Erkenntnis objektiver Wahrheit: Die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis

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1 JOSEF SEIFERT ERKENNTNIS OBJEKTIVER WAHRHEIT DIE TRANSZENDENZ DES MENSCHEN IN DER ERKENNTNIS 2. verbesserte und erweiterte Aufgabe UNIVERSITÄTSVERLAG ANTON PUSTET SALZBURG MÜNCHEN

Transcript of Erkenntnis objektiver Wahrheit: Die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis

1

JOSEF SEIFERT

ERKENNTNIS

OBJEKTIVER

WAHRHEIT

DIE TRANSZENDENZ DES MENSCHEN

IN DER ERKENNTNIS

2. verbesserte und erweiterte Aufgabe

UNIVERSITÄTSVERLAG ANTON PUSTET SALZBURG MÜNCHEN

2

DIETRICH VON HILDEBRAND

in Liebe und Verehrung

dankbar zueignet

3

ZU DIESEM BUCH

Dieses Buch entspricht in seinem Aufbau dem jetzigen Untertitel, dem

ursprünglichen Haupttitel der Arbeit (ungedr., Salzburg 1969).

Trotzdem ist es nicht nur verständlicher, sondern auch eindeutiger und

damit passender, das Grundthema des inzwischen neu bearbeiteten

Buches (vgl. die Erläuterungen darüber im Nachwort) durch den Titel

Erkenntnis objektiver Wahrheit zu kennzeichnen.

Denn um die Frage "Können wir objektive Wahrheit erkennen?" und

"Wie weit reicht die Erkennbarkeit objektiver Wahrheit?" — um diese

wohl grundlegendste Frage des Philosophen, ja jedes Menschen, geht es

in diesem Buch. Ausgehend von der Erschütterung, die H. v. Kleist

erlebte, als er an aller objektiven Wahrheit verzweifelte, werden die

vielfältigen Formen des Relativismus und ihre Konsequenzen

aufgezeigt, auf die wir heute in erschreckendem Ausmaß stoßen. Vor

allem aber soll die Möglichkeit einer unbezweifelbaren Erkenntnis

objektiver Wirklichkeit und damit objektiver Wahrheit aufgezeigt

werden.

Die Kernfrage dieses Buches, ob der Mensch das "Gefängnis der eigenen

Gedankenspinugewebe" transzendieren und die Wirklichkeit so

erkennen kann, wie sie an sich ist, ist ja zugleich die Frage nach der

Erkennbarkeit objektiver Wahrheit. Denn Wahrheit liegt in der recht zu

verstehenden Übereinstimmung eines Urteils mit der Wirklichkeit, noch

präziser, in dem Zusammentreffen der im Urteil vollzogenen

behauptenden Setzung in bezug auf einen Gegenstand mit dem

Selbstverhalten dieses Gegenstandes. Wahrheit besteht also weder in der

Brauchbarkeit eines Urteils, noch in seiner macht- und lebensfördernden

Wirkung, noch in seiner logischen Widerspruchsfreiheit im

Gesamtzusammenhang eines Systems, noch in der Beziehung zu einem

Menschen, vielen Zeitgenossen oder auch sämtlichen Menschen, die

dieses Urteil für wahr halten — sondern Wahrheit eines Urteils besteht

einzig und allein darin, daß der in einem Urteil behauptete Sachverhalt

wirklich besteht, daß er unabhängig von irgendeiner Meinung darüber

unserem Bewußtsein transzendent ist.

4

Eine sowohl für alle Erkenntnis und Wissenschaft als auch für das

persönliche Leben grundlegendere und existentiellere Frage als die nach

der Erkennbarkeit objektiver Wahrheit kann es wohl nicht geben. Und

für die Metaphysik ist es, wie Kant richtig sah, ebenfalls die

Schicksalsfrage, ob wir, wie es im folgenden gezeigt werden soll,

allgemeine und notwendige Sachverhalte erkennen können, bzw. worin

diese gründen.

Auch Wissenschaftstheorie und Existenzphilosophie sollten in ganz

anderem Ausmaß, als dies bisher der Fall ist, diese Grundfrage ernsthaft

stellen.

Und so unzeitgemäß es ist, den Menschen das zu sagen, was viele in

unvorstellbarem Ausmaß nicht wollen, so zeitgemäß ist es andererseits,

das darzulegen, was der heutige Mensch besonders braucht und worauf

jeder Mensch als auf seine geistige Lebensquelle zugeordnet ist:

objektive Wahrheit.

Salzburg den 7. Dezember 1971

Josef Seifert

5

EINLEITUNG

Die Bedrohung der Erkenntnis

durch den Immanentismus

In einem 1873 verfaßten Aufsatz "Über Wahrheit und Lüge im

außermoralischen Sinn" sagt Nietzsche, die Tatsache, daß wir immer

dieselbe geordnete Welt wahrnehmen, ebenso wie die Tatsache, daß

sich unsere Auffassung von der äußeren Welt durch die verschiedenen

Sinneswahrnehmungen gegenseitig bestätige, beweise nichts für die

Behauptung, daß die Dinge objektiv so seien, wie sie uns zu sein

scheinen — ebenso, "wie ein Traum, ewig wiederholt, durchaus als

Wirklichkeit empfunden und beurteilt werden würde".

Dann fährt Nietzsche so fort:

"Es hat gewiß jeder Mensch, der in solchen Betrachtungen heimisch ist,

gegen jeden derartigen Idealismus ein tiefes Mißtrauen empfunden,

sooft er sich einmal recht deutlich von der ewigen Konsequenz,

Allgegenwärtigkeit und Unfehlbarkeit der Naturgesetze überzeugte; er

hat den Schluß gemacht: hier ist alles soweit wir dringen, nach der

Höhe der teleskopischen und nach der Tiefe der mikroskopischen Welt

so sicher ausgebaut, endlos, gesetzmäßig und ohne Lücken; die

Wissenschaft wird ewig in diesen Schachten mit Erfolg zu graben

haben, und alles Gefundene wird zusammenstimmen und sich nicht

widersprechen. Wie wenig gleicht dies einem Phantasieerzeugnis: denn

wenn es dies wäre, müßte es doch irgendwo den Schein und die

Unrealität erraten lassen. Dagegen ist einmal zu sagen: hätten wir noch,

jeder für sich, eine verschiedenartige Sinnesempfindung, könnten wir

selbst nur bald als Vogel, bald als Wurm, bald als Pflanze perzipieren,

oder sähe der eine von uns denselben Reiz als rot, der andere als blau,

hörte ein dritter ihn sogar als Ton, so würde niemand von einer solchen

Gesetzmäßigkeit der Natur reden, sondern sie nur als ein höchst

subjektives Gebilde begreifen. Sodann: was ist für uns überhaupt ein

Naturgesetz? Es ist uns nicht an sich bekannt, sondern nur in seinen

Wirkungen, das heißt, in seinen Relationen zu andern Naturgesetzen,

die uns wieder nur als Summe von Relationen bekannt sind. Also

verweisen alle diese Relationen immer nur wieder aufeinander und sind

uns ihrem Wesen nach unverstänchich durch und durch; nur das, was

wir hinzubringen, die Zeit, der Raum, also Sukzessionsverhältnisse und

6

Zahlen, sind uns wirklich bekannt. Alles Wunderbare aber, das wir

gerade an den Naturgesetzen anstaunen, das unsere Erklärung fordert

und uns zum Mißtrauen gegen den Idealismus verführen könnte, liegt

gerade und ganz allein nur in der mathematischen Strenge und

Unverbrüchlichkeit der Zeit- und Raumvorstellungen. Diese aber

produzieren wir in uns und aus uns mit jener Notwendigkeit, mit der

die Spinne spinnt; wenn wir gezwungen sind, alle Dinge nur unter

diesen Formen zu begreifen, so ist es dann nicht mehr wunderbar, daß

wir in allen Dingen nur eben diese Formen begreifen: denn sie alle

müssen die Gesetze der Zahl an sich tragen und die Zahl gerade ist das

Erstaunlichste in den Dingen. Alle Gesetzmäßigkeit, die uns im

Sternenlauf und im chemischen Prozeß so imponiert, fällt im Grunde

mit jenen Eigenschaften zusammen, die wir selbst an die Dinge

heranbringen, so daß wir damit uns selbst imponieren. Dabei ergibt sich

allerdings, daß jene künstlerische Metapherbildung, mit der in uns jede

Empfindung beginnt, bereits jene Formen voraussetzt also in ihnen

vollzogen wird; nur aus dem festen Verharren dieser Urformen erklärt

sich die Möglichkeit, wie nachher wieder aus den Metaphern selbst ein

Bau der Begriffe konstruiert werden konnte. Dieser ist nämlich eine

Nachahmung der Zeit-Raum- und Zahlenverhältnisse auf dem Boden

der Metaphern." (1. Abschn.)1

"Nur durch das Vergessen jener primitiven Metapherwelt,... nur durch

den unbesiegbaren Glauben, diese Sonne, dieses Fenster, dieser Körper

sei eine Wahrheit an sich, kurz nur dadurch, daß der Mensch sich als

Subjekt, und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt vergißt, lebt er

mit einiger Ruhe, Sicherheit, Konsequenz: wenn er einen Augenblick

nur aus den Gefängniswänden dieses Glaubens heraus könnte, so wäre

es sofort mit seinem 'Selbstbewußtsein' vorbei."2

"Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern,

Metanomyen, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von

menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert,

übertragen, geschmückt wurden, und die nach einem langen Gebrauch

einem Volke fest kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten

sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind,

Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind,

1 Ne. We. Bd. III, S. 317/18: "Über Wahrheit und Lüge im außermorali-

schen Sinn", 1. Abschnitt (Schluß). Die Hervorhebungen stammen von mir. 2 A. a. O., S. 316 (1. Abschnitt).

7

Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als

Münzen in Betracht kommen."3

"Wir wissen aber immer noch nicht, woher der Trieb zur Wahrheit

stammt?...: von der Verpflichtung, nach einer festen Konvention zu

lügen, herdenweise in einem für alle verbindlichen Stile zu lügen. Nun

vergißt freilich der Mensch, daß es so mit ihm steht; er lügt also in der

bezeichneten Weise unbewußt und nach hundertjährigen

Gewöhnungen — und kommt eben durch diese Unbewußtheit, eben

durch dies Vergessen, zu dem Gefühl der Wahrheit."4

Diese Nietzsche-Zitate, in denen sich die das Denken der Neuzeit

weithin beherrschenden Grundanschauungen besonders drastisch

aussprechen, machen es deutlich, welche zentrale Rolle dem Problem

der Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis zukommt. Es ist

nicht ein Randproblem, sondern hat eine Schlüsselstellung für das

ganze Reich, der Erkenntnis inne. Wo die Transzendenz der Erkenntnis

geleugnet wird, da ist der Mensch grundsätzlich in sich selber

eingeschlossen. Wo diese Auffassung herrscht, kann man von

"Immanentismus" sprechen. Besonders seit Hume und Kant ist der

Immanentismus im abendländischen Denken weitgehend herrschend

geworden.5 Daß Relativismus und Nihilismus die im Grund

unausweichlichen Folgen des Immanentismus sind, sei hier nur

angedeutet.6

3 A. a. O., S. 314 (1. Abschnitt). 4 A. a. O., S. 314 (1. Abschnitt). 5 Sehr deutlich hat auf diesen von Hume und Kant ausgehenden Imma-

nentismus B. Schwarz in seinem Aufsatz "Wahrheit und Wissenschaft''

hingewiesen, wo er dieses "geistesgeschichtliche Phänomen von

gewaltigem Ausmaß" den "Kampf der Philosophie gegen die Wahrheit"

nennt (a. a. O., S. 99). 6 Dieser Zusammenhang wird seiner sachlichen Seite nach besonders im II.

Teil der vorliegenden Arbeit behandelt. In den eingangs zitierten

Nietzsche-Stellen tritt er deutlich hervor. Es muß hier auch erwähnt

werden, daß die amoralistische Lebens- und Machtphilosophie Nietzsches

(vgl. Ne. We. Bd. III, S. 310, 311, 320) in engstem innerem

Zusammenhang mit dem Relativismus und Nihilismus steht. Dies tritt bei

Nietzsche am deutlichsten hervor im Willen zur Macht (I. Buch I, 1—4; 1,

1—12; 1, 22—24) a. a. O., S. 7—16; 20—22. (Vgl. Ne. We. Bd. 111, S.

507—562; S. 1405.) In einer Arbeit über "Wahrheit und Irrtum bei F.

8

Achtundzwanzig Jahre nach dem Aufsatz Nietzsches "Über Wahrheit

und Lüge im außermoralischen Sinn" zu einer Zeit der Hochblüte des

Immanentismus hat Edmund Husserl in seinem Werk Logische

Untersuchungen jeden erkenntnistheoretischen Immanentismus und

Nietzsche" versuchte ich, in die Gründe für den "Umschlag" einzudringen,

in dem Nietzsche zunächst den Relativismus und den sich in der "ewigen

Wiederkehr des Gleichen" perpetuierenden Nihilismus als entsetzlich

erlebt (vgl. W. Del-Negro, Die Rolle der Fibrionen in der

Erkenntnistheorie Friedrich Nietzsches, S. 113/14) —und dann plötzlich

als den "großen Befreier, jenen Gedanken, daß das Leben ein Experiment

des Erkennenden sein dürfe" (Die fröhliche Wissenschaft, IV. Buch n.

324—aus dem Jahre 1882—Ne. We. Bd. 11, S. 187), was Martin

Heidegger zu Anfang seines "Nietzsche"-Buches "die Nietzsches Denken

bestimmende Erfahrung" nennt. Der gewaltige Einfluß, den die aus dem

erwähnten Immanentismus hervorgehende amoralistische Machtphiloso-

phie Nietzsches ausübt, zeigt sich z. B. in dem Sammelband "Nietzsche"

(Paris 1967). Vgl. die Beiträge von Edouard Gaède, Nietzsche et la litte-

rature, H. W. Reichert, Nietzsche et Hermann Hesse; Michel Foucault,

Nietzsche, Freud, Marx; Jean Beaufret, Heidegger et Nietzsche; Henri

Birault, De la Béatitude chez Nietzsche. Vgl. dazu auch das umfassendste

neuere Werk über Nietzsche von Jean Granier, Le problème de la Vériré

dans la philosophie de Nietzsche. (Bes. S. 11—31; 43 ff.; 603—628). In

den zitierten Nietzsche-Stellen (in dem zuletzt angeführten Abschnitt über

die "Unbewußtheit, die zu dem Gefühl der Wahrheit führe") klingt auch

schon jene "Entlarvungs-ldeologie" an, die der Freudschen Tiefen-

psychologie zugrunde liegt. (Vgl. dazu W. J. Revers, Ideologische

Horizonte der Psychologie, S. 54 ff., besonders die Darstellung der

Urhordentheorie S. Freuds auf S. 59 ff., die dieser in "Massenpsychologie

und Ich-Analyse" als Erklärung aller Kultur und "Hominisation" entwickelt

hat. Vgl. dazu auch Jean Granier, a. a. O., S. 14—16. Vgl. auch K. Klatzkin,

Der Erkenntnistrieb als Lebens- und Todesprinzip).

Vor allem in den beiden letzten Absätzen der Nietzsche-Zitate deutet sich

schon an, wie sich diese "Ideologie" dann mit jenem Soziologismus und

Historismus verbindet, der alle Wahrheit auf "das Heer jener Anthropo-

morphismen" zurückführen möchte, "die nach einem langen Gebrauche

einem Volk fest kanonisch und verbindlich dünken", auf die in einem Volk

und einer Zeit "lebendigen Ideen". Eine Analyse und Widerlegung dieser

Form, des Immanentismus und historischen Relativismus siehe in: The

dethronement of Truth (in: The new Tower of Babel) u. in: Das trojanische

Pferd in der Stadt Gottes (S. 137 ff.; S. 230 ff.) von D. von Hildebrand.

9

Relativismus unter der Form des schon in der Kantischen Philosophie

grundgelegten "Psychologismus" bekämpft, der alle Seinsgesetze auf

Denkgesetze zurückführt.7

Im Augenblick, da ich mit Kant leugne, daß sich der Mensch im

Erkennen selbst überschreitet und mit der Wirklichkeit, wie sie in sich

ist geistig in Berührung tritt, im Augenblick, da ich leugne, daß der

Mensch im Erkennen das Seiende "empfängt" und behaupte, der

Mensch sei im Erkennen ein spontan-tätiges, künstlerisch schaffendes

Subjekt, befreie ich ihn nicht, wie es scheinen mag, sondern sperre ihn

in jenes immanentistische Gefängnis der eigenen

"Gedankenspinngewebe" ein, von dem Nietzsche spricht.

Dieser "Verlust der Transzendenz", der die Neuere Philosophie bis zur

Gegenwart hin weitgehend kennzeichnet,8 tritt besonders mit der

7 Der Begriff "Psychologismus", wie Husserl ihn versteht, wird in den

Logischen Untersuchungen Bd. I, § 38 ff., besonders deutlich. (Im

siebenten Kapitel "Der Psychologismus als skeptischer Relativismus".)

Vgl. etwa S. 124: "Jede Lehre, welche die rein logischen Gesetze entweder

nach Art der Empiristen als empirisch-psychologische Gesetze faßt oder

sie nach Art der Aprioristen mehr oder minder mythisch zurückführt auf

gewisse ‘ursprüngliche Formen’ oder ‘Funktionsweisen’ des

(menschlichen) Verstandes, auf das ‘Bewußtsein überhaupt' als

(menschliche) ‘Gattungsvernunft’, auf die ’psychophysische Konstitution’

des Menschen, auf den ‘intellectus ipse’, der als angeborene (allgemein

menschliche) Anlage dem faktischen Denken und aller Erfahrung

vorhergeht u. dgl. — ist eo ipso relativistisch, und zwar von der Art des

spezifischen Relativismus." In extenso behandelt Husserl Wesen und

Begriff des Psychologismus im 4. und 5. Kapitel des ersten Bandes, a. a.

O. Aus terminologischen Gründen werde ich den Begriff

"Psychologismus" in einem viel eingeschränkteren Sinn gebrauchen. (Vgl.

I. Teil der Arbeit, S. 54 ff.) 8 Es bedarf wohl keiner eingehenden Belegung dieser These. Sie wird

überdies im Laufe dieser Arbeit immer deutlicher und durch zahlreiche

Zitate belegt werden. Eine eindrucksvolle Analyse dieses Faktums findet

sich im 7. Kapitel, I. Teil, der Logischen Untersuchungen: "Der Psycho-

logismus als skeptischer Relativismus", insbesondere deshalb, weil Husserl

dort die Unterscheidung zwischen individuellem Relativismus und spezi-

fischem Relativismus, bzw. Anthropologismus durchführt, der die

Wahrheit nicht auf den einzelnen Menschen, sondern auf "die Spezies

Mensch" relativ setzt: "Können wir bei dem Subjektivismus (individuellem

10

"Kopernikanischen Wendung" Kants hervor, nach der nicht mehr das

menschliche Erkennen von den "Sachen selbst", die dem Erkennen

vorhergehen, geformt wird, sie in ihrem Sein erfaßt, sondern umgekehrt

sie formt und bestimmt.

Bestünde die "Erkenntnis" wirklich darin, daß der Mensch seine

eigenen Anschauungs- und Denkformen auf die ihm in ihrem Sein an

sich unbekannten Dinge anwendet, könnte der Mensch wirklich nur den

aus einem "Chaos der Sinnesempfindung" durch seine

Anschauungsformen und Kategorien geschaffenen Gegenstand

erkennen, beziehungsweise wäre das Erkennen im Grunde eine solche

spontane Tätigkeit des Geistes — so wäre der Mensch rettungslos vom

Sein abgeschnitten. Infolge dieser Umkehrung der

Erkenntnis-Ding-Beziehung in der "Kopernikanischen Wendung"

rettet Kant nur scheinbar notwendige und allgemeingültige

Wahrheiten, begründet aber in Wirklichkeit mit seinem

transzendentalen Idealismus höchstens notwendig und allgemein in der

"species Mensch" gründende Irrtümer.9

Es soll später gezeigt werden, daß unter den Kantischen

Voraussetzungen Nietzsche wirklich damit recht hätte, daß "die

Wahrheiten Illusionen sind, von denen man vergessen hat, daß sie

welche sind"10 Allerdings enthüllt sich der Widerspruch, der in jedem

derartigen Relativismus liegt, wenn wir die einzige Frage an Nietzsche

richteten, ob alles, was er jetzt über Wahrheit und Irrtum gesagt hat,

daß nämlich die Wahrheiten Illusionen sind, wiederum nur eine Illusion

oder absolut und objektiv wahr sei — doch dies soll an gegebener Stelle

behandelt werden.11

Die immanentistischen und zum Relativismus führenden

Konsequenzen der "Kopernikanischen Wendung" hat Nietzsche in der

Unzeitgemäßen Betrachtung: "Schopenhauer als Erzieher" besonders

Relativismus) zweifeln, ob er je in vollem Ernste vertreten worden sei, so

neigt im Gegenteil die neuere und neueste Philosophie dem spezifischen

Relativismus, und näher dem Anthropologismus, in einem Maße zu, daß

wir nur ausnahmsweise einem Denker begegnen, der sich von den

Irrtümern dieser Lehre ganz rein zu erhalten wußte.'' (A. a. O., S. 116. Vgl.

auch S. 117 ff.) 9 Darauf werde ich im II. Teil dieser Arbeit ausführlich eingehen. 10 Ne. W. Bd. III, S. 314. 11 Vgl. II. Teil dieser Arbeit, Kap. 1, S. 140 ff.

11

klar ausgesprochen (nach seiner eigenen Erklärung hat Nietzsche

diesen ebenfalls 1873 verfaßten Aufsatz im Grunde über seine eigene

Entwicklung geschrieben):

"Das war die erste Gefahr, in deren Schatten Schopenhauer

heranwuchs. Vereinsamung. Die zweite heißt: Verzweiflung an der

Wahrheit. Diese Gefahr begleitet jeden Denker, welcher von der

Kantischen Philosophie aus seinen Weg nimmt, vorausgesetzt, daß er

ein kräftiger und ganzer Mensch in Leiden und Begehren sei und nicht

nur eine klappernde Denkund Rechenmaschine. Nun wissen wir aber

alle recht wohl, was es gerade mit dieser Voraussetzung für eine

beschämende Bewandtnis hat, ja es scheint mir, als ob überhaupt nur

bei den wenigsten Menschen Kant lebendig eingegriffen und Blut und

Säfte umgestaltet habe. Zwar soll, wie man überall lesen kann, seit der

Tat dieses stillen Gelehrten auf allen geistigen Gebieten eine

Revolution ausgebrochen sein; aber ich kann es nicht glauben. Denn

ich sehe es den Menschen nicht deutlich an, als welche vor allem selbst

revolutioniert sein müßten, bevor irgendwelche ganze Gebiete es sein

könnten. Sobald aber Kant anfangen sollte, eine populäre Wirkung

auszuüben, so werden wir diese in der Form eines zernagenden und

zerbröckelnden Skeptizismus und Relativismus gewahr werden; und

nur bei den tätigsten und edelsten Geistern, die es niemals im Zweifel

ausgehalten haben, würde an seiner Stelle jene Erschütterung und

Verzweiflung in aller Wahrheit eintreten, wie sie z. B. Heinrich von

Kleist als Wirkung der Kantischen Philosophie erlebte. 'Vor kurzem',

schreibt er einmal in seiner ergreifenden Art, 'wurde ich mit der

Kantischen Philosophie bekannt — und dir muß ich jetzt daraus einen

Gedanken mitteilen, indem ich nicht fürchten darf, daß er dich so tief,

so schmerzhaft erschüttern wird als mich. — Wir können nicht

entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist

oder ob es uns nur so scheint. Ist's das Letztere, so ist die Wahrheit die

wir hier sammeln, nach dem Tode nichts mehr, und alles Bestreben ein

Eigentum zu erwerben, das uns auch noch in das Grab folgt, ist

vergeblich. — Wenn die Spitze dieses Gedankens dein Herz nicht trifft,

so lächle nicht über einen andern, der sich tief in seinem heiligsten

Innern davon verwundet fühlt. Mein einziges, mein höchstes Ziel ist

gesunken, und ich habe keines mehr.' Ja, wann werden die Menschen

wieder dergestalt Kleistisch-natürlich empfinden, wann lernen sie den

12

Sinn einer Philosophie erst wieder an ihrem 'heiligsten Innern'

messen?..."12

Was Nietzsche hier mit Kleist das "heiligste Innere" nennt, ist jene tiefe

Wirklichkeit im Menschen, in der sich seine existentielle Beziehung

zur Wahrheit konstituiert. Es gibt ein Zentrum in der Seele des

Menschen, das wahre Lebenszentrum des Geistes, in dem der Mensch

so auf die Wahrheit zugeordnet ist und auf die Wirklichkeit in der Fülle

ihrer in sich ruhenden Bedeutsamkeit und Kostbarkeit, daß er im

Innersten getroffen wird, wenn er zur Überzeugung kommt, niemals die

objektive Wahrheit und objektive Werte erkennen zu können. Lebt der

Mensch in und aus diesem auf die Wahrheit gerichteten,

wertantwortenden13 Zentrum, so ist der Augenblick "sein Tod", in dem

ihm verkündet würde: alle Güter und Personen, auf die antwortend du

glücklich bist, alle Wahrheit, die du zu erkennen glaubtest, Gott selbst

— all dies ist nicht unabhängig von dir, all dies wird mit dem Tode

"nichts" mehr sein; denn es "lebt" nur von Gnaden deiner selbst, deiner

Natur, deiner Konstitution; dieser Augenblick bedeutet dann seine

Verzweiflung, aus der nichts, nichts ihn erretten kann und soll außer

der Wahrheit selbst. Nur sie, die befreiende Wahrheit, die dieses

Verzweiflung bringende Wort Lügen straft, kann uns aus dieser

Verzweiflung retten — Flucht, Verdrängung, Unernst sind keine

Rettung, auch wenn sie uns die Verzweiflung vergessen machen. Denn

12 Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen III, 3, in: Ne. We. Bd. 1, S. 302/

3 Die zitierte Kleist-Stelle stammt aus einem Brief vom 22. III. 1801. Vgl.

Heinrich von Kleist, dtv Gesamtausgabe, Bd. 6, S. 163. 13 Das Wesen der in der gesamten Sittlichkeit entscheidenden “Wert-

antwort” hat Dietrich von Hildebrand in Christliche Ethik, Kap. 17, erst-

malig zu voller philosophischer Gegebenheit gebracht und damit jene

“Antwort” des Willens oder des Herzens bezeichnet, die der Mensch,

einem werttragenden Gut um jener Bedeutsamkeit und Kostbarkeit willen

gibt, die es in sich besitzt, jene Antwort, die ihm auf Grund seines Wertes

gebührt.(Vgl. Christliche Ethik, Kap. 18.) Wir werden auf diesen Begriff,

den D. von Hildebrand geprägt hat und der ein Zentralbegriff für die

gesamte Ethik ist, in geeignetem Zusammenhang zurückkommen. Vgl.

dazu auch B. Wenisch, Der Wert — eine an D. von Hildebrand orientierte

Auseinandersetzung mit Max Scheler.

13

die Verzweiflung, von der wir nicht wissen, ist, wie Kierkegaard so tief

gesehen hat, die schlimmste Verzweiflung13a .

Die Erkenntnis der Wahrheit über die wichtigsten Wirklichkeiten die

Beziehung zu einer Wahrheit, die unabhängig vom menschlichen Geist

wahr ist, die er erkennen kann, indem er sich selbst transzendiert, das

ist der Lebensnerv der Person. Wenn wir in und aus dieser von jedem

Menschen geforderten Beziehung zur Wahrheit leben, verstehen wir

die Verzweiflung, die die gebührende Antwort auf die

"Gefängniswände unseres illusionshaften Glaubens" wäre, der niemals

die Wirklichkeit an sich erreichen würde. Wenn also jene

Wirklichkeiten nicht "an sich" wären, die entweder von uns unabhängig

oder ein bloßer Schein sind, wie die Werte hoher Güter, andere

Personen, die Wahrheit, Gott — dann müßten wir wie Kleist

empfinden:

"Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden

sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken,

sind grün — und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen

die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut

was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem

Verstande..."14

"... Der Gedanke, daß wir hienieden nichts, gar nichts von der Wahrheit

wissen, daß das, was wir hier Wahrheit nennen, nach dem Tode ganz

anders heißt... dieser Gedanke hat mich in dem Heiligtum meiner Seele

erschüttert. Mein einziges und höchstes Ziel ist gesunken, ich habe

keines mehr. Seitdem ekelt mich vor den Büchern, ich lege die Hände

in den Schoß, und ich suche ein neues Ziel, dem mein Geist,

froh-beschäftigt, von neuem entgegenschreiten könnte. Aber ich finde

es nicht, und eine innerliche Unruhe treibt mich umher, ich laufe auf

13a Vgl.- S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, S. 39 ff., S. 47 ff., Anm.,

S. 48 ff., in: S. Kierkegaard: Ges. Werke, 24./25. Abt., Düsseldorf 1957. 14 Vgl. H. Von Kleist, Gesamtausgabe, a. a. O., Bd. 6, S. 163. An diese Stelle

schließt die von Nietzsche zitierte mit den Worten an: "Wir können nicht

entscheiden..." Anschließend in demselben Brief (a. a. O., S 164) schildert

Kleist, wie seine Freunde diese seine Erschütterung nicht verstanden und

versuchten, ihn mit einer harmlosen philosophischen Lektüre zu

"beruhigen", die auf die über den Sinn unseres Lebens entscheidende Frage

ob wir nämlich eine absolute Wahrheit erkennen können, keine Antwort

gibt.

14

Kaffeehäuser und Tabagien, in Konzerte und Schauspiele, ich begehe,

um mich zu zersträuen und zu betäuben, Torheiten, die ich mich

schäme aufzuschreiben und doch ist der einzige Gedanke, den in

diesem äußeren Tumulte meine Seele unaufhörlich mit glühender

Angst bearbeitet, dieser: dein einziges und höchstes Ziel ist gesunken...

Ich kann nicht einen Schritt tun ohne mir deutlich bewußt zu sein,

wohin ich will..."15

Das Tragische in der geistigen Situation der Gegenwart scheint nun

darin zu liegen, daß wir schon sosehr abgestumpft sind, daß uns die

Leugnung der Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis schon gar

nicht mehr erschüttert, vielleicht weil wir uns von einem Fatum dem

jetzigen geschichtlichen Zustand des Denkens ausgeliefert fühlen, so

daß es schon ganz "altmodisch" oder "anmaßend" erscheint,

grundlegende Irrtümer in Kants Philosophie finden zu wollen. "Wir

können hinter so große Denker nicht mehr zurück. .. wir müssen an

unserem Ort im Flusse der Geschichte denken... die Wahrheit ist eben

geschichtlich bedingt", so und ähnlich heißen die Äußerungen, in denen

sich nicht nur Hegels Geschichtsphilosophie, sondern auch jene

Entmutigung an der Wahrheitserkenntnis auswirkt, die Nietzsche als

eine Folge der Kantischen Philosophie voraussah.

Denn wer — außer er ist dergestalt entmutigt — würde sich nicht an

die Erschütterung Kleists darüber, "daß alle Wahrheit, die wir

hienieden sammeln, nach dem Tode nichts mehr ist", erinnern, wenn er

in M. Heideggers Sein und Zeit liest:

"Der Selbstmörder..., sofern er ist und sich in diesem Sein verstanden

hat, hat in der Verzweiflung des Selbstmordes das Dasein und damit

die Wahrheit ausgelöscht..."16

Es gibt zahlreiche Briefe und Notizen aus jenem Kreis von Schülern,

die sich in Göttingen um E. Husserl versammelten, aus denen

hervorgeht, daß sie sich angesichts des Deutschen Idealismus, wie er

von der "Kopernikanischen Wendung" ausgeht und angesichts der von

ihm getragenen Richtungen, nach denen alle Seins- und Wesensgesetze

auf Denkgesetze reduziert werden — in einer ähnlichen inneren

15 Brief vom 23. März 1801. A. a. O., S. 165. 16 Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, § 44c, S. 229.

15

Verzweiflung befanden, wie Heinrich von Kleist.17 Und so gingen sie

nach Göttingen, um unter der Führung E. Husserls aus dem Gefängnis

des Immanentismus und Relativismus auszubrechen; und in der Tat

bedeuten die Logischen Untersuchungen eine klassische Widerlegung

des erkenntnistheoretischen Immanentismus und Relativismus, den E.

Husserl dort unter dem Namen des "Psychologismus" bekämpft. Mit

Recht sahen die meisten Schüler Husserls in dessen Hauptwerk einen

Durchbruch zur vollen Transzendenz der Erkenntnis, zu den "Sachen

selbst", zu den nicht nur dem Einzelnen, sondern jedem menschlichen

Geiste transzendenten, notwendigen Wesenheiten, in denen jene

veritates aeternae gründen, die endgültig seit Kant verloren zu sein

schienen.18 Dieser Durchbruch zur Transzendenz, und zugleich die

Besinnung auf das Wesen der philosophischen Methode als der

Einsicht in notwendige, unzurückführbare Urgegebenheiten,

Wesenheiten und Wesenssachverhalte wurde von den bedeutendsten

Schülern des frühen Husserl fortgeführt und durch viele neue

Erkenntnisse bereichert.19

17 Vgl. dazu etwa eine Tagebuchaufzeichnung Edith Steins (1913) in: Edith

Stein, Lebensbild einer Philosophin und Karmelitin (Sr. Teresia Renata a.

Sp. S.), S. 30. Vgl. auch Sr. Teresia a. M. D., Edith Stein, S. 40. 18 Obwohl er historisch zunächst vergessen wurde, darf man den groß-

artigen Durchbruch zur vollen Transzendenz der Erkenntnis hier nicht un-

erwähnt lassen, den "der böhmische Leibniz" Bernhard Bolzano, schon

1837 in seiner Wissenschaftslehre leistete. Husserl selbst betont, von

welcher Große dieses Werk sei und wieviel er Bolzano verdanke. 19 Wir denken dabei in erster Linie an Adolf Reinach und seine erkenntnis-

theoretischen Ausführungen (in seinem Hauptwerk Zur Phänomenologie

des Rechtes — Die apriorischen Grundlagen des Bürgerlichen Rechts, in:

Was ist Phänomenologie?; in: Gesammelte Schriften die Aufsätze "Kants

Auffassung des Humeschen Problems", S. 1, und "Zur Theorie des

negativen Urteils", S. 56., an Alexander Pfänder, besonders an seine

erkenntnistheoretischen Erwägungen in der Logik; an verschiedentliche

Ausführungen Max Schelers, Edith Steins, Hedwig Conrad-Martius', auf

die wir im Laufe der Arbeit hinweisen werden; vor allem aber denken wir

an die bedeutenden, im deutschen Sprachraum noch kaum bekannten oder

gar in ihrem Rang anerkannten erkenntnistheoretischen Werke Dietrich

von Hildebrands, besonders an What is philosophy?, das demnächst in

deutscher Sprache erscheinen wird. Auf die übrigen wird in späteren

Fußnoten verwiesen werden. Ebenso scheint mir eine solche

16

Husserl selbst aber hat sich schon sehr früh, vor allem mit seinen Ideen

zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie

(1913)20 von diesem von ihm neu beschrittenen Weg "zu den Sachen

selbst", von diesem Durchbruch zur Transzendenz des Menschen in der

Erkenntnis, völlig losgelöst, was dazu führte, daß viele seiner Schüler

und ihm nahestehende Philosophen sich von seiner Philosophie

abwendeten, da sie seine wichtigsten Erkenntnisse von ihm

Fortentwicklung erkennenistheoretischer Fragen in dem Werk Der Irrtum

in der Philosophie von B Schwarz vorzuliegen. Wie in späteren

Ausführungen näher angedeutet wird, stellt N. Hartmanns Metaphysik der

Erkenntnis in mancher Hinsicht eine wertvolle Ergänzung der

Erkenntnistheorie Husserls dar und eine Abweisung der verhängnisvollen

Irrtümer des späten Husserl, anderseits verkennt N. Hartmann viele

entscheidende Einsichten, die Husserl in den Logischen Untersuchungen

entwickelt hat. Ebenso sind hier die Vorläufer E. Husserls zu nennen, die

seine Überwindung des "Psychologismus", bzw. transzendentalen

Idealismus schon vorbereiteten: Franz Brentano (vor allen; die

Psychologie, 1874, mit ihrer Herausarbeitung der "intentionalen Be-

ziehungen"), dessen Vorlesungen E. Husserl in Wien zwei Jahre lang hörte

(Vgl. Philosophie in Österreich, Franziska Mayer-Hillebrands Beitrag über

F. Brentano, a. a. O., S. 16; vgl. auch die Anerkennung Husserls daß ohne

Brentano die Phänomenologie, die auf der Erkenntnis der intentionalen

Beziehung ruht, nicht möglich gewesen wäre, in L. Landgrebe Das

Problem der phänomenologischen Psychologie bei Husserl a. a. O S. 153.

Anderseits bleibt F. Brentano, wie deutlich aus einem Brief an E. Husserl

in Wahrheit und Evidenz, a. a. O., S. 153 ff., hervorgeht, insbesondere aus

der Definition des Kontradiktionsprinzips, S. 156—vgl. auch S. 15C —

auch aus einem Abschnitt aus der Psychologie 11, a. a. O, S. 159 ff., noch

dem "Psychologismus" verhaftet, obwohl er diese Konsequenz nicht zieht.)

Eine noch viel stärkere Widerlegung des "Psychologismus" und eine

objektive Erkenntnislehre stellt die Wissenschafslehre B. Bolzanos (1837)

dar, die 1929/31 neu erschien. (Vgl. Grundlegung zur Logik.) Auch die

Grazer Schule", die von Brentano und Husserl ausgeht, muß hier erwähnt

werden (vgl. dazu besonders Karl Wolfs Beitrag in: Philosophie in Oster-

reich, a. a. O., S. 31 ff.), vor allem Alexius v. Meinong und Ernst Mally, in

deren Philosophie die Transzendenz der "Gegenstände" über den Er-

kenntnisakt im Gegensatz zum späten Husserl nachdrückclich betont

werden. 20 Vgl. Husserliana a. a. O., Bd. III, IV, V.

17

preisgegeben sahen.21 Es ist eine unerklärliche und tragische Tatsache,

daß derjenige Denker, der die "verlorene Transzendenz" des Menschen

in der Erkenntnis am klarsten wieder entdeckt hatte, in seinen

Spätschriften in einen so radikalen Idealismus und Immanentismus21a

verfallen ist, was übrigens zu einer vollkommenen Verwirrung des von

vornherein unglücklich gewählten und so belasteten Terminus

"Phänomenologie" geführt hat,22 welchen Begriff wir daher für die

ursprünglich damit gemeinte klassische (bei allen philosophischen

Einsichten aller Zeiten angewandte) philosophische Methode nicht

verwenden wollen.23

21 Husserls Wendung zum Transzendentalismus, dessen Überwindung viele

seiner Schüler und Freunde gerade in den Logischen Untersuchungen (der

ersten Fassung von 1901 vor allem) sahen, wurde von Alexander Pfänder

vollkommen zurückgewiesen. (Vgl. Herbert Spiegelberg, Alexander

Pfänders Phänomenologie, S. 3—4; bes. S. 17—19). Auch Adolf Reinach,

der ja die transzendentale Wendung Husserls kaum mehr erlebte, hat sie,

wie aus seinen Gesammelten Schriften klar hervorgeht, insbesondere aus

den nach 1913 auf dem Felde verfaßten Schriften und Aufzeichnungen,

entschieden abgelehnt. Auch Edith Stein, Hedwig Conrad-Martius u. a.

vollzogen diese Wendung nicht mit, auch nicht Max Scheler vor seiner

ganz anderen Wendung und gänzlichen Umkehr seiner Philosophie, die er

tragischerweise in seinen Spätschriften (bes. Die Stellung des Menschen im

Kosmos) vollzog. Am entschiedensten allerdings hat D. von Hildebrand

eine jedem transzendentalen Idealismus entgegengesetzte, diesen weit über

die Logischen Untersuchungen hinaus überwindende Erkenntnislehre

erarbeitet. (Vgl. dazu den 11. Teil dieser Arbeit.) 21a Wir werden am Ende des II. Teiles dieser Arbeit auf den besonderen

Immanentismus der Spätphilosophie Husserls genauer eingehen, wie er in

den Cartesianischen Meditationen (Husserliana, a. a. O., Bd. 1) hervortritt. 22 Dies wird aus dem 11. Teil dieser Arbeit, besonders der Auseinander-

setzung mit E. Husserls Spätphilosophie, deutlicher werden. 23 Die phänomenologische Methode in diesem klassischen Sinn wurde m.

E. zu ihrer eigentlichen Vollendung gebracht und auch theoretisch am

deuthlichsten erfaßt von D. von Hildebrand. Vgl. What is philosophy? S

222-226. Wegen des irreführenden, vor allem aber zunehmend im Sinne

des späten Husserl verstandenen Ausdrucks "Phänomenologie" verwendet

auch D. von Hildebrand diesen früher von ihm (im erwähnten Sinn)

gebrauchten Begriff nicht mehr.

18

Jeder, der die letzte Bedeutung der in dieser Einleitung angedeuteten

Fragen siehe und sich der Bedrohung der Transzendenz der

menschlichen Erkenntnis durch den Immanentismus bewußt ist, wird

erfassen wie wichtig es ist, sich wieder einmal von neuem "den Sachen

selbst" zuzuwenden und das Wesen und die Stufen der Transzendenz

des Menschen zu erforschen. Dies kann — bei möglichster

Beschränkung auf das Wesentliche — nur durch eine systematische

Behandlung dieses Problems geschehen, in Auseinandersetzung mit

den Grundformen des erkenntnistheoretischen Immanentismus.

Die eigene, unmittelbare Erkenntnis der "Sachen selbst", die

unumgänglich für jede philosophische (und nicht bloß

"philosophiehistorische") Untersuchung dieser Frage nötig ist, wurde

mir vermittelt durch die Einsichten der klassischen Denker der

"philosophia perennis" (insbesondere Platon, Aristoteles, Augustinus,

Bonaventura, Thomas v. Aquin, Descartes und Leibniz); ferner durch

den Husserl der Logischen Untersuchungen, Adolf Reinach, Alexander

Pfänder und Max Scheler — aber vor allem durch die

erkenntnistheoretischen Werke Dietrich von Hildebrands, in denen mir

am deutlichsten die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis zu

voller philosophischer "prise de conscience"24 gelangt zu sein scheint.

Diese Erkenntnisse wurden mir ferner in besonderer Weise durch die

Vorlesungen und Werke meines Lehrers Balduin Schwarz vermittelt

wie ich auch seinen eingehenden Analysen von Erkenntnis und Irrtum

viele auf meine Arbeit bezüglichen Erkenntnisse verdanke.

Was heißt Transzendenz?

Es geht in dieser Arbeit um die Frage nach der Transzendenz des

Menschen in der Erkenntnis. Bevor man diese Frage stellt, muß man

sich jedoch kurz klarmachen, in welchem Sinne überhaupt von

"Transzendenz" gesprochen werden kann.25 Denn der Begriff

"Transzendenz", der häufig gebraucht wird, ohne daß man sich dabei

recht über das Gemeinte im klaren wäre, hat so viele und grundsätzlich

24 Dieser von D. v. Hildebrand oft verwendete Ausdruck stammt von

Jacques Maritain und bedeutet "ins volle Licht des Bewußtseins heben"

sich ausdrücklich bewußt werden. 25 Die nun folgende Analyse erhebt keineswegs den Anspruch, auch nur

einigermaßen vollständig zu sein.

19

verschiedene, ja z. T. sogar einander entgegengesetzte Bedeutungen,

daß es nötig erscheint, ihn zu klären. Ein bescheidener Beitrag zu dieser

Klärung soll in der vorliegenden Arbeit geleistet werden.

Das aus dem Lateinischen kommende Wort "Transzendenz" weist

immer auf ein "Überschreiten" bzw. ein "Darüberhinausliegen" hin.

Einerseits kann es bedeuten, daß eine Wirklichkeit jenseits einer

Grenze oder jenseits einer anderen Wirklichkeit liegt; dann erhält der

Begriff "Transzendenz" seine spezielle Bedeutung jeweils durch die

Art der Grenze, jenseits der etwas liegt bzw. durch die beiden

Wirklichkeiten, deren eine jenseits der anderen liegt.26 Diese Grenze ist

dabei nicht eine rein räumliche oder eine unbedeutend geistige.

Andererseits kann mit "Transzendenz" auf einen Akt des

Überschreitens hingewiesen werden, und dann handelt es sich um eine

spezifisch personale Fähigkeit. So spricht man nicht von

"Transzendenz", wenn ein Reh eine Baumgrenze überschreitet oder

wenn ein Kind ein anderes an Intelligenz übertrifft. Die überschrittene

Grenze muß einen geistigen und wesentlichen Charakter haben.

Bleiben wir zunächst ein wenig bei der Bedeutung von

Transzendieren als Akt der Person

Ausschließlich eine Person, die sich bewußt selbst besitzt, kann in

dieser ihrer bewußten Beziehung zur Wirklichkeit sich selbst und

andere "Grenzen" "aktiv" überschreiten. Je nachdem, was die Person

dabei in sich überschreitet oder über welche Grenzen sie hinausgeht,

sprechen wir auch dort noch in ganz verschiedenem Sinne von

Transzendenz, wobei wir eine Fähigkeit der Person meinen.

Um einigermaßen einen Überblick zu gewinnen, sollen hier nur die

Fragen nach den verschiedenen Formen der Transzendenz des

Menschen angedeutet werden.

Zunächst kann man sich fragen, ob der Mensch in seinen eigenen

Bewußtseinszuständen eingeschlossen und absolut von der jenseits

seines Bewußtseins liegenden Wirklichkeit abgeschnitten ist oder ob er

in der Erkenntnis sich selbst überschreiten und mit der Wirklichkeit wie

sie jenseits seines eigenen Seins ist, in Berührung treten könne. Im

26 Vgl. dazu auch die Begriffsanalyse der Ausdrücke "Transzendenz",

"transzendent" und "transzendental" in Fritz Leist, Transzendenz, tran-

szendent und transzendental, a. a. O., S. 295 ff.

20

ersten Fall wäre der Mensch ins Gefängnis seiner Immanenz

eingeschlossen, im zweiten kann er sich transzendieren. Die Grenze,

die er damit überschritte, wäre sein eigenes, bewußtes Sein, die

Wirklichkeit jenseits dieser Grenze jenes Sein, mit dem er in Berührung

träte.

Falls wir zeigen können, daß der Mensch nicht nur faktisch und zufällig

Seiendes jenseits seiner selbst erkennen kann, sondern auch ewige,

wesensnotwendige Wahrheiten, so ist klar, daß er nicht nur sich selbst,

sondern auch das historisch sich Wandelnde, das Gefängnis des

Augenblicks, die Leere des Zufälligen transzendiert.

In der absoluten Gewißheit und Evidenz, mit der uns diese Wahrheiten

gegeben sind, überschreiten wir auch jene Meinungen, die der Zweifel

stets annagen kann, und überwinden den Immanentismus des

Relativismus, Historismus, Soziologismus, Psychologismus und

transzendentalen Idealismus — dies hoffe ich im zweiten Teile dieser

Arbeit zu zeigen.

Schließlich liegt auch in der Wesenserkenntnis, wenn man sie künstlich

isoliert, noch ein Eingeschlossensein in sich selbst, solange wir nicht

auch mit der konkreten, aktuell existierenden Wirklichkeit der

Außenwelt und vor allem anderer Personen in Beziehung treten

können. Gegenüber dem Solipsismus Stirners, aber auch des späten

Husserl mit seiner radikalen Ausklammerung der Existenz und der

Ablehnung jedes Realismus als widersinnig, soll erwiesen werden daß

der Mensch über sich hinaus auch zur vollen, konkreten, substantiellen

Wirklichkeit gelangen kann und welch einzigartige Transzendenz

gerade darin liegt.

Doch die Frage, ob wir Seiendes jenseits unserer selbst erkennen

können, tritt noch deutlicher in ihrer Bedeutung hervor, wenn wir uns

fragen, ob vielleicht alle Kostbarkeit der Dinge und Personen, die diese

in sich zu besitzen scheinen, nur Illusionen sind.27 Ein solcher

Wertrelativismus28 würde den Menschen in die Wüste einer absurden,

in sich vollkommen wert- und sinnlosen Welt einschließen. Einem

27 Diese Frage nach dem objektiv Guten steht seit Platons Dialogen im

Mittelpunkt metaphysischen und ethischen Interesses. 28 Vgl. dazu besonders die eingehende Analyse und Überwindung des

ethischen Relativismus in D. von Hildebrand, Christliche Ethik, a. a O,

Kap. 9. Vgl. auch zu diesem Problem Fritz Wenisch, Die Objektivität der

Werte.

21

solchen Nihilismus29 gegenüber versuche ich, besonders im Anschluß

an Dietrich von Hildebrand, die Transzendenz des Menschen in der

Werterkenntnis darzulegen, in der der Mensch eine solche neutrale

Welt durchbricht und zu objektiven Werten gelangt. Die

allerentscheidendste Frage nach der Transzendenz des Menschen in der

Erkenntnis aber ist, ob er nur endliches Seiendes erkennen kann, vom

Sein selbst, vom absoluten Sein aber nichts weiß — oder ob es eine

Gotteserkenntnis gibt und wir etwas vom Licht des Vollkommenen

erkennen und damit die Grenzen des Endlichen übersteigen können.

Diese Frage kann in diesem Buch nicht mehr ausgeführt werden, aber

in ihr gipfelt die Grundfrage nach der Transzendenz des Menschen in

der Erkenntnis.30 Wenn ich auch nicht einmal die zuletzt aufgeworfene

Frage hier behandeln kann, obgleich sie zentral zum Thema dieser

Arbeit gehört, so möchte ich doch andeutungsweise noch weitere

prinzipiell neue Formen der Transzendenz des Menschen erwähnen,

29 Daß der Nihilismus im tiefsten Grunde eben darin liegt, daß aller

objektive "Sinn und Wert" geleugnet wird, hat F. Nietzsche mit größter

Schärfe gesehen. Vgl. Der Wille zur Macht, vor allem S. 10-28, aber auch,

S. 29-98. 30 Es bedarf wohl keiner längeren Erklärung, um zu sehen, was schon "auf

den ersten Blick" einleuchtet: Die Leugnung jener Transzendenz des

Menschen in der Erkenntnis, die darin liegt, daß er die Wirklichkeit, wie

sie in sich selbst ist, erkennen kann (und also nicht auf bloße "Phänomene

beschränkt ist), führt auch zu einem Immanentismus bezüglich der ent-

scheidendsten Frage nach der Transzendenz des Menschen in der

Erkenntnis, der Frage nach der Gotteserkenntnis. Wenn wir also die

Fähigkeit des Menschen und ihre Dimensionen zu voller philosophischer

Bewußtheit gebracht haben, in der Erkenntnis sich selbst und die eigenen

Bewußtseinszustände und Veranlagungen oder immanenten Aktvollzüge

zu transzendieren und die Wirklichkeit so zu erkennen, wie sie in sich

selber ist — dann haben wir damit jenen elementaren Immanentismus

überwunden, der von vornherein jede Möglichkeit einer Gotteserkenntnis

ausschließt. Andererseits haben wir damit noch nicht die

allerentscheidendste Frage nach, der Transzendenz des Menschen in der

Erkenntnis beantwortet: Ist der Mensch in seiner Erkenntnis auf das

endliche, kontingente Seiende beschränkt oder kann er auch dieses

erkennend überschreiten und etwas vom Sein selbst, vom Absoluten, von

Gott erkennen?

22

damit die verschiedenen Transzendenzbegriffe und der Gesamtrahmen

sichtbar werden, in dem die folgenden Untersuchungen stehen.

In eine grundsätzlich neue Richtung geht die Frage, die man als die

nach der Transzendenz des Menschen in der Wertantwort31 bezeichnen

kann. Ist der Mensch in sein immanentes Lust- und Glücksstreben

eingekerkert, und vermag er alle Wirklichkeit nur unter dem

Gesichtspunkt seiner eigenen Entelechie zu betrachten — oder kann

der einem Gute innewohnende Wert, z. B. die Kostbarkeit, die eine

andere Person in sich besitzt, als solche seinen Willen und sein Herz

motivieren? Kann der Mensch "Antworten" geben, einfach weil sie

einem Gut gebühren,32 Handlungen setzen, einfach damit etwas Gutes

realisiert werde? Die Grenze, die der Mensch damit überschritte, wären

jene immanenten Strebungen des Eigenlebens,33 die der Hedonismus

oder Eudaimonismus als einzige Grundmotive des Menschen

betrachtet. Die sittlich gute Antwort wäre die höchste Form dieser

Wertantwort, in der der Mensch sich selbst transzendieren konnte.

Besitzt der Mensch Freiheit, so kann er ferner jene Gesetze seiner

physiologischen Konstitution und psychischen Anlagen, jene

Umstände des Milieus und Zeitgeistes transzendieren, von denen der

Determinismus in seinen verschiedenen Spielarten behauptet, daß sie

ihn gänzlich bestimmen. Dieser stellt daher eine ganz elementare Form

des Immanentismus dar, da er die Freiheit leugnet, die die Person

überhaupt erst zur Person macht und die in allen Dimensionen

personaler Transzendenz, besonders aber in der sittlichen Wertantwort

vorausgesetzt ist.

In einem radikial neuen Sinn sprechen wir von Transzendenz als

Unsterblichkeit. Die Frage ist hier: Gibt es ein Leben jenseits der

Grenze des Todes? Ohne Unsterblichkeit leben wir im "Schatten des

Todes". Da ein einfachhin endlos verlängertes menschliches Leben

seines eigentlichen Sinnes beraubt wäre, müssen wir weiterfragen: Gibt

es ein unsterbliches Leben in der vollen Erkenntnis Gottes, das dann

31 Diesen von ihm selbst geprägten entscheidenden Begriff hat D. von Hil-

debrand in Christliche Ethik, Kap. 17, eingehend analysiert und dabei m.

E. eine für die gesamte Ethik und Metaphysik der Person fundamentale

Wirklichkeit herausgearbeitet. 32 Die grundlegende Beziehung des Gebührens wird a. a. O., Kap. 18,

dargelegt. 33 Vgl. D. v. Hildebrand, Eigenleben und Transzendenz.

23

nicht nur ein Überschreiten der Grenze des Todes wäre, sondern auch

alles Bruchstückhafte und Endliche unserer jetzigen Erkenntnis

überstiege und überdies in Richtung auf die wertantwortende Hingabe

von unendlicher Transzendenz wäre? Hier gipfeln alle Fragen nach der

Transzendenz, und hier allein fände das Wort Pascals seine Erfüllung:

"L'homme passe infiniment l'homme."34 — "Der Mensch übersteigt

unendlich den Menschen." Diese Frage nach der Transzendenz als

ewigem Leben35 aber läßt sich letztlich von der menschlichen

Erkenntnis her nicht endgültig beantworten, und so taucht hier eine

ganz neue Bedeutung von Transzendenz auf: nämlich einerseits als ein

die Grenzen der menschlichen Erkenntnis transzendierender Glaube

und andererseits als das Licht der Offenbarung, das alle natürlichen

Erfahrungen transzendiert, und der Einbruch, die "Erscheinung" des

absoluten, transzendenten Gottes in die Immanenz der Welt ist. —

Diese letzte Frage nach der Transzendenz des Menschen übersteigt aber

schon die philosophische Erkenntnis.

Transzendenz als objekeives Verhältnis zweier Wirklichkeiten

In einem ganz anderen Sinne versteht man unter "Transzendenz" nicht

mehr eine Fähigkeit der Person, ein über Grenzen Hinausschreiten,

sondern vielmehr die objektive Tatsache, daß eine Wirklichkeit jenseits

des Seins und der Grenzen einer andern Wirklichkeit ist.

34 Vgl. Blaise Pascal, Oeuvres completes, S. 515 (Fr. 131-434). 35 Es ist offenkundig, daß nicht nur schon die größten Philosophen der

Antike die Unsterblichkeit der Seele erkannten, sondern daß diese Tran-

szendenz als ewiges Leben wesenhaft zu jeder christlichen Lehre gehört.

Es sei hier erwähnt, daß an seine Stelle heute bei vielen Theologen eine

Auffassung tritt, in der "Transzendenz" nur noch das zukünftige

geschichtliche Leben bedeutet im Sinne von Ernst Blochs Prinzip

Hoffnung oder im Sinne der Vorstellungen einer "neuen Menschheit" bei

Herbert Marcuse. Ist es da nicht beschämend, daß Marcuse solchen

Theologen sagen muß, daß diese Auffassung mit jedem Christentum

unverträglich ist? (Vgl. "Neues Forum" XV/176-177. August/September

1968) Vgl. auch D. von Hildebrand, Das trojanische Pferd in der Stadt

Gottes, Kap. 19.

24

In diesem Sinn transzendiert der Mensch alle materiellen und

animalischen Gebilde; er steht in seinen personalen Akten "jenseits"

der ihnen immanenten Gesetze.

Vor allem meinen wir "Transzendenz" in diesem objektiven Sinn, wenn

wir sagen: "Gott ist (der Welt) transzendent." Die Frage, ob es jenseits

dieser Welt und der Geschichte ein absolutes Sein gibt, was der

Atheismus, Historismus oder Pantheismus in allen seinen Formen

leugnet, ist die Frage nach der Transzendenz Gottes in diesem Sinne,

die der hl. Augustinus in die Worte faßt: "Causa itaque rerum, quae

facit nec fit, Deus est."36

Transzendenz als das Sein jenseits der menschlichen Erkenntnis

Zu den beiden ersten Grundbedeutungen des Wortes "Transzendenz"

tritt noch eine dritte hinzu: Man kann damit jenes Sein meinen, das

jenseits der menschlichen Erkenntnisgrenze liegt. Solange man

darunter nur die relative und zufällige Erkenntnisgrenze versteht, die

sich sowohl beim Individuum als auch bei der Menschheit ständig

verschiebt, so kann man alles (etwa das naturwissenschaftlicher

Forschung noch offenstehende) Seiende, das der Mensch de facto noch

nicht erkannt hat, "transzendent" nennen, was aber nicht sinnvoll

scheint.

Im jetzigen Zusammenhang meine ich mit dem Transzendenzbegriff

daher nur jenes Sein, das dem Menschen in seiner Erfahrungswelt

prinzipiell nicht gegeben ist, die Fülle jenes Seins, das der Mensch auf

Grund der Grenzen seiner natürlichen Erkenntniskräfte niemals

unmittelbar voll berührt.37

36 Augustinus, De Civitate Dei, V, X. 37 N. Hartmann macht in seiner Metaphysik der Erkenntnis, 8. Kap., S. 88

f., ähnliche Unterschiede, die dann in seiner Erkenntnislehre eine große

Rolle spielen. Dem Transzendenten im Sinne des Erkannten (an sich,

Seienden), das also Objekt der Erkenntnis ist, stellt er das Unerkannte

(jenseits der relativen Erkenntnisgrenze) und das Unerkennbare "Transob-

jektive" (jenseits der allgemeinmenschlichen Erkenntnisgrenze)

gegenüber. Ein genaueres Eingehen auf diese Terminologie ist hier nicht

möglich. Noch problematischer sind die Begriffe des "Transintelligiblen"

und "Irrationalen" (a. a. O., S. 90). Am ehesten trifft N. Hartmann den

gemeinten Unterschied im III. Teil (Kap. 33) seines Werkes, a. a. O., S. 24,

25

Gibt es also, so können wir uns fragen, eine Wirklichkeit, die nicht nur

faktisch vom Menschen noch nicht erforscht ist, sondern die prinzipiell

jenseits seiner Erkenntnis- und Erfahrungsgrenze liegt?

Daß es ein solches prinzipiell menschlicher Erkenntnis transzendentes

Sein gibt, wäre sicher, nachdem wir eindeutig zu einer philosophischen

Gotteserkenntnis gelangt sind. Damit hätten wir mit Gewißheit die

Existenz eines unendlichen Wesens erkannt, das uns in der jetzigen

Erfahrung nicht unmittelbar selbst gegenwärtig und gegeben ist, wie

uns andere Menschen oder die Welt gegeben sind. Daß ein solches Sein

existiert und damit die prinzipiellen "Grenzen" menschlicher

Erkenntnis bezüglich dieses "transzendenten Seins" können wir also

erst sehen, wenn wir auch die Größe der Erkenntnis des Menschen

begreifen,38 die ihn dazu befähigt, die Existenz und gewisse

Wesenseigenschaften eines unendlichen Seins zu erfassen, das

prinzipiell unsere menschliche Erkenntnis übersteigt.39

Die Verkündung der "absoluten Transzendenz" als Immanentismus

Und hier stoßen wir auf die heute so verbreitete eigentümliche

Begriffsverschiebung, die darauf hinausläuft, daß "Transzendenz"

bedeutet, daß man den Menschen vollkommen in seine Immanenz

einsperrt.

8 f.: "... im Wesen der Erkenntnis, als einer an die inneren Bedingtheiten

realer Subjekte unlösbaren Funktion, wurzelt sowohl die relative

Erkenntnisgrenze (Objektionsgrenze) als auch die absolute

Erkennbarkeitsgrenze (Rationalitätsgrenze)...; beide bestehen nicht am

Seienden als solchen, sondern nur für das erkennende Subjekt... ein

andersgeartetes Erkennendes, als das menschliche Subjekt, hätte zweifellos

andere Erkenntnisgrenzen in derselben Welt des Seienden, vielleicht auch

gar keine." A. a. O., S. 249: "es gibt nicht das an sich Irrationale, es gibt

nur das für uns Irrationale." (A. a. O., s. 250.) 38 "Die Größe und das Elend des Menschen" ist ja deshalb der in tiefer

gegenseitiger Beziehung stehende Doppelaspekt des Menschen, der im

Mittelpunkt der Philosophie Pascals steht. Vgl. Blaise Pascal, Oeuvres

completes, S. 506-528. (fr. 53-202, die Pascal selbst noch klassifizierte

unter den Titeln "grandeur", "misère", "contrariétés" etc.) 39 Das Wesen der philosophischen Gotteserkenntnis und der zentralen

Gegebenheiten der "Analogie" wird in der schon erwähnten Fortsetzung

dieser Arbeit eingehend behandelt werden.

26

Wir meinen jenen Begriff der "absoluten Transzendenz", wie er bei

Karl Jaspers und vielen modernen Philosophen und Theologen

verwendet wird. Wenn man nämlich die radikale Unerkennbarkeit der

"Dinge an sich", der Wirklichkeit in sich selbst — oder auch wenn man

die gänzliche Unerkennbarkeit Gottes behauptet, dann erhalten die

Ausdrücke "absolute Transzendenz der Wahrheit" oder "absolute

Transzendenz Gottes" einen Charakter, der nur scheinbar mit dem

letztgenannten zusammenfällt, in Wirklichkeit ihm entgegengesetzt

ist.40

Man meint hier nämlich nicht das absolute Sein, das durch seine

absolute Fülle unsere Erkenntnis unendlich übersteigt (dessen Existenz

und gewisse Wesenseigenschaften wir aber erkennen können, durch

welche Größe unserer Erkenntnis wir eben wissen, daß dieses Sein alle

unsere jetzige Erfahrung unendlich übersteigt), sondern einfachhin ein

uns schlechthin Unbekanntes, das ebensogut das Nichts als Gott sein

40 In dem hier gemeinten Sinn verwendet etwa K Jaspers sehr oft den

Transzendenzbegriff. Vgl. etwa den III. Bd. seiner dreibändigen

Philosophie, S. 2 ff., S. 6 R., S. 41 f., S. 43 ff., wo sich der Versuch findet,

das Sein als Transzendenz, als jenseits von Subjekt und Objekt, von Sein

und Nichts, als letztlich, völlig unerkennbar zu bestimmen. Vgl. etwa auch

dasselbe in Jaspers, Nietzsche, Kap. 2. Vor allem S. 194 ff., wo Jaspers in

der Auslegung des Nietzsche-Wortes "nichts ist wahr, alles ist erlaubt"

diesen Begriff der "absoluten Transzendenz" als des "absolut

Unbestimmbaren" entwickelt. Diesen Gedanken findet man schon im

plotinischen Begriff des En und dann bei einer großen Zahl von Denkern,

etwa bei John Scotus Eriugena oder Nikolaus von Cues bis hin zur neueren

Philosophie bei Hegel, Schelling, aber besonders auch in M. Heideggers

Seinsbegriff. Von dort aus wirkte sich dann dieser Begriff der "absoluten

Transzendenz" besonders auf viele Theologen, zunächst evangelische,

dann auch katholische, aus. In einer Fortsetzung dieser Arbeit, einer

Abhandlung über die Gotteserkenntnis, soll dieses Thema ausführlich

behandelt werden. Inwiefern dieser Begriff der "Transzendenz" auch dem

Kantischen System zugrunde liegt, wird im 11. Teil dieses Buches

behandelt werden. Vgl. dazu auch F. Leist, Transzendenz, transzendent und

transzendental, a. a. O., S. 297 ff. Auf diesem Transzendenzbegriff beruht

ferner die Erklärung der Notwendigkeit des Pluralismus in Metaphysik und

Religion bei Franz Kröner, Zur transzendenten Metaphysik, a. a. O., S. 142

ff.

