It’s evolution theory, baby. Vorüberlegungen zu einer evolutionstheoretischen...

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„It’s evolution theory, baby“ Vorüberlegungen zu einer evolutionstheoretischen Filmhistoriographie Guido Kirsten Zusammenfassung: In dem Beitrag wird ein evolutionstheoretisches Modell der Filmgeschichtsschreibung präsentiert, das eng an den Arbeiten des Literaturhistorikers Franco Moretti orientiert ist. Nach einem Rekurs zu den Überlegungen von Niklas Luhmann zu einer allgemeinen Evolutionstheorie (unter Abstraktion von dessen systemtheoretischen Vorzeichen) wird am Beispiel der Entwicklung literarischer Genres die Methode Morettis besprochen. Anschließend wird vorgeschlagen, dieselbe auf den Film zu übertragen. Exemplifiziert wird dies an einer quantitativen Analyse des Italowestern, die den kurzen Lebenszyklus dieses Subgenres beschreibt und diesen mit dem amerikanischen Original abgleicht. Abschließend werden weitere mögliche Untersuchungsfelder angedacht, Mängel und Desiderate des Modells aufgezeigt und es ins Verhältnis zu anderen Methoden der Filmhistoriographie gesetzt. Mit dem Vorschlag eines evolutionstheoretischen Modells der Filmgeschichtsschreibung ist kein Rekurs auf biologische Mechanismen oder urzeitliche Entwicklungsstände des Homo sapiens gemeint, die vermeintlich erklären können sollen, warum und wie Filmwahrnehmung funktioniert. Derartige biologistische Erklärungen, wie sie etwa von Joseph Anderson vorgeschlagen wurden, 1 scheinen mir immer deutlich zu kurz zu greifen – und stehen außerdem mit Filmgeschichtsschreibung im engeren Sinn in keinerlei Zusammenhang. Mein Vorschlag hat sowohl einen anderen Gegenstandsbereich als auch einen anderen Ansatz. Er bezieht sich nicht auf rezeptionstheoretische Erklärungen, sondern auf die Geschichte filmischer Formen und geht von einem abstrakten Modell der Darwin’schen Evolutionstheorie aus, wie es unter anderem von Niklas Luhmann vorgeschlagen wurde. 2 Es geht dabei um ein Beschreibungs- und Erklärungsmodell für alle Arten von historischer Veränderung, das dann je nach Anwendungsgebiet zu respezifizieren ist. Die Biologie ist dann nur noch ein Bereich (wenn auch der prominenteste), in dem die allgemeine Evolutionstheorie zum Tragen kommt. 1 Anderson, Joseph D.: The Reality of Illusion. An ecological approach to cognitive film theory. Carbondale, Edwardsville (IL): Southern Illinois University Press 1996. 2 Niklas Luhmann hat sich in verschiedenen Schriften immer wieder zu Fragen der allgemeinen Evolutionstheorie geäußert. In vielen seiner Büchern finden sich entsprechende Kapitel. Stellvertretend sei hier nur das lange Kapitel aus Die Gesellschaft der Gesellschaft (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998, S. 413-594) genannt, auf das ich mich im Folgenden in erster Linie beziehe.

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„It’s evolution theory, baby“ Vorüberlegungen zu einer evolutionstheoretischen Filmhistoriographie Guido Kirsten Zusammenfassung: In dem Beitrag wird ein evolutionstheoretisches Modell der Filmgeschichtsschreibung präsentiert, das eng an den Arbeiten des Literaturhistorikers Franco Moretti orientiert ist. Nach einem Rekurs zu den Überlegungen von Niklas Luhmann zu einer allgemeinen Evolutionstheorie (unter Abstraktion von dessen systemtheoretischen Vorzeichen) wird am Beispiel der Entwicklung literarischer Genres die Methode Morettis besprochen. Anschließend wird vorgeschlagen, dieselbe auf den Film zu übertragen. Exemplifiziert wird dies an einer quantitativen Analyse des Italowestern, die den kurzen Lebenszyklus dieses Subgenres beschreibt und diesen mit dem amerikanischen Original abgleicht. Abschließend werden weitere mögliche Untersuchungsfelder angedacht, Mängel und Desiderate des Modells aufgezeigt und es ins Verhältnis zu anderen Methoden der Filmhistoriographie gesetzt. Mit dem Vorschlag eines evolutionstheoretischen Modells der Filmgeschichtsschreibung ist kein Rekurs auf biologische Mechanismen oder urzeitliche Entwicklungsstände des Homo sapiens gemeint, die vermeintlich erklären können sollen, warum und wie Filmwahrnehmung funktioniert. Derartige biologistische Erklärungen, wie sie etwa von Joseph Anderson vorgeschlagen wurden,1 scheinen mir immer deutlich zu kurz zu greifen – und stehen außerdem mit Filmgeschichtsschreibung im engeren Sinn in keinerlei Zusammenhang. Mein Vorschlag hat sowohl einen anderen Gegenstandsbereich als auch einen anderen Ansatz. Er bezieht sich nicht auf rezeptionstheoretische Erklärungen, sondern auf die Geschichte filmischer Formen und geht von einem abstrakten Modell der Darwin’schen Evolutionstheorie aus, wie es unter anderem von Niklas Luhmann vorgeschlagen wurde.2 Es geht dabei um ein Beschreibungs- und Erklärungsmodell für alle Arten von historischer Veränderung, das dann je nach Anwendungsgebiet zu respezifizieren ist. Die Biologie ist dann nur noch ein Bereich (wenn auch der prominenteste), in dem die allgemeine Evolutionstheorie zum Tragen kommt.

