Mario Bertoncini und die Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza. Giacinto Scelsis Erbe in den...

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Ingrid Pustijanac Mario Bertoncini und die Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza. Scelsis Erbe in den kompositorischen Poetiken der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Italien Mit der Erönung des Archivs der Fondazione Isabella Scelsi im Jahr 2009 er- schloss sich die Möglichkeit, neue Einblicke in wesentliche Aspekte des Scelsi’schen Opus zu gewinnen. Das Verhältnis Scelsis zu den italienischen KomponistInnen der Neuen Musik zu untersuchen ist aus heutiger Sicht besonders reizvoll und berei- chernd. Dabei drängt es, den Schwerpunkt auf jenes mit dem römischen Ambiente der sechziger und siebziger Jahre, genauer mit Nuova Consonanza und der Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza (GINC), zu legen. Folgende Abhandlung konzentriert sich vor allem auf den kompositorischen Poetikhorizont und das Verhältnis Giacinto Scelsi – Mario Bertoncini und ver- steht sich als Weiterführung der Forschungen der letzten Jahre, unter denen vor allem Daniela Tortoras Arbeit über Nuova Consonanza und Scelsis Rolle im Um- feld Roms in den sechziger Jahren besonders hervorzuheben ist. Durch die Er- forschung des Klangphänomens wird versucht, genauer zu untersuchen, inwieweit einige Verfahren, die in Scelsis Werken der späten sechziger Jahre vorkommen, Teil einer breiteren kompositorischen Strömung innerhalb (und außerhalb) Itali- ens sind, inwieweit sie das Resultat spezifischer kompositorischer, an den Begrider Improvisation gebundener Verfahren sind und inwieweit sich einige in seinen Werken präsente Bestandteile als Stilelemente definieren lassen, die sich später auch in individuellen Werken der übrigen Mitglieder der Gruppe wiederfinden, insbesondere in Bertoncinis Musik. Die Untersuchungen Tortoras brachten zahlreiche Informationen über Aktivi- täten, interne Organisation und Mitglieder der Nuova Consonanza ans Licht. Diese Vereinigung wurde 1961 von den sieben italienischen Komponisten Mario Bertonci- ni, Mauro Bortolotti, Antonio De Blasio, Franco Evangelisti, Domenico Guaccero, Egisto Macchi und Daniele Paris gegründet und setzte sich die Förderung und Verbreitung zeitgenössischer Musik in Rom als Ziel. 1 Schon bald nach den ersten Konzerten und der engen Zusammenarbeit mit dem Festival Settimane Palermita- ne 2 gründete Franco Evangelisti 1964 die GINC, welche sich 1967/68 etablierte und 1 Daniela Tortora, Nuova Consonanza. Trent’anni di musica contemporanea in Italia (1959–1988) (= Musicalia 2), Lucca 1990, S. 34–40. 2 Siehe Paolo Emilio Carapezza, „Le Sei Settimane Internazionali della Nuova Musica di Pa- lermo (1968–1969)“, in: Di Franco Evangelisti e di alcuni nodi storici del tempo, hg. von Domenico Guàccero, Rom 1980, S. 55–66; Daniela Tortora, „Roma e Palermo centri di nuova musica negli anni Sessanta“, in: Musica/Realtà 9, Nr. 26 (1988), S. 87–105.

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Ingrid PustijanacMario Bertoncini und die Gruppo di Improvvisazione NuovaConsonanza. Scelsis Erbe in den kompositorischen Poetikender zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Italien

Mit der Erö�nung des Archivs der Fondazione Isabella Scelsi im Jahr 2009 er-schloss sich die Möglichkeit, neue Einblicke in wesentliche Aspekte des Scelsi’schenOpus zu gewinnen. Das Verhältnis Scelsis zu den italienischen KomponistInnen derNeuen Musik zu untersuchen ist aus heutiger Sicht besonders reizvoll und berei-chernd. Dabei drängt es, den Schwerpunkt auf jenes mit dem römischen Ambienteder sechziger und siebziger Jahre, genauer mit Nuova Consonanza und der Gruppodi Improvvisazione Nuova Consonanza (GINC), zu legen.

Folgende Abhandlung konzentriert sich vor allem auf den kompositorischenPoetikhorizont und das Verhältnis Giacinto Scelsi – Mario Bertoncini und ver-steht sich als Weiterführung der Forschungen der letzten Jahre, unter denen vorallem Daniela Tortoras Arbeit über Nuova Consonanza und Scelsis Rolle im Um-feld Roms in den sechziger Jahren besonders hervorzuheben ist. Durch die Er-forschung des Klangphänomens wird versucht, genauer zu untersuchen, inwieweiteinige Verfahren, die in Scelsis Werken der späten sechziger Jahre vorkommen,Teil einer breiteren kompositorischen Strömung innerhalb (und außerhalb) Itali-ens sind, inwieweit sie das Resultat spezifischer kompositorischer, an den Begri�der Improvisation gebundener Verfahren sind und inwieweit sich einige in seinenWerken präsente Bestandteile als Stilelemente definieren lassen, die sich späterauch in individuellen Werken der übrigen Mitglieder der Gruppe wiederfinden,insbesondere in Bertoncinis Musik.

Die Untersuchungen Tortoras brachten zahlreiche Informationen über Aktivi-täten, interne Organisation und Mitglieder der Nuova Consonanza ans Licht. DieseVereinigung wurde 1961 von den sieben italienischen Komponisten Mario Bertonci-ni, Mauro Bortolotti, Antonio De Blasio, Franco Evangelisti, Domenico Guaccero,Egisto Macchi und Daniele Paris gegründet und setzte sich die Förderung undVerbreitung zeitgenössischer Musik in Rom als Ziel.1 Schon bald nach den erstenKonzerten und der engen Zusammenarbeit mit dem Festival Settimane Palermita-ne2 gründete Franco Evangelisti 1964 die GINC, welche sich 1967/68 etablierte und

1 Daniela Tortora, Nuova Consonanza. Trent’anni di musica contemporanea in Italia(1959–1988) (= Musicalia 2), Lucca 1990, S. 34–40.

2 Siehe Paolo Emilio Carapezza, „Le Sei Settimane Internazionali della Nuova Musica di Pa-lermo (1968–1969)“, in: Di Franco Evangelisti e di alcuni nodi storici del tempo, hg. vonDomenico Guàccero, Rom 1980, S. 55–66; Daniela Tortora, „Roma e Palermo centri di nuovamusica negli anni Sessanta“, in: Musica/Realtà 9, Nr. 26 (1988), S. 87–105.

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vorwiegend aus Evangelisti, Bertoncini, Walter Branchi, John Heineman, EgistoMacchi und Ennio Morricone bestand. So zeichnen sich zwei verschiedene Tätig-keitsbereiche ab: einerseits die Vereinigung Nuova Consonanza mit dem Festivalund den Konzerten zeitgenössischer Musik und andererseits der GINC, welche dieseAktivitäten mit einem auf vielen Ebenen innovativen Zugang bereichert, indem eszentrale Fragen des poetischen Horizonts, wie z.B. das Verhältnis zwischen Kom-ponisten – Interpreten, Komposition – Improvisation, Schriftliches – Mündliches,Formales – Informelles und Klang – Geräusch, untersucht.

