouroutsou

Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

40 Georgia Mouroutsou

werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

42 Georgia Mouroutsou

abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

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ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

22 Georgia Mouroutsou

v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6

Von der allgemeinen Seelenlehre und der Seele qua Seele die bis dahindas Untersuchungsobjekt bildete gelangt der Athener jetzt zu einer be-sonderen Seele zur Weltseele Der Blickwechsel den der Athener imBereich seiner Betrachtung vollzieht sollte im Rahmen der platonischenSpaumltdialoge in denen Ontologie und Seelenlehre haumlufig in Kosmologiemuumlnden kein Erstaunen hervorrufen Als zwei Beispiele dafuumlr koumlnnender kosmologische Exkurs im Philebos (s oben Abschnitt I) und derUumlbergang von ψυχὴ πᾶσα (alles was Seele ist) zur Weltseele im Phaidros(245c5-246a2) gelten Was uumlber die Seele qua Seele gesagt wurde sollteauch im Fall der Weltseele Guumlltigkeit haben

raquoUnd weil die Seele in allem waltet und wohnt was sich auf ir-gendeine Weise bewegt muumlssen wir etwa nicht sagen dass sie auch denHimmel durchwaltelaquo55

Auf seine nur scheinbar unvermittelte und ploumltzliche Frage56 antwor-tet der Athener selbst

raquoEine oder mehrere Seelen Mehrere Ich werde fuumlr Euch antwortendass wir nicht weniger als zwei ansetzen sollten naumlmlich diejenige diedas Gute vervollkommnet und diejenige die faumlhig ist Entgegengesetztesdurchzufuumlhrenlaquo57

Dass der Athener im Namen seiner Gespraumlchspartner antwortet be-trachte ich als kein ausschlaggebendes Argument gegen die Realitaumlt einersbquoschlechten Weltseelersquo58 weil er sich noch auf die Seele qua Seele bezieht

55 Lg 896d10-e2 raquoΨυχὴν δὴ διοικοῦσαν καὶ ἐνοικοῦσαν ἐν ἅπασιν τοῖς πάντῃκινουμένοις μῶν οὐ καὶ τὸν οὐρανὸν ἀνάγκη διοικεῖν φάναιlaquo

56 Wilamowitz charakterisiert diese Frage zu Unrecht als sbquohereingeschneitlsquo(Platon II S 316) wogegen sich Kerschensteiner einsetzt (Platon und der Ori-ent S 73)

57 Lg 896e4-6 raquoΜίαν ἢ πλείους πλείους ἐγὼ ὑπέρ σφῷν ἀποκρινούμαι Δυοῖνμέν γέ που ἔλαττον μηδὲν τιθῶμεν τῆς τε εὐεργέτιδος καὶ τῆς τἀναντία δυναμένηςἐξεργάζεσθαιlaquo

58 Vgl Apelt Platons Gesetze S 539 Anm 48

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 23

Ist die Seele die das All verwaltet eine oder mehrere Haumltte Platon indi-viduelle Seelen ohne Bezug auf einen generellen Terminus sbquoSeelelsquo auf-zaumlhlen wollen haumltte er von mehr als zwei Seelen gesprochen Die Frageist sehr oft als Frage nach zwei Weltseelen verstanden worden Koumlnnteder Athener nicht die allgemeine Lehre der Seele qua Seele verlassen umsich auf die zwei partikulaumlren Weltseelen zu beziehen Dies haumltte derFall sein koumlnnen wenn die Weltseele mit Realitaumlt ausgestattet waumlre wassich aber nicht so verhaumllt Die oben genannte Frage kann nur die Seelequa Seele betreffen

Obgleich er haumlufig uumlberhoumlrt wird sollte der oben angewendete Dual beruumlcksichtigt werden weil er gegen ein Verstaumlndnis von zwei von-einander getrennten entgegengesetzten Seelen plaumldiert59 Auszliger demDual in 896e5 uumlberhoumlrt die Mehrheit der Interpreten hier noch etwasEntscheidendes Die der wohltaumltigen Seele entgegensetzte ist nicht eineeinfachhin und ohne Weiteres sbquoschlechte Seelersquo60 sondern die Seele raquodieimstande ist das Gegenteil zu bewirkenlaquo Genau in diesem Punkt uumlber-schneiden sich die allgemeine Seelenlehre nach der die Seele qua SeeleSelbstbewegung ist und als solche gut oder schlecht sein kann und diespezielle Lehre uumlber die kosmische Seele die ebenfalls qua Seele in derLage ist gut oder schlecht zu sein Deswegen sollten wir die Rede vonδύναμις in unserer Uumlbersetzung von sbquoτἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαιlsquo(Lg 896e6)61 nicht vernachlaumlssigen Die sbquoschlechte Seelelsquo wird nicht alseine bloszlige Privation der guten Seele eingefuumlhrt sondern als mit ihrereigenen Macht (δύναμις) ausgestattet Schlechtes zu bewirken62 als einenegative und destruktive Macht63

Wir sind dabei weit enfernt δύνασθαι mit einer aristotelischen sbquoerstenMoumlglichkeitlsquo zu identifizieren um die Ausscheidung einer schlechten

59 raquoDie Sprache hat die Dualform geschaffen nicht etwa um den Begriff derZahl zwei sondern um den Begriff der Zweiheit der paarweisenZusammengehoumlrigkeit auszudruumlckenlaquo (Wilhelm von Humboldt Uumlber denDualis Berlin 1828 S 18) Erst nach Platon als das Sprachgefuumlhl fuumlr die eigent-liche Bedeutung der Sprachformen an Lebendigkeit nachlieszlig bedeutete der Dualnicht selten den bloszligen Begriff sbquozweilsquo wobei die wahre und urspruumlngliche Naturdes Duals sich darin zeigt dass er entweder auf paarweise in der Natur verbun-dene Gegenstaumlnde angewendet wird oder auf solche welche in einer engen undgegenseitigen Beziehung gedacht werden (vgl Kuumlhner Raphael und FriedrichBlass Ausfuumlhrliche Grammatik der griechischen Sprache Zweiter Teil Satz-lehre Erster Teil Darmstadt 31966 S 69

60 Er spricht nur spaumlter von einer sbquoschlechten Seelersquo (897d1 vgl 898c4f)

24 Georgia Mouroutsou

Weltseele schon in den oberen Zeilen zu finden Nach dieser Lektuumlrewaumlre die zweite Art von Seele nur imstande Schlechtes durchzufuumlhrenaber wuumlrde nicht tatsaumlchlich so etwas tun Waumlre das der Fall warumsollte der Athener uumlberhaupt erst zwischen zwei Arten von Seele unter-scheiden In einem Kontext wo die Staumlrke die praktische Macht sowieEffizienz und Dominanz der Seele uumlberwiegen64 ist die Option einersbquoersten Moumlglichkeitlsquo keine gelungene Annahme65 Nur in dem Fall desgoumlttlichen Demiurgen koumlnnten wir eine solche sbquoerste Moumlglichkeitlsquo an-wenden die sich nie wirklich durchsetzen wird Trotz seiner Faumlhigkeites zu tun ist der Demiurg nicht bereit die guten Mischungen aufzuloumlsenund die kosmische Ordnung zugrunde zu richten Das Konzept einesDemiurgen der faumlhig ist beides zu tun sowohl Gutes als auch Schlech-tes ist fuumlr Platon undenkbar weil Gott wesentlich gut ist66 Zu-gegebenermaszligen waumlre es zu weitreichend all das in 896e5f hineinzule-sen und die zweite Art der Seele mit dem goumlttlichen Demiurgen zuidentifizieren

61 Der δύναμις-Aspekt geht verloren bei Plutarch der stattdessen von der gutwirkenden und der entgegengesetzten Seele spricht die das Gegenteil vollbringtDe Is Et Osir 370F4-6 raquoὧν τὴν μὲν ἀγαθουργόν εἶναι τὴν δrsquo ἐναντίαν ταύτῃ καὶτῶν ἐναντίων δημιουργόνlaquo Den wichtigen Bezug auf δύναμις verpassen Jowettlsquoone the author of good and the other of the evilrsquo (The Dialogues of Plato S466) sowie Grube Platorsquos Thought lsquoone that does good and one that does evilrsquo(Platorsquos Thought S 146)

Brisson spricht von der Neutralitaumlt der Seele die faumlhig ist gut oder schlecht zusein (Vernunft Natur und Gesetz im zehnten Buch von Platons Gesetzen InHavlicek Ales (Hrsg) The Republic and the Laws of Plato Proceedings of theFirst Symposium Plato Symposium Platonicum Pragense 1 (1997) S 182-200Hier S189) ohne diese Textstelle heranzuziehen

62 Das Verb ist sbquoἐξεργάζεσθαιlsquo das nicht nur das Schlechte bewirken sondern esauch vollenden heiszligt (vgl ἔργον sowohl in als auch in ἐξεργάζεσθαι)

63 Vgl Dillons allgemeine Folgerung uumlber das ontologische Problem desSchlechten bei Platon (Monist and Dualist Tendencies S 11) Der Fall einerschlechten Seele die nicht als Privation der guten Seele vorkommt sondern alsraquofaumlhig Schlechtes zu vollendenlaquo unterstuumltzt Dillons Konklusion dass diesbquoschlechte Seelelsquo eine negative zerstoumlrende Macht sei

64 Vgl die Charakterisierung der Seele in 894d1f 895b665 Dank der Beobachtung von David Sedley wurde es mir klar dass ich

unabsichtlich eine aristotelsiche sbquoerste Potenzialitaumltlsquo in einer fruumlheren Versionvorgeschlagen hatte

66 Vgl oben Fuszlignote 7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 25

Bevor wir zur allgemeinen platonischen Psychologie uumlbergehen er-waumlgen wir eine zweite moumlgliche Unterscheidung der Seele in 896e4-6Bis jetzt habe ich die Distinktion zwischen guter und schlechter Seele alsselbstverstaumlndlich betrachtet Eine vorsichtigere Lektuumlre ermoumlglicht einezweite Option naumlmlich die Unterscheidung zwischen derwohlwollenden Seele die immer das Gute vollendet und derjenigen diefaumlhig ist entgegengesetzte Dinge (Plural) durchzufuumlhren sowohl Gutesals auch Schlechtes (τῆς τἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαι) Die ersteSeele kann keine andere als die goumlttliche sein67 Fuumlr die zweite Seele istder einzige Kandidat die menschliche Seele Auszligerdem wuumlrde die Seeleder Tiere unter die Seele fallen die sowohl Gutes als auch Schlechtestun kann weil sie einen logischen Teil beinhaltet auch wenn deformiertDas Goumlttliche ist immer gut Die Pflanzen moumlgen gut sein insofern siein eine globale Teleologie integriert sind Sie wuumlrden aber nie als faumlhigcharakterisiert etwas Gutes oder noch weniger etwas Schlechtes zutun noch wuumlrden sie die Verantwortung fuumlr die herbeigefuumlhrten gutenoder schlechten Wirkungen tragen Wenn diese Lektuumlre als die einzigemoumlgliche aufgewiesen werden koumlnnte wuumlrden wir mit Sicherheit dieFrage nach der schlechten Seele auf spaumlter verschieben68

Wie es auch sein mag befinden wir uns noch im Rahmen derallgemeinen Lehre der Seele qua Seele als Selbstbewegung Die kosmi-sche Seele ist in 896e1f aufgetaucht aber die Unterscheidung zwischender guten und der schlechten Seele oder der goumlttlichen und men-schlichen Seele wird auf einer allgemeinen Ebene gezogen69 Obgleichder Athener nicht die theorethischen Anspruumlche des Sophistes erhebtsetzt er die allgemeine platonische Ontologie voraus dergemaumlszlig dasSeiende qua Seiendes δύναμις sei Das Kriterium fuumlr alles was Seiendesist sei es Intelligibles oder Koumlrperliches Koumlrper oder Seele ist das Ver-moumlgen zu tun oder zu leiden70 Die Erforschung der Seele als Seiendesverlangt daher die Frage nach ihrer Kraft und ihrem Vermoumlgen (Lg892a2f) Der Gast aus Athen bezieht sich stets auf die δύναμις-Ontolo-

67 Der Athener kann noch nicht die gute Seele als goumlttlich charakterisierenDas Argument hat noch nicht die Goumlttlichkeit der Seele bewiesen

68 Der kreative Charakter der Dialektik ermoumlglicht mehr als eine richtige Ein-teilung Zu diesem Aspekt s Plt 286d-e und Delcomminettes Monographie

69 Anders als Taylor der den Uumlbergang von 896e2 zu e4 durch die Praumlmisseder Aktualitaumlt des Guten und Schlechten in der gegenwaumlrtigen Welt verhilft (TheLaws S 289 Anm 1) sehe ich keinen Eintritt eines a posteriori Arguments adhoc Alles bisherige entnimmt der Athener der allgemeinen Seelenlehre

26 Georgia Mouroutsou

gie des Phaidros sowie des Sophistes Er stellt die Frage was die Seele istund was fuumlr ein Vermoumlgen sie hat οἷόν τε ὂν τυγχάνει καὶ δύναμιν ἣνἔχει71

Obwohl die Frage nach dem Tun (ποιεῖν) oder Leiden (πάσχειν) derSeele als δύναμις nicht explizit gestellt wird72 bringt ihre Definition alsSelbstbewegung ein gleichzeitiges Tun (als Bewegen) und Leiden (alsBewegtwerden) zum Ausdruck73 Die Seele ist die Kraft die sich selbstund anderes bewegt74 Die Definition der Seele als Selbstbewegung kannentweder als Aktivitaumlt oder Passivitaumlt ausgedruumlckt werden Die Seele be-wegt sich selbst und wird von sich selbst bewegt Ein gleichzeitiges Tunund Leiden das aber nicht das gleiche Seiende verursacht geschieht beikoumlrperlicher Bewegung Ein Koumlrper mag auf einen anderen Koumlrper wir-ken und zu gleicher Zeit kann er von einer Seele oder einem anderenKoumlrper bewegt werden aber nicht von sich selbst75

Platon gibt die Definition der Seele in ihrer Allgemeinheit d hunabhaumlngig von ihren moumlglichen Manifestationen in konkretenLebewesen Alles was Seele ist soll Selbstbewegung sein mag es sichum die Seele des Menschen oder des Tieres oder der Pflanze handelnWeil die individuellen Manifestationen der Seele nicht beruumlcksichtigtwerden fehlt bei der Formel der Definition τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴνκινεῖν κίνησιν (896a1f) auch der Bezug auf den Koumlrper den die jeweiligekonkrete Seele beseelt Im Falle der Absenz der Materie in einer Defini-

70 Der Vorschlag des Gastes aus Elea in Sph 247d-e wird nicht allgemein alsPlatons Vorschlag uumlber Ontologie gedeutet Sehr haumlufig beschraumlnken Exegetendas Seiende als δύναμις auf die ad loc Argumentation gegen die MaterialistenAuch wenn dieses Argument als Platons Argument charakterisiert wird bleibtes sehr umstritten ob es eine allgemeine Ontologie betrifft (Brown) oder in eineOntologie der Ideen einmuumlndet (Gerson Politis) Darauf gehe ich hier nicht ein