                                                                                                               1 Anderson, Joseph D.: The Reality of Illusion. An ecological approach to cognitive film theory. Carbondale, Edwardsville (IL): Southern Illinois University Press 1996. 2 Niklas Luhmann hat sich in verschiedenen Schriften immer wieder zu Fragen der allgemeinen Evolutionstheorie geäußert. In vielen seiner Büchern finden sich entsprechende Kapitel. Stellvertretend sei hier nur das lange Kapitel aus Die Gesellschaft der Gesellschaft (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998, S. 413-594) genannt, auf das ich mich im Folgenden in erster Linie beziehe.

 

Genauso anwendbar ist sie auf die verschiedenen Bereiche soziokultureller Entwicklung, z.B. die Geschichte bestimmter politischer Institutionen oder die Veränderung künstlerischer Techniken, Stile und Gattungen. Es gibt jedoch einige notwendige Vorraussetzungen für eine sinnvolle Applikation evolutionstheoretischer Modelle, die von vornherein die möglichen Gegenstandsbereiche nach anderen Kriterien limitieren. Diese sind erstens eine nicht völlig arbiträre Veränderung, was in der Praxis nichts anderes bedeutet, als dass sich eine gewisse Regelmäßigkeit und trotz aller möglichen Diskontinuitäten doch auch eine gewisse Kontinuität in der Entwicklung beobachten lassen. Gewisse Folgeereignisse sollten mit anderen Worten wahrscheinlicher erscheinen als andere.3 Zweitens sollte es sich nicht um eine rein zyklische Veränderung wie der Jahreszeiten handeln, die regelmäßig immer wieder auftritt. Drittens muss eine hinreichend große Zahl von dynamischen Elementen beobachtet werden; viertens muss auch der beobachtete Zeitabschnitt von ausreichender Länge sein. So wäre es beispielsweise unsinnig, von der Evolution eines einzelnen Gesprächs oder der Evolution eines einzelnen Films zu sprechen. Sicherlich brauchbar ist die Kategorie aber für die Entwicklung künstlerischer, z. B. filmischer Formen über einen gewissen Zeitraum hinweg. Es sei daran erinnert, dass in diesem Sinn André Bazin von der „Evolution der filmischen Sprache“4 gesprochen hat und dass Jean Mitry diese Formulierung für seine fünfbändige Filmgeschichte aufgegriffen hat.5 Auch bei Barry Salt ist die Rede von einer „Evolution der filmischen Form“.6 Bei allen bleibt aber unklar, ob sie den Evolutionsbegriff nur in einem alltagssprachlichen oder metaphorischen Sinn benutzen und ob er bei ihnen einfach durch ‚Entwicklung‘ substituiert werden könnte (wie in der Bazin-Übersetzung ja geschehen).7 Und die Frage wäre dann, ob nicht der Begriff der Entwicklung eine gewisse Fortschrittssemantik impliziert, die der Evolutionsbegriff grundsätzlich vermeidet.                                                                                                                3 Nach Luhmann löst die Evolutionstheorie die Paradoxie der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen auf (durch Temporalisierung); vgl. ebd., S. 413 ff. 4 Bazin, André: „L’évolution du langage cinématographique“. In: Qu’est-ce que le cinéma? I. Ontologie et langage. Paris: Cerf 1958, S. 131-148. 5 Vgl. Mitry, Jean: Histoire du cinéma. 1 (1895-1914). Paris: Éditions universitaires 1967, S. 13 ff. 6 Salt, Barry: „Evolution of the Film Form up to 1906“. In: Roger Holman (Hg.): Cinema 1900-1906. An Analytical Study by the National Film Archive (London) and the International Federation of Film Archives. Brüssel: FIAF 1982, S. 281-296. 7 Bazin, André: „Die Entwicklung der Filmsprache“. In: Was ist Film? Berlin: Alexander, S. 90-109.