27

könnte. Absolute Transzendenz der Wahrheit heißt hier einfach

Agnostizismus, und das ist radikales Eingesperrtsein in unsere

Immanenz.

Eine große Verwirrung ist dadurch verbreitet worden, daß sich hinter

dem heute meist verbreiteten Transzendenzbegriff41 die Leugnung jeder

Transzendenz des Menschen verbirgt.

Wieder ist es F. Nietzsche, der diese Auffassung des Menschen als den

radikalen Immanentismus aufdeckt, den sie darstellt:

"Metaphysische Welt. — Es ist wahr, es könnte eine metaphysische

Welt geben; die absolute Möglichkeit davon ist kaum zu bekämpfen.

Wir sehen alle Dinge durch den Menschenkopf an und können diesen

Kopf nicht abschneiden; während doch die Frage übrigbleibt, was von

der Welt noch da wäre, wenn man ihn doch abgeschnitten hätte."

(Genau dies nennt Jaspers "die absolute Transzendenz".)

"Dies ist ein rein wissenschaftliches Problem und nicht sehr geeignet,

den Menschen Sorge zu machen; aber alles, was ihnen bisher

metaphysische Annahmen wertvoll, schreckenvoll, lustvoll gemacht,

was sie erzeugt hat, ist Leidenschaft, Irrtum und Selbstbetrug; die

allerschlechtesten Methoden der Erkenntnis, nicht die allerbesten,

haben daran glauben lehren.

Wenn man diese Methode als das Fundament aller vorhandenen

Religionen und Metaphysiken aufgedeckt hat, hat man sie widerlegt!

Dann bleibe immer noch jene Möglichkeit übrig; aber mit ihr kann man

gar nichts anfangen, geschweige denn, daß man Glück, Heil und Leben

von den Spinnenfäden einer solchen Möglichkeit abhängen lassen

dürfte. — Denn man könnte von dieser metaphysischen Welt gar nichts

aussagen als ein Anderssein, ein uns unzugängliches, unbegreifliches

Anderssein; es wäre ein Ding mit negativen Eigenschaften. — Wäre

die Existenz einer solchen Welt auch noch so gut bewiesen, so stünde

41 Außer diesem gibt es heute, wie schon erwähnt, einen wohl ebenso ver-

breiteten "Transzendenz"-Begriff, hinter dem sich eine Form des

Immanentismus verbirgt: die historisch zukünftige, die gegenwärtigen

Mängel angeblich transzendierende Gesellschaft im Sinne des Marxismus,

H. Marcuses oder vieler "Revolutionstheologen". Vgl. dazu die

entscheidende Analyse der Wesensunterschiede zwischen den beiden

äquivokerweise mit "Zukunft" bezeichneten Wirklichkeiten (ewiges Leben

und historische Zukunft) in D. von Hildebrand, Das trojanische Pferd in

der Stadt Gottes, S. 272 ff. Vgl. auch Fußnote 35 dieser Einleitung.

28

doch fest, daß die gleichgültigste aller Erkenntnisse eben ihre

Erkenntnis wäre: noch gleichgültiger als dem Schiffer in Sturmesgefahr

die Erkenntnis von der chemischen Analyse des Wassers sein muß."42

Damit kommen wir wieder zu unserer Grundfrage. Denn auch in dieser

Stelle wird der letzte Ernst deutlich, den die Frage nach der

Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis besitzt.

42 Vgl. Menschliches Allzumenschliches, I. Bd., 9, in: Ne. We. Bd. I, S. 452.

29

Das Thema der Arbeit

und einige methodische Vorüberlegungen

Die Grundthemen der Arbeit

Im ersten Teil dieser Arbeit soll das Wesen jeglichen Erkennens

erforscht werden, wie wir es nicht nur in den höchsten Formen der

Erkenntnis finden, sondern sogar in einer einfachen

'Sinneswahrnehmung'. Dabei gilt es, auch jene Gegebenheiten (der

Subjekt-Objekt-Beziehung, der Rezeptivität etc.) herauszuarbeiten, die

"Vorstufen" und Elemente der eigentlichen Transzendenz jeden

Erkennens bilden, die darin liegt, daß, im Gegensatz zu jeder

Täuschung, die Person die ihrem Erkenntnisakt transzendente

Wirklichkeit berührt. Daß "Transzendenz" in diesem Sinn ein im

Wesen und der Struktur des Erkennens gegründetes und kein von außen

hinzutretendes Merkmal jeglicher Erkenntnis ist, das bloß Sache der

Definition wäre, soll hauptsächlich auf zwei Wegen erwiesen werden.

Erstens soll die Erkenntnis und ihre wesenhaft rezeptive Transzendenz

von allen Formen spontaner Transzendenz abgegrenzt werden, die in

vielen Akten liegt, die eng mit dem Erkennen verbunden sind und

deshalb oft mit ihm verwechselt werden. Zweitens wird noch im ersten

Teil der Arbeit das Wesen des Erkennens im engeren Sinn

herausgearbeitet werden, in dem weder Täuschung noch Irrtum sein

kann, während sich uns in einem davon zu unterscheidenden Erkennen

im weiteren Sinn das Seiende nur durch gewisse Interpretationen oder

"Glaubenselemente" hindurch erschließt, in denen Täuschung oder

Irrtum möglich ist.

Auf dem Hintergrund dieser Unterscheidungen wird im II. Teil der

Arbeit die für jede Erkenntnislehre und Metaphysik entscheidende

Frage behandelt:

Wo ist uns in unserem "subjektiven" Erkenntnisakt die "an sich"

seiende, von unserem Erkennen vollkommen unabhängige

Wirklichkeit als solche gegeben und wo können wir uns über ihre

autonome Realität unmöglich täuschen?

Diese Frage läßt sich in zwei auflösen: 1. Welche Wirklichkeiten

"beanspruchen" auf Grund ihres Wesens, nicht bloß für den

menschlichen (oder irgendeinen) Geist sich konstituierende "Aspekte"

und "Erscheinungen" darzustellen, sondern "an sich" zu sein? 2. Wo

können wir diese Wirklichkeiten mit solcher Unmittelbarkeit und

30

Gewißheit berühren, daß ihre metaphysische, von uns und unsern

Akten unabhängige Existenz absolut gewiß ist?43

Die vorliegende Arbeit ist also sowohl erkenntnistheoretisch als auch

metaphysisch. Gegenüber jeder Beschränkung auf eine Beschreibung

von "bloßen Phänomenen" zielt sie vielmehr auf möglichst

durchgeklärte Einsichten in das letzte, metaphysische Wesen der

Erkenntnis und grundlegender Gegenstände der Erkenntnis ab.

Der Ausgangspunkt der folgenden Untersuchungen vom bewußten Akt

des Erkennens

In diesen Untersuchungen gehe ich von dem uns eindeutig gegebenen

bewußten Akt des Erkennens aus und wende mich eben der

Transzendenz zu, die in unserem bewußten, erkennenden Berühren

eines Gegenstandes liegt. Denn die Person ist zugleich allem andern

Seienden gegenüber etwas radikal Neues und zugleich der Höhepunkt

der Wirklichkeit, der eigentlichste Gegenstand der Metaphysik, und

deshalb kann man sich nicht genug gerade dem spezifischen Wesen des

bewußten, personalen Seins zuwenden, um wirklich das "wahre" Sein

zu erkennen und sich dem "höchsten Sein" zu nähern. Statt die

intelligiblen Wesenszüge des Erkennens zu erforschen, dieses

wesenhaft bewußten Aktes, der sich nicht nur von allen mechanischen

und physiologischen Vorgängen, sondern auch von allem Unbewußten,

von aller jenseits des bewußten Seins liegenden "Gesetzlichkeit", von

allen impersonal-geistigen Gebilden durch eine Welt unterscheidet,

versäumt man es oft, sich in einer eingehenden Untersuchung dem

Wesen dieses Aktes zuzuwenden, der ja gerade in der bewußten,

ausdrücklichen Beziehung der Person zur Welt besteht; man springt

sofort in eine keineswegs gegebene Sphäre über, aus der man die

Erkenntnis "erklären" möchte. Man sucht ihr Wesen "hinter" dem

bewußten Akt, entweder in einer impersonalen "Geiststruktur" oder in

einem unbewußten Teil der menschlichen Seele, oder auch in

physiologischen Prozessen, die mit den Erkenntnisakten in Beziehung

stehen. Man wendet sich dem Wesen des bewußt erlebten Erkennens

43 Diese Fragen beziehen sich vor allem auf die reale Existenz der eigenen

Person sowie anderer Personen, auf Raum und Zeit, auf gewisse Eigen-

schaften des materiellen Seins sowie auf die Existenz objektiver Güter und

Werte und notwendiger Wesenheiten und an höchster Stelle auf Gott.

31

gar nicht zu, reduziert es sofort auf etwas anderes und sagt, es sei

"nichts als" ein Epiphänomen eines physiologischen Prozesses, es sei

"nur" das "Zu-sich-Kommen" eines (impersonalen) "objektiven

Geistes", es sei "nichts als" die "Synthesis" einer nicht gegebenen

"transzendentalen Apperzeption" usw. Der bewußte Akt wird ganz

umgedeutet und bestenfalls als ein sekundärer, untergeordneter

"Aspekt" betrachtet.

Demgegenüber soll im Folgenden der bewußte, personale Akt des

Erkennens voll ernst genommen und gezeigt werden, daß er eine

intelligible Wesenheit besitzt, deren Merkmale zunächst analysiert

werden sollen, wie sie sich allgemein in jedem Erkennen finden. Im II.

Teil der Arbeit wird dann sichtbar werden, daß ein angenommenes

"schöpferisches Prinzip" jenseits des bewußten Erkenntnisaktes

niemals dessen "metaphysisches Wesen" gegenüber einem "bloß

psychologischen" sein könnte, sondern dem Erkennen gegenüber

höchstens ein zweites, uns unbewußtes Prinzip. Außer dieser

notwendig aus einer solchen idealistischen, tiefenpsychologischen oder

soziologischen Ansetzung sich ergebenden "Dualität" zwischen dem

bewußten ("empirischen") und dem unbewußten ("transzendentalen")

"Ich" wird sich dann aber auch zeigen, daß niemals ein "in sich

unbewußtes" (geistiges oder materielles) Sein eine solche ungeheure

angenommene "Schöpfertätigkeit" vollbringen könnte, sondern

höchstens ein jenseits unseres Geistes existierender anderer personaler

Geist. Es wird dann allerdings im II. Teil ausgeführt werden, welche

Wirklichkeiten wir im Erkennen in einer über allen Zweifel erhabenen

Transzendenz derart berühren, daß uns auch kein "spiritus malignus"

jemals über ihre Existenz täuschen könnte. Schließlich kann auch die

Unmöglichkeit der Existenz eines solchen "allmächtigen Betrügers"

eingesehen werden. In Auseinandersetzung mit der Spätphilosophie

Edmund Husserls wird allgemein die Widersprüchlichkeit und

Vieldeutigkeit der idealistischen Philosophie des "transzendentalen

ego" und vor allem die einzigartige, von Husserl geleugnete

Transzendenz aufgezeigt werden, die in der Erkenntnis der

real-existierenden Welt liegt.

Die Rolle der Untersuchungen des ersten Teils für den zweiten

Die erwähnten entscheidendsten Fragen jeder Erkenntnislehre und

Metaphysik können nur dann eine Antwort finden, wenn man schon

32

jene Urform der Transzendenz und die Elemente verstanden hat, die in

jeglicher Erkenntnis eingeschlossen sind; ja allein dann können jene

Fragen nach der Transzendenz unserer Erkenntnis im metaphysischen

Sinn überhaupt erst richtig gestellt werden.

Wenn also im ersten Teil diejenige Form der Transzendenz betrachtet

wird, die schon der Wahrnehmung eines Hauses oder seiner Farbe

eigen ist, so wird doch durch diese Untersuchungen viel Licht auf jene

Transzendenz metaphysischer Erkenntnis fallen, die im II. Teil

behandelt werden soll. Denn die Wesenszüge jeglichen Erkennens, wie

die Rezeptivität oder die Intentionalität sind ja auch Wesenszüge der

"metaphysischen" Erkenntnis, die man daher niemals verstehen kann,

solange man die allgemeinen Wesensmerkmale jeglichen Erkennens

mißversteht. Und damit ist der vielleicht wichtigste Grund für die

Untersuchungen des I. Teils schon berührt.

Denn im Laufe der Geschichte der Philosophie und besonders im

gegenwärtigen chaotischen Zustand, in dem sich die Philosophie

weithin befindet, werden gerade für die philosophische, für die

metaphysische Erkenntnis jene Wesenszüge geleugnet, die für alle

Erkenntnis entscheidend sind und die die Erkenntnis überhaupt erst zur

Erkenntnis machen. Die Intentionalität und Rezeptivität der

Sinneswahrnehmung wurde noch leichter anerkannt als der

empfangende Grundzug der Wesenseinsichten. Gerade hier, wo die

empfangende, intentionale Beziehung des Geistes zum Gegenstand

ihren Höhepunkt erreicht, wo die Erkenntnis nicht nur vom Schaffen

verschieden ist (wie überall), sondern wo jegliches Schaffen (sei es

bewußt oder unbewußt) völlig ausgeschlossen ist, weil der Gegenstand

dieser Erkenntnis in sich notwendig ist und als Seinsbereich jede

"Zufälligkeit" und "Erfindbarkeit" ausschließt, die für alle Phantasie

und Schöpfung vorausgesetzt ist, und die in dem Seinsbereich vorliegt,

dem etwa die Wahrnehmung oder alle Arten von Realkonstatierung

zugeordnet sind, gerade hier also, in Metaphysik und Philosophie

leugnen fast alle neueren Philosophen den rezeptiven Grundcharakter

der Erkenntnis und deuten ihn in einen schöpferischen, spontanen um.

In Wirklichkeit aber lassen ausschließlich philosophische Irrtümer eine

spontan-schöpferische Tätigkeit bezüglich ihres Gegenstandes zu,

philosophische Erkenntnis aber ist mehr als alle übrige empfangend.44

44 Damit soll freilich nicht geleugnet werden, daß die Akte der Begriffs-

bildung und des Urteilens spontaner Natur sind, was zu Ende des ersten

33

Außerdem fällt noch aus einem anderen Grunde durch die

Untersuchungen des I. Teiles viel Licht auf jene des zweiten. Denn

wenn uns auch eine Wahrnehmung einerseits prinzipiell täuschen kann,

anderseits sich zum Teil nicht auf von Menschen unabhängige Aspekte

der Wirklichkeit bezieht, so ist doch jene Erkenntnis, in der wir das

notwendige Wesen jeglicher Erkenntnis erkennen, jene Erforschung

letztlich intelligibler Wesensunterschiede, wie zwischen Erkenntnis

und Irrtum, die wir im ersten Teil vornehmen, metaphysischer Natur.

Denn sie bezieht sich 1. auf etwas, das niemals ein bloß für den

Menschen sich konstituierender Aspekt der Wirklichkeit sein kann,

sondern auf das, was Erkenntnis an sich ist und 2. auf eine intelligible

Wesenheit, die uns mit einer über alle Täuschungsmöglichkeit

erhabenen Gewißheit gegeben ist. Nicht jegliche Erkenntnis, wohl aber

die Erkenntnis des Wesens jeglicher Erkenntnis hat also einen

Gegenstand, der sich uns in seinem notwendigen, an sich seienden Sein

erschließt. Im II. Teil wird dann diese Art von Erkenntnis, die wir im I.

Teil anwandten, zum Thema der Untersuchungen erhoben werden.

Dann werden wir sehen, wie schon im ersten Teil der Schlüssel zur

Antwort auf die erwähnten wichtigsten Fragen liegt.

Die Methode dieser Arbeit

Die Grundmethode der philosophischen Erkenntnis wird dort

ausführlich behandelt werden: Es ist die Einsicht in notwendige und

intelligible Wesenheiten der Dinge und die in ihnen gründenden

Sachverhalte. Wie schon oftmals seit Platon und Aristoteles dargelegt

wurde, ist kein deduktiver Beweis sicherer als die (nicht immer weiter

beweisbaren) ihm zugrunde liegenden Prinzipien und

und im zweiten Kapitel des I. Teils behandelt wird. Auch gilt das über den

Ausschluß jeder spontan-schöpferischen Tätigkeit im Bereich der Philo-

sophie Gesagte in vollem Umfang nur von der philosophischen Erkenntnis

im engeren Sinn, der Wesenseinsicht. Ganz anders liegt der Fall bei

metaphysischen Spekulationen, die den Bereich des Gegebenen und Ein-

sichtigen verlassen und hypothetisch Theorien aufstellen, die eine

mögliche Antwort auf durch Einsicht unlösbare Fragen bieten. (Eine solche

Spekulation ist etwa die "prästabilierte Harmonie", die Leibniz u. a. zur

Erklärung der geheimnisvollen und von ihm für unmöglich gehaltenen

"Wechselwirkung" von Leib und Seele annahm.)

34

Deduktionsgesetze, die ausschließlich in einer originären Einsicht

gegeben sein können. Und selbst ein Positivismus, der nur empirische

Realkonstatierung und Induktion anerkennen möchte, setzt nicht

empirisch nachweisbare, sondern letztlich durch sich selbst evidente

Prinzipien der Induktion voraus. Dies nachzuweisen ist hier nicht der

Ort. Hauptsächlicher Gegenstand der Philosophie sind intelligible,

notwendige Wesenheiten, die nur in der philosophischen Urmethode

der Wesenseinsicht oder Wesensschau erfaßt werden können, wie sie

im II. Teil der Arbeit breit behandelt wird. Daß es sich bei den in

solchen Einsichten erfaßten Wahrheiten keineswegs um bloße

Behauptungen handelt, die grundlos wären und nicht vielmehr auf

Grund ihrer Evidenz keiner weiteren Begründung bedürftig oder fähig

sind, kann nur sehr indirekt auf drei Wegen gezeigt werden, die ich

soweit als möglich beschreiten werde.

Erstens können die behandelten Sachverhalte dadurch zu deutlicher

und allgemein anzuerkennender Gegebenheit gebracht werden, daß die

Unterscheidung zusammenhängender, aber verschiedener

Wirklichkeiten klar durchgeführt wird, indem man die Merkmale

anfahrt, die dann wohl unbestreitbar auf eine, nicht aber auf eine andere

der erforschten Wirklichkeiten zutreffen.

Zweitens kann bei vielen Wahrheiten gezeigt werden, daß ihre

Leugnung sie notwendig wieder stillschweigend voraussetzt.

Drittens kann oft nachgewiesen werden — eine Methode, die Platon in

seinen Dialogen häufig verwendet —, daß ein Philosoph das, was er

an einer Stelle leugnet, an einer andern selbst sieht oder zugibt.

Das alles sind sicherlich nur indirekte Hinweise darauf, daß es sich in

der Philosophie nicht um blinde Behauptungen, sondern um evidente

Sachverhalte und Wesenszusammenhänge handelt, die auf Grund ihres

unableitbaren Gehaltes nur unmittelbar eingesehen werden können; so

gewissenhaft auch die Arbeit sein muß, die zu einer Herausarbeitung

und systematischen Darstellung dieser evidenten Sachverhalte führt, so

kann sie dem Leser doch nur den Weg zu diesen durch nichts

ersetzbaren Einsichten weisen. Daß es unabhängig von diesen

Einsichten kein äußeres "Wahrheitskriterium" gibt, ist nicht ein

Mangel, sondern gründet vielmehr in der Würde der Wesenseinsicht,

die auch im Leben die zentrale Urform der Erkenntnis ist und für die

35

das Wort Spinozas zutrifft, daß die Wahrheit sowohl sich selbst als

auch das Falsche offenbart.45

Es muß schon hier betont werden, daß unsere Methode im Grunde ein

schlichtes Erfassen in sich notwendiger, intelligibler Sachverhalte ist

und keinerlei subjektives Interpretieren bzw. Spekulieren. Die in

Wahrheit bestehenden und mit Evidenz eingesehenen Sachverhalte

sollen in ihren Zusammenhängen zu solcher Klarheit gebracht werden,

daß ihre innere Intelligibilität offenbar wird. Dabei weiß jeder, der es

einmal versucht hat, welch sorgfältige Prüfung, welch mühsame

Arbeit, welch unausgesetztes Auf-der-Hut-Sein vor vorschnellen

Urteilen nötig ist, um die wirklich notwendigen, eindeutig gegebenen

Wesenssachverhalte ohne Verwechslungen und Irrtümer

herauszuarbeiten. So einleuchtend und "einfach" auch diese

Wesenssachverhalte sind, so schwierig ist es, sie bis zu eindeutiger

Gegebenheit durchzuklären.

Es ist aber ein weit verbreitetes Vorurteil, diese große philosophische

Arbeit der Durchklärung von Wesenssachverhalten zu verkennen und

zugleich zu meinen, das "Sehen" des Gegebenen, die

"Phänomenologie" der Erkenntnis, die als ,,Beschreibung'' von

"Erscheinungen" mißverstanden wird, bedürfe nachträglich einer

"Theorie", d. h. zur Erklärung des Erschauten herangetragener

Hypo-Thesen. Diese etwa von N. Hartmann vertretene Auffassung

werden wir später zurückweisen.

Selbst an den wenigen Punkten, wo wir Sachverhalte untersuchen

werden, die uns nicht vollständig gegeben und nicht in sich evident sind

(etwa gewisse Sachverhalte bezüglich der objektiven Existenz der

Außenwelt), ist kein konstruktives Spekulieren erlaubt, sondern

vielmehr ein "Sehen" dessen erfordert, was die unmittelbar gegebenen

Sachverhalte uns eindeutig verbürgen. Es ist das Erkennen "im Spiegel

des unmittelbar Gegebenen" und nur in diesem klassischen Sinn

"Spekulation", zu der wir jedoch in dieser Arbeit nur an ganz wenigen

Stellen Zuflucht nehmen müssen.

45 Die gemeinte Stelle stammt aus der Kurzen Abhandlung und lautet: "Es

kann keine andere Klarheit geben, durch welche sie — die klaren Ideen —

klargemacht werden könnten. Daraus folgt, daß die Wahrheit sowohl sich

selbst als auch die Falschheit offenbart." II. XV. a. a. O.. S. 89.

36

I. Teil

Erkenntnis, Täuschung, Irrtum

Die in jedem Erkennen gelegene Transzendenz

37

1. KAPITEL

DIE INTENTIONALITÄT UND REZEPTIVITÄT

JEDER FORM VON ERKENNTNIS

Allgemeine Wesenszüge der Erkenntnis

Wie schon aus der Einleitung hervorgeht, wird in diesem Teil erstens

auch jene Erkenntnis behandelt, deren Gegenstand ein sich nur als

"Objekt" für eine Person konstituierender Aspekt der Wirklichkeit ist,

wie es etwa Farben oder Töne sind, die nicht unabhängig vom

perzipierenden Subjekt existieren.46 Der Begriff der Erkenntnis wird

zweitens (im Unterschied zum nächsten Teil der Arbeit) hier zunächst

insofern in einem weiteren Sinn verstanden, als er auch solche Akte

mitumfassen soll, in denen sich Wirkliches unserem Geiste nicht ohne

ein über die Erkenntnis im strengen Sinn hinausgehendes

Interpretations- bzw. Glaubenselement erschließt; in solchen Akten ist

prinzipiell eine Täuschungsmöglichkeit gegeben.

Bevor auf die Versuche eingegangen wird, die Erkenntnis

immanentistisch umzudeuten, soll versucht werden, frei von allen

Vorurteilen und Konstruktionen das Wesen des bewußten, personalen

Aktes der Erkenntnis zu betrachten und jene intelligiblen Wesenszüge

zu untersuchen, die in jeder Erkenntnis gefunden werden können, von

der schlichten Wahrnehmung eines "rot" bis zu den höchsten Formen

der Einsicht und des geistigen Erfassens. Zunächst möchte ich an Hand

von Texten Dietrich von Hildebrands einige Wesensmerkmale der

Erkenntnis anführen, die dann gegenüber den gegen sie erhobenen

immanentistischen Einwänden näher geklärt werden sollen.

Erkenntnis läßt sich auf nichts anderes zurückführen oder aus ihm

ableiten

46 Im V. Kapitel seines Werkes What is philosophy? hat Dietrich von Hilde-

brand gezeigt, wie die Objektivität (im Sinne des eigentlich gemeinten,

gültigen Aspekts) dieses humanen Aspekts der Außenwelt keineswegs da-

durch aufgehoben wird, daß er nicht "unabhängig" von jedem Wahrgenom-

menwerden besteht.

38

"Das Erkennen ist eine jener letzten Gegebenheiten, die sich nicht auf

irgend etwas anderes reduzieren lassen, die wir darum nicht

'definieren', auf die wir nur indirekt hinweisen können. Das eigentliche

Wesen des Erkennens läßt sich nur unmittelbar erfassen..."47

Die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt in der Erkenntnis ist eine

intentionale

"Mit der ganzen reichen Welt, die uns umgibt..., sind wir nicht nur

kausal48 verbunden, wie apersonale Gebilde, wie ein Stein, eine Pflanze,

ein Tier, sondern auch in dieser ganz einzigartigen Weise eines

geistigen Erfassens, jenes intentionalen Teilhabens an ihnen, jenes

geistigen Umfassens, wie es die Erkenntnis darstellt."

Erkennen ist ohne Person und Person ohne Erkennen unmöglich

47 Diese und die folgenden Stellen stammen aus Sinn philosophischen

Fragens und Erkennens I, 1 u. 2. Dietrich von Hildebrand hat dieselben

Themen noch ausführlicher in seiner umfassendsten

erkenntnistheoretischen Arbeit ausgeführt, in: What is philosophy?

(Kap. I), das demnächst in deutscher Übersetzung erscheinen soll.

Daß es sich bei diesem unmittelbaren Erfassen, bei der originären

Wesenseinsicht, um die rationalste Art der Erkenntnis handelt, in der

alle Prinzipien und alle unzurückführbaren, intelligiblen Data erfaßt

werden und auf der auch alle stringenten Deduktionen beruhen, hat

schon Aristoteles ausdrücklich betont (vgl. etwa 2. Analytik, vor allem

2-8; a. a. O., S. 16-34). Ich werde in den späteren Kapiteln ausführlich auf dieses Thema eingehen

und möchte hier nur noch darauf hinweisen, daß von Hildebrand in den

Prolegomena zu Christliche Ethik das Wesen dieser philosophischen

Grund-Methode, die er in den beiden angegebenen Werken ausführlich

entwickelt, kurz und klar dargestellt hat. 48 Dies ist zunächst im Gegensatz zur causa efficiens, der "Wirkursache"

verstanden. Aber dann auch im Gegensatz zur Material-, Formal- und

Finalursache. Es stellt überhaupt ein großes Verdienst Dietrich von

Hildebrands dar, ausdrücklich darauf hingewiesen zu haben, daß es außer

den vier von Aristoteles entdeckten noch viele andere metaphysische

Grundbeziehungen gibt, besonders im Reich der Personen.

39

"Wenn wir sagen können, daß das Sein der Person nicht gedacht

werden kann ohne ihre Fähigkeit zu erkennen, so kann anderseits auch

das Erkennen nicht gedacht werden ohne die geistige Person, ohne das

bewußte Sein derselben, ohne ihre intentionale Struktur und ohne ihre

Fähigkeit zu transzendieren. Es ist eine völlig einzigartige Berührung,

in die ein Seiendes mit einem anderen Seienden tritt, indem es dasselbe

erkennt. Sie ist nicht wie eine kausale Berührung bei Gegenständen

verschiedenster Art möglich, sondern sie setzt notwendig voraus, daß

das eine Seiende ein personales Subjekt ist, ein bewußt Seiendes."

Das Erkennen ist eine einseitige Berührung zwischen Subjekt und

Objekt, die keine Identität zwischen erkennendem Subjekt und

Erkanntem voraussetzt oder einschließt

"Und das Erkennen ist weiterhin eine einseitige Berührung, in der das

Objekt von dem Subjekt erfaßt wird, m. a. W. eine Berührung, die nur

eine Veränderung im Subjekt, nicht im erkannten Objekt bedeutet.

Aber diese Veränderung im Subjekt darf nicht als ein

Einbezogenwerden des erkannten Gegenstandes in unser personales

Sein umgedeutet werden... Wenn wir ein Orange sehen, so haben wir

an dem Orange in ganz eigenartiger Weise teil. Wir besitzen es geistig,

indem wir ein Bewußtsein von ihm haben. Aber diese intentionale

Berührung muß völlig von einer realen Seinsteilnahme getrennt

werden. Wir 'werden' nicht orange, indem wir das Orange sehen. . .

Das Erkennen vollziehen wir, es ist ein realer Bestandteil von uns. . .,

aber das erkannte Objekt ist dadurch, daß wir es erkennen, noch

keineswegs ein realer Bestandteil unseres personalen Seins."

Psychologistischer Immanentismus

Versuche, die Erkenntnis auf andere Wlrklichkeiten zurückzuführen

und allgemeine Gründe dafür

Will man sich das Wesen des Erkennens als Grundlage des gesamten

geistigen Lebens der Person zu voller philosophischer Gegebenheit

bringen, muß man dies in Auseinandersetzung mit den verbreiteten

Versuchen tun, Erkenntnis auf ganz andere Wirklichkeiten

zurückzuführen. Solche Reduktionsversuche gehen meist Hand in

Hand mit der Anwendung falscher Modellvorstellungen, bzw.

40

irreführender Analogien, nach denen man das Erkennen zu fassen sucht

und durch die man sein eigentliches Wesen verfälscht. Es sind dies

besonders Modellbilder aus dem Bereich des Körperlichen und des

Mechanischen.49

Unter dem Einfluß von Hegel und der sogenannten Lebensphilosophie

sind allerdings mehr Modellvorstellungen aus dem Reich des

organischen Lebens wirksam geworden;50 an die Stelle des

mechanistischen oder organistischen Bildes vom Menschen und der

Welt ist schließlich heute vielfach ein dynamisches Bild vom Menschen

getreten, in dem nicht mehr so sehr pflanzliches Leben in allen seinen

Dimensionen causa exemplaris ist, nach der man das Geistige deutet,

sondern eher Energieprozesse, Evolutionsprozesse, in deren vagen

Vorstellungen Bilder von materiellen wie von physiologischen,

organischen Prozessen ineinanderfließen, und wo dann seelische und

geistige Akte als von organischen und chemischen Prozessen erzeugt

angesehen werden.51

49 Im II. Teil der Arbeit wird deutlich, daß auch in der Erkenntnistheorie

Kants solche Modellbilder aus dem Mechanischen eine große Rolle

spielen. Es braucht wohl kaum erwähnt zu werten, welchen Einfluß solche

Vorstellungen in den kybernetisch orientierten Schulen der Psychologie,

Soziologie und Philosophie haben, wo die "programmierte Maschine" zum

herrschenden "anthropologischen" Leitbild erhoben wird. (Vgl. dazu etwa:

Akten des XIV. internationalen Kongresses für Philosophie, Wien, 11; a. a.

O.: "Kybernetik und Philosophie der Technik", bes. die Beiträge der Herren

H. L. Dreyfus (a. a. O., S. 493 ff.), Hans Titze (a. a. O., S. 560 ff; bes. Nr.

21, 23, 24, 33, 36); Ladislaus Tondl (a. a. O., S. 570 ff.) 50 Besonders deutlich tritt dies bei Hegel in der Phänomenologie des

Geistes zutage, (Vorrede, s. 12; S. 24/25; S. 44/45), wo dieses Bild des

organischen Lebens geradezu als das gesamte System beherrschend

erscheint. Vgl. dazu etwa auch Herbert Marcuse, Hegels Ontologie. . ., S.

270 ff., S. 347 ff., wo besonders klarwird, wie in der so verbreiteten

Auflösung allen Seins in die "Geschichtlichkeit" dieses Bild des

organischen Lebens verfälschend auftritt. Vgl. dazu auch die von J.

Hirschberger zitierten Stellen in seiner Geschichte der Philosophie, Bd. II,

S. 417 f., wo er auch auf dieses Phänomen hinweist. 51 Dies trifft auf fast sämtliche gehirnphysiologisch orientierte

Psychologen, wie etwa H. Rohracher zu, wenn sie die Sinnesempfindungen

und ähnliche Phänomene erklären wollen oder wenn sie überhaupt das

Verhältnis des Seelenlebens zu den Gehirnvorgängen beschreiben. Es trifft

41

Wie kommt es zu diesen irreführenden Körperbildern? Außer dem

schon in der Einleitung angedeuteten Vorurteil, wonach man das

personale Sein für eine "bloß psychologische", "bloß subjektive"

Wirklichkeit hält, sind es noch viele andere Gründe, die zu solchen

Reduktionsversuchen führen.

Da ist einmal die Schwierigkeit zu nennen, die personale geistige

Wirklichkeit zu erfassen, während sich das organische und materielle

Sein viel leichter beobachten läßt.

Dies rührt zunächst daher, daß eine Hauptquelle unseres Wissens über

Seelisches und Geistiges das eigene Erleben ist, in dem uns Freude,

Erkenntnis oder Willen in einer eigentümlichen "lateralen" Weise

bekannt werden, die später genauer behandelt wird und die ganz

verschieden ist von dem "frontalen" Bewußtsein von etwas in der

Wahrnehmung, das den Ausgangspunkt für alle wissenschaftliche oder

philosophische Forschung bildet.52 Während uns nun pflanzliches und

materielles Sein immer in dieser Weise gegeben ist, müssen wir unsere

seelischen Akte und Erlebnisse erst nachträglich in der Reflexion

"projizieren", um sie überhaupt zu Gegenständen der Erkenntnis zu

machen. Da wir etwa unsere Freude nicht im Vollzug selbst betrachten

können, müssen wir auf sie reflektieren, um sie zu einem Gegenstand

der Erkenntnis zu machen; das aber führt leicht zu Verfälschungen. Nur

weil diese Akte ein intelligibles Wesen besitzen, ist ihre Erkenntnis

allen sonstigen Wahrnehmungen an Tiefe und Sicherheit überlegen.

Außerdem läßt sich auch aus einem anderen Grund das organische und

materielle Sein viel leichter beobachten und erfassen als die Person.

Das Greifbare, Sichtbare, Meßbare, objektiv "Feststellbare" dieser

sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeiten läßt sie für viele als die causa

exemplaris aller Wirklichkeit erscheinen. Es bedarf einer viel größeren

Wachheit und Tiefe, um das Wesen der Person zu erfassen, nicht nur

weil das personale Sein in vielfacher Hinsicht in ein unergründliches

stark etwa auch auf Denker wie Teilhard de Chardin zu, wo "kosmische

Energien" und "Prozesse" fast zur Erklärung sämtlicher Gegebenheiten

herangezogen werden. vgl. dazu etwa H.-E. Hengstenberg, Mensch und

Materie, S. 84 ff., S. 101 ff. 52 Diese später genauer zu untersuchenden Unterschiede verdanke ich be-

sonders den erkenntnistheoretischen Vorlesungen D. von Hildebrands, in

denen dieser die erwähnten Probleme ausführlich und scharf analysiert hat

(1964 in Salzburg).

42

Geheimnis reicht, sondern weil es sich auch nicht sehen, greifen,

betasten, unmittelbar mit Instrumenten und Maschinen messen oder

experimentell feststellen läßt, was für viele Menschen die einzig

wissenschaftlichen Methoden sind. Nur die oberflächlichsten

Äußerungen der Person lassen sich auf diese Weise in der

experimentellen Psychologie erforschen, aber ihr eigentliches Sein und

Wesen ist unsichtbar, ungreifbar, unmeßbar. Es ist uns nur in einer

gänzlich eigenartigen Weise in der Erfahrung unmittelbar in uns selbst

gegenwärtig und in anderen Personen auf vielerlei Weise in einer

intuitiven Weise gegeben.

Die Begriffe und Worte fehlen uns, es entsprechend wiederzugeben;

tief sinnvolle Analogien aus dem Reich des Sichtbaren und Hörbaren

müssen von gefährlich irreführenden unterschieden werden.

Und am allerschwierigsten ist die philosophische Wesensanalyse der

notwendigen Wesenheiten des Seins und der Akte der Person in ihrer

Intelligibilität. Schwieriger noch als eine philosophische Einsicht in das

Wesen der räumlichen Bewegung oder die Deskription empirischer

Eigenschaften personalen Seins ist die philosophische Einsicht in das

notwendige und intelligible Wesen der Person und ihrer Akte. Zu der

Schwierigkeit philosophischer Wesensschau im allgemeinen, von der

Platon spricht,53 tritt hier noch jene hinzu, die auch das wache

vorphilosophische Verhältnis und der stets gegenwärtige, lebendige

Kontakt zu dem personalen Sein voraussetzt. Es gibt Menschen, die

keine intensive unmittelbare Beziehung zu dem unsichtbaren,

bewußten Sein anderer Personen und den unendlich differenzierten

Dimensionen intellektueller, geistiger, sittlicher Werte besitzen. Wie

leicht geht der Mensch in seinem Nachdenken nicht über die sichtbare

und greifbare Wirklichkeit hinaus und steigt kaum zu der Welt des

personalen Seins hinauf, das wir nicht mit den Sinnen wahrnehmen

können und das doch so real ist, daß alles materielle Sein damit nicht

verglichen werden kann. Wie leicht versinkt der Mensch gleichsam in

der leiblichen Wirklichkeit, begegnet selten einer andern Person

wirklich als einer Person, als einem Du, erkennt kaum die ungeheuren

53 Etwa in der Politeia, 6. Buch, oder in der ganzen Apologie. In What is

philosophy? S. 50 ff., wird ausführlich die Gefahr behandelt, in der

theoretischen Erkenntnis allgemeiner Zusammenhänge den unmittelbaren

Kontakt mit der Wirklichkeit zu verlieren und in falschen Verallgemei-

nerungen zu "räsonnieren".

43

Unterschiede zwischen verschiedenen Persönlichkeiten, erlebt kaum

die unbegrenzten Dimensionen geistiger und sittlicher Werte, nach

denen wir streben sollen, ist blind für das Drama von Gut und Böse, in

dem sich letztlich das Leben jedes Menschen abspielt.

Damit aber berühren wir schon einen Punkt, der über die allgemeine

Schwierigkeit, das personale Sein zu erfassen, hinausgeht. Die

Wahrheitserkenntnis eines Menschen hängt nicht nur von seinen

intellektuellen Fähigkeiten, sondern auch von seiner existentiellen

Grundeinstellung, von seiner wertantwortenden Grundhaltung ab.54

Wenn wir die Wahrheit erkennen, daß Gut und Böse die Achse der

geistigen Welt sind, wenn wir uns klar bewußt machen, daß es überaus

schwer ist, wider alle die an uns herantretenden Versuchungen, wider

allen Stolz und Eigenliebe die objektive Wahrheit und vor allem ein

objektives Sittengesetz, das wir erkennen können und dem wir uns

unterwerfen sollen, anzuerkennen und zu befolgen, wenn die Existenz

und Erkennbarkeit Gottes und einer sittlichen Wertordnung fordert, daß

wir unser Leben von der natürlichen Trägheit und Eigenliebe

"bekehren", dann ist es allzuverständlich, daß kaum etwas den

Menschen mehr locken muß, als die Realität einer objektiven Wahrheit,

die Realität objektiver Werte, eines von jeder Willkür unabhängigen

Maßstabs für sein Leben zu leugnen und damit sich selbst zu seinem

eigenen Herrn zu machen. Diese tief realistische Erkenntnis durchzieht

schon Platons Werke, und im Gorgias,55 vor allem aber auch in der

Erklärung des Höhlengleichnisses im Staat56 spricht Platon diese

Wahrheit erschütternd aus, daß die Menschen "das Licht der Wahrheit

hassen und ihre eigene Finsternis mehr lieben als das Licht." Dieser

tiefste Grund, warum man die Wirklichkeit des Geistigen leugnen, bzw.

das wahre Wesen der Person nicht wahrhaben möchte, kann hier nur

angedeutet werden, darf aber besonders heute, wo dies allgemein

verdrängt und vergessen wird, nicht unerwähnt bleiben. Denn hier liegt

sicher auch eine Hauptwurzel der Irrtümer über die Erkenntnis, in

denen man den Menschen von jeder objektiven, transzendenten

Wahrheit abschneidet.

54 Dies hat D. von Hildebrand in Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis

nachgewiesen, wo er die verschiedenen Formen der Wertblindheit

behandelt. 55 Vgl. Gorgias, 457c—458b, 524d—526b. 56 Vgl. Politeia, 517a.

44

Dazu kommt noch ein Drittes: Alle geistigen Akte, das gesamte Leben

der menschlichen Person ist innig mit dem Leib, mit organischen und

materiellen Vorgängen verbunden. Diese Verbundenheit ist so eng, daß

man auch, abgesehen von den ersten beiden Gründen, leicht in

Verwirrung gebracht werden kann und über diesen leiblichen

Prozessen und ihrer innigen Verbindung mit der Seele diese selbst

vergißt. Man wendet sich der Erforschung dieser Vorgänge zu, was

leichter fällt; man ist beeindruckt von der immer deutlicher erforschten,

engen Verbindung dieser Vorgänge mit dem Geist und merkt dabei

nicht, daß dieser dennoch substantiell von ihnen verschieden, voll real

und in keiner Weise aus ihnen zu erklären oder zu verstehen ist, was

schon in Platons Phaidon zum Ausdruck kommt.57

Und das ist der am leichtesten zugängliche Grund, warum man das

personale, geistige Sein nur als ein "Epiphänomen" solcher leiblicher

Prozesse auffaßt oder auch die Person ständig in Analogie zu

materiellen und organischen Prozessen sieht und aufzufassen sucht.

Psychologistische Umdeutung des Erkennens

Unter Psychologismus kann man Verschiedenes verstehen. Es sind

damit im weitesten Sinn alle Lehren gemeint, welche — sei es im

bewußten, im psychologisch unbewußten oder in einem

"metaphysisch-unbewußten" transzendentalen Bereich — psychische

oder geistige "Gesetzmäßigkeiten" als die letzte Wurzel aller

Wirklichkeit, wie sie uns gegeben ist, betrachten.58 In den Logischen

Untersuchungen hat Edmund Husserl eindrucksvoll nachgewiesen, daß

jeder Psychologismus zu einem Relativismus führt, entweder zu einem

57 An der berühmten Stelle, an der Sokrates eindrucksvoll zeigt, wie nicht

alle physischen Bedingungen, sondern einzig und allein die erkannte Ge-

rechtigkeit und sein freier Entschloß Ursache für sein Bleiben im

Gefängnis sind (Phaidon, 98c—99b). Vgl. vor allem Platons großartige

Widerlegung des Einwands des Simmas, die Seele könne eine vom Leib

abhängige und hervorgebrachte "Stimmung" ("Harmonie") sein (a. a. O.,

92e—95a). 58 Vgl. dazu den II. Teil dieser Arbeit, wo der "Psychologismus" in dem

weiten Sinn behandele werden soll, in dem Husserl ihn versteht.

45

individuellen,59 oder zu einem Anthropologismus,60 das heißt zu einer

Auffassung, die die Wahrheit zwar nicht auf den einzelnen Menschen,

aber auf den menschlichen Geist im allgemeinen zurückführt, die mit

der Wahrheit auch das Sein auf den menschlichen Geist relativ setzt,

indem sie alle "Seinsgesetze" auf "Denkgesetze" reduziert.61 Der frühe

Husserl widerlegt diesen Relativismus ausführlich und hat mit Recht

darauf hingewiesen, daß fast keiner der Denker der Neuzeit sich diesem

Einfluß gänzlich entzogen habe.62

Solange man Psychologismus in diesem weiteren Sinne faßt, nämlich

als jede Theorie, die alle objektiven Seinsgesetze auf Denkgesetze

zurückführt, muß auch die Kantische Interpretation der Erkenntnis eine

psychologistische genannt werden,63 da das Erkennen nach ihm den

59 Vgl. Logische Untersuchungen, Bd. I, Kap. 7: "Der Psychologismus als

skeptischer Relativismus", §§ 34, 35, S. 114-116. 60 Vgl. a. a. O., §§ 36 ff. Vgl. dazu auch die glänzende Analyse und Wider-

legung des Psychologismus in Kap. 5: "Die psychologischen

Interpretationen der logischen Grundsätze", S. 78 ff. 61 Vgl. dazu bes. a. a. O. Bd. I, Kap. 3 und 8. 62 A. a. O., Bd. I, Kap. ;, S. 116. 63 Ottokar Blaha versucht in seinem Buch Die Ontologie Kants

darzulegen daß es bei Kant "transzendentale Subjekte", "Subjekte an

sich", und somit "Dinge an sich", letzte ontologische

Wirklichkeitselemente gäbe, in deren überindividuellem Wesen "ewige

Gesetze" der Wirklichkeitskonstitution gründen. Falls dies zutrifft, so

müßte man m. E. gegen eine solche Auffassung dasselbe einwenden,

was im II. Teile dieser Arbeit gegen den Begriff des transzendentalen

ego in der Spätphilosophie E. Husserls eingewendet werden wird. Aus vielen Stellen bei Kant scheint mir indessen hervorzugehen, daß wir

nach Kant in keiner Weise wissen können, ob diese "Denkgesetze" für alle

möglichen Wesen in jeder möglichen Welt gelten (was uns übrigens, wie

im II. Teil der Arbeit ausgeführt wird, gar nicht der Metaphysik im

eigentlichen Sinn näherbrächte), sondern vielmehr scheint es mir

(zumindest in der Kritik der reinen Vernunft) klarzusein, daß es sich hier

nach Kant nur um Gesetze des allgemein-menschlichen Denkens und

Anschauens handelt, deren Gültigkeit wir nur für den Bereich unserer

Erfahrung, den Bereich der Erscheinungswelt für den Menschen erkennen

können. (Vgl. KdrV, B 298/99, 307-309.) Daß diese Auffassung Kants eine

psychologistische (im Sinne der Logischen Untersuchungen) ist, hat schon

B. Bolzano klar gesehen. Vgl. seine Grundlegung der Logik, a. a. O., S. 60

46

Gegenstand aus einem amorphen Stoff erschafft und da nach ihm alle

synthetischen, apriorischen Urteile (und Soseinseinheiten) in

subjektiven Gesetzen des Denkens und Anschauens gründen. Sofern

der Psychologismus (in diesem weitesten Sinn) jenseits unserer bewußt

gegebenen Akte "Verstandesgesetze" ansetzt, die sozusagen "unsere

Menschenwelt" erzeugen, die wir jedoch im bewußt vollzogenen

Erkennen keineswegs als von uns geschaffen erleben, beschäftigt er uns

in diesem Kapitel nicht, da wir hier ja ganz schlicht vom uns

unmittelbar gegebenen Akt des Erkennens ausgehen wollen.64 Es mag

zwar bei den einzelnen Denkern nur sehr schwer genau unterschieden

werden, ob sie das Erkennen auch dem bewußten Erleben nach als ein

Schaffen und "Anwenden von Begriffen" deuten wollen, oder

ausschließlich in einem jenseits des bewußten Reiches liegenden

Bereich.65 Trotzdem wird wohl im allgemeinen weder von Kant noch

von den meisten seiner Nachfolger geleugnet werden, daß sich der

Erkenntnisakt dem unmittelbaren Erlebnis nach weder als ein Erzeugen

darstellt noch als ein bloßes "Feststellen" von "Bewußtseinstatsachen"

ff. ("Wissenschaftslehre", § 44 und § 45). Am deutlichsten spricht es Adolf

Reinach aus. Vgl. Zur Phänomenologie des Rechts..., S. 214/15, S. 84/85.

Auch in Husserls Logischen Untersuchungen finden sich Stellen, in denen

er die Wurzeln des "Psychologismus" (der Zurückführung von

Seinsgesetzen auf Denkgesetze) bei Kant erwähnt, obwohl Husserl im

allgemeinen auch bei allen seinen eindeutigen Angriffen auf Kants

Grundthesen diesen nicht namentlich nennt. Vgl. Sr. Ter. R d. Sp. Scto.,

Edith Stein—Lebensbild, S. 30. 64 Dies führt allerdings, wie im II. Teil gezeigt werden soll, zu Erkennt-

nissen welche auch die Kantische Auffassung, nach welcher eine

"transzendentale Verstandeskonstitution" jenseits des bewußt Gegebenen

die Wirklichkeit, soweit sie uns gegeben ist, aus einem amorphen Material

erschafft, als Irrtum erweisen. 65 Dieser Unterschied wird zwar von den einzelnen Denkern nie klarge-

macht, aber objektiv "in den Sachen selbst" ist es ein wesentlicher Unter-

schied, ob man den bewußten Akt des Erkennens umdeutet oder ob man

eine hervorbringende Tätigkeit jenseits des Bewußtseins ansetzt. Das wird

im II. Teil klarwerden. Nur ein Verkennen des Abgrundes, der zwischen

dem personalen, wesenhaft bewußten, bzw. auf Bewußtsein zugeordneten

und dem apersonalen (vor allem dem impersonal-geistigen) Sein liegt,

konnte zu diesen Unklarheiten und Verwechslungen führen.

47

oder von "subjektiven" Ideen, welche Auffassung Kant ja gerade als

"subjektiven Idealismus" bekämpft hat.66

Psychologistische Umdeutungen des uns unmittelbar gegebenen,

bewußten Erkennenisaktes

Obwohl einer klaren Unterscheidung zwischen wesenhaft bewußt

seiendem, bzw. auf Bewußtsein zugeordnetem, personalem Geist und

Unbewußtem bzw. impersonal Geistigem wenig Beachtung geschenkt

wird, leugnen doch ganz offenbar viele Vertreter des Psychologismus

auch Wesenszüge des bewußten Erkenntnisaktes und versuchen, sie auf

anderes zurückzuführen, was sich ebenfalls im Bereich der uns

prinzipiell gegebenen Wirklichkeit bewußten, personalen Seins findet.

Zu Beginn seines Hauptwerkes hat Schopenhauer diesem radikalen,

psychologistischen Immanentismus den kürzesten Ausdruck gegeben:

"Es wird ihm (dem Menschen) dann deutlich und gewiß, daß er keine

Sonne kennt und keine Erde; sondern immer nur ein Auge, das eine

Sonne sieht, eine Hand, die eine Erde fühlt."67 Einer solchen

Auffassung gemäß ist uns deshalb niemals irgendeine "Sache" als

solche bekannt, sondern nur "Teile", "Inhalte" unseres Bewußtseins.

Man faßt dabei das Bewußtsein wie einen "Kasten" auf, in den etwas

"hineinkommen" müsse, um erkannt werden zu können. Was

"draußen", was außerhalb unseres Bewußtseins sei, könnten wir ja

unmöglich erfassen.68

66 Eine klare Darstellung von Kants Bekämpfung dieses "Idealismus" mit

Anführung der wichtigsten Stellen siehe in O. Blahas Die Ontologie Kants

S. 30-32. Dieser sogenannte "unmittelbare Realismus" Kants wird im II.

Teil der Arbeit als Gegensatz zu dem Realismus im eigentlichen Sinn

dargetan werden. 67 Vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, a. a. O., Bd. II

(Teil 1), S. 3. In Schopenhauers These liegt noch ein weiterer Irrtum

abgesehen von dem des Psychologismus; die Sonne ist ja auch dann, wenn

ich sie als bloßen Bewußtseinsinhalt deute, etwas anderes als das Auge und

das Erlebnis des Sehens — und erst recht als ein Gefühl im Auge wie das

Brennen oder Geblendetwerden. 68 Dies ist ein typischer Fall für ein falsches "Körperbild", eine irreführende

Analogie, wobei man außerdem eine billige Plausibilität mit philo-

sophischer Intelligibilität verwechselt. Vgl. Dietrich von Hildebrands Be-

kämpfung der "Bewußtseinskasten"-Auffassung in What is philosophy?, S.

48

Mit dieser körperhaften Auffassung des Erkennens hängt ein weiterer

Irrtum zusammen. Man faßt das reale Objekt oder die von ihm

ausgehenden "Wirkungen" auf das Subjekt als Ursache (hauptsächlich

im Sinne der causa efficiens) für einen "Bewußtseinsinhalt" (oder ein

"phantasma") auf. Also nimmt man in den meisten psychologistischen

Theorien ein äußeres Ding als "Ursache" für einen "Bewußtseinsinhalt"

an, aber niemals das Ding selbst, sondern — so wird behauptet — nur

das Bewußtsein und seine Inhalte seien mir bekannt.69

Damit hängt eine weitere Auffassung zusammen, die E. Husserl, a. a.

O.,70 als einen "schier unausrottbaren Irrtum" bezeichnet, daß es

nämlich einen "immanenten Gegenstand" (den Bewußtseinsinhalt) und

diesem gegenüber einen "transzendenten Gegenstand" gäbe. Es gäbe

demnach im Erkennen eine "Verdoppelung", zu dem wirklichen

Gegenstand käme der "unserem Bewußtsein inexistente" Gegenstand.

Diesen drei psychologistischen Grundthesen liegen ganz offenbar drei

verschiedene Körperbilder zugrunde.71 Im ersten Fall das Bild des

Kastens, "in" den etwas hineintreten müsse, im zweiten Fall das Bild

einer physikalischen Ursächlichkeit (etwa einer Energieverwandlung)

oder einer physiologischen Kausalreihe (wie sie etwa in unserem

Nervensystem bei der Sinneswahrnehmung tatsächlich stattfindet und

als deren letztes Glied dann die Wahrnehmung aufgefaßt wird). Dem

dritten Irrtum liegt im besonderen das Bild eines Photoapparates oder

Spiegels zugrunde (wie dies ja auch der rein physiologischen Seite etwa

einer Sehwahrnehmung entspricht, nämlich dem Verhältnis zwischen

Gegenstand und Bild in der Netzhaut).

14/15. Noch viel ausführlicher hat D. von Hildebrand dieses irreführende

Körperbild 1964 in seinen erkenntnistheoretischen Vorlesungen an der

Universität Salzburg behandelt. 69 Vgl. dazu besonders die Ausführungen in Husserls Logischen

Untersuchungen II, V, S. 370 ff. § 11-14; § 17; "Beilage zu den

Paragraphen 11 und 20". Dieser von Kant bekämpften Auffassung gemäß

sei uns die Außenwelt nur durch Schlüsse von unseren

Bewußtseinsinhalten auf äußere Inhalte bekannt. Allerdings hat hier N.

Hartmann Einwände gemacht, die ein anderes Verständnis dieser

Auffassung betreffen und die noch behandelt werden. 70 Vgl. "Beilage zu den Paragraphen 11 und 20" (a. a. O. II, 1). 71 Vgl. die Analyse über falsche Analogisierung als Quelle von Irrtümern

in B. Schwarz. Der Irrtum in der Philosophie, I, 4, 4.

49

Subjektiver Idealismus und Rationalismus als Psychologismus

Unter dem Einfluß vieler irriger Vorstellungen über Erkenntnis im

Laufe der Philosophiegeschichte, besonders aber als verhängnisvolle

Folge von Descartes' unglücklichem Ausdruck idea innata, wurden —

vollständig gegen Descartes' Intentionen und tiefe Einsichten72 — in

besonderer Weise die objektiven, notwendigen Wesenheiten der Dinge,

wie Platon und die klassische Metaphysik sie entdeckt hatten, zu

"subjektiven", immanenten "Ideen" des Geistes erklärt. Dies erreicht

seinen Höhepunkt, wenn man Berkeleys Formel "esse est percipi"

absolut nimmt, der überhaupt keine bewußtseinstranszendente

Wirklichkeit mehr annimmt und nur noch "subjektive Ideen",

"Vorstellungen" anerkennt.73 Wenn auch bei ihm und an sich dieser

Begriff "Vorstellung", "Idee" meist in doppeldeutigem Sinn gebraucht

wird, so steht doch das eine fest, daß in vielen philosophischen

Ansätzen statt der objektiven, intelligiblen Wesenheiten der Dinge eine

Art bewußtseinsimmanenter "Ideen" angesetzt wird, in dem hier zu

behandelnden Sinn des Psychologismus.74 Diese immanentistische

Form des Rationalismus bzw. des Idealismus stellt insofern eine

besondere Abart des Psychologismus dar, als sie sich besonders auf die

"Ideen" bezieht, welche nicht nur vom menschlichen Geist und seiner

Konstitution abhängig angesehen werden75, sondern sich nicht einmal

mehr auf die äußere Welt "anwenden" lassen. Diese Auffassung hat

72 Daß Descartes unter "idea innata" eigentlich nur verstand, daß solche

Wesenheiten (Gottes, der Seele selbst etc.) dem Geiste gegenwärtig sind,

wenn immer er nur sich auf sie richtet, daß er sie aber als unserem Geiste

transzendente, intelligible Wesenheiten erkannte, die in sich notwendig

und intelligibel-unveränderlich sind, geht aus vielen Stellen und dem

Wesentlichsten seiner Philosophie deutlich hervor. Vgl. etwa Meditationen

5, 5; 5,17; 1 e Erwiderung, a. a. O., S. 105 ff.; S. 106/7; 1. Erwiderung (Nr.

158), Prinzipien, S. 283/284, S. 300 (!) etc. 73 Eben gegen Berkeleys Subjektivismus, "esse est percipi", wendet sich

Kant. Vgl. dazu J. Hirschberger, a. a. O., Bd. II, S. 221 f. 74 Vgl. dazu E. Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. II, I, S. 499 ff.:

"Zusammenstellung der wichtigsten Äquivokationen der Termini

Vorstellung und Inhalt". 75 Wie auch bei Kant.

50

schon Kant als "einen Skandal der Philosophie und allgemeinen

Menschenvernunft" bezeichnet.76

Psychologismus als Immanentismus

In diesem Kapitel soll die psychologistische Auffassung ausschließlich

in dem Sinne behandelt werden, in dem Kant sich sehr ausdrücklich

von ihr abwendet. Dieser Auffassung nach wären uns niemals Farben,

Töne oder Gestalten, einzelne konkrete Gebilde oder objektive,

allgemeine Wesenheiten bekannt, sondern ausschließlich

Sinnesempfindungen, Vorstellungen und eingeborene Ideen, im Sinne

subjektiver Ideen, als "Inhalte" unseres als "Kasten" aufgefaßten

Bewußtseins.

Als letzte Konsequenz aus dieser Theorie ergibt sich ein radikaler

Immanentismus, nach dem wir niemals über "die Tatsachen unseres

Bewußtseins" hinausgelangen und uns selbst überschreiten können.

Die Behauptung, wir müßten rettungslos "in uns" selbst, in unserer

"Bewußtseinswelt" steckenbleiben, führt konsequenterweise zum

Relativismus und Solipsismus.

Das Wesen der Intentionalität gegenüber den

psychologistischen Umdeutungen

Intentionales "Bewußtsein von" und "Vollzugsbewußtsein" als zwei

nicht aufeinander zurückführbare Urgegebenheiten

Nicht nur der Psychologismus, sondern letzten Endes jeder

Immanentismus bezüglich der Erkenntnis ist damit verbunden, daß

man einen der entscheidendsten Unterschiede nicht klar erkennt, der

zwischen zwei gänzlich verschiedenen Wirklichkeiten besteht, die man

76 Vgl. KdrV, a. a. O., B XXXIX, Anm., allerdings nur, um selbst einer noch

tieferen Form des Immanentismus zu verfallen (wie wir in den folgenden

Kapiteln sehen werden), welcher sich überdies schon in der hier erwähnten

psychologistischen Auffassung, wenn auch auf Grund mangelnder Diffe-

renziertheit in verworrener Weise, findet. Dies kann man erst nach einer

genauen Analyse der verschiedenen "Sachen" verstehen, die man mit dem

Ausdruck "Bewußtseinsinhalt" meinen kann.

51

beide mit dem dadurch doppeldeutigen Ausdruck "Bewußtseinsinhalt"

bezeichnet.77

Durch die ganze Geschichte der Philosophie zieht sich diese

Verwechslung hin und führt immer wieder zu einem Mißverstehen und

Leugnen der Erkenntnis. Sie hängt damit zusammen, daß man der

einzigartigen Natur des personalen Seins nicht voll Rechnung trägt.

Es kann in diesem Zusammenhang nur auf eine fundamentale

Doppeldeutigkeit hingewiesen werden, die dem Begriff

"Bewußtseinsinhalt" zugrunde liegt. Man kann damit nämlich

einerseits die Inhalte meines Bewußtseins meinen als die realen "Teile"

meines bewußt vollzogenen Seins (etwa Akte, wie Erkennen,

Behaupten, Fragen, Wollen, Lieben, zu deren Wesen es gehört, von

77 Obwohl Edmund Husserl, angeregt von Einsichten F. Brentanos, in

seinen Logischen Untersuchungen (a. a. O., Bd. II, 1, S. 342 ff.) diesen

Unterschied gewissermaßen philosophisch entdeckt und in klassischer

Weise herausgearbeitet hat (vgl. bes. a. a. O., S. 372 ff.), obwohl sein Werk

auch nach den Ideen... und nachdem er zunehmend eine idealistische

Wendung nimmt, in gewisser Weise noch von diesem Unterschied geprägt

bleibt, hat doch der späte Husserl das eigentliche Wesen und die Bedeutung

dieser beiden Wirklichkeiten des Vollzugsbewußtseins einerseits und des

intentionalen "Bewußtseins von" anderseits verkannt, indem er den

Unterschied zwischen personalem, real existierendem Geist und

"impersonal Geistigem" in einer nie zuvor dagewesenen Weise leugnet.

(Vgl. die Auseinandersetzung mit der Spätphilosophie Husserls im II. Teil

dieser Arbeit.) Schon seit der zweiten Auflage der Logischen

Untersuchungen zeigt sich im erwähnten V. Abschn. des zweiten Teils

über "internationale Erlebnisse..." — und Husserl weist selbst ausdrücklich

darauf hin (a. a. O., S. 357, 361) —, wie er die Einsichten, die er bes. im §

8 (S. 359-363) über die Widersprüchlichkeit des Begriffs des "reinen Ich"

entwickelt, nicht mehr anerkennt. Damit verkennt er auch das eigentliche

Wesen des Vollzugsbewußtseins und der Cartesianischen Entdeckung, die

ja gerade in der klar begriffenen Unterscheidung zwischen den

verschiedenen "Sachen" gründet, die mit dem Ausdruck Be-

wußtseinsinhalt" gemeint sein können und die schon dem berühmten

augustinischen "si fallor, sum"-Argument zugrunde liegen. Meines

Wissens hat erst Dietrich von Hildebrand (vor allem in den noch nicht

veröffentlichten erkenntnistheoretischen Gastvorlesungen, die er 1964 an

der Universität Salzburg gehalten hat) auf das eigentliche Wesen und die

grundlegende Bedeutung dieses Unterschiedes gebührend hingewiesen.

52

einem Subjekt bewußt vollzogen zu werden). Anderseits meint man mit

demselben Begriff aber alle Gegenstände, sofern ich von ihnen ein

Bewußtsein habe. Die "Inhalte" meines Bewußtseins in diesem Sinn

müssen keineswegs zum bewußten Sein des Subjektes gehören, es

können Körper, Pflanzen, ideales Sein, andere Personen etc. sein. In

seiner ersten Bedeutung schließt der Begriff Bewußtseinsinhalt ein, daß

es sich um ein von der Person bewußt erlebtes Sein handelt, ist also

zugleich eine ontologische Bestimmung, im zweiten Fall keineswegs.

Alles Seiende, sofern eine Person von ihm Bewußtsein hat, wird dann

"Bewußtseinsinhalt" genannt, welcher Ausdruck hier allerdings

unangebracht und verwirrend ist.

Doch mit der bisherigen Unterscheidung bewegen wir uns gleichsam

noch an der Oberfläche des zentralen Wesensunterschiedes, der hier zu

deutlicher Gegebenheit gebracht werden soll. Die Art nämlich, in der

ich mir meiner Zustände und Akte bewußt bin, ist von derjenigen

vollkommen verschieden, in der ich von Häusern, Ländern,

historischen Ereignissen oder anderen Personen Bewußtsein habe.