Die o�ziellen Beziehungen zwischen Giacinto Scelsi und der Vereinigung Nuo-va Consonanza, besonders in den Jahren 1964 bis 1968, als Scelsi Teil der Admi-nistration war, sind aus zahlreichen Dokumenten und Briefen ersichtlich, welchevon Tortora 2003 teilweise verö�entlich wurden.3 Die verschiedenen Informationenüber Konzerte und Au�ührungen der GINC sowie Briefe und Aussagen in Scelsisautobiografischer Schrift Il sogno 101 bieten weitere Details, um einen Überblicküber den zentralen Zeitraum der musikalischen Avantgarde Roms zu gewinnen –also genau jener Zeit, in der einige der gelungensten Werke Scelsis entstanden sind.Besonders in Il sogno 101 lässt sich das Interesse und der reziproke Respekt zwi-schen Scelsi und Franco Evangelisti, Gründer der GINC und wahrer Agens hinterder administrativen und künstlerischen Abteilung, erkennen:

[...] einige Jahre später, als er [Franco Evangelisti] mich brauchte, um die GesellschaftNuova Consonaza auf die Beine zu stellen [...], machte ich dies und scha�te es, ihmzu helfen. [...] ich übernahm auch eine Stelle im Vorstand und erreichte eine Zusam-menarbeit mit der Galerie für moderne Kunst. Und so, in zwei Saisonen, fanden dieKonzerte zwischen den Bildern und Skulpturen dieser Galerie statt. Es war wirklicheine gelungene Sache [...].4

Als Mitglied von Nuova Consonanza wurde Scelsi von den mit der GINC und derPromotion zeitgenössischer Musik unmittelbar und verantwortlich verbundenenKomponisten und Ausführenden als ihr Gleichberechtigter und Gleichgesinnterangesehen und seine Werke wurden auf fast allen von Nuova Consonanza organi-sierten Festivals ab 1975 aufgeführt.5 Überdies wissen wir aus den unmittelbaren

3 Daniela Tortora, „Giacinto Scelsi e l’associazione per la musica contemporanea ‚Nuova Con-sonanza‘: una liaison imperfetta“, in: i suoni, le onde... Rivista della Fondazione IsabellaScelsi 11 (2003), S. 5–14.

4 Giacinto Scelsi, Il sogno 101. Prima e seconda parte, hg. von Luciano Martinis und Alessan-dra Carlotta Pellegrini, Macerata 2010, S. 328: „[...] qualche anno dopo, quando egli [FrancoEvangelisti] ebbe bisogno di me per rimettere in piedi la società di Nuova Consonanza [...]io lo feci e riuscii ad aiutarlo. [...] accettai anche un incarico nel Consiglio Direttivo e riusciiad ottenere la collaborazione della Galleria d’arte moderna. E così, durante due stagioni, iconcerti ebbero luogo tra i quadri e le sculture di questa galleria. Fu una cosa molto riuscita[...].“

5 Scelsi war ab 1964, als Hô. Cinque vocalizzi per voce femminile (1960) aufgeführt wurde,beim Festival Nuova Consonanza immer mit ein bis drei Kompositionen (1982, 1985, 1986)vertreten. Siehe Tortora, „Giacinto Scelsi“, S. 8.

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Zeugnissen einiger Mitglieder der GINC, darunter auch Bertoncini, dass Scelsi oftan der Arbeit beziehungsweise den Tre�en der Gruppe teilgenommen hat. Natür-lich ohne unmittelbare Mitwirkung, wenngleich ihm die Prinzipien und Verfahren,auf denen die Arbeit der Gruppe beruhte, wohl vertraut waren. Schwieriger sindder gemeinsame kompositorische Horizont und der stattgefundene Austausch kon-kreter Zugänge zu Klangforschungsaspekten zu definieren. Bertoncini behauptet,dass die jungen Komponisten, trotz der wechselseitigen Beziehungen und des In-teresses, das sie für einige Aspekte der Musik Scelsis zeigten, dessen Partiturennicht im Detail kannten. Darüber erzählt er im Dialog In rotta verso il 2000, dener Scelsi 1988/89 widmete:

M.: Und trotzdem war Scelsi von Beginn an Teil der Gruppe Nuova Consonanza, alsofehlte es ihm o�ensichtlich nicht an Kontakten zu den herausragenden, zukunftblicken-den römischen Komponisten.B.: Es bleibt noch zu untersuchen, wie viel Kenntnis seine jüngeren Kollegen von seinerschon umfangreichen und schwer zugänglichen Produktion hatten. In diesem Zusam-menhang muss ich an etwas erinnern, was X oft wiederholt hat, und zwar, dass Scelsi,obwohl er ein fast obsessives Interesse an der Verbreitung seiner Werke hat, ...M.: Mehr als verständlich, würde ich meinen, angesichts der Situation!B.: Zweifellos!... Ich würde aber noch hinzufügen, dass er trotz dem Interesse an derVerbreitung seine Partituren nicht leicht hergab. Er hat meinem Freund oft undi�eren-zierte Listen von Kompositionen aus verschiedenen Phasen übergeben oder zugesandt.[...] Sie waren meist nur mit rätselhaften Titeln und kurzen Beschreibungen zur Beset-zung versehen. [...]M.: Also, nur um Sie richtig zu verstehen, [...] Scelsi war in den 60ern nicht isoliert,denn er wurde zur Mitwirkung bei einer zukunftsgerichteten Gruppe von Musikern ausRom eingeladen... Alles in allem aber, meine ich, wurde seine Musik, trotzdem vonseinen Weggefährten nahezu ignoriert.6

6 „M.: Eppure Scelsi fin dagli inizi ha fatto parte del gruppo Nuova Consonanza: evidentemen-te, quindi, occasioni di contatto con i compositori romani di punta non gli sono mancate.B.: Resta da appurare in quale misura i suoi più giovani colleghi conoscessero la sua giàvastissima e poco accessibile produzione. A questo riguardo devo ricordare quanto X. m’haspesso ripetuto e cioè che Scelsi, pur dimostrando quasi un ossessivo interesse alla di�usionedelle proprie opere, ...M.: Più che spiegabile, direi, data la situazione!B.: Senza dubbio!... Volevo però aggiungere che ciò nonostante egli non era solito distribuirecon facilità le relative partiture. Egli ha molto spesso dato direttamente o spedito al mio ami-co elenchi indi�erenziati di composizioni appartenenti a periodi diversi [...] e contrassegnatesoltanto da titoli sibillini e da concise descrizioni dell’organico strumentale [...].M.: Insomma, mi faccia capire bene; [...] Scelsi negli anni sessanta non era isolato perchéchiamato a far parte d’un gruppo di musicisti romani proiettati verso l’avvenire... [...] Dun-que, nonostante questo, dicevo, i suoi compagni di rotta ignoravano o quasi la sua musica.“Mario Bertoncini hat zwischen 1976 und 2013 dreizehn Dialoge geschrieben, die heute größ-tenteils noch unverö�entlicht sind. Einige dieser werden in Kürze verö�entlicht in: MarioBertoncini, Ragionamenti musicali in forma di dialogo: X e XII, hg. von Daniela Tortora,Rom 2013. In rotta verso il 2000 wurde 1988/89 nach Scelsis Tod und nach den bekann-ten Polemiken mit Vieri Tosatti geschrieben. Die zwei imaginären Figuren des Dialoges sindMenippo (M) und Bremonte (B). Siehe Christine Anderson, „Dialoge und andere ,nutzlo-se‘ Texte. Anmerkungen zu den Schriften von Mario Bertoncini“, in: MusikTexte 96 (2003),