 

Nach Luhmann sind drei Begriffe für die allgemeine Evolutionstheorie zentral: ‚Variation‘, ‚Selektion‘ und ‚Restabilisierung‘. ‚Variation‘ bezieht sich dabei auf die Ebene der einzelnen Elemente, ‚Selektion‘ auf die Ebene der Struktur (wenn eine Variation angenommen oder abgelehnt wird, ändern sich die Strukturen) und der Begriff der Restabilisierung bezieht sich bei Luhmann auf die Ebene des gesamten Systems, das sich nach der Strukturanpassung so regulieren muss, dass ein normaler Fortlauf, der für das System nicht lebensbedrohlich wird, gewährleistet ist. Wenn man allerdings die Idee der Evolution aus dem Korsett der Theorie autopoietischer Systeme heraustrennen möchte – was deswegen notwendig ist, weil es so weit ich sehe, bisher wenig Sinn macht, für Film von einem geschlossenen System zu sprechen8 – , muss man diese dritte Kategorie jedoch fallen lassen. Es wäre nämlich

                                                                                                               8 Robert C. Allen und Douglas Gomery sprechen in Film History. Theory and Practice. New York (NY): Knopf 1985, S. 16 von einem „offenen System“ – ohne die Implikationen des Systembegriffs allerdings genauer auszuführen. Bei Christian Metz (Langage et cinéma. Paris Larousse 1971, S. 53-90) und David Bordwell und Kristin Thompson (Film Art. An Introduction. New York (NY) u. a.: McGraw-Hill 51997, S. 65 ff) wird der Begriff auf die Ebene einzelner Filme bezogen, um die ‚textuellen‘ bzw. ‚formalen‘ Zusammenhänge von ‚codes‘ bzw. ‚devices‘ zu beschreiben. Inwiefern diese ‚systèmes texuels‘ oder ‚formal systems‘ jedoch über echte systemische Eigenschaften verfügen, und welcher Systembegriff einer solchen Kategorisierung zugrunde liegt, bleibt auch hier offen. Dem anspruchsvollen Systembegriff Niklas Luhmanns (Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984, S. 30-91) wird in beiden Fällen nicht entsprochen. Es ließe sich eher von Ensembles mit begrenzt holistischer Eigenschaft sprechen, insofern die ‚Codes‘ und filmischen Mittel erst im Zusammenhang des gesamten Films eine bestimmte Funktion und Bedeutung erhalten, sich also gegenseitig beeinflussen. Nichts anderes sagt denn auch die wohl kaum hinreichende Minimaldefinition „Let us take a system as any set of elements that depend on and affect one another“ (Bordwell/Thompson: Film Art, S. 66). Bei Metz handelt es sich um rein heuristische Entitäten, die vom Forscher konstruiert werden und keine direkte Entsprechung in der Realität haben. Als wichtigster, stark an Luhmann orientierter Versuch, Film als ein spezifisches „Sinnsystem“ mit eigener Evolution zu konzipieren, kann wohl Engell, Lorenz: Bewegen, Beschreiben. Theorie zur Filmgeschichte. Weimar: VDG 1995 gelten. Als Indiz für den systemischen Charakter des Films scheint mir hier jedoch nur die Nichtbeliebigkeit von Zustandsfolgen genannt zu werden (S. 100), die aber, wie schon bemerkt, als allgemeines Merkmal auch nicht-systemtheoretisch verstandener Evolution gelten kann. Ansonsten scheint mir die Wahl des Systembegriffs nicht gut begründet zu sein. Zu wenig wird deutlich, worum es sich bei den einzelnen Elementen oder bei den Strukturen des Systems handeln soll oder wie die autopoietische Systemreproduktion zu denken wäre. Unklar bleibt aber vor allem, ob der Verzicht auf diesen Begriff für die Filmhistoriographie einen Verlust (und ja welchen?) bedeuten würde. Das soll nicht heißen, dass nicht viele Überlegungen aus Engells Buch plausibel und anregend wären. Sie wären es ohne den wackeligen systemtheoretischen Überbau jedoch nicht weniger.

 

völlig unklar, auf was sich die Restabilisierung beziehen sollte. Stattdessen werden dann Umwelteinflüsse wichtiger. Das hat Luhmann übrigens selbst so gesehen:

Man braucht jetzt drei evolutionäre Funktionen oder Mechanismen, von denen Variation und Selektion Ereignisse bezeichnen, die Funktion der Restabilisierung dagegen die Selbstorganisation evoluierender Systeme [...]. Hätte die Theorie nur eine dieser Unterscheidungen zur Hand [die zwischen Variation und Selektion, GK] zur Hand, bliebe sie sozusagen am Zufall hängen und müsste über diesen Begriff auf die Umwelt verweisen.9