Aller meiner Akte bin ich mir in einer Weise bewußt, in der man

ausschließlich um das eigene, personale Sein "wissen" kann; das

Vollzugsbewußtsein mit der ihm eigenen Art des

Mir-Bekannt-Werdens der vollzogenen Erlebnisse oder Akte ist jenes

staunenswerte, geheimnisvolle Sich-selbst-Besitzen der Person, das auf

nichts anderes zurückgeführt werden kann. Es ist der wache Vollzug

des eigenen Seins. Es besteht schon vor jedem reflexiven

Sich-auf-sich-selbst-Zurückbiegen (einem andern Wesensmerkmal der

Person, jener Fähigkeit, sich selbst gewissermaßen zum Gegenstand

der eigenen Erkenntnis oder Vorstellung machen zu können). Man

kann das Vollzugsbewußtsein auch ein "laterales" Bewußtsein nennen,

im Unterschied zu dem "frontalen" "Bewußtsein von" etwas, das die

Subjekt-Objekt-Situation einschließt.78 Während das laterale

Bewußtsein eine "Seinsbeziehung", ein bewußtes Sein ist, ist das

Bewußtsein von ein "habere quoddam", wie es der heilige Augustinus

formuliert, ein intentionales "Haben" eines Gegenstandes, ein geistiges

"Teilhaben" an dem Sein von etwas, und im Falle der im Vollsinn

78 Die Ausdrücke "laterales" und "frontales" Bewußtsein zur Bezeichnung

des Unterschiedes zwischen "Vollzugsbewußtsein" und "Bewußtsein von"

stammen von Dietrich von Hildebrand.

53

kontemplativen Erkenntnis eine erkennende Vermählung mit ihm.79

Während das, was im ersten Sinn "Bewußtseinsinhalt" ist, wirklich als

realer "Bestandteil" meines Seins in mir ist, steht mir nun etwas

gegenüber. Dieses "Bewußtsein von", diese intentionale

Subiekt-Objekt-Beziehung ist ein Wesenszug jeden Erkennens, aber

auch der Vorstellung oder des Meinens und überhaupt aller Akte, in

denen die Person zur Wirklichkeit in eine bewußte Beziehung tritt. Mit

der Herausarbeitung der Subjekt-Objekt-Beziehung, bzw. des

"Bewußtseins von" wird also ein Wesensmerkmal jeder Erkenntnis

gefaßt, das aber die Erkenntnis auch mit Akten teilt (die nicht Erkennen

sind) — wie Vorstellung oder Assoziation. Ja sogar im Traum, in einer

Täuschung oder Halluzination finden wir dieses intentionale

"Bewußtsein von", dessen volles Verständnis gleichwohl zum

Verständnis der Erkenntnis unentbehrlich ist.

Das Scheitern des Versuches, die Gegenstände des "Bewußtseins von"

auf immanente, reale Inhalte des Bewußtseins zurückzuführen

Dies führt auf den erwähnten Irrtum des Psychologismus zurück, der

letzten Endes alle Dinge, von denen ich ein Bewußtsein habe, auf

"Inhalte", auf meinem Bewußtsein immanente "Teile" zurückführen

möchte und den Geist wie einen Spiegel auffaßt, in dem

selbstverständlich niemals der Gegenstand, sondern nur sein "Bild"

sein kann oder wie einen "Kasten", der niemals etwas anderes umfaßt,

als was realiter in ihm sich befindet. So könne auch der Geist niemals

sehen, was "jenseits" seiner selbst ist, sondern nur "immanente

Abbilder" die in ihm seien. Um diejenige Vorstellung von

"immanenten Gegenständen" deutlich zu kennzeichnen, gegen die im

jetzigen Augenblick der Untersuchung angekämpft wird, muß noch

jene Äquivokation im "Bild"-Begriff angedeutet werden, die N.

Hartmann in seiner Polemik gegen die Phänomenologie hervorhebt, auf

die dann anschließend eingegangen werden soll. Man könnte nämlich

mit N. Hartmann, so fragwürdig diese Terminologie sein mag, unter

79 Die zwei Grundthemen der Erkenntnis, das Notionsthema (das die Frage:

was ist das? beherrscht und das in der Antwort 'so ist es' seine Erfüllung

findet) und das kontemplative Thema "der erkennenden Vermählung" mit

dem Gegenstand hat Dietrich von Hildebrand herausgearbeitet. Vgl. bes.

What is philosophy?, Kap. VI.

54

"Bild" oder "bloßem Bewußtseinshalt" auch intentionale Gegenstände

verstehen, von denen wir Bewußtsein haben, die aber keine reale

Existenz besitzen, z. B. Traumgegenstände.80 Auch solche bloße

Gegenstände einer Halluzination könnte man mit einem gewissen

Recht gegenüber den realen Gegenständen, von denen wir Bewußtsein

haben, als "bloße Bewußtseinsinhalte" bezeichnen. Doch gerade durch

die Betrachtung eines solchen geträumten Gegenstandes, der keine

reale transzendente Existenz besitzt, können wir die Falschheit der in

unserem Zusammenhang bekämpften Auffassung dartun, nach der uns

nur unserem Bewußtsein inexistente Inhalte bekannt seien. Gerade im

Falle der Täuschung wird die grundlegende Verschiedenheit zwischen

unserem Vollzugsbewußtsein und den Gegenständen klar, von denen

wir ein Bewußtsein haben.81 Gerade hier wird deutlich, wie falsch und

irreführend es ist, den Geist mit einem Spiegel und den in ihm

erscheinenden Abbildern zu vergleichen: Ein Haus, das ich in einem

lebhaften Traum oder in einer Halluzination vor mir sehe, ist

ebensowenig ein Teil meines bewußten Seins wie ein wirkliches Haus.

Es hat zwar nur das armselige und geringste Sein des "Objektseins für

meinen Geist", es scheint nur mir zu sein. Aber deshalb ist es in keiner

Weise eher ein Teil meines realen, bewußten Seins als ein wirkliches

Haus, wiewohl eine falsche Plausibilität dies nahezulegen scheint. Das

im Traum gesehene Haus besitzt zwar keine transzendente, reale

Existenz, aber es ist doch wesenhaft "jenseits" des bewußt vollzogenen

Träumens, das zu meinem personalen, unkörperlichen Sein gehört und

damit einer gänzlich anderen Seinsart angehört als sein Gegenstand:

Das Haus zeigt sich mir in seiner materiellen Natur, einer bestimmten

Ausdehnung, Gestalt, mit Zahlen angebbaren Proportionen von Länge,

Höhe und Tiefe, mit bestimmten Farben usw. Keine einzige dieser

Eigenschaften kommt meinem bewußten Akt zu; wie sehr ich ihn auch

durchforschen mag, werde ich nie in ihm irgendeine Eigenschaft seines

"bloß intentionalen" Gegenstandes finden. In diesem Akt findet sich,

weder ein Haus noch das Bild eines Hauses, wie es sich in einem

80 N. Hartmann behauptet dann, wie gleich näher erläutert wird, daß niemals

die Gegenstände als solche in ihrem realen Sein, sondern immer "bloß"

intentionale Gegenstände ("Bilder") uns gegeben sein können, daß also

immer das Seiende vom intentionalen Gegenstand verschieden sei. 81 Vgl. dazu den grundlegenden Abschnitt aus E. Husserls Logischen

Untersuchungen. II, 1, V S. 372 ff.

55

Spiegel finden kann. Die Frage des Seins und Nichtseins des Hauses

liegt ganz jenseits der realen Existenz meines bewußten Seins. Gerade

die Tatsache, daß der Gegenstand, von dem ich Bewußtsein habe, nicht

real ist, während mein bewußt vollzogenes Träumen voll real ist,

beweist die Wahrheit, daß der Gegenstand meines "Bewußtseins von"

kein Teil oder Inhalt meines Bewußtseins ist. Denn das geträumte Haus

existiert nicht in mir, sondern es existiert überhaupt nicht.

Schon in der Subjekt-Objekt-Situation82 als solcher liegt also eine

Vorstufe der Transzendenz des Erkennens, die prinzipielle Fähigkeit

nämlich, bloß immanente Bewußtseinszustände (wie etwa Müdigkeit

es ist) zu überschreiten und in intentionaler Weise an einem

Gegenstand geistig teilzuhaben,83 der "jenseits" meines bewußten Seins

liegt. Dieses intentionale Bewußtsein von etwas, das ich nicht selbst

bin, ist die Voraussetzung für jede Erkenntnis, in der ich geistig an der

Wirklichkeit teilhabe. Denn alle Gegenstände, Sachverhalte, Ereignisse

und Personen, die ich erkenne, sind jenseits der Akte, in denen sie mir

gegeben sind, sie existieren jenseits meines bewußten, personalen

Seins. Ich kann sie daher nur berühren, wenn ich meine eigenen

Bewußtseinszustände überschreiten kann, wenn ich nicht in mir

gleichsam steckenbleibe, wie alles apersonale Sein "in sich steckt". Ich

kann nämlich klar einsehen: von all diesen Dingen habe ich ein

Bewußtsein — und andererseits: all diese Wirklichkeiten sind von

meinem bewußten Sein verschieden, sie liegen jenseits meiner

Erkenntnisakte.

82 Es muß gesagt werden, daß diese Subjekt-Objekt-Situation in keiner

Weise die Vorstellung nahelegen darf, als handle es sich dabei um

"Objekte" im Sinne von "Gegenständen" als Gegensatz zur Person. Es

handelt sich hier um eine radikal vom Dingbegriff verschiedene

Gegebenheit: Personen sind uns gerade am allermeisten gegenüber. Die

Subjekt-Objekt-Situation im hier gemeinten Sinn findet sich am

charakteristischsten in dem Fall, in dem eine unverwechselbare,

individuelle, lebendige, unvermischbare Person mir gegenübersteht.

Gerade auf Grund der Eigenschaften, die eine Person von allen "Objekten"

im Sinne der Dinge unterscheidet, ist dies so. Manche Denker haben den

"chosisme" fälschlicherweise schon in der Anerkennung dieser

Subjekt-Objekt-Situation sehen wollen. 83 Die Subjekt-Objekt-Situation ist ausschließlich bei Personen und nicht

bei Tieren zu finden. Daß dies keine bloße Behauptung ist, wird im 2. Ka-

pitel, S. 98 ff. ausgeführt werden.

56

Wenn man daher das Sich-selbst-Überschreiten im Erkennen auf das

immanente Bewußtsein reduzieren will, stellt man ein falsches Dogma

auf, das schon durch die Tatsache der intentionalen Akte, durch die

Urgegebenheit der Subjekt-Objekt-Situation als solche widerlegt wird:

Man behauptet, es sei weniger geheimnisvoll, daß wir uns unser selbst

bewußt sind, als daß wir von anderem Seienden Bewußtsein haben.

Man möchte ein unableitbares und irreduzierbares "Mirandum" auf ein

anderes, nicht weniger geheimnisvolles zurückführen.84 Den Vertretern

dieses Dogmas des "Psychologismus", dieser falschen Reduktion des

Gegenstandsbewußtseins auf das Vollzugsbewußtsein bzw.

Selbstbewußtsein hat Descartes so geantwortet:

"Denn woher hast du das, daß alles, was der Geist denkt, in ihm selbst

sein müsse? Wahrlich, wenn das der Fall wäre, dann müßte er, wenn er

die Größe der Welt erkennt, auch sie in sich haben, und so wäre er nicht

nur ausgedehnt, sondern an Ausdehnung doch größer als die Welt "85

Die Subjekt-Objekt-Situation ist, wie in jeder Erkenntnis, so auch in

der unseres eigenen Seins, unserer eigenen Akte gegeben. In der —

zwar von aller übrigen Gegenstandserkenntnis verschiedenen —

Erkenntnis unserer selbst "als Gegenstand" unserer Reflexion erfassen

wir etwas, was keineswegs mit unserem Erkenntnisakt identisch, was

keineswegs in ihm ist. Wenn wir eine Schadenfreude, die wir aus Neid

oder Eifersucht empfanden, zum Gegenstand unserer Erkenntnis

machen, so lernen wir sie nicht mehr im lateralen "Er-leben" dieser

Schadenfreude kennen (wodurch wir sie ursprünglich in einer ganz

eigentümlichen Art "kennenlernten"), sondern so tritt sie uns in einem

von ihr gänzlich verschiedenen Erkenntnisakt entgegen, in dem wir sie

jetzt gleichsam "uns gegenüber" sehen.

Die Widersprüchlichkeit und der unendliche Regreß in dem Versuch,

das Vollzugsbewußtsein auf das "Bewußtsein von" zurückzuführen —

ein dem Psychologismus entgegengesetzter Irrtum

Die Selbsterkenntnis in der Reflexion wird von manchen für die einzige

Art gehalten, in der wir uns unseres Seins bewußt werden können,

84 Vgl. dazu What is philosophy?, S. 15 ff. 85 R. Descartes, Meditationen, 5. Erwiderung (550).

57

woraus sie mitunter sogar ableiten wollen, daß uns das eigene Sein nie

im gegenwärtigen Augenblick, sondern nur in Form einer

nachträglichen "Projektion" als Gegenstand der Reflexion gegeben sei;

sie wenden daher — zu einem ähnlichen Ergebnis wie der

Psychologismus kommend — gegen Descartes ein, nicht das eigene

Sein, sondern nur ein nachträglich vom eigenen Sein entworfenes

"Erinnerungs-Bild" sei uns bekannt.86 Hier möchte man nicht das

Objekt-Bewußtsein auf das Vollzugsbewußtsein, sondern umgekehrt

das Vollzugsbewußtsein auf einen Gegenstand des "Bewußtseins von"

reduzieren. Diese Auffassung scheine mir nicht nur falsch, sondern

auch widersprüchlich zu sein. Dies geht zunächst aus einem Vergleich

zwischen Vollzugsbewußtsein und Reflexion hervor. Es ist unmittelbar

einsichtig und deshalb auch in jeder möglichen Erfahrung gegeben, daß

ein Gefühl wie Haß im unmittelbaren Vollzug auch dann erlebt wird,

wenn es in keiner nachträglichen (oder auch gleichzeitigen) Reflexion

zum Gegenstand gemacht wird. Ich muß in keiner Weise etwa meine

Erkenntnis- oder Aufmerksamkeitsintention von einem Bild, das ich

betrachte, wegwenden und auf mich selbst richten, um mein Sehen

bewußt zu erleben, das jederzeit einer Reflexion zugänglich, aber

keineswegs, solange ich es nicht zum Gegenstand einer Reflexion

mache, unbewußt ist.

Vor allem führt die Zurückführung des Vollzugsbewußtseins auf das

Gegenstandsbewußtsein zu einem "regressus ad infinitum". Denn wenn

ich mir nur in einer Reflexion meiner Schadenfreude bewußt sein

könnte, dann wäre auch diese Reflexion wieder vollkommen unbewußt,

solange ich sie nicht ihrerseits in einer Reflexion zum Gegenstand

machte, usw., was zu der absurden Konsequenz führt, daß ich immer

nur von Gegenständen, niemals aber auch meines Wissens von ihnen

oder überhaupt meiner Akte bewußt sein könnte; ja nicht einmal die

86 Diese Spielart des "Phänomenalismus" (vgl. J. Hirschberger, Geschichte

der Philosophie, II. Bd., S. 527-544) ist in unserem Zusammenhang in-

teressant, weil sie das genaue Gegenstück zum Psychologismus bildet und

doch bezüglich des eigenen Seins zu demselben Bild-Irrtum führt, den wir

auf S. 69 ff. näher behandeln.

58

Identität meiner selbst als Reflektierender mit mir als Gegenstand

meiner Reflexion könnte mir je bewußt werden.87

Außerdem widerspricht diese Reduktion der grundlegendsten

Erfahrung, aus der heraus wir einsehen können, daß wir uns notwendig

des Aktes selbst (in der Weise des Vollzugsbewußtseins) bewußt sind,

in dem wir von einem Gegenstand Bewußtsein haben. Gerade in den

Augenblicken, in denen wir uns selbst "vergessen" und in den Anblick

eines Gegenstandes oder einer Person ganz "versunken" sind —also in

keiner Weise in einer Selbstreflexion uns selbst zum Gegenstand

machen—, erreicht unser Vollzugsbewußtsein seine höchste und

ausdrücklichste Form. Oder wer würde behaupten, in einer

Bewunderung oder Liebe, in der ein Kunstwerk oder eine Person in

einem kontemplativen Augenblick mein ganzes Bewußtsein

beherrscht, sei ich meiner selbst und meiner Liebe völlig unbewußt?

Diese Andeutungen sollen nur darauf hinweisen, daß das

Vollzugsbewußtsein und "Bewußtseinsinhalte" im Sinne bewußter Akte

grundsätzlich von dem Bewußtsein verschieden sind, in dem wir von

einem uns (zumindest funktional) gegenüberstehenden Seienden

Bewußtsein haben.

Es handelt sich hier um einen für jede Erkenntnistheorie und

Metaphysik entscheidenden Unterschied, ohne dessen Verständnis man

niemals in das Wesen des Erkennens eindringen kann.

Die Subjekt-Objekt-Relation kann nie als eine Kausalrelation aufgefaßt

werden.

Wenn wir uns die Natur der Subjekt-Objekt-Situation zur Gegebenheit

bringen, können wir auch Folgendes sehen: Der Gegenstand einer

Erkenntnis kann niemals als ein Bewußtseins-"Inhalt" aufgefaßt

werden, der über eine physiologische Kausalreihe als deren letztes

Glied von einem äußeren Gegenstand hervorgebracht würde. Dieses

zweite psychologistische Körperbild, das anfangs erwähnt wurde,

entlarvt sich damit auch als ein falsches mechanistisches Modellbild,

87 Einen ähnlichen Widerspruch bzw. unendlichen Regreß könnte man auch

für den Irrtum des Psychologismus aufzeigen, insofern ich nach seiner An-

nahme nie von mir sprechen könnte als dem Gegenstand einer Reflexion

was ja nur "ein Bild" wäre, sondern ich könnte meiner nur bewußt sein in

einem völlig unreflektierten Vollzug des eigenen Seins. Vgl. dazu auch

mein Buch Leib und Seele, s. 45 ff., wo die hier behandelten Analysen des

Bewußtseins und seines Gegenstandes fortgesetzt werden.

59

das ungeeignet ist, die Erkenntnis zu klären. Denn wenn wir von der

Erkenntnis als bewußtem, intentionalem Teilhaben an einem

Gegenstand sprechen, können wir niemals den Erkenntnisakt als

"Wirkung" und den Erkenntnisgegenstand als "Ursache" im Sinne der

causa efficiens oder einer der andern vier aristotelischen causae

auffassen, ohne das Wesen der in der Erkenntnis eingeschlossenen

Subjekt-Objekt-Beziehung gänzlich zu verfälschen.88 Die aristotelisch-

thomistische Vorstellung, daß "in unserem Geist" sich Formen fänden,

die durch den Gegenstand gewissermaßen aktualisiert würden, und

ähnliche Auffassungen scheinen mir ebenfalls von irreführenden

organischen Bildern auszugehen und dabei das spezifische intentionale

"Bewußtsein von" in seinem Wesen zu verfehlen. Wenn man das

Wesen der Subjekt-Objekt-Situation erfaßt und zugibt, daß diese zum

Wesen des Erkennens gehört, dann scheint jede Auffassung

grundsätzlich falsch, der gemäß das erkannte Objekt irgendwie in uns

hineinkommen oder in uns sein müsse und derzufolge die Beziehung

zwischen unserem Geist und der Wirklichkeit nur darin bestehen

könne, daß das äußere Ding etwas in uns Befindliches anregt oder

"aktualisiert".

Der innere Widerspruch des Materialismus und jeder Zurückführung

der Erkenntnisrelation auf eine Kausalrelation

Die Behauptung, alle geistigen Vorgänge und Akte seien das Produkt

irgendwelcher kausaler Einflüsse, führt notwendig in einen inneren

Widerspruch, der so offenkundig ist, daß man ihn kaum übersehen

kann.

Wenn man, wie etwa H. Rohracher88a sagt, alle geistigen Vorgänge

seien nur das Ergebnis elektro-chemischer, physiologischer

88 Es wurde schon darauf hingewiesen, daß die vier von Aristoteles ent-

deckten metaphysischen Grundbeziehungen zwar sehr wichtig, aber

keinesfalls ausreichend sind, um damit sämtliche metaphysische

Beziehungen zu erfassen. Es gibt in Wirklichkeit noch mindestens sieben

oder acht ebenso grundlegende und unreduzierbare metaphysische

Grundbeziehungen, die Dietrich von Hildebrand in einem Seminar

ausführte, das er 1964 in Salzburg hielt. 88a Vgl. H. Rohracher, Einführung in die Psychologie, S. 23—25; 60—62;

vgl. auch. 507: "Alle psychischen Vorgänge, also auch die

60

Gehirnvorgänge—und daraus folgt mit logischer Notwendigkeit, daß

auch Erkenntnis als kausale Wirkung physiologischer Prozesse

aufgefaßt wird — dann wird die Erkenntnis auf die Stufe eines

Schmerzes im Bein herabgedrückt und ihres transzendierenden

Charakters beraubt. Denn dann gibt es kein Erkennen mehr als ein

Erfassen des Gegenstandes; dieses ist nämlich wesenhaft eine

intentionale, d. h. originär geistige Beziehung, die mit einem kausalen

Verursachtsein des "Erkennens" notwendig unvereinbar ist. Denn wäre

Erkennen das Produkt materieller Vorgänge, so wäre es eine durch

veränderte materielle Vorgänge jederzeit änderbare "Wirkung", deren

eventuelle "Übereinstimmung" mit der Wirklichkeit erstens rein

mechanisch und von Erkennen wesensverschieden und zweitens rein

zufällig und unerklärlich bliebe. Wenn also "Erkenntnis" eine Wirkung

von Gehirnprozessen wäre, könnte man niemals vom Gehirn und

seinen Funktionen irgend etwas wissen.

Sowohl in der richtigen These, daß es ein Gehirn und physiologische

Vorgänge in ihm gibt, als auch in der falschen Behauptung, daß das

gesamte bewußte Leben nur ein Produkt bzw. Epiphänomen

chemischer u. ä. Vorgänge sei, setzt man die Fähigkeit der Erkenntnis

und ihre Transzendenz voraus: nämlich etwas Reales feststellen zu

können und sogar etwas, was von unserem Bewußtsein ganz

unabhängig ist und weder den Charakter eines Scheins noch einer

Erscheinung hat. Wenn es aber diese Fähigkeit, die ein bloßer Effekt

physiologischer Vorgänge im Hirn wesenhaft nicht besitzen kann bzw.

wenn es Erkennen nicht gibt, dann können wir auch vom Gehirn und

seinen Funktionen nichts wissen.

Wer also die Erkenntnis auf Gehirnfunktionen bzw. deren Wirkungen

reduziert, leugnet eo ipso die Existenz eines Gehirns,—bzw. gibt jeden

Wahrheitsanspruch seiner Thesen über ein Gehirn preis, von dessen

Existenz oder Nicht-Existenz er ausschließlich durch wirkliche

Erkenntnis etwas wissen kann, die unmöglich die Wirkung bzw. das

Epiphänomen materieller Prozesse sein kann.

Daß die Erkenntnis wesensnotwendig von mechanischen und sonstigen

sie determinierenden Wirkursachen unabhängig sein muß, leuchtet

schon daraus ein, daß sie ja das Seiende selbst geistig berühren muß

Willenserlebnisse, haben ihre Grundlage in organischen Prozessen; in den

organischen Prozessen ist aber alles Geschehen kausal bestimmt." Vgl.

auch a. a. O.. S., 507 ff.

61

und nicht durch veränderte "Ursachen" (im Gehirn), sondern

ausschließlich durch veränderte Gegenstände "anders" werden darf. Es

mögen ohne weiteres physiologische Bedingungen bzw. parallele

physiologische Vorgänge für das menschliche Erkennen nötig sein.

Diese dürfen aber niemals causae efficientes des Erkennens sein, ohne

dieses von vornherein unmöglich zu machen.

Die über die Intentionalität hinausgehende Transzendenz

jeder Erkenntnis

Nikolai Hartmanns Einwurf: Intentionalität heißt nicht Transzendenz

Es ist klar, daß die intentionale Subjekt-Objekt-Beziehung auch im

Traum oder in einer Vorstellung liegt, deren Gegenstände keine

autonome Existenz besitzen. Wenn also die Transzendenz des

Erkennens bloß in der Intentionalität läge, dann wäre Täuschung und

Erkennen zu guter Letzt dasselbe—oder welchen Unterschied könnten

wir dann noch zwischen einer Täuschung, einer Halluzination und der

Erkenntnis machen? Sogar die Dinge und Personen, die in den wirren

Assoziationen, die sich vor dem Einschlafen einzustellen pflegen, an

unserm Geist vorüberziehen und von denen wir Bewußtsein haben,

wären dann Gegenstände der Erkenntnis.

Im 10. Kapitel seines erkenntnistheoretischen Hauptwerks89 setzt N.

Hartmann sich polemisch mit der Phänomenologie auseinander und

behauptet, wie schon erwähnt, daß "intentionale Gegenstände" zwar

keine "Ichzustände", also nicht reale Teile des Bewußtseins seien, aber

trotzdem in einem erkenntnistheoretisch-metsphysischen Sinn

immanente "Bilder"90 wären. Denn, wie uns eben der Fall der

Täuschung eindeutig lehre, sei der intentionale Gegenstand von dem

wirklichen Gegenstand verschieden. Und zwar sei der intentionale

Gegenstand nicht nur im Fall der Täuschung, sondern niemals mit dem

an sich seienden Gegenstand identisch, sondern immer in einem Sinne

"bewußtseinsimmanent", den N. Hartmann durch das angibt, was er

den "Satz des Bewußtseins" nennt: "Zum Wesen des Bewußtseins

gehört es, daß es nie etwas anderes als seine eigenen Inhalte zu fassen

89 Grundzüge einer Metaphysik des Erkennens, 1. Teil, 3. Abschn., s. 106

ff. 90 Vgl. a. a. O., S. 47, b7.

62

bekommt, nie aus seiner Sphäre heraustreten kann.''91 Diese "Immanenz

des Setzens"92 auf der einen Seite, nach der alle "intentionalen

Gegenstände" vom Bewußtsein abhängig bleiben und dieses nie den

Gegenstand selbst erfassen könne, und andererseits die

"Erkenntnisintention des Transzendenten", der gemäß wir durch das

"Bild" (den intentionalen Gegenstand) doch immer auf einen

transzendenten, autonom und real existierenden Gegenstand abzielen,93

bedeuten nach Hartmann die "Antinomie des Bewußtseins", die sich in

ihrer Widersprüchlichkeit zunächst einfach darstelle und auch rational

nicht wirklich aufzulösen sei. Husserl habe sich also eine

"Vereinfachung der Bildproblematik"94 zuschulden kommen lassen.

Die Tatsache, daß er kein "Ichzustand" ist, macht den "intentionalen

Gegenstand" noch keineswegs zu etwas "Transzendentem", sagt N.

Hartmann95, sondern eben zu dem mit "Bild" Gemeinten, durch das wir

in der Erkenntnis auf den vom Bild verschiedenen Gegenstand

abzielen, wie der Fall der Täuschung beweise.

Dazu ist zunächst zustimmend zu sagen, daß die autonome Realität des

Gegenstandes für jede Erkenntnis entscheidend ist. Und zwar ist diese

autonome "Realität" jeweils entsprechend dem Wesen d" erkannten

Seienden eine verschiedene. So setzen etwa andere Personen auf Grund

ihres Wesens eine von meinem und jedem Erkennen unabhängige

Realität voraus, während Farben dies nicht tun, die Pläne, die ein

Optimist entworfen hat und mir erzählt, geben wiederum auf Grund

91 A. a. O., S. 61, 4. 92 A. a. O., S. 62. 93 Man sieht, wie sich Hartmann vom Kantianismus und Neokantianismus

der Marburger Schule, dem er selbst angehörte, zu lösen sucht und auch -

besonders gegenüber dem späten Husserl - klar die auf ein "Ding an sich"

gerichtete Transzendenz des Erkennens (zumindest als im Phänomen

begründet, wenn auch nach ihm nicht als solches evident gegeben)

anerkennt:

"Die nachstehenden Untersuchungen gehen von der Auffassung aus, daß

Erkenntnis nicht ein Erschaffen, Erzeugen oder Hervorbringen des Gegen-

standes ist, wie der Idealismus alten und neuen Fahrwassers uns belehren

will, sondern ein Erfassen von etwas, das auch vor aller Erkenntnis und

unabhängig von ihr vorhanden ist." (1. Satz der "Metaphysik des

Erkennens".) 94 A. a. O., S. 81. 95 A. a. O., S. 115.

63

ihres Wesens jene eigentümliche "Realitätsstufe" vor, die solch einem

Entwurf eigen ist etc. Käme diese jeweils ihrem

Wesen entsprechende "An-sich-Realität" den Dingen nicht wirklich zu,

sondern wären sie uns nur so gegeben, als hätten sie diese Realität oder

"bestünde" gar die Wirklichkeit nur aus "intentionalen Gegenständen"

für ein (transzendentales) ego, wären alle "intentionalen Gegenstände"

nur in den entsprechenden "intentionalen Akten" dieses ego

"konstituiert" (!), wie der späte Husserl annimmt, so wären wir in jenen

radikalen Immanentismus eingeschlossen, der im II. Teil dieser Arbeit

ausführlich widerlegt werden soll und den N. Hartmann96 treffend so

kennzeichnet:

"Es ist ein Irrtum, alles Immanente als 'Ichzustand' zu verstehen.

Gedanken, Phantasien, Vorstellungen sind keine Ichzustände. Sie

haben Gegenstandscharakter, sind als Gegenstände gemeint, d. h. sind

echte intentionale Gegenstände. Aber sie sind deswegen noch keine

Erkenntnisgegenstände. Es fehlt ihnen das Ansichsein, die

Unabhängigkeit von der Intention, sie leben von Gnaden des Aktes...

Transzendent im gnoseologischen Sinne ist nur das vom Akt

Unabhängige... Also sind intentionale Gegenstände, sofern wenigstens

sie bloß 'intentional' sind, 'gnoseologisch immanent'."

So richtig dies sicher in dem eben angedeuteten Sinn ist, so muß doch

andererseits manches gegen Hartmanns Thesen eingewandt werden.

Erstens bleibt es irreführend und gefährlich, den in einer Täuschung

bloß scheinbar seienden Gegenstand als "bloß immanentes Bild" von

einem Gegenstand aufzufassen, wie oben schon dargelegt wurde.97

Zweitens ist es, wie im II. Teil ausführlich behandelt wird, ein falsches

Dogma, daß wir niemals unmittelbar einen Gegenstand in seiner

autonomen Realität an sich und unter Ausschluß jeder

96 A. a. O., S. 115. 97 Edmund Husserl weist in den Logischen Untersuchungen, Bd. II, 1, in

Kap. V, §11, und vor allem in der Zurückweisung der "Bildertheorie", S.

421 ff., sehr mit Recht darauf hin, daß ja schon zur Rekognoszierung des

Bildes" als "Bild" ein intentionales Bewußtsein von einem Gegenstand

selbst vorhanden sein muß, als dessen "Bild" wir das Bild erkennen; sonst

kommen wir in einen unendlichen Regreß. Ferner legt der Begriff "Bild",

"immanenter Gegenstand" nahe, daß man die einzigartige Natur der inten-

tionalen Beziehung verkennt.

64

Täuschungsmöglichkeit erkennen können. Es wird gezeigt werden, wie

viele Fälle es gibt, in denen "das Ding an sich" in unserer Erkenntnis

"intentionaler Gegenstand" ist. Es wird auch klarwerden, wo wir Dinge

erkennen können, die unmöglich ein sich nur für den Menschen

konstituierender Aspekt der Wirklichkeit sein können. Das können wir

auch schon aus dem wichtigsten dritten Einwand erkennen, den man

gegen N. Hartmann erheben muß:

Drittens. Sogar für solche sich nur für den Menschen konstituierende

Aspekte (etwa den humanen Aspekt der Außenwelt), die allerdings in

anderem Sinn objektiv sind,98 ja sogar für die Täuschung gilt, daß es

kein scheinbar Seiendes ohne ein absolut und an sich Seiendes geben

kann, ebenso wie keine Relation ohne absolut Seiendes möglich ist.

Doch nicht nur das: Dieses schon für jede Täuschung vorausgesetzte an

sich Seiende muß auch als solches unmittelbar erkannt und damit selbst

"intentionaler Gegenstand" meiner Erkenntnis sein, sonst käme keine

Täuschung zustande. Also widerlegt gerade der Fall der Täuschung,

den N. Hartmann zum Beweis für seine These heranzieht, ebendiese

These. Denn wenn auch der Gegenstand, über den ich mich täusche,

nicht selbst in seinem Ansichsein unmittelbar "intentionaler

Gegenstand" meiner Erkenntnis sein mag, so setzt doch jede Täuschung

gewisse Wirklichkeiten, die "an sich" sind, voraus, ohne deren

unmittelbare, täuschungsfreie Erkenntnis ich mich gar nicht täuschen

könnte. Erstens ist die absolute Existenz des Täuschenden

vorausgesetzt für jede Täuschung, zweitens ist es an sich wahr, da,!

ihm et«was bloß zu sein scheint, was nicht an sich ist. Drittens ist es an

sich so, daß etwa der Mensch, von dem ich träume, auf Grund seines

Wesens eine Existenzweise zu besitzen scheint, eine Art der Existenz

"vorgibt", die er als bloße Traumgestalt nicht besitzt. Wenn all dies und

vieles andere nicht "an sich" wäre und wahr wäre, gäbe es überhaupt

keine Täuschung. Indem der Träumende ferner all dies erkennt, täuscht

er sich keineswegs—und dies führt uns auf einen für jede

Erkenntnistheorie entscheidenden Unterschied, der jetzt gemacht

werden muß, obwohl er erst im 3. Kapitel des I. Teils in seiner

Bedeutung hervortreten wird und im II. Teil erst ausführlich behandelt

werden kann.

98 Vgl. What is philosophy?, Kap. V: "Objectivity and Independence", S.

152 ff.

65

Die Transzendenz jeden Erkennens

Auf dem Hintergrund des bisher Gesagten ist es möglich, das

eigentliche Wesen jener Transzendenz noch deutlicher zu erfassen, die

in jedem Erkennen eingeschlossen ist und die das Erkennen überhaupt

zum Erkennen macht. Nachdem die verschiedenen Elemente

angedeutet worden sind, die in jedem Erkennen liegen, wird es dann

möglich sein, eine für die Erkenntnistheorie wesentliche, ja

entscheidende Unterscheidung zwischen Erkennen im eigentlichen und

in einem weiteren Sinn durchzuführen.

Die Subiekt-Objekt-Situation in jedem Erkennen. In jedem Erkennen —

das scheint mir ein letztlich evidenter Satz zu sein — finden wir die

Subjekt-Objekt-Situation in dem ausgeführten Sinn. Das, was wir

erkennen, steht immer unserem geistigen Auge gegenüber in dem

spezifischen Sinn des "Bewußtseins von". Das allein aber bezeichnet

noch nicht das Wesen des Erkennens, weil ja auch die vorgestellten und

geträumten Dinge oder jene, "an" die ich denke, oder auch die

Gegenstände, die sich in einer Assoziationskette im Halbschlaf

einzustellen pflegen, in diesem frontalen Bewußtsein vor uns stehen,

ohne daß Assoziieren, Vorstellen oder "Denken an" gleichbedeutend

mit Erkennen wären.99

Der Geschenkcharakter.100 Gegenüber einer Vorstellung, in der dieses

Element fehlt, obwohl sie ein typisches "Bewußtsein von" ist, liegt in

jeder Erkenntnis ein Geschenkcharakter. Der Gegenstand befruchtet

meinen Geist, indem er die Kenntnis seiner selbst spendet. Es besteht

jenes noch zu erforschende Verhältnis des Sich-Erschließens eines

Gegenstandes, das mich über ihn belehrt. Doch dieses Verhältnis der

Rezeptivität zwischen mir und dem Gegenstand liegt auch in einem

Traum vor.

Das "So ist es" in jedem Erkennen gegenüber einer .bloßen Assoziation.

Wenn sich vor meinem Geist viele Bilder in wirren Assoziationen

aneinanderreihen, so fehlt eindeutig jenes besondere Element der

Erkenntnis, das darin liegt, daß der Gegenstand sich als wirklich so

seiend gibt. In jedem Erkennen— das deshalb ein bei keinem Tier

vorfindliches waches Bewußtsein voraussetzt, das sich in der Sprache

99 Dies gilt auch für die spontanen Akte oder Antworten, die noch tiefer

vom Erkennen verscheiden sind. 100 Dieses entscheidende Merkmal des Erkennens wird S. 77 ff. behandelt.

66

ausprägt, wie im nächsten Kapitel deutlich wird—vernehme ich

gleichsam von der Objektseite ein: "So ist es!" — Aber auch in einem

lebhaften Traum oder einer voll wachen Halluzination liegt dieses

Element ausdrücklich vor, so wie auch bei Sinnestäuschungen.

Die Seinsautonomie des Erkenntnisgegenstandes. Das entscheidende

Element des Erkennens im Gegensatz zu jeder Täuschung, zu allem

bloß Geträumten oder Halluzinierten, ist jedoch, daß der

"Seinsanspruch" des Gegenstandes zu Recht besteht. Sosehr bei einer

Täuschung durch Traum oder durch eine Fata Morgana die drei

erwähnten Elemente des Erkennens vorliegen, so liegt in der

Täuschung als solcher doch nicht die eigentliche Transzendenz und das

Erkennen des Gegenstandes, weil sich der Gegenstand nur als seiend

"gibt", nicht aber wirklich ist, so daß das erkennende Berühren der

Wirklichkeit nicht stattfindet. Daß der Gegenstand seinsautonom ist

und nicht nur einem Subjekt zu sein scheint, gehört wesenhaft zum

Erkennen. Nur wo dies vorliegt, finden wir die Transzendenz, die

jedem Erkennen eigen ist.

Erkennen im eigentlichen Sinn und mit Glauben oder Interpretation

verbundenes Erkennen

Nach diesem Ergebnis könnte man vielleicht geneigt sein, mit N.

Hartmann anzunehmen, die Seinsautonomie des Gegenstands jeder

Erkenntnis trete nur von außen hinzu und Irrtum und Erkenntnis seien

im Innenaspekt ganz gleichgeartete Akte. Die Frage, ob es so ist, ist ein

erkenntnistheoretisches Problem von größter Wichtigkeit. Mir scheint

der Lösungsversuch N. Hartmanns ein folgenschwerer Irrtum zu sein.

Es wurde kurz vorher gezeigt, daß es überhaupt keine Täuschung geben

könnte, ohne daß gewisse Dinge absolut, an sich bestünden und von

dem, der sich täuscht, wirklich erkannt werden. Er muß erkennen, daß

wirklich ein Gegenstand ihm in der und der Art zu sein scheint. Dies

muß an sich sein, und er muß es als solches erkennen, und in dieser

seiner Erkenntnis darf gerade keine Täuschung und kein Irrtum sein,

sonst käme es zu gar keiner Täuschung. Wenn der Getäuschte dann

nachträglich sieht, daß er sich getäuscht hat, so wird er sprechen: "Daß

der (geträumte) Gegenstand wirklich bestand, das habe ich ja nie

erkannt, sondern nur auf Grund des suggestiven Augenscheins und mit

vollem Recht 'geglaubt'. Dadurch daß sich der Gegenstand wirklich so

sehr als seiend ausgegeben hat, hat er mich ganz davon überzeugt, daß

67

er wirklich sei. Aber wenn ich genau hinblicke, sehe ich, daß ich nur

diesen Seinsanspruch im vollen Sinn des Wortes erkannt habe; daß er

zu Recht besteht, habe ich in einem (vielleicht kaum merklichen

Element von) 'Glauben' angenommen.''101 Und wenn man auf Grund

dieser bescheidenen Bemerkung unsere gesamte Erkenntnis überblickt,

so findet man weithin dieselbe Situation. Sprechen wir nicht auch dort

von "Erkenntnis", wo sich uns Seiendes auf Grund der Erkenntnis

anderer in unserer Wissenschaft erschlossen hat, wo wir etwas

"wissen", weil wir es vertrauenswürdigen Menschen "geglaubt" haben?

Fast sämtliche wissenschaftliche Erkenntnis haben die meisten

Wissenschaftler durch solchen— kaum merklichen — "Glauben"

erworben. Wie könnte ein Mensch anders Chemie, Geographie oder

Geschichte studieren, wie könnte jemand Vergangenes "erkennen",

wenn nicht durch "Glauben"? Edmund Husserl hat ferner schon in den

Logischen Untersuchungen (Bd. 11, 2) nachgewiesen, daß in jeder

Sinneswahrnehmung neben dem unmittelbar Gegebenen ein

Wissenshintergrund und Elemente der Interpretation, der Erwartung

und Vervollständigung enthalten sind, die weit über das eigentlich

Erkannte im strengen Sinn hinausgehen und durch die sich uns doch

erst der Gegenstand erschließt. Es ist unmöglich, hier auf das

interessante Thema einzugehen, welche verschiedenen Formen eines

solchen Über-das-Gegebene-und-Erkannte-Hinausgehens es gibt und

wie sich dem Menschen vieles Seiende nur durch solche

"Glaubens"- und Interpretationselemente hindurch erschließt. Niemand

sollte und könnte nur das für wahr und seiend halten, was er im strengen

Sinn des Wortes erkannt hat!

Aber dennoch muß man sehen, daß die "Erkenntnis selbst" von diesen

Glaubenselementen verschieden ist, daß es niemals in der Erkenntnis

selbst liegt, daß sich "uns etwas erschließt, was nicht ist", sondern

vielmehr in diesen über das Erkennen hinausgehenden, von ihm schwer

zu lösenden Elementen des Glaubens, der Annahme und Interpretation

und anderen Elementen, die verständlicherweise bei nicht genügender

Erkenntnisgrundlage in die Irre führen können.

Man muß aber ganz klar festhalten, daß oft der Erkenntnisbegriff eben

auf alle Arten des "Sich-Erschließens eines Seienden" angewendet

wird—und dann gehört es nur zum Begriff des Erkennens, daß sein

101 Im II. Teil soll gezeigt werden, wo überall wir diesen "Seinsanspruch"

ohne jeden "Glaubensrest" erkennen.

68

Gegenstand autonom ist. Dann sind Täuschungen (die eine Grundlage

in Erkanntem haben) und entsprechende Erkenntnisse nicht ihrer

inneren Struktur nach verschieden, sondern nur von außen her als

verschieden erkennbar... Wenn man hingegen Erkenntnis in einem

engeren Sinn versteht, dann meint man damit jenen urgegebenen Akt,

in dem sich uns ein Seiendes in seiner autonomen Realität erschließt

und wo wir es selbst erfassen. Ohne eine solche Erkenntnis im engeren

Sinn, das heißt das Erfassen von Sachverhalten, die tatsächlich an sich

so sind und uns in diesem Ansichsein gegeben sind, wäre überhaupt

keine Täuschung möglich, wie schon gezeigt wurde.

Bei diesem Erkennen im engeren Sinn gehört es durchaus nicht bloß

zum Begriff, sondern zum notwendigen Wesen dieses Aktes, daß sich

uns in ihm Seiendes, wie es ist, erschließt.102 Das Wesen der Erkenntnis

soll nun weiter erforscht werden, damit dies deutlicher wird.

Erkennen, Kenntnisnahme, Wissen, Kennen

102 Vgl. dazu B. Schwarz, Der Irrtum, S. 53: "Die höchste Stufe des Ge-

gebenen... kann also nicht irren." Wir berühren hier wahrscheinlich weit-

gehend den Unterschied, den Platon mit dìja und åpist×mh

gekennzeichnet hat oder auch mit seiner Gegenüberstellung von péstiw

(Glaube, Meinung) åpist×mh (Erkenntnis), obwohl Platon in den Begriff

der åpist×mh wohl auch hineinnimmt, daß ihr Gegenstand eine

unveränderliche, notwendige Idee (Wesenheit) ist und andere näher zu

besprechende Elemente. Jedenfalls scheint Platon eindeutig diesen

Unterschied zwischen Erkenntnis im eigentlichen und in einem weiteren

Sinn im Auge gehabt zu haben, wenn er besonders im Theaitetos (187b—

210d) die (de facto) "richtige doxa" (ìru× dìja) der Erkenntnis

gegenüberstellt, wie ich überhaupt den platonischen Analysen der

Erkenntnis, insbesondere im Theaitet, mehr verdanke, als ich in Fußnoten

zum Ausdruck bringen kann. In einer anderen Hinsicht kommt der hier

eingeführte Unterschied dem näher, was Aristoteles im Gegensatz zu

Platon, der die Sinneserkenntnis selbst als trügerisch ablehnt, über die

Irrtumslosigkeit des vordiskursiven Erkennens gesagt hat. (Vgl. De an.

427b, 12). Siehe J. Hirschberger, Geschichte der Philosophie, I, S. 179.

Diese Andeutungen müssen hier genügen. Die Erkenntnis im eigentlichen

Sinn gegenüber der mit Glaubens- und Interpretationselementen verbunde-

nen Erkenntnis (im weiteren Sinn) wird im dritten Kapitel des I. Teils und

vor allem im II. Teil dieser Arbeit ausführlich behandelt.

69

Im Rahmen dieser Arbeit sprechen wir von "Erkenntnis" und können

dabei diesen grundlegenden Akt der Person nicht in seiner

Verzweigtheit, sondern nur in seinen fundamentalen Grundzügen

untersuchen. So gehen wir weder auf alle die verschiedenen Arten des

Erkennens ein, die den verschiedenen Seinsarten entsprechen—wie

etwa Sachverhaltserkenntnis im engeren Sinn im Unterschied zur

Kenntnisnahme von Sachen—, noch wenden wir uns in dieser Arbeit

dem Unterschied zwischen dem ersten kenntnisnehmenden Akt und

dem erkennenden Verweilen beim Gegenstand zu. Wir grenzen auch

nicht das aktuelle Erkennen vom überaktuellen Akt des Wissens

einerseits, das sich nur auf Sachverhalte bezieht, und des Kennens

andererseits, das sich nur auf "Gegenstände" als solche bezieht, ab.

Auch können wir nicht die Eigenart der beiden Grundthemen der

Erkenntnis herausarbeiten, des Notionsthemas einerseits und des

kontemplativen Themas andererseits. Bezüglich dieser Unterschiede

können wir hier auf die zitierten Schriften A. Reinachs, A. Pfänders, E.

Husserls und vor allem D. von Hildebrands verweisen.

Was wir in dem Rahmen dieser Arbeit vom Erkennen sagen wollten,

gilt sowohl für die erstmalige, punktuelle Erschließung des

Gegenstandes als auch für das dauernde, erkennende Verweilen beim

Gegenstand; es gilt für das Wesen allen Erkennens als solchen und muß

daher auch für die Allerkenntnis und Allwissenheit Gottes gelten.

Wir meinen mit "Erkenntnis" in dieser Arbeit also jenen elementaren

Urgestus, der sowohl punkthafte Erkenntnis von Sachverhalten und

Kenntnisnahme von "Gegenständen" als auch in modifizierter Weise

dauerndes erkennendes "Haben" eines Seienden auszeichnet: Die

aktive Rezeptivität, die Autonomie des Gegenstandes, das

SichErschließen-des-Gegenstandes-unserem-Geist, wobei uns das

Seiende zumindest potentiell immer neu Kenntnis seiner selbst

spendet—all diese Züge sind in den genannten Formen des Erkennens

zu finden. Erkennen meint hier also einen Urtypus von geistigem Akt,

und wir wählen diesen Terminus, um die im "Wissen" gelegene

Einschränkung auf Sachverhalte und jede sonstige Einschränkung auf

einen Teilbereich des Erkennens zu vermeiden.

Die Transzendenz in der Erkenntnis ist wesenhaft ein

Empfangen

70

Wenn betont wird, das Subjekt überschreite sich selbst im Akt des

Erkennens, so muß daran festgehalten werden, daß dies nicht bedeutet,

es schaffe etwas außerhalb seiner selbst—Erkennen ist vielmehr ein

empfangendes Sich-Selbst-Überschreiten.

"Erkennen ist wesenhaft ein 'Empfangen'. Jede Fassung des Erkennens

als ein geistiges 'Produzieren' von etwas verkennt das Erkennen in

seinem eigentlichsten Wesen. Zum Wesen des Erkennens gehört, daß

ein Gegenstand, so wie er ist, von der Person erfaßt, verstanden,

aufgenommen wird, daß der Gegenstand sich erschließt, sich in seinem

Sein vor unserem geistigen Auge entfaltet. Die idealistische

Umdeutung des Erkennens in ein geistiges Verarbeiten eines amorphen

Stoffes, in ein Schaffen des Erkenntnisgegenstandes ist darum die

Leugnung des Erkennens schlechtweg."103

Der empfangende Grundgestus des Erkennens bedeutet in keiner

Weise, daß das Erkennen ein rein passives Erleiden sei. Erkennen ist

vielmehr ein aktives Mitvollziehen des inneren Gestus des Seienden

das sich mir erschließe. Rezeptivität und Aktivität schließen einander

in keiner Weise aus. Doch ist alle Aktivität des Erkennens wesenhaft

rezeptiv. Um die einzigartige Form der Transzendenz zu verstehen, die

dem Erkennen eigen ist, muß man sich klarmachen daß Erkennen durch

und durch ein geistiges Erfassen ist, das innerhalb der physischen Welt

absolut nicht seinesgleichen hat und das wir nur erfassen können, wenn

wir über alle körperlichen Analogien hinausgehen und das Wesen

dieses personalen Aktes selbst in den Blick bekommen.

Nietzsches Auffassung der Erkenntnis als ein Schaffen—

ein radikaler Immanentismus

Unterschied zum bloßen Psychologismus

Die bisher behandelten irrigen Auffassungen verkennen primär nur den

intentionalen Charakter des Erkennens, aber sie leugnen nicht

ausdrücklich einen (wenigstens erfahrungsgemäß) rezeptiven Gestus

103 D. von Hildebrand, Der Sinn philosophischen Fragens und Erkennens

I,1 und 2. Vgl. What is philosophy? I, 2. Vgl. dazu auch B. Schwarz, Der

Irrtum in der Philosophie, I. Teil, I. Abschnitt, I. Kap., 6.

71

des Erkennens. Wenn sie philosophisch besonders undifferenziert sind,

wie viele von der Physiologie inspirierte Formen des Psychologismus,

dann setzen sie den Raum und die objektive Existenz der Außenwelt

durchaus als real existierend und als solche bekannt voraus. Sie nehmen

physiologische Prozesse als unbezweifelbare, objektive Wirklichkeit

an—und behaupten dann, diese "Reize" verwandelten sich in

"Bewußtseinsinhalte" und diese allein seien uns letztlich bekannt,

weshalb wir niemals erkennen könnten, wie die Wirklichkeit objektiv

ist. So widerspruchsvoll eine derartige Position ist — weil ständig

vorausgesetzt wird, daß wir Raum, Zeit, Materie, physiologische

Prozesse, Kausalität usw. in ihrem objektiven Sein erkennen können —

, so wird darin doch eine gewisse Rezeptivität der Wahrnehmung und

der Erkenntnis nicht geleugnet.104

Obwohl die wahre Rezeptivität der Erkenntnis notwendig ihren

intentionalen (sinnvoll und bewußt auf ein vom Subjekt verschiedenes

Objekt bezogenen) Charakter einschließt, so kann doch in vager und

nicht konsequenter Philosophie das intentionale Haben eines Objekts

in ein "Sein" im Bewußtsein umgedeutet werden, ohne daß dabei der

rezeptive Charakter des Erkennens geleugnet würde.

Jetzt wollen wir uns einer Auffassung zuwenden, die vor allem die

Rezeptivität des Erkennens leugnet, jenen Geschenkcharakter des

Erkennens, in dem das Erkannte sich uns erschließt.

Nietzsches und Kants Auffassung des Erkennens

Diese beiden Auffassungen kommen für uns hier in keiner Weise aus

einem historischen Interesse für diese beiden Denker in Betracht,

sondern vielmehr als "ideale Irrtümer", weshalb wir sie von vielen

anderen widersprüchlichen Positionen derselben Denker befreien

müssen. Wir wiederholen, daß in diesem Kapitel die Auffassung der

Erkenntnis als Schaffen nur insofern betrachtet wird, als dieses

Schaffen für ein bewußtes erklärt wird. Natürlich findet man bei

Nietzsche von der Geburt der Tragödie an in sämtlichen Werken

zahlreiche Stellen, in denen er einen Psychologismus im vorhin

104 Dies bewog ja auch den späten Berkeley, Gott als Urheber unserer

subjektiven Ideen anzusetzen, und genau aus diesem Grunde nahm ja auch,

Kant an, daß die Sinneseindrücke, die ich, empfange, von einem "Ding an

sich'' ausgehen müssen.

72

behandelten Sinn, einen Materialismus oder die Lehre von einem

unbewußten Schaffensvorgang, ja sogar von einer Art bösem Weltgeist

vertritt. Dennoch erklärt Nietzsche (vor allem auf dem Gebiete der

metaphysischen, philosophischen Erkenntnis) das Erkennen

zunehmend in seinen späteren Werken als einen bewußten Akt des

Schaffens und Zeugens.

Das hindert nicht, daß er oft sehr der Kantischen Position ähnliche

Thesen vertritt. Bei Kant wird zwar die Erkenntnis in ein "Schaffen''104a

des Objekts aus einem amorphen Stoff umgedeutet, aber bei ihm (und

besonders beim späten Schelling) tritt die erwähnte notwendige

Zweiteilung in ein unbewußtes (transzendentales, schöpferisches!) und

ein bewußtes Ich hervor. Da Kant den elementar rezeptiven Charakter

des Erkennens, sofern es uns bewußt gegeben ist, nicht ganz leugnen

kann, deutet er eben das "Spontane" als ein jenseits unseres

Bewußtseins gelegenes "Ich" um. Dieses wird immer mehr zum

"Unbewußten". Diese Auffassung (sofern Kant, aber auch Nietzsche

und andere Denker sie vertreten) wird im Il. Teil untersucht.

Es gibt aber eindeutig eine Auffassung, nach der auch der bewußte Akt

des Erkennens als ein schöpferischer verstanden wird und in der

deshalb die Rezeptivität auch dem bewußt erlebten Akt des Erkennens

abgesprochen wird. Ich möchte gewisse Stellen Nietzsches zitieren, die

dann auch bei Sartre und in weiten Kreisen moderner Philosophie, der

Psychologie und der Lebensphilosophie ihre "Früchte" getragen haben.

Wenn dort vielleicht auch in bezug auf die Sinneswahrnehmung der —

dem bewußten Erleben nach — rezeptive Grundzug der Wahrnehmung

nicht geleugnet wird, so wird doch im moralischen, metaphysischen

und religiösen Bereich die Rezeptivität auch des bewußten

Erkenntnisaktes geleugnet. "Eine erste Bewegung, ein aus sich

rollendes Rad, einen Schaffenden sollst du schaffen."105

104a In diesem Zusammenhang meine ich mit "Schöpfung" und

"schöpferisch" nicht im engeren Sinn des Wortes einen bestimmten

willentlichen, bewußten Akt, sondern gebrauche diese Ausdrücke in einem

weiteren Sinn, in dem alles — bewußt oder unbewußt — vom Menschen

Erzeugte, Produzierte oder Projizierte seine "Schöpfung" genannt werden

kann. 105 Nietzsche, Zarathustra, Zarathustras Reden: "Von Kind und Ehe". Ne.

We. Bd. II, S. 332.

73

"Auch im Erkennen fühle ich immer nur meines Willens Zeuge- und

Werde-Lust; und wenn Unschuld in meiner Erkenntnis ist, so geschieht

dies, weil Wille zur Zeugung in ihr ist.''106

Im Willen zur Macht spricht Nietzsche einmal von seinem ersten

Hauptwerk, der Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, und sagt

dabei unter anderem Folgendes: "In der Vorrede bereits, mit der

Richard Wagner wie zu einem Zwiegespräch eingeladen wird,

erscheint dies Glaubensbekenntnis, dies Artistenevangelium: ,Die

Kunst als die eigentliche Aufgabe des Lebens, die Kunst als dessen

metaphysische Tätigkeit...''107

Schon aus diesen Sätzen kann man entnehmen, daß der Begriff "Kunst"

im Zentrum des Denkens Nietzsches steht—und es wäre in der Tat

möglich, seine ganze Philosophie darzustellen, indem man nur die

Bedeutung genau untersucht, die er den Begriffen "Kunst" und

"Künstler" gibt. Was man sogleich bemerken muß, ist die ungeheure

Ausdehnung und damit die Mehrdeutigkeit der Begriffe "Kunst" und

"Künstler" bei Nietzsche. So kommen schon in der Geburt der Tragödie

Ausdrücke vor wie: " . . . das über das Dasein gebreitete Netz der Kunst,

sei es auch unter dem Namen der Religion oder der Wissenschaft.''107a

Aber auch dort, wo Nietzsche von Kunst im engeren Sinn spricht,

betrachtet er sie nur von einer ganz bestimmten Seite. "Ästhetik"

bedeutet bei ihm niemals die Lehre vom Schönen oder vom Gegenstand

der Kunstbetrachtung. Eine solche Philosophie nennt Nietzsche

verächtlich "Weibsästhetik". Wenn er von Kunst spricht, so meine er

diese immer "vom Phänomen Künstler her gesehen", nicht vom

Betrachter aus. Außerdem löst er noch das Produzieren und Schaffen

des Künstlers von jeder objektiven Ordnung des Schönen los, von jeder

rezeptiven Tätigkeit, in der die besondere Schönheit rezeptiv erfaß

wird, die bestimmten Melodien und Rhythmen, Sprechweisen, Szenen

und Gestalten objektiv eigen ist. Er faßt den Akt des Künstlers als ein

durch keine objektive Ordnung "begrenztes" Zeugen, als "höchste"

Willkür auf.

Und diese von jedem Empfangen objektiver Sinneinheiten und Werte

isolierte schöpferische Tätigkeit des Künstlers, die im Bild des "aus

106 Nietzsche, Zarathustra, 2. Teil: "Auf den glückseligen Inseln". Ne. We.

Bd. II, S. 345. 107 Vgl. Nietzsche, Wille zur Macht, a. a. 0., S. 578 (IV). 107a Ne. We. Bd. I, S. 87 (15).

74

sich rollenden Rades" treffend dargestellt ist, überträgt Nietzsche vom

Bereich der Kunst auf den Bereich des ganzen Lebens, der Kultur, der

Metaphysik, der Religion, jeden Erkennens.108

In der künstlerischen, in der schaffenden Tätigkeit tritt für Nietzsche

das Wesen des Menschen überhaupt und insbesondere allen Erkennens

zutage: schaffende Tat, Wille—"Wille zur Macht und nichts

außerdem!''109 — das ist für Nietzsche auch das Wesen allen Erkennens.

Das Erkennen, dieser Urakt des menschlichen Geistes, ist also seiner

Auffassung nach nicht empfangend, rezeptiv — sondern ein spontanes,

schöpferisches Tun, dessen Ursprung im Menschen selbst liegt.

Auch Erkennen ist für Nietzsche ein "aus sich rollendes Rad", das heißt

bei ihm nicht nur eine Bewegung, welche eine immanente

Selbststeigerung der Macht des Subjekts bedeutet, sondern auch ein

Akt, der, wenn er über sich hinausgeht und ein Objekt hat, dieses

schafft und ihm seinen Sinn und Wert gibt.

Die Sinnlinie des Erkennens geht also nach Nietzsche spontan und

erzeugend vom Subjekt aus und verläuft zu einem Objekt hin, das in

108 Es wird später deutlich, welche ungeheuerlichen Konsequenzen diese

Auffassung der Erkenntnis hat; es kann in dieser Arbeit nicht gezeigt

werden, welche Motive Nietzsche zu diesem Gedanken bewegen, wie er

darin die Erfüllung des "Willens zur Macht" und des "Lebens" erblickt und

warum er diesen Gedanken, "daß das Leben nun ein Experiment des

Erkennenden sein dürfe", als "den großen Befreier" ansah—jetzt genügt es,

auf diese Interpretation der Erkenntnis selbst hinzuweisen: In einer

früheren unveröffentlichten Arbeit Wahrheit und Irrtum bei Nietzsche

versuchte ich, einerseits die Ansatzpunkte Nietzsches bei Kant zu zeigen

und anderseits, daß der Relativismus bei Nietzsche nicht eigentlich ein

Irrtum ist, sondern daß es sich um den bewußten Versuch handelt, sich dem

Joch jeglicher objektiver Wahrheit zu entziehen, der nur verständlich wird,

wenn man den Lebens- und Machtbegriff bei Nietzsche tiefer verstanden

hat als die schrankenlose illegitime Herrschaft des bloß subjektiv

Befriedigenden, des "amor sui usque ad contemptum Dei" (Augustinus).

Vgl. D. von Hildebrands Christliche Ethik, Kap. 3 (S. 49); die dort

gemachten, für die ganze Ethik entscheidenden Unterscheidungen von drei

Bedeutsamkeitskategorien ermöglichen das eigentliche Verständnis des

"Willens zur Macht" bei Nietzsche. 109 Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, a. a. O., S. 697 (1067).

75

seinem Sein, seinem Wesen, seinem Wert sich nicht dem Subjekt

erschließt, sondern von diesem geschaffen wird.

Ja, die Auffassung der Erkenntnis als ein "Sinngeben" muß man als die

heute weithin herrschende bezeichnen. Diese Interpretation der

Erkenntnis als ein Schaffen verbindet die beiden Elemente des

Immanentismus, die in diesem Kapitel behandelt werden sollen. Sie

geht davon aus, daß das Erkennen kein Empfangen, sondern ein radikal

von jeder objektiven Ordnung "freies" Schaffen und Erzeugen ist, daß

also die Sinnlinie von mir, von meinem bewußten Sein ausgeht, indem

sie dort anhebt, zum Objekt hin verläuft und dieses schafft und

hervorbringt. Indem sie eine solche Spontaneität unseres Erkennens

annimmt, geht diese Auffassung in einem gewissen Sinn noch weiter

als die psychologistische, in der immerhin noch soviel Abhängigkeit

unserer Erkenntnis von irgendwelchen "äußeren Ursachen" anerkannt

wird, soviel "Rezeptivität", daß noch nach dem "transzendenten

Objekt" (im Unterschied zu einem "immanenten") oder, wie bei

Berkeley, nach dem Urheber meiner Ideen gefragt wird. Obwohl das

esse mit dem percipi identifiziert wird, setzt man doch Intentionalität

und vor allem Rezeptivität soweit voraus, daß man sich mit einer

vollkommen bewußtseinsimmanenten "Erklärung" der Erkenntnis

nicht zufrieden gibt. Hier jedoch—in der radikalsten

"Willens-Position" Nietzsches, die sich dann etwa bei Sartre fortsetzt—

wird versucht, die Erkenntnis vollkommen als "aus sich rollendes Rad",

als quasi-göttliches Schaffen (quasi-göttlich, nicht nur, weil dem

Menschen göttliches Schaffen zugeschrieben wird, sondern weil darin

auch eine Karikatur des Schaffens Gottes liegt, in dessen Wesen alle

ewigen "rationes" der Dinge liegen und der allein den geschaffenen

Dingen und Personen autonome Wirklichkeit verleiht) aufzufassen, in

dem die Frage nach einem "jenseits" der Erkenntnis liegenden Sein

immer mehr als sinnlos erscheint, in dem Sein und Wahrheit auf den

Akt des Erkennens beschränkt werden.110 In allem glaubt Nietzsche

sozusagen nichts anderes als seinen "Willen zur Macht", seine

dionysische Schöpferkraft als zureichenden Grund zu erkennen.111

110 Diese Auffassung findet ihren radikalen Höhepunkt in Heideggers

Schrift Platons Lehre von der Wahrheit, S. 26—30; S. 35—38. 111 Das hindert selbstverständlich nicht, daß wir bei Nietzsche andere, dem

widersprechende Stellen finden.

76

Damit aber werden alle Dinge letztlich nicht einmal mehr als

"Erscheinungen" betrachtet, denen ein objektives "Sein an sich"

entsprechen könnte, sondern als Gestalten und Spiele — und dieser

Schein ist bei Nietzsche die Realität112 —, in denen ich nur mich,

meinen Willen, meinen "Willen zur Macht—und nichts außerdem"

kenne.