71 Lg 892a3 vgl Lg 894b8-c1 und 896a1f72 Der Athener bezieht sich auf Tun und Leiden nur in 894c5f und meint

wahrscheinlich sowohl Seelisches als auch Koumlrperliches mit dem die Seele har-monisiert

73 In Lg 894b8-c1 und 896a1f beantwortet der Athener seine Frage nach derArt des Vermoumlgens mit dem die Seele ausgestattet ist Der gesamteZusammenhang verbindet die Frage nach dem Wesen eines Seienden mit derFrage nach seinem Vermoumlgen

74 Lg 893c4f75 Gaiser fuumlhrt den Ausgleich zwischen Passivitaumlt und Aktivitaumlt in der selbst-

bewegenden Seele auf das Zusammenwirken der zwei platonischen Prinzipienzuruumlck (Platons Ungeschriebene Lehre S 195f)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 27

tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

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Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

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reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

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tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

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welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

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zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

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Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

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(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

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werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

42 Georgia Mouroutsou

abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

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Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 23

Ist die Seele die das All verwaltet eine oder mehrere Haumltte Platon indi-viduelle Seelen ohne Bezug auf einen generellen Terminus sbquoSeelelsquo auf-zaumlhlen wollen haumltte er von mehr als zwei Seelen gesprochen Die Frageist sehr oft als Frage nach zwei Weltseelen verstanden worden Koumlnnteder Athener nicht die allgemeine Lehre der Seele qua Seele verlassen umsich auf die zwei partikulaumlren Weltseelen zu beziehen Dies haumltte derFall sein koumlnnen wenn die Weltseele mit Realitaumlt ausgestattet waumlre wassich aber nicht so verhaumllt Die oben genannte Frage kann nur die Seelequa Seele betreffen

Obgleich er haumlufig uumlberhoumlrt wird sollte der oben angewendete Dual beruumlcksichtigt werden weil er gegen ein Verstaumlndnis von zwei von-einander getrennten entgegengesetzten Seelen plaumldiert59 Auszliger demDual in 896e5 uumlberhoumlrt die Mehrheit der Interpreten hier noch etwasEntscheidendes Die der wohltaumltigen Seele entgegensetzte ist nicht eineeinfachhin und ohne Weiteres sbquoschlechte Seelersquo60 sondern die Seele raquodieimstande ist das Gegenteil zu bewirkenlaquo Genau in diesem Punkt uumlber-schneiden sich die allgemeine Seelenlehre nach der die Seele qua SeeleSelbstbewegung ist und als solche gut oder schlecht sein kann und diespezielle Lehre uumlber die kosmische Seele die ebenfalls qua Seele in derLage ist gut oder schlecht zu sein Deswegen sollten wir die Rede vonδύναμις in unserer Uumlbersetzung von sbquoτἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαιlsquo(Lg 896e6)61 nicht vernachlaumlssigen Die sbquoschlechte Seelelsquo wird nicht alseine bloszlige Privation der guten Seele eingefuumlhrt sondern als mit ihrereigenen Macht (δύναμις) ausgestattet Schlechtes zu bewirken62 als einenegative und destruktive Macht63

Wir sind dabei weit enfernt δύνασθαι mit einer aristotelischen sbquoerstenMoumlglichkeitlsquo zu identifizieren um die Ausscheidung einer schlechten

59 raquoDie Sprache hat die Dualform geschaffen nicht etwa um den Begriff derZahl zwei sondern um den Begriff der Zweiheit der paarweisenZusammengehoumlrigkeit auszudruumlckenlaquo (Wilhelm von Humboldt Uumlber denDualis Berlin 1828 S 18) Erst nach Platon als das Sprachgefuumlhl fuumlr die eigent-liche Bedeutung der Sprachformen an Lebendigkeit nachlieszlig bedeutete der Dualnicht selten den bloszligen Begriff sbquozweilsquo wobei die wahre und urspruumlngliche Naturdes Duals sich darin zeigt dass er entweder auf paarweise in der Natur verbun-dene Gegenstaumlnde angewendet wird oder auf solche welche in einer engen undgegenseitigen Beziehung gedacht werden (vgl Kuumlhner Raphael und FriedrichBlass Ausfuumlhrliche Grammatik der griechischen Sprache Zweiter Teil Satz-lehre Erster Teil Darmstadt 31966 S 69

60 Er spricht nur spaumlter von einer sbquoschlechten Seelersquo (897d1 vgl 898c4f)

24 Georgia Mouroutsou

Weltseele schon in den oberen Zeilen zu finden Nach dieser Lektuumlrewaumlre die zweite Art von Seele nur imstande Schlechtes durchzufuumlhrenaber wuumlrde nicht tatsaumlchlich so etwas tun Waumlre das der Fall warumsollte der Athener uumlberhaupt erst zwischen zwei Arten von Seele unter-scheiden In einem Kontext wo die Staumlrke die praktische Macht sowieEffizienz und Dominanz der Seele uumlberwiegen64 ist die Option einersbquoersten Moumlglichkeitlsquo keine gelungene Annahme65 Nur in dem Fall desgoumlttlichen Demiurgen koumlnnten wir eine solche sbquoerste Moumlglichkeitlsquo an-wenden die sich nie wirklich durchsetzen wird Trotz seiner Faumlhigkeites zu tun ist der Demiurg nicht bereit die guten Mischungen aufzuloumlsenund die kosmische Ordnung zugrunde zu richten Das Konzept einesDemiurgen der faumlhig ist beides zu tun sowohl Gutes als auch Schlech-tes ist fuumlr Platon undenkbar weil Gott wesentlich gut ist66 Zu-gegebenermaszligen waumlre es zu weitreichend all das in 896e5f hineinzule-sen und die zweite Art der Seele mit dem goumlttlichen Demiurgen zuidentifizieren

61 Der δύναμις-Aspekt geht verloren bei Plutarch der stattdessen von der gutwirkenden und der entgegengesetzten Seele spricht die das Gegenteil vollbringtDe Is Et Osir 370F4-6 raquoὧν τὴν μὲν ἀγαθουργόν εἶναι τὴν δrsquo ἐναντίαν ταύτῃ καὶτῶν ἐναντίων δημιουργόνlaquo Den wichtigen Bezug auf δύναμις verpassen Jowettlsquoone the author of good and the other of the evilrsquo (The Dialogues of Plato S466) sowie Grube Platorsquos Thought lsquoone that does good and one that does evilrsquo(Platorsquos Thought S 146)

Brisson spricht von der Neutralitaumlt der Seele die faumlhig ist gut oder schlecht zusein (Vernunft Natur und Gesetz im zehnten Buch von Platons Gesetzen InHavlicek Ales (Hrsg) The Republic and the Laws of Plato Proceedings of theFirst Symposium Plato Symposium Platonicum Pragense 1 (1997) S 182-200Hier S189) ohne diese Textstelle heranzuziehen

62 Das Verb ist sbquoἐξεργάζεσθαιlsquo das nicht nur das Schlechte bewirken sondern esauch vollenden heiszligt (vgl ἔργον sowohl in als auch in ἐξεργάζεσθαι)

63 Vgl Dillons allgemeine Folgerung uumlber das ontologische Problem desSchlechten bei Platon (Monist and Dualist Tendencies S 11) Der Fall einerschlechten Seele die nicht als Privation der guten Seele vorkommt sondern alsraquofaumlhig Schlechtes zu vollendenlaquo unterstuumltzt Dillons Konklusion dass diesbquoschlechte Seelelsquo eine negative zerstoumlrende Macht sei

64 Vgl die Charakterisierung der Seele in 894d1f 895b665 Dank der Beobachtung von David Sedley wurde es mir klar dass ich

unabsichtlich eine aristotelsiche sbquoerste Potenzialitaumltlsquo in einer fruumlheren Versionvorgeschlagen hatte

66 Vgl oben Fuszlignote 7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 25

Bevor wir zur allgemeinen platonischen Psychologie uumlbergehen er-waumlgen wir eine zweite moumlgliche Unterscheidung der Seele in 896e4-6Bis jetzt habe ich die Distinktion zwischen guter und schlechter Seele alsselbstverstaumlndlich betrachtet Eine vorsichtigere Lektuumlre ermoumlglicht einezweite Option naumlmlich die Unterscheidung zwischen derwohlwollenden Seele die immer das Gute vollendet und derjenigen diefaumlhig ist entgegengesetzte Dinge (Plural) durchzufuumlhren sowohl Gutesals auch Schlechtes (τῆς τἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαι) Die ersteSeele kann keine andere als die goumlttliche sein67 Fuumlr die zweite Seele istder einzige Kandidat die menschliche Seele Auszligerdem wuumlrde die Seeleder Tiere unter die Seele fallen die sowohl Gutes als auch Schlechtestun kann weil sie einen logischen Teil beinhaltet auch wenn deformiertDas Goumlttliche ist immer gut Die Pflanzen moumlgen gut sein insofern siein eine globale Teleologie integriert sind Sie wuumlrden aber nie als faumlhigcharakterisiert etwas Gutes oder noch weniger etwas Schlechtes zutun noch wuumlrden sie die Verantwortung fuumlr die herbeigefuumlhrten gutenoder schlechten Wirkungen tragen Wenn diese Lektuumlre als die einzigemoumlgliche aufgewiesen werden koumlnnte wuumlrden wir mit Sicherheit dieFrage nach der schlechten Seele auf spaumlter verschieben68

Wie es auch sein mag befinden wir uns noch im Rahmen derallgemeinen Lehre der Seele qua Seele als Selbstbewegung Die kosmi-sche Seele ist in 896e1f aufgetaucht aber die Unterscheidung zwischender guten und der schlechten Seele oder der goumlttlichen und men-schlichen Seele wird auf einer allgemeinen Ebene gezogen69 Obgleichder Athener nicht die theorethischen Anspruumlche des Sophistes erhebtsetzt er die allgemeine platonische Ontologie voraus dergemaumlszlig dasSeiende qua Seiendes δύναμις sei Das Kriterium fuumlr alles was Seiendesist sei es Intelligibles oder Koumlrperliches Koumlrper oder Seele ist das Ver-moumlgen zu tun oder zu leiden70 Die Erforschung der Seele als Seiendesverlangt daher die Frage nach ihrer Kraft und ihrem Vermoumlgen (Lg892a2f) Der Gast aus Athen bezieht sich stets auf die δύναμις-Ontolo-

67 Der Athener kann noch nicht die gute Seele als goumlttlich charakterisierenDas Argument hat noch nicht die Goumlttlichkeit der Seele bewiesen

68 Der kreative Charakter der Dialektik ermoumlglicht mehr als eine richtige Ein-teilung Zu diesem Aspekt s Plt 286d-e und Delcomminettes Monographie

69 Anders als Taylor der den Uumlbergang von 896e2 zu e4 durch die Praumlmisseder Aktualitaumlt des Guten und Schlechten in der gegenwaumlrtigen Welt verhilft (TheLaws S 289 Anm 1) sehe ich keinen Eintritt eines a posteriori Arguments adhoc Alles bisherige entnimmt der Athener der allgemeinen Seelenlehre

26 Georgia Mouroutsou

gie des Phaidros sowie des Sophistes Er stellt die Frage was die Seele istund was fuumlr ein Vermoumlgen sie hat οἷόν τε ὂν τυγχάνει καὶ δύναμιν ἣνἔχει71

Obwohl die Frage nach dem Tun (ποιεῖν) oder Leiden (πάσχειν) derSeele als δύναμις nicht explizit gestellt wird72 bringt ihre Definition alsSelbstbewegung ein gleichzeitiges Tun (als Bewegen) und Leiden (alsBewegtwerden) zum Ausdruck73 Die Seele ist die Kraft die sich selbstund anderes bewegt74 Die Definition der Seele als Selbstbewegung kannentweder als Aktivitaumlt oder Passivitaumlt ausgedruumlckt werden Die Seele be-wegt sich selbst und wird von sich selbst bewegt Ein gleichzeitiges Tunund Leiden das aber nicht das gleiche Seiende verursacht geschieht beikoumlrperlicher Bewegung Ein Koumlrper mag auf einen anderen Koumlrper wir-ken und zu gleicher Zeit kann er von einer Seele oder einem anderenKoumlrper bewegt werden aber nicht von sich selbst75

Platon gibt die Definition der Seele in ihrer Allgemeinheit d hunabhaumlngig von ihren moumlglichen Manifestationen in konkretenLebewesen Alles was Seele ist soll Selbstbewegung sein mag es sichum die Seele des Menschen oder des Tieres oder der Pflanze handelnWeil die individuellen Manifestationen der Seele nicht beruumlcksichtigtwerden fehlt bei der Formel der Definition τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴνκινεῖν κίνησιν (896a1f) auch der Bezug auf den Koumlrper den die jeweiligekonkrete Seele beseelt Im Falle der Absenz der Materie in einer Defini-

70 Der Vorschlag des Gastes aus Elea in Sph 247d-e wird nicht allgemein alsPlatons Vorschlag uumlber Ontologie gedeutet Sehr haumlufig beschraumlnken Exegetendas Seiende als δύναμις auf die ad loc Argumentation gegen die MaterialistenAuch wenn dieses Argument als Platons Argument charakterisiert wird bleibtes sehr umstritten ob es eine allgemeine Ontologie betrifft (Brown) oder in eineOntologie der Ideen einmuumlndet (Gerson Politis) Darauf gehe ich hier nicht ein

71 Lg 892a3 vgl Lg 894b8-c1 und 896a1f72 Der Athener bezieht sich auf Tun und Leiden nur in 894c5f und meint

wahrscheinlich sowohl Seelisches als auch Koumlrperliches mit dem die Seele har-monisiert

73 In Lg 894b8-c1 und 896a1f beantwortet der Athener seine Frage nach derArt des Vermoumlgens mit dem die Seele ausgestattet ist Der gesamteZusammenhang verbindet die Frage nach dem Wesen eines Seienden mit derFrage nach seinem Vermoumlgen

74 Lg 893c4f75 Gaiser fuumlhrt den Ausgleich zwischen Passivitaumlt und Aktivitaumlt in der selbst-

bewegenden Seele auf das Zusammenwirken der zwei platonischen Prinzipienzuruumlck (Platons Ungeschriebene Lehre S 195f)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 27

tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

28 Georgia Mouroutsou

Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

30 Georgia Mouroutsou

tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 31

welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

32 Georgia Mouroutsou

zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

34 Georgia Mouroutsou

Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

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werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

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abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

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ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

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Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