Der Vorschlag lautet also, auf das Konzept der Restabilisierung zu verzichten – zumindest solange keine sinnvolle Systemtheorie des Films in Sicht ist – und stattdessen die Umwelteinflüsse stärker in den Blick zu nehmen, wobei natürlich noch genauer zu spezifizieren wäre, wie sich das Einflussverhältnis modellieren lässt. Im Folgenden wird eine Perspektive eingenommen, aus der sämtliche Ereignisse und Strukturen, die außerhalb der Filme selbst liegen, als Umwelt verstanden werden. Dazu gehören die unmittelbaren Produktionsbedingungen, die Intentionen der RegisseurIn und der Schauspieler, die Präferenzen der ZuschauerInnen ebenso wie der weitere kulturelle Kontext. Statt als System werden die Filme dabei eher als Teil einer ‚Population’ oder einer kulturellen ‚Spezies’ gedacht. Anregungen für eine evolutionstheoretische Historiographie kultureller Artefakte lassen sich bei dem Literaturwissenschaftler Franco Moretti finden. Er schlägt in seinem gerade auf deutsch erschienenen Buch Kurven, Karten, Stammbäume als methodologische Alternative zum ‚Close Reading‘ – also der hermeneutischen Detailanalyse oder Interpretation einzelner Werke oder Autoren – das von ihm sogenannte ‚Distant Reading‘ vor.10 Dieses ist zu verstehen als Gegenentwurf zu einer Literaturgeschichte, die lediglich einige kanonische Texte in eine Ahnenreihe stellt und allenfalls idiosynkratische Neu- oder Wiederentdeckungen in diese Reihe einzuschreiben versucht. Morettis ‚Distant Reading‘ steht dagegen für eine                                                                                                                9 Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 427. Evolutionstheorie beginnt laut Luhmann immer mit der Differenz von Variation und Selektion (vgl. ders., Ideenevolution. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 8). 10 Moretti, Franco [ital. 2005]: Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009.

 

Literaturhistoriographie, die nicht von einzelnen Namen oder Titeln, sondern von Zahlen ausgeht. So untersucht er beispielsweise den Aufstieg und Niedergang dreier Gattungen fiktionaler Literatur in England, des Briefromans, des Schauerromans und des Historischen Romans (vgl. Abb 1).11

Was den Marktanteil betrifft, hatte der Briefroman zwischen 1770 und 1785 die Vorherrschaft in England; in den Jahren zwischen 1774-78 waren sogar die Hälfte der verkauften Bücher Briefromane. Erst als ab Mitte der 1780er Jahre der Abstieg dieses Genres beginnt, entsteht der Schauerroman, der dann im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts den Markt dominiert. Allerdings erreicht der Schauerroman in den besten Jahren nur noch einen Spitzenwert von 30% Marktanteil, genauso wie wiederum 20 Jahre später der Historische Roman. Anhand dieser wenigen Zahlen lassen sich nach Moretti einige interessante Beobachtungen anstellen: Zunächst ist bemerkenswert, dass die neuen Genres erst groß zu werden beginnen, wenn das jeweils zuvor dominierende bereits im Abstieg begriffen ist. Dergestalt erweist sich laut Moretti der „Zyklus als heimliche Grundstruktur der Literaturgeschichte“.12 So wie sich nach Thomas S. Kuhn13 in der

                                                                                                               11 Ebd., S. 24. 12 Ebd., S. 36. 13 Kuhn, Thomas S. [engl. 1962]: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976.

 

Wissenschaft ein neues Paradigma erst dann durchsetzen kann, wenn innerhalb des alten die vorhandenen Probleme nicht mehr gelöst oder bei der Problemlösung zu viele Anomalien produziert werden, gewinnen auch neue literarische Formen offenbar erst dann deutlich an Popularität, wenn die bis dato vorherrschende abgenutzt erscheint:

Mit großer Sicherheit lässt sich sagen, dass eine neue rivalisierende Form nicht viel ausrichten kann, solange die vorherrschende ihre „künstlerische Brauchbarkeit“ noch nicht eingebüßt hat: Es mag immerzu außergewöhnliche Texte geben, ja, die Ausnahme allein aber kann das System nicht verändern. [...] Ein um 1800 geschriebener historischer Roman wie Maria Edgeworths Castle Rackrent (...) hatte schlichtweg noch nicht die Möglichkeit, das literarische Feld vollständig neu zu gestalten – was der Kollaps des Schauerromans Waverley dann jedoch 1814 ermöglichen sollte.14

Innerhalb einer sehr großen Zahl jährlich veröffentlichter Romane tauchen also immer wieder einige auf, deren Form nicht der jeweils zu der Zeit vorherrschenden Genres entspricht. In einem evolutionstheoretischen Vokabular ließe sich von einer zufälligen ‚Variation‘ sprechen. ‚Zufällig‘ ist diese in dem Sinn, dass bei ihrem Auftreten völlig unklar ist, ob sie sich als erfolgreich erweisen wird. Tatsächlich ist davon auszugehen, dass die meisten derartigen Abweichungen vom Normalbetrieb nicht erfolgreich sind. Wenn sie sich jedoch als erfolgreich erweisen – und ‚erfolgreich‘ bedeutet für die Literatur und den Film unter kapitalistischen Produktionsbedingungen gleichermaßen: erfolgreich am Markt, dass sie also eine hinreichend große Zahl von LeserInnen resp. ZuschauerInnen finden, um als nachahmenswert zu gelten – dann erhöhen sich die Chancen ihrer Replikation durch