Die beiden Grundrichtungen der Transzendenz

Die "rezeptive Transzendenz" des Erkennens als Grundlage jeder«

Transzendenz, doch nicht als einzige Form derselben

Um die spezifische Eigenart der Transzendenz, die in jeder Erkenntnis

liegt, noch tiefer zu verstehen, müssen zwei Dinge klar festgehalten

werden:

Erstens: Gäbe es den Akt des Erkennens mit seinem notwendig

empfangenden Grundzug nicht, könnten wir uns niemals

transzendieren und blieben rettungslos im eigenen Ich als einem

Gefängnis eingeschlossen. Ohne das im Erkennen gegebene

Bewußtsein von etwas, ohne das intentionale "Haben" einer Sache,

ohne die nur einem erkennenden Wesen mögliche Beziehung zwischen

personalem Subjekt und Objekt wären alle übrigen Formen der

Transzendenz des Menschen unmöglich. Mit einem Wort: Wer die

rezeptive Transzendenz im Erkennen leugnet, muß notwendig jede

Form der Transzendenz leugnen. Außerdem widerspricht sich jede

Leugnung der Rezeptivität des Erkennens selbst. Denn der als wahr

angenommene Satz "Erkennen ist schöpferisch", kann ja nicht wieder

bloß als ein "Produkt" des Geistes angesehen werden, sondern als

Formulierung einer Erkenntnis, in der sich mir der vorhergehende

Sachverhalt, daß Erkennen wirklich schöpferisch sei, erschlossen hat.

Zweitens: Dennoch ist das notwendig im Erkennen liegende

Empfangen nicht ein Wesenselement der Transzendenz als solcher.

Denn es gibt andere Akte, die nicht rezeptiv (empfangend) sind und in

denen wir uns doch in einem gewissen Sinn noch tiefer selbst

112 Dies hat besonders eindringlich Walter Del-Negro in seiner Preisschrift

Die Rolle der Fiktionen in der Erkenntnistherorie Friedrich Nietzsches, S.

30 ff., S. 40 ff., S. 132 ff. (in der Auseinandersetzung mit der Interpretation

Nietzsches in Vaihingers Philosophie des als Ob) dargestellt.

77

überschreiten als in der Erkenntnis. Wenn wir wie Sokrates nicht bloß

nach eigenem Glück oder gar nach unserer rein subjektiven

Befriedigung dürsten, sondern nach dem, was in sich selber wertvoll

und gut ist, wenn wir unter schweren persönlichen Opfern oder sogar

um den Preis des Lebens ein Unrecht nicht begehen wollen,

transzendieren wir uns in einer einzigartigen Weise.113 Diese

Transzendenz der Wertantwort und vor allem der Hingabe an das

sittliche Gute geht weit über die der Erkenntnis hinaus und ist mit

unserem ewigen Schicksal verknüpft, wie schon Platon sah. Diese

sittliche Wertantwort ist aber nicht rezeptiv, sondern spontan.114

Der Dialog und die metaphysische Bedeutung der beiden

Grundrichtungen der Transzendenz

Der Begriff "rezeptiv" und sein Gegenbegriff "spontan" müssen

deshalb klarer verstanden werden.

Wir berühren hier einen so grundlegenden Unterschied, daß niemand

das Wesen des Menschen, seine metaphysische Situation und

überhaupt die wichtigsten metaphysischen Wirklichkeiten erkennen

kann, ohne ihn klar zu sehen. Es gibt nämlich zwei Grundrichtungen,

in denen der Mensch sich selbst überschreiten kann, in denen die

Transzendenz der Person sich entfaltet. Dies werden wir am ehesten

einsehen, wenn wir an die Situation denken, in der sich das

metaphysische Wesen des Menschen besonders enthüllt, an den Dialog

zwischen zwei Personen. Denn in ihm sind die beiden Richtungen, in

113 Vgl. dazu D. von Hildebrand, Christliche Ethik, Kap. 3, 17, 18. Die über

den Bereich des Erkennens hinausgehenden Formen der Transzendenz

können in dieser Arbeit nicht angeführt werden. Es gibt nicht nur den Un-

terschied zwischen "rezeptiver Transzendenz" (des Erkennens) und der

spontanen, sondern auch andere Unterschiede, die mit diesem unmittelbar

nichts zu tun haben. So ist etwa die Transzendenz die in der Unsterblichkeit

des Menschen liegt, weder "spontan" noch "rezeptiv". Diese Andeutung

muß hier genügen. 114 Abgesehen davon, daß die Wertantwort dieselbe spontane Richtung der

Transzendenz besitzt wie auch ein Urteilsakt, ist sie von diesem viel

verschiedener als dieses vom Erkennen, weil in ihr nicht das Erkenntnis-

thema herrscht und sie eine ganz andere "Grenze" überschreitet. Vgl. Die

Einleitung, S. 29 ff.

78

denen eine Person das Gefangensein in sich selbst überschreiten kann,

offenbar. Einerseits spricht der andere zu mir, und ich höre und

verstehe, ich lausche. Anderseits spreche ich zum andern und antworte.

Der entscheidende und grundlegende Unterschied zwischen diesen

beiden Richtungen der Transzendenz leuchtet in seiner inneren

Notwendigkeit ein.

Wenn der andere zu mir spricht, sich mir erschließt, bin ich gleichsam

"leer". Ich empfange etwas. Denn was ich vernehme, ist nicht Teil

meines eigenen Seins, sondern sein Wort. Die Sinnlinie geht dabei

eindeutig vom andern aus und verläuft zu mir. Er ist es, der sich mir

erschließt. Ich transzendiere mich hier also, indem ich empfange und

das Wort verstehe, das ein anderer zu mir spricht. Diese Richtung der

Transzendenz ist der Grundzug allen Erkennens und genau sie nennen

wir "rezeptiv". Dieser Begriff hat also nichts mit "passiv" zu tun im

Sinne eines unaktiven, untätigen Verhaltens, eines reinen

Sich-prägen-Lassens.115 Im Gegenteil: Diese rezeptiven Akte des

Menschen sind zutiefst aktiv. Ja die eigentlichste geschöpfliche

Tätigkeit ist gerade die Rezeptivität. Wir sind ja von uns selbst,

unabhängig von dem Sein und den Werten, an denen wir in der

Erkenntnis teilhaben, gleichsam nichts. Ein Mensch, der an nichts

erkennend teilhätte, würde in einer vollkommenen Finsternis leben. Die

Natur, die Schönheit, andere Personen, alle Werte, im tiefsten Sinne

Gott sind die Quelle all unseren geistigen Lebens und sie alle liegen

jenseits unseres Geistes. Ausschließlich im Erkennen, in jenem

Empfangen können wir zunächst in Beziehung mit ihnen treten. Diese

erste Richtung der Transzendenz ist deshalb gleichsam das Urwort der

kontingenten Person. Sie findet sich nicht nur im Erkennen und in dem

inneren Teilhaben am Seienden, durch das wir gleichsam "erfüllt"

werden, wodurch unser eigenes Sein erwache, sondern auch im

Affiziertwerden, im Getroffenwerden durch Werte, in denen nicht nur

unser Intellekt Werte sieht und erkennt, sondern unser Herz von ihrer

Stimme bewegt wird. Diese intimere Teilhabe am werttragenden

115 Vgl. dazu bes. B. Schwarz, Der Irrtum i. d. Philosophie, I, I, 6.

79

Seienden ist auch zutiefst rezeptiv.116 Die "empfangende Transzendenz"

ist also "die metaphysische Rolle des Menschen''.117

Doch ich kann anderseits auch sprechen. Ich kann nicht nur lauschen

und hören, sondern ich kann auch demjenigen, der zu mir spricht,

antworten. Dabei überschreite ich mich in der umgekehrten Richtung

Hier schweige ich nicht mehr, der Gehalt liegt nicht mehr auf der

Objektseite, im Wort der andern Person, die Sinnlinie verläuft nicht

mehr von ihr zu mir, sondern umgekehrt von mir zu ihr. Ich spreche

und antworte. Ich bin in einem ganz neuen Sinn der Urheber dieser

Akte, indem ihre Sinnlinie von mir ausgeht, von mir "gesetzt" ist.

Obwohl die erste Richtung der Transzendenz für alle kontingenten

Personen primär ist, heißt dies keineswegs, daß die zweite Richtung

der Transzendenz, das Sprechen und besonders das Antworten (mehr

noch als das Schaffen) weniger wichtig und wesentlich wäre. Im

Gegenteil: In diesen Antworten allein können wir zu Trägern der

höchsten Werte, der sittlichen werden.

Doch auch diese "spontanen" Akte des Menschen bleiben abhängig

von dem "Wort", auf das wir antworten, von den Werten, die sich uns

erschließen müssen, bevor wir antworten. Dies gilt sogar von der

"spontansten" aller Tätigkeiten des Menschen, dem Schaffen.

Sicherlich, hier bringen wir etwas hervor, wir erfinden etwas, dennoch

aber können wir nur schaffen und erfinden, was wir auch irgendwie

zuerst finden. Dies gilt nicht nur für philosophische Werke, die, wie wir

sehen werden, gänzlich von der Einsicht in ewige Wahrheiten getragen

sein müssen, die unabhängig von uns existieren, wo jede "Erfindung"

ausscheidet, sondern wir brauchen nur an die Rolle der Inspiration der

geschenkhaften "Einfälle" in der schöpferischen Kunst zu denken um

zu sehen, daß alle spontane Tätigkeit des Menschen, und zwar desto

116 Dies hat wiederum D. von Hildebrand am klarsten herausgearbeitet. Vgl.

etwa seine klassischen Ausführungen über das Thema in Christliche Ethik,

Kap. 17, S. 251 ff. Vgl. auch Über das Herz, Kap. 2. "Nichtgeistige und

geistige Formen der Affektivität" S. 73 ff. 117 Damit soll keineswegs gesagt sein, daß in Gott "reine Spontaneität"

bestünde und daß es nicht auch in der göttlichen Erkenntnis (etwa der

gegenseitigen Erkenntnis der göttlichen Personen) "das Urbild" dessen

geben mag, was hier als Rezeptivität, als die eine Grundrichtung des

"Dialogs" herausgearbeitet wird.

80

mehr, je tiefer sie ist, von der rezeptiven getragen sein muß, sonst wird

sie tot und unfruchtbar.

Die zweite Richtung der Transzendenz, in der wir nicht hören, sondern

"sprechen", nenne ich "spontan''. 118

Mögen auch zwischen einem Akt des Urteilens, einem

Willensentschluß, einer Liebe oder einem spezifisch schöpferischen

Akt in anderer Hinsicht große Unterschiede bestehen, sie alle sind

"spontan" in dem eben bestimmten Sinne, in dem sie das "Wort des

Subjekts" sind, das dieses ausspricht bzw. zu einem Gegenstand oder

einer anderen Person spricht.

Dieser "Dialog"—mit den zwei Grundrichtungen der Transzendenz —

durchzieht das gesamte geistige Leben der Person. Und es ist

verhängnisvoll, wenn man diesen Unterschied als einen "bloß

psychologischen" auffaßt (und nicht vielmehr als einen

metaphysischen von letzter Bedeutung erkennt) und deshalb versucht,

die "rezeptiven Akte" auf spontane zurückzuführen.119 Man

118 Der Begriff der "spontanen" Akte wurde schon von Adolf Reinach her-

vorgehoben. (In: Zur Phänomenologie des Rechts.) Aber der Begriff

"spontan" wird dort in einem etwas engeren Sinn gefaßt. (Vgl. I. Kapitel:

"Die sozialen Akte".) Für ihn sind etwa Antworten wie die Empörung über

ein Unrecht keine spontanen Akte, weil er das willensmäßige Erzeugen mit

in den Begriff des Spontanen hineinnimmt. Dietrich von Hildebrand hat

hingegen als erster diese beiden Begriffe in What is philosophy? in dem

Sinn eingeführt, in dem sie hier verwendet werden und wo sie die zwei

Grundrichtungen aller transzendenten und intentionalen Akte der Person

bedeuten. In Christliche Ethik (Kap. 17, S. 253) zeige er klar, wie auch

affektive Antworten, wie Empörung oder Liebe (gegenüber dem

Affiziertwerden), diesen spontanen Charakter tragen. 119 Genau das versucht, wie im II. Teil gezeigt wird, Kant, indem er die

Rezeptivität nur in einem "psychologischen Bereich" des uns "Gegebenen"

anerkennt, jenseits dessen er spontan gebildete Anschauungs- und Denk-

formen annimmt, deren Anwendung in Urteilen Kant für Erkenntnisse hält.

Jede Philosophie, die letzten Endes nur spontane Akte anerkenne und in

ihnen das Ursprüngliche siehe, wie Kant, Fichte, Schelling, Nietzsche oder

Heidegger—oder auch viele, ja die meisten Formen der Tiefenpsychologie

sowie viele Formen der Soziologie und materialistisch-evolutiver

Erklärungen der Erkenntnis—führt in notwendiger Konsequenz in eine

monologische Metaphysik, das heiße in einen radikalen Immanentismus, ja

Solipsismus.

81

vergewaltigt damit die Wirklichkeit und richtet sich außerdem gegen

die gesamten metaphysischen und sittlichen Grundlagen unseres

Lebens, letzten Endes gegen Gott, da man einen spontanen Akt des

menschlichen Geistes diese "setzen" oder "schaffen" läßt und sie

deshalb nicht als an sich bestehende, transzendente Wirklichkeit mehr

anerkennen kann. Vielleicht wäre es besser, der Terminologie

Alexander Pfänders und der Frühschriften D. v. Hildebrands (vgl. Die

Idee der sittlichen Handlung, a. a. O., S. 9) darin zu folgen, daß man

die spontanen Akte "zentrifugal" und die rezeptiven "zentripetal"

nennt, weil diese Termini unmißverständlicher auf die gemeinten

Urgegebenheiten hinweisen.

Das Erkennen als Grundform der "rezeptiven Transzendenz"

In allen seinen Formen stellt das Erkennen den klassischen Fall einer

"rezeptiven Transzendenz" dar. Jetzt, nachdem die zwei

Grundrichtungen der Transzendenz analysiert wurden, kann man dies

noch klarer sehen. Es zeigen sich also nicht nur jene psychologistischen

Auffassungen als falsch, die jede Transzendenz des Erkennens leugnen

und diese auf bloße "Bewußtseinsinhalte" beschränkt sein lassen,

sondern ebenso, wenn nicht noch mehr die Behauptung, das Erkennen

sei zwar ein transzendenter, aber ein spontaner Akt, die sich bei

Nietzsche fand. Wir sehen, daß eine solche Auffassung in einen

radikalen Immanentismus führt, da für die menschliche Person jede

Transzendenz unmöglich ist, wenn sie nicht in einer rezeptiven

grundgelegt ist. Ja, diese zwei "Grundrichtungen" personaler

Transzendenz gründen so notwendig im Wesen des Erkennens oder

Stellungnehmens und Schaffens, daß sie sich analog in jedem

personalen Sein überhaupt finden müssen.

82

2. KAPITEL

DIE REZEPTIVITÄT DES ERKENNENS GEGENÜBER

DER SPONTANEITÄT VON BEGRIFFSBILDUNG UND

BEHAUPTUNG

Bezeichnen mit Begriffen als spontaner Akt

Vergleicht man den Akt, in dem wir Dinge mit Begriffen bezeichnen

oder Sachverhalte in Urteilen behaupten, mit dem Akt des Erkennens

selbst, so geht einem die rezeptive Transzendenz in der Erkenntnis noch

deutlicher auf; denn oft hat man den rezeptiven Charakter des

Erkennens deshalb verkannt und in einen spontanen umgedeutet, weil

man diese eng verbundenen und doch so eindeutig voneinander

verschiedenen Akte miteinander verwechselte. So hielt zum Beispiel

Kant den Akt des Urteilens, der wirklich spontan ist, für den Grundakt

des Erkennens, eine Auffassung, die weit verbreitet ist und

schwerwiegende Konsequenzen hat, wie noch gezeigt werden wird. Es

muß hier etwas weiter ausgeholt werden:

Innerhalb der verschiedenen Arten der Erkenntnis gibt es einen ganz

fundamentalen Unterschied, auf den vor allem Adolf Reinach

hingewiesen hat: den zwischen Gegenstandserkenntnis einerseits und

Sachverhaltserkenntnis andererseits.120

Gegenstandserkenntnis und Begriff

120 Vgl. Adolf Reinach, Zur Theorie des negativen Urteil, in: Gesammelte

Schriften, S. 87 ff., wo dieser Unterschied mit den Begriffen "Kenntnis-

nahme" und "Erkenntnis" bezeichnet wird. Vgl. dazu auch D. von Hilde-

brand, What is philosophy?, Kap. I, I ff. Wir folgen der später von D. von

Hildebrand eingeführten Terminologie, wonach "Erkenntnis" alle

kognitiven Akte umfaßt und der von Husserl und Reinach eingeführte

Unterschied mit den beiden Begriffen "Gegenstands"- und

"Sachverhaltserkenntnis" bezeichnet wird. Auf die Gegenstands- bzw.

Sachverhaltsdiskussion bei Brentano, Meinong, Mally u. a. kann hier nur

hingewiesen werden. Vgl. dazu B. Schwarz, Der Irrtum..., II. Teil, Exkurse

S. 281—290, K. Wolf, Die Grazer Schule, a. a. O., S. 32—45. Auf die

Diskussion desselben Problems bei Husserl und Reinach wird im Laufe des

Kapitels verwiesen werden.

83

Unter "Gegenstandserkenntnis" ist alles Erkennen gemeint, auf dessen

Objekt wir nur mit Namen oder Begriffen, nicht aber mit Sätzen

unmittelbar abzielen. "Haus", "Rot", "Person", "Erkennen", "Wille"

können wir direkt nur mit Begriffen bzw. Ausdrücken, niemals mit

Sätzen bzw. Urteilen bezeichnen. Begriffe sind durch dieselbe

"Bedeutung" geeinte Ausdrücke, d. s. Worte, insofern wir durch sie

mittels ihrer Bedeutung auf etwas, auf eine bestimmte sinnvolle

Soseinseinheit hinweisen, die sich sowohl von dem absolut

ungestalteten Chaos als auch von anderen Gebilden abhebt.121

Sinnvollerweise werden alle Wesenheiten und alle spezifischen

Soseinseinheiten, die nicht eine bloße Zusammenfügung von

Elementen sind, sondern eine höhere Sinneinheit bilden, mit Begriffen

bezeichnet. Alles Seiende stellt nur in sehr verschiedenem Maß und

sehr verschiedener Gehaltfülle und innerer Notwendigkeit eine solche

Soseinseinheit, ein "Etwas" dar. Je nach der objektiven Dichte und

Stufe seiner inneren Einheit ist der dieser "Einheit" entsprechende

Begriff sinnarm und künstlich oder klassisch und sinnvoll.122

"Gegenstände" im weitesten Sinn des Wortes, also konkrete oder

allgemeine Soseinseinheiten, können wir als solche nur mit Begriffen

bezeichnen, in denen wir meinend auf einen Gehalt abzielen. Auf den

Gehalt "rot" oder "gelb" können wir z. B. nur mit einem Begriff

hinzeigen, wohingegen wir den Sachverhalt, daß "orange" der

Ähnlichkeitsordnung nach zwischen "rot" und "gelb" liegt, niemals

durch einen Begriff, sondern nur durch ein Urteil behaupten können.

Weder der Begriff noch die Bildung und Anwendung von Begriffen

dürfen nun mit der Gegenstandserkenntnis als solcher verwechselt

121 Es können hier nur in vereinfachender Form die Grundeinsichten

angedeutet werden, die E. Husserl in meisterhaften Analysen in den

Logischen Untersuchungen, II, 1, S. 42 ff., 49 ff., 54 ff, entwickelt hat. 122 Mit Namen hingegen bezeichnen wir immer konkrete individuelle

Wesen, die eine besonders ausgeprägte und bedeutungsvolle Individualität

besitzen. So kann man nicht einzelne Insekten, wohl aber Hunde oder

Katzen mit Namen bezeichnen. Je höher wir im Reich des Seienden

aufsteigen, desto mehr Tiefe des Sinns hat ein Name. Bei einer Person

gewinnt das Individuum ein unvergleichliches Übergewicht über die

Gattung, und hier hebt sich gerade dieser einzelne von allem anderen

Seienden und allen andern Personen ab. Am tiefsten ist aber die Fülle des

Konkreten in Gott, der deshalb im höchsten Sinn einen "Namen" hat.

84

werden, sondern folgende fundamental verschiedene "Sachen" müssen

festgehalten werden:123

1. Erstens der "Gegenstand" selbst, zum Beispiel der Gehalt "rot" oder

eine Rose. Dieser ist von allen Begriffen oder auch den Akten, in denen

ich ihn erkenne, eindeutig verschieden.

2. Der Akt der Erkenntnis, in der sich mir ein Gegenstand erschließt,

den ich erfasse, indem ich mich selbst überschreite und in intentionaler

Weise an ihm teilhabe. Dieser Akt besteht also darin, daß sich der

Gegenstand meinem Geist erschließt.

3. Der Begriff. Das Wort ordnen wir dadurch einem Begriff zu, daß wir

ihm eine Bedeutung verleihen, daß wir diese mit dem Wort verknüpfen

und durch die Bedeutung dann auf den Gegenstand meinend abzielen.

Der Begriff hat den Charakter eines "Mediums", eines "ens rationis",

dessen Bedeutung ähnlich einem Spiegelbild letzten Endes

ausschließlich von der Sache selbst her verstanden werden kann, die

ich meine und die ebenso jenseits des Begriffes liegt wie jenseits des

Erkenntnisaktes. In diesem Sinn kann man von der "Transzendenz" der

Begriffe sprechen und damit meinen, daß jeder Begriff auf eine Sache

jenseits seiner selbst hinweist. Der Begriff hat eine eigentümliche

Mittelstellung zwischen dem Gegenstand und meinem Akt: durch

einen Begriff meine ich eine Sache.

4. Der Akt der Begriffsbildung und in unserem Zusammenhang

besonders der Begriffsanwendung; er ist immer spontan. Durch einen

Begriff meinen wir eine Sache, zielen auf sie ab.124

Je tiefer innerlich geeint dabei das Seiende ist, auf das ich mit meinem

Begriff abziele, desto klassischer ist der Begriff.

123 Wir können hier nur sehr grob diese Unterschiede angeben, die E.

Husserl in dem berühmten Abschnitt "Ausdruck und Bedeutung" seiner

Logischen Untersuchungen, II, 1, 1, ausgeführt hat. In gründlichster Weise

wurden die Analysen von A. Pfänder in seiner Logik fortgeführt. Vgl. auch

die Analysen D. von Hildebrands in What is philosophy?, Kap. 1., und B.

Schwarz im Irrtum... I, II 5, 1, 3. Vgl. auch Adolf Reinach, Theorie des

negativen Urteils, in: Gesammelte Schriften, S. 56 ff. 124 Vgl. dazu die Untersuchungen über dieses Thema in Husserls Logischen

Untersuchungen II, 1, 1, S. 50 ff., S. 54 ff. Zur Spontaneität des Aktes der

Begriffs-Bildung und -Anwendung vgl. A. Reinach, Gesammelte Schriften,

S. 65 ff.

85

Sprachliche Ausdrücke beziehen sich aber nicht einfach auf eine

bestimmte Sache, sondern sie sind meist in der Sprache sehr vieldeutig

gebraucht und können sich auf vielerlei beziehen.125 Deshalb erhalten

sie ihre klare Bedeutung erst durch die Art, wie ich sie in Aussagen

verwende. Und dabei sollte meine Begriffsanwendung ganz von der

Erkenntnis der Wirklichkeit getragen sein. Je klarer sich mir der

Gegenstand, auf den ich durch meinen Begriff abziele, in der

Erkenntnis erschlossen hat, desto klarer werden auch meine Begriffe

sein. Wenn ich hingegen ganz verschiedene Dinge mit demselben

Ausdruck meine, ohne sie zu unterscheiden, werden meine Begriffe

äquivok und verwirrend. Solche nicht aus einem unmittelbaren

Sachkontakt gewonnene oder angewendete Begriffe führen dann durch

ihre Mehrdeutigkeit und Unklarheit leicht zu Irrtümern.126 Der Akt des

Meinens einer Sache durch einen Begriff, bzw. zunächst der Akt der

Begriffsbildung, ist also weder ein immanenter Zustand, ein aus der

Umwelt, der geschichtlich geformten Sprache usw. zu erklärender

Vorgang, noch ein im eigentlichen Sinn schöpferischer Akt, durch den

ich die Bedeutung eines Wortes schaffen würde; er ist vielmehr ein

spontaner, intentionaler Akt, der auf einen objektiven, meinem Akte

transzendenten Gegenstand abzielt, von dem ich ein Bewußtsein habe

und den ich durch meinen Begriff meine, welche Beziehung eine

Urgegebenheit ist.127 Wie schon ausgeführt, ist aber alle spontane

Transzendenz des Menschen, sofern sie sinnvoll ist, von einer

rezeptiven Transzendenz, dem Hören und Empfangen innerhalb des

Urdialogs, in dem wir stehen, getragen. Nur in einem (rezeptiven) Akt

des Erkennens kann sich mir erschließen, was dem Begriff sozusagen

sein Leben und seinen Sinn gibt: der Gegenstand.

Je mehr also der spontane Akt der Begriffsbildung und -anwendung

von einem rezeptiven Akt der Erkenntnis getragen wird, in dem sich

mir eine sinnvolle, objektive Seins- bzw. Soseinseinheit erschließt,

125 Vgl. dazu Logische Untersuchungen, II, 1, 3. Kapitel: "Das Schwanken

der Wortbedeutungen und die Idealität der Bedeutungseinheit." 126 Vgl. dazu besonders die Analysen von B. Schwarz, Der Irrtum in der

Philosophie, I, II, 5, 4, und vor allem die Analyse solcher äquivoker

Ausdrücke die zur "Irrtumsform der stillschweigenden Identifizierung"

führen können, a. a. O., I, I, 3, 1—8. 127 Vgl. dazu E. Husserl, Logische Untersuchungen, II, 1, 1, Kap. 1, § 9,

und Kap. 2.

86

desto sachgerichteter und besser sind auch meine Begriffe, desto klarer

werde ich die verbalen Ausdrücke, in die ich sie fasse, in Sätzen

gebrauchen und ihnen dadurch ihre Bedeutung immer eindeutiger

verleihen. Dieses Getragensein der spontanen Akte der Begriffsbildung

von der Erkenntnis der gemeinten Sachen ist so entscheidend, daß man

sagen muß: Nur in dem Maß werden Worte Begriffen eigentlich

zugeordnet, als ich die mit ihnen gemeinte Sache selbst verstehe und

mit ihnen verbinde.128

Begriff und Sache innerhalb der Philosophie—Die Notwendigkeit, daß

die spontane Tätigkeit der Begriffsbildung von der rezeptiven des

Erkennens getragen sei

Die Begriffe sind also dazu bestimmt, ganz auf die Wirklichkeit

bezogen zu sein und durch ihren klaren Gebrauch in wahren Sätzen auf

ein Seiendes abzuzielen, das sich uns einmal in einer Erkenntnis

erschlossen hat oder jedenfalls erschließen kann. Sosehr aber auch die

Begriffe bestimmt sind, von dieser ihrer Beziehung zur Sache "zu

leben", sosehr können sie auch ohne diese Beziehung auftreten. Sie

können in falschen Aussagen verwendet werden, sie können

verwirrend gebraucht werden und so dazu führen, die Beziehung zur

Wirklichkeit nicht herbeizuführen, sondern vielmehr zu verhindern.

Dies gilt besonders für die Philosophie, weil es sich in ihr nicht um bloß

faktische Aussagen handelt, trotz deren Falschheit wenigstens der Sinn

der Begriffe und ihre intentionale Bezogenheit auf einen Gegenstand

erhalten bleibt.

Da nämlich die philosophischen Begriffe auf in sich notwendige

Wesenheiten abzielen, die nicht anders sein können, wird auch der Sinn

eines Begriffes—und nicht nur seine Anwendbarkeit auf reale Gebilde

— sofort dunkel und verworren, wenn falsche Aussagen gemacht

128 Mit diesem "Verbinden" meine ich hier nur die Beziehung des inten-

tionalen, meinenden Abzielens selbst zu einer Sinneinheit, noch nicht das

was E. Husserl in den Logischen Untersuchungen als

Bedeutungs-Erfüllung den Bedeutungs-Intentionen gegenübergestellt hat

nämlich all jene Akte der Wahrnehmung usw., in denen der gemeinte

Gegenstand zu voll anschaulicher Gegebenheit kommt, und die nicht

notwendig das meinende Abzielen auf einen Gegenstand begleiten und ihm

"Erfüllung" verleihen.

87

werden, in denen Wesenswidersprechendes behauptet wird.129 Wenn

deshalb die so einfache und doch zugleich so schwierige

philosophische Wesensschau nicht auf solche letztlich intelligible

Urgegebenheiten geheftet bleibt und wenn man nicht mit Begriffen,

welche in wahren Aussagen gebraucht werden, eindeutig auf sie

abzielt, dann entsteht schon über den Sinn der Begriffe selbst eine

unheimliche Verwirrung, dann verbreitet sich ein geistfeindlicher,

gegen die wahre intelligibilität gerichteter Nebel, der uns vom Sein

abschneidet, dann gibt es "unwahre" Begriffe,129a in denen einerseits

irrige Thesen impliziert sind und anderseits die mit diesen Begriffen

gemeinten Sachen wesenhaft nicht so sein können, wie sie gemeint

werden. So sind Begriffe wie der des "transzendentalen Ich" oder der

Teilhardsche Begriff der "Totalisation" (der Einschmelzung des

Individuums in einer (Übermenschheit überindividueller Art)130

Begriffe, die Dinge, oder besser "Un-Dinge" meinen, die wesenhaft

nicht sein können, die notwendigen Wesensgesetzlichkeiten

widersprechen und deshalb nicht nur falsch sind, sondern

anti-intelligibel, wesenhaft dunkel und in sich unmöglich sind.

Während im gewöhnlichen Leben nur die faktische Erfahrung zeigen

kann, ob ein Begriff ohne Beziehung zur Wirklichkeit gebraucht wird,

ist in der Philosophie mit manchen Begriffen nicht eine bloße Fiktion

und faktisch nicht existierende "Sache", sondern eine confusio, ein

wesens-unmögliches und -unverständliches "Etwas" gemeint. Während

also etwa in der Zoologie auch ein der Wirklichkeit nicht

entsprechender Begriff (z. B. einer Tierart) möglicherweise eine solche

Entsprechung finden könnte, können in der Philosophie sinnlose

129 Vgl. dazu B. Schwarz, Der Irrtum in der Philosophie, I, I, 2, 4; die

Analyse der verwirrenden und irrigen psychologistischen Formulierung

des Widerspruchsprinzips, a. a. O., I, I, 3, I—8, und vor allem in E. Husserl,

Logische Untersuchungen, a. a. O., I, 5, S. 78 ff. 129a Im strengen Sinn kann es freilich keine unwahren Begriffe geben. Nicht

nur haben auch solche Begriffe jene elementare "Bedeutung", die einen

Begriff zum Begriff macht (vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen, II,

1, S. 54 ff.), sondern sie können auch in wahren Sätzen verwendet werden. 130 Vgl. dazu D. von Hildebrand, Das Trojanische Pferd in der Stadt Gottes

S. 344 ff. Zum "falschen Begriff" "Transzendentales Ich" vgl. S. 246 ff.

unten.

88

Begriffe gebrauche, d. h. in einem Begriff Merkmale verbunden

werden, die wesenhaft von der Sache her unverträglich sind.

Das werden wir später klarer sehen. Hier sei nur noch hinzugefügt, daß

aus diesem Grund die wesenhafte Beziehung der Begriffe und

Aussagen auf einen ihnen selbst transzendenten Gegenstand besonders

in der Philosophie immer im Auge behalten werden muß. Jedes rein

immanente "Verständnis" in der Philosophie ist nämlich nicht einmal

ein Verständnis eines philosophischen Begriffes. Wenn ich einen

künstlichen Begriff schaffe oder einen klassischen durch Merkmale

bestimme, die dem Wesen der Sache entgegengesetzt sind, dann kann

ich das Gemeinte, bzw. die "gemeinte Sache" in keiner Weise

verstehen. Ich kann höchstens lernen, wie diese Begriffe zu gebrauchen

sind, welche Merkmale ihnen von einem Philosophen zugesprochen

werden usw.: Aber in Wirklichkeit beziehen sie sich auf eine

Scheinwelt, ja auf eine dem wahren kìsmow nohtikìw feindlich

entgegengesetzte, dunkle Nichtigkeit. (Und erst wenn ich dies

verstanden habe verstehe ich auch die auf ein anti-intelligibles

"Unding" abzielende "Bedeutung" eines solchen Begriffs.) In der

modernen Philosophie und besonders der hermeneutisch orientierten

leugnet man vielfach diese Urbeziehung philosophischer Begriffe und

Aussagen auf transzendente "Sachen", auf eine unserem Geiste

transzendente Welt, in diesem Fall intelligibler, notwendiger

Wesenszusammenhänge, und will sich beschränken, das von anderem

Geiste historisch "Gemeinte" zu erfassen. Man will ein bloß

immanentes Textverständnis erreichen.131 Dies machte ich als Satz- und

131 Dies tritt in der heutigen Diskussion über Hermeneutik klar zutage,

worauf hier nicht in extenso eingegangen werden kann. E. Betti bezeichnet

etwa die "Immanenz des hermeneutischen Maßstabs" geradezu als einen

der Kanons der Hermeneutik. Vgl. Allgemeine Auslegungslehre als Metho-

dik der Geisteswissenschaften, S 16, S. 216, am deutlichsten wird der "her-

meneutische Immanentismus" auf S. 218, vor allem Fußnote 5. Diese Auf-

fassung hänge natürlich mit der Philosophie Hegels und Diltheys eng zu-

sammen, wonach es — insbesondere in der Philosophie — keine jenseits

des Geistes und seiner Bedeutungsintentionen liegende, unabhängige

Wirklichkeit gibt. Diese Zusammenhänge können hier nicht weiter verfolgt

werden. Es sei nur noch auf E. Betti, Die Hermeneutik als allgemeine

Methodik der Geisteswissenschaften, S. 14, verwiesen. Dasselbe

Phänomen eines "Sprach- bzw. Begriffsimmanentismus" liegt

offensichtlich A. Schaffs Aufsatz Sprache, Denken, Handeln, zugrunde. A.

89

Begriffsimmanentismus bezeichnen, von dem man auf dem Gebiete der

Philosophie, Psychologie, Soziologie und Theologie heute weitgehend

sprechen muß. Denker, die ihre Begriffe im Gegensatz zu den

Wesenheiten bilden, machen uns gleichsam blind, sie bringen die

gegenteilige Wirkung von der wahren Philosophie im Leser hervor. Sie

wecken nicht unseren schlafenden Geist, damit er mit voller

Bewußtheit die Wirklichkeit erkenne und staunend in sie eindringe,

damit er den transzendenten Gegenstand bewußter als sonst ergreife—

sondern sie verdunkeln das Licht, das wir ja irgendwie schon kennen,

und stürzen uns in eine Leere, in der wir uns von aller Realität

abgeschnitten fühlen.

a. O., S. 309, wird deutlich, daß es für A. Schaff keine der begrifflichen

Formulierung und Sprache vorhergehende, objektiv seiende Wirklichkeit

gibt, zu der der Mensch Zugang hätte. Dasselbe gilt für den Beitrag Yvon

Gauthiers, Hermeneutique philosophique et heuristique metaphysique. Der

Autor behandelt dort die hermeneutischen Werke B. Lonergans, P.

Ricoeurs und vor allem H. G. Gadamers und Methode — Grundzüge einer

philosophischen Hermeneutik. In der Interpretation und eigenen Stel-

lungnahme zum II. Teil dieses Werkes kommt Gauthier zu dem Ergebnis:

"I1 n'y a d'être que dans et par le langage. Entre l'être et le langage, il n'y a

pas d'isomorphisme egalisateur, le langage ne dit que parce qu'il y a à dire

(es gibt zu sagen) et qu'il y a vient au langage (es gibt zur Sprache), mais

ce qu'il y a à dire et ce qui vient au langage n'est pas avant d'être langage."

Gegenüber diesem totalen, von Heidegger ausgehenden Immanentismus

hat etwa B. Schwarz in The role of linguistic analysis in error analysis das

Verhältnis zwischen Sachbeziehung und Hermeneutik in der Philosophie

und die jeder Begrifflichkeit vorhergehende Existenz der "Sachen"

überzeugend herausgearbeitet. J. H. C. Newman zielt mit seinen Begriffen

"notional apprehension" (rein begrifflich immanentes Verständnis) und

"real apprehension" (wirkliches Verständnis—"of things", der "Sachen

selbst") wohl auf denselben Unterschied ab. In seinem Werk Grammar of

assent hat diese Unterscheidung die grundlegendste Bedeutung, da ja auf

ihr Newmans Unterschied zwischen "notional" und "real assent'` ruht.

Sicherlich meint Newman mit diesen beiden Begriffen noch andere

Unterschiede, die hier nicht herausgearbeitet werden können, aber

derjenige zwischen rein immanentem Verständnis eines Begriffes und dem

Verständnis der Sachen selbst liegt wohl zugrunde. Vgl. Grammar of

assent, Kap. I, 2, S. 29 ff. und Kap. III, S. 36 ff.

90

Man weiß nie, wovon die Rede ist. Es sind Worte und Begriffe, aber

keine möglichen und wirklichen Sachen. Diesen Irrtümern und

Schlagworten nun ist eine Generation von Studenten ausgesetzt, denen

man systematisch erklärt, daß es in der Philosophie eigentlich keine

transzendenten Sachen und Gegenstände gäbe, sondern nur die

Gedanken und "Intentionen" der einzelnen Denker und "der Zeit".

Es wurde deshalb schon an dieser Stelle so weit vorausgegriffen, weil

es sich hier erstens um wichtige Dinge für das Verständnis der

Beziehung zwischen Begriff, Sache und Erkenntnis handelt und weil

hier zweitens die Bedeutung der vorhin getroffenen Unterscheidungen

aufleuchtet: zwischen Erkennen, Gegenstand, Begriff und meinendem

Abzielen auf den Gegenstand sowie zwischen den beiden

Grundrichtungen der Transzendenz.

Am Gesagten darf uns auch in keiner Weise irremachen, daß es einen

gänzlich und buchstäblich von jedem Sachkontakt getrennten

Gebrauch von Begriffen und Urteilssätzen nicht gibt, ohne daß ein

solcher zu einem rein mechanischen Hersagen von Wortklängen

degeneriert. Die Bedeutung eines Ausdruckes "lebt" ja so sehr von der

Sache, daß "Begriffe", von jedem Sachkontakt abgeschnitten, nichts

bedeuten würden, dadurch auf die Stufe eines Geräusches herabsänken,

ja, ihren "Begriffs-Charakter" verlören und daher auch in keiner Weise

verstanden werden könnten. Daher setzt auch das Verständnis der

Meinungen der Denker der Geschichte einen bestimmten Sachkontakt

voraus, analog wie es ohne gewisse Erkenntnisse keinen Irrtum und

keine Täuschung geben kann, wie wir gesehen haben.

Aber der Sachkontakt kann sehr wohl in dem Sinne fehlen, daß nicht

die einem Begriff in der Wirklichkeit entsprechenden Sachen, sondern

andere gesehen werden.

Zunächst gibt es den schon erwähnten weiten Bereich von

Modellvorstellungen, wo nur das irreführende "Modell" die gesehene

"Sache" ist; an Hand dieser Modellbilder kann man sehr geschickt die

falschen Systeme von Philosophen "verstehen". Man sieht dann aber

nicht den wirklich thematischen Sachbereich, über den jedoch die

Urteile gefällt werden. So ist es etwa nicht das wirkliche Wesen von

Erkenntnis und Wahrnehmung, das man beim "Verständnis" der

psychologistischen Irrtümer über Erkenntnis sieht, sondern die

"Sache", an Hand deren man das Gemeinte "versteht", ist das

irreführende Körperbild zweier mechanisch aufeinander einwirkender

Körper, des Gehirns, eines Kastens, Spiegels und anderer Körperbilder.

91

An Hand solcher und anderer Modellvorstellungen ist es möglich, ohne

wahren Sachkontakt in unserem Sinn die widersprechendsten

philosophischen Systeme in Vorlesungen über Philosophiegeschichte

glänzend und "verständnisvoll" zu interpretieren, d. h. nicht bloße

Worte wiederzugeben, sondern mit Einfühlung die zugrunde liegenden

Modellvorstellungen zu verstehen.

Ferner gibt es auch die Möglichkeit, Sachverhalte behauptend

hinzustellen und dabei wirklich zu meinen, ohne ihr wirkliches

Bestehen einzusehen oder auch nur einsehen zu können. Im täglichen

Leben sind vorschnelle Behauptungen oder Vorurteile Beispiele dafür.

Dabei kennt man wohl mehr oder minder deutlich die mit dem

Subjektsund Prädikatsbegriff gemeinten Sachen und hat auch eine

gewisse Erkenntnis von der Natur des angesetzten Sachverhalts, aber

der Sachkontakt, der fehlt, ist die erkennende Berührung des wirklich

bestehenden Sachverhaltes. So mag sich jemand in das Denken eines

atheistischen oder theistischen, eines objektive, allgemeingültige

sittliche Werte behauptenden oder leugnenden Denkers derart

quasischauspielerisch "einfühlen", daß er wohl den geringen

"Sachkontakt" besitzt, der ihm erlaubt, die Bedeutung der Urteile, die

Natur der in ihm angesetzten Sachverhalte zu erfassen, ohne daß er aber

ihr wirkliches Bestehen oder ihre objektive Widersprüchlichkeit

erkennen würde. Es fehlt ihm also dieser eigentliche,

genuin-philosophische Kontakt mit der Wirklichkeit, den wir hier

meinen: ein unmittelbares, erkennendes Berühren der wirklich

bestehenden Sachverhalte, deren Bestehen man behauptet.

Schließlich gibt es auch ein durch Äquivokationen belastetes,

ungeklärtes Behaupten, bei dem in einem Satz ununterschieden

mehrere durchaus verschiedene Sachverhalte angesetzt bzw.

vorausgesetzt werden. Dies kann sich verbinden mit vagen

Vorstellungsgegenständen, in denen die verschiedensten Gegenstände

ineinanderlaufen. Auf diesem Wege gerät ein Denker auch leicht in

einen Grad von Abstraktion und Losgelöstheit von jedem Sachkontakt,

daß eher seine Sätze bloß sprachlichen (eigenwilligen) "Regeln"

entsprechen, als daß die von ihm gefällten Urteile irgendwelchen

gesehenen Sachverhalten folgen.

Wenn wir uns auf den Sachkontakt innerhalb der Philosophie

konzentrieren, so kann man von diesem nur dort im eigentlichen Sinn

sprechen, wo die einem Begriff in Wirklichkeit entsprechende

92

Wesenheit und der einem wahren Urteil wirklich entsprechende

Sachverhalt selbst gesehen werden.

Die rezeptive Transzendenz des Erkennens tut sich in der spontanen

Transzendenz der Begriffsbildung kund

Sosehr sich auch der Akt der Begriffsanwendung von dem Erkennen

der Sache unterscheidet, so drückt sich doch gerade in der von der

aktiv-rezeptiven Erkenntnistätigkeit getragenen Spontaneität der

begrifflichen Fassung das geistige Haben der Sache aus, das im

Erkennen liegt. Hierin gerade tut sich auch der entscheidende

Unterschied zwischen Mensch und Tier in aller Deutlichkeit kund:

Jenes bewußte, intentionale Teilhaben an einem Gegenstand, das schon

in jeder Wahrnehmung liegt, zeigt sich deutlich darin, daß wir die

Sachen nennen können. Wenn ein "Tier" dies könnte, den Dingen

"Namen" zu geben, dann wäre es eben kein Tier, sondern ein Mensch.132

Zwischen dem analogen "Bewußtsein", das wir bei Tieren finden und

diesem bewußten Ergreifen der Wirklichkeit liegt ein Abgrund, der sich

in der tief staunenswerten Fähigkeit der Sprache ausprägt. Mit den

Begriffen weisen wir ja ausdrücklich auf das hin, was sich uns in der

Erkennens erschlossen hat, was wir kennengelernt haben: auf die all

unseren Akten transzendenten Gegenstände. Dies drückt sich auch

darin aus, daß die Frage: Was heißt dieser Begriff eigentlich?

gleichbedeutend ist mit der andern: Was ist das? Die rezeptive

Transzendenz unseres Erkennens erweist sich also gerade, indem wir

ihre Beziehung zur spontanen Transzendenz unserer Begriffsbildung

und -anwendung untersuchen.

Die spontane Transzendenz des Urteilens

Transzendenz und Wahrheitsanspruch

Doch die wesenhafte Transzendenz unserer Erkenntnis, das geistige

"Haben" des Seins in ihr, ihre Bezogenheit auf das Sein drückt sich

noch viel deutlicher aus, wenn wir von den Begriffen zu den Urteilen

132 Es wird erzählt, Max Scheler habe häufig gesagt: "Wenn ich einen Hund

sprechen hörte, würde ich eher denken, er sei ein verzauberter Prinz als daß

ich (das Unmögliche) annähme, daß tatsächlich ein Hund spreche."

93

kommen. Während wir nämlich trotz all des Gesagten von Begriffen

als solchen nicht eigentlich Wahrheit und Falschheit aussagen können,

ist das Urteil132a der primäre "Ort" von Wahrheit und Falschheit. In

jedem Urteilsakt sagen wir aus, daß etwas existiert oder wie etwas ist,

und weisen also auf ein Sein jenseits unseres Urteilsaktes und auch

jenseits des Urteilssatzes hin. Wir weisen nicht wie mit Begriffen

einfach auf Gegenstände hin, ohne deren Sein irgendwie zu setzen,

sondern sagen mit dem Urteil "Sachverhalte" aus. Wenn wir also sogar

annähmen, man könne die Bedeutung eines Begriffs oder das mit einem

Urteil "Gemeinte" verstehen, ohne auf die Sachen zu blicken, so ist es

ganz eindeutig, daß wir die Wahrheit oder Falschheit eines Urteils

niemals feststellen können, ohne auf die dem Urteil selbst

transzendenten Sachverhalte zu blicken. Die Intention eines wahren

Urteils ist dieselbe wie die eines irrigen, solange man das Urteil

immanent betrachtet. Wahrheit oder Falschheit des Urteils hängt

dagegen ausschließlich vom Bestehen oder Nichtbestehen des

behaupteten Sachverhalts ab. Während wir mit dem Begriff als solchem

nur auf einen Gegenstand "hindeuten", sagen wir durch ein Urteil sein

Sein oder sein Sosein aus— das unserem Urteil selbst transzendente

Sein oder Nichtsein der Sache. Dies ist sogar schon so, wenn wir

aussagen, ob oder was wir geträumt haben. Selbst da behaupten wir

Sachverhalte, die bestehen oder nicht bestehen können, die jenseits

unseres Urteilsaktes und des Urteilssatzes liegen.

Die Wahrheit reicht so weit wie das Sein. Sie ist das Echo des Seins.133

Es kann nichts geben, über dessen Existenz oder Wesen nicht wahre

oder falsche Aussagen gemacht werden können. In jedem Urteilsakt

erheben wir den Anspruch, daß "es" so ist, wie wir sagen, mit anderen

Worten, daß der in dem Urteil als bestehend behauptete Sachverhalt

wirklich besteht. Ohne diesen Bezug auf ein ihnen selbst

transzendentes Sein, bzw. ohne das Abzielen auf das wirkliche

132a Unter "Urteil" wird hier immer die mit einem Behauptungssatz ver-

knüpfte "Bedeutung" verstanden, die sowohl vom Urteilsakt als auch vom

"Satz" (der aus Worten besteht) unterschieden werden muß. Das Urteil,

dessen Natur vor allem Husserl und Pfänder untersuchten, "besteht" nicht

aus Worten, sondern aus Begriffen. 133 Vgl. v. Hildebrand, Die Untergrabung der Wahrheit, in: Das trojanische

Pferd in der Stadt Gottes, und The dethronement of Truth, in: The new

Tower of Babel.

94

Bestehen des jenseits des Urteils liegenden Sachverhalts würden alle

Urteilssätze buchstäblich zu einem sinnlosen "flatus vocis". Und zwar

gilt dies keineswegs nur für die alltäglichen, banalen Dinge des Lebens,

nicht nur in Urteilen über die Tageszeit, über die Einwohnerzahl einer

Stadt usw., sondern in jedem Urteil überhaupt, sei es in Philosophie,

Psychologie oder sonstwo, erheben wir notwendig den Anspruch, daß

die behaupteten Sachverhalte jenseits unserer Urteile tatsächlich

bestehen. In jeder Behauptung erheben wir notwendig den Anspruch

auf Wahrheit—außer in der Lüge, die aber wegen der fehlenden

Überzeugung und der absichtlichen Unwahrheit nicht als "Behauptung"

bezeichnet werden darf. Doch selbst in der Lüge bleibt im Urteil(ssatz)

als solchem ein objektiver "Anspruch" auf Wahrheit bestehen.

Mit dem Hinweis auf ein meinem Urteilsakt transzendentes Sein auf

einen "Sachverhalt", setze ich aber die rezeptive Transzendenz des

Erkennens als von der spontanen des Urteilsaktes verschieden voraus.

Denn die Tatsache, daß ich ein Urteil ausspreche, liegt ja beim Irrtum

oder der Lüge ebenso vor und garantiert in keiner Weise, daß der

diesem Urteilssatz transzendente Sachverhalt in der Tat besteht. Ich

kann deshalb ein Urteil mit dem in ihm liegenden Wahrheitsanspruch

berechtigterweise nur dann fällen, wenn sich mir in einem vom

Urteilsakt selbst verschiedenen Erkenntnisakt erschlossen hat, daß "es

so ist". Es ist gleichermaßen evident, daß ein "blindes" Behaupten

möglich, wie daß es unberechtigt ist. Nicht im Urteilen als solchem

schaffe ich Wahrheit oder erschließt sich mir Wahrheit—sonst gäbe es

keine falschen Urteile, sondern wenn ich nicht gänzlich blind behaupte,

so setze ich wesenhaft im Behaupten eines Sachverhaltes voraus, daß

dieser sich mir erschlossen hat: entweder habe ich ihn erkannt oder ich

nehme ihn auf Grund anderer erkannter Sachverhalte an, die mir sein

Bestehen "versichern".

Überzeugung zwischen Sachverhaltserkenntnis und Urteil

Damit stößt man auf eine Stellungnahme, die sich gewissermaßen

"zwischen" der Sachverhaltserkenntnis und dem Urteilsakt einstellt ja,

die sogar, ähnlich wie das Urteilen, auch ohne vorhergehende

Erkenntnis auftreten kann: die Überzeugung. Diese Stellungnahme, die

ungleich dem Akt des Behauptens nicht punktuell ist, sondern in der

Zeit auch überaktuell andauert, hat wie das Behaupten immer einen

Sachverhalt zum Gegenstand: das a-sein eines b oder die Beziehung

95

eines a zu einem b. (Die Überzeugung existiert daher nicht zwischen

Gegenstandserkenntnis und Begriffsbildung.) Die Überzeugung ist

nicht, wie das Behaupten bzw. Urteilen, an die worthafte Formulierung

gebunden, sie ist nicht wie diese das "Setzen" eines Sachverhaltes

durch die Bedeutungseinheiten eines Satzes hindurch. Die

Überzeugung ist vielmehr das Fürwahrhalten eines Urteils bzw. das

Glauben, daß ein Sachverhalt besteht.

Dabei müssen in der Überzeugung gewissermaßen zwei Schritte

unterschieden werden, deren einer notwendig Erkenntnis im engeren

Sinn voraussetzt, während die Überzeugung in einem zweiten Sinn

auch unabhängig von einer Erkenntnis entstehen kann; und wie beim

Urteilsakt kann der ihr entsprechende Inhalt wahr oder falsch sein.

Einmal gibt es als eine notwendige Folge jeder Sachverhaltserkenntnis

die Überzeugung als ein sich "vom sich selbst ausweisenden

Sachverhalt Überzeugenlassen". Sofern ich einen Sachverhalt erkenne,

überzeugt er mich gewissermaßen selbst von sich. Überzeugung in

diesem Sinn ist Überzeugtwerden, wobei die Erkenntnis eines

Sachverhaltes gleichsam als ein Element dieses Erkennens selbst

zugleich ein "Für-wahr-Halten" dieses Sachverhaltes in mir erzeugt.

Damit leuchtet aber schon ein zweites Element der Überzeugung auf,

ein spontaner Zug in ihr, in dem nicht mehr das Seiende mich

überzeugt, sondern ich als theoretische Antwort auf das

Sich-Ausweisen des Sachverhalts mein "Ja" spreche, mein: "ja, so ist

es", das jedoch nicht notwendig zu einer entsprechenden Behauptung

des Sachverhalts führen muß und ungleich dieser in der Zeit linear

fortzudauern vermag. Diese spontane Antwort des Subjekts auf den

erkannten Sachverhalt kann zwar ganz von der Erkenntnis getragen

sein, besitzt aber, anders als die erste, mehr rezeptive Stufe der

Überzeugung, einen spontanen Charakter und ist der Erkenntnis

gegenüber etwas ganz Neues, eben ein Fürwahrhalten, ein "Glauben",

das weit über das Erkennen im engeren wie auch im weiteren Sinn

hinausgehen kann, ungleich dem rezeptiven "Überzeugtwerden" vom

Gegenstand in der Erkenntnis. Diese Überzeugung kann sich ferner in

illegitimer Weise von jeder Erkenntnisbasis lösen und so zum bloßen

"Meinen" und einem "Fürwahrhalten" werden, das dann zu

Scheinmeinungen führt.134

134 Die Unterscheidungen zwischen Urteilsakten und Urteilssätzen,

zwischen Sachverhalten und Gegenständen, gehen hauptsächlich auf

96

Urteilssatz und Urteilsakt — Überzeugung und Überzeugungsinhalt

In jedem Urteilsakt erhebe ich den Anspruch, das von mir gefällte

Urteil sei wahr. Wahr oder falsch ist niemals der Akt des Behauptens,

ein seelischer Akt, der sich in einem Zeitpunkt vollzieht, sondern wahr

oder falsch kann nur das Urteil, d. i. die dem Urteilssatz entsprechende

Bedeutungsganzheit sein, die aus Subjektsbegriff, Copula und

Prädikatsbegriff besteht und eine ganz andere Seinsart besitzt als der

Urteilsakt. Das Urteil wird zwar in einem Augenblick von mir

formuliert, jedoch seine Wahrheit oder Falschheit besteht nicht bloß zu

einem bestimmten Zeitpunkt. Es ist offenbar sinnlos, zu sagen, das

Urteil, Cäsar ist ermordet worden, sei nur in dem jetzigen Augenblick

wahr, da ich es formuliere; fünf Minuten später, wenn niemand daran

denkt, sei es nicht mehr wahr. Mit Recht hat deshalb schon Bolzano auf

die "ideale" Existenz von "Sätzen an sich" hingewiesen135 und mit Recht

hat Husserl das "Urteil" als ideale Bedeutungseinheit herausgearbeitet,

die kein zeitliches Gebilde und nicht mit dem zeitlich formulierten Satz

identisch ist.136

Diese spärlichen Andeutungen des klassischen Unterschiedes, den

Bolzano analysiert und den E. Husserl im Abschnitt "Ausdruck und

Bedeutung" im II. Band der Logischen Untersuchungen entwickelt hat,

müssen hier genügen, um zu verstehen, daß nur das Urteil als

Urteilsinhalt, daß nur der "Urteilssatz" als ideale Bedeutungseinheit

wahr oder falsch ist, niemals aber die Urteilsakte, die in keiner Weise

Husserls Logische Untersuchungen zurück. Das Wesen des Sachverhaltes

im Unterschied zum Gegenstand als solchem und vor allem den

Unterschied zwischen Überzeugung, Erkenntnis und Behauptung hat dann

A. Reinach in seinem bedeutenden erkenntnistheoretischen Beitrag Zur

Theorie des negativen Urteils (Gesammelte Schriften, a. a. O., S. 56—120)

in noch viel deutlicherer Weise herausgearbeitet. Dietrich von Hildebrand

hat dann vor allem in What is philosophy?, und in bisher unveröffentlichten

Vorlesungen das Wesen dieser Akte durch bedeutsame weitere

Unterscheidungen und Analysen erhellt. Von all dem kann hier nur ein

vereinfachender Überblick geboten werden. 135 Vgl. B. Bolzano, Grundlegung der Logik (Wissenschaftslehre Bd. I, §25

ff.), S. 30 ff. 136 Vgl. Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. II, 1, I, Kap. 1, § 11 ff.;

Kap. 3, S. 77 ff. Vgl. vor allem auch A. Pfänders Logik.

97

wie der Urteilssatz aus Subjektsbegriff, Copula und Prädikatsbegriff

gebildet sind, sondern die jenes Behaupten oder Setzen sind, in denen

ein individueller Mensch ein Urteil als wahr bzw. einen Sachverhalt als

bestehend setzt.

Für die Überzeugung als Antwort, in der wir sprechen: "ja, so ist es".

ließe sich ein ähnlicher Unterschied zwischen ihrem Inhalt als idealem

Bedeutungsgehalt einerseits und den Überzeugungsakten anderseits

nachweisen, die als solche weder wahr noch falsch sind. Im ersten Sinn

des Wortes können viele Subjekte dieselbe Überzeugung haben, sie

können denselben Sachverhalt für bestehend halten. Der Inhalt ihrer

Überzeugung (das "dies ist so") ist identisch derselbe; der Akt der

Überzeugung, des Fürwahrhaltens ist hingegen in jeder Person

individuell verschieden. Nur den Inhalt, niemals den Akt der

Überzeugung können mehrere Menschen "teilen".137

Sache und Sachverhalte138—Unvollständige Erkenntnis,

Wahrheit, Irrtum

Da die Wirklichkeit nicht nur aus letzten individuellen Einheiten

besteht, sondern einen Aufbau besitzt, in dem unzählige

"Verbindungen" bestehen, in dem viele Ur-Einheiten zu einer neuen

Einheit verbunden sind, oder in dem eine Ureinheit viele verschiedene

"Züge" aufweist, ist es uns möglich, Urteile zu fällen, in denen wir das

Bestehen der Verbindung zweier "Elemente", das a-sein eines b, bzw.

die Beziehung eines a zu einem b, aussagen. Ähnlich wie materielle

Dinge aus vielen Atomen und Molekülen, deren Art und Verhältnis wir

angeben können, ähnlich wie Pflanzen aus verschiedenen Zellen,

Strukturen, Blüten, verschiedenen Farben, verschiedenen Proportionen

und Zahlen der Blätter geformt sind, deren Verbindungen wir in

Urteilen angeben können, so ähnlich ist auch das viel einfachere

137 Vgl. dazu A. Reinach, Zur Theorie des negativen Urteils, in:

Gesammelte Schriften, S. 56 ff. Vgl. auch What is philosophy?, Kap. I, von

D. von Hildebrand. 138 Eine besonders überzeugende Analyse des Wesensunterschiedes

zwischen Sachverhalt und Gegenstand findet sich in A. Reinachs Zur

Theorie des negativen Urteils, in: Gesammelte Schriften, S. 78 ff. In einer

Fußnote a.a.O., S. 82 ff., weist Reinach auf die Geschichte des

Sachverhaltsbegriffs hin.

98

geistige Sein der Person zwar nicht aus Teilen gebildet, aber eine

Einheit vieler verschiedener Akte, Gehalte, Dimensionen,

Beziehungen, Eigenschaften, deren letzte Einheit im substantiellen

Subjekt ihre Verschiedenheit und Differenziertheit nicht aufhebt.139

Essenz und Existenz, Gattung und Art, Substanz und Akzidentien,

Analogien und Beziehungen zu anderem Seienden, diese und viele

andere "Verbindungen" der "Elemente" lassen es zu, daß wir Aussagen

machen und nicht nur mit Begriffen auf die Wirklichkeit hinweisen

können. Prinzipiell reicht die Wahrheit soweit wie das Sein. Allen

"Sachen" und Personen entsprechen nämlich viele Sachverhalte über

ihre Existenz und ihr spezifisches Sosein. Jedem solchen Sachverhalt

entspricht wiederum ein Urteil, in dem wir auf seinen "Bestand"

hinweisen. Je mehr Gehalt ein Seiendes besitzt, desto zahlreicher sind

auch die verschiedenen Dimensionen, auf die wir in Aussagen

hinweisen können. So einfach etwa im klassischen Sinn des Wortes das

Wesen der Liebe ist, so unerschöpflich sind doch die

Wesenssachverhalte, die in ihr gründen. Je tiefer wir uns in ihr Wesen

versenken, desto mehr ihrer Wesenseigenschaften erfassen wir.

Allerdings können auch alle möglichen Aussagen niemals das Wesen

der Liebe erschöpfen, und zwar erstens deshalb, weil jeder Begriff und

jede philosophische Aussage auf etwas hinweist, was wir nur in einer

Erkenntnis, nur in einer unmittelbaren Schau erfassen können. Denn

die Sprache ist ja überhaupt nur ein Medium, durch das hindurch wir

auf das Sein abzielen, dessen Fülle sich uns jedoch ausschließlich in

der Erkenntnis erschließt. In diesem Sinn "transzendiert" das Sein

wesenhaft die Begriffe und Aussagen.

Zweitens erschöpft sich eine Wesenheit niemals in den in ihr

gründenden Sachverhalten. Gleichwohl ist bei klaren Begriffen jede

Aussage entweder wahr oder falsch. Sie trifft entweder einen

Wesenszug der Sache oder nicht. Und wenn wir auch bei weitem nicht

genügend Begriffe oder Verben haben, um alle Sachverhalte aussagen

139 Dabei müssen "Gehaltfülle" und Zusammengesetztheit aus "Teilen" klar

unterschieden werden. Je höher wir im Seienden steigen, desto diffe-

renzierter und erfüllter an Gehalten wird das Sein und zugleich desto

weniger "von außen" zusammengesetzt. Vgl. dazu die grundlegende und in

ganz wesentlichen Punkten über die Logischen Untersuchungen hinaus-

gehenden Analysen Dietrich von Hildebrands in What is philosophy?, S.

100 ff., und Die wahre Einfachheit, in: Die Umgestaltung in Christus.

99

zu können, die sich uns in der Erkenntnis erschließen, so können wir

doch auf Wesenszüge und -zusammenhänge eindeutig in wahren

Urteilen hinweisen, in denen wir sagen, wie "etwas" ist; ein Urteil, das

einen eindeutig bestehenden Sachverhalt leugnet, ist falsch. In jedem

Urteilssatz setzen wir einen Sachverhalt als seienden an, und das

schließt ein, daß wir in jeder Behauptung notwendig den Anspruch

erheben, das gefällte Urteil sei wahr.

Gegenstand eines Urteils ist immer ein Sachverhalt, den wir in der

spezifischen "Sachverhalts-Erkenntnis" erkennen. Andererseits können

wir Sachverhalte nur erkennen, indem wir auf die Gegenstände und

Wesenheiten blicken, in deren Existenz oder Sosein sie gründen. Beide,

die Wahrnehmung oder Schau, in der sich ein Gegenstand oder eine

Wesenheit unserem Geiste als solche erschließt, und die

Sachverhaltserkenntnis sollen hier unter dem Erkenntnisbegriff gefaßt

werden.

Es wurde schon gezeigt, daß die Sinneinheiten, die wir mit Begriffen

meinen, mehr oder weniger klar und eindeutig erfaßt werden können.

Es gibt nun nicht nur äquivoke Begriffe, in deren Verwendung die

Verwechslung verschiedener Wirklichkeiten zum Ausdruck kommt,

sondern es gibt auch äquivoke Aussagen, die dann zustande kommen,

wenn die mit den Begriffen gemeinten Wirklichkeiten nicht klar und

eindeutig ins Auge gefaßt werden. Es ist jedoch durchaus möglich, trotz

unvollständiger Erkenntnis einen ganz bestimmten Sachverhalt in

einem Urteil zum Ausdruck zu bringen. Die unvollständige Erkenntnis

als solche führt also weder zu falschen noch zu unklaren Urteilen, auch

in der Philosophie nicht, wo es wegen der Allgemeinheit der Aussagen

besonders schwer ist, sich vor falschen Verallgemeinerungen zu hüten

und eine echte Wesensallgemeinheit zu fassen. Zu unklaren und

mehrdeutigen Urteilssätzen, die sich dann in mehrere Urteile zerlegen

lassen, kommt es, wenn wir über das unvollständig Erkannte

hinausgehen, wie noch später klar wird.