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Wie tiefgehend die Komponisten der GINC Scelsis Musik kannten und inwieweitsie in ihr Interesse fanden, ist in jedem Fall ein Thema, das eine detailliertere Be-handlung verdient. Wir können hierfür einige Hypothesen über den Punkt, an demsich die beiden Horizonte am ehesten annähern, aufstellen – wohlwissend, dass dieRealität immer komplexer ist, als eine teilhafte Untersuchung zeigen kann. Überdie von Tortora dokumentierten Kontakte hinaus scheinen Scelsi hauptsächlichImprovisationskonzepte und Klangkonzepte mit der GINC zu vereinen; es handeltsich dabei um zwei Aspekte, die wir eher auf der Poetikebene und nicht nur aufder Rekonstruktionsebene des historisch-sozialen Kontexts ansiedeln können.7

Wie bereits erwähnt, und wie Giovanni Guaccero tiefgehend erläutert,8 widme-ten sich in den sechziger und siebziger Jahren einige der wichtigsten Komponistender römischen Avantgarde der Improvisationspraxis und scha�ten hierfür eine At-mosphäre von Experiment und Dialog mit den anderen bestehenden römischenGesellschaften, wie z.B. dem Umfeld der amerikanischen Komponisten-Performer(Frederic Rzewski, Alvin Curran, Richard Teitelbaum), des Free Jazz und derPerformer an der Grenze der Genren (unter anderem Mario Schiano, GiancarloSchia�ni). Wie man bei zahlreichen Gelegenheiten aufzeigen konnte, ist geradedie Improvisation die Hauptdimension in der sich die Musik Scelsis zu formen be-ginnt. Die innewohnenden Dynamiken der Improvisationsprozesse der GINC undvon Scelsi waren substantiell verschieden, weshalb deren Verbindung nur von ober-flächlicher Natur ist. Scelsi ging es um eine individuell durchgeführte Suche nachder Tiefe des Klangs (erst in den letzten Jahren wurde sie zu einer kollektiven)auf extrem reduziertes Klangmaterial. Für die GINC war es eine bereichernde,kollektive Erfahrung, bei der Schemen, Instrumente, heterogenes Material sowieinterne ausgeklügelte Mechanismen angewendet wurden.

Man weiß, dass Scelsis Kompositionen ab dem Ende der fünfziger Jahre dasErgebnis eines komplizierten Prozesses sind: Stundenlangen nächtlichen Improvi-sationen am Klavier und an der Ondioline folgte die Auswahl der ansprechendstenoder interessantesten Improvisationen und deren Transkription in eine traditionel-le Partitur. Die Getreuen unter den Ausführenden – Michiko Hirayama, Frances-Marie Uitti, Joëlle Léandre – betonen, dass sie den wahren Schlüssel zur Inter-

S. 44–45. Mario Bertoncini, In rotta verso il Duemila. Dialogo televisivo in tre giornate(1988–1989). Giornata prima „Una strega“, Giornata seconda „Un selvaggio“, Giornata ter-za „Il successo“, unverö�entlicht (zit. mit freundlicher Genehmigung des Autors), S. 6.

7 Siehe Giovanni Giuriati, „Suono, improvvisazione, trascrizione, autorialità, Oriente... e Scelsi.Alcune Riflessioni di un etnomusicologo“, in: Giacinto Scelsi nel centenario della nascita.Atti dei Convegni Internazionali, Roma, 9–10 dicembre 2005, Palermo, 16 gennaio 2006,hg. von Daniela M. Tortora, Rom 2008, S. 263–279.

8 Giovanni Guaccero, L’improvvisazione nelle avanguardie musicali. Roma, 1965–1978, Rom2013.

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pretation der Werke Scelsis erst gefunden hatten, nachdem sie Stunde um Stundeseine Improvisationen abgehört hätten.9

Für die GINC und die anderen römischen Gruppen artikuliert sich die Improvi-sation auf einer anderen Ebene. Bertoncini erläutert in seinem unverö�entlichtenText Einige Bemerkungen zur Verwendung oder der Lesung der „Klangskulpturen“und erstellt eine Liste der sechs Hauptprinzipien der Improvisation:

1) Verwendung von speziellen „Präparierungen“ der Instrumente, also vom denaturier-ten Klang;2) Rhythmische Fragmentierung, die einem Prinzip absoluter Asymmetrie folgt;3) Extreme Vorsicht, um Elemente, die an temperierte harmonische Intervalle (Oktav,Quarte und Quinte etc.) erinnern, zu verhindern;4) Abscha�ung aller Solo oder figurativen Einsätze;5) Kategorische Ablehnung von jedem Schema oder vorgefertigtem Plan;6) Eine Zugehörigkeit zu einer Form von „Aufteilung“, übereinstimmend mit der Über-nahme einer nicht vorgefertigten musikalischen Form und somit kohärent mit einemkollektiven momentanen Komponieren: Der Einsatz des Einzelnen, bewusst beschränktauf Morpheme, die für sich allein stehend nicht bedeutungsvoll sind, übernimmt denCharakter und somit auch die Funktion des einzelnen musikalischen Mosaiksteinesinnerhalb des definitiven Gesamtbildes.10

Improvisation in diesem Sinne bedeutet formale Freiheit der individuellen Reak-tion auf Klangreize aus dem Kollektiv der anderen Teilnehmer oder auf eigeneKlanggesten. Es gibt keine vorbestimmten formalen Schemen, denen die betref-fende Improvisation zu folgen hätte. Die Proben vor den Au�ührungen der GINCwaren mehr dem Studium der verschiedenen Reaktionsformen und dem Klangreiz,der Aktion eines anderen Ausführenden und der Arten des bestimmten Einsatzesoder der Instrumentation gewidmet. In der Regel ist der Grundfaktor das Bedürfnisnach Reaktion und Interaktion mit dem Kontext nach den Prinzipien Integration,Intensivierung, Unterbrechung, bis hin zu dem Moment, in dem die Möglichkeitendes Kollektivs und der Einzelnen erschöpft zu sein scheinen und eine Fortsetzung

9 Zu diesem Schluss kommt William Colangelo in seiner Doktoratsstudie: William Colangelo,The Composer-Performer Paradigm in Giacinto Scelsi’s Solo Works, Univ., Diss., New York1996.

10 Mario Bertoncini, Alcune osservazioni circa l’uso o la lettura delle „sculture di suono“ (8.Juni 2011), unverö�entlicht (zit. mit freundlicher Genehmigung des Autors), S. 4: „1. im-piego di speciali ,preparazioni‘ strumentali, cioè del suono denaturato. 2. frammentazioneritmica secondo un principio di assoluta asimmetria. 3. estrema cura nel mascherare elementipassibili di evocare il riferimento ad intervalli armonici temperati (ottava, quarta e quintagiuste, ecc.). 4. abolizione di qualsiasi intervento ,solistico‘ o ,figurativo‘. 5. rifiuto categoricodi qualsiasi schema o piano preconcetto. 6. adesione ad una sorta di ,divisionismo‘ in sinto-nia con l’assunto d’una forma musicale non predefinita e coerente quindi con un comporremomentaneo collettivo: l’azione singola, limitata volontariamente all’impiego di morfemi nonsignificanti in sé, assumeva il carattere e quindi la funzione che la singola tessera musicarappresenta nel contesto del mosaico definitivo.“

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nicht mehr als unbedingt notwendig empfunden wird, womit die Improvisation einEnde findet. In Bertoncinis Worten:

Die Form [...] wird durch den Prozess ersetzt und indirekt durch die momentane ad-äquate Reaktion und die Mitwirkung der spontanen kollektiven Gestik bestimmt [...].Auf jeden Fall ist es wichtig, dass die formale Definition des improvisierten Werkesnach dessen Beendung unberechenbar und absolut frei an die momentane Entschei-dung gebunden, also nichts vorher schon bestimmtes ist.11

Die notwendige Begrenzung der Materialien ist ein Punkt, der die Unterschiedezwischen den Gruppen am stärksten definiert und von dem die Ausgewogenheitund Kohärenz der Improvisationen abhängt. Im Falle der GINC sind – wie meh-rere Quellen bezeugen und wie den Audio-Dokumenten zu entnehmen ist12 – dieMaterialien für die Interpretation in erster Linie durch neuen Klang und mög-lichst abstrakte, rhythmisch-melodische Gesten definiert, unter Vermeidung allerhistorisch konnotierten Stilelemente (Wiederholung, Konsonanz etc.). Dies resul-tiert wiederum in einem durchaus wiedererkennbaren musikalischen Inhalt, derdie Spuren seiner Zeit trägt. Sie strebten mit ihren kollektiven Improvisationen inerster Linie neue klangliche Ressourcen an, die nach Möglichkeit historisch bereitssedimentierte und an bestimmte Kontexte gebundene Klangmaterialien vermeiden.Zumindest in den ersten Jahren bildete die Erforschung neuer Au�ührungsmög-lichkeiten der Instrumente und ihre Präparierung zum Zwecke der Verfremdungder Klangfarbe eines der zentralen Interessensgebiete ihrer Improvisationen.13

In diesem Punkt hatten die GINC und Scelsi die gleiche Ansicht. Bekanntist das Interesse Evangelistis an dem spezifischen Klang der Streichinstrumen-te in Scelsis Werk, der durch die Applizierung spezieller Kupferdämpfer erreichtwird, was eine völlige Veränderung der Farbe und damit des Klangspektrums derStreicher bewirkt. Wie Bertoncini im bereits angeführten Dialog erwähnt, stelltdies nur eines der möglichen Verfahren der Klangdistorsion dar, ein Phänomen,dass die Neugier der Komponisten und Ausführenden der GINC weckte: „[...] allekönnen sich daran erinnern, mit welchem legitimen Nachdruck Evangelisti überdie Klangforschungen Scelsis, und im speziellen die von ihm entwickelte genialeMethode für die Klangverzerrung der Streichinstrumente gesprochen hat: Metall-

11 Bertoncini, In rotta verso, S. 52: „La forma [...] viene sostituita dal processo e stabilitaindirettamente dalla reazione momentanea adeguata e dalla partecipazione al gesto spontaneocollettivo. [...] Importante in ogni caso era che la definizione formale del brano improvvisato,ad azione compiuta, fosse un dato imponderabile ed assolutamente, liberamente legato alladecisione momentanea, non a qualcosa di convenuto precedentemente.“

12 Siehe Nuova Consonanza Komponisten Improvisieren Im Kollektiv, DVD, verö�entlich alsGruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza – Azioni, CD/DVD, Die Schachtel 2006.

13 Gianmario Borio, „Klang als Prozeß. Die Komponisten um Nuova Consonanza“, in: GiacintoScelsi: Im Innern des Tons, hg. von Klaus Angermann, Hofheim 1993, S. 11–25.

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dämpfer, die man am Steg befestigen musste.“14 Trotzdem war für die Mitgliederder GINC die Suche nach neuen Au�ührungsmöglichkeiten eine Notwendigkeit,um sich immer mehr von den Mechanismen der Produktion, Nutzung und denKlangressourcen der Musik der Vergangenheit zu distanzieren. Für Scelsi und, wieman im Folgenden sehen wird, auch für Bertoncini wurde die Suche nach neuenakustischen Möglichkeiten der bereits existierenden, mehr oder weniger präparier-ten oder sogar ad hoc gebauten Instrumenten, der Sinn ihres Komponierens, wobeidie Entstehung des Klanges, dessen zeitliche Artikulation und die Komposition zuein und derselben Sache verschmelzen:

M: [...] wir haben Konzepte bewundert [...], von Scelsi selbst diktiert [...], über eineneue Klangdimension, die Tiefe, kein esoterisches Konzept, nichts magisches, höchstevokativ, spirituell aber hauptsächlich spezifisch musikalisch, akustisch: Eines der im-mer wiederkehrenden Elemente, eine Konstante in der Kunst Scelsis.Zuerst bei Scelsi selbst, dann in den oft schafsinnigen Analysen seiner Zeitgenossenfinden wir in diesem Sinne die Erklärung der Heterophonie der Mikrointervalle: EinKlang erhält Tiefe durch kleinste, minimale Entwicklungen seines dynamischen Spek-trums (im schwankenden Abstand eines chromatischen Halbtons, der eine dritte Klang-dimension simuliert). Darin sind Exkurse eines Trillers oder eines langsamen Vibratosinbegri�en, sei es zwischen zwei oder mehreren Instrumenten oder beim Spielen eineseinzelnen Instrumentes und zweier nebeneinander liegender Saiten.15

Neben der Erkundung der Mikrointervalle hebt Bertoncini die Techniken der pho-nischen „Verfremdung“ hervor, die

durch a) Messingdämpfer für Streicher, b) Vibrieren der Harfensaiten oder des Kontra-basses gegen einen Metallstab oder c) mit derselben Technik die Resonanz des Tamtamsbeeinflusste Klangaspekte mit ausschlaggebender Funktion erzeugen – seien diese ent-weder eng mit dem emotionalen Inhalt oder spezifischeren musikalischen Kategorienverbunden – und nicht als dekorative Elemente, etwas esoterisch und oberflächlich.16

14 Bertoncini, In rotta verso, S. 7: „[...] tutti possono ricordare con quale legittima enfasi Evan-gelisti parlava delle ricerche di Scelsi sul suono e in particolare sul metodo geniale da questiescogitato per la distorsione sonora degli strumenti ad arco: le sordine metalliche da inseriresul ponticello“.

15 Ebd., S. 8: „M. [...] abbiamo ammirato concetti [...] dettati dallo stesso Scelsi [...] su unanuova dimensione del suono, la profondità, concetto non esoterico, non magico, altamenteevocativo, spirituale ma soprattutto specificamente musicale, acustico: uno degli elementiricorrenti, una costante dell’arte scelsiana.Prima nello Scelsi poi nelle analisi spesso acute dei suoi commentatori, abbiamo in questachiave ricevuto la spiegazione d’una eterofonia microintervallare: un suono acquista profon-dità attraverso le minime sottili evoluzioni della sua dinamica spettrale (nella distanza flut-tuante entro un semitono cromatico, che simula una terza dimensione sonora), ivi compresele escursioni d’un trillo o d’un vibrato lento, sia tra due o più strumenti, sia se si consideral’azione relativa ad un solo strumento e su due corde contigue.“

16 Ebd.: „ottenuto a) mediante sordine in ottone per gli archi; b) mediante la vibrazione dellacorda dell’arpa o del contrabbasso contro una barra metallica o c) con la stessa tecnica appli-cata alla risonanza del tam-tam/erzielt durch a) Messingdämpfer für Streicher; b) Vibrierender Harfensaiten oder des Kontrabasses gegen einen Metallstab oder c) mit derselben Technikfür die Resonanz des Tam-Tams.“

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Weiter unten kann man in dem zitierten Text von Bertoncini lesen, wie er sichexplizit auf Okanagon von Scelsi bezieht. Ein Werk in dem jene Klangdimensionumfassend entwickelt wird, die sowohl im Zentrum des Interesses der Improvisa-tionen der GINC als auch in seiner persönlichen Poetik im Vordergrund gestandenhaben. Es handelt sich um die Erweiterung der Klangpalette mit Hilfe innovati-ver Systeme der Klangerzeugung auf traditionellen Instrumenten. Dieser Aspektist für beide Komponisten von zentraler Bedeutung, aber die poetischen Anforde-rungen aus denen eben jene Hilfsmittel entstehen, stellen für Scelsi und die GINCzwei unterschiedliche Probleme dar. Die einzigartige Position Bertoncinis in diesemKontext ist besonders bedeutend.