                                                                                                               14 Moretti: Kurven, Karten, Stammbäume, S. 26. Die Formulierung der „künstlerischen Brauchbarkeit“, die Moretti von Victor Shklovskij übernimmt, wirft ihrerseits einige Fragen auf. Bei Moretti ist sie an ein sozialrepräsentationales Programm gekoppelt: „Jedes Genre reizt seine Möglichkeiten so lange aus, bis die Zeit kommt, einem anderen Herausforderer eine Chance einzuräumen – und dies geschieht, sobald die innere Form des Genres nicht mehr in der Lage ist, die wichtigsten Aspekte der Gegenwart zu repräsentieren“ (ebd., Fn 15, S. 42, Herv. G.K.). Diese Konzeption wäre ihrerseits zu hinterfragen, weil die Funktionszuschreibung der Abbildung gesellschaftlicher Wirklichkeit nicht überzeugen kann – oder diese Funktion dermaßen abstrakt formuliert werden muss, dass ihre erklärende Kraft gegen Null tendiert.

 

Imitation. Die Variation wird also nur unter bestimmten Umständen – nämlich in Abhängigkeit von Umweltbedingungen – selektiert.15 Exemplifizieren lässt sich dies am Beispiel des Italowestern (siehe Abb 2).16

Zwischen 1930 und 1950 werden in Italien insgesamt 1375 Kinofilme produziert, darunter nicht ein einziger Western. 1951 tritt dann eine ‚Anomalie‘ auf.17 Sie trägt den Namen Io sono il capataz und ist ein Western von Giorgio Simonelli, für den heute allein noch bemerkenswert ist, dass Sophia Loren in einer Nebenrolle auftritt. Ansonsten ist dieser Film inzwischen völlig vergessen. Rückblickend kann er als Variation in der italienischen Filmproduktion betrachtet werden, die nicht selektiert

                                                                                                               15 Daran ändert sich auch nichts, wenn für bestimmte Filme weniger der Erfolg am Markt entscheidend ist, als der bei KritikerInnen und einer einflussreichen Gruppe von Cinephilen. Dies verweist nur auf das Vorhandensein spezifischer Nischen, die eigene Umweltbedingungen bieten (z. B. trockeneres Klima etc.). 16 Das Diagramm bildet den prozentualen Anteil der in Italien produzierten und co-produzierten Western an der Gesamtzahl der jeweils pro Jahr in Italien (co-)produzierten Filme ab. Erhoben wurden die Daten bei der Internetdatenbank imdb (international movie data base). 17 Die Qualifizierung als ‚Anomalie‘ ist kontextabhängig und bezieht sich hier nur auf die Genrezugehörigkeit. Unter anderen Aspekten wäre der Film wahrscheinlich im Vergleich zu anderen Filmen seiner Zeit ‚normal‘ (z. B. bzgl. seines Budgets, der Schnitttechnik etc). Oder anders gesagt: Wahrscheinlich lässt sich jeder Film unter bestimmten Gesichtspunkten als ‚Anomalie‘ verstehen... (Dank an Matthias Wittman für den Hinweis!)

 

und reproduziert wurde. Zwar wird ein Jahr später erneut ein Western in Italien gedreht: Il bandolero stanco (Fernando Cerchio, I 1952), auch dieser ist aber so erfolglos geblieben, dass danach zunächst keine erneuten Versuche unternommen wurden. Erst 1959 werden in Italien wieder zwei Western produziert, 1960 noch mal einer, in den beiden folgenden Jahren jeweils drei und 1964 sogar sieben. Wie lässt sich dieser Anstieg erklären? Christopher Frayling weist in seinem einschlägigen Buch zum Italowestern18 auf einige wichtige Umweltbedingungen hin: etwa dass die Filmstudios in Cinecittà auf eine rein marktorientierte Massenproduktion spezialisiert waren. In den 50er und 60er Jahren wurden dort sehr viele Filme in möglichst kurzer Zeit und mit geringstmöglichem Kostenaufwand produziert. Dabei entstanden viele neue Genres, die jeweils nur für einige Jahre existierten und dann wieder verschwanden, etwa der sogenannte ‚Film-fumetto‘ zwischen 1948-54 (engl. ‚Weepie‘ oder ‚Tearjerker‘: sentimentale Melodramen mit hauptsächlich weiblichem Zielpublikum), die ‚Farce‘ oft mit lokalen Dialekten (1955-58) und die Schwert-und-Sandalen-Epen.19 Da diese Genres immer nur eine sehr kurze Halbwertzeit besaßen, war es notwendig, immer wieder mit neuen Formen zu experimentieren. Diese orientierten sich an in anderen Ländern erfolgreichen oder aus anderen Ländern erfolgreich nach Italien importierten Genres. Obwohl das Kino in Italien Anfang der Sechziger in einer finanziellen Krise war, wurden jährlich deutlich mehr Filme produziert als in den Fünfzigern. Auch das macht das (erneute) Auftreten des Western schon rein statistisch wahrscheinlicher. Weitere direkte Einflüsse sind die Western, die zur selben Zeit in Spanien gedreht wurden sowie der in den frühen Sechzigern einsetzende große Erfolg der Winnetou-Filme. In der Literatur zum Italowestern wird oft die herausragende Rolle von Per un pugno di dollari (Für eine Handvoll Dollar, Sergio Leone, I) aus dem Jahr 1964 betont. Oft entsteht der Eindruck als hätte sich diesem Film allein das Entstehen des neuen Subgenres zu verdanken. Betrachtet man aber die Zahlen, so wird diese Aussage zweifelhaft. Eigentlich lässt sie sich sogar ins Gegenteil wenden: Es ist nicht Leones Film, der das Subgenre Spaghettiwestern hervorbringt, sondern umgekehrt. Nur weil