Zusammenfassung: Es sollen wie bei den Begriffen auch als Abschluß

der Analyse des Urteils die in diesem Zusammenhang wichtigsten

verschiedenen Gegebenheiten und ihre hauptsächlichen Merkmale

festgehalten werden:140

140 Vgl. Zum Folgenden v. Hildebrand, What is philosophy?, S. 18, 20.

100

1. Der Sachverhalt: das a-sein eines b. Er besteht unabhängig vom

Erkennen.

2. Der Erkenntnisakt (Sachverhaltserkenntnis). In ihm erschließt sich

mir der Sachverhalt. Die Sinnlinie des Aktes verläuft vom

"Gegenstand" zu mir. Die rezeptive Transzendenz des Erkenntnisaktes

ist hervorzuheben.

3. Die Überzeugung. Vom rezeptiven (Überzeugtwerden in der

Erkenntnis ist die spontane Stellungnahme der Überzeugung zu

unterscheiden. Dieses "Glauben", daß ein Sachverhalt besteht, ist ein

individueller, personaler Akt. Er besteht linear und überaktuell in

zeitlicher Dauer.

4. Der Urteilsakt. Er ist spontan; die Sinnlinie verläuft von mir zum

Gegenstand; ich lausche nicht, sondern ich spreche. Er vollzieht sich

punktuell in einem Zeitmoment. Er kann als solcher nicht wahr oder

falsch sein und ist ein individueller, personaler Akt.

5. Das (der) Urteil(sinhalt) ist kein personaler Akt noch Teil desselben,

sondern die aus Subjektsbegriff,, Copula und Prädikatsbegriff,

bestehende Bedeutungsganzheit, durch die wir auf den Sachverhalt

behauptend abzielen. Dasselbe Urteil kann von mehreren Personen

gefällt werden. Wie seine Wahrheit und Falschheit hat es selbst eine

überzeitliche Existenz als ideale Bedeutungseinheit.

101

3. KAPITEL

ERKENNTNIS UND IRRTUM

Irrtumsmöglichkeit nur in Überzeugung und Behauptung,

nicht in Erkenntnis

Immanentismus in der Auffassung des Unterschiedes zwischen

Erkenntnis und Irrtum als bloß äußeren Unterschied

Es wurde schon im 1. Kapitel auf jene Auffassung hingewiesen, der

gemäß das Erkennen und das Irren in ihrem Wesensaufbau und ihrer

Struktur gleiche Akte wären, deren Verschiedenheit nur von außen

hinzuträte und daher eigentlich nur von einem "idealen Beobachter"

festgestellt werden könnte. Dieser Auffassung nach wären uns immer

nur die Abbilder der wirklichen Gegenstände unmittelbar gegeben,

niemals diese selbst. Der Unterschied zwischen Erkenntnis und Irrtum

wäre ein ebenso äußerlicher wie der zwischen Porträts von wirklichen

und solchen von erfundenen Personen.

Damit könnten wir aber niemals "von innen her" entscheiden, ob wir

erkennen oder irren, wir wüßten dies überhaupt nie und könnten es

höchstens ohne jede weitere Begründung annehmen, was einen krassen

Dogmatismus darstellen würde, wie er in der Annahme "einer partiellen

Deckung der Seins- und Denkkategorien" bei Nikolai Hartmann

vorzuliegen scheint.141

Um der totalen Unsicherheit bezüglich des Unterschiedes zwischen

eigenen Erkenntnissen und Irrtümern und damit dem Gefangensein in

eigenen Meinungen zu entgehen, die niemals "das Seiende selbst"

berühren, müssen auf Grund der Untersuchungen des letzten Kapitels

über Erkenntnis, Überzeugung und Urteilen die grundsätzlichen

Unterschiede untersucht werden, die zwischen den von Erkenntnis

genährten und den irrigen Überzeugungen, zwischen dem

Vollzugsbewußtsein in der Erkenntnis und im Irrtum bestehen.

141 Vgl. N. Hartmann, Metaphysik der Erkenntnis, I, 2. Kap., 5 b 7, S. 47.

"Erwägt man ferner, daß zwar nicht alle Erkenntnis Täuschungen enthält,

wohl aber alle Erkenntnis Täuschungen enthalten kann, daß es also zum

Wesen der jeweiligen Einsicht gehört, berichtigt werden zu können,..." Vgl.

auch a. a. O., S. 523 ff.

102

Die Frage, ob wir zwischen eigenen Irrtümern und Erkenntnissen

unterscheiden können oder immer über die Frage im dunklen bleiben,

ob wir uns irren oder nicht, ist eine der wesentlichsten Fragen nach

der Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis.

In der Erkenntnis (im engeren Sinn) irren wir uns niemals

Platon hat schon mit aller Deutlichkeit jene Unterschiede angegeben,

die für das angedeutete Problem von entscheidender Bedeutung sind:

Sokrates: Wohlan denn, so laß uns auch Folgendes betrachten. Du

kennst doch den Ausdruck 'Erkenntnis'?

Gorgias: Ja.

S.: Und weiter den Ausdruck 'für wahr halten'.

G.: Auch diesen.

S.: Scheint dir nun Erkenntnis und für wahr halten, oder mit anderen

Worten, Wissen und Für-wahr-Halten ein und dasselbe oder

verschieden zu sein?

G.: Mir wenigstens, mein Sokrates, scheint es verschieden zu sein

S.: Und das mit Recht; du kannst es aus Folgendem erkennen. Wenn

dich nämlich jemand fragte: Gibt es, mein Gorgias, eine falsche und

eine wahre Meinung?, so würdest du, glaube ich, sagen, Ja.

G.: Ja.

S.: Wie nun? Gibt es eine falsche und eine wahre Erkenntnis?

G.: Unmöglich.

S.: Offenbar sind sie also nicht ein und dasselbe.

G.: Sehr recht.

S.: Aber überzeugt sind doch sowohl die Wissenden wie die bloß

Meinenden?

G.: Allerdings.

S.: Dürfen wir also zwei Arten von Überzeugungsverfahren

annehmen die eine, welche Überzeugung ohne Erkenntnis, die

andere, welche Erkenntnis verschafft.142

142 Platon, Gorgias, 454 d, e. Vgl. dazu auch Platons Irrtumslehre im

Sophistes, 230 ff.; bes. 230 d. In 233 ist der Sophist von Platon als eben

derjenige gekennzeichnet, der bezüglich der philosophischen Gegenstände

aber auch in anderen Bereichen, Überzeugungen ohne Erkenntnis erzeugt.

103

Es handelt sich hier nicht um eine bloße Wortdefinition der Erkenntnis,

um eine Tautologie, sondern um eine Einsicht in die unerfindbare

"Sache Erkenntnis": Es gibt nicht Erkenntnisse, in denen sich uns

Wirkliches erschließt, und andere, in denen wir Irrtümer erkennen,

sondern im Erkenntnisakt irren wir uns niemals—nur m unseren

Überzeugungen oder Urteilen können wir uns irren.

Allerdings muß hier noch einmal an den im ersten Kapitel

durchgeführten Unterschied zwischen Erkenntnis im engeren (und

eigentlichen) Sinn und Erkenntnis im weiteren Sinn erinnert werden. In

der Wahrnehmung, in dem Kennenlernen der Wirklichkeit, das uns

durch Mitteilung anderer Menschen vermittelt wird, oder in den

meisten wissenschaftlichen "Erkenntnissen" gehen wir mit vollem

Recht über das eigentlich von uns Erkannte hinaus. Vieles Seiende

erschließt sich uns nur, indem wir in Glaubenselementen oder aus

vergangener Erfahrung schöpfend in "Interpretationen" über das im

strengen Sinn von uns Erkannte hinaus die Linien des Seienden

ausziehen, bzw. die autonome Existenz von etwas annehmen. In

solchen Akten, deren Wesen in einer eingehenden Analyse untersucht

werden könnte, ist sicherlich Irrtum nicht ausgeschlossen. Aber wenn

man genauer zusieht, muß man unweigerlich bemerken, daß die hier in

enger Verbindung vorliegenden Akte des Erkennens einerseits und der

Interpretation und des Glaubens andererseits wesensverschieden sind.

Und ausschließlich in den letzteren ist die Irrtumsmöglichkeit gelegen.

Mit klassischer Einfachheit hat Descartes diese platonische Einsicht in

der 4. Meditation wieder formuliert.143

Wenn wir aufmerksam unsere Irrtümer betrachten, sagt er, werden wir

immer finden, daß diese niemals in der Erkenntnis selbst gelegen

waren, sondern allein darin, daß wir mit dem spontanen Akt

(Willensakt) des Urteilens144 über das Erkannte hinausgegangen waren.

Die Akte des Urteilens sind also keineswegs auf den Bereich des

(begrenzten) Erkennens beschränkt, sondern wir können auch

143 Descartes, Meditationen 4 (9—21, bes. 14). 144 Der früher eingeführte Begriff "spontaner Akt scheint mir genau das zu

treffen, was Descartes mit "Willensakt" meint; zugleich scheint mir dieser

Begriff präziser zu sein, da ja auch die Erkenntnis in einem gewissen Sinn

ein freier Akt ist und andererseits der Urteilsakt nicht mit der spezifischen

freien Willensantwort identisch ist.

104

behaupten, was wir nie erkannten. In jedem Irrtum tun wir das, und es

besteht der notwendige Wesenszusammenhang:

Immer wenn ich irre, behaupte ich, was ich nicht erkannt habe.

Aus vielfach verschiedenen berechtigten Gründen, meist allerdings aus

unberechtigten, gehen wir im täglichen Leben und noch mehr im

theoretischen Denken oft über das hinaus, was sich uns in der

Erkenntnis erschlossen hat. Wir halten Urteile für wahr, sind von

Sachverhalten fest überzeugt und behaupten sie — ohne erkennendes

Berühren der Sache.

Es ist eine der tiefsten Wesenseigenschaften der Erkenntnis, daß wir

unmöglich erkennen können, was nicht ist.144a Es ist absolut unmöglich,

jetzt etwas zu erkennen und später einzusehen, daß dies nicht war: es

ist nicht möglich, etwas Falsches zu erkennen. Vgl. Descartes,

Meditationen 4, 14: "... alles, was ich einsehe, das sehe ich.. . ohne

Zweifel richtig ein, und hierin kann ich mich unmöglich täuschen. .."

Aber da wird gleich der früher erwähnte Einwand wiederkehren:

Erkennen wir nicht in jeder Täuschung etwas, was nicht ist?

Dagegen ist zu sagen: Die Täuschung liegt nicht im "Wahrnehmen"

eines "halluzinierten Sees" oder eines "gebrochenen Stabs" im Wasser,

sondern in einem objektiven und einem subjektiven Element, wovon

ein jedes klar von der Wahrnehmung verschieden ist.145 Das, was ich

erkenne, "gibt vor", unabhängig von mir so zu sein, wie ich es sehe. Es

scheint also anders zu sein, als es tatsächlich ist. Was ich erkenne, ist

aber nur, daß der "gebrochene Stab", den ich da sehe, wirklich

gebrochen zu sein "vorgibt"—und in der Erkenntnis dieser Tatsache

täusche ich mich keineswegs. Der als gebrochen erscheinende Stab

täuscht vielmehr mich, indem er mir etwas zum "Glauben" vorlegt,

indem er mich einlädt, etwas zu glauben, was nicht ist. Dieser etwas

nicht Seiendes nahelegende "objektive Schein" ist das objektive

Element der Täuschung, das auch nach seiner "Erkenntnis als Schein"

bestehen bleibt.

Das subjektive Element der Täuschung ist ein gewisser "Glaubensakt",

in dem ich diesem Eindruck vertraue, diesen "objektiven Schein" ernst

144a Dies gilt allerdings nur für die "Erkenntnis im engeren Sinn". Vgl. dazu

S. 74 ff. dieser Arbeit und die folgenden Ausführungen. 145 Vgl. dazu Wesen der Täuschung im Unterschied vom Irrtum, in Die Idole

der Selbsterkenntnis: Max Scheler, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 222 ff.

105

nehme. Wenn ich einen auf Grund objektiven Scheins angenommenen

Sachverhalt in einem Urteil formuliere, irre ich mich.

Aber was ich da formuliere: "Dieser Stab ist gebrochen", habe ich ja

nicht erkannt— das habe ich vielmehr bloß gemeint; ich habe geglaubt,

daß das scheinbar so seiende Ding, das ich erkannte, wirklich so sei.

Geirrt habe ich mich also nur in einem über das anschaulich Gegebene

und Erkannte hinausgehenden "Meinen", aber nicht in den

Erkenntnissen, die jeder Täuschung notwendig zugrunde liegen,

nämlich: ich sehe einen Stab, der objektiv gebrochen zu sein scheint.

Wäre diese Erkenntnis selbst eine Täuschung, so wäre es sinnlos, von

Täuschung überhaupt zu sprechen. Auf Grund dieser wirklich

erkannten Sachverhalte aber haben wir einen anderen als bestehend

angenommen: Dieser Stab ist wirklich gebrochen.

Wir haben also — in der Täuschung unausgesprochen, im Irrtum

ausdrücklich formuliert—einen Sachverhalt angenommen, den wir

nicht erkannt hatten.146 Selbst wenn man unkorrekterweise auch das

objektive Element der Täuschung allein, den "objektiven Schein", den

wir trotz allen Wissens wahrnehmen (auch wenn ich weiß, daß der Stab

nicht gebrochen ist, sehe ich ihn gebrochen), eine Täuschung nennen

will, so ist der Irrtum damit auf jeden Fall verhindert. Es ist ja nun klar,

daß ich beim Aussprechen des Satzes über die (objektive)

Gebrochenheit des Stabes einen Sachverhalt formuliere, den ich nicht

erkennen konnte.147

146 Ähnliches ließe sich auch für die Täuschungen über das fremde oder vor

allem das eigene seelische Sein zeigen. Vgl. Generelle Quellen der

Täuschungen der inneren Wahrnehmungen, von Max Scheler, in:

Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 254—309. 147 Es zeigt dies wieder, daß die "Seinsautonomie" des Gegenstandes zwar

nur zum Begriff des Erkennens im weiteren Sinn (des mit Erkenntnis Hand

in Hand gehenden Glaubens bzw. des "Glaubens", der Wirklichkeit zum

Gegenstand hat), aber zum notwendigen Wesen des Erkennens im eigent-

lichen Sinn gehört. Es gibt keine "Wahrheit für mich". Denn die geglaubte

Seinsautonomie des geträumten Hauses wurde gerade nicht erkannt, und

das, was bei der Täuschung erkannt wurde, daß ich träume und -mir ein so

und so gearteter Traumgegenstand gegeben ist, das ist objektiv so und

scheint oder erscheint mir nicht bloß. Alles, worauf sich die Erkenntnis im

engeren Sinn also bezieht, ist seinsautonom und an sich so. Denn es ist

keineswegs nur "für mich" (wahr), daß ich dies und nicht jenes träumte,

sondern dies ist objektiv so. Jedes bloß scheinbare Sein und jede

106

Konsequenzen dieser Wahrheit

Es war voll berechtigt, daß Descartes über diese Einsicht in die

Irrtumslosigkeit der Erkenntnis beglückt war und sie für sehr

wesentlich hielt, für eine Grundwahrheit, ohne die keine Metaphysik

bestehen könnte. Denn diese Einsicht befreit uns nicht nur deshalb vom

Relativismus, weil wir in ihr einen notwendigen

Wesenszusammenhang mit Gewißheit erkennen148, sondern auch, weil

sie uns sagt:

Die zahlreichen Irrtümer im Leben der Menschen und der Geschichte

der Philosophie waren nicht unvermeidliche "falsche Erkenntnisse",

sondern die Erkenntnis überschreitende Behauptungen, für die es viele

Gründe gibt.149 — In all ihren vielen und reichen Erkenntnissen aber

haben die Philosophen aller Zeiten sich niemals geirrt, sondern dieselbe

eine Wahrheit mehr oder weniger tief und klar gesehen. Wohl können

in den über das Erkannte hinausgehenden Spekulationen, Annahmen

Täuschung setzt notwendig ein absolutes, autonomes Sein und die

Erkenntnis dieses Seins voraus. 148 Das wird den Gegenstand des II. Teiles dieser Arbeit bilden. 149 Außer dem "objektiven Schein" selbst, der häufig besteht, ist ein solcher

Grund die Schwierigkeit jeder auf Allgemeingültiges gerichteten

Erkenntnis, die leicht zu einem "Räsonnieren" und Steckenbleiben in der

dìja führt. Vgl. dazu D. von Hildebrand, What is philosophy? (Kap. 2, 3).

Zum Wesen des "objektiven Scheins" (das gleich in einer ausführlicheren

Fußnote erläutert werden soll) vgl. B. Schwarz, Der Irrtum... I, I, 2, 8 Ü.

Ein dritter Grund (im Leben des Menschen) ist die Tatsache, daß sich uns

existentiell wichtige Wirklichkeiten überhaupt nicht ohne gewisse

Elemente des Glaubens erschließen (wie gleich erläutert werden wird), der

in manchen seiner Formen eine Irrtumsmöglichkeit birgt. Vor allem aber

sind die Gründe, die uns Falsches behaupten lassen, viele Formen von

Hochmut und Begehrlichkeit, die uns die Finsternis eigener und eitler

Meinungen mehr lieben lassen als das Licht der objektiven Wahrheit. Diese

teils bewußten, teils unbewußten Wurzeln für Irrtümer und Wertblindheit

in ihren verschiedenen Formen herausgearbeitet und zu philosophischer

"prise de conscience" gebracht zu haben, ist ein großes Verdienst D. von

Hildebrands in Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis, Christliche Ethik,

IV. Teil; Graven Images — Substitutes for true morality. Vgl. auch Annie

Kraus, Vom Wesen und Ursprung der Dummheit.

107

oder Interpretationen Irrtümer sein, in den von all dem vorausgesetzten

Erkenntnissen (im eigentlichen Sinn) aber niemals. Also sind alle

Philosophen (ja alle Menschen überhaupt) in all ihren Erkenntnissen

einig. Im Widerspruch zueinander und zur Wahrheit stehen sie nur in

ihren Irrtümern, von denen man allerdings vielleicht mehr findet als

von formulierten Wahrheiten. Aber das wird einen niemals mehr an der

Wahrheit irremachen, und man wird beginnen, von einer "immanenten

Lektüre" der Philosophen, bei der man in ihr System "hineinkommen"

will, abzugehen und überall die Fragen zu stellen: Was haben sie

gesehen? Was ist die echte Einsicht, der ich folgen kann? Worin kann

ich das Gemeinte wirklich selbst "in den Sachen" sehen?, und endlich:

Wo finde ich Behauptungen, deren Falschheit ich klar erkennen kann?

Sicherlich wäre es im täglichen Leben weder möglich noch

wünschenswert, nichts für wahr zu halten als das, was wir erkannt

haben. Nicht nur wissen wir von unzähligen äußeren Wirklichkeiten

des Lebens, von der Vergangenheit, von der Politik, ausschließlich,

indem wir anderen Menschen Glauben schenken, die uns solche Dinge

mitteilen, sondern auch letztlich bedeutsame Wirklichkeiten, auf die

wir unser ganzes Leben gründen, wie die Einstellung oder Liebe

anderer Personen, erkennen wir nur, indem wir sie über das Erkannte

hinaus glauben.149a Auch in der Philosophie sind in manchen Fragen

über das Erkannte hinausgehende Spekulationen berechtigt, jedoch

können fast alle philosophischen Fragen durch Erkenntnisse im

eigentlichen Sinn ihre Beantwortung finden. Wenn wir daher in der

Philosophie ausschließlich auf das Viele lauschten, das sich uns

wirklich in der Erkenntnis erschließt, würden wir nie irren. Eine lange,

ständig wiederholte Selbstprüfung, in der wir uns das viele vorschnelle

Urteilen abgewöhnen, und eine unbedingte Liebe zur Wahrheit, in der

wir diese in allen Bereichen und auch in ihren Forderungen

anzunehmen bereit wären, könnten uns bis an dieses Ideal führen. Doch

die prinzipielle Erreichbarkeit dieses Zieles (die nur an der

149a Dies hat auch einen tragischen Aspekt, der deutlich im Hyppolitos von

Euripides zum Ausdruck kommt: "Theseus: O gab es unter Menschen nur

ein sicheres Merkmal der Freundschaft, in der Herzen Grund zu schaun,

den wahren Freund zu scheiden von dem falschen Mann! Und hätte doch

zwei Stimmen jeder Sterbliche, die eine wahr, die andere schwankend, wie

sich's trifft: So würde, die nicht: lauter denkt, erkannt an der, die's ehrlich

meint, und uns berückte kein Betrug!" (Vers 925—931).

108

menschlichen Schwäche in vielen Fällen scheitert), ja auch nur der Sinn

der Arbeit in dieser Richtung ist ausschließlich dann gegeben, wenn wir

wissen: Unsere Erkenntnis selbst berührt immer die Wirklichkeit und

niemals nicht Seiendes!

Doch da erheben sich viele Fragen: Wie sollen wir eine solche Aufgabe

vollbringen? Wenn wir auch einverstanden sind, daß zwischen

Erkennen und Irren ein tiefer gehender Unterschied besteht, als wir

dachten, glauben wir nicht doch subjektiv, daß wir erkennen, gerade

wenn wir irren? Haben wir nicht dieselbe subjektive Meinung, Wahres

zu erkennen, wenn wir irren, wie wenn wir etwas Wahres aussprechen?

Sind ferner nicht alle unsere Erkenntnisse unvollständig und damit

irgendwie relativ? Was nützt es schon, eine kleine, ausschnitthafte

Wahrheit zu erkennen, deren Formulierung vielleicht schon wieder

falsch ist, weil sie nicht "das Ganze" ist?

Unvollständige Wahrheit und Irrtum

Auch dieser entscheidende Unterschied kann nach den

vorangegangenen Untersuchungen nun leicht gesehen werden, und so

können wir auf die letzte Frage eine Antwort finden, warum die

Formulierung einer unvollständigen Wahrheit, die nicht "das Ganze"

ist, nicht einem Irrtum gleichkommt:

Alle unsere Erkenntnisse sind mehr oder weniger unvollständig. (Meist

meinen wir allerdings mit "unvollständiger Erkenntnis" eine

Erkenntnis, die auch in bezug auf die vom Menschen erreichbare

"relative" Vollständigkeit beschränkt ist.) Haben wir aber einmal

gesehen, daß die unvollständige Erkenntnis als solche, wie eben jede

Erkenntnis, niemals einen Irrtum enthält, so ist klar, daß die

Formulierung irgendeines wirklich erkannten Sachverhalts—also eine

unvollständige Wahrheit—ebensowenig ein Irrtum ist, wie die

vollständige Wahrheit, wenn auch diese jedem Irrtum noch viel mehr

entgegengesetzt ist, weil sie notwendig seine Möglichkeit ausschließt.

Die unvollständige Erkenntnis ist wesenhaft verschieden vom Irrtum,

aber nur auf Grund der Unvollständigkeit unserer Erkenntnis ist es

möglich, daß wir irren. Hätten wir eine absolute im Sinne einer

allumfassenden Erkenntnis, könnten wir uns niemals irren.

Die unvollständige Erkenntnis führt, wie schon gezeigt wurde, dann

zum Irrtum, wenn wir über das Erkannte hinaus die Linien des

Seienden gleichsam fortführen in den Bereich hinein, den wir noch

109

nicht erkannt haben und für den wir doch schon eine fertige Erkenntnis

zur Hand haben möchten.150

Irrtum liegt also nur dort, wo wir behaupten zu wissen, obwohl wir

nicht wissen. In dieser Einsicht hat Platon das Wesen der Doxa entdeckt

und in der Apologie erscheint Sokrates als derjenige, der den Sophisten

beweist, wieviel sie "meinen" zu wissen, ohne es je erkannt zu haben,

und er fordert alle auf, doch zu bedenken, was sie wissen und was sie

nicht wissen.151

Welche Motive immer ein Irrtum haben mag, sei es, daß wir durch eine

täuschende "Ähnlichkeit" verführt werden, sei es, daß wir Eitelkeit oder

Gedankenlosigkeit oder gar dem Haß der Wahrheit verfallen sind, die

unsere "bösen Werke" offenbar macht, oder sei es einfach die

Schwierigkeit, auf die Stimme der Wahrheit zu lauschen und zu

schweigen—in keinem Irrtum handelt es sich jemals um die

Formulierung einer unvollständigen Erkenntnis als solcher, sondern

immer um Behauptungen von Sachverhalten, die wir nicht erkannt

hatten. Sosehr auch die Behauptung mit der Erkenntnis verbunden

auftreten kann, so daß es schwer ist, beide voneinander zu trennen, so

ist doch die Behauptung von der Erkenntnis wesensverschieden.

Daher ist die Überschreitung der unvollständigen Erkenntnis im

Urteilen, die zum Irrtum führt, keineswegs mit der Unvollständigkeit

der Erkenntnis als solcher verknüpft und muß auch dann nicht eintreten,

wenn wir eine noch sehr unvollständige Erkenntnis formulieren,

obwohl dies—besonders bei der auf allgemeine

Wesenszusammenhänge gerichteten philosophischen Erkenntnis—

sehr schwer ist und leicht zum Irrtum führen kann. Aber als solches ist

die Formulierung einer noch so unvollständigen Wahrheit in keiner

Weise mit Irrtum verbunden. Dieser entsteht vielmehr dann, wenn wir

150 In seinem Buch Der Irrtum... I, I, 2, 3, macht B. Schwarz die klare

Unterscheidung zwischen unvollständiger Wahrheit und Irrtum. Dort und

im folgenden findet sich auch die Ablehnung des Relativismus und Imma-

nentismus, der diesen Unterschied leugnet. 151 Deshalb ist die Apologie nicht nur ein klassisches Dokument, sondern

die "Magna Charta" der Philosophie, indem sie deren Grundaufgabe auf-

zeigt, von aller Doxa, von allen ohne Erkenntnis gefällten allgemeinen

Behauptungen frei zu werden und nur zu sagen, was die Stimme des Seien-

den selbst uns sagt, was wir wirklich erkennen und worin niemals ein

Irrtum ist. Vgl. Platon, Sophistes, 229 c: 230 a—d.

110

unseren Blick nicht mehr ganz auf die erkannte, selbst gegebene Sache

gerichtet halten, sondern "über diese hinausdenken", zu früh

verallgemeinern, interpretieren oder einfach blind behaupten. Wenn

also auch für viele — keineswegs für alle— Irrtümer ein "objektiver

Schein152 vorausgesetzt ist, so ist es doch niemals die Erkenntnis dieser

irreführenden Ähnlichkeit selbst, die uns in Irrtum führt, sondern der

Irrtum liegt in der über das Erkannte hinausgehenden Behauptung, dies

Ähnliche sei gleich—nicht also darin, daß ich eine Ähnlichkeit erkenne,

sondern daß ich eine Gleichheit behaupte, die ich nicht erkannt habe.153

152 Daß ein solcher "objektiver Schein" dem Irrtum meist zugrunde liegt,

hat B. Schwarz in seinem Buch Der Irrtum... eindrucksvoll nachgewiesen.

Dieser "objektive Schein" kann dabei in noch sehr verschiedenem Sinn

gemeint sein: Zunächst kann man den Begriff "objektiven Schein" so weit

verstehen, daß er für jeden eigentlichen Irrtum vorausgesetzt ist. Man meint

dann damit den Gegensatz zum total Beziehungslosen, das man nicht

verwechseln und durch das man daher nicht zu Irrtümern geführt werden

kann. So kann etwa kein normaler Mensch die geometrische Figur des

Kreises mit dem Mitleid verwechseln, sondern für jeden Irrtum ist eine

gewisse objektive Verwandtschaft vorausgesetzt. — Zweitens kann man

unter "objektivem Schein" eine viel weiter gehende Ähnlichkeit oder

Verwandtschaft zweier Wirklichkeiten verstehen, als die für jeden Irrtum

vorausgesetzt ist. Neben ganz merkwürdigen Irrtümern, die in abwegigen

und abstrusen Spekulationen oder in einem Haß der Wahrheit ganz

offenkundige Gegebenheiten und Unterscheide vergewaltigen oder

leugnen, gibt es auch objektiv naheliegende Verwechslungen, wie die

zwischen Urteilsakt und Urteilssatz, die man leicht begehen und dadurch

zu Irrtümern gelangen kann, solange niemand auf diesen Unterschied

hinweist. — Drittens könnte man den Begriff "objektiven Schein" in einem

ganz falschen Sinn auffassen, in dem er den Wesensunterschied zwischen

der rezeptiven Transzendenz des Erkennens und der spontanen Tätigkeit

des Irrens verwischen würde und der Irrtum auch als eine rezeptive

Tätigkeit, als "ein Erkennen eines notwendig irreführenden objektiven

Scheins" gedeutet würde. Also gäbe es eigentlich ein falsches Erkennen,

das Irrtum genannt, und ein wahres Erkennen, das Erkenntnis genannt

würde und der Unterschied zwischen Erkenntnis und Irrtum wäre somit nur

ein von außen dazukommender, wie der zwischen Porträts von wirklichen

und solchen von erfundenen Personen. 153 Descartes sieht darin sehr tief einen Beweis dafür, daß niemals Gott uns

in Irrtum führt, indem er uns eine Natur gegeben hätte, die als solche irrt;

111

Wie kann ich selbst wissen, ob ich irre oder erkenne?

Immanentismus in der Auffassung, nur ein "idealer Beobachter" könne

Erkenntnis von Irrtum unterscheiden

Man könnte einwenden: Sicherlich behaupten wir, wenn wir irren,

immer etwas, was wir—objektiv gesehen—nicht erkannt haben, aber

im Unterschied zu einer Lüge liegt das Wesen einer irrigen Behauptung

darin, daß wir glauben, erkannt zu haben, was wir behaupten, daß wir

für wahr halten, was nicht wahr ist. Ist es deshalb nicht im subjektiven

Vollzug genau dasselbe Erlebnis, ob wir erkennen oder irren? Für einen

idealen Beobachter mag es möglich sein, zu wissen, wann wir irren und

wann wir die Wahrheit behaupten— wir selbst aber können dessen in

keiner Weise sicher sein. Eine derartige Auffassung vertritt Lessing in

seinem ebenso berühmten wie schrecklichen Wort, das Kierkegaard in

seiner Unwissenschaftlichen Nachschrift dem Hegelschen System

entgegenhält154 und leider nicht ebenso entschieden ablehnt wie

dieseses155 — wenn auch dieses Wort bei ihm einen anderen Charakter

erhält.156

niemals die Erkenntnis, deren Fähigkeit uns Gott gegeben hat, sondern

allein der freie Akt des Urteilens, insofern er von uns "mißbraucht" wird

führt zu Irrtümern. Vgl. Meditationen, IV (9—21). 154 Vgl. Unwissenschaftliche Nachschrift, Bd. I, Zweiter Teil, 1. Abschn.,

Kap. 2, 4, S. 98 ff. 155 A. a. O., S. 101 (VII, 87, 88). Kierkegeards Ablehnung der Hegelschen

Grundkonzeption, seiner Historisierung des Seins und der Wahrheit, ja

Gottes selbst, seines Versuches, eine allumfassende Erkenntnis zu

erreichen, in der Gott selbst zu sich kommt, seiner Auflösung des

Christentums — die klare Zurückweisung dieser Hegelschen

Grundgedanken kommt besonders deutlich in der Unwissenschaftlichen

Nachschrift zum Ausdruck. Am großartigsten wohl in Bd. 1, Zweiter Teil,

2. Abschn., Kap. 1I; auch Kap. 2. 156 Dies zeigt sich erstens darin, daß Kierkegaard den aus dem Hegelschen

System folgenden historischen Relativismus klar sieht und entschieden ab-

lehnt. (Vgl. a. a. O. Bd. I, Erster Teil, VII, 22, Fußnote S. 29, 30.)

Außerdem schreibt Billeskov Jansen in seinem Kommentar zu dieser

Stelle: "1849" (also drei Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes der

Unwissenschaftlichen Nachschrift) "nimmt Kierkegaard Abstand von

112

"Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den

einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze

mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir:

wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! die

reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!"157

Diese Vorstellung einer immer im Irrtum befindlichen

Erkenntnisbemühung schließt außer vielen anderen Thesen, die hier

nicht behandelt werden können, auch die ein, es könnten

"Erkenntnis"-Akte Irrtümer sein, und nur Gott als idealer Beobachter

könnte dies beurteilen und durch den "Zusatz mich immer und ewig zu

irren" das zu einem Irrtum machen, was sich mir als Erkenntnis

darbietet. Diese These leugnet nicht nur die tiefgehende strukturelle

Verschiedenheit zwischen Irrtums- und Erkenntnisakten, sondern legt

vor allem nahe, daß wir selbst niemals entscheiden können, ob wir

erkennen oder uns irren. Damit aber wären wir letzten Endes

vollkommen von der Wirklichkeit abgeschnitten, da wir niemals

erkennen könnten, daß wir sie berühren, sondern dies könnte nur ein

"idealer Beobachter". Wenn wir vergangene Irrtümer erkennten,

wüßten wir wiederum nicht, ob die Erkenntnis, in der wir sie

"entdecken" bzw. an der wir sie messen, nicht wieder nur ein Irrtum

wäre, der sich uns jetzt als Erkenntnis darstellt. Also führt jede

Auffassung, nach der Erkennen und Irren im Vollzugsbewußtsein

gänzlich gleich seien, zu der absoluten Unmöglichkeit, selbst

entscheiden zu können, ob man sich im Irrtum oder in der Wahrheit

befindet, und damit letzten Endes zu einem Abgeschnittensein von der

wirklichen Welt, die zur Verzweiflung führen müßte.

Die Verschiedenheit des Vollzugsbewußtseins bei Erkennen und Irren

Lessings Äußerung (Pap. X, 1 A 478, am Schluß)". Vgl.

Unwissenschaftliche Nachschrift, Bd. I, S. 318 (244). Auch geht aus

Kierkegaards Interpretation der Lessing-Stelle (a. a. O., Bd. 1, S. 100, 101)

hervor, daß Kierkegaard nicht den Immanentismus in der Lessing-Stelle,

sondern mehr die Tatsache des fortgesetzten Strebens nach Wahrheit

gegenüber dem abgeschlossenen Hegelschen System hervorhebt. 157 Vgl. Lessings Sämtliche Werke, 5. Bd., S. 100.

113

Auf einen derartigen Immanentismus kann folgende Antwort gegeben

werden:

Niemand kann leugnen, daß jemand mit erstaunlicher subjektiver

Sicherheit falsche Meinungen vertreten kann. Doch wenn man die

notwendigen Wesensunterschiede zwischen Erkennen, Überzeugtsein

und Urteilen nicht übersieht, die im 2. Kapitel entwickelt wurden, wird

man leicht sehen, daß die falsche Sicherheit von der wahren Sicherheit,

die von der Erkenntnis getragen ist, ganz verschieden ist. Niemals

können wir bei einem Irrtum das lichtvolle Bewußtsein von einem

Sachverhalt, das bewußte geistige Haben und Erfassen eines

Gegenstandes erleben, wie es in der Erkenntnis allein vorliegt.

Das Vollzugsbewußtsein ist also beim Irrtum keineswegs das gleiche

wie bei der Erkenntnis. Beim Aussprechen eines wirklich erkannten

Sachverhalts haben wir, wie aus den vorigen Untersuchungen über die

Überzeugung und die Erkenntnis hervorgeht, eine vollkommen

andersartige Sicherheit als beim Aussprechen eines Urteils, dessen

Gegenstand wir nicht erkennen, sondern nur auf Grund anderer

Erkenntnisse vage "meinen". Wie im II. Teil dieser Arbeit näher geklärt

wird, in dem die absolut gewissen Erkenntnisse behandelt werden

sollen, ist die wahre Sicherheit von der falschen keineswegs nur von

einem "idealen Beobachter" aus verschieden, sondern auch im Erlebnis

von "innen her" ganz anders. Dies geht schon daraus hervor, daß es sich

bei der falschen Sicherheit ausschließlich um eine "Sicherheit der

Zustimmung", nicht aber um eine "Sicherheit der Erkenntnis" handeln

kann. "Sicherheit" bedeutet also jedesmal etwas ganz Verschiedenes:

einmal bedeutet es, daß mir der Sachverhalt selbst gegeben ist und mich

überzeugt, indem er sich in der Erkenntnis in seinem Bestand ausweist,

das zweite Mal bedeutet es nur, daß ich ohne Zweifel und mit

uneingeschränkter Festigkeit meine Zustimmung zu einem Sachverhalt

gebe. Diese von der Gewißheit der Erkenntnis ganz verschiedene

"Sicherheit" kann zum Beispiel in einem Glaubensakt, sei es einem

Menschen oder Gott gegenüber, viel stärker und ausgeprägter sein als

in einer Überzeugung, die einen evidenten mathematischen

Zusammenhang betrifft.

Daß also bei Irrtum und Erkennen das Vollzugsbewußtsein ganz

verschieden ist, ist eine Wahrheit von letzter Bedienung, die uns aus

dem Gefängnis des erwähnten Immanentismus befreit, demgemäß wir

unser ganzes Leben lang niemals wirklich die eigenen Irrtümer

bemerken und sicher sein könnten, daß wir erkennen. Denn auch ein

114

(in keiner Erkenntnis, deren wir sicher sind, gegründeter) fideistischer

"Glaube" könnte uns ja in keiner Weise aus diesem Immanentismus

befreien, ja ein vollkommen blinder Glaube, dem keine Erkenntnis

vorhergeht, ist unmöglich und widersprüchlich, wie hier nur erwähnt

werden kann.

Wenn man klar die wesenhafte, rezeptive Transzendenz der Erkenntnis

erfaßt hat und sie von dem mit "Glauben" verbundenen "Erkennen im

weiteren Sinn" unterschieden hat, dann muß man sehen: Es gibt keine

falsche Erkenntnis, und alle Urteile, die wir fällen, indem wir nur dem

Logos des Erkannten folgen, sind wahr.

Über die Frage der Unbewußtheit der spontanen Tätigkeit beim Irren

Solange also nur die über das Erkennen im eigentlichen Sinn

hinausgehenden Elemente der Überzeugung und des Urteilens in

Erwägung gezogen werden, hat sich das Vollzugsbewußtsein beim

Irren und beim Erkennen (im engeren Sinn) als eindeutig verschieden

erwiesen. Man könnte aber außer auf die spontanen Elemente in

Überzeugung und Behauptung, die auch im Vollzugsbewußtsein mehr

oder minder klar als vom "Sich-selbst-Geben" des Gegenstandes

verschieden erlebt werden, noch auf andere Gegebenheiten hinweisen,

die das bisher Gesagte einschränken würden. Abgesehen davon, daß es

beim Irrtum eine der Überzeugung vorhergehende Tätigkeit gibt, in der

wir gleichsam die Linien des sich uns darbietenden Seienden in jenen

Bereich hinein fortführen, der uns nicht selbst gegeben ist, kann sich

mit dem Erkennen auch eine Tätigkeit der Phantasie verbinden, die uns

nicht deutlich bewußt ist und in der von uns etwas erzeugt wird, was

dem früher erwähnten "objektiven Schein" ähnlich ist: ein "fiktiver

Sachverhalt"158, der sich uns scheinbar selbst gibt und als bestehend

darstellt und in dessen Behauptung eben der Irrtum liegt. Es wäre also

auch das Irren eine rezeptive Tätigkeit, in der wir den fiktiven

Sachverhalt "sehen". Wenn dabei die spontane Tätigkeit der Schaffung

dieses "fiktiven Sachverhalts" als eine prinzipiell jenseits unseres

Bewußtseins liegende aufgefaßt wird, soll eine solche Auffassung erst

im nächsten Teil der Arbeit behandelt werden. Hier kommt sie nur in

Betracht, sofern sie ein "unbewußtes Element" im bewußten Akt selbst

ansetzt, wobei es im Vollzug des Erkennens und Irrens unmöglich

158 Vgl. dazu B. Schwarz, Der Irrtum... I, I, 2, 8 ff.

115

wäre, zu unterscheiden, wo wir rezeptiv empfangend und wo spontan

kreativ sind.

Es handelt sich bei diesem Einwand also nicht um den Hinweis auf

(Überzeugung und Behauptung, sondern mehr auf Einbildung und

Phantasie. Zunächst muß dazu bemerkt werden, daß es keineswegs für

den Irrtumsakt konstitutiv ist, daß ich in ihm den für wahr gehaltenen

Sachverhalt erkannt zu haben glaube. Ich kann mir beim Irrtum sehr

wohl bewußt sein, daß ich etwas bloß annehme und vage meine und es

mir keineswegs selbst gegeben ist.

Der genannte Einwand bezieht sich also nur auf solche Irrtümer in

denen der Irrende ausdrücklich das Bewußtsein hätte, der behauptete

Sachverhalt sei ihm selbst tatsächlich gegeben, er erkenne ihn, etwas

erschließe sich ihm wirklich. So bilden wir uns etwa im täglichen

Leben oft fest ein, etwas genau gesehen oder gehört zu haben, ohne daß

dies der Fall wäre. Doch auch wenn wir von der Erinnerung absehen,

bei der zu fragen ist, in welchem Sinn sie Erkenntnis genannt werden

kann, mischt sich oft eine Interpretation oder halb bewußte Phantasie

zur Erkenntnis und läßt sich dann vielleicht im Innenaspekt schwer von

der Erkenntnis selbst unterscheiden. So können wir uns etwa fest

einbilden, etwas tatsächlich zu sehen, z. B. an anderen Personen eine

Feindseligkeit uns gegenüber wahrzunehmen, wobei unsere halb

bewußte Phantasietätigkeit unsere "Einbildungen" derart auf andere

projiziert, daß sie uns in ihnen tatsächlich "gegenübertreten". Dies gilt

aber auch für die Philosophie, wo wir uns eigenmächtigen

Spekulationen, die weit über das Gegebene hinausgehen, so sehr

hingeben können, daß wir tatsächlich ein transzendentales ego und

seine Tätigkeiten einzusehen glauben, daß wir es für gegeben halten,

daß alle Monaden fensterlos sind und "de petites perceptions" haben

müssen, oder daß das Kontradiktionsprinzip "aufgehoben" werden

kann; wir können soweit gelangen, daß wir wirklich zu "sehen" meinen,

daß nicht Napoleon, sondern der "Weltgeist" auf dem Pferde

einherreitet. Es ist auf Grund dieses Don-Quichotesken Zuges im

Menschen, daß er so sehr in einer konstruierten und phantasierten Welt

leben kann, daß er schließlich nicht mehr eine übelriechende

"Maritorne", sondern eine erhabene, süß duftende Prinzessin vor sich

zu haben glaubt, so sehr, daß er sie quasi wirklich "sieht".

Aber dies geschieht dann doch, weil wir im Grunde nicht sehen wollen.

Wir könnten uns die Phantasietätigkeit zu Bewußtsein bringen und klar

unterscheiden, wo uns wirklich etwas selbst gegeben und wo es

116

erfunden ist. Abgesehen von einer durch solche Phantasie im äußersten

Fall hervorgerufenen Sinnestäuschung, auf deren Beziehung zur

Erkenntnis schon früher eingegangen wurde, ist eben doch niemals der

Weltgeist, sondern nur Napoleon von Hegel gesehen worden. Der

Innenaspekt und das Vollzugsbewußtsein ist besonders in der

Philosophie gänzlich verschieden, wenn uns ein Sachverhalt selbst

leibhaftig gegeben ist, sich uns erschließt, sich unserem Geiste

eindeutig aufdrängt — als wenn die "Sache selbst" nicht besteht und

nicht bestehen kann und unser Geist im dunkeln irrt und in

Scheinmeinungen vage einen "fiktiven Sachverhalt" projiziert, der uns

niemals wirklich gegeben ist und deshalb auch nicht als selbst gegeben

erlebt werden kann.

Unsere Gewißheit im Irrtum ist eben doch auch hier bloß diejenige der

"sicheren Zustimmung", aber niemals der sicheren Erkenntnis, in der

uns die Sache von sich selbst überzeugt. Bei einem vorurteilslosen

Betrachten der Wirklichkeit wird offenbar, daß sich nicht nur die

spontane Tätigkeit des Behauptens, sondern auch diejenige der

Phantasie eindeutig im Vollzuge vom Erkennen selbst abhebt. In einem

gewissen Sinne sogar noch mehr als Überzeugung und Behauptung.

Um das zu sehen, beachte man, daß bei der Phantasie die spontane

Tätigkeit schon vorhergeht und dann gleichsam eine rezeptive

"Wahrnehmung des zuerst Konstruierten, Phantasierten oder

Erlogenen" stattfindet: In der "Wahrnehmung" einer solchen "Fiktion"

irre ich mich ja auch nicht, sondern nur im Glauben, diese Fiktion sei

Wirklichkeit. Die auch im Vollzug als vom Erkennen verschieden

erlebte spontane Tätigkeit folgt hier nicht, wie im Fall der Überzeugung

und des Urteils, der Erkenntnis nach, sondern geht ihr vielmehr vorher.

Wenn Don Quichote, bevor er die einen Sarg tragenden Mönche für

Entführer einer Jungfrau hält und sich ein Drama ausmalt, wirklich auf

die ihm gegebene Realität blickte, könnte er jederzeit das, was sich ihm

erschließt, von dem, was er sich ausmalt als auch im Vollzug ganz

verschieden erlebt, unterscheiden. Dies sieht man ein, sowie man sich

in den Akt der Phantasie versenkt.159

Wenn schon klar war, daß jenes organisch das Erkannte fortführende

Interpretieren und das zum Irrtum führende "Glauben" an einen

"objektiven" (also keineswegs von uns irgendwie hervorgebrachten)

159 Dies wird am Ende des 2. Kapitels des II. Teils der Arbeit noch klarer

werden.

117

"Schein" im Vollzug vom Erkennen selbst verschieden sind, um wieviel

mehr ist jede Art von Konstruktion, Phantasie oder gewagter

Spekulation auch im Vollzug vom Erkennen verschieden. Denn das

"Sehen" von im weitesten Sinn des Wortes "eingebildeten"

Sachverhalten ist ja nicht einmal mit dem tatsächlichen "Wahrnehmen"

eines objektiven Scheins, wie des gebrochenen Stabs im Wasser, zu

vergleichen: ein phantasieerzeugter "Schein" ist niemals so deutlich

und scheinbar unabhängig gegeben wie eine Sinnestäuschung. Und

selbst wenn er ebenso deutlich wäre, würde das keinen Einwand gegen

die Wesensverschiedenheit von Erkennen einerseits und Täuschung

und Irrtum andererseits darstellen, wie schon gezeigt wurde.

Vor allem aber ist die dem "fiktiven Sachverhalt" vorhergehende

Tätigkeit der Phantasie oder Einbildung eindeutig auch im Vollzug

erlebt und qualitativ ganz verschieden vom Vollzug des Erkennens

noch mehr, als es schon für Überzeugung und Behauptung erwiesen

wurde. Es bleibt also der Satz bestehen: In der Erkenntnis selbst können

wir uns niemals irren.

Die Irrtumslosigkeit der Erkenntnis ist keine Tautologie

Es ist von zentraler Bedeutung, zu sehen, daß hier eine echte veritas

aeterna im später zu behandelnden Sinn vorliege und nicht eine

Tautologie, ein bloß analytisches Urteil im Sinne Kants und des

Positivismus. Es ist keine bloße Begriffsbestimmung der Erkenntnis,

daß sie niemals irren kann, sondern eine Wesenseinsicht von letztem

erkenntnistheoretischem und metaphysischem Gewicht. Es geht um ein

aus unmittelbarer Anschauung gewonnenes "synthetisches Urteil a

priori."160 Die Wahrheit dieses Satzes kann nämlich niemals erkannt

werden, wenn man bloß auf den "Begriff des Erkennens", sondern

ausschließlich, wenn man auf die "Sache Erkenntnis" blicke.

Nur auf diesem Hintergrund kann die Wahrheit aufrechterhalten und

verteidigt werden, daß der Mensch ein Wesen ist, fähig, das Wahre vom

Falschen zu scheiden. Dabei muß noch einmal nachdrücklich betont

werden, daß diese Einsicht nur vollzogen werden kann, wenn man die

radikale Falschheit der Auffassung der Erkenntnis als spontanen oder

160 Damit liegt schon hier in nuce die Antwort auf die Grundfrage des II.

Teiles der Arbeit, die Kant als die Frage nach der Möglichkeit einer

"Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können", bezeichnet hat.

118

gar als schöpferischen Akt durchschaut und ihre wesenhafte

Rezeptivität, ihren empfangenden Grundzug, eingesehen hat. Denn

würde die Erkenntnis auch nur in irgendeiner Weise spontan im Subjekt

beginnen und ein Objekt schaffen, so würde sie nicht nur irren können,

sondern notwendig dem Irrtum unterworfen sein — es sei denn, es gäbe

eine zufällig von außen kommende Übereinstimmung oder eine Art

prästabilierter Harmonie zwischen "Erkenntnis" und Wirklichkeit. Eine

solche Lösung, wie z. B. N. Haremann und Leibniz sie vorschlagen, ist

aber unhaltbar und würde auch letztlich jede Erkenntnis leugnen, wie

wir schon sahen.

Die Transzendenz jeglicher Erkenntnis als Grundlage

aller Transzendenz des Menschen

"wenn wir einen Blick auf das Leben der geistigen Person vom Typus

Mensch werfen, so drängt sich uns ohne weiteres auf, welche

fundamentale Rolle das Erkennen in demselben spielt. Die einzigartige

Fähigkeit, an der ganzen übrigen Welt teilzuhaben, wie sie das

Erkennen in allen seinen Abstufungen von einer einfachen

Kenntnisnahme bis zu der Einsicht in einen notwendigen Sachverhalt

darstellt, ist das Fundament für unser ganzes geistiges Leben. All unser

Wollen und Streben, unser Lieben und Hassen, unser sich Freuen und

Trauern setzt ein Bewußtsein von dem Objekt unseres Wollens und

Strebens, unseres Liebens und Hassens, unseres sich Freuens und

Trauerns voraus, ein Wissen von ihm, ein verstehendes Erfassen."161

Kein Schaffen und keine Phantasie, ja nicht einmal Täuschung ist, wie

gezeigt wurde, ohne Erkenntnis möglich. Jede Are der Transzendenz

des Menschen ist in der Teilhabe am Sein grundgelegt, die im Erkennen

liegt. Deshalb ist jede Auffassung, die die Transzendenz jeglicher

Erkenntnis leugnet, auch ein alle weiteren Formen der Transzendenz

leugnender Immanentismus.

Drei Fragen, die eine weitere Erforschung der Transzendenz

der Erkenntnis nötig machen

161 D. von Hildebrand, Sinn philosophischen Fragens und Erkennens, I, 1.

119

Mit dem Hinweis auf jene Transzendenz, die jeder Erkenntnis eigen ist,

erheben sich insbesondere drei Fragen, die hier gestellt und im

folgenden Teil der Arbeit behandelt werden sollen:

Es wurde gezeigt, daß nur die Erkenntnis im engeren (eigentlichen)

Sinn irrtumslos ist, daß wir aber existentiell bedeutsamste

Wirklichkeiten in ihrem Sein nur erfassen können, wenn wir in einem

gewissen Akt des Glaubens oder der Interpretation über das eigentlich

Erkannte hinausgehen. So können wir weder die Existenz der Dinge

der Außenwelt, noch die Existenz anderer Personen, geschweige denn

ihre innere Einstellung der Welt gegenüber "erkennen", ohne zu

glauben, daß alle diese Wirklichkeiten wirklich objektiv so sind, wie

sie zu sein scheinen bzw. "vorgeben" zu sein, was allein wir bei den

genannten Wirklichkeiten im strengen Sinn des Wortes erkennen

können.

Die erste Frage also lautet: Wie weit und auf welche Wirklichkeiten

erstreckt sich die Erkenntnis im engeren Sinn? Ist es vielleicht so, wie

es fast den Anschein hat, daß wir gerade die wichtigsten Elemente der

Wirklichkeit nicht erkennen, sondern nur in einem irrtumsausgesetzten

"Meinen" erfassen können? Wenn wir aber die reale Existenz der

Außenwelt, die Existenz und das Wesen anderer Personen oder die

eigene Vergangenheit nicht im engeren Sinn des Wortes erkennen

können, was taugt dann unsere Erkenntnis, was erfaßt sie dann

überhaupt?

Gehen wir ferner nicht gerade in der Philosophie beständig Über das

Erkannte hinaus, indem wir allgemeingültige Urteile fällen? Verfallen

wir dabei nicht einer künstlich entworfenen "statischen Welt", während

wir nur Dynamisches und Wandelndes wirklich erkennen? Verlassen

wir nicht gerade in der Philosophie in falschen Verallgemeinerungen

das Erkannte, das sich immer nur auf anschaulich Wahrgenommenes

bezieht, wie daß ich etwa diesen Tisch oder Menschen sehe und

erkenne, daß er zu existieren scheint etc.? Sind also vielleicht gerade

"allgemeingültige Aussagen" immer Irrtümer?

Noch eine zweite Frage erhebt sich: Wenn wir auch mit Sicherheit

erkennen können, daß wir eine rote Rose sehen, ja sogar, wenn wir

erkennen können, daß hier eine rote Rose ist, so ist doch dieses Rot

keine unabhängig von jedem perzipierenden Subjekt bestehende

Qualität. Daß sie sich mir als Erscheinung der Wirklichkeit darbietet,

ist sicherlich "an sich" so, aber die Farbe selbst konstituiert sich nur für

ein wahrnehmendes Subjekt. Ist unsere Erkenntnis auf solche Dinge

120

beschränkt, oder wie und wo können wir erkennen, wie die Dinge an

sich sind, d. h. unabhängig von der subjektiven Verfaßtheit

irgendwelcher Wesen? Wo können wir Wirklichkeiten erkennen, wie

sie objektiv in sich selber sind? Können wir denn überhaupt jemals

etwas erkennen, was weder Schein noch Erscheinung sein kann,

sondern die Wirklichkeit sein muß, wie sie unabhängig von uns als

erkennenden Subjekten ist?

Und noch eine dritte Frage muß man sich stellen, auf die die

Untersuchungen des ersten Teils der Arbeit führen: Wo ist unsere

Wahrnehmung oder Erkenntnis auf etwas gerichtet, was nicht nur

wahrscheinlich so ist, sondern absolut gewiß so? Dies fällt von einem

anderen Gesichtspunkt aus wieder mit der ersten Frage zusammen, wie

weit die Erkenntnis im engeren Sinn gegenüber der mit Glauben und

Interpretation verbundenen reicht. Aber es müssen die Elemente und

Voraussetzungen untersucht werden, die für die absolut gewisse

Erkenntnis nötig sind, sowie das Wesen der Evidenz, der Einsicht und

Gewißheit, vor allem aber die Frage nach der objektiven Gültigkeit und

dem objektiven Bestand der in solcher Gewißheit eingesehenen

Sachverhalte.

121

II. Teil

Neue Stufen der Transzendenz der Erkenntnis:

Unbezweifelbar gewisse Erkenntnis, Erkenntnis der

"Dinge an sich" und ewiger Wahrheiten

122

1. KAPITEL

DIE EINSICHT IN NOTWENDIGE WESENSZUSAMMENHÄNGE

UND DIE UNBEZWEIFELBARE EXISTENZ EINES AN SICH

SEIENDEN SUBJEKTS

Die Leugnung der Erkennbarkeit von Dingen an sich

als Immanentismus

Solange man vom bewußten Akt der Erkenntnis ausgeht, wie er uns

unmittelbar in der Erfahrung gegeben ist, würden Kant und viele

Philosophen mit ihm wohl nicht leugnen, daß die Erkenntnis als

bewußter Akt die rezeptive Transzendenz zu besitzen scheint, wie sie

bisher behandelt wurde. Sie werden zugeben, daß uns in der Erfahrung

Gegenstände gegeben sind, die keineswegs mit den bewußten Akten

identifiziert werden dürfen, in denen sie uns gegeben sind. Im

Unterschied zu den "Psychologisten" im früher behandelten Sinn

werden solche Philosophen den rezeptiven Charakter der

Wahrnehmung und, solange man nur den bewußten ("empirischen")

Erkenntnisakt betrachtet, jeder Erkenntnis nicht nur zugeben, sondern

sogar für etwas Selbstverständliches halten, was gar kein tiefes Staunen

verdient. Dennoch können sie in einem ausweglosen Immanentismus

steckenbleiben.162

Der hier gemeinte Immanentismus besteht im wesentlichen in zwei

Grundthesen. Die erste Grundthese lautet:

Es sind uns zwar vom Vollzugsbewußtsein verschiedene

"Gegenstände" gegeben, aber diese sind niemals das Sein, wie es in sich

selber ist, sondern nur wie es uns erscheint; ferner ist zwar unserem

Erkennen, wie es von uns bewußt erlebt wird, jene Rezeptivität: eigen,

in der sich uns die "Gegenstände" erschließen, aber der bewußte Akt

des Erkennens ist nur ein empirisch-psychologischer Ausschnitt aus

dem Gesamtprozeß des Erkennens. Die zweite Grundthese besteht

darin, daß man jenseits unseres bewußten Erkenntnisaktes eine uns

162 Allerdings nur, indem sie den letzten, metaphysischen Charakter der

bisher gewonnenen Einsichten und die weiteren Erkenntnisse verkennen,

die darin beschlossen liegen und gleichsam nur ans volle Licht

philosophischer Bewußtheit "gehoben" werden müssen.

123

nicht selbst gegebene "schöpferische Tätigkeit" ansetzt,163 die sowohl

das empirische erkennende Subjekt als auch seine "Gegenstände"

schafft, bzw. konstituiert und von deren Existenz der "naive Realist"

gar keine Ahnung hat. Diese jenseits da "rezeptiven", bewußten Aktes

liegende spontane Tätigkeit mache, daß wir niemals die Dinge, wie sie

in sich selber sind, erkennen können, sondern nur scheinbar an sich

seiende Wirklichkeiten, die jedoch im Grunde nichts als Produkte jener

unserem Erkennen heimlich zugrunde liegenden produktiven Tätigkeit

sind.164

163 Daß es sich bei dem nicht-empirischen, transzendentalen Ich um eine

ausgesprochen spekulative Ansetzung, um eine Hypothese handelt, gibt

Kant selbst zu, wie auch Freud oder Jung "das Unbewußte" als eine

Hypothese erklären, die uns keineswegs unmittelbar gegeben ist. Vgl.

Kant, KdrV, B XVI—XIX. Vgl. vor allem unsere Fußnote 226 a, S. 178/79.

Vgl. Freud, Gesammelte Werke, XIII, 65, wo er von der Unsicherheit der

psychoanalytischen Spekulation spricht und von möglichen Antworten auf

die von ihm aufgeworfenen Fragen: "vielleicht gerade solche, durch die

unser ganzer künstlicher Bau von Hypothesen umgeblasen wird". 164 Die Natur dieser quasi-göttlichen Produktivität wird im Verlaufe der

Arbeit näher ausgeführt werden, besonders auch in der

Auseinandersetzung mit dem späten Husserl. Doch kann vielleicht schon

hier angedeutet werden, welche prinzipiellen Unterschiede zwischen einer

"transzendental-philosophischen Produktivität" und der göttlichen

Schöpfung bestehen: 1. Die transzendentale Subjektivität ist im Gegensatz

zum göttlichen Sein weder Substanz, noch Person, noch lassen sich auf sie

irgendwelche Kategorien und ontologischen Bestimmungen anwenden. 2.

Sie ist der Welt und dem Menschen nicht transzendent wie Gott, sondern

immanent als impersonale Geiststruktur oder apersonale "Schicht" seiner

Seele. 3. Die von ihr hervorgebrachten Gegenstände haben nur die Realität

von "Erscheinungen", die für ein erkennendes Subjekt bestehen, während

die geschaffenen Dinge durch Gott sind, aber nicht bloß "für" Gott

bestehen, sondern ein autonomes, in sich selber ruhendes Sein haben. Das

von Gott "Getragensein" bildet keinen Gegensein zum Ansichsein. 4. Die

von allem Sein vorausgesetzten notwendigen und ewigen Wesenheiten, die

etwa bei Augustinus im notwendigen Wesen Gottes selbst gründen, werden

— was wesenswidersprüchlich ist — in der Transzendentalphilosophie

Kants als etwas Geschaffenes, Erzeugtes, als Folge einer synthetisierenden

Tätigkeit hingestellt und sind vor allem bei ihm "nicht mehr" Prinzipien

der Gegenstände an sich, sondern bloß der gedachten und vorgestellten

124

Was die bewußt erlebte Erkenntnissituation betrifft, wird hier also nicht

die Intentionalität, Rezeptivität und scheinbare Transzendenz unserer

Erkenntnis geleugnet—in dem Sinne, daß sich uns in bezug auf das

"empirische Subjekt" gewissermaßen "objektive" Gegenstände

erschließen, die in keiner Weise in Teile unser Vollzugsbewußtseins

aufgelöst werden, wie im "subjektiven Idealismus", gegen den Kant

sich entschieden wendet.165 Weder die Rezeptivität der Erkenntnis, noch

daß die Objekte jenseits aller Bestimmungen der Akte und

Empfindungen des empirischen Subjekts liegen, wird also bei Kant

geleugnet: Und dennoch erhalten sowohl Transzendenz als auch

Rezeptivität der Erkenntnis in dieser Auffassung einen Todesstoß, weil

es nicht das Seiende an sich selbst ist, das sich unserem Erkennen dieser

Auffassung gemäß erschließt, sondern bloß das von einem unbewußten

Teil des Ich spontan "erschaffene", bzw. durch die Funktionen des

Subjekts bestimmte Objekt, das nicht vom erkennenden Geiste

unabhängig an sich besteht und in diesem Sinne unserem Ich nicht

transzendent ist.

Wenn wir von der Problematik der einer Maschinenwelt entlehnten

Begriffe absehen, wie die "bestimmenden Funktionen", die

"Denkformen" usw., können wir das Problem so fassen: Kann unsere

Erkenntnis im engeren Sinn jemals einen Gegenstand so fassen, wie er

an sich ist, oder kann sie immer nur "Seinsansprüche" erfassen, die sie

in einer Art "Glauben" annimmt, und ist das eigentliche objektive Sein

der Dinge uns verborgen? Diese Frage wurde schon im I. Teil (vgl. S.

72 ff) durch den Aufweis beantwortet, daß kein Schein und keine

Erscheinung (von etwas nicht an sich Seiendem) möglich sind ohne

eine Erkenntnis im engeren Sinn, die sich wesensnotwendig auf das

autonome, an sich seiende Sein von etwas richtet. Im Anschluß an die

Untersuchungen des ersten Teils könnte man die Frage also auch so

einschränken: Was kann Gegenstand unserer Erkenntnis im

eigentlichen Sinn sein? Wo überall sind wir fähig, Seiendes so zu

erkennen, wie es in sich selber ist, unabhängig von all unseren Akten,

Gefühlen, von unserer ganzen Natur? An welchen Punkten können wir

"Gegenstände". Diese und andere Merkmale zeigen das Wesentliche, ohne

auf alle Formen des transzendentalen Idealismus gleichermaßen

zuzutreffen. Vgl. S. 132 ff. 165 Vgl. KdrV, B XXXIX—XL; Prolegomena, § 13 (einschl. Anm. II. und

III).

125

die zur Verzweiflung führende Anschauung überwinden, wir könnten

niemals die Grenzen unserer "menschlichen Sicht" des Universums

überschreiten; was die Wirklichkeit in sich, abgesehen von dieser

menschlichen Erfahrungsweise ist, sei uns gänzlich unerkennbar?

Es sind dies die Fragen nach derjenigen Transzendenz unseres

Erkennens, von der nicht nur das Schicksal jeder Erkenntnislehre und

Metaphysik, die "als Wissenschaft wird auftreten können", sondern

auch der Sinn unseres Lebens abhängt und deren Leugnung seit Hume

und Kant ein Grundzug jener Richtung der Neueren Philosophie

geworden ist, die die Menschen am meisten formt.166

Vier Formen des subjektivistischen und idealistischen

Immanentismus

Dieser Immanentismus, der leugnet, daß wir das unserem Geiste

transzendente, metaphysische Sein als solches erreichen können, kann

unter vielen Formen auftreten, deren wichtigste kurz angedeutet

werden sollen:

Die Formen dieses Immanentismus unterscheiden sich darnach, welche

Wirklichkeit sie als die unserem Erkennen zugrunde liegende und —

uns unbewußt—schaffende erklären.

Zunächst behaupten viele materialistische und physiologistische

Philosophen und Psychologen, es seien im Grunde die Materie, bzw.

die physiologischen Prozesse in unserem Gehirn, welche alle

seelischen Akte und damit auch deren Gegenstände "erzeugen".