24 Georgia Mouroutsou

Weltseele schon in den oberen Zeilen zu finden Nach dieser Lektuumlrewaumlre die zweite Art von Seele nur imstande Schlechtes durchzufuumlhrenaber wuumlrde nicht tatsaumlchlich so etwas tun Waumlre das der Fall warumsollte der Athener uumlberhaupt erst zwischen zwei Arten von Seele unter-scheiden In einem Kontext wo die Staumlrke die praktische Macht sowieEffizienz und Dominanz der Seele uumlberwiegen64 ist die Option einersbquoersten Moumlglichkeitlsquo keine gelungene Annahme65 Nur in dem Fall desgoumlttlichen Demiurgen koumlnnten wir eine solche sbquoerste Moumlglichkeitlsquo an-wenden die sich nie wirklich durchsetzen wird Trotz seiner Faumlhigkeites zu tun ist der Demiurg nicht bereit die guten Mischungen aufzuloumlsenund die kosmische Ordnung zugrunde zu richten Das Konzept einesDemiurgen der faumlhig ist beides zu tun sowohl Gutes als auch Schlech-tes ist fuumlr Platon undenkbar weil Gott wesentlich gut ist66 Zu-gegebenermaszligen waumlre es zu weitreichend all das in 896e5f hineinzule-sen und die zweite Art der Seele mit dem goumlttlichen Demiurgen zuidentifizieren

61 Der δύναμις-Aspekt geht verloren bei Plutarch der stattdessen von der gutwirkenden und der entgegengesetzten Seele spricht die das Gegenteil vollbringtDe Is Et Osir 370F4-6 raquoὧν τὴν μὲν ἀγαθουργόν εἶναι τὴν δrsquo ἐναντίαν ταύτῃ καὶτῶν ἐναντίων δημιουργόνlaquo Den wichtigen Bezug auf δύναμις verpassen Jowettlsquoone the author of good and the other of the evilrsquo (The Dialogues of Plato S466) sowie Grube Platorsquos Thought lsquoone that does good and one that does evilrsquo(Platorsquos Thought S 146)

Brisson spricht von der Neutralitaumlt der Seele die faumlhig ist gut oder schlecht zusein (Vernunft Natur und Gesetz im zehnten Buch von Platons Gesetzen InHavlicek Ales (Hrsg) The Republic and the Laws of Plato Proceedings of theFirst Symposium Plato Symposium Platonicum Pragense 1 (1997) S 182-200Hier S189) ohne diese Textstelle heranzuziehen

62 Das Verb ist sbquoἐξεργάζεσθαιlsquo das nicht nur das Schlechte bewirken sondern esauch vollenden heiszligt (vgl ἔργον sowohl in als auch in ἐξεργάζεσθαι)

63 Vgl Dillons allgemeine Folgerung uumlber das ontologische Problem desSchlechten bei Platon (Monist and Dualist Tendencies S 11) Der Fall einerschlechten Seele die nicht als Privation der guten Seele vorkommt sondern alsraquofaumlhig Schlechtes zu vollendenlaquo unterstuumltzt Dillons Konklusion dass diesbquoschlechte Seelelsquo eine negative zerstoumlrende Macht sei

64 Vgl die Charakterisierung der Seele in 894d1f 895b665 Dank der Beobachtung von David Sedley wurde es mir klar dass ich

unabsichtlich eine aristotelsiche sbquoerste Potenzialitaumltlsquo in einer fruumlheren Versionvorgeschlagen hatte

66 Vgl oben Fuszlignote 7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 25

Bevor wir zur allgemeinen platonischen Psychologie uumlbergehen er-waumlgen wir eine zweite moumlgliche Unterscheidung der Seele in 896e4-6Bis jetzt habe ich die Distinktion zwischen guter und schlechter Seele alsselbstverstaumlndlich betrachtet Eine vorsichtigere Lektuumlre ermoumlglicht einezweite Option naumlmlich die Unterscheidung zwischen derwohlwollenden Seele die immer das Gute vollendet und derjenigen diefaumlhig ist entgegengesetzte Dinge (Plural) durchzufuumlhren sowohl Gutesals auch Schlechtes (τῆς τἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαι) Die ersteSeele kann keine andere als die goumlttliche sein67 Fuumlr die zweite Seele istder einzige Kandidat die menschliche Seele Auszligerdem wuumlrde die Seeleder Tiere unter die Seele fallen die sowohl Gutes als auch Schlechtestun kann weil sie einen logischen Teil beinhaltet auch wenn deformiertDas Goumlttliche ist immer gut Die Pflanzen moumlgen gut sein insofern siein eine globale Teleologie integriert sind Sie wuumlrden aber nie als faumlhigcharakterisiert etwas Gutes oder noch weniger etwas Schlechtes zutun noch wuumlrden sie die Verantwortung fuumlr die herbeigefuumlhrten gutenoder schlechten Wirkungen tragen Wenn diese Lektuumlre als die einzigemoumlgliche aufgewiesen werden koumlnnte wuumlrden wir mit Sicherheit dieFrage nach der schlechten Seele auf spaumlter verschieben68

Wie es auch sein mag befinden wir uns noch im Rahmen derallgemeinen Lehre der Seele qua Seele als Selbstbewegung Die kosmi-sche Seele ist in 896e1f aufgetaucht aber die Unterscheidung zwischender guten und der schlechten Seele oder der goumlttlichen und men-schlichen Seele wird auf einer allgemeinen Ebene gezogen69 Obgleichder Athener nicht die theorethischen Anspruumlche des Sophistes erhebtsetzt er die allgemeine platonische Ontologie voraus dergemaumlszlig dasSeiende qua Seiendes δύναμις sei Das Kriterium fuumlr alles was Seiendesist sei es Intelligibles oder Koumlrperliches Koumlrper oder Seele ist das Ver-moumlgen zu tun oder zu leiden70 Die Erforschung der Seele als Seiendesverlangt daher die Frage nach ihrer Kraft und ihrem Vermoumlgen (Lg892a2f) Der Gast aus Athen bezieht sich stets auf die δύναμις-Ontolo-

67 Der Athener kann noch nicht die gute Seele als goumlttlich charakterisierenDas Argument hat noch nicht die Goumlttlichkeit der Seele bewiesen

68 Der kreative Charakter der Dialektik ermoumlglicht mehr als eine richtige Ein-teilung Zu diesem Aspekt s Plt 286d-e und Delcomminettes Monographie

69 Anders als Taylor der den Uumlbergang von 896e2 zu e4 durch die Praumlmisseder Aktualitaumlt des Guten und Schlechten in der gegenwaumlrtigen Welt verhilft (TheLaws S 289 Anm 1) sehe ich keinen Eintritt eines a posteriori Arguments adhoc Alles bisherige entnimmt der Athener der allgemeinen Seelenlehre

26 Georgia Mouroutsou

gie des Phaidros sowie des Sophistes Er stellt die Frage was die Seele istund was fuumlr ein Vermoumlgen sie hat οἷόν τε ὂν τυγχάνει καὶ δύναμιν ἣνἔχει71

Obwohl die Frage nach dem Tun (ποιεῖν) oder Leiden (πάσχειν) derSeele als δύναμις nicht explizit gestellt wird72 bringt ihre Definition alsSelbstbewegung ein gleichzeitiges Tun (als Bewegen) und Leiden (alsBewegtwerden) zum Ausdruck73 Die Seele ist die Kraft die sich selbstund anderes bewegt74 Die Definition der Seele als Selbstbewegung kannentweder als Aktivitaumlt oder Passivitaumlt ausgedruumlckt werden Die Seele be-wegt sich selbst und wird von sich selbst bewegt Ein gleichzeitiges Tunund Leiden das aber nicht das gleiche Seiende verursacht geschieht beikoumlrperlicher Bewegung Ein Koumlrper mag auf einen anderen Koumlrper wir-ken und zu gleicher Zeit kann er von einer Seele oder einem anderenKoumlrper bewegt werden aber nicht von sich selbst75

Platon gibt die Definition der Seele in ihrer Allgemeinheit d hunabhaumlngig von ihren moumlglichen Manifestationen in konkretenLebewesen Alles was Seele ist soll Selbstbewegung sein mag es sichum die Seele des Menschen oder des Tieres oder der Pflanze handelnWeil die individuellen Manifestationen der Seele nicht beruumlcksichtigtwerden fehlt bei der Formel der Definition τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴνκινεῖν κίνησιν (896a1f) auch der Bezug auf den Koumlrper den die jeweiligekonkrete Seele beseelt Im Falle der Absenz der Materie in einer Defini-

70 Der Vorschlag des Gastes aus Elea in Sph 247d-e wird nicht allgemein alsPlatons Vorschlag uumlber Ontologie gedeutet Sehr haumlufig beschraumlnken Exegetendas Seiende als δύναμις auf die ad loc Argumentation gegen die MaterialistenAuch wenn dieses Argument als Platons Argument charakterisiert wird bleibtes sehr umstritten ob es eine allgemeine Ontologie betrifft (Brown) oder in eineOntologie der Ideen einmuumlndet (Gerson Politis) Darauf gehe ich hier nicht ein

71 Lg 892a3 vgl Lg 894b8-c1 und 896a1f72 Der Athener bezieht sich auf Tun und Leiden nur in 894c5f und meint

wahrscheinlich sowohl Seelisches als auch Koumlrperliches mit dem die Seele har-monisiert

73 In Lg 894b8-c1 und 896a1f beantwortet der Athener seine Frage nach derArt des Vermoumlgens mit dem die Seele ausgestattet ist Der gesamteZusammenhang verbindet die Frage nach dem Wesen eines Seienden mit derFrage nach seinem Vermoumlgen

74 Lg 893c4f75 Gaiser fuumlhrt den Ausgleich zwischen Passivitaumlt und Aktivitaumlt in der selbst-

bewegenden Seele auf das Zusammenwirken der zwei platonischen Prinzipienzuruumlck (Platons Ungeschriebene Lehre S 195f)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 27

tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

28 Georgia Mouroutsou

Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

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tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 31

welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

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zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

34 Georgia Mouroutsou

Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

40 Georgia Mouroutsou

werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

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abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

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ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 25

Bevor wir zur allgemeinen platonischen Psychologie uumlbergehen er-waumlgen wir eine zweite moumlgliche Unterscheidung der Seele in 896e4-6Bis jetzt habe ich die Distinktion zwischen guter und schlechter Seele alsselbstverstaumlndlich betrachtet Eine vorsichtigere Lektuumlre ermoumlglicht einezweite Option naumlmlich die Unterscheidung zwischen derwohlwollenden Seele die immer das Gute vollendet und derjenigen diefaumlhig ist entgegengesetzte Dinge (Plural) durchzufuumlhren sowohl Gutesals auch Schlechtes (τῆς τἀναντία δυναμένης ἐξεργάζεσθαι) Die ersteSeele kann keine andere als die goumlttliche sein67 Fuumlr die zweite Seele istder einzige Kandidat die menschliche Seele Auszligerdem wuumlrde die Seeleder Tiere unter die Seele fallen die sowohl Gutes als auch Schlechtestun kann weil sie einen logischen Teil beinhaltet auch wenn deformiertDas Goumlttliche ist immer gut Die Pflanzen moumlgen gut sein insofern siein eine globale Teleologie integriert sind Sie wuumlrden aber nie als faumlhigcharakterisiert etwas Gutes oder noch weniger etwas Schlechtes zutun noch wuumlrden sie die Verantwortung fuumlr die herbeigefuumlhrten gutenoder schlechten Wirkungen tragen Wenn diese Lektuumlre als die einzigemoumlgliche aufgewiesen werden koumlnnte wuumlrden wir mit Sicherheit dieFrage nach der schlechten Seele auf spaumlter verschieben68

Wie es auch sein mag befinden wir uns noch im Rahmen derallgemeinen Lehre der Seele qua Seele als Selbstbewegung Die kosmi-sche Seele ist in 896e1f aufgetaucht aber die Unterscheidung zwischender guten und der schlechten Seele oder der goumlttlichen und men-schlichen Seele wird auf einer allgemeinen Ebene gezogen69 Obgleichder Athener nicht die theorethischen Anspruumlche des Sophistes erhebtsetzt er die allgemeine platonische Ontologie voraus dergemaumlszlig dasSeiende qua Seiendes δύναμις sei Das Kriterium fuumlr alles was Seiendesist sei es Intelligibles oder Koumlrperliches Koumlrper oder Seele ist das Ver-moumlgen zu tun oder zu leiden70 Die Erforschung der Seele als Seiendesverlangt daher die Frage nach ihrer Kraft und ihrem Vermoumlgen (Lg892a2f) Der Gast aus Athen bezieht sich stets auf die δύναμις-Ontolo-

67 Der Athener kann noch nicht die gute Seele als goumlttlich charakterisierenDas Argument hat noch nicht die Goumlttlichkeit der Seele bewiesen

68 Der kreative Charakter der Dialektik ermoumlglicht mehr als eine richtige Ein-teilung Zu diesem Aspekt s Plt 286d-e und Delcomminettes Monographie

69 Anders als Taylor der den Uumlbergang von 896e2 zu e4 durch die Praumlmisseder Aktualitaumlt des Guten und Schlechten in der gegenwaumlrtigen Welt verhilft (TheLaws S 289 Anm 1) sehe ich keinen Eintritt eines a posteriori Arguments adhoc Alles bisherige entnimmt der Athener der allgemeinen Seelenlehre

26 Georgia Mouroutsou

gie des Phaidros sowie des Sophistes Er stellt die Frage was die Seele istund was fuumlr ein Vermoumlgen sie hat οἷόν τε ὂν τυγχάνει καὶ δύναμιν ἣνἔχει71

Obwohl die Frage nach dem Tun (ποιεῖν) oder Leiden (πάσχειν) derSeele als δύναμις nicht explizit gestellt wird72 bringt ihre Definition alsSelbstbewegung ein gleichzeitiges Tun (als Bewegen) und Leiden (alsBewegtwerden) zum Ausdruck73 Die Seele ist die Kraft die sich selbstund anderes bewegt74 Die Definition der Seele als Selbstbewegung kannentweder als Aktivitaumlt oder Passivitaumlt ausgedruumlckt werden Die Seele be-wegt sich selbst und wird von sich selbst bewegt Ein gleichzeitiges Tunund Leiden das aber nicht das gleiche Seiende verursacht geschieht beikoumlrperlicher Bewegung Ein Koumlrper mag auf einen anderen Koumlrper wir-ken und zu gleicher Zeit kann er von einer Seele oder einem anderenKoumlrper bewegt werden aber nicht von sich selbst75

Platon gibt die Definition der Seele in ihrer Allgemeinheit d hunabhaumlngig von ihren moumlglichen Manifestationen in konkretenLebewesen Alles was Seele ist soll Selbstbewegung sein mag es sichum die Seele des Menschen oder des Tieres oder der Pflanze handelnWeil die individuellen Manifestationen der Seele nicht beruumlcksichtigtwerden fehlt bei der Formel der Definition τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴνκινεῖν κίνησιν (896a1f) auch der Bezug auf den Koumlrper den die jeweiligekonkrete Seele beseelt Im Falle der Absenz der Materie in einer Defini-

70 Der Vorschlag des Gastes aus Elea in Sph 247d-e wird nicht allgemein alsPlatons Vorschlag uumlber Ontologie gedeutet Sehr haumlufig beschraumlnken Exegetendas Seiende als δύναμις auf die ad loc Argumentation gegen die MaterialistenAuch wenn dieses Argument als Platons Argument charakterisiert wird bleibtes sehr umstritten ob es eine allgemeine Ontologie betrifft (Brown) oder in eineOntologie der Ideen einmuumlndet (Gerson Politis) Darauf gehe ich hier nicht ein