Die Frage der Dämpfer, oder genauer gesagt der Resonatoren, ist in der Sekun-därliteratur über Scelsi immer noch auf sporadische Hinweise beschränkt. LucianoMartinis versuchte mit der Unterstützung von Uitti darin ein wenig Ordnung zuscha�en,17 aber die Fragen zu den rein konstruktiven Aspekten oder die Definitionder Klangressourcen für die Kompositionen, in denen sie benutzt wurden, bleibtweiterhin o�en.18 Da die Untersuchung der rein konstruktiven Aspekte den Rah-men dieser Abhandlung sprengen würde, wird im Folgenden das Hauptaugenmerkauf die Entstehung der Klangressourcen gelegt. Interessant ist dabei der Klang,der von den Resonatoren erzeugt wird. Die ersten Andeutungen für dessen Einsatzfinden wir schon im Il sogno 101, wo Scelsi über sein Quartett Nr. 2 spricht:

In diesen Jahren schrieb ich das Quartett Nr. 2, das eine Besonderheit hatte: Ichhatte Metalldämpfer erfunden, die auf den Saiten fixiert werden müssen und nicht amSteg. Es ergibt sich dadurch ein nicht angenehmer Klang, und die Ausführenden warenwütend, denn sie studierten Jahre lang, um eine „bella cavata“ und einen schönen Klangerzeugen zu können, und ich mache diese Klänge rau und unschön. Aber dieser E�ektwurde nicht einfach gewählt,sondern entstand als eine Notwendigkeit der Musik.19

Von der „Notwendigkeit der Musik“ angespornt hatte der Einsatz der Resonatorenweitreichende Konsequenzen, die weit über den Bereich der Klangressourcen undvor allem über die formale Ebene hinausgingen, da sich dank des Kontakts des

17 Luciano Martinis, „Scelsi resonators. Intervista di Luciano Martinis a Frances-Marie Uitti“,in: i suoni, le onde... Rivista della Fondazione Isabella Scelsi 21 (2008), S. 3–5.

18 Die Werke in denen die Metalldämpfer (Resonatoren) vorgeschrieben sind, sind Quartetton. 2, Quartetto n. 4, Werke für Violoncello wie Triphon, Trilogia, Ko-Tha und Okanagon.Ähnliche Techniken finden sich auch in TKRDG, I funerali di Achille und Uaxactum. Sieheauch Christine Paquelet, „Scelsi e la percussione“, in: Giacinto Scelsi. Viaggio al centro delsuono, hg. von Pierre-Albert Castanet und Nicola Cisternino, La Spezia 1992, S. 164–165.

19 Scelsi, Il sogno 101, S. 329: „In quegli anni scrissi il Quartetto n. 2, che aveva una particolarità:avevo inventato sordine metalliche da mettere sulle corde, non sul ponticello. Il risultato èche il suono delle corde diventa piuttosto sgradevole, con molta rabbia degli esecutori, i qualihanno studiato per anni onde tirar fuori una bella cavata, un bel suono, ed io invece rendevoquesti suoni rauchi e sgradevoli. Però questo e�etto non era una ricercatezza, bensì unanecessità della musica.“

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Instrumentes mit dem Resonator neue Möglichkeiten zum Enthüllungsprozess dertiefen Wirkung des Klanges boten.

Das deutlichste Beispiel für den Resonatoreneinsatz, nicht nur bei Streichinstru-menten sondern auch bei der Harfe und den Tamtams ist gerade Okanagon. DasWerk wurde 1968 komponiert, wobei als Ort und Jahr der ersten Au�ührung dieQuellen Boston 1974 nennen (Ensemble Collage). In Rom wurde das Werk im Rah-men des Festivals Nuova Consonanza am 26. November 1976 ö�entlich aufgeführt,obwohl es laut den Erinnerungen Bertoncinis, nach der Forderung Scelsis bereitsim Entstehungsjahr 1968 in den Räumen der RAI nach zweiwöchigem täglichenEinstudieren eine private Au�ührung gegeben hatte. Die Ausführenden waren:Clelia Gatti Aldrovandi (Harfe), Branchi (Kontrabass) und Bertoncini (Tamtamund Leitung).20

Wie man auf den Au�ührungsnoten sieht,21 werden auf den Harfensaiten an-gebrachte Resonatoren verwendet, während beim Kontrabass in erster Linie freieSaiten benutzt wurden (natürlich mit Skordatur es, as und des), um im Verlauf desgesamten Werkes drei Mikrointervall-Zusammenklänge (dø/es, gø/as und cø/des)zu erzeugen. Der harmonischen Statik entspricht die große rhythmische Aktivi-tät, die ausschließlich der Aufrechterhaltung und Intensivierung des Reizes dientund die zur Vibration der hohen Aliquoten führt. Der Rhythmus ist wie eine ArtKatalysator des akustischen Phänomens der Resonanz, denn er befreit den Klangund dies gelingt nur im Kontext eines Klangkontinuums. Scelsi äußerte sich hierzufolgendermaßen:

Mir scheint, dass ich zu Beginn vom Chaos-Konzept und dem richtigen Klang gespro-chen habe: so ist es für mein Okanagon unerlässlich wichtig, dass der Klang richtig ist,und ich spreche natürlich nicht von der Note der drei Instrumente, sondern von derResonanz.Im Orient ist jeder Gongschlag eine Art gestische Zeremonie; er muss in einer vorgege-benen Weise geschlagen werden, er muss seinen Vibrationsraum um sich haben. Undnicht nur der Gong, sondern auch jedes andere Instrument muss in einer eigenen Weisebehandelt werden; das ist wesentlich, um dieses Resultat zu haben, das einzig geltendeResultat für den richtigen Klang. Dies ist eine Wissenschaft, die im Okzident völligunbekannt ist [...].Ich muss auch hinzufügen, dass auch unsere wichtigsten Komponisten, und unsere be-rühmtesten Instrumentalisten größtenteils die Essenz des Klangs ignoriert haben undsich nur auf die Beziehung zwischen den Tönen konzentriert haben.

20 Persönliche Mitteilung Bertoncinis während des Gesprächs in Montreal am 18. Oktober 2012.Als Zeichen der Dankbarkeit schenkte Scelsi Bertoncini das Tamtam, das in dieser Au�ührungverwendet wurde. Derzeit ist keine Aufnahme dieser Au�ührung bekannt.