Demnach sehe ich vielleicht die ungeheuer reiche Wirklichkeit, zu der

ich erkennend in Beziehung trete, als etwas von meinen Akten

Verschiedenes, aber die ganze Wirklichkeit ist nicht als ein gewaltiger

"Schein", etwas rein "Subjektives", das nach mechanischer und

physiologischer Kausalität mir vorgestellt wird, jedoch niemals für

166 Vgl. dazu besonders B. Schwarz, der dies« "geistesgeschichtliche

Phänomen von gewaltigem Ausmaß" den "Kampf der Philosophie gegen

die Wahrheit" nennt, (Wahrheit und Wissenschaft, S. 99). Auch Husserl

weist in seinen Logischen Untersuchungen, bes. Bd. I, S. 116 ff., sehr zu

Recht auf diese Tatsache hin; doch ist er selbst, wie auf S. 233 ff. gezeigt

wird, von den "Ideen" an (1913) einem radilkalen Immanentismus

verfallen.

126

etwas gehalten werden darf, was unabhängig von unserem Geiste—

objektiv—besteht.

Zweitens kann auch behauptet werden, es handle sich um einen

unbewußten Teil des "Ich", der "Person", da "Geistes", der "Seele", das

nach ihm eigenen, unserem bewußten Zugriff entzogenen "Gesetzen"

die Welt des Bewußtseins und ihre "Gegenstände" formt, die also nur

real zu existieren "scheinen", in Wirklichkeit jedoch bloß vom

Unbewußten erfundene "Märchen" seien, von einem Unbewußten, das

nicht nur individuell, sondern wie bei Jung, auch "archetypisch"

aufgefaßt werden mag.

Sehr verwandt mit dieser Form des Immanentismus und der Ursprung

dieser Auffassung ist eine etwas andere, welche nicht einfach ein

psychologisches "Unbewußtes" als schöpferisch-spontanen Ursprung

unserer Erkenntnis ansetzt, sondern ein "transzendentales Ich", eine

"Ichheit", einen "unbewußten Geist" usw., eine Auffassung, die uns bei

Kant und im deutschen Idealismus begegnet. Hier ist es gleichsam ein

unserem Bewußtsein nicht unmittelbar gegeben, sondern ein ihm

vorhergehendes "Vernunftgesetz", "Anschauungsformen" und

"Denkformen", welche aus einem chaotischen Stoff von

"Sinnesempfindungen" oder auch ohne diesen "die Welt" erschaffen.

Bei diesem "transzendentalen Ich" oder wie immer man es auch

genannt hat, handelt es sich nicht um eine substantielle Realität,

sondern um eine "logische"; doch zugleich um ein eminent

"schöpferisches" "Formungsprinzip" hinter dem bewußten (empirisch

genannten) "Ich", das diesem gleichsam alle Gegenstände der inneren

und äußeren "Erfahrung" erschafft. Es war Kants ungeheuerliches

Bemühen, alle Welt davon zu überzeugen, daß alles, was wir erkennen,

kein Sein an sich, das heißt ein Sein jenseits unserer Erfahrung besitze,

sondern daß das Ding an sich uns radikal unbekannt sei und damit nur

als ein—schon bei Fichte wegfallender—negativer Grenzbegriff

gedacht werden kann, während demnach die Welt der Erscheinung

("wie uns die Wirklichkeit erscheine") das einzig Bekannte wäre.

Eine vierte Grundform dieses Immanentismus wäre die von Descartes

widerlegte, aber im Schopenhauerschen Weltwillen und in gewissen

Nietzsche-Stellen wiederkehrende Vorstellung eines uns überlegenen

Geiste, oder "Weltwillens", eines "spiritus malignus", der uns in allem

täuschen möchte und uns vorgaukelt, was nicht ist. Nichts von dem,

was wir erkennen, wäre demnach unabhängig von uns, sondern dies

alles bliebe der von einem bösen Geiste uns vorgestellte "Schein".

127

Diese Position ise deshalb die weitaus tiefste, weil sie die ungeheure

"Erfindungskraft" und "Phantasie", die nötig ist, um eine Welt auch nur

"als Vorstellung" zu erschaffen, nicht einem impersonal-geistigen,

unbewußten oder gar materiellen Prinzip zuschreibt, sondern einem

allmächtigen Wesen, dem die Wahrhaftigkeit und die Urgüte fehlt.167

Immanentismus als Versuch der Auflösung des Unterschiedes

zwischen Idealismus und Realismus

Eine fünfte Form dieses Immanentismus machte ich hier nur andeuten,

weil sie sich eigentlich jeglicher rationalen Darstellung entzieht, da sie

die Aufhebung aller logischen und metaphysischen unwandelbaren

Prinzipien und Wesenheiten einschließt und damit die

irrationalistischste Philosophie darstellt, die man sich vorstellen kann.

Ich meine die Philosophie Hegels.168 Das Denken dieses Giganten läßt

sich durch seine fundamentale Verwirrung nicht fassen. Der werdende

Gott, der sich selbst dialektisch entfaltende Weltgeist denkt hier

gleichsam "in" mir, und es handelt sich sowohl in meinen Akten als

auch in den Objekten meines Erkennens letztlich nur um denselben

Geist, der sich bewegt und entfaltet und wieder aufhebt und der

ausmacht, daß alles, was eine geistige Struktur besitzt, indem es

gedacht wird, gleichsam zu sich selbst zurückkehrt und damit das Sein

selbst ist. "Denken ist Sein" und "die Wahrheit ist das Ganze" (aller

Wirklichkeit, aller Gedanken, aller Gegensätze) — in diesen beiden

Sätzen drückt sich die wahrhaft babylonische Verwirrung aus, in die

Hegels Philosophie führt und in der die ganze klassische Fragestellung

Descartes' aufgehoben wird. Der Immanentismus liegt hier darin, daß

es letztlich nur einen Geist gibt und daß mein Denken das Denken

dieses Geistes ist, weshalb seine Wahrheit nicht mehr in irgendeiner

Übereinstimmung mit einem objektiven Sein liegen kann (bzw. in der

Tatsache, daß ich das Bestehen von Sachverhalten behaupte, die "an

167 Wieder anders ist die im Averroismus vertretene Lehre von der einen

Weltvernunft, in der sich unser Denken abspielt. 168 Diesen absoluten Irrationalismus in Hegels Philosophie hat R. Kroner in

seinem Buch Von Kant zu Hegel, bes. Bd. II, S. 267—273, klar

hervorgehoben, wenn auch in anderer Betonung als es hier geschieht. So

sagt Kroner (a. a. O., S. 271): "Hegel ist ohne Zweifel der größte

Irrationalist den die Geschichte der Philosophie kennt."

128

sich" bestehen),169 sondern der immanente geistige Vollzug da

Weltgeistes selbst ist, an dem ich in "Irrtümern" und "Erkenntnissen"

teilhabe, in dem ich gleichsam "schwimme". Hegels Philosophie ist

damit nicht deshalb "wahrer"—seiner Meinung nach — als irgendeine

andere, weil sie deren Irrtümer erkennt oder weil sie mehr vom

objektiven Sein erkennt, sondern weil sich in ihr der gesamte "Prozeß"

in einem viel reicheren Maße "bewußt" wird.

Also stellt die Position Hegels in gewissem Sinn die "Krönung" all

dieser Formen des Immanentismus dar. Nachdem sie mit Kant die

Erreichung des jenseits unseres Erkenntnisaktes liegenden, objektiven

und transzendenten Seins geleugnet hat, leidet sie nicht an dieser

verzweiflungsvollen Lage, sondern erklärt den immanenten Vollzug

des Denkens selbst und sein geschichtliches Wachstum für identisch

mit dem Sein, mit Gott und damit für die "Wahrheit selbst".

Auch Martin Heidegger hat bekanntlich durch seinen Begriff da "In-

der-Welt-Seins" den Gegensatz zwischen Realismus und Idealismus

aus der Welt schaffen und für ein Scheinproblem erklären wollen.170

Indem er die entscheidende Bedeutung dieser Urfrage der Philosophie

und des Menschen, von der letztlich sogar alles wahre Glück abhängt,

abgetan hat, ist es ihm gelungen, die "philosophische Welt" weitgehend

davon zu überzeugen, daß Kant mit seinem Angriff auf die klassische

169 B. Bolzano bemerkt schon 1837 in seiner Wissenschaftslehre, I, 1, § 44.

mit Recht: "Einen ganz eigenen Weg zur Widerlegung des Skeptizismus"

schlage die Identitätsphilosophie (Schelling u. a.) ein, die zu bemerken

glaube, "daß keine vollkommene Wahrheit stattfinden könnte, wenn nicht

das Subjektive und das Objektive, die Vorstellung und ihr Gegenstand in

einer gewissen Rücksicht ein und dasselbe wären." Bolzano setzt hinzu

"daß diese Verwirrung durch die bisher gewöhnliche Erklärung der

Wahrheit begünstigt worden sei... Denn wenn man die Wahrheit für's erste

schon nicht als ein Prädikat bloßer Vorstellungen, sondern nur ganzer

Sätze, ferner nicht als eine nur den gedachten, sondern als eine auch

objektiven Sätzen zukommende Beschaffenheit betrachtet, endlich nicht

durch das vieldeutige Wort Übereinstimmung, sondern nur dadurch erklärt

hätte, daß sie diejenige Beschaffenheit eines Satzes sei, zufolge der er

gewissen Gegenständen eine Beschaffenheit beilegt, die ihnen wirklich

zukommt: gewiß, dann würde es unsern Identitätsphilosophen, wenn nicht

unmöglich, doch bei weitem schwerer geworden sein, ihr Identifizieren

hier anzubringen." (A. a. O., S. 60.) 170 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, S 43. S. 202—208.

129

Metaphysik und die Transzendenz (ihr Herz) keine "revolutionierende

Tat", keine "kopernikanische Wende" begangen hat, welche einen

wahren Menschen, wie Heinrich von Kleist einer war, zur

Verzweiflung bringen mußte.

Welche Wirklichkeiten sind überhaupt nicht, wenn sie nicht

vom

menschlichen Bewußtsein unabhängig an sich sind?

Es ist zunächst nötig, uns ganz klarzumachen, in welchen Fällen wir

einer grauenvollen Täuschung zum Opfer fielen, wenn das Seiende, das

wir erkennen, nicht unabhängig von unserem eigenen Sein so wäre, wie

zu sein es elementar "beansprucht".

Es wurde schon gezeigt, daß selbst in der Wahrnehmung eines

geträumten bzw. halluzinierten Sees oder Berges die

Subjekt-Objekt-Situation gegeben ist, daß nämlich der geträumte "See"

jenseits unseres bewußten Aktes liegt und nicht ein Teil unseres

immanent vollzogenen bewußten Seins ist—wir finden auch hier den

"Geschenkcharakter", der in jeder Erkenntnis liegt, indem sich uns der

geträumte Berg oder Mensch in seiner Eigenart erschließt, sich

anschaulich vor unserem geistigen Blick ausbreitet. Es wurde auch

schon darauf hingewiesen, daß—abgesehen von jenem (im Traume

irrenden) "Glaubenselement" in jeder Sinneswahrnehmung—das, was

wir im engeren Sinn des Wortes bei einer Täuschung erkennen,

wirklich ist: Es scheint uns wirklich, daß etwas der und der Art

tatsächlich existiert, und dieses Haus oder dieser Mensch gibt wirklich

"vor", zu existieren.

Das "jenseits" unseres Geistes liegende "Sein" aber, das wir im Sehen

eines halluzinierten Sees erfassen, ist das allerlendste, in einem

negativen Sinn "allersubjektivste" Sein.171 Es ist das bloße "Objektsein"

für einen Geist, das bloß scheinbare Sein, das jene Unabhängigkeit vom

Sein des Subjekts, die es auf Grund seines Wesens zu besitzen

"vorgibt", nicht besitzt. Dieses "Sein" ist so dünn, daß man in einem

bestimmten Sinn darauf wirklich die Formel Berkeleys anwenden

171 "Subjektiv" bedeutet hier einen Mangel, wie aus der folgenden Stelle

klarwird. Vgl. dazu die zentral wichtige Klärung sechs verschiedener

Bedeutungen des Wortes "subjektiv" in D. von Hildebrands What is

philosophy?, S. 153—158.

130

kann: Esse est percipi. Dieser "See" existiert auch nicht etwa "in mir",

sondern er existiert überhaupt nicht real. Sein ganzes "Sein" beschränkt

sich darauf, daß er einem Subjekt zu sein scheint. Dieses "Sein"

versinkt ins Nichts, sobald ich vom perzipierenden Subjekt absehe.

Zugleich aber ist dieser See nicht etwa in dem positiven Sinn

subjektiv,172 daß er Teil eines realen Subjektes wäre, wie der voll reale

Akt des Getäuschtwerdens, sondern ungleich diesem "prätendiert" er,

unabhängig vom Subjekt zu existieren, das ihn wahrnimmt.

Unsere Frage lautet also nun, welche Wirklichkeiten überhaupt nicht

sind, wenn sie keine von einem erkennenden Subjekt unabhängige

Existenz besitzen.

Um diese Frage noch besser zu verstehen, sollte man jedoch nicht nur

an eine Halluzination oder Illusion eines Individuums denken, also an

eine Relativität für ein Individuum, sondern auch an die Möglichkeit,

daß alle Menschen so organisiert wären, daß ihnen dieselben Dinge zu

sein schienen, die aber an sich nicht so wären, wie sie zu sein

prätendieren, die wir also niemals in ihrem objektiven Sosein an sich

erkennen könnten.

Selbst wenn es sich dabei nicht bloß um eine psychische Bedingung

handelte, wie vielleicht bei Berkeley oder Hume, sondern um eine

allgemein-menschliche Verstandeskonstruktion, wie bei Kant

angenommen wird, welche uns verhindert, jemals das objektive, von

jedem erkennenden Subjekt unabhängige Sein so zu erreichen, wie es

in sich selber ist, wird diejenige Transzendenz der Erkenntnis

geleugnet, die in diesem Kapitel behandelt werden soll.

An dieser Stelle ist die Frage jedoch noch nicht am Platze: Wo ist es

mit absolut unbezweifelbarer Gewißheit möglich, die objektive

Wirklichkeit erkennend zu berühren?, sondern: Welche Wirklichkeiten

beanspruchen überhaupt, unabhängig von unserer subjektiven Anlage

und unseren Akten so zu existieren, wie wir sie erkennen? Zählen wir

zunächst nur die wichtigsten auf: Raum, Zeit, was in ihnen sich

vollzieht, also räumliche Bewegung, materielles Sein als substantielles

Sein, zeitliche Entfaltung, Werden, Wachstum, Pflanzen und Tiere,

andere Personen, wir selbst als objektive, metaphysische Personen

(nicht nur als uns selbst "erscheinend"), alle Wesenheiten und

172 Subjektiv in diesem Sinn heißt personal und schließt nicht den

geringsten Gegensatz zur voll objektiven, realen Existenz ein, die die

Person ja in besonderer Weise besitzt. Vgl. a. a. O., S. 124, 146, 153—155.

131

Wesensgesetzlichkeiten bzw. -sachverhalte; an letzter und höchster

Stelle Gott. Und selbst für Ihn leugnet schon Kant173 und vor allem ein

Großteil moderner "Theologen", daß er jenseits des Bewußtseins aller

Menschen, an sich, vor und nach aller Geschichte IST — d. h. man

leugnet die Transzendenz Gottes.174 Alle diese Wirklichkeiten, die hier

aufgezählt wurden, beanspruchen einsichtigermaßen auf Grund ihres

Wesens, vollkommen objektiv in sich selber zu existieren, als Dinge an

sich, und weder einem einzelnen Individuum, noch auch der ganzen

Menschheit oder Gott selbst bloß zu "erscheinen".

All diese Wirklichkeiten, soweit wir sie erkennen und soweit wir sie

nicht erkennen, müssen nicht nur "absolut unbekannt und als

Grenzbegriff" "an sich" existieren, sondern ebenso, wir sie erkannt

werden und als solche unabhängig von uns zu sein vorgeben—sonst

sind sie überhaupt nicht.175 Dies kann erst am Schluß des Kapitels voll

173 In KdrV, am klarsten B 846—847, B 643—647. Vgl. vor allem

Metaphysik der Sitten, II, I, I, II. Hauptst., 2. Abschn. (Das, was Pflicht des

Menschen gegen sich selbst ist, für Pflicht gegen andere zu halten.) § 18

(A 109), a. a. O., S. 579 f.: "In Ansehung dessen, was über unsere

Erfahrungsgrenze hinaus liegt, aber doch seiner Möglichkeit nach in

unseren Ideen angetroffen wird, z. B. der Idee von Gott, haben wir

ebensowohl auch eine Pflicht, welche Religionspflicht genannt wird, die

nämlich 'der Erkenntnis aller unserer Pflichten als (instar) göttlicher

Gebote'. Aber dieses ist nicht das Bewußtsein einer Pflicht gegen Gott.

Denn, da diese Idee ganz aus unserer eigenen Vernunft hervorgeht, und

von uns, sei es in theoretischer Absicht, um sich die Zwecksmäßigkeit im

Weltganzen zu erklären, oder auch, um zur Triebfeder in unserem

Verhalten zu dienen, von uns selbst gemacht wird, so haben wir hierbei

nicht ein gegebenes Wesen vor uns, gegen welches uns Verpflichtung

obläge: denn da müßte dessen Wirklichkeit allererst durch Erfahrung

bewiesen (geoffenbart) sein; sondern es ist die Pflicht des Menschen gegen

sich selbst, diese unumgänglich der Vernunft sich darbietende Idee auf das

moralische Gesetz in uns, wo es von der größten Fruchtbarkeit ist,

anzuwenden." (Vgl. auch S. 168, Anm. 213 dieser Arbeit.) 174 Dies soll ausführlich in einer Arbeit über philosophische

Gotteserkenntnis behandelt werden. 175 Ihre Existenz "an sich" zu leugnen, bedeutet, sie zu einem bloßen

"Schein" zu erklären, was auch nicht besser wird, wenn man diesen, wie

Kant, "Erscheinung" nennt. Kant selbst sieht dies an manchen Stellen. Vgl.

KdrV, B 297—315, B 350—355.

132

begriffen werden, hier muß man nur darauf hinweisen, um überhaupt

die Transzendenz der Erkenntnis zu verstehen, die jetzt behandelt

werden soll und die besagt, wir erkennten diese Wirklichkeiten, wie sie

nicht nur jenseits unseres bewußten Erkenntnisaktes zu sein scheinen,

sondern wie sie jenseits unseres Bewußtseins und unabhängig von ihm

in sich sind.

Einen besonderen Fall, der weder als bloß subjektiver Schein existiert

und auch nicht als allgemein menschlicher Schein, bildet der humane

Aspekt der Außenwelt, der weder unabhängig von jedem

perzipierenden Subjekt besteht, noch ein bloß "subjektiver" Eindruck

ist, sondern eine objektive Erscheinung, ein objektiver, das heißt

gültiger und eigentlich gemeinter "Aspekt der Außenwelt".176

So "beansprucht" etwa eine Farbe nicht, unabhängig von jedem

wahrnehmenden Subjekt als Eigenschaft der Materie zu bestehen;

ebenso ist die Perspektive oder auch das Relationsverhältnis der

Außenwelt zu unserem eigenen Leib, das alle unsere Wahrnehmungen

formt und das bei einem Riesen oder winzigen Zwerg ganz anders

wäre, als es bei uns ist, für diesen "humanen Aspekt der Außenwelt"

entscheidend. Dieser gibt sich als ein tief sinnvoller, objektiv gemeinter

"Aspekt" der Außenwelt.

Dagegen sind der Raum oder die Zeit177 selbst oder die Ausdehnung der

materiellen Substanzen oder auch die Energiekräfte, die Tiere und

Pflanzen usw. ganz offenbar eine reine Illusion, wenn sie nicht

unabhängig von jedem wahrnehmenden Subjekt existieren. Am

deutlichsten ist dies bei einer Person. Wenn diese nur von einer anderen

realen Person vorgestellt oder halluziniert würde, wäre sie nicht: All

diese Wirklichkeiten—so können wir mit letzter Evidenz einsehen —

176 Dies hat meiner Überzeugung nach wiederum am klarsten D. von

Hildebrand in seinem erkenntnistheoretischen Hauptwerk What is

philosophy? (Kap. V.) herausgearbeitet. 177 Vgl. dazu vor allem B. Bolzano, Paradoxien des Unendlichen, S. 78, S.

114. Vgl. auch H. C.-Martius, Der Raum und Die Zeit. Zur Auflösung der

Zenonischen "Aporien" bezüglich des Raumes und der Zeit vgl. vor allem

A. Reinach, Vom Wesen der Bewegung, in: Gesammelte Schriften, S.

406—461.

133

"geben vor", unabhängig von all den Akten, in denen ein Subjekt sie

erkennt, so zu bestehen, wie sie erkannt werden.178

Wenn wir niemals entscheiden könnten, ob vielleicht keines dieser

Dinge in sich so ist, wie es uns zu sein scheint, und in diesem vollen

Sinn jenseits unseres Geistes ist, wenn alle diese Dinge vielleicht nur

uns (oder allen Menschen) "an sich zu sein" schienen und unabhängig

von unseren Erkenntnisakten absolut nichts oder etwas total anderes,

Chaotisches wären, wenn wir damit rechnen müßten, daß die ganze

Welt nur als "unsere Vorstellung" im Sinne Schopenhauers bestünde,

dann wären wir in einer grauenvollen Weise in das Gefängnis unserer

Immanenz eingesperrt und könnten niemals wissen, wie das Seiende,

das so elementar an sich und metaphysisch zu sein scheint, wirklich ist.

Das Schlimmste wäre, daß die Welt des Wertvollen, dessen, was sich

in sich, auf Grund seines Wesens aus dem Indifferenten herauszuheben

scheint, dann vielleicht "in Wirklichkeit" an sich neutral und absolut

indifferent wäre. Wenn es uns fraglich bliebe, ob nicht die Welt des in

sich Sinnvollen, des in sich Kostbaren und Wertvollen, letzten Endes

doch keine Proprietät des Seins an sich wäre,179 sondern nur eine

menschliche "Projektion" in die Dinge, so wäre Verzweiflung die

einzig gebührende Antwort, eine Antwort, die Heinrich von Kleist

gegeben hat.180

Was heißt "an sich" und "unabhängig von jedem

erkennenden Subjekt"?

Zum Abschluß muß noch die Frage genauer gestellt werden, was denn

eigentlich mit "an sich sein" und mit "unabhängig von jedem

erkennenden Subjekt" gemeint ist. Darauf muß erstens geantwortet

werden, daß damit der Gegensatz zu jedem "für ein Subjekt Bestehen",

bzw. der Gegensatz zu all dem gemeint ist, was nur einem Subjekte

scheint bzw. erscheint. Von "Schein" sprechen wir dort, wo etwas

wesenhaft eine autonome Existenz "beansprucht" (wie etwa ein Haus

178 Ihnen gegenüber ist ein "Erzrealismus" (Goethe) die einzig richtige

Philosophie. 179 Daß sie dies sind, legt D. von Hildebrand in Christliche Ethik, bes. in

Kap. 7 und Kap. 9, dar. 180 Vgl. dazu die Einleitung zu diesem Buch. Vgl. auch D. von Hildebrand,

Christliche Ethik, Kap. 17, 18.

134

oder eine andere Person) und diese nicht besitzt, sondern wo nur einem

Subjekt scheint, daß etwas solcherart existiert. Von "Erscheinung"

sprechen wir in dem hier gemeinten Zusammenhang überall dort, wo

es zur "Seinsweise" von etwas gehört, ein nur von einer Person

wahrnehmbarer "Aspekt" einer Sache zu sein. Solcherart sind Farben

oder Töne, die perspektivische Sicht der Außenwelt, unser "subjektiv"

Zeiterlebnis (etwa was wir als "lange" oder "kurz" empfinden), unser

Erlebnis von Entfernungen als "groß" oder "klein", was von unserer

Körpergröße etc. abhängt. Dies und vieles andere "beansprucht" in

keiner Weise, unabhängig von jedem Subjekt als autonome Realität der

Dinge zu existieren. Es ist deshalb kein "Schein", sondern eine

"Erscheinung", die in dem Maß objektiv, d. h. gültig ist, als sie nicht

bloß zufällig und auf ein einzelnes Subjekt relativ ist (wie etwa, daß

zwei Personen derselbe Weg ganz verschieden lang vorkommt),

sondern in sich sinnvoll und daher zum humanen Aspekt der

Wirklichkeit gehört (wie etwa Farben und Töne etc.). Für diese

Wirklichkeiten ist es also vollkommen "legitim", daß ihre

Existenzweise eben darin "besteht", daß sie sich nur für ein Subjekt

konstituieren, ja sie können gar nicht anders existieren denn als

"Erscheinung". Um diese Art der Existenz zu verstehen, muß man das

Wesen des bewußten, personalen Seins betrachten, das von etwas

Bewußtsein haben kann und so wird man sehen, daß darin die

Möglichkeit gründet, daß es gewisse Aspekte oder auch Realitäten

(Töne etwa, die nicht eigentlich Aspekte sind) geben kann, die

wesenhaft nur als Erscheinung für ein Subjekt existieren können, deren

erfüllte Existenzweise sich erst in ihrem Wahrgenommenwerden

konstituiert.

Während dies aber bei "Erscheinungen" die in ihrem Wesen gründende

reale Existenzweise ist, Gegenstand eines Bewußtseins von Subjekten

zu sein, können zuweilen auch solche "Dinge" nur als "Objekte für ein

Bewußtsein von" existieren, die damit zu einem bloßen nichtigen

Schein herabsinken, weil zu ihrer Realwerdung wesensnotwendig

gehört, daß sie nicht bloß für ein Subjekt existieren, nicht bloß von ihm

wahrgenommen werden. Am allermeisten gehört dies zum Wesen jedes

Subjektes, jeder Person, voll real zu existieren und niemals bloß als

"Objekt" eines "Bewußtseins von" einer anderen Person zu "sein". Eine

von mir bloß vorgestellte oder ausgedachte Person existiert überhaupt

nicht als Person. Es kann zwar jedes Seiende bloß als "Objekt" eines

"Bewußtseins von" "existieren", aber nur für die "Erscheinungen"

135

bedeutet dies die ihnen eigene Existenzweise. (Wenn ich etwa im

Traum ganz bewußt und vernehmlich einen Satz einer

Beethovensymphonie hören könnte, dann wären zwar keine von außen

kommenden Schallwellen da, die "Einbettung" der Symphonie in die

reale Welt würde fehlen, aber ich hätte dennoch die "wirkliche"

Symphonie gehört, die sich in den Tönen konstituiert, die ich wirklich

wahrgenommen habe. Für die Töne gilt "esse est percipi" in dem Sinne,

daß ihre volle Existenzweise als Töne eben darin besteht, Objekte des

Hörens, des "Bewußtseins von" zu sein.) Im Augenblick hingegen, in

dem etwa eine Person nur von einer andern im Traum wahrgenommen

wird, sinkt sie zu einem "bloßen Schein" herab. Zu ihrem Wesen gehört

es nämlich, an sich, d. h. nicht bloß als Gegenstand eines Bewußtseins

von einer anderen Person zu existieren.181

181 Wenn gesagt wurde, daß eine im Traum deutlich gehörte Beethoven-

Symphonie kein bloßer Schein ist wie eine im Traum wahrgenommene

Person, die nicht wirklich existiert, wenn ferner gesagt wurde, daß sich das

"objektive Sein" der Symphonie in ihrem Wahrgenommenwerden

konstituiert und nicht unabhängig von den es wahrnehmenden Subjekten

"an sich" ist, so sollen damit zwei wesentliche Bezüge zur Realität nicht

geleugnet werden, die eine im Konzertsaal von einer im Traum

vernommenen Symphonie unterscheiden und die uns erlauben, in

gewissem Sinn die erstere als "wirkliche" der geträumten Symphonie

entgegenzustellen. Wir haben diese Elemente schon erwähnt. — Erstens ist

eine Symphonie durch die Tatsache, daß sie von wirklichen Musikern real

aufgeführt wird, daß viele an sich bestehende Umstände vorliegen, in die

das Klangbild einer Symphonie sich organisch einfügt, in das Gesamt der

Realität einbezogen, was bei der bloß geträumten Symphonie fehlt.

Zweitens: Während zwar Töne nicht wie Farben als Eigenschaften realer,

an sich bestehender Körper auftreten, so sind sie doch darauf bezogen,

nicht nur einer individuellen Person zu erscheinen, sondern prinzipiell allen

Menschen. Während die im Traum gehörte Symphonie nur einer einzelnen

Person erscheint bzw. von ihr wahrgenommen werden kann, besteht eine

ganz neue Realitätsdimension einer Symphonie darin, daß alle in einem

Raum vereinigten Menschen sie hören können. Diese beiden Elemente

treten deutlich hervor, wenn wir etwa an Rufe eines Menschen denken, die

dieses Eingebettetsein in die Realität verlieren, wenn sie nicht von einem

rufenden Menschen ausgehen und wenn nur ich, nicht andere Menschen

am selben Ort sie hören können.

136

Damit schließe dieser Begriff des "an sich" auch die Unabhängigkeit

von jedem kontingenten Subjekt in dem Sinne ein, daß diese Dinge

gänzlich unabhängig davon existieren, ob andere Subjekte überhaupt

sind oder nicht sind oder ob überhaupt irgendein kontingentes Subjekt

ist. Denn eine Abhängigkeit von einem geschaffenen Subjekt würde

wohl bedeuten, daß etwas nur "für" dieses Subjekt als Objekt seines

"Bewußtseins von" existierte. Von diesem muß es aber unabhängig

sein, um an sich zu sein, was für viele Wirklichkeiten die ihrem Wesen

nach einzige Weise ihrer Realisierung ist.

Nicht aber müßte ein "Ding an sich" von anderen Tätigkeiten eines

Subjektes unabhängig sein, die nichts mit einem bloßen "Bewußtsein

Wenn uns auch dieses Eingebettetsein in die Realität erlaubt, von einer

"tönenden" und "färbigen" realen Außenwelt zu sprechen, hebt dies

dennoch den Wissensunterschied nicht auf, daß sich die Realität von

Farben und Tönen im Wahrgenommenwerden durch Personen konstituiert,

während es andere Seiende gibt, die "an sich" und keineswegs nur im

"Objektsein für Subjekte" existieren.

Daß in gewissem Sinn auch bloß im Traum wahrgenommene Töne

"wirkliche" und nicht "scheinbare" Töne sind, leuchtet durch zwei

Überlegungen noch klarer in dem Sinn des damit Gemeinten auf. Wenn wir

uns erstens auf das Vernehmen einer reinen, schönen Melodie beschränken

die nicht von anderen Menschen herzukommen scheint, sondern in der

gleichsam nur uns selbst jene Musik vernehmlich würde, die wir in einem

Augenblick großer Freude anstimmen machten, dann wird klar, daß wir

hier wirkliche Töne und nicht bloß "scheinbare" Töne hörten, auch wenn

diese nur im Wahrgenommenwerden durch uns selbst sich konstituieren

würden. Das schließt nicht aus, daß noch ein neuer Bezug zur Realität

hinzutreten würde, wenn diese Töne auch für andere Personen hörbar

würden.

Zweitens wird klar, daß auch im Falle, daß eine Musik nur im Traum von

Instrumenten her und für alle Menschen vernehmlich aus einer bestimmten

Richtung eines Raumes zu kommen scheint und dabei "vorgibt", von

anderen Personen hervorgerufen zu werden, der hier vorliegende "Schein"

nicht die Töne qua Töne, sondern nur ihre wesentlichen Bezüge zur

"Realität an sich" betrifft. Vor allem aber konstituiert sich das objektive,

reale "Sein" von Tönen und Farben nur im Wahrgenommenwerden durch

Personen und besteht niemals "an sich" wie die Seienden, in die Farben und

Töne gleichsam "eingebettet" sind und die unabhängig von ihrem

Wahrgenommen werden durch Personen sind.

137

von" zu tun haben. Wenn ein Künstler eine Kathedrale schafft, so

besteht diese zwar nur durch ihn, aber nicht nur "für ihn", sondern

unabhängig von ihm auch nach seinem Tode und der Steinbau existiert

unabhängig von allen bewußten Akten, in denen jemand ihn erkennt.

Deshalb bedeutet auch die zu unserem Begriff des "an sich Seins"

gehörende Unabhängigkeit in keiner Weise, daß ein Seiendes nicht von

Gott geschaffen und erhalten sein dürfte.181a Denn in dem Sinne existiert

ja nichts unabhängig außer Gott allein. Wohl aber bedeutet es, daß

etwas nicht als bloßer "Gedanke" Gottes existiert, sondern die ihm

eigene autonome Existenz besitzt, die man erfassen kann, ganz ohne an

die Tatsache zu denken, daß Gott dieses Seiende schafft und erkennt

und die jedem Seienden in verschiedener Weise wesenhaft als jeweils

"seine Form der realen Existenz" eigen ist.

Bei den notwendigen Wesenheiten gehört zu ihrer Unabhängigkeit

sogar, daß sie von veränderbaren Willensentschlüssen Gottes

unabhängig sind, wie in den entsprechenden Abschnitten ausgeführt

werden wird. Sie müssen also auch unabhängig sein im Sinne von

ungeschaffen. Allerdings mag es auch für sie eine nur spekulativ zu

ertastende "Abhängigkeit" geben, insoferne sie nicht außerhalb und

getrennt von Gott existieren, sondern wohl in seinem unveränderlichen

Wesen irgendwie grundgelegt sind und es abbilden, wie dies etwa die

mittelalterliche Philosophie seit Augustinus und besonders

Bonaventura in kühnen Spekulationen ausgeführt hat.182 Die in unserem

Zusammenhang primär mit "an-sich-seiend" gemeinten Dinge sind jene

Wirklichkeiten, die ohne eine an sich seiende Realität oder

181a Die Herausarbeitung der Kontingenz der Welt und der Existenz Gottes

erforderte eine eigene Arbeit, die hier nicht unser Thema ist, jedoch

durchaus in den Aufgabenbereich der Philosophie fällt und den Glauben

nicht voraussetzt. — Hier beschäftigt uns überdies die Natur der

Abhängigkeit der Welt von Gott nur unter dem Gesichtspunkt ihrer

Verschiedenheit von jener "Abhängigkeit", die einen Gegensatz zur An-

sich-Existenz der Welt bilden würde. Bei dieser Abgrenzung setzen wir

nicht einmal die Gottesbeweise, geschweige denn den Glauben an die

Offenbarung voraus oder besser, die Wesensunterschiede zwischen diesen

beiden Formen der "Abhängigkeit" sind schon vor der Anerkennung der

realen Existenz Gottes verständlich. 182 Vgl. dazu Etienne Gilson, Die Philosophie des hl. Bonaventura, Kap. 4,

7.

138

Substantialität, welche niemals durch das bloße "Gedachtwerden" (sei

es notwendiger oder zufälliger Weise) ersetzt werden kann, überhaupt

nicht real werden können. Die in diesem Teil betonte Unabhängigkeit

und in sich ruhende Existenz bedeutet also den totalen Gegensatz zu

jedem bloßen Gedacht- oder Vorgestelltsein von einem Bewußtsein.

Alle genannten Wirklichkeiten wären also keine "Erscheinung",

sondern ein bloßer "Schein", wenn ihr Sein in einem "Gedachtsein"

oder "Objektsein" für einen oder alle Geister, Gott inbegriffen,

aufginge. Und deshalb ist auch die Reduzierung von Seinsgesetzen

(unabhängigen, an sich seienden in unserem Sinn) auf Denkgesetze das

Ende jeder Metaphysik, wobei es gar keinen Unterschied macht, ob

diese "ewigen Gesetze der Wirklichkeitskonstitution"183 nur in einem

individuellen Bewußtsein, im menschlichen Geiste als solchem oder in

allen Geistern, Gott eingeschlossen, gründen würden.

Um den hier herauszuarbeitenden Begriff des "An-sich-Seins" noch

klarer zu fassen, muß man ihn von einem weiteren Sinn des "An-

sich-Seins" abheben. Denn natürlich gibt es überhaupt kein Sein, kein

"Etwas" noch auch irgendeine Relation oder einen "Traumgegenstand",

die nicht zugleich an sich sind und an sich als eben dieses "Etwas"

bestehen. Der Begriff eines Seins für jemanden ist in diesem Sinne

ebenso widersinnig wie der einer Wahrheit für jemanden. Wenn ich

etwa einen schwarzgelockten Traum-Herrn sehe, ist dies "an sich" so,

und es ist nicht nur für mich, sondern an sich falsch, daß der von mir

gesehene "Traum-Herr" blondgelockt sei.184

Auch der "bloße Schein" einer bloß als Objekt eines "Bewußtseins von"

bestehenden "geträumten Person" besitzt diese schwächste Seinsweise

(nämlich "Objekt eines Bewußtseins" und nichts weiter zu sein) "an

sich". Es ist wirklich und in diesem Sinne "an sich'' so, daß dieser

Traum-Mensch Objekt meines "Bewußtseins von" ist.185

183 Von solchen "Gesetzen" spricht etwa O. Blaha in seinem Buch Die

Ontologie Kants im Zusammenhang mit seiner besonderen,

"ontologischen" Kant-Interpretation. 184 Vgl. dazu auch Andreas Konrad, Untersuchungen zur Kritik des

phänomenalistischen Agnostizismus und des subjektiven Idealismus, Bd. I,

S 7, S. 23—25, wo dies mit außerordentlicher Klarheit aufgewiesen wird. 185 Seine wirkliche Existenz als Person, die ich im Traum für real halte, ist

auch nicht im weitesten Sinn des Begriffs "an sich". Sie ist vielmehr

139

Aber in dem jetzt zu behandelnden und von Kant primär gemeinten

Sinn bedeutet "An-sich-Sein" gerade den Gegensatz zu allem, dessen

"Sein" sich darin erschöpft, "Objekt" des Denkens und Wahrnehmens

von Subjekten zu sein. Jene "Seienden" im weitesten Sinn des Wortes

also, deren "Sein" nur darin besteht, einem Subjekt zu scheinen oder zu

erscheinen und die "außer seiner Vorstellung keine eigene Existenz

haben", dürfen in dem spezifischen Sinn des Wortes nicht "an sich

seiend" genannt werden.

Es handelt sich also in den folgenden Untersuchungen bei der Frage

nach dem "an sich Seienden" nicht um die Frage nach dem, was

überhaupt ist und damit im weitesten Sinn des Wortes "an sich" ist,

sondern es geht vielmehr um die entscheidende Frage nach dem, was

weder Erscheinung für Subjekte noch ein diesen bloß scheinendes

Etwas, sondern was "in sich ist" in dem Sinne, daß sein Sein nicht nur

in dem Objektsein für Subjekte Bestand hat.

Der Kantische Idealismus und Subjektivismus gründet, wie besonders

deutlich aus einer Stelle in den Prolegomena hervorgeht, in der

Verwechslung zwischen den Dingen, in deren Wesen es liegt, bloß als

Erscheinung für Subjekte zu existieren, und denen, in deren Wesen es

umgekehrt liegt, an sich zu existieren, unabhängig davon, ob sie von

einem Subjekt erkannt werden oder nicht. Indem er auch alle diese

Dinge unter die "Erscheinungen" einordnet, vollzieht Kant, wie ihm

scheint, einen geringen, in Wirklichkeit einen ungeheuren Schritt, der

— wenn er auf Wahrheit beruhte — uns zu jener Verzweiflung führen

müßte, die H. von Kleist angesichts der Kantischen Philosophie

erlebte.186

"Daß man unbeschadet der wirklichen Existenz äußerer Dinge von

einer Menge ihrer Prädikate sagen könne: sie gehörten nicht zu diesen

Dingen in sich selbst, sondern nur zu ihren Erscheinungen und hätten

außer unserer Vorstellung keine eigene Existenz, ist etwas, was schon

lange vor Lockes Zeiten, am meisten aber nach diesen allgemein

angenommen und zugestanden ist. Dahin gehören die wärme, die

Farbe, der Geschmack etc. Daß ich aber noch über diese aus wichtigen

Ursachen die übrigen Qualitäten der Körper, die man primarias nennt:

überhaupt nicht. Also kann eine Person auch etwas für real seiend halten,

was in überhaupt keinem Sinne ("an sich") ist. 186 Vgl. die Einleitung dieser Arbeit.

140

die Ausdehnung, den Ort und überhaupt den Raum mit allem, was ihm

anhängig ist (Undurchdringlichkeit, Materialität, Gestalt etc.), auch mit

zu den bloßen Erscheinungen zähle, dawider kann man nicht den

mindesten Grund der Unzulässigkeit anführen; und so wenig wie der,

so die Farben nicht als Eigenschaften, die dem Objekt an sich selbst,

sondern nur dem Sinn des Sehens als Modifikation anhängen, will

gelten lassen, darum ein Idealist heißen kann: so wenig kann mein

Lehrbegriff idealistisch heißen bloß deshalb, weil ich finde, daß noch

mehr, ja alle Eigenschafen, die die Anschauung eines Körpers

ausmachen, bloß zu seiner Erscheinung gehören: denn die Existenz des

Dinges, was erscheint, wird dadurch nicht, wie beim wirklichen

Idealismus aufgehoben, sondern nur gezeigt, daß wir es, wie es an sich

selbst sei, durch Sinne gar nicht erkennen können... Hieraus läßt sich

nun ein leicht vorherzusehender, aber nichtiger Einwurf gar leicht

abweisen: 'daß nämlich durch die Idealität des Raums und der Zeit die

ganze Sinnenwelt in lauter Schein verwandelt würde'."187

In diesem und dem daran anschließenden Text beweist Kant besonders

deutlich, daß er nicht fragt, im Wesen welcher Dinge es liege, eben

nicht bloß als Erscheinungen, die "außer unserer Vorstellung keine

eigene Existenz haben", sondern an sich zu sein. Kant rechnet im

Grunde die ganze uns gegebene Wirklichkeit zu den Erscheinungen:

schon allein die Ansetzung von Raum und Zeit als nicht an sich seiende

Wirklichkeiten würde jedoch genügen, das gesamte menschliche Leben

wahrhaftig als einen bloßen Schein zu erklären. Denn nicht nur unser

Leib und alle materiellen Gesetze, Bewegungen usw., sondern auch

unsere Seele, alle Entscheidungen und sittlichen Handlungen, alle

innere Umkehr eines Menschen, seine Reifung und Entfaltung, all

unser inneres Leben setzt die objektiv, real existierende Zeit voraus, in

der dies alles geschieht. Wenn ich deshalb auch nur, wie Kant, die

Zeit—um noch gar nicht von all den Grundsätzen und Prinzipien, wie

der Zahl usw., die nach Kant an die Anschauungsform der Zeit

gebunden sind oder gar den Verstandeskategorien und

transzendentalen Ideen zu reden —als subjektive Anschauungsform

erkläre, bleibt in bezug auf das personal-menschliche Leben nichts

mehr übrig von dem, was eindeutig die "an-sich-Existenz" im

187 Prolegomena, S 13, Anm. II (289, 290). Vgl. dazu auch das Folgende in

Anm. III, wo sich Kant weiter nachzuweisen bemüht, daß seine

"Erscheinungen" kein bloßer Schein seien.

141

erläuterten Sinne beansprucht. Es soll irgendein Mensch unternehmen,

zu sagen, was — außer einem radikal unaussagbaren und irrationalen

Grenzbegriff—vom Menschen übrigbleibt von an sich seiender

Realität, wenn die Zeit nicht an sich, sondern nur als Erscheinung

existiert, "die außer unserer Vorstellung keine Existenz hat"!

Die Leugnung der Erkennbarkeit des "Dinges an sich" als der

gemeinsame Punkt der früher erwähnten Formen des

Immanentismus

Die wesentlichen Unterschiede zwischen bloß individuellem Schein

(Halluzination), der schon im Cartesischen Gedankenexperiment des

"universalen Traums" verallgemeinert wird, und ,,Erscheinung''188 im

Kantischen Sinn, zwischen allgemeinem psychologischem Idealismus

und transzendentalem Idealismus (objektivem wie subjektivem), oder

zwischen phänomenologischem und transzendentallogischem

Idealismus—betreffen in keiner Weise den ausschlaggebenden Punkt

des Immanentismus. So leugnet etwa Kant, wie aus der vorangehenden

Analyse des Begriffs "Ding an sich" erhellt, weder den Unterschied

zwischen subjektiver Täuschung und Wahrnehmung der realen

Außenwelt noch den Unterschied zwischen Irrtum und Wahrheit —

aber er deutet diese Unterschiede in einem grundsätzlich

immanentistischen Sinn. Vielleicht kann man dies durch folgende

Überlegung noch klarer sehen:

Vergegenwärtigen wir uns die mögliche Situation, daß ein

Geistesgestörter mit einer halluzinierten Person spricht (wie etwa, Iwan

Karamasow mit dem Manne, der im Fiebertraum erscheint),189 so liegt

das Steckenbleiben in seiner Immanenz ja nicht darin, daß diese

einmalige Erfahrung aus seinem übrigen Leben und seinen sonstigen,

innerlich geordneten und sich wechselseitig bestätigenden Erfahrungen

herausfällt. Das Steckenbleiben des Fiebernden in seiner Immanenz

liegt ferner auch nicht darin, daß die Erfahrung der übrigen Menschen

anders ist, sondern bliebe ebenso bestehen, wenn auf Grund ihrer

188 Vgl. dazu M. Heideggers Diskussion von "Phänomen", "Erscheinung",

"bloße Erscheinung", "Schein" etc. in: Sein und Zeit, § 7 A (S. 28 ff.). 189 Vorausgesetzt, daß dieser "Mann" wirklich nur als Ausgeburt der

Phantasie des fiebernden Iwan aufzufassen ist. Vgl. F. Dostojewskij, Die

Brüder Karamasow: "Der Fiebertraum".

142

Konstitution sämtliche Menschen diese Gestalt des Fiebertraums

halluzinieren müßten: Denn das Steckenbleiben des Fiebernden in

seiner Immanenz hat ausschließlich darin seinen Grund, daß diese

Person "an sich" zu existieren scheint, jedoch in Wirklichkeit nicht

unabhängig vom "Objektsein für seinen Geist" (oder für alle Geister!)

an sich ist. Und deshalb wird das Steckenbleiben in unserer Immanenz

auch einzig und allein dann überwunden, wenn all die Wirklichkeiten,

die auf Grund ihres Wesens die erwähnte "an-sich-Existenz"

beanspruchen, tatsächlich an sich sind. Wenn daher anstatt einer

zufälligen psychologischen Konstitution allgemeine,

gesamtmenschliche Anschauungsformen und Kategorien die uns

"erscheinende" und nicht "an sich seiende" Welt aus einem Chaos von

Empfindungen, die von einem uns absolut unbekannten Ding an sich

herrühren, erschaffen würden, dann wäre diese Welt in Beziehung auf

die einzig entscheidende Frage nach den "Dingen an sich" eine

ebensolche Scheinwelt wie die Welt des Fiebernden. Wenn die Gesetze

des reinen, transzententalen Ego den Gegenstand "konstituieren", der

unabhängig vom erkennenden Subjekt, durch dessen intentionale Akte

er begründet wird, nicht an sich ist, dann ist diese Auffassung Kants

oder des späten Husserl ein Immanentismus, der uns noch viel radikaler

von der transzendenten Welt abschneidet, als die Fiebertraumwelt des

Kranken diesen von den "an sich seienden" Dingen und Personen

trennt.

Denn bei dem Geisteskranken oder Fiebernden handelt es sich um eine

einzelne Störung, die sowohl die frühere und spätere Erfahrung des

Kranken als auch die "objektive" Erfahrung der anderen als "Maß"

besitzt. Vor allem wird nie geleugnet, daß Raum, Zeit und alles, was

sich in ihnen vollzieht, daß Pflanzen, Tiere, und vor allem daß andere

Personen und wir selbst wesensmäßig "an sich" als reale, substantielle

und von jedem Erkanntwerden, von jedem "Obiekt-sein für ein

Bewußtsein"—und nichts anderes kann "Erscheinung" möglicherweise

heißen—unabhängige Personen existieren. Im Idealismus wird aber

auch dies geleugnet.190

190 Bekanntlich gibt es bei Kant und Fichte einen sogenannten "moralischen

Beweis" der Existenz anderer Personen, der uns aus dem Gefängnis des

Solipsismus befreien soll; auch der späte Husserl nimmt einen Zugang zur

"Intersubjektivität" an, worauf später ausführlich eingegangen werden soll.

Hier kann dazu nur folgende Bemerkung gemacht werden:

143

Um einem solchen Immanentismus zu entfliehen — so zeigt sich nach

diesen Untersuchungen —, muß ich in der Lage sein, in meiner

Erkenntnis "Gegenstände" oder Personen in jenem vollen, autonomen,

objektiven und von meinem Erkenntnisakte unabhängigen Sein zu

berühren, das zu besitzen sie jeweils "beanspruchen''.191 Die Frage, wie

dies möglich sei, soll nun im Folgenden gestellt werden. 19.04.96 18:35

Die zwei archimedischen Punkte innerhalb des "Seins an sich",

in deren Erkenntnis jede Zweifelsmöglichkeit zerschellt

In einer sicheren Erkenntnis der Wirklichkeit, wie sie "an sich ist", liegt

die Grundlage unseres gesamten Wissens, unserer gesamten Beziehung

zur Wirklichkeit, aller empirischen Wissenschaften und auch all

unseren Glaubens, der ohne ein solches Fundament absolut gewisser

Seinserkenntnis unmöglich wäre und in sich zusammenbräche. Die

grundlegende philosophische Frage nach einer solchen gewissen

Erkenntnis hat zwei grundsätzliche Richtungen:

1. Wo kann ich die Wirklichkeit in ihrem Sosein in einer Weise

erkennen, daß es unmöglich ist, daß sie mir bloß so zu sein scheint bzw.

erscheint, unabhängig von mir aber gänzlich anders ist? Wo kann ich

Wirklichkeit in ihrem Sosein in einer Weise erkennen, daß mich keine

Erstens beginnt der idealistische Immanentismus ja schon bei der

Leugnung der an sich seienden und substantiellen Wirklichkeit der eigenen

Person (und damit aller Personen). Vgl. dazu etwa Kant, KdrV, B 406—

432.

Zweitens ist dazu zu sagen, daß es eine vierfache oder fünffache

Äquivokation des Begriffes "Ich" und "transzendentales ego" gibt, welche

den in Wirklichkeit notwendig zum Solipsismus führenden

Immanentismus jedes transzendentalen oder subjektiven Idealismus

ausschalten will. Dies soll auf S. 233 ff. an Hand einer Analyse der

Spätphilosophie Husserls in den Cartesianischen Meditationen

klargemacht werden. 191 Sei dies nun die metaphysische, substantielle Realität der eigenen und

damit einer Person, die objektive Existenz der Außenwelt, die objektive,

ideale Existenz notwendiger Wesenheiten und ihrer "Regierung" der

Wirklichkeit (als Gegensatz zu ihrer Auffassung als bloße Denkformen und

Kategorien), oder endlich die in jedem Sinn "an sich seiende" Existenz

Gottes.

144

Täuschung trügen, kein böser Geist irreführen kann, wo ist es

unmöglich, daß "es in Wirklichkeit ganz anders ist"?

2. Die zweite Grundfrage aber lautet: Wo kann ich die konkrete,

substantielle, reale Welt in ihrem objektiven Sein an sich und in ihrer

konkreten Existenz mit Sicherheit erkennen?

Die erste Frage ist die nach den objektiven und notwendigen

Wesenheiten der Dinge, die niemals eine bloße Erscheinung sein

können und in welchen die notwendigen Sachverhalte gründen, die

Gegenstand jeder Metaphysik, Erkenntnislehre, Ethik usw. sind.

Die zweite Frage betrifft die metaphysische Existenz meiner eigenen

Person, der Außenwelt und schließlich die Existenz Gottes.

Mit der Beantwortung dieser Fragen, das ist, mit der Möglichkeit, ein

in diesem Sinne objektives Sein zu erkennen, steht und fällt der Sinn

unserer gesamten geistigen Existenz.

Augustinus hat dies klar erkannt und die absolut gewisse Erkenntnis als

Fundament all unseren Wissens und auch als unumgängliche

Grundlage des Glaubens erwiesen, der durch einen "fideistischen"

Ausgangspunkt192 vernichtet wird. Nicht nur der radikale Skeptizismus

der Akademie, sondern auch der seit Kant verbreitete grundsätzliche

Agnostizismus in bezug auf unsere Erkenntnis der objektiven

metaphysischen Realität wurde schon bei Augustinus überwunden:

Selbst ein Mensch, der an aller Wirklichkeit und Wahrheit zweifeln

würde, könnte dies nicht tun, ohne in einigen Punkten absolut gewisse

Erkenntnisse zu haben, deren er sich nur noch bewußt zu werden

braucht. Auch wenn er das in seiner bewußten, "philosophischen"

Reflexion meist wieder vergißt, gibt es doch keinen Menschen, selbst

nicht den radikalen Zweifler, der nicht an einigem unbezweifelbar

Seiendem festhält; ja, ohne das könnte er keine einzige Frage stellen

und nicht einmal einen Zweifel äußern.

Dies zeigt der hl. Augustinus in De Trinitate (X, X, 14) mit

unübertrefflicher Klarheit und der nur ihm eigenen schlichtesten — fast

möchte man sagen: heiligen—Präzision:

"Vivere se tamen et meminisse, et intelligere, et velle, et cogitare, et

scire, et judicare quis dubitet? Quandoquidem etiam si dubitat, vivit; si

dubitat, unde dubitet, meminit; si dubitat, dubitare se intelligit; si

192 Unter "Fideismus" wird hier jede Auffassung verstanden die eine sichere

(objektive) Erkenntnis ohne vorausgesetzten Glauben leugnet.

145

dubitat, certus esse vult; si dubitat, cogitat; si dubitat, scit se nescire; si

dubitat, judicat non se temere consentire oportere. Quisquis igitur

aliunde dubitat, de his omnibus dubitare non debet: quae si non essent,

de ulla re dubitare non posset."

"Wer könnte jedoch zweifeln, daran, daß er lebt, sich erinnert, einsieht,

will, denkt, weiß und urteilt? Auch wenn nämlich jemand zweifelt, lebt

er; wenn er zweifelt, erinnert er sich, woran er zweifelt wenn er

zweifelt, sieht er ein, daß er zweifelt; wenn er zweifelt, will er sicher

sein; wenn er zweifelt, denkt er; wenn er zweifelt, weiß er, daß er

(etwas) nicht weiß; wenn er zweifelt, urteilt er, daß er seine

Zustimmung nicht blind (ohne genügende Erkenntnis) geben solle.

Wenn deshalb jemand auch an allem andern zweifelt, so darf er doch

an all diesem nicht zweifeln: Denn wenn (all) dieses nicht wäre, könnte

er überhaupt an nichts zweifeln."

In dieser und vielen andern grandiosen Formulierungen geht

Augustinus noch viel radikaler vom Zweifel aus als Descartes, und

noch großartiger als dieser überwindet er den Zweifel, indem er "mit

einem Schlage" zeigt, wie mit der Wirklichkeit des Zweifels selbst

notwendig zwei Arten absolut gewisser Erkenntnis mitgegeben sind:

Die völlig gewisse Einsicht in die eigene Existenz, das über allen

Zweifel erhabene Innesein des eigenen Seins einerseits (das vivere se)

und andererseits (unerennbar damit verknüpft) die Einsicht in das

notwendige Wesen des Zweifels und all der Akte (des Erkennens,

Wissens, Wollens, Urteilens), die er notwendig einschließt . . . die

absolut gewisse Erkenntnis "si fallor, sum" ist also zugleich ein

ausdrückliches Erfassen des eigenen Vollzugsbewußeseins193 und

zugleich eine Einsicht in das Wesen des eigenen Seins, keineswegs eine

blinde empirische Realkonstatierung.194

Wie D. von Hildebrand in seinen Gastvorlesungen in Salzburg (1964)

gezeigt hat, stellt sowohl die Erfassung solcher notwendiger

Wesenheiten, wie auch die Realerkenntnis im Cogito einen

archimedischen Punke dar, der den Zweifel grundsätzlich aus den

193 Außer bei Augustinus, Descartes und D. von Hildebrand findet sich das

eigentliche Verständnis für diese im Cogito unmittelbar gegebene

unmittelbare Gewißheit des eigenen Seins besonders bei Leibniz. Vgl.

Noveaux Essais, 4. Buch. VII. § 7. 194 Dies behauptet zum Beispiel F. W. J. Schelling von Descartes. Vgl.

Schellings Werke Bd. V., S. 77—83.

146

Angeln hebt. An diesen unmiteelbaren Erkenntnissen zerschellt jede

Möglichkeit des Zweifels.

Als Ausgangspunkt für diese befreiendste und grundlegendste

philosophische Erkenntnis, die uns ein für allemal dem Skeptizismus

und Immanentismus entreißt, fordert Augustinus nichts, als daß ich an

allem zweifle. In diesem Zweifel werde ich dann finden, daß mir

Seiendes so gegeben ist, wie es in sich selbst ist.

Realerkenntnisse und Wesenseinsichten im Cogito

Wenn ich auch an der Wirklichkeit von allem zweifle, so ist mir doch

in diesem Akt mit absoluter Gewißheit gegeben, daß ich lebe, daß ich

bin und daß ich bewußt bin als Subjekt. Ich erfasse, daß dieses mein

Sein nicht wieder nur mir "scheinen" oder "erscheinen" kann, sondern

an sich ist. Denn jedes Einem-Subjekt-Scheinen oder Erscheinen setzt

das reale Subjekt voraus, dem etwas scheint, und dies kann nicht wieder

nur "Erscheinung" sein. Ferner bin ich mir selbst nicht nur als

Gegenstand meiner Reflexion bewußt, so wie ich von äußeren Dingen

ein "Bewußtsein von" habe,"195 sondern als der, dem etwas erscheint,

bin ich mir unmittelbar meiner selbst bewußt. Und zugleich ist dieser

Zusammenhang zwischen "Erscheinung" und einem Subjekt, dem

etwas erscheint und das weder selbst "Erscheinung" sein kann, noch

seiner selbst unbewußt ist, ein notwendiger, allgemeiner

Wesenszusammenhang. Ebenso erfasse ich genauso unmittelbar,196 daß

ich zweifle und daß ich mich dazu an das erinnern muß, woran ich

zweifle.

Doch nicht nur in mir selbst finde ich das mit Gewißheit vor, etwa in

einem Akt unmittelbarer Selbstbeobachtung oder "innerer

Wahrnehmung", die ich dann beschreibe. Ich finde dies auch nicht etwa

als eine bloß psychologische Notwendigkeit vor, wie daß ich nicht zwei

Gegenständen zugleich volle Aufmerksamkeit schenken kann. Ich

finde dies auch nicht in einer blinden Denknotwendigkeit vor, die zur

Folge hätte, daß ich etwa als Mensch nicht anders zweifeln oder den

Zweifel nicht anders denken kann, nein: Das notwendige Wesen des

Zweifels selbst ist mir in seiner Intelligibilität mit absoluter Gewißheit

195 Die Verwechslung begeht Kant; vgl. KdrV, B 406—413. 196 Diese Unmittelbarkeit übersieht und leugnet Kant auf Grund seines

Ansatzes. Vgl. a. a. O., B 406/7.

147

gegeben, so daß ich einsehe: Kein Mensch, ja, kein denkendes Wesen in

keiner möglichen Welt könnte je zweifeln, ohne von dem Sachverhalt

ein Bewußtsein zu haben, an dem es zweifelt.197 Daß dieser Gegenstand

197 Diese objektive Wesensnotwendigkeit ist aber nicht nur von jeder Art

blinder Denknotwendigkeit verschieden, sondern es liegt auch ein

"Abgrund" zwischen ihr und der "leeren" Notwendigkeit einer bloßen

Begriffsanalyse, die sich nur aus der Anwendung des

Widerspruchsprinzips ergibt. Dies leuchtet sofort auf, wenn man dem hier

über den Zweifel Gesagten Sätze gegenüberstellt, wie: Ein Greis muß in

jeder möglichen Welt alt sein oder: Ein Hirsch müßte in jeder möglichen

Welt ein Geweih tragen. Diese für die sprachliche Anwendung des

betreffenden Begriffs erforderlichen Merkmale gehören zur

konventionellen Definition des Begriffes, der auch in einer sinnvollen

Einheit gewisser Merkmale einer Sache begründet sein mag. Aber in der

vom Begriff unabhängigen Sache selbst sind diese Merkmale keineswegs

notwendig verbunden. So ist etwa ein "alter Mann", den ich mit dem

Begriff Greis stets meine, keineswegs als solcher notwendig alt; derselbe

Mann kann auch jung sein. Die "Sache alter Mann" ist also nicht notwendig

alt. Hingegen kann die "Sache Zweifel" unmöglich existieren wenn eines

der in ihr notwendig geeinten Merkmale fehlt. Dieser Unterschied wird im

Abschnitt über "analytische und synthetische Urteile" näher erläutert

werden, hier sei aber schon darauf hingewiesen, daß die erstmals in voller

Klarheit von D. von Hildebrand durchgeführte und bei E. Husserl gänzlich

fehlende Unterscheidung zwischen zufälligen oder zwar sinnvollen, aber

nicht notwendigen Sinneinheiten einerseits — und notwendigen,

unerfindbaren andererseits m. E. eine der wesentlichsten Unterscheidungen

für die Erkenntnistheorie und Metaphysik ist. Vgl. What is philosophy?,

Kap. IV, bes. S. 104—131. Die Frage, ob ein solcher Unterschied bestehe

findet sich allerdings schon in Platons Parmenides, 130a—e. Noch

deutlicher hat Descartes diesen Unterschied in den Meditationen, bes. in

der 5. gesehen, obwohl dort der transzendente Charakter dieser

Wesenheiten keineswegs so klar gesehen wird wie bei Hildebrand. Leibniz

wieder verkennt bei seiner Unterscheidung zwischen vérités de feit und

vérités de raison die Grundlage der Wesenseinsichten und verwechselt oft

die in den verschiedensten Wesenheiten gründenden notwendigen

Wahrheiten mit bloß tautologischen Urteilen, die sich auf das Prinzip des

Widerspruchs zurückführen lassen. Vgl. dazu die im folgenden Kapitel

zitierten Stellen aus den Werken Leibniz'. Allerdings scheint Leibniz diese

in den "Essenzen" gründenden notwendigen Wahrheiten nicht nur in vielen

konkreten Einsichten stillschweigend anzuerkennen, sondern auch

148

eines Zweifels ferner niemals eine Sache, eine Farbe, der Raum oder

eine Person, sondern ausschließlich ein Sachverhalt sein kann, das

a-Sein eines b, sehe ich ebenso ein. Diese Zusammenhänge finde ich

also nicht nur konkret in meinem Zweifel vor, sondern erkenne sie als

Wesenssachverhalte, als veritates aeternae. 21.01.14 02:23

Ferner verstehe und weiß ich, daß ich zweifle—doch nicht nur das,

sondern ich sehe die ewige Wahrheit ein, daß niemals ein unbewußtes,

apersonales Wesen zweifeln könnte. Ich sehe ein, daß es notwendig

zum Wesen des Zweifels gehört, bewußt vollzogen zu werden und nicht

nur das: Im Unterschied zum ebenfalls bewußt erlebten, dumpfen

physischen Schmerz gehört auch zum Wesen des Zweifels, so sehr

bewußt zu sein, daß man auch reflexiv wissen und sagen kann, daß man

zweifelt. Ein Mensch in einem dumpfen Bewußtseinszustand kann

Schmerz fühlen, aber nicht zweifeln. (Ja sogar ein Tier kann Schmerz

fühlen.) Ich sehe also ein, daß niemand je zweifeln könnte, ohne

verstehen zu können, daß er zweifelt. Ferner finde ich, daß ich nur an

einem Sachverhalt zweifeln kann, den ich noch nicht klar erkannt habe.

Ich sehe etwa, daß die eben deutlich als notwendig eingesehenen

Sachverhalte von mir unmöglich bezweifelt werden können.

Zugleich merke ich auch, daß ich jedesmal weiß, daß ich das, woran

ich zweifle, nicht erkannt habe, wenn ich zweifle.—Doch auch dies

finde ich wieder keineswegs nur mit einer empirischen Gewißheit in

mir selbst, sondern ich sehe ein, daß dies im Wesen des Zweifels

notwendig gründet, sobald ich auf ihn blicke. Dieses Wissen des

eigenen Nichtwissens, von dem Augustinus spricht, gehört notwendig

zum Zweifel. Wenn ich einen Sachverhalt erkenne, kann ich nicht

daran zweifeln, soferne ich ihn erkannt habe. Doch auch an einem

Sachverhalt, den ich zwar nicht erkenne, von dem ich aber nicht weiß,

daß ich ihn nicht erkenne, kann ich nicht zweifeln. Dies ist wiederum

in jeder möglichen Welt gültig.