71 Lg 892a3 vgl Lg 894b8-c1 und 896a1f72 Der Athener bezieht sich auf Tun und Leiden nur in 894c5f und meint

wahrscheinlich sowohl Seelisches als auch Koumlrperliches mit dem die Seele har-monisiert

73 In Lg 894b8-c1 und 896a1f beantwortet der Athener seine Frage nach derArt des Vermoumlgens mit dem die Seele ausgestattet ist Der gesamteZusammenhang verbindet die Frage nach dem Wesen eines Seienden mit derFrage nach seinem Vermoumlgen

74 Lg 893c4f75 Gaiser fuumlhrt den Ausgleich zwischen Passivitaumlt und Aktivitaumlt in der selbst-

bewegenden Seele auf das Zusammenwirken der zwei platonischen Prinzipienzuruumlck (Platons Ungeschriebene Lehre S 195f)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 27

tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

28 Georgia Mouroutsou

Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

30 Georgia Mouroutsou

tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 31

welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

32 Georgia Mouroutsou

zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

34 Georgia Mouroutsou

Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

40 Georgia Mouroutsou

werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

42 Georgia Mouroutsou

abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

26 Georgia Mouroutsou

gie des Phaidros sowie des Sophistes Er stellt die Frage was die Seele istund was fuumlr ein Vermoumlgen sie hat οἷόν τε ὂν τυγχάνει καὶ δύναμιν ἣνἔχει71

Obwohl die Frage nach dem Tun (ποιεῖν) oder Leiden (πάσχειν) derSeele als δύναμις nicht explizit gestellt wird72 bringt ihre Definition alsSelbstbewegung ein gleichzeitiges Tun (als Bewegen) und Leiden (alsBewegtwerden) zum Ausdruck73 Die Seele ist die Kraft die sich selbstund anderes bewegt74 Die Definition der Seele als Selbstbewegung kannentweder als Aktivitaumlt oder Passivitaumlt ausgedruumlckt werden Die Seele be-wegt sich selbst und wird von sich selbst bewegt Ein gleichzeitiges Tunund Leiden das aber nicht das gleiche Seiende verursacht geschieht beikoumlrperlicher Bewegung Ein Koumlrper mag auf einen anderen Koumlrper wir-ken und zu gleicher Zeit kann er von einer Seele oder einem anderenKoumlrper bewegt werden aber nicht von sich selbst75

Platon gibt die Definition der Seele in ihrer Allgemeinheit d hunabhaumlngig von ihren moumlglichen Manifestationen in konkretenLebewesen Alles was Seele ist soll Selbstbewegung sein mag es sichum die Seele des Menschen oder des Tieres oder der Pflanze handelnWeil die individuellen Manifestationen der Seele nicht beruumlcksichtigtwerden fehlt bei der Formel der Definition τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴνκινεῖν κίνησιν (896a1f) auch der Bezug auf den Koumlrper den die jeweiligekonkrete Seele beseelt Im Falle der Absenz der Materie in einer Defini-

70 Der Vorschlag des Gastes aus Elea in Sph 247d-e wird nicht allgemein alsPlatons Vorschlag uumlber Ontologie gedeutet Sehr haumlufig beschraumlnken Exegetendas Seiende als δύναμις auf die ad loc Argumentation gegen die MaterialistenAuch wenn dieses Argument als Platons Argument charakterisiert wird bleibtes sehr umstritten ob es eine allgemeine Ontologie betrifft (Brown) oder in eineOntologie der Ideen einmuumlndet (Gerson Politis) Darauf gehe ich hier nicht ein

71 Lg 892a3 vgl Lg 894b8-c1 und 896a1f72 Der Athener bezieht sich auf Tun und Leiden nur in 894c5f und meint

wahrscheinlich sowohl Seelisches als auch Koumlrperliches mit dem die Seele har-monisiert

73 In Lg 894b8-c1 und 896a1f beantwortet der Athener seine Frage nach derArt des Vermoumlgens mit dem die Seele ausgestattet ist Der gesamteZusammenhang verbindet die Frage nach dem Wesen eines Seienden mit derFrage nach seinem Vermoumlgen

74 Lg 893c4f75 Gaiser fuumlhrt den Ausgleich zwischen Passivitaumlt und Aktivitaumlt in der selbst-

bewegenden Seele auf das Zusammenwirken der zwei platonischen Prinzipienzuruumlck (Platons Ungeschriebene Lehre S 195f)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 27

tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

28 Georgia Mouroutsou

Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

30 Georgia Mouroutsou

tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 31

welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

32 Georgia Mouroutsou

zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

34 Georgia Mouroutsou

Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

40 Georgia Mouroutsou

werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

42 Georgia Mouroutsou

abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 27

tion geht es nach Aristoteles um die Betrachtung einer abtrennbarenoder abgetrennten Substanz Entweder werden die mathematischenGegenstaumlnde von dem jeweiligen Koumlrper abstrahiert von dem sie alsdessen intelligible Materie jedoch tatsaumlchlich untrennbar sind oder eshandelt sich um den Bereich der ersten Philosophie Bei der hiesigen pla-tonischen Problematik befinden wir uns im Rahmen der Allwissenschaftder Dialektik ndash auch wenn das Wort nicht faumlllt ndash und insbesondere imBereich einer allgemeinen Seelenlehre Die Definition der Seele quaSeele die unabhaumlngig von dem jeweiligen beseelten Koumlrper artikuliertwird weist auf die erkenntnistheoretische Prioritaumlt der Seele gegenuumlberdem Koumlrper hin

vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Ex-tension Was fuumlr Seelen gibt es

Platons Art zu schreiben fuumlhrt uns vor weitere Schwierigkeiten Unmit-telbar nach ihrer Einfuumlhrung (Lg 896d10-e6) wird die Weltseele wiederin den Hintergrund gestellt weil ψυχή in 896e8 wiederum die Seele imAllgemeinen bedeutet Als Ursprung der Bewegung alles Seienden laumlsstsie sich dann im Bereich des Himmels der Erde und des Meeres konkre-tisieren

raquo[hellip] Die Seele leitet alles was sich im Bereich des Himmels und derErde und des Meeres befindet durch ihre eigenen Bewegungen derenNamen sind Wollen Erwaumlgen Fuumlrsorgen Beraten Richtiges oder Fal-sches Meinen Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht EmpfindenHass oder Zuneigung und durch alle [Bewegungen] die mit diesen ver-wandt sind Oder wiederum indem die primaumlren Bewegungen diesekundaumlren Bewegungen der Koumlrper aufnehmen leiten sie alles inWachstum und Schwinden und in Scheidung und Verbindung und alldiesem folgend in Waumlrme und Kaumllte Schwere und Leichtigkeit Hartesund Weiches Weiszliges und Schwarzes Herbes und Suumlszliges und all das wasdie Seele gebraucht Insofern sie [die Seele] nun jedesmal die Vernunfthinzunimmt die fuumlr die Goumltter rechtmaumlszligig ein Gott ist leitet sie allesrichtig und auf gluumlckliche Weise insofern sie aber wiederum mit Unver-nunft umgeht dann bewirkt sie zu diesen Dingen das Gegenteil Lasstuns ansetzen dass dies sich so verhaumllt oder zweifeln wir noch ob es sichanders verhaumlltlaquo76

28 Georgia Mouroutsou

Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

30 Georgia Mouroutsou

tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 31

welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

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zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

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Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

40 Georgia Mouroutsou

werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

42 Georgia Mouroutsou

abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

28 Georgia Mouroutsou

Dass der Gast nicht vom All oder Himmel in seiner Ganzheit son-dern von allem Seienden (πάντα 896e8) spricht zeigt dass sich dieangefuumlhrte Passage nicht auf die Weltseele beschraumlnkt Was einer solchenEinschraumlnkung uumlberdies widerspricht ist das Aufzaumlhlen von falschemMeinen und Affekten (Freude oder Traurigkeit Mut oder Furcht) unterden seelischen Bewegungen Timaios thematisiert ausschlieszliglich den ra-tionalen Teil der Weltseele ohne die geringste Andeutung auf einen ihrmoumlglicherweise zugehoumlrigen irrationalen Teil auszusprechen Als Er-kenntnisweisen der Weltseele werden die zuverlaumlssigen und wahrenMeinungen und Uumlberzeugungen im Bereich des Wahrnehmbaren sowieVernunft und Wissenschaft im Bereich des Intelligiblen gekennzeichnetErst den sterblichen Teil der menschlichen Seele der dem unsterblichenrationalen Teil nachtraumlglich hinzugefuumlgt wird betreffen die AffekteDeshalb duumlrfen wir folgern ab Lg 896e8 bis 897b1 ziehe Platon inGestalt des Atheners wieder die Seele im Allgemeinen in Betracht wo-bei seine aufzaumlhlende Weise den extensionalen Charakter der jetzigenBetrachtung verrate Er fuumlhrt naumlmlich nacheinander an was fuumlr ver-schiedene Arten seelischer Bewegung es gibt mag es sich dabei um dieWeltseele oder um Teile der anderen konkreten Einzelseelen handelnDie intensionale Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Seele quaSeele bewahrt dabei ihre Guumlltigkeit sbquoSelbstbewegungrsquo Platon erlaubtsich hier den Bezug sowohl auf die Weltseele als auch auf die Einzelsee-len obwohl er im Timaios einen qualitativen Unterschied zwischen derWeltseele ndash besser gesagt ihrem rationalen Teil ndash und dem rationalen Teilder menschlichen Einzelseelen andeutet77

In unserer Passage faumlllt auf dass das Kriterium des jetzt aufgestelltenPrimats der Seele nicht ihre in anderen Entwicklungsphasen des sch-

76 Lg 896e8-b5 raquo[hellip] ἄγει μὲν δὴ ψυχὴ πάντα τὰ κατrsquo οὐρανὸν καὶ γῆν καὶθάλατταν καὶ ταῖς αὑτῆς κινήσεσιν αἷς ὀνόματά ἐστιν βούλεσθαι σκοπείσθαιἐπιμελεῖσθαι βουλεύεσθαι δοξάζειν ὀρθῶς ἐψευσμένως χαίρουσαν λυπουμένηνθαρροῦσαν φοβουμένην μισοῦσαν στέργουσαν καὶ πάσαις ὅσαι τούτων συγγενεῖς ἢπρωτουργοὶ κινήσεις τὰς δευτερουργοὺς αὖ παραλαμβάνουσαι κινήσεις σωμάτωνἄγουσι πάντα εἰς αὔξησιν καὶ φθίσιν καὶ διάκρισιν καὶ σύγκρισιν καὶ τούτοιςἑπομένας θερμότητας ψύξεις βαρύτητας κουφότητας σκληρὸν καὶ μαλακόνλευκὸν καὶ μέλαν αὐστηρὸν καὶ γλυκύ καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ χρωμένη νοῦν μὲνπροσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸν ὀρθῶς θεοῖς ὀρθὰ καὶ εὐδαίμονα παιδαγωγεῖ πάντα ἀνοίᾳδὲ συγγενομένη πάντα αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεργάζεται τιθῶμεν ταῦτα οὕτωςἔχειν ἢ ἔτι διστάζομεν εἰ ἑτέρως πως ἔχει laquo

77 Ti 41d4-7

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

30 Georgia Mouroutsou

tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 31

welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

32 Georgia Mouroutsou

zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

34 Georgia Mouroutsou

Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

40 Georgia Mouroutsou

werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

42 Georgia Mouroutsou

abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 29

reibenden Platon im Vordergrund stehende Unsterblichkeit ist78 Wor-auf es jetzt ankommt ist die Unterscheidung zwischen primaumlren seeli-schen Bewegungen einerseits und sekundaumlren koumlrperlichenBewegungen andererseits79 Dass die zu den ersten gehoumlrenden Be-wegungen mit dem unsterblichen wie auch mit dem sterblichen Seelen-teil verbunden sind wird im gegenwaumlrtigen Kontext nicht problemati-siert Wir duumlrfen hier deshalb kein Argument fuumlr die Unsterblichkeit derSeele hineinlesen Nicht die Unsterblichkeit macht das Wesen all ihrerBewegungen aus sondern die Selbstbewegung die nicht nur dem ratio-nalen Teil sondern auch dem sterblichen Teil beizumessen ist Wie daherfolgt und auch durch den Text belegt wird faumlllt das Wesen der Seelenicht mit der Vernunft zusammen80

Die den Hauptton angebende Seelenlehre bleibt die allgemeine See-lenlehre der Seele qua Seele Auf diese Weise gelangen wir von derBeobachtung eines oszillierendes Textes81 zu einer grundsaumltzlichen Dis-

78 In der Argumentation uumlber die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon in derPoliteia und im Phaidros Vgl aber auch Lg 959b wo Unsterblichkeit unseremwahren Selbst naumlmlich der Seele zugeschrieben wird Robinson beobachtet mitRecht lsquo[hellip] in terms of his views on soul and body [the Laws] is almost a com-pendium of the views he has elaborated over a writing lifetimersquo (The DefiningFeatures S 53) Man stoumlszligt dabei auf Probleme mit denen sich der ganze Plato-nismus befasst hat und die den Rahmen dieses Beitrags uumlberschreiten (vglWerner Deuses Einleitung Untersuchungen zur mittelplatonischen und neupla-tonischen Seelenlehre Mainz 1983 S 7-11) Sollte man die Selbstbewegungnicht fuumlr wesentlich unsterblich halten Und wenn ja sollte man denBewegungen des sterblichen Teils (wie Liebe Hass Freude und Traurigkeit)Unsterblichkeit zuweisen Zu einer Abschwaumlchung wenn auch nicht Besei-tigung der auszligerordentlichen Schwierigkeiten koumlnnen die verschiedenen Gradevon Unsterblichkeit beitragen mit denen die geschriebene platonische Philoso-phie vertraut ist Im Politikos-Mythos wird eine Art wiederherstellbarerUnsterblichkeit sogar der Welt zugesprochen (Plt 270a4)

79 Wenn wir den Satz des Atheners in all seiner Radikalitaumlt durchdenkensollten wir auch die physischen Prozesse die nach Timaios durch die Elementar-dreiecke verursacht werden (Ti 56cff) auf Seelisches beziehen oder das darinbeteiligte Mathematische in seiner platonischen Substanzialitaumlt und nicht alsAbstraktion gemaumlszlig der aristotelischen Konzeption neu bestimmen Solmsenzieht mit Tiefsinn die erste Folgerung 1942 S 148 Anm 36 Den zweiten Weghat Gaiser eingeschlagen Aufgrund dieser Uumlberlegungen betrachte ich die Redevon sbquoὕδωρ ἔμψυχονlsquo in Lg 903e6 als nicht auszligergewoumlhnlich wie unter anderenSaunders Penology and Eschatology S 240ff sondern als der materialistischenAuffassung von Lg 896b4f entgegengesetzt der gemaumlszlig die Elemente voumllligunbeseelt sind

30 Georgia Mouroutsou

tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 31

welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

32 Georgia Mouroutsou

zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

34 Georgia Mouroutsou

Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

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werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

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abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

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ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

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Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