                                                                                                               18 Frayling, Christopher: Spaghetti Westerns. Cowboys and Europeans from Karl May to Sergio Leone. London u. a.: Routledge 2006. 19 Vgl. ebd., S. 68 ff.

 

schon in den Jahren zuvor in Italien mit dem Western experimentiert worden war, gab es eine finanzielle und ideelle Grundlage für Leones Adaption von Kurosawas Samurai-Film Yojimbo (J 1961) als Western. In diesem Sinne schreibt auch Frayling in seiner Leone-Biographie:

So, although Sergio Leone liked to present his idea of adapting Yojimbo into a Western as an inspiration from out of the blue, it is evident that Westerns were already on the menu of Italian producers [...].20

Das soll nun andererseits nicht heißen, dass der überraschende Kassenerfolg von Per un pugno di dollari irrelevant gewesen wäre. Das war er ganz sicherlich nicht. Ohne ihn wäre der Italowestern wahrscheinlich eine marginale Erscheinung geblieben und schnell wieder verschwunden. Es ist in diesem Zusammenhang an die Anekdote seines Erfolgs zu erinnern: Wie alle italienischen Western vor ihm wurde er zunächst als B-Movie eingestuft (was er vom Budget auch war) und von der Kritik völlig übersehen. Ohne jegliches Presse-Echo und ohne Werbung von der Produktionsfirma lief er mit einer einzigen Kopie in einem kleinen Kino in Florenz in Bahnhofsnähe mitten im Sommer an. Das sind die wohl denkbar schwersten Bedingungen für einen Film von einem bis dato praktisch unbekannten Regisseur. An den ersten Abenden erschienen nur wenige Besucher, aber an den darauffolgenden wurden es dann mehr, weil sich die besondere Qualität des Films schnell herumgesprochen hatte. Sechs Monate später wurde der Film in Florenz immer noch gezeigt. Angeblich hat sich der Manager des Kinos sogar geweigert, die Kopie auf Nachfrage zurückzugeben. Zwei Wochen nach dem Start in Florenz lief der Film dann ähnlich erfolgreich auch in Rom an. Und Anfang November 1964 wurde er erneut der Presse in Rom vorgeführt und auch von ihr nun positiv aufgenommen.21 In der Folge feierte er einen erstaunlichen Kassenerfolg: Allein in Italien hat er zwischen 1964 und 1968 mehr als 4,5 Millionen Dollar eingespielt, in Amerika 3,5.22

                                                                                                               20 Frayling, Christopher: Sergio Leone. Something To Do With Death. London, New York: Faber and Faber 2000, S. 124. 21 Vgl. ebd., S. 161 ff. 22 Vgl. Frayling: Spaghetti Westerns, S. 287.

 

Das Diagramm kann natürlich durch die zeitliche Koinzidenz allenfalls nahelegen, dass es vor allem Leones Überraschungserfolg geschuldet ist, dass sich der Italowestern als Genre etablieren konnte. Die Zahlen zeigen aber in jedem Fall, dass er in den folgenden Jahren zum dominanten Genre in Italien wurde. 1968, im stärksten Jahr, wurden dort 77 Western produziert: Das ist mehr als jeder vierte Film. Einen so hohen Anteil hat der Western in den USA auch zu seiner erfolgreichsten Zeit in den 40ern und 50ern nie erreicht (vgl. Abb 3)23. Im stärksten Jahr, 1950, erreichte er knapp 20% der produzierten Filme.

Der Blick auf die Statistik für die USA wirft noch einige andere Fragen auf, die ihrerseits nicht mehr mit bloßen Zahlen zu beantworten sein dürften, sondern andere Methoden erfordern: Wieso hat sich dieses Genre dort überhaupt so lange gehalten? Wieso kam es Mitte der Fünfziger dann zum Niedergang? Wieso wurde dieser in der Mitte der Sechziger zunächst aufgehalten oder wenigstens verlangsamt? Eine Antwort auf diese letzte Frage könnte wiederum mit dem plötzlichen großen Erfolg des italienischen Western zu tun haben. Anhand der Korrelation der Kurven (vgl. Abb 4), lässt sich dieser Einfluss natürlich allenfalls suggerieren, nicht jedoch nachweisen.