21 Giacinto Scelsi, Okanagon per arpa, contrabasso e Tam-tam, Paris 1983, S. 2–3.

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In Okanagon ist es wesentlich, dass die drei Ausführenden auf ihren Instrumenten dieseGesten umsetzen, die einzigen Gesten, die dem Klang erlauben, sich in seiner Essenzzu präsentieren.22

Die musikalische Verwirklichung dieses Gedankens läuft notwendigerweise durchdie Kodifizierung der musikalischen Notation. Die Analyse dieses schriftlichen Ob-jekts kann nur einen Teil der originalen Idee preisgeben. Im Fall von Okanagonist die Notation recht ra�niert, da es das Verhältnis zwischen Klang und demZeitpunkt seines Auftretens beschreiben muss; dieses Verhältnis gibt dem Werkdie definitive Form. Jede Geste, mit der die Ausführenden die Saiten sowie dasTamtam zupfen oder schlagen, ist bedeutungsvoll und musst daher „richtig“ sein.Das heißt, sie muss die in ihr enthaltene Energie in der benötigten Zeit befreien.Die Wiederholung dieser Geste erlaubt, wie das von Scelsi oft zitierte Bild desZen-Meisters und dem Floh, dass wir uns mit dem Klang synchronisieren unddie Bewegung seiner internen Resonanzen immer klarer wahrnehmen. Trotzdemhat der Komponist in Okanagon nicht zugelassen, dass es die Wiederholung einerNote ist, die den Zuhörer zur gewünschten Wahrnehmung führt; er wollte dieseErfahrung durch die ihm zur Verfügung stehenden Mittel erzielen.

Abgesehen von der Beschränkung der zur Verfügung stehenden Noten, stelltdie Skordatur um einen Viertelton der tiefsten Saiten d, g und c der Harfe einenmöglichen Weg dar, die drei eingesetzten Zweiklänge innerhalb des Werks reichan Schwingungen klingen zu lassen.23 Dieser bereits reichhaltige Klang wird durchden Kontrabass mit unterschiedlichen Obertönen (Oktave, Quinte, Septime etc.)verstärkt, um so das klangfarbliche Spektrum der Harfe zu erweitern (oder zu ver-kleinern). Schlussendlich wird dieser schon komplexe Klang durch den Resonator,der manchmal zu Beginn der Note, manchmal später wie eine Art auftauchen-de und verschwindende Resonanz eingesetzt wird, noch zusätzlich verändert. Dasletzte Element, das hinzugefügt wird, ist der Klang des Tamtams. Auch dieses In-

22 Scelsi, Il sogno 101, S. 353–354: „Mi sembra di aver parlato all’inizio del concetto di confusionee del suono giusto; in questo mio Okanagon è assolutamente necessario che il suono sia giusto,e non parlo ovviamente della nota dei tre strumenti, ma della loro risonanza.In Oriente ogni colpo di gong è una sorta di cerimonia gestuale; dev’essere colpito in undato modo, deve avere intorno a sé il suo spazio vibrante. E non solo il gong, ma ognialtro strumento deve essere trattato in modo molto speciale, essenziale, onde aversi questorisultato, il solo risultato valido per il suono giusto. Questa è una scienza sconosciuta inOccidente [...].Devo anche dire che i nostri compositori, anche maggiori, e i nostri strumentisti più celebriper la maggior parte hanno ignorato l’essenza del suono, preoccupati soltanto dei rapportitra le note. In Okanagon è essenziale che i tre esecutori eseguano sugli strumenti quei gestiche soli consentono al suono di manifestarsi nella sua essenza.“

23 Siehe François-Xavier Féron, „L’esthètique des battements dan la musique de Giacinto Scelsi“,in: Giacinto Scelsi aujourd’hui. Actes des jourenées européenes dìétudes musicale consacréesà Giacinto Scelsi (1905–1988), Paris, CDMC, 12–18 janvier 2005, hg. von Pierre-AlbertCastanet, Paris 2008, S. 221–242.

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strument wird sowohl „rein“, also mit allen natürlichen Resonanzen, als auch mitdem durch den Resonator verzerrten Klangspektrum eingesetzt.

Nb. 1: Scelsi, Okanagon, T. 27–29. © Éditions Salabert, Paris.

Man kann dieser kurzen Liste entnehmen, wie die formale Gestaltung und dasVerhältnis zwischen Klangmaterial und Form aus der Interaktion diverser Para-meter entstanden sind. Traditioneller könnte man das Werk bei Betrachtung derAufteilung der diversen Typologie als ein dreiteiliges Werk bezeichnen.24 Im ers-ten Teil kann man drei Unterteilungen erkennen, auch wenn der Prozess bewusstübergreifend und fließend ist. Die Elemente, die zu dieser Aufteilung herangezogenwurden, sind der Harmoniewechsel, der Interaktionswechsel zwischen den Instru-menten (Klang) und der Bogen der formalen lokalen Prozesse der von Agogikbegleitet wird.

Im ersten Teil (Lento � = 46, T. 1–14/Meno lento � = 52, T. 15–29) werdendie drei „harmonischen“ Zentren, die mittels Resonator erzeugten Klänge sowie dieunterschiedlichen Arten von Interaktion zwischen den Instrumenten eingeführt, al-so jene drei Parameter, auf denen der gesamte formale Prozess aufgebaut ist. DieEingrenzung des harmonischen Materials stellt die erste und wesentlichste Vor-aussetzung dar, um dem Klang, von dem Scelsi spricht, so nahe wie möglich zukommen. Wie Bertoncini in seinem Dialog betont, ist jedoch wichtig „zu verste-hen, mit welcher Methode ein gegebenes Material (ob dies nun das Ergebnis einerImprovisationsaktion oder eines anderen technischen Verfahrens sei, ist irrelevant)

24 Analytische Bemerkungen finden sich auch in Christine Menesson, „Scelsi, le temps ou la re-spiration du son“, in: Giacinto Scelsi aujourd’hui. Actes des Journées Européennes d’ÉtudesMusicales Consacrées à Giacinto Scelsi (1905–1988), Paris, CDMC, 12–18 janvier 2005,hg. von Pierre-Albert Castanet, Paris 2008, S. 70–71. Siehe auch Aurèlie Allain, „GiacintoScelsi, une mèditation rituelle du son“, in: ebd., S. 76–77 und Pierre Michel, „Sur quelquespoints communs entre les musique de Scelsi, Bernd Alois Zimmermann et Klaus Huber“, in:Giacinto Scelsi aujourd’hui, hg. von Castanet, S. 320–321.

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zu einer definitiven Form organisiert und schriftlich fixiert wird.“25 Auch wenn dieIdee zu Okanagon außergewöhnlich war („Okanagon muss wie ein Ritus angese-hen werden, oder wenn man will wie der Herzschlag der Erde“26), darf man nievergessen, dass es sich trotzdem um ein Werk handelt, das einer konstruktivenLogik folgt. Man erkennt das vor allem im weiteren Verlauf: Am Ende der erstenUnterteilung, also in den Takten 28 bis 29, wird ein erster Höhepunkt erreicht, derdurch die weiteste Ausdehnung des Registers und der Lautstärke gekennzeichnetist, während der Resonator sowohl bei der Harfe als auch am Tamtam eingesetztwird. Die zweite Unterteilung (Meno lento � = 60, T. 30–61/movendo molto � =112, T. 62–65) beinhaltet eine Verminderung des Einsatzes des Resonators beider Harfe bis zu dem Zeitpunkt, wo der Kontrabass immer mehr hervorsticht. Dieletzte Unterteilung (Lento – tempo I° � = 46, T. 66–75/movendo, più movendo al� = 92, T. 76–88) stellt die Befreiung des Klanges mittels einer frenetischen Auf-einanderfolge von Gesten und Klängen der drei Instrumente (bis zu Takt 83) dar.Hier erreicht die Bewegung als Summe aller möglichen Aktionen einen Höhepunkt.