30 Georgia Mouroutsou

tinktion in der platonischen Seelenlehre die das spaumltere platonischeDenken ndash in bemerkenswerter Weise beides Ontologie und Seelenlehrendash praumlgt Was die Seelenlehre angeht bemerken wir im Rahmen der spaumlte-ren platonischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen allgemeinerSeelenlehre auf der einen Seite gemaumlszlig der die Seele qua Seele als Selbst-bewegung definiert wird die das Wesen von allem was Seele ist wieder-gibt und der Heraushebung eines Teils der Seele auf der anderen Seitenaumlmlich der Vernunft die die eigentliche Seele ausmachen soll82

vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele

Nach Kleiniasrsquo uneingeschraumlnkter Zustimmung kehrt der Athener zu-ruumlck zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen guter undsbquoschlechter Seelersquo um die Frage erneut fuumlr die Weltseele zu stellen

Ath raquoFuumlr welche der beiden Gattungen von Seele sollen wir nunsagen sie sei zur Herrschaft uumlber den Himmel und die Erde und denganzen Kreis des Alls gekommen Fuumlr diejenige die mit Besonnenheitund Tugend erfuumlllt ist oder diejenige die nichts von beidem besitztlaquo83

Die hier angesprochene sbquoGattung der Seelelsquo (ψυχῆς γένος) bezieht sichnoch immer auf die Seele qua Seele84 Die Unterscheidung zwischenzwei Gattungen der Seele bestaumltigt aufs Neue den allgemeinen Charak-ter der Untersuchung Im Fall von guter oder schlechter Veraumlnderung istdie Seele qua Seele ie Selbstbewegung die primaumlre Ursache Die Frage

80 Ich bewahre den in AO uumlberlieferten Text raquoνοῦν μὲν προσλαβοῦσα ἀεὶ θεὸνὀρθῶςlaquo (897b1f) Die von Diegraves uumlbernommene Konjektur von Arethas ist mitRecht oft kritisiert worden weil an dieser Stelle noch nicht aufgewiesen wordenist dass die Seele goumlttlich ist (s z B Schoumlpsdau Platon Gesetze S 301 Anm35 Steiner Platon Nomoi X S 162)

81 Vgl Carone Teleology and Evil S 286f lsquoPlato has certainly fused the twosenses in which he speaks of soulrsquo Die Interpretin hebt diese wichtige Ver-schmelzung hervor ohne sie auf die Unterscheidung zuruumlckzufuumlhren die in derspaumlteren platonischen Ontologie und Psychologie gezogen wird

82 Zur Konvergenz der Entwicklung in der spaumlteren platonischen Ontologieund Seelenlehre s unten III

83 Lg 897b7-c1 raquoΠότερον οὖν δὴ ψυχῆς γένος ἐγκρατὲς οὐρανοῦ καὶ γῆς καὶπάσης τῆς περιόδου γεγονέναι φῶμεν τὸ φρόνιμον καὶ ἀρετῆς πλῆρες ἢ τὸμηδέτερα κεκτημένονlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 31

welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

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zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

34 Georgia Mouroutsou

Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

40 Georgia Mouroutsou

werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

42 Georgia Mouroutsou

abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 31

welche Seele die ganze Bewegung des Himmels leitet der voll von Gu-tem und Schlechtem ist85 laumlsst sich folgendermaszligen verstehen Ist dieWeltseele von ihrem Wesen her gut oder schlecht Platons Argument hatsich als guumlltig bestaumltigt Wenn die Seele qua Seele beide Faumlhigkeiten hatsowohl Gutes als auch Schlechtes zu bewirken dann betrifft die Dis-tinktion in 896e4-6 zwei logische Moumlglichkeiten Wenn die Unter-scheidung der Seele qua Seele wohlbegruumlndet ist ist der Athener berech-tigt die oben genannte Frage in 897b7 zu stellen ob die Weltseele quaSeele gut oder schlecht ist86 Weil die oben hervorgehobenen Hypothe-sen stimmen koumlnnen wir die Frage ob die Weltseele gut oder schlechtist in die folgende Frage uumlbersetzen Unter welche Gattung der Seele imallgemeinen faumlllt die Weltseele Der Athener fuumlhrt nicht die reale Exis-tenz sondern die reale logische Moumlglichkeit einer schlechten Weltseeleein um sie unmittelbar nachher abzulehnen

Erst hier fuumlhrt der Athener die Frage nach einer schlechten Weltseeleein Die Antwort auf diese Frage legt der Athener selbst in der Form von

84 An dieser Stelle weiche ich von Carones Deutung ab weil sie nicht zwi-schen der allgemeinen Seele und der kosmischen Seele unterscheidet Dagegenscheint es mir von groszligem Belang die Begegnung der zwei Seelenlehren ad locgenau zu betrachten lsquoOn the other hand he is introducing psuche as concretelyreferring to soul or the lsquokind of soulrsquo (cf psuches genos 897b7) ruling over theuniversersquo (Teleology and Evil S 287 vgl auch Carone Platorsquos Cosmology S173) Die Seele als γένος taucht auch spaumlter auf Lg 898e1 Dort werden der Koumlr-per der als γένος mitvorausgesetzt wird und die Seele die explizit als γένος vor-kommt in ihrem Unterschied gekennzeichnet der Koumlrper als wahrnehmbar dieSeele als intelligibel Angesprochen werden der Koumlrper qua Koumlrper und die Seelequa Seele Aufgrund der Betrachtung in ihrer schieren Allgemeinheit werden sieals γένος charakterisiert Daher ist beiden Stellen (897b7 und 898e1) gemeinsamdass γένος der Seele die Seele qua Seele bedeutet Vor diesem Hintergrund kannich mit Carone (Teleology and Evil S 284 Anm 14) nicht darin uumlberein-stimmen dass die Anwendung von γένος in Lg 897b7 ausschlaggebend fuumlr dieBedeutung von sbquoTeilrsquo oder sbquoAspektrsquo ist Bevor wir Verknuumlpfungen zu der See-lenlehre der Politeia und des Timaios herstellen wie Carone es tut (aufgrund derInanspruchsnahme von den dort gleichbedeutenden γένος und die Teile der-selben Seele bezeichnen R 437d 440e-441a 441c Ti 69c-d 89e 90a) empfiehltes sich dennoch die Bedeutung von γένος in unserem unmittelbarenZusammenhang herauszuarbeiten

85 Lg 906a2-b1 Plt 273c1 Zur groumlszligeren Anzahl des Uumlbels als des Guten beiden Menschen vgl R 379c4f

86 In Uumlbereinstimmung mit Carone Teleology and Evil S 287f

32 Georgia Mouroutsou

zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

34 Georgia Mouroutsou

Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

40 Georgia Mouroutsou

werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

42 Georgia Mouroutsou

abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

32 Georgia Mouroutsou

zwei Konditionalsaumltzen vor und gewinnt ndash nicht uumlberraschend ndashKleiniasrsquo Zustimmung

Ath raquoWenn wir sagen oh Wunderbarer dass der gesamte Lauf desHimmels und gleichzeitig seine Bewegung und der Lauf und die Be-wegung von allem was sich darin befindet eine aumlhnliche Natur habenwie die Bewegung und der Umlauf und die Berechnungen der Vernunftund dass diese einen verwandten Gang gehen muumlssen wir offenbarsagen dass die beste Seele fuumlr die ganze Welt sorgt und sie auf den so be-schaffenen Weg fuumlhrt

Ath raquoWenn sie aber sich auf verruumlckte und ungeordnete Weise be-wegen [muumlssen wir offenbar sagen dass] die schlechte [Seele die Weltlenke]laquo87

viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises

Um die Fragen beantworten zu koumlnnen sollte die Art der Bewegung desAlls genauer untersucht werden Wenn sie derjenigen der Vernunft aumlh-nelt dann ist die Weltseele gut Zeigte sich die Bewegung des Ganzenjedoch als irrational chaotisch und ungeordnet und damit alles andereals vernuumlnftig waumlre die das All leitende Seele wesentlich schlechtNatuumlrlich beziehen wir uns wie oben gesagt auf die reale (logische)Moumlglichkeit einer schlechten Weltseele Unmittelbar anschlieszligend ar-gumentiert Platon in der Gestalt des Kleinias Er finde es fromm dassdie fuumlr die Bewegung des Himmels verantwortliche Seele nur dietugendhafte sei88 sie bewege sich der Vernunft gemaumlszlig fuumlr deren Be-wegung der Athener ein lobenswertes Bild wenn auch dreimal entferntvon der Realitaumlt angeboten hat Danach ahmt die Bewegung der Ver-

87 Lg 897c4-9 raquoΑΘ Εἰ μέν ὦ θαυμάσιε φῶμεν ἡ σύμπασα οὐρανοῦ ὁδὸς ἅμακαὶ φορὰ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ ὄντων ἁπάντων νοῦ κινήσει καὶ περιφορᾷ καὶ λογισμοῖςὁμοίαν φύσιν ἔχει καὶ συγγενῶς ἔρχεται δῆλον ὡς τὴν ἀρίστην ψυχὴν φατέονἐπιμελεῖσθαι τοῦ κόσμου παντὸς καὶ ἄγειν αὐτὸν τὴν τοιαύτην ὁδὸν ἐκείνηνlaquo

Lg 897d1 raquoΑΘ Εἰ δὲ μανικῶς τε καὶ ἀτάκτως ἔρχεται τὴν κακήνlaquo Um dieApodosis zum vollen Ausdruck zu bringen Im Fall einer ungeordnetenBewegung muss man sagen dass die Weltseele unter die Art der sbquoschlechtenSeelersquo faumlllt (sie ist wesentlich schlecht) Dem Konditionalsatz entnehmen wirkein Indiz hinsichtlich des Realen der aufgestellten Hypothese weil er denindefiniten Fall ausdruumlckt

88 Lg 898c6-8

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

34 Georgia Mouroutsou

Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

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werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

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abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

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ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 33

nunft die Scheiben auf der Drechselbank nach die ihrerseits die kreis-foumlrmige Bewegung imitieren89

Ἄνοια wird als Gegenteil der vernuumlnftigen Bewegung dargestellt Dieihr verwandte Bewegung ist regel- ordnungs- und gesetzeswidrig90 DerAthener hebt durchaus nicht hervor dass Aacutenoia ausschlieszliglich seeli-schen Ursprungs d h Selbstbewegung sei Wenn wir hier nichtaufmerksam sind koumlnnten wir aufgrund der Auffassung in die Irregehen dass Platon alles Schlechte auf die Seele zuruumlckfuumlhre weil das Ir-rationale hier ausschlieszliglich in der Seele zu beheimaten sei was abernicht stimmt91 Der anvisierte Passus schlieszligt nicht aus dass es irratio-nale Bewegung auch im Rahmen des Koumlrperlichen geben kann Sonstwuumlrde er auf eine direkte und heillose Weise dem Timaios wider-sprechen Um so weniger wird hier eine Schlechtigkeit dem Koumlrper quaKoumlrper ndash im Fall einer nicht ausgeschlossenen wenn auch nicht explizitgenannten koumlrperlichen Irrationalitaumlt ndash beigemessen weil ja die Seelequa Seele thematisiert wird Die These dass der Koumlrper qua Koumlrper we-der gut noch schlecht ist uumlberschreitet unsere momentane Text-grundlage und kann nur durch eine eingehende Analyse des Timaios ge-pruumlft und bestaumltigt werden Der thematische Leitfaden der Passage derin der Einfuumlhrung der sbquoschlechten Seelersquo gipfelt bleibt die Untersuchungder Seele qua Seele

89 Lg 898a3-b390 Lg 898b5-891 Zugegebenermaszligen wird in Ti 86b als seelische Krankheit dargestellt

die zwei Arten umfasst die Manie und den Unverstand In Lg 689a-b wird alsdas Subjekt der Aacutenoia wieder die Seele genannt die gegen diejenigen Widerstandleistet denen von Natur die Herrschaft zukommt Worauf ich jedoch die gebuumlh-rende Aufmerksamkeit richten moumlchte ist dass wir als Dialektiker zumGegensatz der Rationalitaumlt gelangen wann immer wir die irrationale Bewegungder Seele oder den Koumlrper qua Koumlrper thematisieren wollen In beiden Faumlllenzieht sich der νοῦς zuruumlck oder geraumlt in Stillstand mit Hilfe mythischer Aus-drucksweise (Plt 270a5 272e3-5) oder ndash um eine entsprechende Entmythologi-sierung anzubieten ndash der Dialektiker abstrahiert selber vom nous Von ist beider Untersuchung der chora nicht die Rede Jedenfalls spricht Timaios bei sei-nem sbquozweiten Anfangrsquo von einer Absonderung der koumlrperlichen (Fremd-)Bewegung von der Vernunft (46e5) von einer Absenz Gottes (53b3f) und voneiner unechten Schlussfolgerung (λογισμῷ τινι νόθῳ) als der Erkenntnisweisedie dem ontologischen Status der chora entspricht (52b2) All das deutet auf im weiteren Sinne des Wortes hin naumlmlich auf den Ruumlckzug der Vernunft imBereich der sbquoschlechten Seelersquo oder des Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen

34 Georgia Mouroutsou

Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

40 Georgia Mouroutsou

werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

42 Georgia Mouroutsou

abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

34 Georgia Mouroutsou

Die Bewegung des Himmels wird von einer guten Weltseele und meh-reren guten Seelen vollzogen die die Himmelskoumlrper bewohnen DerAthener fokussiert sich jetzt nicht auf das Ganze in seiner Gesamtheitsondern auf die Summe alles einzelnen Seienden und so geht er zu derBewegung der einzelnen himmlischen Koumlrper uumlber um am Ende eupho-risch zum erwuumlnschten Schluss zu gelangen ῶν εἶναι πλήρη πάντα(899b9) Fassen wir die Schritte des Gottesbeweises abschlieszligendzusammen Die Seele ist Selbstbewegung Als solche ist sie wesentlichentweder gut oder schlecht und Ursprung der koumlrperlichen sekundaumlrenBewegungen Nachdem wir die Guumlte ndash d h die Goumlttlichkeit ndash der Welt-seele aufgewiesen haben koumlnnen wir den Schluss ziehen dass die Weltgoumlttlich ist oder vom Gott geleitet wird Im ganzen Beweisgang ist dieGuumlte Gottes eine vorausgesetzte Praumlmisse

ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele

Nach unserer Analyse brauchen wir eine sbquoschlechte Weltseelelsquo nicht zubeseitigen noch die Gesetze aufgrund ihrer als unecht zu beweisenMuumlller hat naumlmlich die Einfuumlhrung der schlechten Weltseele als Grundfuumlr die Unechtheit der Gesetze mitzaumlhlen wollen92 Edward Zeller hattevorher die ganze Partie ab 896e4 (Μίαν ἢ πλείους) bis 898d2 (Τὸ ποῖον)ausgelassen was raquoder Buumlndigkeit der Beweisfuumlhrung fuumlr die Goumltt-lichkeit der Welt und der Gestirne nur zugute kaumlmelaquo93 Auf diese Weisewaumlre jedoch die Einfuumlhrung der Gegensaumltze in 896d5-8 eher sinnlos undbliebe ohne weitere Inanspruchnahme bedeutungslos Daruumlber hinauswuumlrden wir dem Zoumlgern zwischen Singular und Plural in 899b5 denganzen textlichen Hintergrund nehmen Der Schwerpunkt des Interes-