Außerdem finde ich, daß ich über den Sachverhalt, an dem ich zweifle,

sicher sein will, daß ich den Sachverhalt erkennen will, an dem ich

zweifle. — Doch nicht nur das, sondern: Jeder wirkliche Zweifel

schließt notwendig den Wunsch nach Erkenntnis des Bezweifelten

manchmal theoretisch zu formulieren. Man nehme einen Satz wie: "Unter

reellen Ideen verstehe ich diejenigen, welche in der Natur begründet sind

und einem wirklichen Wesen, dem Dasein der Dinge oder Urbilder

entsprechen." (Nouveaux Essais, II, Kap. 30. § l.)

149

ein.198 Wenn dieser Wille — wie bei so vielen Skeptikern—fehlt, dann

ist der Zweifel in dem Maß, in dem er fehlt, unecht und verbirgt nur

den Wunsch, nicht dem Licht einer objektiven, absoluten Wahrheit

ausgesetzt zu sein, unter dem Schein eines Zweifels.

Darin ist wieder unzählig vieles eingeschlossen: Indem ich im Zweifel

nach der Erkenntnis des Sachverhalts strebe, an dem ich zweifle, weiß

ich auch in vorphilosophischer Weise, was Erkenntnis ist. Wenn ich

also nur aufmerksam auf das Wesen des Zweifels und alles, was mir in

ihm notwendig mitgegeben ist, achte, kann ich auch die notwendigen

Sachverhalte einsehen, die im Wesen von Erkenntnis gründen und die

wir in den bisherigen Untersuchungen erkannten. Im Zweifelsakt ist

mir also auch das notwendige Wesen der Erkenntnis gegeben, das ich

ans volle Licht philosophischer Bewußtheit heben kann, indem ich nur

darauf achte, daß ich ja weiß, was Erkennen ist, indem ich zweifle.

In der Sehnsucht nach sicherer Erkenntnis ist aber auch die Sehnsucht

nach Wahrheit, ja sogar nach unbezweifelbarer Wahrheit

eingeschlossen und damit auch nach Urteilen, deren Übereinstimmung

mit den wirklichen Sachverhalten sich in einer unbezweifelbaren

Erkenntnis ausweist. Damit ist aber auch das Wesen des Irrtums in der

Wesenserkenntnis des Zweifels mitgegeben — den zu begehen ich

fürchte, wenn ich zweifle. Alles, was ich also über Erkenntnis,

Überzeugung, Urteil, Wahrheit, Irrtum, Sicherheit, Sachverhalt usw.

bis jetzt eingesehen habe, kann ich einsehen, indem ich mich nur in das

Wesen eines einzigen Zweifelsaktes vertiefe.

Indem ich einsehe, daß niemand zweifeln kann, der nicht die Frage

nach der Wahrheit stellt, kann ich auch das notwendige Wesen der

Frage erkennen und z. B. unter vielem anderen einsehen, daß eine

Frage niemals wahr oder falsch sein kann, daß auch sie die mangelnde

Erkenntnis des gefragten Sachverhaltes einschließt usw.

Indem ich einsehe, daß niemand wirklich zweifelt, der nicht die

Erkenntnis dem Zweifel vorzieht, sehe ich schließlich auch Werte ein.

die der Zweifelnde erkennen muß, um überhaupt zweifeln zu können.

198 Zumindest den Wunsch nach einer im Erkennen sich als begründet

ausweisenden Überzeugung. Der Zweifel kann sich ja prinzipiell auf alle

Sachverhalte erstrecken, von deren Bestehen ich überzeugt bin, ohne sie

absolut gewiß zu erkennen. Wenn ich also in einem Glaubenszweifel auch

nicht unmittelbar einen Sachverhalt erkennen will, will ich doch erkennen,

ob meine Überzeugung von seinem Bestehen begründet ist.

150

Er muß den Wert der Wahrheit und Erkenntnis, die innere in sich

ruhende Bedeutsamkeit der Wahrheit erfassen, die besser ist als der

Zweifel und dem Unwert des Irrtums entgegengesetzt. Er kann ferner

erkennen, daß ein wirklicher Zweifel nicht den Unwert eines

sophistischen Scheinzweifels träge, hinter dem die Heuchelei eines

Menschen steht, der die Wahrheit gar nicht erkennen will. Endlich kann

der Unwert dieser Haltung und derjenige des Irrtums im Zweifel

erkannt werden. Ja, man kann sogar den Unwert der nicht die Wahrheit

suchenden und heuchlerischen, verlogenen Haltung als einen sittlichen

Unwert gegenüber dem intellektuellen Unwert des Irrtums als solchem

erfassen. Darin ist aber vieles andere, wie Freiheit, Verantwortlichkeit,

Wert, Wertantwort, Gebührensbeziehung, die Merkmale sittlicher

Werte199 und viele andere letztlich intelligible Gegebenheiten

mitgegeben, in die ich zahllose Wesenseinsichten gewinnen kann, ohne

vom Beispiel des Zweifels und dem, was in ihm gegeben ist, abzugehen

und noch viele andere Erfahrungen heranzuziehen.

Diese Werte erfasse ich nicht nur als vom Zweifelnden subjektiv

notwendig vorausgesetzt, sondern als im Wesen von Sein, Erkenntnis,

Wahrheit, Wahrheitsliebe, Lüge usw. gründend, also als objektive

Eigenschaften dieser Wirklichkeiten "an sich".

Ferner kann ich sehen, daß die in der Frage nach der Wahrheit zum

Ausdruck kommende Liebe zur Wahrheit nicht nur eine Kostbarkeit in

sich, das heißt einen Wert200 besitzt, sondern daß die Sehnsucht nach

Wahrheit und die Erkenntnis selbst auch ein objektives Gut für den

Menschen darstellt, der diese Haltungen besitzt. Ebenso sehe ich auch

ein, daß der Irrtum nicht nur an sich einen Unwert besitzt, sondern auch

ein objektives (Übel für den Menschen darstellt, der sich in ihm

befindet, ja ich kann sogar einsehen, daß es eine Hierarchie der Werte

und Unwerte gibt, die mit der Schwere der objektiven Übel und Güter

199 Vgl. D. von Hildebrand, Christliche Ethik, Kap. 15, 16, 17—25. 200 Der hier verwendete Wertbegriff wurde erst von Dietrich von

Hildebrand in der Auseinandersetzung mit Max Schelers Formalismus in

der Ethik ... herausgearbeitet, indem er drei Arten der Bedeutsamkeit

unterschied, durch die ein Seiendes sich aus der Sphäre des Indifferenten

herausheben kann: 1. Das bloß subjektiv Befriedigende, 2. Das objektive

Gut für eine Person. 3. Der Wert als das in sich Bedeutsame, die

Kostbarkeit, die ein Seiendes in sich besitzt. Vgl. D. von Hildebrand,

Christiche Ethik, Kap. 1 bis 3.

151

in einer intelligiblen Beziehung steht — ich kann also beispielsweise

einsehen, daß die verlogene Einstellung des der Wahrheit feindlichen

Menschen ein größeres Übel für ihn darstelle als der Irrtum als solcher;

noch viele andere Einsichten in Wert und Unwert kann ich gewinnen,

indem ich nichts anderes betrachte, als was im Wesen des Zweifels

alles gegeben und eingeschlossen ist. Ich sehe auch ein, daß im Zweifel

nicht nur die Sehnsucht nach einem wahren Urteil eingeschlossen ist,

sondern daß ich auch implicite zwei Urteile notwendig im Zweifel fälle,

von denen ich überzeugt sein muß und deren Wahrheit ich erkannt

haben muß, zumindest undeutlich, um überhaupt zweifeln zu können:

Erstens urteile ich, daß die Gründe für meine Zustimmung nicht

ausreichen, das heißt für eine positive oder sichere Überzeugung über

das Bestehen des Sachverhaltes. Zweitens bin ich auch überzeugt, daß

ich über das Bestehen eines Sachverhaltes kein Urteil fällen soll, wenn

dieser sich mir nicht in einer Erkenntnis entsprechend erschlossen hat.

Ich erkenne meinen Zweifel also als gebührende Antwort auf diese

Situation und bin auch überzeugt, daß es schlechter wäre, blindlings

meine Zustimmung zu geben. Auch die Erkenntnis dieser objektiven

Wertordnung ist notwendig im Zweifel eingeschlossen: ihrer bin ich

stillschweigend sicher, indem ich zweifle. Allerdings gilt dies nur für

den durch Wahrheitsliebe motivierten Zweifel und nicht für jenen, der

nicht "rein" und echt ist, der also mit einer Gleichgültigkeit oder sogar

Feindschaft gegen eine objektive Wahrheit und gegen objektive Werte

verbunden ist. Dies ist aber kein wirklicher Zweifel, sondern eine unter

dem Schein des Zweifels versteckte Ablehnung der Wahrheit.

Auch die Erkenntnis, daß eine andere Unmittelbarkeit und Sicherheit

der Erkenntnis vorausgesetzt wäre, um über den bezweifelten

Sachverhalt sicher sein zu können, ist im Zweifel eingeschlossen, ja

sogar ein gewisses Wissen um die Art und das Wesen einer solchen

Erkenntnis.201

Und dies alles ist nur ein Bruchteil der Fülle ewiger und notwendiger,

in sich einsichtiger Wahrheiten, die ich keineswegs deduktiv ableite,

noch aus dem Erfahren meines eigenen Zweifels empirisch beobachte

und dann induktiv verallgemeinere, sondern diese allgemeinen,

notwendig wahren Urteile kann ich nur aus der höchst rationalen,

201 Dies setzt sogar Kant voraus, indem er von den "Erscheinungen"

beschränkt wäre, sondern die Dinge an sich erkennen könnte. KdrV, B

307—315.

152

unmittelbaren Einsicht in die Wesenheiten und Wesenssachverhalte

gewinnen, die mir im Zweifel gegeben sind. Es handelt sich hier

durchwegs um synthetische Urteile a priori, was nicht heißt, daß sie

unabhängig von jeder, also auch der Soseinserfahrung, erkannt werden

müßten. Ihre Erkenntnis muß vielmehr, wie gleich näher ausgeführt

wird, nur unabhängig von empirischer Realkonstatierung und

Induktion sein. Noch viel weniger gründen aber diese synthetischen

Urteile a priori in einer transzendentalen Struktur des Subjekts und sind

etwa nur logisch als Bedingung der Möglichkeit unserer Erfahrung

vorausgesetzt, sondern all diese synthetischen Urteile a priori

formuliere ich, weil ich die in ihnen gemeinten Sachverhalte in dem

meinem Geiste transzendenten Wesen der gemeinten Sachen selbst

einsehe. Ich sehe: Es ist nicht bloß notwendig, daß ich sie so denke,

wobei ich auf die menschliche Erfahrung beschränkt wäre und mir das

Ansichsein der Wirklichkeit unbekannt bliebe, sondern es ist

notwendig, daß diese Sachverhalte "an sich so sind". Überdies wäre

durch die Erkenntnis, daß ich sie notwendig so denken müßte, noch

nichts über ihr wirkliches Bestehen ausgesagt.

In Wirklichkeit habe ich jedoch die eben formulierten

Wesenssachverhalte als im in sich notwendigen Wesen des Zweifels,

der Erkenntnis, der Überzeugung usw. gründend eingesehen: Ich habe

eindeutig erkannt, daß sie in jeder möglichen Welt notwendig bestehen

müssen. Daß ich hier das "an sich seiende Wesen der Dinge" berühre,

das alle möglichen konkreten und unter dieses Wesen "fallenden"

Wirklichkeiten beherrscht, bzw. für sie gilt, ihnen ihr Gesetz

vorschreibt—dies ist eine letzte Urgegebenheit, die ich nur unmittelbar

einsehen kann in jener höchsten Form der philosophischen Erkenntnis,

die notwendig allem Beweisen und Schließen vorausgehen muß: der

Wesenseinsicht.202

Wenn ich darüber nachdenke, daß ich einmal an der Möglichkeit der

absolut gewissen Wesenseinsicht gezweifelt habe, jetzt aber gewiß bin,

daß sie besteht, dann geht mir auch in diesem Früher und Später die

Realität und das Wesen der Zeit auf, daß sie irreversibel ist und niemals

das, was früher war, jemals später werden könnte, daß jeder Augenblick

unwiederholbar ist usw. — ferner könnte ich mich in die

202 Daß jeder Beweis und Schluß von der Sicherheit nicht beweisbarer,

sondern nur durch Einsicht erfaßbarer Prämissen abhängt, hat Aristoteles

in der Zweiten Analytik, 71b—73b, nachgewiesen.

153

Wesenssachverhalte versenken, die mir in der geheimnisvollen,

unergründlichen Wirklichkeit der Zeit gegeben sind und die

Augustinus so eindrucksvoll in den Confessiones schildert.203

All die genannten Wesenssachverhalte gründen im Wesen der

verschiedenen, besonderen Inhalte (der Zeit, des Zweifels usw.) und

können keineswegs, wie die Wahrheit hohler Begriffsanalysen und

Tautologien, durch eine bloße Anwendung des Widerspruchsprinzips

aus diesem abgeleitet werden.204

Und bei all diesen Zusammenhängen —dies ist das Entscheidende und

dies sehe ich klar ein—handelt es sich nicht um so Scheinendes oder

mir Erscheinendes, sondern um "an sich so Seiendes".

"Wer also auch an allem andern zweifelt, kann an dem allem nicht

zweifeln: Denn wenn dies nicht wäre, könnte er überhaupt an nichts

zweifeln."

Quae si non essent, also wenn all die vom Zweifel wesensgesetzlich

vorausgesetzten Akte und Wirklichkeiten und die in ihrem Wesen

gründenden Zusammenhänge nicht wirklich wären, könnten wir an

überhaupt nichts zweifeln.205

203 Vgl. A. Augustini Confessionum Liber XI (III—XXXI.) 204 Bei seiner Scheidung zwischen "vérités de raison" und "vérités de fait"

scheint Leibniz alle notwendigen und ewigen Wahrheiten auf das Prinzip

des Widerspruchs zurückführen zu wollen. Vgl. Monadologie, SS 33—35,

in: Die philos. Schriften, Bd. 6, S. 612. Vgl. auch Noveaux Essais sur

l'entendement, IV, 2., a. a. O., Bd.5, S.342ff. 205 Es kann hier nur noch angedeutet werden, da dies in ein neues Thema

führen würde, daß in Descartes' Meditationen deutlich wird, wie sich uns

im Zweifel auch die eigene Unvollkommenheit und Kontingenz enthüllt.

Das Licht der vollkommenen Erkenntnis und des vollkommenen Seins, auf

dessen Hintergrund wir die Unvollkommenheit des eigenen sehen, führt

Descartes zu dem klassischen Kontingenzbeweis und dem sogenannten

ontologischen Gottesbeweis, dessen Grundgedanke ist, daß "wir das

Krumme nur am Geraden messen können" (vgl. Bonaventura, Hexaéim. V,

30 u. 32 tVp. 359: "Judex enim est rectum sui et obliqui"). — Das Elend

des Menschen, von dem die moderne Philosophie so voll ist, kann nur auf

dem Hintergrund der Größe des Menschen verstanden werden, was Pascal

in den Abschnitten aus den Pensées: "Misère" und "Grandeur" (53—118),

a. a. O., S. 506 bis 512, wunderbar gezeichnet hat. So erhebt sich Descartes

— "in diesem Sinne ein wahrhaft existentieller Denker" (B. Schwarz) —

von der Erkenntnis des Zweifels bis zur allerhöchsten Form der

154

Daß es sich bei diesen Wesenseinsichten in allgemeingültige und

notwendige Zusammenhänge nicht um falsche Verallgemeinerungen

handelt, die aus empirischer Selbstbeobachtung abgeleitet werden,

zeigt sich besonders deutlich auch darin, daß wir ja gar nicht faktisch

zweifeln und unseren Zweifel beobachten müssen, um diese

Erkenntnisse zu gewinnen—allein die Vorstellung des Zweifels

genügt, um mit Gewißheit die in seinem Wesen notwendig gegründeten

Sachverhalte zu erkennen.

Bevor diese zentralen Gegebenheiten, die eben behandelt wurden,

weiter analysiere werden können, müssen jedoch an einem

exemplarischen Fall die Versuche angedeutet werden, die im "Cogito"

gegebene Transzendenz des Menschen, in der er die "Dinge an sich"

erkennt, zu leugnen.

Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis, die unseren natürlichen

Kräften verliehen ist, zu der philosophischen Gotteserkenntnis. Damit

sehen wir aber auch, daß der cartesische und augustinische methodische

Zweifel bzw. der Ausgangspunkt von der Wesensanalyse des Zweifels aus

einem tiefen philosophischen Staunen kommt und in ein immer steigendes

Staunen führt, je mehr wir die vom Zweifelnden vorausgesetzte absolut

gewisse Wahrheit erkennen. Denn mit der absolut gewissen Erkenntnis

wertvoller und geheimnisvoller Wirklichkeit hört das Staunen nicht auf,

wie mit dem Durchschauen eines Problems, sondern wird größer, je klarer

wir sein mystère erkennen. (Vgl. Gabriel Marcel, Das Geheimnis des Seins,

Bd. I, Reflexion und Mysterium.)

155

2. KAPITEL

DIE UNENTTHRONBARKEIT DER ERKENNTNIS DES

"DINGES AN SICH" IM "COGITO".

Der Kampf gegen die Transzendenz metaphysischer Erkenntnis

im Cogito

"Nicht dadurch, daß ich, bloß denke, erkenne ich irgendein Objekt,

sondern nur dadurch, daß ich eine gegebene Anschauung in Absicht auf

die Einheit des Bewußtseins, darin alles Denken besteht, bestimme,

kann ich irgendeinen Gegenstand erkennen. Also erkenne ich mich

selber nicht dadurch, daß ich mir meiner als denkend bewußt bin,

sondern wenn ich mir die Anschauung meiner selbst, als in Ansehung

der Funktion des Denkens bestimmt, bewußt bin... also ist durch die

Analysis des Bewußtseins meiner selbst im Denken überhaupt in

Ansehung meiner selbst als Objekts nicht das mindeste gewonnen. Die

logische Erörterung des Denkens überhaupt wird fälschlich für eine

metaphysische Bestimmung des Objekts gehalten."

In dieser Stelle der Kritik der reinen Vernunft206 spricht sich in

konzentrierter Form jener ausweglose Immanentismus aus, der leugnet,

daß wir jemals Seiendes so erkennen, wie es in sich selber ist.

Aus den vielen Stellen, die man bei anderen Philosophen findet und in

denen sich jene Kantischen Einwände gegen die metaphysische

Erkenntnis des Cogito als eines "Dings an sich" in einfacherer Form

aussprechen, möchte ich nur eine Stelle Nietzsches herausgreifen:

"Es gibt immer noch harmlose Selbst-Beobachter, welche glauben, daß

es 'unmittelbare Gewißheiten' gebe, zum Beispiel 'ich denke'...:

gleichsam als ob hier das Erkennen rein und nackt seinen Gegenstand

zu fassen bekäme, als 'Ding an sich', und weder von Seiten des

Subjekts, noch von seiten des Objekts eine Fälschung stattfände. Daß

aber 'unmittelbare Gewißheit', ebenso wie 'absolute Erkenntnis' und

'Ding an sich', eine contradictio in adiecto in sich schließt, werde ich

hundertmal wiederholen: man sollte sich doch endlich von der

Verführung durch Worte losmachen! Mag das Volk glauben, daß

Erkennen ein zu Ende-Kennen sei, der Philosoph muß sich sagen: wenn

206 KdrV, B 406—413.

156

ich den Vorgang zerlege, der in dem Satz 'ich denke' ausgedrückt ist,

so bekomme ich eine Reihe von verwegenen Behauptungen, deren

Begründung schwer, vielleicht unmöglich ist, — zum Beispiel, daß ich

es bin, der denkt, daß überhaupt ein Etwas es sein muß, das denkt, daß

Denken eine Tätigkeit und Wirkung seitens eines Wesens ist, welches

als Ursache gedacht wird, daß es ein 'Ich' gibt, endlich, daß es bereits

feststeht, was mit Denken zu bezeichnen ist — daß ich weiß, was

Denken ist... An Stelle jener 'unmittelbaren Gewißheit', an welche das

Volk im gegebenen Falle glauben mag, bekommt dergestalt der

Philosoph eine Reihe von Fragen der Metaphysik in die Hand, recht

eigentlich Gewissensfragen des Intellekts, welche heißen: 'Woher

nehme ich den Begriff Denken? Warum glaube ich an Ursache und

Wirkung? Was gibt mir das Recht, von einem Ich, und gar von einem

Ich als Ursache, und endlich noch von einem Ich als Gedanken-Ursache

zu reden?' Wer sich mit der Berufung auf eine Art Intuition der

Erkenntnis getraut, jene metaphysischen Fragen sofort zu beantworten,

wie es der tut, welcher sagt: 'ich denke und weiß, daß dies wenigstens

wahr, wirklich, gewiß ist' — der wird bei einem Philosophen heute ein

Lächeln und zwei Fragezeichen bereitfinden...207

Nietzsche scheint an dieser Stelle im wesentlichen genau dasselbe

gegen Descartes geltend zu machen wie Kant, nur drückt er es einfacher

aus: Wie wir in keiner Erkenntnis den Gegenstand in seinem "Sein an

sich" erfassen können, so auch im "Cogito" nicht. Wir müssen uns also,

so meint Kant oder Nietzsche, einer Doppeldeutigkeit im Begriffe "Ich"

bewußt sein, in der der Trugschluß gründe, der dem cartesischen

"Cogito" zugrunde liege. Diese angebliche Doppeldeutigkeit, die Kant

in schwierigen und langwierigen Gedankengängen in dem erwähnten

Abschnitt der Kritik der reinen Vernunft entwickelt, kommt für uns in

diesem Zusammenhang nur in ihrem wesentlichen Kern in Betracht.

Einmal können wir mit "Ich" der Meinung Kants zufolge das "Subjekt

aller Urteile", das reine "Ich" des "Ich denke" meinen, bzw. das "Ding

an sich", das uns niemals als Objekt unserer Erkenntnis in der

unmittelbaren Erfahrung gegeben sein könne und deshalb auch

keineswegs mit der Kategorie der Substanz erfaßhar sei. Andererseits

meine man mit "Ich" das "empirische Ich" als Objekt der inneren

Anschauung und dies sei durch die Anschauungsformen, Kategorien

207 F. Nietzsche, Von den Vorurteilen der Philosophen, 16, in: Jenseits von

Gut und Böse. Ne. We., Bd. II, S. 579/80.

157

und Funktionen unserer Sinnlichkeit bzw. unseres Verstandes

bestimmt, also nicht das "Ich an sich".

Mit einem Worte: Das "Ich", das uns im "Cogito" gegeben ist, sei

letzten Endes eine durch "die Aufsummierung der Irrtümer unseres

Verstandes entstandene Fiktion", wie Nietzsche es klarer ausdrücken

würde, das "Ich" sei uns niemals in seinem "Sein an sich" bekannt und

damit (gemäß den Ausführungen über das "Ding an sich" im ersten

Kapitel) keine "Erscheinung", sondern ein "Schein", der uns zur irrigen

Meinung verführe, die uns im "Cogito" gegebene "Seele" sei eine

unserer "Erfahrungswelt" transzendente, an sich seiende Realität.

Der innere Widerspruch in der Leugnung der Erkennbarkeit

des "Dinges an sich" — und in der gleichzeitigen Behauptung,

die menschliche Erkenntnis sei "allgemeingültig"

Der innere Widerspruch, in den sich der Idealismus verstricht, wird von

D. von Hildebrand in folgender Weise aufgezeigt:

"The idealistic interpretation of taking cognizance of something as a

spiritual building up of an amorphous stuff and as a creation of the

object of knowing... necessarily travels in a vicious circle. Let us see,

why this is true. Transcendental idealism interprets taking cognizance

of something as a construction of the object and thereby denies that we

are able to grasp a real object such as it is. Yet it claims that philosophy

describes the real nature of knowledge. It is perfectly clear that

transcendental idealism does not consider its own interpretation of

knowledge as a mere construction and that it claims it to be the

disclousure of the authentic nature of knowledge. With this claim it

tacitly presupposes and silently reintroduces the real nature and true

notion of taking cognizance, namely, the grasping of an object such as

it is, and not the constructing of an object. This intrinsic contradiction

in transcendental idealism is, however, inevitable. For the genuine

datum of knowledge and taking cognizance of something is so

elementary that every attempt to deny it or to interpret it as something

else necessarily leads to a vicious circle. Taking cognizance, as the

genuine receiving and grasping of a being as it is, is really so

elementary and inevitable a fact that it silently comes back into the

158

picture and regains its rightful place even when a person tries to explain

it away as something else."208

Kant setzt also zwei Dinge voraus, die seine idealistische Interpretation

der Erkenntnis widerlegen:

Erstens kann er, wie D. von Hildebrand zeigt, unmöglich die

Erkenntnis für eine Konstruktion bzw. ein Schaffen aus einem

amorphen Stoff erklären und dies auf die Erkenntnis, "daß Erkenntnis

ein Schaffen ist", selbst anwenden. Denn diese "Erkenntnis", daß

Erkennen nämlich ein Schaffen ist, wäre dann wieder ein Schaffen bzw.

eine Konstruktion und würde uns daher gar nicht darüber belehren, was

Erkenntnis wirklich ist. Ist also die "Erkenntnis", daß Erkennen ein

Schaffen ist, selbst ein Schaffen, dann ist Erkennen kein Schaffen,

sondern dies "konstruiere" ich dann bloß. Setzt aber Kant voraus, daß

diese eine Erkenntnis kein Schaffen ist, dann widerspricht er sich

ebenfalls.

Zweitens aber setzt Kant, indem er Erkenntnis für ein "Hervorbringen"

erklärt, voraus, damit zu zeigen, was Erkenntnis wirklich "an sich" ist.

Er muß notwendig behaupten, daß die "Erkenntnis", wie er sie auffaßt,

nicht nur "Erscheinung", sondern "das Ding der Erkenntnis an sich" ist.

"Es ist völlig klar, daß der transzendentale Idealismus seine eigene

Interpretation der Erkenntnis... für die Enthüllung des wahren Wesens

von Erkenntnis hält."

So setzt Kant voraus, daß das "Ding an sich" der Erkenntnis — eben

dieses "Schaffen"—ihm bekannt sei.

Bei der Untersuchung des Begriffes "Ding an sich" im vorigen Kapitel

wurde gezeigt, daß alles Seiende in einem bestimmten Sinne "an sich"

ist, daß ein "Sein für jemanden" ebenso widersprüchlich ist, wie eine

"Wahrheit für jemanden". In diesem weitesten Sinn ist also sogar ein

"Schein" "an sich"—eben als Schein. Eine Traumfigur ist "an sich"

dieses merkwürdige "Etwas"—eine "geträumte Gestalt". Nur die

betreffende reale Person, wofür ich die geträumte Gestalt halte, ist

nicht an sich, auch nicht im weitesten Sinn des Wortes. Sie ist vielmehr

überhaupt nicht. Wir sehen also, daß die Person auch etwas im

weitesten Sinn des Wortes nicht "an sich Seiendes" (nämlich die reale

Existenz des bloß Geträumten) für "an sich seiend" halten kann. Alles

208 D. von Hildebrand, What is philosophy?, S. 16.

159

aber, was sich einem Subjekt erschließt— und sei es auch nur eine

Traumfigur— ist als solches (wenn auch vielleicht nur in der

schwächsten Seinsweise des bloßen "Objektseins für jemanden") an

sich.

Aber bei dem zweiten Widerspruch, in den der transzendentale

Idealismus sowie auch jeder Relativismus führt, handelt es sich nicht

bloß um die Voraussetzung eines "Dinges an sich" in diesem weitesten

Sinn. Denn Kant setzt voraus, daß er die Erkenntnis erkennt, wie sie

nicht bloß als "Schein", ja nicht einmal bloß als "objektive

Erscheinung" für ein Subjekt, sondern wie sie in sich selber ist.

Um dies deutlich zu verstehen, muß jetzt noch einmal eingesehen

werden, daß es keine "Erscheinung" ohne ein "Ding an sich" im

engeren Sinn des Wortes, in dem es den Gegensatz zu Schein und

Erscheinung bedeutet, geben kann. Schon die Tatsache bzw. der

Sachverhalt, daß eine Farbe als gültiges "Antlitz" der Außenwelt bzw.

als Erscheinung für Menschen existiert, ist nicht wieder eine

"Erscheinung", die für ihr Realwerden eines perzipierenden Subjekts

bedürfte; ebenso ist das Wesen von "Erscheinung", das ich etwa

gegenüber dem Wesen von "an sich seiender Realität" philosophisch

analysiere, nicht wieder eine Erscheinung.

In jedem Augenblick, da wir (wie Kant vom Erkennen) philosophisch

vom Wesen einer Sache reden, setzen wir notwendig voraus, daß wir

das an sich seiende Wesen von etwas erkennen, das unmöglich

wiederum nur "Erscheinung" sein kann. Dies gilt also schon vom

"Wesen von Erscheinung" als solchem. Aber hier ist dennoch die

Realität, die diesem Wesen entspricht, eben Erscheinung.

Wenn Kant jedoch von dem spricht, was Erkennen wesenhaft ist, ein

so und so geartetes Bestimmen, dann setzt er notwendig voraus, er sagt

nicht nur, was das Wesen der Erkenntnis "an sich" ist, sondern auch,

daß jede reale Erkenntnis nicht nur der Erscheinungsgegenstand für

jemanden ist. Die Erkenntnis oder auch der Akt des Träumens selbst

kann nicht wiederum nur "Erscheinung" für ein Subjekt sein. Vor allem

aber kann das Subjekt, dem etwas erscheint, nicht wiederum nur als

einem andern Subjekt er-scheinend aufgefaßt werden, was in einen

unendlichen Regreß führen würde, wie gleich noch näher gezeigt wird.

Einfach formuliert könnte man sagen: Wo immer etwas als

Erscheinung für ein Subjekt existiert, setzt dies notwendig voraus, daß

es viele Wirklichkeiten gibt, die nicht bloß als Erscheinung für ein

Subjekt, sondern an sich und unabhängig existieren.

160

Im Grunde sieht man den inneren Widerspruch der Leugnung eines in

diesem Sinne "an sich" und nicht bloß als Erscheinung existierenden

Seienden schon daran, daß man von "Erscheinung" spricht. Woran

könnte man denn die Erscheinungshaftigkeit messen und überhaupt so

nennen, wenn nicht an dem "Ding an sich"? Der Begriff "Erscheinung"

verliert jeden Sinn, wenn man nirgends "Dinge an sich" kennt.209

Wenn Nietzsche sagt: Ich lebe nur in einer Scheinwelt, nur in meiner

"Menschenwelt". Alles ist Schein, so muß man dagegenhalten: Und

dies, daß ich nichts an sich Seiendes erkennen kann, nichts von der

objektiven Wirklichkeit erfassen kann, wie sie in sich ist, ist dies

wiederum nur ein Schein? Nietzsche setzt offenbar voraus, daß dies

nicht wieder bloß ein Schein oder eine Erscheinung für ein Subjekt,

sondern daß dies "an sich" so ist.

Ich kann also weder die Existenz noch die Erkennbarkeit eines "Dinges

an sich" leugnen, ohne beides ständig vorauszusetzen. Ich muß

notwendig voraussetzen, weil es notwendig so ist, daß jeder Schein und

jede Erscheinung ein Sein verlangt, das selbst weder Schein noch

Erscheinung sein kann.

An dieser Stelle muß auch auf den inneren Widerspruch hingewiesen

werden, der zwischen dem Kantischen Begriff "allgemeingültig" und

der Deutung des Erkennens als geistiges Schaffen liegt. Schon in diesen

"für alle Menschen gültigen" Prinzipien, die Kant annimmt, liegt eine

zumindest implizite Anerkennung anderer Personen und ihres Soseins,

das Kant unmöglich erkennen könnte, wenn Erkennen, wie er erklärt,

209 Nietzsche hat der Unhaltbarkeit des Idealismus beredten Ausdruck

gegeben, obwohl er ihm selber an anderen Stellen verfallen ist: "Der faule

Fleck des Kantischen Kritizismus ist allmählich auch den gröberen Augen

sichtbar geworden: Kant hatte kein Recht mehr zu seiner Unterscheidung

'Erscheinung' und 'Ding an sich' — er hatte sich selbst dieses Recht abge-

schnitten, noch fernerhin in dieser alten üblichen Weise zu unterscheiden

insofern er den Schloß von der Erscheinung auf eine Ursache der Erschei-

nung als unerlaubt ablehnte — gemäß seiner Fassung des Kausalitäts-

begriffs und dessen rein intraphänomenaler Gültigkeit: welche Fassung

andrerseits jene Unterscheidung schon vorwegnimmt, wie also ob das

'Ding an sich' nicht nur erschlossen, sondern gegeben sei." (Wille zur Macht

— Ne. We., Bd. III, S. 863.) "Vielleicht erkennen wir dann, daß das Ding

an sich eines homerischen Gelächters wert ist: daß es so viel, ja alles schien

und eigentlich leer, nämlich bedeutungsleer ist." (Nietzsche, Menschliches

Allzumenschliches, Bd. I, 16.)

161

ein Konstruieren wäre. Hier setzt Kant einen rezeptiven Akt des

Erkennens voraus. Jeder transzendentalphilosophische Ansatz und

überhaupt jede Philosophie, die das Erkennen in ein geistiges

"Erzeugen" umdeutet, schneidet sich von allem Sein an sich und damit

a fortiori von dem anderer Personen ab. Wenn man Erkennen als

Konstruieren deutet, muß man notwendig Solipsist sein — das ist die

einzig-mögliche Konsequenz. Denn das "Allgemeingültige" besteht ja

wiederum nur als meine Konstruktion und wäre ja dann nicht "an sich"

für alle Menschen gültig.

Wie in der Auseinandersetzung mit dem späten Husserl gezeigt werden

wird, kann man auch in der Annahme eines (in sich

widerspruchsvollen) transzendentalen ego keinerlei Ausweg zu diesem

besonders greifbaren Widerspruch jedes transzendentalen Ansatzes

finden. Denn wie kann ich von einem "an sich" und "für andere"

gültigen transzendentalen ego wissen, wenn dieses macht, daß all mein

sogenanntes "Wissen" eine "Konstruktion", eine von mir vollzogene

"Synthesis" ist?

So wie es schon unmöglich ist, vom Aristippschen Standpunkt der Lust

als einzigem Motiv allen Strebens plötzlich auf den Benthamschen

utilitären Standpunkt eines Strebens nach der Lust möglichst vieler

überzuspringen — denn das Streben nach dem bloß subjektiv

Befriedigenden und Lustvollen ist notwendig auf die eigene Person

beschränkt —, so kann ich noch weniger von der Deutung des

Erkennens als Schöpfung einer "Erscheinungs"-Welt plötzlich zur

Annahme der Gültigkeit dieser von meinem Geist spontan erzeugten

Kategorien und Synthesen für andere Menschen übergehen, deren

autonomes Sein ich ja unter den idealistischen Voraussetzungen

unmöglich erkennen kann. Im Kantischen Begriff des

"Allgemeingültigen" nimmt er stillschweigend an, er könne das "Feld

der Erscheinungen" überfliegen und zum autonomen "Sein an sich"

vorstoßen. Darin liegt jedoch ein Widerspruch zu jener

"transzendentalen Zufälligkeit der Kategorien", von denen Kant selbst

spricht, ja ein Widerspruch zu jeder möglichen Fassung einer

transzendentalen Konstitution. Das "Gefängnis des Immanentismus",

das durch diese Lehre geschaffen wird, werden wir im folgenden näher

untersuchen. Hier sei nur auf den inneren Widerspruch verwiesen, den

wir eben andeuteten.

162

Nicht Descartes' zentrale Einsichten,210 sondern vielmehr deren

Bekämpfung bildet einen Grundzug der Neueren Philosophie. An

diesem Punkte löst man sich mit aller Entschiedenheit von der

Möglichkeit los, absolute, objektive und ewige Wahrheit erkennen zu

können, und glaubt seit Humes Positivismus und der Kantischen

Vernunftkritik, sich auf die "Erfahrung", welche auf den Menschen

relativ betrachtet wird, bzw. auf die "Prinzipien ihrer Möglichkeit"

beschränken zu müssen, woraus sich die Leugnung jener Transzendenz

ergibt, in der der Mensch zum metaphysischen Sein durchdringt. Nicht

der einzelne, "empirisch" gegebene Mensch, aber seine

"transzendentalen Denkstrukturen" und in diesem Sinn doch wieder der

Mensch wird zum "Maß aller Dinge" gemacht, ja auch zum Maß der

Religion und zum Maß "Gottes" selbst, der (mit der "Seele" und

"Welt") des Menschen "transzendentale Vernunft-Idee" genannt wird,

210 Damit soll nicht geleugnet werden, daß sich bei Descartes manchmal

Irrtümer oder überaus irreführende Begriffe finden, die Anlaß zu Irrtümern

gegeben haben, wie etwa der Begriff der "idea innata", der allerdings bei

Descartes selbst an vielen Stellen so erkläre wird, daß jedes Mißverständnis

ausgeschlossen ist, als handle es sich dabei nicht um unmittelbar

zugängliche "notwendige Naturen" bzw. sogar um das Wesen des in Frage

stehenden Seienden, und zwar als "unveränderliche, von meinem Geiste

unabhängige Wesenheit der Sache selbst".

Vgl. Descartes, Meditationen, 1. Erwiderung (152): "Mein Beweisgrund

dagegen war folgender: Das, wovon wir klar und distinkt einsehen, daß es

zu der wahren und unveränderlichen Natur oder Wesenheit oder Form einer

Sache gehört, das können wir von dieser Sache mit Wahrheit behaupten."

Vgl. auch a. a. O., 153—158. Ebenso 5. Meditation, 5. Vgl. auch Descartes'

Prüfung des Programms des Regius, in: Principia philosophiae, a. a. O., S.

283, 284. Eine sehr klare Stelle findet sich auch in der 3. Meditation 6,

während im übrigen in der dritten Meditation oft nicht klar ist, ob Descartes

von den transzendenten Wesenheiten der Dinge selbst oder von

"subjektiven" Ideen spricht. In der 2. Erwiderung, 189, wieder kommt wie

in den schon erwähnten Stellen, ganz eindeutig zum Ausdruck, daß

Descartes eine unmittelbare Einsicht in die unerfindbare Wesenheit von

Dingen annimmt. Auch findet sich im Programm des Regius, a. a. O., S.

300 eine Erläuterung, wie der Begriff "idea innata" zu verstehen sei und

daß Descartes darunter nur verstehe, "daß uns von Natur eine Fähigkeit

innewohnt, wodurch wir Gott" (sowie das eigene Sein und andere

Wesenheiten) "erkennen können".

163

"durch die wir eigentlich nur zu wissen bekommen, daß wir nichts

wissen können";211 Gott wird als "heuristische Fiktion",212 ja letzten

Endes als Geschöpf des Menschen, als von seinern Geist erzeugte213

"Idee" betrachtet. So ungeheuerlich sind die Konsequenzen dieser

Philosophie, von so letzter, an die tiefste Tiefe unserer Existenz und des

Seins selbst rührender Tragweite sind die hier liegenden Fragen. Die

"Erfahrung" des Menschen wird anthropozentrisch versubjektiviert.

Nietzsche weist auf diesen Zusammenhang in einem anderen, tiefen

Aphorismus hin:

"Was tut denn im Grunde die ganze neuere Philosophie? Seit Descartes

— und zwar mehr aus Trotz gegen ihn als auf Grund seines Vorgangs

— macht man seitens aller Philosophen ein Attentat auf den alten

Seelen-Begriff, unter dem Anschein einer Kritik des Subjekt- und

Prädikat-Begriffs — das heißt: ein Attentat auf die

Grundvoraussetzung der christlichen Lehre. Die neuere Philosophie,

als eine erkenntnistheoretische Skepsis, ist, versteckt oder offen,

antichristlich: obschon, für feinere Ohren gesagt, keineswegs

antireligiös. Ehemals nämlich glaubte man an 'die Seele', wie man an

die Grammatik und das grammatische Subjekt glaubte: man sagte 'Ich'

ist Bedingung, 'denke' ist Prädikat und bedingt — Denken ist eine

Tätigkeit, zu der ein Subjekt als Ursache gedacht werden muß. Nun

versuchte man, mit einer bewunderungswürdigen Zähigkeit und List,

ob man nicht aus diesem Netz herauskönne — ob nicht vielleicht das

Umgekehrte wahr sei: 'denke' Bedingung, 'ich' bedingt; 'ich' also erst

eine Synthese, welche durch das Denken selbst gemacht wird. Kant

wollte im Grund beweisen, daß vom Subjekt aus das Subjekt nicht

bewiesen werden könne — das Objekt auch nicht: die Möglichkeit

einer Scheinexistenz des Subjekts, also 'der Seele', mag ihm nicht

immer fremd gewesen sein, jener Gedanke, welcher als

211 KdrV, B 498. 212 KdrV, B 799; auch B 644, 647. B 699 (als ob). 213 KdrV, B 708, B 396: "Man kann sagen, der Gegenstand einer bloßen

transzendentalen Idee" (= Welt, Seele, Gott) "sei etwas, wovon man keinen

Begriff hat, obgleich diese Idee ganz notwendig in der Vernunft nach ihren

ursprünglichen Gesetzen erzeugt worden." Vgl. S. 137, Anm. 173, dieser

Arbeit.

164

Vedanta-Philosophie schon einmal und in ungeheurer Macht auf Erden

dagewesen ist."214

Man hat noch viel zu wenig beachtet, in welchem Sinn das

Descartesche Cogito das Grundproblem der Neueren Philosophie und

wie diese vom Kampf gegen die von Descartes neu entdeckten

Wahrheiten beherrscht ist. In der Leugnung des "Seelen-Begriffes"

finden wir die furchtbaren Konsequenzen und wohl auch die geheimen

Wurzeln der Kopernikanischen "Wende" von Nietzsche klar enthüllt.

Kants Zugeständnis, daß die Wahrheit des "si fallor, sum"

seine ganze "kritische" Philosophie widerlegen würde

An diesem Punkt endlich kann das ganze Kantische System in einer

einzigen Einsicht widerlegt, als sich selbst widersprechend und als

Konseruktion erwiesen werden. An der Stelle in der "Kritik der reinen

Vernunft", an der Kant auf den Ansatzpunkt der cartesischen

Philosophie eingeht215, spricht er es selbst deutlich aus, daß mit der

Möglichkeit einer rezeptiven, metaphysischen Erkenntnis der eigenen

Person seine ganze Vernunftkritik widerlegt sein würde:216

"Ein großer, ja sogar der einzige Anstoß wider unsere ganze Kritik

würde es sein,217 wenn es eine Möglichkeit gäbe, a priori zu beweisen,

daß alle denkenden Wesen an sich einfache Substanzen sind, als solche

also (welches eine Folge aus dem nämlichen Beweisgrund ist)

Persönlichkeit unzertrennlich bei sich führen und sich ihrer von aller

Materie abgesonderten Existenz bewußt sind. Denn auf diese Art hätten

wir doch einen Schritt über die Sinnenwelt hinaus getan, wir wären in

das Feld der Noumenen (Dinge an sich) getreten, und nun spreche uns

niemand die Befugnis ab, in diesem uns weiter auszubreiten,

anzubauen, und, nachdem einen jeden sein Glücksstern begünstigt,

darin Besitz zu nehmen. Denn der Satz: Ein jedes denkende Wesen als

ein solches ist einfache Substanz, ist ein synthetischer Satz a priori, weil

214 F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Das religiöse Wesen, 54, Ne.

We., Bd. II, S. 615/16. 215 Vgl. KdrV, B 406 ff. 216 KdrV, B 409/10. 217 Es gibt in Wirklichkeit viele andere Einwinde gegen Kant, von denen

einige im vorigen Abschnitt erwähnt wurden.

165

er erstlich über den ihm zugrundegelegten Begriff hinausgeht und die

Art des Daseins zum Denken überhaupt hinzutut, und zweitens zu

jenem Begriff ein Prädikat (der Einfachheit) hinzufügt, welches in gar

keiner Erfahrung gegeben werden kann. Also sind synthetische Sätze a

priori nicht bloß, wie wir behauptet haben, in Beziehung auf

Gegenstände möglicher Erfahrung, und zwar als Prinzipien der

Möglichkeit dieser Erfahrung selbst thunlich und zulässig, sondern sie

können auch auf Dinge überhaupt und an sich selbst gehen, welche

Folgerung dieser ganzen Kritik ein Ende macht und gebieten würde, es

beim Alten bewenden zu lassen."

Kant selbst spricht es also ganz deutlich aus, daß "seiner ganzen Kritik

ein Ende gemacht wäre", sollte es wirklich so sein, daß wir in der

augustinisch-cartesischen Erforschung des Wesens und Subjekts des

Zweifels synthetische Sätze a priori gewinnen können, die im Wesen

der Dinge an sich selbst gründen, was nachzuweisen im vorigen Kapitel

versucht wurde.

Bevor diese Frage in Entgegnung auf die Kantischen Einwände wieder

aufgenommen werden kann, muß jedoch geklärt werden, was die zu

Recht im Zentrum der Kantischen Philosophie stehende "Frage nach

der Möglichkeit synthetischer Sätze a priori" eigentlich bedeutet.

Über Wesen und Bedeutung des Unterschiedes zwischen

analytischen und synthetischen Sätzen a priori218

Kant macht einen Unterschied von grundlegender Wichtigkeit, den

man nicht genug in seiner Bedeutung unterstreichen kann, zwischen

analytischen und synthetischen Sätzen. "Satz" wird dabei nicht im

Sinne des "rein" sprachlichen Gebildes, sondern im Sinne von

"Urteil(sinhalt)" gebraucht. So werden wir, Kant folgend, die

Ausdrücke "Satz" und "Urteil" gleichbedeutend verwenden. Während

die Irrtümer Kants einen weithin beherrschenden Einfluß ausüben, wird

das Wesen und die Bedeutung dieser am Ausgangspunkt der

Kantischen Philosophie stehenden Unterscheidung kaum näher

218 Eine bahnbrechende Analyse der eigentlichen Natur dieses

Unterschiedes findet sich in D. von Hildebrands What is philosophy?, S.

77 ff. Hier können nur einige Punkte dieser ausführlichen Analyse erwähnt

und fortgeführt werden.

166

erforscht. Das ist umso mehr zu beklagen, als eine derartige

Untersuchung zugleich dazu führt, jene Verwechslungen und Irrtümer

zu erkennen, ohne die das gesamte Kantische System undenkbar wäre

und zugleich zu der klaren Erkenntnis zwingt, daß Kant die Frage nach

der Möglichkeit einer Metaphysik, "die als Wissenschaft wird auftreten

können", so lange großartig formuliert hat, als er nach "der Möglichkeit

synthetischer Urteile a priori" fragt. Er versteht darunter notwendig

gültige Urteile, die keine bloßen Begriffsbestimmungen oder

Tautologien sind.

Kant wollte den "Immanentismus" und die Unfruchtbarkeit einer rein

analytischen "Metaphysik" überwinden, das heißt einer Philosophie,

die nur dadurch die notwendige Wahrheit ihrer Urteile erreicht, daß sie

im Prädikatsbegriff das als notwendig zum Subjekt gehörig bezeichnet,

was "sie selbst zuerst in den Begriff hineingelegt hatte."218a Ein solches

analytisches Urteil wäre etwa: "Jeder Greis ist notwendig ein alter

Mann.''219 Dieser Satz läuft auf den anderen hinaus: "Ein alter Mann ist

notwendig ein alter Mann." Diese offene Tautologie ist in der ersten

Formulierung nur deshalb eine verdeckte, weil man in dem

Subjektsbegriff zwei Eigenschaften (alt und Mann) verbindet, ohne sich

dessen deutlich bewußt zu sein. Daher kann leicht die Notwendigkeit

der Wahrheit dieses Satzes, die sich in Wirklichkeit einfach aus der

Anwendung des Identitäts- bzw. des Widerspruchsprinzips ergibt, wie

eine von der "Sache" her notwendige Verbindung zweier Eigenschaften

(des Mannseins und des Altseins) erscheinen. Wenn man die verdeckt

tautologischen Sätze in offen tautologische Sätze überführt, was bei

218a Die Wahrheit analytischer Urteile ergibt sich also einfach aus einer An-

wendung der sogenannten "obersten logischen Grundsätze", die A. Pfänder

in seiner Logik (III, Kap. I—V) unübertrefflich analysiert hat. Zugleich

weist er sowohl die Verschiedenheit als auch die Beziehung zwischen

diesen "obersten Grundsätzen" im logischen und im ontologischen Sinn

nach. 219 Ähnliche Sätze führt Leibniz in den Nouveaux Essais, IV, II (a. a. O., S.

343) wohl mit der Erwähnung an, daß es sich hier um "propositions

identiques" handle, die uns in keiner Weise über einen Gegenstand be-

lehren, aber rätselhafterweise ohne sie den nur in originärer Wesenseinsicht

erfaßbaren "notwendigen Wahrheiten" gegenüberzustellen; ja, Leibniz

stellt diese Sätze geradezu als Beispiele für die metaphysischen hin (eine

Behauptung, die er a. a. O., IV, VIII näher ausführt): "J'ay ecrit ce que j'ay

ecrit... Le rectangle equilateral est un rectangle..."

167

jedem rein analytischen Satz möglich ist, dann ist klar, daß die

Wahrheit sämtlicher solcher Sätze feststeht, ganz unabhängig davon,

um welche Sache es sich in ihnen auch handeln mag. In ihnen wird

eigentlich nur das Widerspruchsprinzip auf die verschiedensten

Gegenstände an gewendet; ohne jegliche über die Erkenntnis des

Widerspruchsprinzips hinausgehende Erkenntnis kann man sozusagen

"mit geschlossenen Augen" die Wahrheit und notwendige Gültigkeit

jedes analytischen Satzes feststellen, der uns nicht im mindesten über

eine Sache belehrt außer daß er zum Ausdruck bringt, daß auch für sie

das Identitätsprinzip und das Widerspruchsprinzip gelten.

Das wahrhaftig Unfaßbare ist nun, daß Kant der ganzen Metaphysik

vor ihm den Vorwurf macht, nichts weiter als solche "eitlen Sätze" in

sich enthalten zu haben:219a

"er fand,... daß um sicher etwas a priori zu wissen, er der Sache nichts

beilegen müsse, als was er seinem Begriff gemäß selbst in sie gelegt

hatte."220

Von der bisherigen Metaphysik fügt er die Behauptung hinzu:

"Es ist also kein Zweifel, daß ihr Verfahren bisher ein bloßes

Herumtappen, und, was das Schlimmste ist, unter bloßen Begriffen

gewesen

219a Man muß sich dabei allerdings klarmachen, daß Leibniz trotz seiner

tiefen Einsichten in notwendige Wesenszusammenhänge, welche sich

keineswegs auf eine bloße Anwendung des Widerspruchsprinzips

zurückführen lassen, gerade an den entscheidenden Stellen (Monadologie,

§§ 33—35, in: "Die philosophischen Schriften", Bd. 6, S. 612; Nouveaux

Essais, V, IV, II a. a. O., Bd. 5, S. 342 ff.; IV, VII, § 8: a. a. O., S. 394 ff)

den Verdacht nahelegt, daß er die von ihm a priori eingesehenen "vérités

de raisonnement" sämtlich für im Widerspruchsprinzip gegründet hielt und

dabei gar nicht merkte, daß damit — außer der in sich bedeutsamen und für

das ganze Universum grundlegenden Gültigkeit des Widerspruchsprinzips

— alle übrigen "vérités de raison" bloße Anwendungen bzw. reine

Wiederholungen des Widerspruchsprinzips wären, deren Leere Leibniz

keineswegs wie Kant durchschaute obwohl er in den Nouveaux Essais (IV,

VIII: a. a. O., Bd. 5, s. 409 ff.) nahe daran ist. 220 Kant, KdrV, B XII.

168

sei."221

Es kann hier nicht auf die vielen sich an diese Zitate knüpfenden Fragen

eingegangen werden, aber schon die Ungeheuerlichkeit eines solchen

Vorwurfs (der die ganze Metaphysik zu einer letztlich von einem Kind

oder Narren — der keine Erkenntnis außer von den obersten logischen

Grundsätzen zu besitzen braucht — ausübbaren Wissenschaft erklärt)

verrät, daß Kant an dem eigentlichen Unterschied zwischen

analytischen und synthetischen Urteiien222 vorbeiging. Indem er aber

das Wesen des zentralen, von ihm bemerkten Unterschiedes verkannte,

verfiel er mit seiner "Erklärung", wie synthetische Urteile a priori

möglich seien, einem noch viel weitergehenden und schlimmeren

Immanentismus, als eine bloß "tautologische Metaphysik" ihn

darstellen würde, was aus einer Untersuchung dieses Unterschiedes

erhellen wird.223

Kant führt für die Unterscheidung zwischen analytischen und

synthetischen Sätzen ein irreführendes Merkmal an: Er definiert

nämlich analytische Sätze als solche Sätze, bei denen mit dem Begriff

des Subjekts das Prädikat schon zugleich mitgedacht wird. Im

Unterschied dazu seien synthetische Sätze solche Sätze, bei denen im

Subjektsbegriff noch nichts vom Prädikatsbegriff enthalten sei, bei

denen also durch Hinzufügung des Prädikatsbegriffs der

Subjektsbegriff erweitert werde.

221 KdrV, B XV. 222 Deren dogmatische Behauptung er andererseits derselben Metaphysik

vorwirft. 223 Gegenüber Leibniz hat B. Bolzano sich ganz klar gegen jene Theorien

gewendet, nach denen im Widerspruchsprinzip, in dem Satz vom

ausgeschlossenen Dritten, dem Identitätsprinzip oder anderen ähnlichen so

genannten "obersten Denkgesetzen" der "Grund aller Wahrheit im

Denken" zu finden sei. Aus ihnen sind nämlich "keine der Rede werten"

Wahrheiten abzuleiten... Zwar dürfe ihnen keine Wahrheit widersprechen,

aber das gelte für jeden wahren Satz... Die Redeweise "oberste

Denkgesetze" erkennt Bolzano vor allem deswegen als unangemessen,

"weil dieser Name Veranlassung gibt, sich vorzustellen, als ob es Gesetze

wären, an welche sich bloß unser (menschliches) Denken gebunden

findet". Infolge seiner Einsicht aber "drücken diese Sätze eine den Dingen

an sich selbst zukommende Beschaffenheit aus" und gehören daher in die

Ontologie. (Wissenschaftslehre, I, 1, § 545, a.a.O., S.61.)

169

Diese Ausdrucksweise ist nun nicht nur äußerst vieldeutig, sondern

einfach falsch, weil sie statt des wahren Merkmals des von Kant

gesehenen Wesensunterschiedes ein falsches anführt. Das kann nur

verstanden werden, wenn man sich zunächst den im ersten Teil der

Arbeit durchgeführten Unterschied zwischen dem Begriff und der

Sache, auf die dieser hindeutet, einerseits, und dem Urteil und dem

Sachverhalt, auf den dieses sich bezieht, andererseits vor Augen hält.

Denn nur dann kann man erkennen, wie doppeldeutig die Aussage ist,

bei analytischen Sätzen werde der Prädikatsbegriff schon "mitgedacht",

bei synthetischen erst "hinzugefügt".

Das Irreführende dieser Ausdrucksweise wird klar, wenn man sich des

von Kant angeführten Beispiels für einen "analytischen" Satz erinnert:

Den Satz "Alle Körper sind notwendig ausgedehnt" erklärt Kant für

einen analytischen Satz, was gemäß dem von ihm angegebenen

Merkmal für den Unterschied zwischen analytischen und synthetischen

Sätzen durchaus natürlich ist. Man stelle neben diesen einen wirklich

analytischen Satz: "Jeder Greis ist ein alter Mann", der sich auflösen

läßt in den Satz: "Jeder alte Mann ist ein alter Mann." In diesem Satz

habe ich also in der ersten Formulierung bloß durch das Prädikat den

Subjektsbegriff erläutert; dem in der zweiten Formulierung

hervortretenden sachlichen Gehalt nach ist der Satz aber nicht mehr als

die Anwendung des Widerspruchsprinzips auf den alten Mann.

Man mag Kant zugeben, daß man in beiden Fällen beim Subjektsbegriff

schon an den Prädikatsbegriff denke — doch darauf kommt es in

Wirklichkeit bei dem Unterschied zwischen analytischen und

synthetischen Sätzen in keiner Weise an. Bei analytischen Sätzen, die,

wie Kant mit Recht hervorhebt, insgesamt a priori notwendig sind,

stammt diese Notwendigkeit immer aus einer und derselben Quelle

nämlich der universalen Gültigkeit der obersten logischen

Grundgesetze. Sie sagen im Grunde nichts anderes als: "Gesetzt, eine

Sache ist a, so ist es notwendig wahr, daß sie a ist." Zur Verdeutlichung

des entscheidenden Punktes eignet sich noch besser der analytische

Satz von der Form: "Jeder Greis ist (notwendig) alt", was dasselbe

bedeutet, wie: "Jeder alte Mann ist alt."

In dem Augenblick nun, wo wir auf die mit dem Subjektsbegriff

"Greis" gemeinte "Sache" unabhängig von dem Begriff blicken, die

ihm schon das Merkmal "alt" zuspricht, werden wir finden, daß das

Alter diesem alten Manne keineswegs notwendig zukommt. Blicken

wir hingegen nur einen Augenblick auf die mit "Körper" gemeinte

170

Sache ganz unabhängig von irgendeinem sie bezeichnenden Begriffe

so werden wir finden, daß ihr die Ausgedehntheit und

Dreidimensionalität ebenso notwendig zukommt wie zuvor, als wir sie

"Körper" nannten. Die in dem Urteil: "Jeder Körper ist notwendig

dreidimensional ausgedehnt" zum Ausdruck gebrachte Notwendigkeit

ist gänzlich unabhängig von der Benennung der Sache "Körper" mit

dem Begriffe "Körper" und ist auch keineswegs bloß die der "obersten

logischen Grundgesetze"; sie gründet vielmehr in dem spezifischen

Wesen des "Körperseins", und kein realer Körper könnte je anders als

dreidimensional existieren. Nehmen wir auf der anderen Seite den

Begriff "Greis" weg und sagen wir: "Dieser Mann ist notwendig alt",

so ist dies ein falscher Satz, da derselbe Mann ja auch jung sein kann,

und dies sogar real war, und da das Alter ihm gerade nicht notwendig

eigen ist. Gar nicht am Begriffe Körper hingegen, sondern ganz im

Wesen der mit diesem Begriff bezeichneten Sache liegt es, daß sie

notwendig ausgedehnt ist; ein unräumlicher oder in zwei Dimensionen

existierender realer Körper ist eine Unmöglichkeit. Also nicht auf

Grund des Begriffes Körper, sondern auf Grund des Wesens dieser

"Sache" ist es notwendig ausgeschlossen, daß eine solche Sache sich in

zwei, einer oder gar keiner räumlichen Dimension entfaltet. Das

Wesentliche bei synthetischen Sätzen a priori ist also, daß ein in keiner

Weise auf die obersten ontologischen und logischen Grundsätze

reduzierbarer, notwendiger Sachverhalt, unabhängig von allen

Begriffen und sprachlichen Bezeichnungen besteht. Solange ich, wie

Kant, die Begriffe nicht von den Sachen unterscheide, kann ich dies

freilich nicht sehen.

Die Notwendigkeit der Wahrheit synthetischer Sätze a priori kann also

keineswegs auf Grund der "logischen Grundgesetze" eingesehen

werden, sondern setzt eine Einsicht in das spezifische Wesen voraus, in

dem der gemeinte Sachverhalt gründet. So konnte keiner der im Wesen

des Zweifels gründenden Sachverhalte anders eingesehen werden als

dadurch, daß die vor jeder begrifflichen Fassung liegende notwendige

Wesenseinheit "Zweifel" unmittelbar erschaut wurde. Es handelte sich

dabei nicht um eine bloße Begriffsbestimmung, beziehungsweise um

die Aussage: Ich nenne Zweifel einen Akt, der dieses und jenes

Merkmal hat, so wie ich etwa alle schweren und kleinen Töpfe "topu"

nennen und dann sagen könnte: "jeder 'topu' ist klein und schwer." Die

Verbindung der Eigenschaften "klein" und "schwer" im Topf bleibt

dabei eine rein zufällige. Beim Zweifel hingegen bestand die sinnvolle,

171

ja notwendige Einheit von Merkmalen schon vor jedem Begriffe, und

wie immer ich diese "Sache" nennen mag, ihr Wesen und die notwendig

in ihm gründenden Sachverhalte bestehen schon vor all meinen

Begriffen.

Jedem beliebigen Körper kommt Ausdehnung so notwendig zu, wie der

Sachverhalt besteht, daß 7 + 5 = 12, den auch Kant als einen

synthetischen Satz a priori erkennt, der keineswegs, wie sogar Leibniz

meinte, eine Sache bloßer Definition ist, sondern ebenso notwendig und

immer bestünde, wenn kein Mensch ihn erkennen oder gar formulieren

würde.

Der Unterschied zwischen analytischen a priorischen und

synthetischen a priorischen Urteilen leuchtet schließlich noch klarer

auf, wenn bedacht wird, daß es sich bei der "Definition" des

Unterschiedes dieser Sätze durch deren Merkmale keineswegs um

etwas Willkürliches handeln kann, sonst könnte man Kant niemals

vorwerfen, daß er diesen Unterschied "nicht richtig" bestimmt hat.

Worauf er mit diesen beiden Begriffen hinauswill, sind jedoch zwei

wesenhaft verschiedene Arten von Urteilen, zu denen jeweils

bestimmte Merkmale notwendig gehören. Deshalb ist es nicht eine

Frage der Definition, diese Begriffe zu bestimmen, sondern eine Frage

des Soseins der in ihnen gemeinten und von jeder begrifflichen

Erfassung unabhängigen, wesensverschiedenen "Gebilde", die der

Philosoph vorfindet und nicht erst durch seine Begriffe zusammenfaßt.

Die gegebenen Andeutungen über das Wesen dieses Unterschiedes

müssen hier genügen.

Die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori

Die Grundfrage jeder Metaphysik, "die in Zukunft als Wissenschaft

wird auftreten können" und ihre immanentistische Formulierung bei

Kant

"Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" — so stellt Kant in

genialer Weise die Grundfrage der Erkenntnistheorie und Metaphysik.

Nach den Überlegungen, die im ersten Kapitel angestellt wurden, ist es

klar, daß Transzendenz ein Wesenszug jeglicher Erkenntnis ist. Es

wurde schon dargelegt, daß der Spontaneität des Behauptens die

Rezeptivität des Erkennens wesenhaft vorhergeht; ebenso wurde

erwiesen, daß der ganze Sinn einer Aussage darin liegt, daß in ihr ein

172

dem Urteil selbst transzendenter Sachverhalt gemeint wird; wenn

dieser wirklich besteht, ist das ihn setzende Urteil wahr, besteht er

nicht, ist es falsch. Je nach Art des Urteils kann ich einen zufälligen,

individuellen oder einen allgemeinen und notwendigen Sachverhalt als

bestehend "setzen". Synthetische Urteile a priori bringen wesenhaft das

Bestehen allgemeingültiger und notwendiger Sachverhalte zum

Ausdruck. Solche Sätze sind deshalb ausschließlich dann möglich,

beziehungsweise berechtigt — denn sie sind ausschließlich dann wahr

—, wenn es eine positive Antwort auf die eigentliche Grundfrage der

Metaphysik gibt, nämlich auf die Frage:

Bestehen notwendige, allgemeingültige Sachverhalte, und kann ich, sie

erkennen?