Daraufhin folgt der rhythmische zweite Teil (Subito lento � = 58, T. 89–143), indem verschiedene Formen der Klangkörperperkussion der Harfe und des Kontra-basses erforscht werden. Die rhythmischen Patterns sind nicht zu komplex, um dasTimbre-Spiel zu gefährden. In Takt 108 finden wir ein es in forte, das zur gleichenZeit mit dem Einsatz des Tamtams stattfindet und eine Umkehrung des Prozessessowie eine stufenweise Rückkehr zu den Notenhöhen einleitet. In Takt 144 beginntder dritte Teil; das Material aus Teil 1 wird synthetisch mit den Elementen desMittelteiles vereint. Die drei harmonischen Zentren des ersten Teils (dø/es, g ø/asund cø/des) werden nun mit einigen einzelnen Tonhöhen (as und ges) und zweineuen Intervallen in der Harfe (d ø/fes oder ges/b) bereichert; bald kommt auchder Kontrabass hinzu (beispielsweise mit dem ges in Takt 172).

Auch in diesem Fall kann man drei Makrounterteilungen erkennen, die dreiProzessen entsprechen (Subito lento � = 58, T. 144–147/Ritmico � = 76,T. 148–153/� = 108, T. 154–160; � = 76, T. 161–189; Sostenuto � = 58, T. 190–200),auch wenn diese weniger homogene Episoden als im ersten Teil darstellen. DenGrund dafür finden wir im größeren Reichtum des Timbres und des Klangmate-rials: Der letzte Teil ist von einer Synthese des rhythmischen Elements mit demharmonischen Element geprägt.

Diese kurze Formbeschreibung mit Hinweisen zu den harmonischen Inhaltenbezweckt keineswegs die gesamte Essenz des Okanagon zu erfassen, sondern soll

25 Bertoncini, In rotta verso, S. 28: „capire con quale metodo un materiale dato (che esso siafrutto d’una azione improvvisata o di qualsiasi altro procedimento tecnico è irrilevante) vengaorganizzato in una forma definitiva e fissato sulla carta.“

26 „Okanagon deve essere considerato come un rito e, se si vuole come il battito del cuore dellaterra“. Scelsi, Okanagon, Paris 1983, S. 1.

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die Grenzen eines traditionellen Diskurses aufzeigen, der in diesem Kontext augen-scheinlich zu eng gefasst ist. Der Formaspekt kann nicht von der Notwendigkeit derEntfaltung des Materials getrennt werden. Scelsi selbst hat die Bedeutung diesesAspekts unterstrichen, als er über seine Quartette sprach:

Ich möchte nur sagen, dass, falls jemand Studien über meine vier Quartette machenmöchte, es ihm klar würde, dass es substantiell immer gleich bleibt, aber mit neuenMitteln, neuer Technik und immer unterschiedlichen Musiksprachen. Es ist immer die-selbe Geschichte, wenn man es Geschichte nennen kann, das heißt die fortschreitendeBefreiung. Und wer sich nur auf die akustischen Faktoren beschränkt oder auf das,was als eine Erforschung der Instrumente betrachtet wird, hat wirklich rein gar nichtsverstanden. In dieser Musik von mir bestimmt der Inhalt automatisch die Form.27

Der letzte Satz erö�net ein neues Szenario über das Verhältnis zwischen Inhalt undForm; ein Thema, das Gabriele Garilli mit Bezug auf Scelsi weiterentwickelt hatund worüber er sagt: „Die Identität zwischen Materie und Form darf die Möglich-keiten, in die Musik einzutauchen, ohne die Poetik des Komponisten zu berück-sichtigen, nicht bremsen.“28 Nach Garilli erlaubt die Erforschung des Sclesi’schenŒuvres die genaue Beobachtung, wie sehr die formale Au�assung des Komponis-ten in seine Zeit passt, gerade weil das Prinzip der formalen Organisation vielerseiner Werke innerhalb einer zeitlichen Ordnung, die Jonathan Kramer als „nichtzielgerichtete Linearität“ definiert, gesehen werden kann: Eine musikalische Zeit,in der die Erkennung des Zieles so lange nicht möglich ist, bis man kurz davorist.29 Im Fall Scelsis behauptet Garilli, dass man sich „vor einer Linearität [fin-det], die rund um Ausstrahlungszentren agiert, die auf Mikrologischer Ebene dasVerhältnis von Ursache und Wirkung aufarbeitet.“30 Das bedeutet, dass jeder Satzeine Klangdynamik rund um Angelpunkte entwickelt, aber dass es kein klar vor-definiertes Ziel gibt; der musikalische Sinn löst sich erst durch den Prozess und imResultat.

Dieser letzte Aspekt steht zweifellos im Zentrum vieler Erfahrungen jener Jah-re, in denen das Verhältnis zwischen Inhalt und Form zahlreichen Interpretatio-

27 Scelsi, Il sogno 101, S. 330: „Vorrei dire che, se qualcuno volesse fare uno studio sui mieiquattro Quartetti, si renderebbe conto che il discorso è sempre il medesimo, ma con mezzi,tecnica, linguaggio sempre diversi. È sempre la medesima storia, se storia si può chiamare,e cioè la progressiva liberazione. E chi si limiterà al fatto acustico o a ciò che può essereconsiderato una ricerca strumentale, non avrà capito un bel niente. In questa mia musica ilcontenuto determina automaticamente la forma.“

28 Gabriele Garilli, „Stati della materia: uno sguardo sul linguaggio musicale di Scelsi attraversoil Quartetto n. 2“, in: Giacinto Scelsi nel centenario della nascita, hg. von Tortora, S. 103:„L’identità tra materia e forma non deve essere un freno alla possibilità di entrare in musicalasciandone fuori la poetica del compositore. Materia e forma coincidono perché è proprioalla materia che è a�dato il senso musicale, il principio logico.“

29 Jonathan D. Kramer, „Il tempo musicale“, in: Encicolopedia della musica, Bd. 2: Il saperemusicale, hg. von Jean-Jacques Nattiez, Turin 2002, S. 148–149.

30 Garilli, „Stati della materia“, S. 117: „ci si trova davanti ad una linearità che agisce attornoa dei centri di emanazione, e che, a livello micrologico, recupera relazioni di causa ed e�etto.“

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nen unterzogen wurde. Er bezieht sich nicht nur auf die Improvisation, wo manden vorgegebenen formellen Mechanismen entkommen und somit die Freiheit desIndividuums ermöglichen wollte, sondern in verschiedenen Arten auch auf die „ge-schriebene“ Komposition. Zum Beispiel entstehen neue Zugänge, wenn man dieRolle der Partitur in Frage stellt und diese zu einer einfachen, „analogen“ Spur re-duziert, die eben analog musikalische Aktionen beschreibt, die so klangreich sind,dass eine traditionelle Schreibweise nicht ausreicht, um sie zu beschreiben. Dies er-läutert Bertoncini in seinem Dialog Arpe eolie ed altre cose inutili, indem er übersein Werk Chanson pour instruments à vent (1974) für äolische Harfe spricht.31