92 Die boumlse Weltseele ist nach Muumlller der Beleg eines Abbaus der platonischenIdeenphilosophie raquoAllein der allem platonischen Ideendenken ins Gesichtschlagende Dualismus sollte davor bewahren die Nomoi doch noch der Ide-enlehre unterzuordnenlaquo (Studien S 88)

93 Zeller Die Philosophie der Griechen 2 Teil Erste Abh S 981 Anm 1Seine Ratlosigkeit druumlckt er folgendermaszligen aus raquoAber wie koumlnnte uumlberhauptdie Seele des Alls das goumlttlichste von allen Gewordenen die Quelle aller Ver-nunft und Ordnung ihrer Natur und Bestimmung untreu geworden seinlaquo(ebd S 973)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

40 Georgia Mouroutsou

werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

42 Georgia Mouroutsou

abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 35

ses wuumlrde sich auf eine allzu abrupte Weise von der einen Weltseele aufdie mehreren astralen Einzelseelen verlagern94

Die Verlegenheit die bei Platon-Interpreten verursacht worden ist istnicht gerechtfertigt weil Platon in keiner spaumlteren Passage des Dialogseine sbquoschlechte Weltseelersquo anspricht Auszligerdem wird der erste Eindruckdass die folgende Partie der Epinomis eine sbquoschlechte Seelersquo ansprichtunmittelbar nachher korrigiert

raquoδιὸ καὶ νῦν ἡμῶν ἀξιούντων ψυχῆς οὔσης αἰτίας τοῦ ὅλου καὶ πάντωνμὲν τῶν ἀγαθῶν ὄντων τοιούτων τῶν δὲ αὖ φλαύρων τοιούτων ἄλλωντῆς μὲν φορᾶς πάσης καὶ κινήσεως ψυχήν αἰτίαν εἶναι θαῦμα οὐδέν τὴν δrsquoἐπὶ τἀγαθὸν φορὰν καὶ κίνησιν τῆς ἀρίστης ψυχῆς εἶναι τὴν δrsquo ἐπὶτοὐναντίον ἐναντίαν νενικηκέναι δεῖ καὶ νικᾶν τὰ ἀγαθὰ τὰ μὴτοιαῦταlaquo95

Bei genauerem Hinsehen bemerken wir jedoch dass die entgegenge-setzte Bewegung in 988e2 gemeint ist und nicht die Seele denn in diesemzweiten Fall haumltten wir einen Genitiv statt eines Akkusativs erwartenmuumlssen

Wegen der groszligen Anzahl der Interpreten die von einer schlechtenWeltseele bei Platon fasziniert wurden sehen wir uns eingehender dieVersuche an die Befremdlichkeit der Lehre von der sbquoschlechten Wel-teelersquo zu uumlberwinden Auf noch entschiedenere Weise wird dadurch dieInkompatibilitaumlt eines Konzepts der schlechten Weltseele mit der plato-nischen Philosophie hervorgehoben

Aus Chrm 156e wonach der Ursprung alles Guten und Schlechtenfuumlr den ganzen Menschen die Seele ist koumlnnte man folgern dass daskosmische Uumlbel auf die kosmische Seele zuruumlckgefuumlhrt werden mussLaumlsst sich aber in unseren Kontext eine schlechte Weltseele integrierenohne dass man gegen die Guumlte Gottes und gegen die platonische LehreFrevelhaftes annehmen muumlsste Bei der Widerlegung der ersten Auffas-sung taucht das mythische Element des Demiurgen nicht auf Und wennder Athener spaumlter den Vergleich mit dem menschlichen Demiurgenzum Vorschein bringt (Lg 902e4-903a3) um die Auffassung uumlber dieSorglosigkeit der Goumltter mit Hilfe sowohl des Argumentes als auch desMythosrsquo aus den Angeln zu heben ist nirgends vom Widerstand derMaterie die Rede Beobachtenswert ist daher eine Abweichung von derparadigmatischen Stelle im Gorgias uumlber die demiurgische Taumltigkeit

94 Den Uumlbergang bereiten Lg 896e5 und 898c7f vor95 Ep 988d4-e4

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

40 Georgia Mouroutsou

werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

42 Georgia Mouroutsou

abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

36 Georgia Mouroutsou

(503d5-504a5) und der Uumlberzeugung der Notwendigkeitrsquo im TimaiosNoch scheint es daruumlber hinaus ein Widerspruch gegen die goumlttlicheAllmacht zu sein dass es Schlechtes gibt Nach der mythischen Erzaumlh-lung braucht der Gott das Schlechte nicht durch Uumlberzeugung ins Gutezu uumlberfuumlhren sondern er versetzt es an einen entsprechenden Ort undlaumlsst es dort als Schlechtes walten96 Wenn man die Absenz eines per-soumlnlichen Gottes bis zum Ende denken moumlchte kann man Saunders zu-stimmen der von einer Begruumlndung der Ethik in der Physik im Rahmeneiner sbquowissenschaftlichenrsquo Eschatologie spricht die sich nicht durch per-soumlnliche goumlttliche Einmischung vollzieht sondern automatisch oderhalb automatisch97

Gegen die problemlose Integration einer schlechten Weltseele in dasauf diese Weise beschriebene Ganze darf man dennoch erwidern dasseine schlechte Weltseele nicht einen kleinen Teil des Kosmos sonderndas Ganze leiten wuumlrde was nicht nur die Allmacht sondern auch ndash wasnoch verwerflicher waumlre ndash die Guumlte des Goumlttlichen aufheben wuumlrde DieAnnahme der Schlechtigkeit auf der Ebene der kosmischen Seele bleibtdaher im Vergleich zu der schlechten individuellen Seele die sich im my-thischen Bild integrieren laumlsst houmlchst problematisch

Trotz 897c7f misst der Athener dem Schlechten kosmischen Charak-ter bei wie 906a2-7 belegt98 Das Schlechte nur auf die menschlichen un-teren Seelenteile zuruumlckzufuumlhren stellt daher keine gelungene Loumlsungdar weil dem Schlechten tatsaumlchlich eine kosmische Potenz verliehenwird Platon impliziert als Gast aus Elea seine Widerlegung einesschroffen Gegensatzes zwischen guter und schlechter Weltseele wenn erim Politikos-Mythos die Moumlglichkeit des In-Bewegung-Setzens der Weltvon zwei entgegengesetzten Gottheiten in den zwei aufeinanderfolgenden kosmischen Perioden ausschlieszligt99 und fuumlr die Ruumlckkehr ins

96 Lg 903a10-905d397 Saunders Penology and Eschatology in Platorsquos Timaeus and Laws In The

Classical Quarterly 23 (1973) S 232-244 Hier S 234 Richard Mohr behauptetdass Platon wegen der hier dargestellten goumlttlichen Allmacht das Uumlbel weger-klaumlrt (Platorsquos Final Thoughts on Evil Laws X S 899-905 In Mind 87 (1978) S572-575) Es leistet keinen Widerstand gegen die goumlttliche Macht sondern laumlsstsich auf direkte Weise und als solches ndash also nicht nach dessen Transformation ndashin das gute Ganze integrieren

98 Vgl Plt 273c199 Plt 270a1f

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

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werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

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abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

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ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 37

Chaotische das σωματοειδές als Element der Weltmischung verant-wortlich macht100

Weil deswegen die schlechte Weltseele als selbststaumlndige Entitaumlt gegen-uumlber der von Platon angenommenen guten Weltseele keinen uumlber-zeugenden Vorschlag darstellt bleibt uns nichts anderes uumlbrig als mitweiterer Inanspruchnahme des in der Politeia erworbenen Prinzips desWiderspruchs101 eine zweite Option zu erwaumlgen Nicht die Differen-zierung in zwei verschiedene Seelen soll das Raumltsel der schlechten Welt-seele loumlsen sondern die Unterscheidung zwischen Teilen oder Hin-sichten und die entsprechende Charakterisierung des einen Teils derWeltseele als fuumlr die ungeordnete Bewegung anfaumlllig102 Dadurch ver-schlechterte sich die gute kosmische Seele was sich jedoch mit einer zy-klischen Auffassung vereinbaren lieszlige Sollte diese Option an Uumlber-zeugungskraft gewinnen waumlre die der Weltseele zugeschriebeneGoumlttlichkeit ein akzidentelles und kein wesentliches Attribut Dabeiwuumlrden wir das Wesen des Goumlttlichen als unveraumlnderlich und guteliminieren und den ganzen Gottesbeweis aus den Angeln heben

Wie kann man diese Ausweglosigkeit uumlberwinden Weil der irratio-nale Teil nicht der im Timaios konstruierte Teil der Weltseele sein kannmuumlssen wir ihn entweder in der teilbaren Substanz im Bereich des Koumlr-perlichen als Element des ersten Mischungsaktes der Weltseele wieder-finden103 oder in der schwer zu rekonstruierenden Verbindung dersbquoschlechten Seelersquo mit der chora Der ersten Option kaumlmen die sbquoVergess-lichkeitrsquo und die sbquoangeborene Begierdersquo des Politikos-Mythos zuhilfe dieauf ein weltseelisches Vermoumlgen hinweisen moumlgen das jedoch nicht fuumlrden Welt-Untergang verantwortlich gemacht wird104 Was die zweiteOption betrifft wird der chora keine Selbstbewegung beigemessen auchwenn sie uumlber ihre eigene Bewegung verfuumlgt Daher ist die chora defini-tiv keine Art von Seele105

100 Plt 273b4-6101 R 436b8f102 So Robin Leon La theacuteorie platonicienne de lrsquo amour Paris 1908 S 164

und Hackforth Reginald Platorsquos Phaedrus Cambridge 1952 S 75f ua DiePartizipien προσλαβοῦσα und συγγενομένη in Lg 897b1 und 3 waumlren in diesemFall temporal zu verstehen

103 Ti 35a2f104 Plt 272e6 273c6 Die kosmische Potenz dieser Begierde die das rationale

Vermoumlgen der im Timaios konstruierten Weltseele eindeutig uumlberschreitet istnicht zu bezweifeln

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

40 Georgia Mouroutsou

werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

42 Georgia Mouroutsou

abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

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ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

38 Georgia Mouroutsou

Nachdem und obgleich aufgezeigt worden ist wie das Konzept einer

schlechten Weltseele abgelehnt wurde haben wir Versuche erwaumlhnt die-ses Konzept kompatibel mit der platonischen Philosophie zu machenDiese sind unergiebig gewesen Daher brauchen wir keine Annahme desFremd-Einflusses zu bedenken wie Exegeten es taten denen dieschlechte Weltseele als Bestandteil der platonischen Philosophie fremdaber nicht inkonsequent vorkam Sie haben zuletzt die Moumlglichkeit einerEinwirkung des iranischen Dualismus erwogen wie es schon Plutarch inDe Iside et Osiride tat106 Werner Jaeger beobachtet

Die boumlse Seele in den Gesetzen die die Widersacherin der guten Seeleist ist ein Tribut an Zarathustra zu dem Platon durch die letzte ma-thematisierende Phase der Ideenlehre und den durch sie scharf zuge-spitzten Dualismus gefuumlhrt wurde Seither herrschte fuumlr Zarathustra unddie Lehre der Magier in der Akademie starkes Interesse Platons SchuumllerHermodoros beschaumlftigte sich in seiner Schrift Περὶ Μαθημάτων mit derAstralreligion und leitete den Namen Zoroaster etymologisch aus ihrher indem er ihn als Sternanbeter (ἀστροθύτης) erklaumlrte107

Jaeger hat seine Auffassung in einem Nachtrag berichtigt er habelediglich die Tatsache sicherstellen wollen

105 Deswegen bleibt Plutarchs Verstaumlndnis der urspruumlnglichen irrationalenBewegung mit der der Demiurg im Timaios konfrontiert wird grundsaumltzlichfalsch obgleich der Mittelplatoniker durch seine kosmologische Deutung desTimaios zu der houmlchst interessanten These der Irrationalitaumlt der sbquoSeele an sichrsquogelangt ist Dazu erhellend Deuse S 12-47 Es bleibt im Rahmen dieser Dar-legung dahingestellt auf welchen Ursprung die eigene Bewegtheit der chorazuruumlckzufuumlhren ist Francis Cornfords metaphorische Lektuumlre des Timaios(διδασκαλίας χάριν) vollzieht einen noch radikaleren Schritt in die angespro-chene Richtung der Verbindung der Weltseele mit der chora wenn er sie sowieden Demiurgen in die Weltseele hineinversetzt wodurch sich beide mythischenMaumlchte fast in Luft aufloumlsen (Platos Cosmology The Timaeus of Plato London41956) Treffend ist Dillons Kritik The Timaeus in the Old Academy In Rey-dams-Schils Gretchen (Hrsg) Platorsquos Timaeus as Cultural Icon Notre Dame2003 S 80-94 Hier S 81

106 De Is Et Osir 370b-371a Zu Plutarchs dualistischer Exegese der platonis-chen Philosophie traumlgt Einleuchtendes Dillon bei (Aspects of Plutarchrsquos Dualis-tic Exegesis of Plato Oxford Conference on Plutarch 2008 Manuskript)

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

40 Georgia Mouroutsou

werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

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Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

42 Georgia Mouroutsou

abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

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ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 39

raquo[hellip] dass Platon mit Zarathustra und mit der iranischen Lehre vomKampf des guten Prinzips gegen das Schlechte schon zu seiner Lebzeitund bald nach seinem Tode in Verbindung gebracht worden istlaquo108

Aber selbst wenn die Annahme eines iranischen Einflusses die

Pruumlfung bestanden haumltte wuumlrde das bekannte Problem von geerbtemoder importiertem Gut und dessen platonischer Transformierung demPlaton-Interpreten nicht weniger Kopfzerbrechen bereiten wie die Faumlllevon Platons transponiertem Heraklitismus und Pythagoreismus zeigenPlaton schlieszligt sich dem Tradierten an und hebt die Kontinuitaumlt hervorobwohl ihm die Tragweite seiner geistigen Beitraumlge bewusst ist

III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Bis jetzt habe ich Passagen und Argumente von verschiedenen Teilen desplatonischen Korpus herangezogen und zusammengedacht Dass Platonuns motiviert auf diese Weise seine Dialoge zu lesen kann nichtbezweifelt werden Uumlberall sind vielfaumlltige Verbindungen zwischen ver-schiedenen dialogischen Zusammenhaumlngen spuumlrbar aber kein einmaligerHinweis dass wir uns auf der Einheit eines einzelnen Dialogs be-schraumlnken sollten Daher kommt nur die Methodologie eines Platonis-mus als die einzige angemessene vor die den ganzen Korpus beruumlcksich-tigt Trotzdessen muss ich einige Einwaumlnde widerlegen die man vomKontext der platonischen Gesetze erheben koumlnnte und erhoben hat be-vor ich meine weitere Rekonstruktion vorschlage und meine laumlngeresbquoGeschichtelsquo erzaumlhle Diese laumlngere sbquoGeschichtelsquo wird nicht um ihrerwillen erzaumlhlt noch um allgemeiner platonischer Methodologie undHermeneutik willen Ein solches Unternehmen wuumlrde den Rahmen die-ses Beitrags sprengen Aufgrund dieses laumlngeren dialektischen Weges