                                                                                                               23 Prozentualer Anteil der Zahl der Western an der Gesamtzahl der Filmproduktionen in den USA. Quelle der Daten: imdb.

 

Hierfür müsste die Betrachtung verlagert werden in Richtung einer genaueren Analyse der narrativen und stilistischen Formen. In einem ersten Schritt müsste untersucht werden, durch welche besonderen ästhetischen Merkmale sich der italienische Western auszeichnet, in einem zweiten Schritt, ob der amerikanische Western diese tatsächlich in einem signifikanten Maße übernommen hat. Hierfür reicht es sicher nicht, impressionistisch auf einige prominente Beispiele hinzuweisen und etwa die Gewaltorgien in Sam Peckinpahs Spätwestern als Beleg für diesen Einfluss zu nennen. Nach dem Motto: Es gibt ein Maschinengewehr in The Wild Bunch (R: Sam Peckinpah, USA 1969), es gab vorher ein Maschinengewehr in Django (R: Sergio Corbucci, I/SP 1966) – also hat der italienische den amerikanischen Western verändert. Vielmehr müsste die evolutionstheoretische Perspektive statt des zahlenmäßigen Auftretens ganzer Filme die Binnenstruktur der Genreentwicklung fokussieren: Wie verändern sich die dominanten Themen, Erzählweisen und Filmtechniken innerhalb des amerikanischen Western im Laufe der Zeit und unter welchen Einflüssen? Dabei können Maschinengewehre als narrative und visuelle Motive neben vielen anderen Merkmalen dann auch durchaus wieder eine Rolle spielen. Bei der immanenten Analyse darf es hier allerdings nicht bleiben, sondern auch kulturelle Entwicklungen, die bestimmte filmische Tendenzen fördern oder inhibieren können, müssten in den Blick genommen werden.

 

Die vorgeschlagene Evolutionstheorie muss sich allerdings nicht auf die Beobachtung der Evolution stilistischer oder narrativer Formen innerhalb einzelner Genres beschränken, sie lässt sich ebenso auf genreübergreifende Phänomene anwenden. Es ließe sich etwa fragen, wie sich die von Edward Branigan detailliert beschriebene Figur der Point-of-View-Struktur – also die Abfolge einer Einstellung, die eine in eine bestimmte Richtung blickenden Figur und einer weiteren Einstellung, die das erblickte Objekt zeigt – wie sich diese Struktur historisch durchgesetzt und gewandelt hat.24 Oder unter welchen Bedingungen verstärkt Filme entstehen, die konsequent eine interne oder externe statt der in klassischen Kinonarrationen üblichen Null-Fokalisierung wählen. Oder wann und warum die Technik der Mehrfachbelichtung ‚ausgestorben‘ ist.25 Oder wie und warum sich die durchschnittlichen Schnittfrequenzen (ASLs) von Spielfilmen über die historische Entwicklung zunächst beschleunigen, dann wieder langsamer werden und wieder beschleunigen.26 Wie und wieso sich die Standardlänge eines Spielfilms bei ca. 90 Minuten eingependelt hat usw. Für derartige Fragen scheint mir die hier grob skizzierte Evolutionstheorie einen passenden Rahmen zu liefern – unter der Voraussetzung, dass Detailanalysen mit quantitativen Erhebungen verbunden werden und dass auch die unmittelbaren Umweltbedingungen ökonomischer, politischer und kultureller Natur berücksichtigt werden. Allerdings soll nicht verhehlt werden, dass viele Fragen auf konzeptueller Ebene noch genauer zu klären wären. So wären die Mechanismen zu bestimmen, die den Phänomenen der Variation und der Selektion zugrunde liegen – denn es ist offenkundig, dass sie sich von jenen in der Biologie so fundamental unterscheiden,

                                                                                                               24 Branigan, Edward: Point of View in the Cinema. A Theory of Narration and Subjectivity in Classical Film. Berlin, New York, Amsterdam: Mouton 1984. Methodisch vergleichbar wäre hier Morettis morphologische Studie zu dem erzähltechnischen Instrument der erlebten Rede in der Literatur, vgl. Moretti: Kurven, Karten, Stammbäume, S. 97 ff. 25 Vgl. Bazin, André: „Leben und Tod der Doppelbelichtung“ [1945]. In: montage AV 18, 2009, H. 1, S. 163-167. 26 Vgl. Salt, Barry: Film Style and Technology. History and Analysis. London: Starword 21992.