Der römische Komponist baute ab 1974 Instrumente, die auf äolischen Tönen ba-sieren und ab den neunziger Jahren realisierte er Instrumente aus Metallstäben,die auf einen Resonanzkörper gelegt und mit einem Bogen gespielt werden. DieseInstrumente führen unvermeidlich zu einer Reihe von Fragen zu Material, Formund Schrift.32 Aber auch während der Forschungen der GINC fand Bertoncini sei-nen persönlichen Weg mit diesen Fragen umzugehen. In der Gruppe war er fürseine Vorliebe für durchgehende und resonanzreiche Klänge bekannt, speziell fürjene Klänge der Becken, die er mit einem Bogen streichend zum Vibrieren brach-te (diese Technik wurde vielseitig in Tune für fünf Tschinellen, 1965, eingesetzt),oder indem man die Bogenhaare über die tiefen Saiten des Klaviers streicht (manfindet diese Technik in Cifre für Klaviere und einer variablen Nummer von Aus-führenden, 1964/67). Besonders bedeutungsvoll wurde Cifre, von Martina Schaakim Begleittext zur LP beschrieben:

Mit dieser Komposition hat Bertoncini die Klangwelt des Klaviers auf seine Art erwei-tert. [...] Ein besonderes Charakteristikum bilden die „Klangbänder“, lang anhaltenderTöne – „con l’arco“ –, welche zwar in einem völligen Kontrast zu der Einsatzart desKlaviers stehen, jedoch die Natur seiner eigenen Resonanz unberührt lassen. Der Be-weglichkeit in Tonhöhe, Geschwindigkeit der Tonfolgen steht ein ruhender, statischerKlang gegenüber, wie der eines großen Streicherapparates. Die Verwendung des Flügelsals Schlagzeug ist somit um eine dritte Möglichkeit bereichert, der des Saiteninstru-ment.33

In diesem und in anderen Werken, besonders aus den sechziger und siebziger Jah-ren, erforschte Bertoncini die Arten der zeitlichen Artikulation des neuen Klangma-terials und die Möglichkeiten ihrer schriftlichen Darstellung. Von Anbeginn ist er

31 Mario Bertoncini, Arpe eolie ed altre cose inutili, Milan 2007, S. 32–35. Die Partitur vonChanson sowie der Großteil der „Partituren“ Bertoncinis generell sind nicht verlegt. DasWerk wurde in Mario Bertoncini, Arpe eolie, CD, die Schachtel DS 15, 2007 verö�entlicht.

32 Siehe Gianmario Borio, „Mario Bertoncini – Ritratto d’un innovatore radicale“, in: Berton-cini, Arpe eolie ed altre cose inutili, S. V–IX.

33 Martina Schaak, „Cifre“, in: LP Mario Bertoncini · Earle Brown · John Cage – Cifre · FourSystems · Cartridge Music, Edition RZ 1002 LP, Deutschland 1989. In dem Begleitbuch istauch die verö�entliche Partitur von Cifre wie auch Fotos mit Details einiger Klavierpräpara-tionen erhalten.

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an den neuen Klangmöglichkeiten der traditionellen Instrumente interessiert, wasihn zum Bau neuer Instrumente veranlasst, wobei er das Ziel verfolgte, die Ideedes Klanges, die Form und die Komposition in einer verschmolzenen Einheit dar-zustellen. Bertoncini war in seinen Schriften der traditionellen Debatte über Formund Schrift gegenüber besonders aufmerksam. Die Erforschung seiner Reflexionenüber das Verhältnis zwischen einem präparierten oder neu gebauten Instrument(von ihm als „Klangskulptur“ bezeichnet),34 über die Komposition und über dieSchrift ist ein Kapitel, das noch geschrieben werden muss und das den Rahmendieser Arbeit sprengen würde. Trotzdem sei abschließend eine kurze Passage zi-tiert, welche die Entfaltung eines Diskurses, an dem Scelsi selbst teilgenommenhat, möglich macht und auf Okanagon (wenn man die Klangressourcen der dreiInstrumente als ein einziges, neues Instrument sieht) besonders zutri�t:

Wenn es stimmt, dass das Klangobjekt eine musikalische Form, eine potenzielle Formeiner Komposition ist, dann kann die Beschreibung in der Partitur nach seiner Zeit-koordinate nur einen Au�ührungsaspekt darstellen. Die Komposition ist im Objektinbegri�en und verdeutlicht somit eine statische Form, während seine Entwicklung zur„Performance“ der Au�ührung gehört. In Folge dessen wäre es falsch anzunehmen, dassdie Partitur, die in diesem Fall nur eine Strategie zur Au�ührung darstellt, den Wertder Komposition in sich trägt. Gemeinsam mit den Mitteln ist sie für die Au�ührungsowie für die Entwicklung des Klanges notwendig, und unentbehrlich für den Ausfüh-renden, der diese in eine adäquate Interpretation übersetzen will, aber es ist nicht mitder eindeutigen Ebene der zeitlichen Entwicklung zu verwechseln.35

Dieses von Bertoncini erwähnte Mittel beschreibt die physische Aktion, also die In-strumentalgestik. In seiner Musik findet man, mit Ausnahme der Werke, in denenkein Ausführender, sondern der Wind die Instrumente spielt, eine enge Verbun-denheit von Klangereignis und Geste, die für das „untraditionelle Musikscha�en“typisch sind.36 Diese Geste ist die erste Bedingung und gleichzeitig die erste Mög-lichkeit, in denen sich die Werke Scelsis entfalten können. In diesem Sinne waren

34 Siehe Mario Bertoncini, „Objet trouvé. Alcune osservazioni circa l’uso o la lettura delle ,scul-ture di suono‘ (2011)“, unverö�entlicht (der Text ist im schon erwähnten Bertoncini, Ragio-namenti musicali in forma di dialogo erhalten).

35 Bertoncini, Alcune osservazioni, S. 2: „Se è vero che l’oggetto sonoro è una forma musicale,una composizione allo stato potenziale, la descrizione in partitura secondo l’asse del tempopuò soltanto costituire di esso un aspetto esecutivo. La composizione è contenuta nell’oggettoe rappresenta quindi una forma statica, mentre il suo sviluppo appartiene alla ,performan-ce‘, all’esecuzione. Di conseguenza sarebbe erroneo attribuire alla partitura, che in tal casocoincide soltanto con una strategia esecutiva, il valore di composizione. L’insieme delle mi-sure necessarie alla realizzazione, allo sviluppo sonoro dell’oggetto, sono indispensabili perl’esecutore che voglia tradurre in atto una interpretazione adeguata di esso, ma non sono daconfondere con un piano univoco di sviluppo temporale.“

36 Vgl. Mario Bertoncinis unverö�entlichten Text „La musica del gesto“, der am 18. Juni 2008 imRahmen des Zyklus Incontri al Museo Casa Scelsi vorgetragen wurde. Siehe auch DanielaM. Tortora, „Der ferne Klang“, Il suono lontano di Mario Bertoncini (2007/09), <http://mariobertoncini.com/opere/Daniela_Tortora_Bertoncini.pdf> (letzter Zugri�: 3. August2013).

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die Erfahrungen der sechziger und siebziger Jahre, in denen Scelsis sowie Berton-cinis Musik entstand und die Forschung der GINC stattfand, maßgeblich an dermöglichen Integration und der Konstruktion einer neuen kompositorischen Poetikbeteiligt. Der Klang, die instrumentale Geste und die Live-Teilnahme am Ritualder Musikentstehung sind Kategorien, die wir heute als wesentlich in der westlichenKultur bezeichnen können.

(Deutsche Übersetzung von Marina Magdalena Kotsadam)