107 Jaeger Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner EntwicklungBerlin 1927 S 134 Zur Widerlegung von Jaegers Auffassung s KerschensteinerPlaton und der Orient S 192-212 die aufzeigt dass die Annahme einer unmit-telbaren uumlber die Verwertung allgemein verbreiteten Gedankenguts hinaus-gehenden Beziehung Platons zum Orient auf einer Konstruktion beruht die derZeit des Hellenismus angehoumlrt (S 212)

108 Jaeger Aristoteles S 439

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werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

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abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

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ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

40 Georgia Mouroutsou

werde ich eher falsche Folgerungen in Bezug auf unsere konkrete Pro-blematik korrigieren und ein Bild aufzeichnen in dem ich die allgemeineund spezielle platonische Ontologie und Psychologie situiere

Wieso darf jemand trotz der dialektischen Einschraumlnkungen die Wich-tigkeit der untersuchten Partie der Gesetze hervorheben Warum waumlrejemand berechtigt Teile des erforschten Arguments in ein umfassende-res Bild der platonischen Philosophie zu integrieren Zweierlei laumlsst sichnaumlmlich auf der Ebene der Adressaten der Reden des Atheners fest-stellen was inzwischen zur communis opinio gehoumlrt Im fiktiven Hand-lungsrahmen der platonischen Gesetze wird das beschlossene Asebiege-setz und dessen Vorrede den Buumlrgern der Magnesia und nicht einerphilosophischen Elite zuteil109 Neben dem sich auf diese Weise ent-huumlllenden populaumlren Charakter unterstreichen die Interpreten mitRecht das sbquosehr bescheidenelsquo dialektische Niveau110 Die dorischen Ge-spraumlchspartner verfuumlgen nicht uumlber die dialektische Tugend die einenoch tiefgreifendere Mitteilung der platonischen Prinzipien haumltte ver-anlassen koumlnnen111 Trotzdem besitzen sie gesunden Menschenverstandund die tradierte ndash wenn auch unreflektierte und noch nicht philoso-phisch begruumlndete ndash Auffassung des teleologischen Beweises (886a2-4)sodass der Athener ihnen den Gottesbeweis nicht vorenthaumllt

Auf welchem Boden koumlnnen wir ein zuverlaumlssiges weiteres Bild skiz-zieren Dialektische Einschraumlnkungen kommen ausserdem auf einerzweiten Ebene vor Pietsch formuliert diese Argumentationslinie in bes-ter Weise

raquoOhne atheistische Gegner waumlren weder der Gottesbeweis noch derRekurs auf mechanistische Physik erforderlich gewesen So ergeben sich

109 Die Praumlambel des zehnten Buches richtet sich sogar ndash wenn auch nicht aus-schlieszliglich ndash an diejenigen die nur schwer begreifen koumlnnen (891a4) Zu denAdressaten des als Muster charakterisierten Gespraumlchs des Atheners mit Kleiniasund Megillos gehoumlren unter anderem Kinder (Lg 811c-e)

110 So nach Diegraves Platon Œuvres Complegravetes Tome XI (1re partie) Les LoisLivres I-II Paris 1951 Einleitung xc-xcii Joseph Moreau vermisst die ontologi-sche Argumentation im zehnten Buch der Gesetze was nicht meine Uumlberein-stimmung findet (Lrsquo ame du monde de Platon aux Stoiciennes Hildesheim 1965S 72)

111 Die Konstellation unter gleichrangigen Philosophierenden im esoterischenTimaios sieht ndash die entsprechende allgemeine Einschraumlnkung im Rahmen derSchriftlichkeit zugestanden ndash ganz anders aus

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

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abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 41

Thema Beweisziel -grundlagen und -fuumlhrung aus der Situation und denpersoumlnlichen Spezifika der beteiligten Personenlaquo112

Wenn es so ist wie koumlnnen wir dann diesem Argument etwas adhominem entnehmen und es als Teil der platonischen Philosophie be-trachten Meine Antwort auf die zwei relevanten Einwaumlnde ist diefolgende Was die erste Ebene angeht verlangt die konkrete politischeZielsetzung in den Gesetzen die Rekonstruktion einer groszligge-schriebenen platonischen Ontologie Theologie und Seelenlehre stark zumodifizieren In allen platonischen Gespraumlchen jedoch transzendiert derDialektiker die jeweils diskutierte Thematik um seine Thesen zubegruumlnden Dieses Heraustreten aus den speziellen Zusammenhaumlngenpraumlgt die geschriebene platonische Philosophie ganz wesentlich Imkonkreten Zusammenhang sollten wir den platonischen Worten desKleinias dass wir im Rahmen des zehnten Buches uumlber die Gesetzsch-reibung hinausgehen muumlssen die gebuumlhrende Aufmerksamkeit zukom-men lassen

raquoMan darf nicht zoumlgern Gast Denn ich verstehe du meinst dass wiraus der Gesetzgebung heraustreten wenn wir uns mit diesen Ar-gumenten befassenlaquo113

Was den Einwand auf der zweiten Ebene anbetrifft individualisiertPlaton immer und je nach dialektischer Situation das jeweilige Ar-gument was uns aber nicht daran hindert Elemente des platonischenPhilosophierens aus jedem beschraumlnkten dialektischen Kontext heraus-zuholen

Jetzt ist es Zeit eine eher sbquoesoterischelsquo Schicht und meine vorausge-setzte sbquoGeschichtelsquo ans Licht zu bringen114 Es kommt mir bei meiner

112 Pietsch Die Dihairesis der Bewegung S 322113 Lg 891d7-e1 raquoΟύκ ὀκνητέον ὦ ξένε Μανθάνω γὰρ ὡς νομοθεσίας ἐκτὸς

οἰήσῃ βαίνειν ἐὰν τῶν τοιούτων ἁπτώμεθα λόγωνlaquo Thomas A Szlezaacutek hat imRahmen der Tuumlbinger Platon-Hermeneutik die sbquoHilfersquo-Struktur in ihrergesamten Tragweite herausgearbeitet (Platon und die Schriftlichkeit der Philoso-phie BerlinNew York 1985 und Das Bild des Dialektikers in Platons spaumltenDialogen BerlinNew York 2004) Er haumllt Lg 891d7-e3 fuumlr eine paradigmati-sche Stelle die das Uumlberschreiten des jeweiligen Gegenstandbereiches als Wesender sbquoHilfersquo des Dialektikers auszeichnet Dieser muss immer imstande sein seineArgumentation durch weiterfuumlhrende Argumente zu verteidigen (Szlezaacutek Pla-ton und die Schriftlichkeit S 72-78) In Konvergenz Schofield Malcolm Reli-gion and Philosophy in the Laws In Scolnicov Samuel und Luc Brisson(Hrsg) Platorsquos Laws From Theory into Practice Proceedings of the VI Sympo-sium Platonicum Selected Papers S 1-13 Hier S 12

42 Georgia Mouroutsou

abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

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ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

42 Georgia Mouroutsou

abschlieszligenden Darlegung darauf an die theoretische Bewegung desdialektischen Auf- und Abstiegs so zu rekonstruieren dass ich PlatonsFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo in sie integriere Bei der Darstellungdes Weges des Dialektikers werden wir imstande sein mehrerezusammengehoumlrige Hypothesen und nicht nur diejenige von dersbquoschlechten Seelersquo auf dem dialektischen Abstieg zu situieren115 Dabeisetze ich keinen unmittelbaren Niederschlag der Denkbewegung Pla-tons voraus der ausschlieszliglich auf der Basis der Dialoge auf eindeutigeWeise zu fixieren waumlre Die platonischen Dialoge sind dramatischeKunstwerke in denen die Gespraumlchspartner verschiedene Objekte oderdie gleichen aber jeweils in verschiedener Hinsicht untersuchen Einesolche Entwicklung ist dennoch nicht auf der Basis der Dialoge auszu-schlieszligen116 Vor dem Hintergrund des dialektischen Auf- und Abstiegswerde ich zum einen eine in Bezug auf die sbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo paralleleEntwicklung in der spaumlteren platonischen Philosophie durch die Be-zeichnung sbquoVerinnerlichungrsquo umreiszligen Zum anderen werde ich dieebenfalls parallele spaumltere Einfuumlhrung der allgemeinen platonischen On-tologie des Seienden qua Seienden auf der einen Seite und derallgemeinen platonischen Seelenlehre der Seele qua Seele auf der anderenSeite hervorheben die im Vorbeigehen bereits angesprochen wurde117

Zu der allgemeinen Gefahr einer Vereinfachung die mit jedem Bild as-soziiert wird tritt in dieser konkreten Darstellung die Gefahr einer un-vermeidlichen Verkomplizierung weil hier neben dem Leib-Seele-Dua-lismus noch zwei andere Dualismen ihren Platz finden der Dualismus

114 In kritischem Abstand zu Friedrich Schleiermacher der die Unter-scheidung zwischen Exoterischem und Esoterischem ausschlieszliglich auf dieBeschaffenheit des Lesers der platonischen Dialoge zuruumlckfuumlhrt (EinleitungPlatons Werke In Gaiser Konrad (Hrsg) Das Platonbild Hildesheim 1969 S1-32 Hier S 16f) Nach Schleiermacher kann die esoterische Lektuumlre der uumlber-lieferten platonischen Texte in den Kern der platonischen Philosophie uumlberhaupteindringen Da ich aber nicht mit der Auffassung uumlbereinstimme Platonbeabsichtige das Ganze seiner Philosophie schriftlich zu offenbaren soll meineRede vom sbquoEsoterischenrsquo nicht als die von einer esoterischen Ebene schlechthinsondern von einer sbquoeher esoterischenrsquo oder sbquoesoterischerenrsquo verstanden werden

115 Zu den hier gemeinten Hypothesen gehoumlren der harmlosere Konditio-nalsatz des Philebos (23d11-e1) sowie die Hypothese von der Absenz Gottes inder vorkosmischen Phase des Timaios (53b3f)

116 Besonders unter Beruumlcksichtigung des aristotelischen Berichts von zweiPhasen der Ideenlehre in Metaph XIII 4

117 Vgl oben I

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 43

zwischen der Idee und dem Wahrnehmbaren sowie der Dualismus derzwei platonischen Prinzipien

Dennoch erziele ich dadurch mehrfachen Gewinn Zum einen laumlsstsich auf diese Weise die vorliegende Passage in einen weiteren ontologi-schen Horizont integrieren ohne dass wir dabei dem haumlufigen Irrtumeiner Verabsolutierung aufsitzen als ob ein einziger Passus die platoni-sche Ontologie par excellence aufschluumlsseln koumlnnte Im Gegenteil dazuhebe ich den Bedarf einer Hermeneutik hervor die jeden einzelnenDialog uumlbergreift Ein anderer betraumlchtlicher Ertrag besteht darin uumlber-eilte Vergleiche zwischen der Problematik des Timaios und der der Ge-setze durch das Erlangen einer feineren hermeneutischen Perspektivekorrigieren zu koumlnnen die sowohl eine ontologische Auswertung er-moumlglicht als auch unbedachte Identifizierungen berichtigt Als Platon-Interpreten werden wir es nicht zu unserem Ziel erklaumlren unter-schiedliche und auf den ersten Blick unstimmig erscheinende Passagenmiteinander zu versoumlhnen in diesem Fall die ungeordnete Bewegungder chora im Timaios mit der materialistisch gepraumlgten Konzeption inden Gesetzen Wir werden Anspruchsvolleres bezwecken naumlmlich dieFrage nach der sbquoschlechten Seelersquo und andere entscheidende Momenteauf dem Weg des Dialektikers zu verorten Das Ziel der hier vertretenenMethode besteht darin Platon den Schriftsteller sowie Platon denPhilosophen von Widerspruumlchen zu retten insofern das moumlglich ist

Zunaumlchst betrachtet Platon als Theoretiker das reine wahrnehmbareWerden in seinem Gegensatz zum reinen Sein in den mittleren Dialogenoder zu Beginn der Timaios-Darstellung Vor dem gegenuumlber der er-kennbaren Idee degradierten heraklitischen Fluss des wahrnehmbarenWerdens flieht er118 Die Idee zu der er aufsteigt manifestiert sich imPhaidon als eingestaltig (μονοειδής)119 Aufgrund des Affinitaumlts- undnicht Identitaumltsargumentes zwischen Idee und Seele erweist sich dieSeele in diesem Kontext als eingestaltig in sich selbst wenn sie in Ab-sonderung von jedem Bezug zum zusammengesetzten Koumlrper betrach-tet wird120

Im naumlchsten Schritt seines Aufstiegs befasst sich der Dialektiker mitden innerideellen Beziehungen Es sieht so aus als ob dasWahrnehmbare ihn nicht weiter interessieren und das Intelligible zum

118 Aristot Metaph I 6 XIII 4 XIII 9119 Phd 78d5 80b2 83e2120 Αὐτὴ καθrsquo αὑτή (Phd 65d1f 67a1 79d4)

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

44 Georgia Mouroutsou

ausschlieszliglichen Gegenstand seiner Betrachtung wuumlrde Die anspruchs-volle Aufgabe liegt dann darin die Beziehungen der μέγιστα γένη im So-phistes zu rekonstruieren Jede Idee dieser fuumlnf ausgewaumlhlten houmlchstenGattungen besitzt nicht nur ein Vermoumlgen zu wirken sondern zugleichein Vermoumlgen zu erleiden (δύναμις τοῦ ποεῖν καὶ τοῦ πάσχειν) Obwohldie Idee des Seienden zunaumlchst als von den anderen vier abgetrennt er-scheint erweist sie sich dem dialektischen Gang nach als von sich ausund qua Idee identisch (mit sich selbst) in Ruhe in Bewegung und alseine andere Idee (als die anderen) Das Sein (der Idee) ist nach Platon imGegensatz zur parmenideischen Konzeption von Sein von sich aus diffe-renziert Was sich als ein anderes separates Element auszliger der Idee desSeienden zu sein schien hat sich verinnerlicht

So wie es zu einer Art sbquoVerinnerlichungrsquo der δύναμις im Fall derhoumlchsten Gattungen im Sophistes kommt beobachten wir in der spaumlte-ren platonischen Seelenlehre auch die Verinnerlichung dessen was zuBeginn auszligerhalb der eingestaltigen Seele zu sein schien Wie die Ideequa Idee mit Hilfe der Mischung dargestellt wird so erscheint auch dieSeele und zwar ihr rationaler Teil als Produkt einer Mischung Schonam Ende der Politeia wird der Weg fuumlr die sbquobeste Zusammensetzungrsquo desrationalen Teils der Weltseele und der menschlichen Seele eroumlffnetBegangen wird er freilich erst im Timaios