 

dass Analogien keineswegs hilfreich sind.27 Auch wäre zu spezifizieren, was unter Umwelteinflüssen zu verstehen ist, und in welcher Weise sich diese auf die Evolution filmischer Formen auswirken. Die hier vorgestellten Überlegungen müssten weiter ausgearbeitet und sicher auch modifiziert und kritischer Revision unterzogen werden. Trotz dieser Desiderata und möglicher Mängel des Modells lassen sich auch einige Gründe dafür nennen, es weiter zu verfolgen. Zunächst scheint mir wichtig, dass hier die individuellen Intentionen einzelner Filmemacher methodologisch ausgeklammert werden (ohne damit jedoch deren reale Wirkungsmacht zu bestreiten). Indem größere Entwicklungen fokussiert werden, kann eine Abkehr von der Autoren- und Werktheorie in dem Sinn eingeleitet werden, dass Filme (oder filmische Techniken) nicht als Produkt einzelner künstlerischer Überlegungen historisiert werden, sondern als Elemente in einem historischen Ablauf, der ihr Auftreten und ihre Imitation mehr oder wenig wahrscheinlich macht. Es ist durchaus angebracht, in diesem Sinn von einer ‚materialistischen Geschichtsschreibung’ zu sprechen.28 Relevant scheint mir weiterhin auch die Tatsache zu sein, dass die quantitativen Methoden, die oben angedeutet wurden, Zusammenhänge andeuten und Fragen aufwerfen können, die zuvor vielleicht gar nicht gesehen worden wären. Damit ergeben sich Problem- und Forschungsfelder, für die nicht (wie bei geisteswissenschaftlicher Forschung sonst häufig der Fall) vorformulierte Lösungen bereits bei der Hand sind.29 Die hier nur angedeutete Kombination quantitativer Erhebungsmethoden mit einem evolutionstheoretischen Theoriedesign soll keine Alternative zu den

                                                                                                               27 Es ist nicht abwegig, hier an Bordwells ‚problem/solution‘-Modell zu denken (vgl. Bordwell, David: On the History of Film Style. Cambridge (MA), London: Harvard University Press 1997, S. 149 ff). Man vergleiche auch die Beschreibungen der ‚trial and error‘-Strategien der amerikanischen Filmstudios in der Übernahme erfolgreicher Formen und den Experimenten mit ihnen in Altman, Rick: Film/Genre. London: BFI 1999. 28 Vgl. Moretti: Kurven, Karten, Stammbäume, S. 109. Zur Diskussion historisch-materialistischer Filmgeschichtsschreibung (im Anschluss an Jean-Louis Comolli) siehe Bordwell, David und Kristin Thompson: „Linearity, Materialism and the Study of the Early American Cinema“. In: Wide Angle 5, 1983, H. 3, S. 4-15. 29 Vgl. Moretti: Kurven, Karten, Stammbäume, S. 34.

 

mikrohistorischen Methoden des New Film Historicism darstellen,30 sondern diese vielmehr um eine andere Perspektive ergänzen. Die Studien des New Film Historicism beschränken sich meistens auf einen kleinen Ausschnitt der Filmgeschichte und erforschen diesen in aller Genauigkeit, wie z.B. in paradigmatischer Weise in den Studien von Charles Musser zu Edwin S. Porter oder von Tom Gunning zu den frühen Griffith-Filmen. Solche Studien haben den Vorteil, sehr kleinteilig Veränderungen zu untersuchen und möglichst viele Einflussfaktoren aus den unterschiedlichen Bereichen in den Blick zu bekommen. So stellt Gunning in seinem Buch sowohl detaillierte Überlegungen zu den ökonomischen Produktionsbedingungen an als auch zu direkten künstlerischen Einflüssen von Griffith wie etwa den Romanen von Charles Dickens oder der Tradition des naturalistischen Theaters.31 Solche Studien sind extrem wertvoll, weil erst durch sie erfahrbar wird, was die Filmgeschichte in entscheidender Weise prägende Regisseure wie Griffith, Porter oder auch Eisenstein zu ihren Innovationen motivierte. Aber viele mikrohistorische Untersuchen dieser Art (also die Geschichtsschreibung, die Bordwell „piecemeal history“32 nennt), ergeben auch in der Summe kein großes Bild. Es kann also nicht schaden manchmal, statt den Blick durchs Mikroskop auf die Kleinstelemente zu richten, das Fernglas zur Hand zu nehmen. Nicht weil man dann mehr sehen würde, sondern weil man eventuell andere Zusammenhänge erkennen kann (den Wald, nicht nur die Bäume und Äste und Blattstrukturen). Die evolutionstheoretische Perspektive könnte die mikrohistorische Herangehensweise des New Film Historicism nicht ersetzen. Im besten Fall können sich beide aber gut gegenseitig ergänzen.

                                                                                                               30 Vgl. Elsaesser, Thomas: „Die ‚Neue Filmgeschichte‘ und das frühe Kino“. In: Ders.: Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels. München: Edition Text und Kritik 2002, S. 20-46 und Klusters, Paul: „New Film History. Grundzüge einer neuen Filmgeschichtswissenschaft“. In: montage AV 5, 1996, H. 1, S. 39-60. 31 Vgl. Gunning, Tom: D. W. Griffith and the Origins of American Narrative Film. The Early Years at Biograph. Urbana, Chicago (IL): University of Illinois Press 1991. 32 Bordwell, On the History of Film Style, S. 118 ff.