Bisher habe ich mich hauptsaumlchlich121 auf die Entwicklung einer spezi-ellen Ontologie und Seelenlehre fokussiert indem ich die Ontologie desausgezeichneten Seins der Idee und die Lehre bezuumlglich des hervor-ragenden Teils der Seele der Vernunft angesprochen habe ohne auf ein-zelnes genauer einzugehen Jetzt gelange ich zum zweiten Konvergenz-punkt zwischen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehredie Einfuumlhrung der allgemeinen Ontologie und Seelenlehre Einerseitsentwirft Platons Gast aus Elea im Sophistes eine allgemeine Ontologieindem er die Frage nach dem Seienden qua Seienden stellt und durchδύναμις intensional beantwortet Andererseits wird ein Teil desSeienden beim extensionalen Verstaumlndnis der Frage nach dem Seienden(was gibt es fuumlr Seiendes) nie aufhoumlren als vollkommen und goumlttlichausgezeichnet zu werden naumlmlich die Idee122 Im Horizont der spaumlterenDialoge wird die Frage einer allgemeinen Seelenlehre naumlmlich nach der

121 Es ist kaum moumlglich die hier thematisierten beim spaumlten Platon sich uumlber-schneidenden Straumlnge voumlllig auseinanderzuhalten Es ist jedoch ertragreich sieso weit es geht voneinander zu unterscheiden

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 45

Seele qua Seele als Selbstbewegung beantwortet123 Erst in der Spaumlt-philosophie Platons tritt die Lehre von der Weltseele hinzu Obgleichder spaumlte Platon eine allgemeine Ontologie und eine dementsprechendallgemeine Seelenlehre einfuumlhrt gibt er weder die spezielle Ontologieder Idee als eines ausgezeichneten und goumlttlichen Seienden124 noch dieAuszeichnung eines Teils der Seele als ihres zentralen und goumlttlichenTeils auf

Der Dialektiker ist damit beauftragt auch im ideellen Bereich nach derSeele zu fragen was an einer im Uumlbermaszlig herangezogenen und interpre-tierten Stelle im Sophistes passiert (Sph 248e6-249a2) Man kann denvon Plotin begangenen Weg einschlagen indem man die Idee als nousversteht der die Gesamtheit aller anderen Ideen denkt Man kann aberauch die spaumltere platonische Definition der Seele als sbquoSelbstbewegungrsquo inAnspruch nehmen Weil in diesem Kontext die Frage nach der Seele imideellen Bereich gestellt wird sollte man das sbquoSich-selbst-Bewegendersquobei der Idee aufsuchen und insbesondere in der Mischung der groumlszligtenGattungen aufweisen

Wir verstoszligen nicht gegen die platonische Lehre wenn die Goumltt-lichkeit der Idee oder der Seele ausgezeichnet wird weil weder die Ideenoch die Seele erste Prinzipien sind125 Die Rolle des Prinzips im eigent-lichen Sinne ist nach Platon fuumlr das sbquoEinersquo und die sbquoUnbestimmteZweiheitrsquo reserviert die gemaumlszlig der indirekten Uumlberlieferung das Endedes dialektischen Aufstiegs signalisieren

122 Hier sei meine Deutung der sehr verwickelten Sophistes-Konstellation nuram Rande und eher durch Andeutung meiner Folgerungen als durch derenBegruumlndung erwaumlhnt Die platonische Vorbereitung auf die Problematik deraristotelischen Metaphysik als allgemeiner Ontologie sowie Theologie rechtfer-tigt meines Erachtens ebenso die erstaunliche Vielfalt der Interpretationen wiedie tiefe Verwirrung innerhalb der Platonforschung Ohne die zwei Straumlnge einerallgemeinen Ontologie des Seienden qua Seienden und einer Ontologie des aus-gezeichneten ideellen Seienden auseinanderzuhalten gelangen wir im Sophistesin unendliche und unentscheidbare Schwierigkeiten

123 Hauptsaumlchlich und explizit im Phaidros und in den Gesetzen und durchAndeutung im Timaios (37d5 und 46d5-e3)

124 Die Ideen charakterisiert Timaios als sbquoewige Goumltterlsquo (37c6)125 Die Adjektive sbquogoumlttlichrsquo (θεῖος) sbquowertvollrsquo (τίμιος) und sbquounsterblichrsquo

(ἀθάνατος) lassen verschiedene Grade zu je nach dem ontologischen Rang desjeweiligen Objekts Dass die Seele als θειότατον und allererstes platonischesPrinzip in den Gesetzen vorkommt (Lg 726a3 966e1) darf uns weder uumlberra-schen noch in die Irre fuumlhren

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

46 Georgia Mouroutsou

Was ich als dialektischen Abstieg bezeichnet habe bedeutet dieRuumlckkehr zum Wahrnehmbaren Der Dialektiker verweilt nicht im Jen-seits seiner Prinzipienlehre sondern kehrt zum Wahrnehmbaren zu-ruumlck das im Philebos als sbquoγένεσις εἰς οὐσίανlsquo ausgezeichnet und nichtmehr wie noch in der Politeia herabgewuumlrdigt wird Was den Pol sbquoLeibrsquodes Leib-Seele-Dualismusrsquo angeht so unternimmt es der Dialektiker inden spaumlteren platonischen Dialogen und beim Abstieg von der Idee zumWahrnehmbaren das Koumlrperliche qua Koumlrperliches aufzufassen

Es ist sehr leicht bei dieser Betrachtung zu falschen Schluumlssen verleitetzu werden wenn man dialogische Teile in Verbindung setzt ohne daraufaufmerksam zu machen wo wir uns als Theoretiker in der jeweiligenPassage befinden und von welchem Standpunkt aus die jeweilige Fragegestellt und behandelt wird Unsere Problematik betreffend kann ichmit Interpreten nicht uumlbereinstimmen die ndash wie etwa Parry ndash die Dar-stellung der ungeordneten Bewegung im Timaios und die atheistischeAuffassung zu nah aneinanderruumlcken Parry vergleicht die zwei Auffas-sungen der koumlrperlichen Bewegung der Elemente in den Gesetzen undim Timaios und folgert dass sie sich prinzipiell nicht voneinander unter-scheiden126

raquoTimaeusrsquo account at 52a ff concedes too much to the atheists [hellip]Timaeusrsquo account is not in principle different from the atheistslaquo127

Aumlhnlich meint Carone dass die Darstellung der ungeordneten Be-wegung eine atheistische Auffassung voraussetzt wenn sie sich gegendie zyklische Interpretation einer zunaumlchst guten dann schlechten Welt-seele einsetzt

raquoIn addition let us stress that concession of periods of absolute dis-order ndash and therefore of tuchē ndash seems incompatible with Platorsquos radicalattempt at refuting atheism and the materialists at the very beginning ofLaws 10laquo128

Cleggrsquos Argumentationsgang und seine Loumlsung druumlcken gewisse Vor-behalte gegen die enge Verbindung der Bewegung in der chora mit der

126 Parry Richard The Cause of Motion in Laws X and the DisorderlyMotion in Timaeus In Scolnicov Samuel und Luc Brisson (Hrsg) PlatorsquosLaws From Theory into Practice Proceedings of the VI Symposium Platoni-cum Selected Papers Sankt Augustin 2003 S 268-275 Hier S275

127 Parry Richard The Soul in Laws x and Disorderly Motion in Timaeus InAncient Philosophy 22 (2002) S 289-301 Hier S 274 cf Parry The Cause ofMotion S 275

128 Carone Teleology and Evil S 285

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 47

atheistischen Auffassung aus129 Im Gegensatz zu Gregory VlastosrsquoDeutung130 moumlchte er ein Verstaumlndnis des platonischen Chaosrsquo auf einermoralischen und nicht materiellen oder mechanistischen Basis etablie-ren

raquoSince the Timaeus identifies the world as a product of art in themanner of the Laws and other dialogues it would seem that Platorsquos hos-tility to materialism is intact in this dialogue Thus one cannot concludethat motion originates independently of soul without coming intoconflict not just with doctrines external to the Timaeus but with anambition which appears central to the writing of the Timaeus itselflaquo131

Die Annahme dass die Darstellung der ungeordneten Bewegung desKoumlrperlichen qua Koumlrperlichen atheistisch und materialistisch gepraumlgtist liegt allen diesen Versuchen als Fehler zugrunde unabhaumlngig davonob sie bedenkenlos als Platons Deutung vertreten (wie bei Parry) oderohne Weiteres als unplatonisch abgelehnt wird (wie bei Clegg) Die ma-terialistische Bezeichnung des Koumlrperlichen als sbquounbeseeltrsquo laumlsst sichjedoch keinesfalls mit dem Unternehmen des hervorragenden Dialekti-kers Timaios gleichsetzen Die reduktionistische Auffassung des Koumlr-pers als voumlllig unbeseelt seitens der Atheisten132 die sich nicht einmal anden dialektischen Aufstieg machen sondern das Koumlrperliche als Ganzesbetrachten133 unterscheidet sich grundsaumltzlich von derjenigen desDialektikers In seinem Versuch das Koumlrperliche qua Koumlrperliches zuerforschen gelangt der Letztere zu einer innigen Verbindung der Mate-rie mit dem Raum als chora indem er diesmal anders als beim oben be-schriebenen Aufstieg von der methexis an der Idee abstrahiert um dasWahrnehmbare zu erforschen Von der Seele abstrahierend geht derDialektiker dem Koumlrperlichen qua Koumlrperlichen nach was ihn abernicht in einen Materialisten verwandelt

129 Richard Parry Platorsquos Vision of Chaos In The Classical Quarterly 26(1976) S 52-61

130 Disorderly Motion in Platorsquos Timaeus In Vlastos Gregory Studies in GreekPhilosophy Zweiter Band Socrates Plato and their Tradition Princeton 1995 S247-264

131 Clegg Platorsquos Vision of Chaos S 54132 Lg 889b4f133 Vgl oben II ii

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

48 Georgia Mouroutsou

Wir haben auf den vergangenen Seiten eine der schwierigsten und um-strittensten Passagen der geschriebenen platonischen Philosophie zudeuten versucht Dabei haben wir hermeneutisch einerseits die eher exo-terischen Schichten der Gespraumlchssituation beruumlcksichtigt Andererseitswaren wir erst dann imstande unseren Vorschlag zu begruumlnden als wirvon der anvisierten Stelle Abstand genommen haben um die Frage nachder sbquoschlechten Seelersquo in eine umfassendere dialektische Bewegung undin den Rahmen der spaumlteren platonischen Ontologie und Seelenlehre zuintegrieren Nach soviel geleisteter sbquoVerinnerlichungrsquo in Bezug auf diesbquoIdeersquo und die sbquoSeelersquo stellt der aumlltere Platon in seinen Gesetzen die Fragenach einer sbquoschlechten Seelersquo und auf den ersten Blick nach einem starrenDualismus den er aber nicht vertritt134 Trotz hinreichenderGelegenheiten im Politikos oder Timaios ist er weder in seinem Leib-Seele-Dualismus noch in seiner angedeuteten Prinzipienlehre fuumlr einenmanichaumlischen Gegensatz eingestanden

Dazu wie man raquoerstaunlich wachsam vor dem unsterblichen Kampflaquosein sollte und worin genau dieser Kampf besteht (Lg 906a5f) gibt Pla-ton als Lehrer der seine Lehrtaumltigkeit houmlher schaumltzte als sein umfangrei-ches Schreiben keine schriftliche Erlaumluterung135 Platons Schreiben isthauptsaumlchlich und unermesslich erziehend Darin widerspiegeln sich diekommenden Philosophen wie in einem erzieherischen ndash und nicht skep-tischen - Spiegel Es ist unvermeidlich dass sie diesen sbquoSpiegellsquo ver-

134 Vgl Dillons Beitrag (2008) uumlber die Entwicklung der akademischen Theo-rie der Prinzipien die Plotin geerbt hat Das Problem des Dualismus ist wieog komplex weil es nicht nur den Leib-Seele Dualismus sondern auch die pla-tonische Theorie uumlber die zwei Prinzipien umfasst Dillon will die schlechteWeltseele in den Gesetzen nicht beseitigen In Bezug auf die Theorie der Prin-zipien haumllt er Platon mit Hilfe des Speusipposrsquo Fragments (Gaiser TestimoniumPlatonicum 50) fuumlr einen modifizierten Monisten Dillon verbindet diese zweiArten des Dualismus indem er eine positive Macht verneint die dem Gutenoder Einen entgegenwirkt Er charakterisiert die notwendige Bedingung desSeins der Welt als eine sbquonegative Machtlsquo sei es die unbestimmte Zweiheit oderdie ungeordnete Weltseele oder die chora Verstehen wir den Monismus als einePartner-Relation zwischen den zwei platonischen Prinzipien und nehmen wiran wir wuumlrden aufgrund der aristotelsichen Testimonien zu Dualisten wenn wirdie zwei Prinzipien als entgegengesetzt beschreiben wuumlrden dann haben wirschon zu Beginn entschieden Platon war Monist Ein anderes Bild wuumlrde ent-stehen wenn wir nach einer Partner-Relation zwischen den zwei Prinzipien imRahmen einer dualistischen Version suchen wuumlrden

135 Lg 906a5f raquoμάχη δή φαμέν ἀθάνατός ἐσθrsquo ἡ τοιαύτη καὶ φυλακῆςθαυμαστῆς δεομένηlaquo

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges

Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X 49

drehen um ihre eigenen philosophischen Einsaumltze zu entwickeln undsich selber zu erkennen Einige von ihnen werden zu Platonisten Alskein engagierter Platonist braucht Platon die Verantwortung seines Pla-tonismus nicht zu uumlbernehmen sondern fordert uns heraus unser Pla-ton-Bild zu entwerfen136 Das tun wir vorausgesetzt wir wollen es Indieser Hinsicht Πλάτων ἀναίτιος

136 Dieser Satz ist vor dem Hintergrund meiner Uumlbereinstimmung mit Mat-thias Baltesrsquo und meiner Divergenz zu Lloyd Gersons Bild des Platonismus zulesen Zur Begruumlndung meines kritischen Abstands von der allgemeinen Her-meneutik des Letzteren s meine Rezension seines Buches Aristotle and OtherPlatonists Ithaka and London 2005 In Zeitschrift fuumlr Philosophische For-schung 63 Tuumlbingen 22009 S 333-336

  • Georgia Mouroutsou
    • Die Frage nach der sbquoschlechten Seelersquo in Nomoi X
    • Versuch einer Entzauberung
      • i Die Agenda und die Methode des Atheners
      • ii Der materialistische Reduktionismus der Gottlosen und die platonische Theorie der Bewegung
      • iii Leib-Seele-Dualismus Ausschluss von drei modernen und einer antiken Auffassung
      • iv Einfuumlhrung der Gegensatzes sbquogut und schlechtrsquo Ein Fehler im Argument
      • v Die zwiefache Unterscheidung in 896e4-6
      • vi Lg 896e8-b5 Von einer Definition der Seele qua Seele zu ihrer Extension Was fuumlr Seelen gibt es
      • vii Lg 897b7-c1 Von einer allgemeinen Lehre der Seele qua Seele zu der Frage nach einer schlechten Weltseele
      • viii Der Abschluss des ersten Gottesbeweises
      • ix Ausweglosigkeit bezuumlglich des Konzepts einer schlechten Weltseele
      • III Eine moumlgliche Rekonstruktion des laumlngeren dialektischen Weges