Denn wenn ich synthetische Sätze a priori bilde, ohne daß die

wesenhaft in ihnen behaupteten, notwendigen Sachverhalte objektiv

und meinem Geiste transzendent bestehen, wenn ich, wie Kant, nicht

diese einzige, sondern eine andere "Begründung" der synthetischen

Sätze a priori versuche, nämlich daß ich eine solche Denkstruktur oder

"transzendentale Konstitution" besitze, daß ich sie notwendig als

Grundlage und Bedingung der Möglichkeit meiner Erfahrung denken

muß, wenn ich die synthetischen Urteile a priori also als Ergebnis einer

"transzendentalen synthesis" erkläre, dann begehe ich, wie Nietzsche

die Kantische Grundposition genial gekennzeichnet hat, höchstens

"unwiderlegbare Irrtümer".224

Kant stellt die Frage nach der Möglichkeit der synthetischen Urteile a

priori, wobei er übersieht, daß diese in ihrem Sinn völlig

zusammenbrechen, daß sie zu Irrtümern werden, wenn sie nicht ihnen

selbst transzendenten notwendigen und allgemeingültigen

Sachverhalten im Sein an sich entsprechen.225 Kant merkt nicht, daß

jede andere "Erklärung" der synthetischen Urteile a priori diese zu

Irrtümern erklärt, was nicht im geringsten dadurch irgendwie verändert

224 F. Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, 3. Buch, n. 265: "Was sind denn

zuletzt die Wahrheiten des Menschen? — Es sind die unwiderlegbaren

Irrtümer des Menschen." Ne. We., Bd. II, S. 159. 225 Zu einem volleren Verständnis dessen vgl. die meisterhaften Analysen

A. Pfänders über das Urteil und den wesensnotwendig in ihm gründenden

Anspruch auf Wahrheit, Logik, I, Kap. I—3 u. bes. Kap. 5.

173

wird, daß sie als notwendige Bedingung für jede Erfahrung erwiesen

werden.226

Wenn also die notwendige Beziehung jedes Urteils auf einen ihm

transzendenten Sachverhalt gesehen wird, ist klar: Nicht sosehr die

Frage nach der Möglichkeit von synthetischen Urteilen a priori als

vielmehr nach der Erkenntnis von objektiv bestehenden, notwendigen

und allgemeingültigen Sachverhalten ist die Grundfrage jeder

Metaphysik und Erkenntnislehre und eine Grundfrage jedes Menschen.

Und auf diese Frage haben Descartes und Augustinus eine Antwort

gefunden, was jetzt noch gegenüber den Kantischen Einwänden näher

geklärt werden soll.

Gründe für die immanentistische "Erklärung" der Möglichkeit

synthetischer Urteile a priori bei Kant

Warum hat Kant seine so konstruierte und immanentistische Erklärung

der notwendigen und allgemeingültigen Urteile gegeben?

Hier kommt das erste Vorurteil zur Sprache, das Kant unbesehen von

den englischen Empiristen übernommen hat und das besagt, jegliche

von der Erfahrung ausgehende Erkenntnis könne mir nur faktische,

zufällige Gegenstände liefern. Alle rezeptive Erkenntnis sei ferner auf

die Erfahrung im Sinne von "Realkonstatierung" des Zufälligen

angewiesen; die für die erfahrene Welt vorausgesetzten notwendigen

Elemente und Zusammenhänge könnten mir daher niemals in der

Erfahrung als an sich seiend gegeben sein.226a In meiner Erfahrung treffe

226 Dies hat wiederum D. von Hildebrand m. E. am deutlichsten nach-

gewiesen. Vgl.: "The many meanings of the concepts: a priori and

experience", in: What is philosophy?, S. 86 ff., bes. S. 93—95. 226a Vgl. dazu: Kant, KdpV, § 8, II, a. a. O., S. 166, 168. Wir gehen in

diesem Zusammenhang nur auf die unmittelbaren, in unserem

Zusammenhang wichtigen Gründe für die immanentistische Erklärung

der synthetischen Sätze a priori durch Kant ein, ohne deren weitere

Hintergründe hier erläutern zu können, die verständlicher machen,

warum Kant näherhin die von uns ausgeführten Vorurteile für

unausweichlich hielt.

Kant nahm einerseits das mechanistische Weltbild, das am besten durch

den Titel "L'homme machine" charakterisiert ist, als unbestreitbare

Wahrheit an andererseits wollte er die an Freiheit notwendig geknüpfte

174

Sittlichkeit erklären, die ihm als eindeutige Tatsache feststand. (Vgl.

KdpV, A 84, 8s.) Zugleich wollte er auch das von D. Hume als aus

Gewohnheit stammende Fiktion erklärte Kausalprinzip begründen.

Hier entging Kant merkwürdigerweise wiederum die Flachheit der

Humeschen Argumentation, der die Uneinsichtigkeit eines im

einzelnen Fall bestehenden Kausalzusammenhangs als Einwand gegen

die absolute Evidenz des Prinzips vom zureichenden Grunde ansah

(vgl. A. Pfänder, Logik, S. 221 ff.).

Dadurch, daß Kant viele zeitgenössische Thesen philosophisch nicht

eingehend untersuchte bis zu dem Punkt, wo sich herausstellt, daß sie

keine Tatsachen sind, die wichtigen Prinzipien widersprechen, sondern

Irrtümer — nahm Kant wie in den Antinomien, Parologismen etc. an,

daß zahlreiche Widersprüche in der uns gegebenen Welt bestünden, die

sich nur durch seine gigantische Konstruktion aus der Welt schaffen

ließen, in der alle diese Antinomien erklärt und aufgelöst würden. Wir

können in dieser Arbeit selbstverständlich nicht unternehmen, dies

näher auszuführen oder gar alle jene sich bei näherer Analyse als

notwendigen Wahrheiten widersprechende Irrtümer herausstellenden

Thesen zu untersuchen, die Kant als unumstößliche Tatsachen

hinnahm. Wir erwähnen diesen Punkt nur und wollen dabei betonen, daß sich hier

wieder deutlich zeigt, wie hypothetisch und konstruktiv Kant in seiner Phi-

losophie vorging und diese gleichsam als "beste Erklärung", als beste ver-

suchsweise angebotene "Riesenhypothese" anbot, nicht aber ihre innere

Notwendigkeit und Einsichtigkeit irgendwo behauptet. Auch eine in KdrV,

B XX, sich findende Fußnote weise auf diese "dem Naturforscher nachge-

ahmte Methode" hin, die in Wirklichkeit "widerphilosophisch" ist, weil sie

den Gegensatz zu absoluter Gewißheit und zu Einsicht in sich notwendiger

Zusammenhänge bildet. An deren Stelle tritt die "beste Erklärung" ("Man

versuche es daher einmal..."), wobei Kant vergißt, daß diese erstens die

Einsicht in in sich intelligible Sachverhalte notwendig voraussetzt und daß

sie zweitens den in sich intelligiblen Sachverhalten, von denen Philosophie

handelt, nicht angemessen ist. Überdies werden durch die Kantische Kon-

struktion die Probleme gar nicht gelöst. Ihre "Auflösung", soweit sie nicht

unerforschliche Geheimnisse betreffen (die aber von Widersprüchen

wesensverschieden sind), kann nur durch jene mühsame und von Kant

vernachlässigte philosophische Forschung geleistet werden, die die von

Hume geäußerten Meinungen über Kausalität, die deterministischen

Auffassungen und andere Irrtümer als solche entlarvt.

175

ich nach Kant niemals etwas an sich Notwendiges; dies habe vielmehr

den "fiktiven Gegenstand" aller Transzendenzphilosophie und

Metaphysik gebildet, die jetzt erledigt sei.

Das zweite Vorurteil gründet in folgender Erwägung: Kant sah bis zu

einem gewissen Grad, daß ohne das, was sich an den Gegenständen

unserer Erfahrung nicht wandelt und worüber wir allgemeine, nicht

empirische Urteile fällen, überhaupt keine Erfahrung möglich wäre —

Raum, Zeit, Wesenheiten, Sein, Widerspruchsprinzip, Wesensgesetze

aller Art. Da Kant einerseits sieht, daß wir nicht gänzlich unabhängig

von der Erfahrungswelt, in der eben diese notwendigen Elemente eine

grundlegende Rolle spielen, zu diesen notwendigen Elementen

gelangen können, anderseits aber auf Grund seiner Beschränkung auf

den empiristischen Erfahrungsbegriff im Sinn von Realkonstatierung

und Induktion meint, diese notwendigen Zusammenhänge könnten uns

niemals als solche selbst in einer Erfahrung in ihrem Sein an sich

gegeben sein, folgt daraus ganz konsequent das zweite Vorurteil:

Kant glaubt, diese notwendigen Elemente in der Erfahrungswelt

könnten nicht in den Dingen selbst liegen, sondern nur von uns an diese

herangetragen werden. Die notwendigen Bedingungen aller

Erfahrung227 müssen also Produkte unseres Geistes sein.

Kant übersieht, daß synthetische Urteile a priori in dem Augenblick zu

Irrtümern werden, in dem ihr Bezug auf notwendige und damit an

sich bestehende allgemeingültige Sachverhalte weggenommen wird.228

Und dieser Bezug wird notwendig weggenommen, wenn man die

wesenhaft rezeptive Transzendenz der Erkenntnis in so leichtfertig

hypothetischer Weise leugnet, ohne dabei auch nur zu merken, was

dadurch geschieht:

227 Mit der Reduzierung des a priori auf solche "Bedingungen der Mög-

lichkeit" der Erfahrung beschränkt Kant außerdem das gewaltige Reich

notwendiger Wesenszusammenhänge auf einen kleinen Teil derselben.

Vgl. D. von Hildebrand, What is philosophy?, S. 86 ff., bes. 92 ff. 228 Die Tatsache, daß die synthetischen Urteile a priori die für alle Erfah-

rung unumgängliche Voraussetzung und Bedingung ihrer Möglichkeit

bilden würden, bewies als solches nichts für ihre Wahrheit. Vgl. D. von

Hildebrand, What is philosophy?, S. 95. Vgl. auch Kant, KdrV, A 98, a. a.

O., S. 172.

176

"Bisher nahm man an, all unsere Erkenntnis müsse sich nach den

Gegenständen richten; aber alle Versuche, über sie etwas a priori durch

Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde,

gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher

einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik besser damit

fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach

unserem Erkenntnis richten... Es ist hiermit ebenso wie mit dem ersten

Gedanken des Kopernikus bewandt..."229

Man mache sich klar, welcher Immanentismus diese kopernikanische

Wendung notwendig bedeutet. Denn es ist wohl offenbar, daß der Satz,

"daß sich die Gegenstände nach unserem Erkenntnis richten", niemals

heißen kann, daß die Gegenstände, weil ich sie als notwendig denke,

wirklich notwendig wären. Das wäre sogar ein Widerspruch in sich,

daß etwas nicht "an sich" notwendig ist, sondern weil jemand es als

solches denkt. Dieser Satz heißt also bei Kant nicht, daß die

Sachverhalte wirklich an sich notwendig bestehen, sondern daß ich sie

(und mich selbst, sofern ich mich erlebe und mir gegeben bin) aus dem

"Chaos der Sinnesempfindung" (warum dann nicht gleich aus dem

Nichts) erschaffe. Abgesehen davon, daß das "Schaffen" oder

"Synthetisieren" notwendiger Zusammenhänge ein Widerspruch in

sich ist, gehört zum Wesen des wirklichen Schaffens, daß der

geschaffene Gegenstand wirklich so ist, wie ich ihn geschaffen habe,

während bei Kant der Gegenstand eben bloß "Erscheinung" ist, das

heißt ein von einem Subjekt notwendig so gedachter, aber nicht an sich

seiender Gegenstand. Damit sind die synthetischen Urteile a priori bei

Kant bestenfalls "unwiderlegbare Irrtümer".230

229 KdrV, B XVI. 230 Das eigentliche Kennzeichen des Subjektivismus und der Kantischen

Position hat B. Bolzano treffend mit den Worten ausgedrückt, "daß man

sich noch das Recht, zu urteilen, obgleich es bei dieser Ansicht nur als ein

Recht methodisch zu irren, erscheint, aus dem Grunde vorbehält, weil

unsere Irrtümer nie eine Widerlegung zu besorgen haben". (Wissenschafts-

lehre, I, I, § 44, a. a. O., S. 60.) B. Bolzano wendet dies zwar nicht un-

mittelbar auf die Kritische Philosophie selbst an, die er als "keinen gänz-

lichen, aber doch einen solchen Skeptizismus" bezeichnet, "der uns gerade

dort zweifeln macht, wo es am nötigsten für uns wäre, nicht zu zweifeln".

Doch ebenso wie sich das von Bolzano Gesagte auf den konsequenterweise

aus dem Kantischen Kritizismus sich ergebenden Subjektivismus und

177

Die kopernikanische Wendung Kants und damit sein gesamtes System

ruht also auf einer negativen und m. E. falschen Antwort auf eine Frage,

die wir uns nun von neuem stellen wollen:

Berühren wir in unserer aus unmittelbarem Erfahrungskontakt mit dem

Gegebenen gewonnenen philosophischen Wesenserkenntnis — und in

weniger ausdrücklicher Weise in unserem gesamten geistigen Leben —

die objektiven, notwendigen Wesenheiten der Dinge an sich mit einer

über allen Zweifel erhabenen Gewißheit und sind deshalb die

synthetischen Urteile a priori sicher wahr oder nicht?

Und weiter: Können wir auch konkrete, substantielle Wirklichkeiten in

ihrem Sein an sich erkennen, personales Sein, die Wirklichkeiten des

Raumes und der Zeit und alles, was "die Außenwelt" bildet — vor

allem aber: Können wir die reale, metaphysische Existenz Gottes

erkennen oder nicht?

Auf der Äquivokation von "Erfahrung" ruht die ganze

Kantische Kritik

Es ist mir unbegreiflich, wie die zentral wichtigen Unterscheidungen,

die Dietrich von Hildebrand in seinen erkenntnistheoretischen Werken

gemacht hat, nicht von der philosophischen Welt mit einem brennenden

Interesse aufgenommen wurden, sondern vielmehr weitgehend

unbeachtet blieben.231

Relativismus anwenden läßt, auf den er es selbst anwendet, gilt es für die

Kantische Philosophie selbst, zumindest für alle philosophischen bzw. alle

synthetischen Urteile a priori im Kantischen Verstande des Wortes und für

alle Urteile Über "Dinge an sich". 231 Für die Tatsache, daß die bei M. Scheler (in: Phänomenologie und

Erkenntnistheorie, a. a. O., S. 308 f.) und schon vor ihm grundgelegte,

von D. von Hildebrand aber in ganz neuem Sinne vollzogene

Unterscheidung zweier grundsätzlich verschiedener

Erfahrungsbegriffe von transzendentalphilosophischer Seite

weitgehend ignoriert wird, ließen sich viele Beispiele anführen. Daß

diese Frage nicht einmal diskutiert wird, ist ein trauriges Zeichen, da ja

die genannte Unterscheidung, wie Kant selbst sagt, "seiner gesamten

Kritik ein Ende bereiten würde", wenn sie Gültigkeit besitzt. Sogar in

dem an literarischen Auseinandersetzungen so reichen Werk E.

Heintels, Die 6eiden Labyrinthe der Philosophie, Bd. I, wird die Frage

178

Die Gründe dafür sind sehr vielschichtig, doch ist zweifellos der

Hauptgrund eine geistige Lähmung in Beziehung auf die

Wahrheitssuche, eine tödliche Getroffenheit der Philosophie in unserer

Zeit. Sonst müßten solche Unterscheidungen wie die Aufdeckung

zweier gänzlich verschiedener Begriffe von Erfahrung, durch die der

gesamte Ausgangspunkt der Kantischen Vernunftkritik geklärt, bzw.

hinweggenommen wird, als Ereignisse ersten Ranges innerhalb der

Philosophiegeschichte begrüßt oder wenigstens diskutiert werden.

Denn die ganze Vernunftkritik mit ihrem vermessenen Anspruch durch

die "kopernikanische Wendung" alle bisherige Philosophie als

"seichtes Geschwätz'' dargetan zu haben, beruht auf einer

Verwechslung zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen

einer fundamentalen Verwirrung im Erfahrungsbegriff bei Kant nicht

einmal erwähnt, obwohl Heintel im 2. Kapitel, § 29 (a. a. O., S. 556)

von der durch Kant angeblich erwiesenen Unmöglichkeit spricht, von

"Erfahrung" ausgehend zu philosophischer Erkenntnis eines

unmittelbar Gegebenen zu gelangen. Eine solche Auseinandersetzung

dürfte wohl für den 2. Band der "beiden Labyrinthe" zu erwarten sein!

In B. Liebrucks' gewaltigem Werk Sprache und Bewußtsein, im 4. Bd.:

"Die erste Revolution der Denkungsart", der ausschließlich von Kant

handelt, findet sich ebenfalls nicht der geringste Hinweis auf diese das

gesamte Kantische System in Frage stellende Unterscheidung.

Liebrucks spricht zwar von N. Hartmanns Metaphysik der Erkenntnis

und von E. Husserls sechster Logischer Untersuchung als von

"vorrevolutionären Theorien", aber eine saubere und präzise

Formulierung des alles entscheidenden Problems findet sich in seinem

Werk nicht, was angesichts des transzendentalen Idealismus des späten

Husserl freilich nicht so erstaunlich wäre. Aber daß Liebrucks M.

Schelers Philosophie nur einmal (a. a. O., S. 366) beiläufig abtut, an

allen entscheidenden Stellen, an denen er über das Erfahrungsproblem

spricht weder diese Frage selbst noch die Namen Schelers und

Hildebrands erwähnt, zeugt für seine Ignorierung des Unterschiedes,

der den Ausgangspunkt jedes transzendentalen Idealismus, wie er sich

bei Kant klar zeigt, als falsch erweist. In seinem Beitrag am philosophischen Kongreß in Wien: Die deskriptive

Methode Franz Brentanos, weist Theodorus de Boer in interessanten An-

deutungen auf die Beziehung zwischen Erfahrung und Wesensschau hin.

(Vgl. a. a. O., S. 194—199.)

179

Bedeutungen des Begriffs "Erfahrung''.232 Nachdem D. von Hildebrand

die Charakteristika der philosophischen apriorischen Erkenntnis und

ihrer Gegenstände herausgearbeitet hat, nämlich die strenge innere

Notwendigkeit233 der eingesehenen Zusammenhänge, die von uns am

Beispiel der im notwendigen Wesen des Zweifels gründenden

Zusammenhänge aufgewiesen wurde, nachdem er die unvergleichliche

Intelligibilität234 solcher wesensnotwendiger Zusammenhänge erwiesen

hat, die ein letztes inneres Verstehen, ein Einsehen derselben erlaubt,

nachdem er schließlich die absolute Gewißheit235 als ein drittes

Merkmal der apriorischen Erkenntnis aufgezeigt hat gegenüber aller

bloßen Wahrscheinlichkeit, stellt D. von Hildebrand die Frage, in

welchem Sinne solche notwendigen Zusammenhänge von jeder

Erfahrung unabhängig sein müssen.

Und hier stößt er auf eine fundamentale Verwirrung im

Erfahrungsbegriff, die in der Philosophiegeschichte zu vielen Irrtümern

geführt hat und ohne die Kants Vernunftkritik keinen Bestand hat.

"There are two completely different concepts of experience. The one

refers to observation of actual singular beings and to induction. The

other refers to every concrete disclosure of a such-being.

Corresponding to these two different meanings of experience there are

two equally different meanings of what is signified by the thesis, 'the

apriori is independent of experience'. Apriori means something

different in each case. As far as knowledge of an absolutely certain and

essentially necessary state of facts is concerned, all that is necessary is

independence from experience in the sense of observation

(Realkonstatierung) and induction. It is by no means necessary that

such knowledge be independent of experience in the sense of the

experience of such-being.236

Die Frage, ob es eine von jeglicher Erfahrung (auch von der

Soseinserfahrung) unabhängige Erkenntnis gibt, wird als vollkommen

verschieden von der über das Schicksal der Metaphysik entscheidenden

232 Vgl. Dietrich von Hildebrand, What is philosophy?, Kap. IV, 2 ff. 233 What is philosophy?, S. 64—69. 234 A. a. O., S. 69—70. 235 A. a. O., S. 70—86. 236 A. a. O., S. 88.

180

Frage erwiesen, ob es eine absolut gewisse Erkenntnis notwendiger und

intelligibler Sachverhalte gibt.237

"Moreover, no form of innatism can in any way explain the possibility

of apriori knowledge. Why should the essence of a being, by the fact

that it is known without any experience of its such-being, render this

essence more intelligible? Why should it enable us to grasp with an

absolute certainty necessary facts rooted in this essence?..."238

"Nor, again, does innate knowledge imply any guarantee of the truth of

a proposition..."239

Die Analyse der verschiedenen Rolle, die die Verwechslung dieser

beiden Formen von Erfahrung in der Wiedererinnerungslehre Platons

und der Lehre von eingeborenen Ideen spielt,240 erweist die

grundlegende Bedeutung dieser Unterscheidung, die man m. E. in

dieser Klarheit nirgends vor D. von Hildebrand findet. Vor allem aber

ist in unserem Zusammenhang das Licht von höchster Bedeutung, das

durch die erwähnte Unterscheidung auf die Mißdeutung des Apriori

durch Kant fällt, der den Nachweis der formalen Bedingungen der

Möglichkeit jeder Erfahrung für den Nachweis des Apriori hält,

welcher Ausdruck damit bei Kant eine ganze andere Bedeutung

erhält.241

"This formal, foundational role which certain contents and states of

facts play in relation to other objects, however, has no essential

connection with the apriori character in the sense in which the apriori

refers to absolutely certain, intelligible, and essentially necessary

truths. Absolute and essential necessity is a characteristic which certain

states of facts possess of themselves, without regard to their relations

to other states of facts... So long as I merely notice that a state of fact is

necessarily presupposed in all the remaining areas of knowledge, I have

not yet proved its essential necessity. . ."242

237 A. a. O., S. 89 ff. 238 A. a. O., S. 90 ff. 239 A. a. O., S. 90. 240 A. a. O., S. 90—92; 114 ff. 241 A. a. O., S. 92—97. 242 A. a. O., S. 94.

181

"Indeed, the mere fact that a proposition is an indispensable

presupposition for other facts is not even a proof for its truth, and much

less a proof, therefore, for its apriori character in the sense of absolutely

necessary, highly intelligible facts. And, on the other hand, there are

genuinely apriori states of facts which possess only a slight formal

function with respect to other facts, for example. . . . Willing

presupposes knowledge. . ."243

Ebenso erweist v. Hildebrand klar, daß es keinerlei charakteristisches

Merkmal des Apriorischen sein kann, daß es, wie Kant dachte, von

jedem Menschen vorausgesetzt oder erkannt wird.244

Eine weitere entscheidende Entdeckung v. Hildebrands:

Drei Soseinsarten

Die eigentliche Bedeutung und Würde der Soseinserfahrung, die uns

eine apriori-Erkenntnis in notwendige, intelligible Sachverhalte von

allgemeiner Gültigkeit ("in jeder möglichen Welt") erlaubt, kann aber

ausschließlich dann verstanden werden, wenn man jene für die

Erkenntnislehre und Metaphysik zentralen Einsichten vollzieht, in

denen v. Hildebrand gegenüber Husserl und auch gegenüber Scheler

grundsätzlich verschiedene Arten von Soseinseinheiten unterscheidet:

Denn ausschließlich eine gewisse Art von Soseinserfahrung erlaubt uns

apriorische Wesenseinsichten, nicht aber, wie Husserl gemeint hat, jede

Soseinserfahrung, wenn man dabei nur die reale Existenz einklammert.

Die Mißdeutungen der ursprünglichen Husserlschen epoché, zu denen

dieser selbst kam und die ihn in den transzendentalen Idealismus

führten, können m. E. nur dann vermieden werden, wenn man

Folgendes anerkennt: Es gibt ganz verschiedene Stufen der inneren

Sinnfülle von Soseinseinheiten, und nur die notwendigen

Soseinseinheiten erlauben uns, wenn wir sie einmal in einer

Soseinserfahrung kennenlernten, die Einsicht in notwendige

Wesenszusammenhänge, die in den "Dingen an sich" bestehen müssen.

v. Hildebrand unterscheidet rein zufällige Soseinseinheiten, die sich

sowohl vom innerlich Widersprüchlichen als auch vom gänzlich

243 A. a. O., S. 94—95. 244 A. a. O., S. 96—97.

182

Chaotischen abheben wie ein zufälliger Haufen von Steinen etc.245

Davon verschieden sind die "Unities of a genuine type",246 (Einheit des

echten Typus), die eine viel höhere Würde besitzen und einer

Beschreibung zugänglich sind, wie etwa die verschiedenen Tierarten

oder Pflanzengruppen. Bei diesen Einheiten gibt es ferner den

Unterschied zwischen konstitutiver Soseinseinheit und Erscheinungen

bzw. ästhetischer Wesenheit.

Gegenüber der zufälligen Einheit besitzt diese "Einheit des echten

Typus" eine ungekünstelte Allgemeinheit und einen viel höheren Grad

innerer Konsistenz. Aber sie erlaubt uns in keiner Weise, durch ein

Absehen von der konkreten Existenz zu apriorischen Einsichten in ihr

Wesen zu gelangen. Ein Absehen von der konkreten Existenz des

Seienden, an dem sie sich uns erschließt, würde zu keinerlei

Erkenntnissen von wissenschaftlichem Ernst führen, was sofort

deutlich wird, wenn wir uns ausdenken, ein Naturwissenschaftler

würde eine

genaue Analyse und Beschreibung einer bloß geträumten Pflanzen-

oder Käferart liefern.

Eine ganz neue Stufe der "Einheit" stellt die notwendige

Wesenseinheit247 dar. Und nur bei ihr ist auch ein Absehen von der

konkreten hic et nunc-Existenz des Seienden möglich, an dem uns eine

solche Wesenheit aufgeht, ohne daß dadurch die Einsicht in ihr

intelligibles, notwendiges und unerfindbares Sosein irgendwie an

Würde verlöre.248 Ebenso ist uns bei diesen und ausschließlich bei

diesen notwendigen Wesenseinheiten (wie Person und deren Akten,

Zahl, sittliche Werte etc.) die notwendig alle konkreten Gebilde

beherrschende Gültigkeit solcher Wesenheiten und damit die aus ihrem

Wesen notwendig fließende Beziehung zur konkreten Wirklichkeit

gegeben, was im dritten Kapitel des II. Teils gezeigt werden soll.

Nur auf dem Hintergrund der Entdeckung dieser wesensnotwendigen

Soseinseinheiten, deren nähere Charakteristik im dritten Kapitel

245 A. a. O., S. 100 ff. 246 A. a. O., S. 102 ff. 247 A. a. O., S. 110—140. 248 Genau dies übersieht E. Husserl, und dies führt ihn zu seinem späteren

transzendentalen Idealismus. Auch F. Lauers Kritik an Husserl geht, wie

Hildebrand zeigte, an diesem entscheidenden Punkte vorbei. Vgl. a. a. O.

S. 99 (Anm. 4).

183

gegeben werden soll, kann verstanden werden, wieso in vielen Fällen

die Soseinserfahrung der Ausgangspunkt für die Einsicht in

notwendige, allgemeingültige Sachverhalte und damit für wahre

synthetische Sätze a priori sein kann. Nur durch diese bei Husserl

fehlende Unterscheidung v. Hildebrands kann die den gesamten

Kritizismus Kants umstürzende und widerlegende Entdeckung zweier

Arten von Erfahrung in ihrem Gewicht gewürdigt werden, wie sie D.

von Hildebrand in aller Einfachheit darlegt:

"The term 'experience' has at least two meanings. If someone says 'I

cannot talk about love. I do not know what it is because I never have

experienced it, the sense of experience here is evidently quite different

from mere blunt observation. Here it means that something has never

disclosed itself in its essence to my mind, that it was never given to me

in a concrete moment which would have enabled me to grasp it in its

essence..."249

Wieso bei Objekten, die eine notwendige Wesenheit besitzen,

prinzipiell ein einziger Fall der Realberührung oder sogar die

Vergegenwärtigung ihres Soseins in einem Traum oder einer

Vorstellung genügt, um real bestehende und für alle wirklichen

Gegenstände voll gültige Sachverhalte einzusehen, kann erst im

folgenden Kapitel näher behandelt werden.

Was ist also die "Erfahrung", von der wir in der Philosophie ausgehen

sollen? Was ist die philosophische Methode?

"Wir nehmen das unmittelbar Gegebene ernst. Es ist ein fundamentaler

Irrtum zu glauben, wir müßten von vornherein annehmen, alles in der

Erfahrung Gegebene sei ein rein subjektiver Eindruck oder bestenfalls

eine bloße Erscheinung, die offenbar von dem wahren, objektiven

Wesen des Seienden abweicht... Was ist eigentlich dieses Gegebene?...

die data, von denen wir ausgehen, die wir erforschen und analysieren

müssen, sind mit dem Bild der Welt, das unsere naive Erfahrung uns

darbietet, durchaus nicht identisch. Ebensowenig erschöpft sich die

Philosophie in einer reinen Beschreibung aller Erfahrungstatsachen...

1. Zu dem Gegebenen, in dem Sinne, den wir dem Wort geben,

vordringen, heißt den Inhalt unserer naiven Erfahrung läutern und von

allen unbewußten Einflüssen der doxa reinigen."

249 A. a. O., S. 86.

184

Unter doxa sind hier alle Vorurteile und ihr unbewußt wie eine

Nebelwand wirkender Einfluß verstanden, der sich zwischen uns und

das gültige Antlitz der Wirklichkeit schiebt, auch die Abstumpfung für

die Werte und die Tiefendimensionen der Wirklichkeit — alles, was in

uns nicht aus dem unmittelbaren Kontakt mit der Wirklichkeit, so wie

sie uns in der Erfahrung gegeben ist, hervorgegangen ist.

2. "Der zweite Schritt zu dem Gegebenen, wie wir es verstehen, ...

besteht darin, jene verengenden Schranken des Akzidentellen

niederzulegen, die der pragmatische Standpunkt unserem Zugang zum

Seienden auferlegt... Doch das bis jetzt Gesagte genügt noch nicht, um

zu zeigen, was mit dem datum oder unmittelbar Gegebenen gemeint ist.

3. Der dritte, entscheidendste Schritt ist: "Wir verstehen unter dem

Gegebenen nicht die Beobachtung vieler akzidenteller, zufälliger

Tatsachen... es geht uns nicht um jene Erfahrung, die Francis Bacon

verficht..." (Das ist gerade der einzige Begriff von Erfahrung, den Kant

kennt.)... "Das Gegebene, das wir im Auge haben und jeglichen

Theorien, Hypothesen und Interpretationen entgegenstellen, ist immer

eine notwendige, intelligible Entität, der allein echte Gegenstand der

Philosophie: das Sein, die Wahrheit, die Erkenntnis, Raum, Zeit,

Person, Gerechtigkeit, Wert, Zahl, Liebe, Wille ... Es ist das Objekt,

das eine notwendige, höchst intelligible Wesenheit besitzt... Die

philosophische Erforschung dieser höchst intelligiblen, notwendigen

Data erschöpft sich keineswegs in einer bloßen Beschreibung, sondern

zielt auf die Einsicht in notwendige Sachverhalte, die im Wesen des

gegebenen Seienden gründen. Sie strebt nach einer absolut gewissen

Einsicht in diese notwendigen Sachverhalte, eine Einsicht, die ein

Schritt für Schritt tieferes Eindringen in das Wesen dieses Seienden

einschließt.''

Die Methode philosophischer Erkenntnis ist also weder

Realkonstatierung und Induktion, noch Deduktion aus Axiomen und

schon gar nicht spontane Anwendung von Begriffen, sondern Intuition

im Sinne von Wesenseinsicht:

"Es gibt viele intelligible Wesenheiten so grundlegend neuer Art, daß

sie niemals durch Deduktion, sondern einzig und allein durch eine

originäre Intuition erschlossen werden können. Für einen Blinden ist es

offenbar unmöglich zu wissen, was Farbe ist. Wir können das Wesen

185

der Farbe niemals von dem Begriff eines stofflichen Seienden

deduzieren und auf diese Weise einem Blinden den Begriff der Farbe

vermitteln... Dieselbe Feststellung gilt... für viele letzte data der

geistigen Ordnung obwohl das intuitive Erfassen hier keine

Sinneswahrnehmung ist, sondern ein geistiges Schauen von nicht

geringerer Unmittelbarkeit als eine Wahrnehmung. Es ist unmöglich,

das Wesen des Raumes, der Person, der sittlichen Tugenden oder des

Bewußtseins von dem Begriff des Seins oder den sogenannten ersten

Begriffen abzuleiten. Alle diese letzten data müssen wenigstens einmal

in einer ursprünglichen Intuition erfaßt werden, und die philosophische

prise de conscience muß auf dieser Urerfahrung aufgebaut werden...

Über das Verhältnis zwischen notwendiger Wesenheit und den in ihr

gründenden notwendigen Wesenssachverhalten gilt folgendes:

"Eine Definition kann niemals die Gehaltfülle einer notwendigen,

intelligiblen Wesenheit erschöpfen, sondern sie nur abgrenzen, indem

sie einige essentielle Merkmale anführt, die zur Unterscheidung dieser

Wesenheit von einer anderen genügen... Gewiß schließt die höchste

Form philosophischer Durchdringung die Einsicht in alle in der

Wesenheit gründenden notwendigen Sachverhalte und in alle

essentiellen Merkmale eines Seienden ein. Doch, diese Einsichten

setzen gerade ein intuitives Erfassen des Gegenstandes, eine volle

Kenntnisnahme seines Wesens voraus;... und wenn wir alle in dieser

Wesenheit gründenden notwendigen Sachverhalte und Merkmale

entdeckt und alle ihre essentiellen Kennzeichen herausgearbeitet

haben, müssen wir uns dennoch bewußt bleiben, daß das

Zusammenfügen aller dieser Wesenszüge das Wesen dieses Seienden

nicht notwendig erschöpft."250

Die verschiedenen Bedeutungen von apriori

Es muß als eine der größten erkenntnistheoretischen Leistungen und

zugleich als eine zentrale metaphysische Erkenntnis D. v. Hildebrands

bezeichnet werden, daß er auf dem Hintergrund der genannten

Unterscheidungen zweier Bedeutungen des Erfahrungsbegriffes zeigt,

daß im Laufe der Geschichte der Philosophie fast durchwegs das

entscheidende Apriori-Problem, die Kardinalfrage jeder

250 D. von Hildebrand, Christliche Ethik, S. 27, 28 ff.

186

Erkenntnislehre, mit im Vergleich dazu sekundären Problemen

vermengt und dadurch belastet wurde.

Die Kernfrage, ob es eine von Realkonstatierung und Induktion mit

ihrer im besten Fall höchsten Wahrscheinlichkeit unabhängige, absolut

gewisse Erkenntnis notwendiger Sachverhalte gibt, wird mit der ganz

anderen, sekundären Frage verwechselt, ob es eine von jeder

Erfahrung, auch von der Soseinserfahrung unabhängige Erkenntnis

gäbe.

Die dunkle und verhältnismäßig zweitrangige Frage, ob wir das

notwendige Sosein gewisser Dinge schon im Vollzug unseres

bewußten Seins "kennen" und nicht erst durch eine von außen

kommende Soseinserfahrung kennenlernen müssen, ist sicher ein

legitimes Problem. Vielleicht sind uns Einheit und die fundamentalen

Prinzipien des Seins, Substanz, Akzidenz, personales Sein — schon im

Vollzug unseres Bewußtseins selbst mitgegeben, so daß niemand

eigens eine Erfahrung suchen muß, in der sich diese Gehalte seinem

Geist erstmals erschließen, in der er sie "kennenlernt". Vielleicht gibt

es Dinge, die wir von "vornherein" schon kennen. Aber die bejahende

oder verneinende Antwort auf diese Frage würde absolut nichts für

unsere Kardinalfrage präjudizieren, wie von Hildebrand schlagend

nachweist.250a Weder würde die Angeborenheit gewisser Urgehalte ihre

objektive Gültigkeit beweisen können, noch würde sogar eine

vorgeburtliche Schau der "Ideen" als solche den Charakter notwendiger

Wesenheiten und der in ihnen gründenden notwendigen Sachverhalte

irgendwie erklären. Andererseits ist zweifellos für die Einsicht in den

notwendigen Sachverhalt, daß Wollen Erkenntnis voraussetzt oder gar,

daß Orange der Ähnlichkeitsordnung nach zwischen Rot und Gelb

liegt, der Erfahrungskontakt mit einem Seienden nötig, an dem sich uns

das betreffende notwendige und intelligible Sosein erstmalig erschließt,

das jedoch, wie die in ihm gründenden Sachverhalte, mit absoluter

Gewißheit erkannt werden kann.

Schon bei Aristoteles, noch mehr aber bei Kant kommt die Frage nach

einem wieder ganz verschiedenen "Apriori" zur Sprache: die Frage

nach den fundamentalsten Prinzipien, die alles übrige Seiende

"möglich" machen. Bei Kant verdrängt diese Frage ausdrücklich das

klassische Apriori-Problem, und die "Bedingungen der Möglichkeit der

Erfahrung" treten an die Stelle von in sich notwendigen, intelligiblen

250a Vgl.: What is philosophy?, S. 86—97.

187

Wesenheiten und Prinzipien, die nicht nur die Bedingung unserer

Erfahrung, sondern der Wirklichkeit "an sich" sind. Während

Aristoteles nach den obersten, durch sich selbst einleuchtenden

Prinzipien fragt, die für alles Sein und Erkennen die objektive

Voraussetzung bilden, leugnet Kant ja geradezu den in sich

notwendigen und intelligiblen Charakter der apriorischen Prinzipien,

spricht vielmehr — welch ungeheuerlicher Gedanke! — von der

"transzendentalen Zufälligkeit der Kategorien" und ersetzt den

Charakter der Notwendigkeit "in sich" durch den Charakter der

notwendigen Vorausgesetztheit von uns. Damit unterhöhlt er, wie

schon gezeigt, den ganzen Wahrheitsgehalt und Sinn dieser Prinzipien.

Nicht die Frage nach der Vorausgesetztheit gewisser Prinzipien für

alle übrigen Bereiche der Erfahrung und des Denkens, sondern die

innere Notwendigkeit und der objektive Bestand dieser fundamentalen

und anderer notwendiger Sachverhalte ist die Kardinalfrage der

Erkenntnislehre. Denn nur wenn diese Prinzipien objektiv wahr sind,

d. h. nur wenn die in ihnen behaupteten Sachverhalte an sich bestehen,

sind sie würdige Gegenstände der Erkenntnis. Sonst wären sie bloße

unwiderlegliche Irrtümer. Der Charakter der inneren Notwendigkeit

und Intelligibilität solcher Wesenssachverhalte, die für jede mögliche

Welt gelten, ist in keiner Weise in ihrer formalen Vorausgesetztheit für

alles übrige Seiende gegründet. Auch reichen notwendige

Wesenheiten, wie wir gesehen haben und noch deutlicher zeigen

werden, viel weiter als diese fundamentalsten Prinzipien.

Durch diese hier angedeutete Abhebung des klassischen

Apriori-Problems, das im Brennpunkt philosophischen Interesses

stehen muß, von ganz andersartigen und im Vergleich dazu

untergeordneten Problemen, hat D. v. Hildebrand einen der größten

erkenntnistheoretisch-metaphysischen Beiträge geleistet. Auch hat er

dadurch den Kampf gegen diese "an-sich"-seienden "apriorischen"

Wesensgesetze, ihr Verdrängtwerden durch ganz andere Dinge und ihre

eigentliche Natur unvergleichlich klar herausarbeiten können. Im

Zusammenhang damit konnte dann die verderbliche Doppeldeutigkeit

des Ausdrucks "Erfahrung" voll aufgedeckt werden.

Die Transzendenz in der Erkenntnis des "Dinges an sich" in der

Wesenserkenntnis nicht nur notwendig vorausgesetzt, sondern

einsichtig möglich

188

Hier sei ausdrücklich betont, daß in der Erkenntnis notwendiger

Wesenheiten der Dinge aufleuchtet, daß die Leugnung der

Erkennbarkeit der "Dinge an sich" nicht nur widersprüchlich ist, was

schon gezeigt wurde, sondern daß diese einsichtigermaßen besteht und

in der Wesenserkenntnis vorliegt.

Nicht nur Kant setzt voraus, daß er weiß, was Erkenntnis in ihrem Sein

wirklich ist, sondern dies kann man wirklich erkennen:

Wir sind in den bisherigen Untersuchungen zum Wesen der Erkenntnis

als einer so intelligiblen Gegebenheit durchgedrungen, daß sie

eindeutig etwas gänzlich Objektives, Autonomes ist, das niemals

"Schein" oder "Erscheinung von etwas" oder "bloßes Phänomen" oder

"bloß etwas Psychologisches'' sein kann, sondern sich als eine objektive

Wirklichkeit erweist, über deren objektives, autonomes Sein keinerlei

Täuschung möglich ist:

"Es ist völlig sinnlos zu sagen, was wir Gerechtigkeit nennen, sei

vielleicht nur eine Erscheinung und die zugrundeliegende Realität eine

Erfindung der Schwachen zu ihrem Schutz... die Philosophie wird nie

etwas dem vorphilosophischen Erkennen völlig Fremdes entdecken.

Sie kann unmöglich herausfinden, zwei so verschiedene Wirklichkeiten

wie Erkenntnis und Wille seien tatsächlich ein und dasselbe, oder

Gerechtigkeit sei in Wahrheit nichts anderes als ein Erzeugnis der

Verbitterung der Schwachen und Mittelmäßigen (d. h. dessen, was wir

genauer gesagt Ressentiment nennen). Die Feststellung, daß jemand,

der vorgibt, gerecht zu sein, tatsächlich nur von Ressentiment getrieben

ist, kann durchaus einen vernünftigen Grund haben; aber es ist absurd

zu sagen, Gerechtigkeit sei in Wirklichkeit nur ein Ressentiment der

Schwachen. Angenommen, man könnte behaupten, es gäbe auf dieser

Welt keine wahre Gerechtigkeit, so bliebe es dennoch absurd zu

erklären, die Gerechtigkeit als solche sei eine Erfindung der

Schwachen, um der Stärkeren Herr zu werden. Die erste Behauptung

kann wahr oder falsch sein, die zweite ist einfach sinnlos."251

Transzendenz als Überschreiten alles Erfindbaren und Zufälligen

Wir haben schon darauf hingewiesen, daß keineswegs alle

Soseinseinheiten, die wir im Bereich des Seienden finden, innere

Notwendigkeit besitzen. Es gibt viele zufällige Soseinseinheiten

251 D. von Hildebrand, Christliche Ethik, S. 16,18.

189

(willkürliche Gebilde wie ein Steinhaufen oder eine regellose Linie)

und andere, die zwar sehr sinnvoll sind, aber keineswegs innere

Notwendigkeit der Elemente besitzen. So sind eine Katze, ein Löwe,

ein Pferd oder eine Nation und ihr Charakter sinnvolle, aber nicht

notwendige Gebilde.

Der Gegenstand der philosophischen Erkenntnis sind jedoch, wie wir

gesehen haben, hauptsächlich innerlich notwendige Wesenheiten:

"Eine Entität von letzter, objektiver Sinnfülle und ontologischer

Wahrheit wie die Gerechtigkeit könnte nie erfunden werden. Der

wesenhaft zufällige Charakter jeder 'Erfindung'... ist mit der echten

Gehaltfülle und Dichte, mit der ontologischen Wahrheit der

Gerechtigkeit notwendig unvereinbar."252

Das unerschöpflich tiefe und breite Reich solcher streng notwendiger

Wesenheiten252a übersteigt alles Zufällige, alles "Erfindbare", bloß

Faktische. Deshalb schließt der Gegenstand philosophischer

Erkenntnis jede Möglichkeit schöpferisch-spontaner Tätigkeit im Sinne

der "Phantasie" oder des spontanen Hervorbringens radikal aus.

Nietzsches Auffassung der Erkenntnis als unbewußtes Schaffen

"Wir machen einen Versuch mit der Wahrheit! Vielleicht geht die

Menschheit daran zu Grunde! Wohlan!" Immer und immer wieder

spricht Nietzsche von der Willkür der Schaffenden, von der Willkür der

Erkennenden und von der eigenen Person und ihren Wünschen und

Begierden als dem Maß der "Wahrheit".

"Wahrheit heißt: für die Existenz des Menschen zweckmäßig... woran

ich zu Grunde gehe, das ist für mich nicht wahr, d. h. es ist eine falsche

Relation meines Wesens zu andern Dingen. Denn es gibt nur

individuelle Wahrheiten... eine absolute Relation ist Unsinn."

252 D. von Hildebrand, Christliche Ethik, S. 17, 18. 252a Wie H.-E. Hengstenberg mit Recht hervorhebt, handelt es sich in bezug

auf die Realisierung hier um eine "konditionale Notwendigkeit", nicht um

eine absolute wie beim göttlichen Wesen. Also: Wenn ein bestimmtes

Seiendes (etwa Ungerechtigkeit) existiert, muß notwendig auch Freiheit

etc. existieren. Die ideale Soseinseinheit selbst jedoch ist in sich notwendig

und nicht unter irgendeiner "Bedingung".

190

Wenn wir uns nach den Wurzeln dieses immer wieder durchbrechenden

totalen Relativismus bei Nietzsche fragen, so kommen wir zurück zu

Kant. Auch für Nietzsche ist es weniger die empirische Erkenntnis, die

ein Schaffen ist, als viel mehr (was schon Platon im Theaitetos als ein

Merkmal des Relativismus klar herausstellt) alle metaphysische,

ethische und religiöse Erkenntnis, die im Grunde angeblich ein bloßes

Schaffen darstelle.

Für Kant sind alle notwendigen Elemente der Wirklichkeit, ja in seinem

opus posthumum konsequenterweise sogar die gesamte Erfahrung ein

Produkt unseres Geistes, nur werden diese nach den strengen Gesetzen

unseres Verstandes erzeugt. Doch für Kant ist dieses "Schaffen"

unbewußt, jenseits unseres Bewußtseins.

Nietzsche schildert die völlige Aushöhlung des Wahrheitsbegriffes

durch die Transzendentalphilosophie, indem er nämlich mit dem

angemessenen Namen "Illusion" das bezeichnet, was Kant Wahrheit

genannt hat. Kant ist fast etwas "professoral" befriedigt mit seiner

"Lösung" des Erkenntnisproblems. Dabei bemerkt er nicht, wie es

einen unendlichen Unterschied macht, ob ich immer einen

notwendigen Irrtum begehe, oder ob ich die Wirklichkeit mit meinem

Geist erreiche, ob die Notwendigkeit meiner Erkenntnis nur eine

"Denknotwendigkeit" ist, also in einer Art "Zwangsidee meines

Geistes" oder im notwendigen Wesen der Dinge selbst begründet ist.

Vor allem aber liegt die Wesensnotwendigkeit überhaupt nicht in

meinem Denken, sondern einzig und allein in den Dingen selbst.253 Also

abgesehen davon, daß eine "Denknotwendigkeit" etwas vollkommen

Belangloses wäre und nicht im geringsten eine Lösung irgendeines

philosophischen Problems darstellt, läßt sie sich auch überhaupt nicht

aufrechterhalten: Nur wenn der Geist als etwas verstanden wird, was

wirklich etwas in sich selbst Notwendiges und Intelligibles erkennen

kann, wird er ernst genommen, sonst muß man ihn notwendig auf etwas

Unbewußtes und Ungeistiges zurückführen.

Und das hat sowohl Kant als auch Nietzsche getan: denn für Kant liegt

der Ursprung aller Notwendigkeit in einem unbewußten Teil des Ich,

in einem mir in keiner Weise gegebenen, sondern nur spekulativ

erschlossenen An-sich-Teil des Ich, bei dem man sich fragen muß, wie

253 Darauf hat besonders eindrucksvoll E. Husserl in den Logischen Unter-

suchungen wiederhole hingewiesen.

191

man dazukommt, ihn ich und gar reines oder transzendentales Ich zu

nennen und nicht meinen Leib oder das Unbewußte.

Diesen — zumindest in den Grundlagen seiner Gesetze — absolut

unbewußten Teil des Ich nennt Kant transzendentales Ich. Alle

Notwendigkeit der Erkenntnisse wurzelt bei ihm in den spontan

erzeugten Verstandeskategorien und deren "Synthesen", die bei

anderen denkenden Wesen total anders sein könnten. Damit ist die

Notwendigkeit nicht mehr im Wesen der Dinge begründet und besitzt

auch keinerlei innere Intelligibilität, sondern könnte prinzipiell auch

anders sein. Damit ist schon bei Kant die Notwendigkeit untergraben,

abgesehen davon, daß eine Denknotwendigkeit sowieso nur zu

"notwendigen Irrtümern" führen könnte. Ebenso ist es auch für

Nietzsche bis zu seinen Spätwerken eine dunkle und absolut blinde

Macht, der dionysische Urgrund der Seele, aus dem aller "Geist"

gezeugt ist.

Die Unmöglichkeit, Wesenserkenntnis als unbewußtes Schaffen zu

deuten und der Endpunkt der Phantasie

Noch tiefer sehen wir, wie nichtig eine bloße "Denknotwendigkeit" ist,

wenn wir bedenken, daß damit die ganze innere Gehaltfülle und

Intelligibilität der notwendigen Wesenheiten übersehen wird. Die

innere leuchtende Ratio, die Quelle allen geistigen Lebens und zutiefst

mit der Wesensnotwendigkeit zusammenhängend, ist die Intelligibilität

der Wesenheiten. Ich sehe: Dies ist so und muß so sein. Alle jene

Wesenheiten, wie z. B. des Zweifels, können gar nicht anders sein, sie

sind unerfindbar, unschaffbar und "unkonstituierbar". im

transzendentalen Sinn. Und hier ist auch der Grund, warum nicht nur

die Deutung des Erkennens als bewußtes Schaffen falsch ist, sondern

auch die Vorstellung unmöglich wird, als könne der Geist notwendige,

intelligible Wesenheiten unbewußt "erzeugen". Nein! Weder bewußt

noch unbewußt, weder von Menschen noch von Göttern können und

könnten jemals solche in sich notwendigen Wesenheiten erfunden oder

irgendwie "gemacht" werden.

Hier ist der absolute Endpunkt der Phantasie, welche man im Einfluß

von Nietzsche in der neueren Psychologie bis zum Überdruß als die

Grundkraft des Menschen preist. Die schöpferische Tätigkeit kann sich

nur im Bereich des Nicht-Wirklichen einerseits und des Zufälligen oder

nicht Wesensnotwendigen anderseits bewegen, nicht aber im Reich

192

notwendiger Wesenheiten, welche das Fundament der ganzen

Wirklichkeit bilden.

Also steht die Wirklichkeit in schroffem Gegensatz zu Kants

Auffassung. In der Erkenntnis des Notwendigen bin ich so rezeptiv,

hier muß ich so schweigen wie nirgends im Reich des bloß

Empirischen. Denn hier rühre ich nicht nur an das Sein, dessen Majestät

mir verbietet, willkürlich zu erfinden, sondern hier rühre ich sogar an

etwas Ewiges, etwas Notwendiges, an die "ewigen rationes" der Dinge,

die für alles konkrete Seiende in jeder möglichen Welt gelten und die

jeden Gedanken eines Schaffens ausschließen.254 Ja, und wenn dennoch

der Mensch auch hier noch wagt, zu phantasieren, dann schafft er nicht,

sondern er irrt. Die Unterwerfung unseres Geistes unter etwas

vollkommen Objektives und Notwendiges ist eine einzigartige

Transzendenz unserer Erkenntnis. Hier gilt in einer ganz einzigartigen

Weise: Das Maß unserer Erkenntnis, das Maß des Seins und des

Nichtseins sind nicht wir, sondern die Wahrheit.

Wir überschreiten uns hier und geben jegliche Willkür auf mit all ihrer

Hohlheit und Armseligkeit, und wir dringen in jene Objektivität und

Sinnfülle echter Wesenheiten ein, deren "ontologische" Wahrheit jedes

Schaffen ausschließt.

Transzendenz als Überschreiten des Wandelbaren: ewige Wahrheiten

Nietzsche schreibt über die ewigen Wahrheiten:255

"Unwillkürlich schwebt ihnen (= allen Philosophen) 'der Mensch,' als

eine aeterna veritas, als ein Gleichbleibendes in allem Strudel, als ein

sicheres Maß aller Dinge vor. Alles, was der Philosoph über den

Menschen aussagt, ist aber im Grunde nicht mehr als ein Zeugnis über

den Menschen eines sehr beschränkten Zeitraumes. Mangel an

historischem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen... sie wollen nicht

lernen, daß der Mensch geworden ist, daß auch das

Erkenntnisvermögen geworden ist;... seit... 4000 Jahren... mag sich der

Mensch, nicht viel verändert haben... alles aber ist geworden; es gibt

keine ewigen Tatsachen: so wie es keine absoluten Wahrheiten gibt. —

254 Dies wird in besonderer Weise den Gegenstand des folgenden Kapitels

bilden. 255 Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches, I, I, 2; Ne. We., Bd. 1, S.

448.

193

Demnach ist das historische Philosophieren von jetzt ab nötig und mit

ihm die Tugend der Bescheidung."

Man kann sagen, daß diese Worte Nietzsches vielleicht die verbreitetste

Gefahr, die schlimmste Drohung des Immanentismus in unserer Zeit

betreffen, den historischen Relativismus, der in (Übereinstimmung mit

Hegel und Heidegger) die Geschichte als den einzigen Maßstab der

Wahrheit anerkennt und die historisch-soziologische Lebendigkeit von

Ideen an die Stelle ihrer Wahrheit setzt.

Dieser historische Relativismus hängt auch mit den schon genannten

Formen des Immanentismus tief zusammen, und zwar vor allem damit,

daß man die Wahrheit schon bei Kant, erst recht bei Hegel, nicht mehr

in der Transzendenz des Urteils und in seiner Übereinstimmung mit

dem Sein begreift, sondern in das Denken selbst verlegt. Am

"klassischsten" hat deshalb Heidegger die These des Relativismus

formuliert, indem er sagt: Wahrheit ist "das Entdeckendsein des

Daseins", eine "Seinsweise des Menschen", und damit wird für ihn die

Geschichte abendländischer Metaphysik nicht mehr zu dem großen

Kampf zwischen wahren und falschen Thesen, zu der philosophia

perennis auf der einen Seite und zu den Angriffen darauf, die sich auf

der anderen Seite von Kallikles und Protagoras bis zu Heidegger

ständig fortziehen — sondern zur "Geschichte der Wahrheit", ja sogar

zur "Geschichte des Seins". Wenn nämlich das Denken des Menschen

selbst "die Wahrheit ist", dann ist natürlich seine Geschichte die

Geschichte der Wahrheit.

Doch das alles ist natürlich selbst in höchstem Maß widersprechend, da

ja Heidegger ständig für seine eigenen Behauptungen Wahrheit im

klassischen Sinn beansprucht und von den gegenteiligen Thesen —

etwa den meinen — offenbar behaupten muß, sie seien falsch.

Abgesehen davon, daß es überhaupt kein Anzeichen eines wesentlichen

Fortschrittes philosophischer Erkenntnis in der Geschichte gibt, so

beweise dieser ja nicht im geringsten, daß das Wachsen des

Erkenntnisvermögens, das wir etwa im Leben des einzelnen Menschen

eindeutig erleben, daß dieses Gewordensein unseres

Erkenntnisvermögens in irgendeiner Weise ein Gewordensein und eine

Wandelbarkeit seines Gegenstandes bedeutet. Mag unser

Erkenntnisvermögen tausendmal geworden sein, jene Gegenstände der

Erkenntnis, die wir in ihrer Notwendigkeit erfassen können, sind

dennoch wesenhaft ungeworden und von unserem Werden unberührt.

194

Das ist ja diejenige Dimension der Transzendenz unserer Erkenntnis,

von der Augustinus spricht, daß wir, gewordene und werdende und uns

wandelnde Menschen, uns selbst überschreiten und erkennend mit

Gegenständen in Berührung treten können, die nicht geworden sind,

sondern ewig gleichbleiben:255a Wir dringen hier durch alle

Wandelbarkeit, die dem nicht Wesensnotwendigen anhaftet, zu etwas

Ewigem, über alle Zeiten Gültigem vor, wir transzendieren das

Veränderliche und dringen zu einer ewigen Wirklichkeit vor, deren

Sein in dem eben beschriebenen Sinne ideal ist und zugleich alles Reale

"beherrscht", wie im 3. Kapitel deutlich werden wird (s. S. 766 ff.).

Wir meinen mit "ewigen Wahrheiten" also nicht bloß, daß die Wahrheit

selbst wesenhaft "statisch" ist und ewig wahr bleibt, was für jede

Wahrheit gilt. Denn auch jede Wahrheit über ein historisches Ereignis

bleibt in alle Ewigkeit wahr, so wesenhaft, daß Bonaventura mit Recht

die Meinung zurückweist, Gott könne ein einmal geschehenes Ereignis

durch seine Allmacht ungeschehen machen, weil dies in sich

unmöglich ist.256 Daß Napoleon in St. Helena gestorben ist oder daß

Goethe den Faust geschrieben hat und alle Wahrheiten über

geschichtliche Ereignisse bleiben in alle Ewigkeit wahr.

Doch die Wirklichkeit, auf die sich diese Wahrheiten beziehen,

verändert sich. Deshalb ist in diesen Sätzen ihre Beziehung zur Zeit

festgehalten. Beim Gegenstand der philosophischen Wahrheit sind es

auch unveränderliche Wirklichkeiten, ewige Tatsachen, wie Nietzsche

sagt, auf die sich meine Urteile beziehen. Das Wesen der Zeit, des

Raumes, der Gerechtigkeit, der Liebe, der Erkenntnis, des Zweifels

oder Urteils, der Person oder sittlicher Werte, der Freiheit und

Verantwortung — all dies bleibt in Ewigkeit und ist in keiner Weise

der Abhängigkeit von der Zeit unterworfen.

Der historische Relativismus nun meint interessanterweise gar nicht die

Wahrheiten über historische Ereignisse, wo noch eine gewisse — dem

zeitlich Geschehenden entsprechende — Dynamik der Wahrheit

255a An sich sollte man hier lieber von Zeitlosigkeit statt von Ewigkeit

sprechen, um die unendlich dauernde reale Existenz des absoluten Seins

von der zeitlosen "idealen Existenz" abzugrenzen. Im Anschluß an den

Ausdruck "ewige Wahrheiten" verwenden wir aber hier den Ausdruck

"ewig" statt "zeitlos". 256 Vgl. Bonaventura: I. Sent. 42 un. 3 Concl., t. I, p. 752—754. Vgl. auch

E. Gilson, Die Philosophie des hl. Bonaventura, Kap. 5, S. 192 ff.

195

festzustellen wäre, nämlich insofern die Wahrheit das Echo des

Seienden ist, tauchen immer neue Wahrheiten gleichsam auf, die dem

neu Geschehenden entsprechen.

Der historische Relativismus bezieht sich aber gerade auf die

metaphysischen und ethischen Wahrheiten, wo jeder Wandel auch im

Gegenstand der Erkenntnis ausgeschlossen ist. Dies leugnen aber die

historischen Relativisten, weil sie die Existenz notwendiger

Wesenheiten nicht anerkennen, sondern nur noch die schwankenden

Meinungen und Zeitmoden kennen und diese mit der Wahrheit selbst

verwechseln, weil sie außerdem den Unterschied zwischen Irrtümern

(die manchmal zeitbedingt sind) und Wahrheiten übersehen.

In Wirklichkeit aber setzen die historischen Relativisten auch in bezug

auf ethische und metaphysische Wahrheiten zumindest eine ewige

Wahrheit voraus: daß nämlich keine notwendigen und ewigen

Wesenheiten von Dingen existieren und erkannt werden können,

sondern daß die Wahrheit eben im Grunde nicht "jenseits der Köpfe der

Menschen" existiert, die in der Geschichte gedacht haben. Wenn diese

"ewige Wahrheit" keine ist, so ist der historische Relativismus

unhaltbar, wenn sie wahr wäre, ach, denn dann gäbe es ja eine ewige

Wahrheit... aber nun ist diese vorausgesetzte "ewige Wahrheit" eben

keine ewige Wahrheit, sondern ein alter Irrtum.

Absolute Gewißheit als "Beweis" der Transzendenz — Zwei Arten von

Evidenz und die Frage nach einem Kriterium für die Evidenz

In der absoluten Gewißheit, mit der ich notwendige Wesenheiten und

ihre Zusammenhänge und Merkmale erfassen kann, in der absoluten

Evidenz, in der sich mir ferner erschließt, daß diese allgemeinen und

notwendigen Wesenszusammenhänge in jedem konkreten Seienden "in

jeder möglichen Welt" verwirklicht werden müssen (wenn es zu jener

Wirklichkeit gehört, für die diese Wesensgesetze gültig sind),

transzendiere ich alle Ungewißheit jener "Meinungen", die sich

prinzipiell als eine "falsche Doxa" herausstellen können. Doch nicht

nur das: Diese Gewißheit ist auch von der inneren Intelligibilität

notwendiger Wesenheiten "geformt" und erhält überdies eine

einzigartige Würde durch die Einsicht in deren "Herrschaft" über alle

möglichen konkreten Seienden.

Es gibt auch eine Art der Gewißheit und Evidenz, die sich auf konkrete,

einzelne Tatsachen bezieht: Ich sehe hier eine rote Rose, ich weiß, daß

196

ich jetzt Kopfschmerzen fühle; diese Erkenntnisse mögen absolut

gewiß sein, aber sie beziehen sich weder auf allgemeingültige noch auf

bedeutsame Sachverhalte. Allerdings kann sich diese Art der Evidenz

auch auf viel tiefere Dinge beziehen, wie etwa, daß ich absolut gewiß

sein kann, einem Notleidenden helfen zu wollen etc. ... Diese Evidenz,

die sich auf konkrete, einzelne Sachverhalte bezieht, ist aber in jedem

Fall sehr verschieden von der durch die Intelligibilität notwendiger

Wesenheiten "geformten" Gewißheit. Diese ist eine viel "erfülltere"

Gewißheit, da die "Sache selbst" intelligibel und evident ist. Damit

hängt zusammen, daß diese Evidenz nicht nur auf eine

einzelne Person beschränkt ist wie die erste, sondern jeder Person und

auch jederzeit zugänglich ist. Die Evidenz, die sich auf einzelne,

zufällige Tatsachen bezieht, besteht nur für bestimmte Zeit und nur für

mich. Im nächsten Augenblick kann sie schon dem Gedächtnis mit der

diesem eigenen Unsicherheit übergeben sein. Zu den evidenten

Wesenssachverhalten kann ich hingegen jederzeit wieder zurückkehren

und von ihnen jene durch ihre innere Einsichtigkeit geformte

"lichtvolle Gewißheit" gewinnen, in der sie sich meinem Geist absolut

sicher in ihrem Bestand ausweisen. Man könnte nach dem Grund oder

einem Kriterium für diese Gewißheit fragen.

"These 'necessary' intelligible unities are so filled with ratio and with

intelligibility that their objective validity no longer depends upon the

act in which we grasp them. We saw before that if in a dream the such-

being of a triangle, of red, or of willing were clearly and unequivocally

given to me, the essence itself would not be merely dreamt... We must

now advance still further. With respect to the evident states of fact,

which are necessarily rooted in these essences, any possibility of an

invalidation through a distortion, or insufficiency of our mind, is

excluded. Here it would be senseless to say, 'Perhaps all these states of

facts are not valid, perhaps the insight that values presuppose a personal

being as bearer is only due to a distortion of our intellect, such as

craziness or idiocy'. . . . For the luminous intelligibility and rationality

of such insights precisely proves that we are neither crazy nor idiots.

Indeed the extreme form of insanity would be to affirm that dogs are

just, or that stones are charitable, or that Mars both exists and does not

exist . . . The unities in which these necessary states of facts are

grounded stand entirely on their own feet. All attempts to make these

insights relative are dashed to pieces by the meaningfulness and power

of the such-being in which they are rooted. If they are univocally and

197

clearly given, they do not need any criterion for the integrity of the act

that grasps them, but, on the contrary, they themselves justify the

grasping act as not contaminated by error."257

In dieser klassischen Stelle aus What Is Philosophy? wird auf die

eindeutige, volle Transzendenz hingewiesen, die in der absolut

gewissen Wesenserkenntnis liegt. Hier ist mir mit absoluter Evidenz

gegeben, wie ich im Erkennen mich intentionaliter selbst überschreite

und den meinem Geiste transzendenten Gegenstand selbst erfasse. Mit

absoluter Gewißheit erfasse ich hier eine Wesenheit und ihre alle unter

sie fallenden Seienden beherrschende Rolle, weshalb jede

Wesenserkenntnis eminent zugleich eine Realerkenntnis (nämlich aller

möglichen Seienden solchen Wesens) ist. Hier wird ganz deutlich, wie

ich mich erkennend selbst überschreite, ohne mich selbst zu verlassen,

wofür alle Körperbilder ganz unzureichend sind. Mit einer vollen

Unmittelbarkeit berühre ich hier ein Seiendes "an sich" mit einer

solchen Gewißheit, daß mir auch nicht mehr der geringste Zweifel an

seiner objektiven Existenz258 und an seinem wahrhaften Sosein

übrigbleiben kann. Dieses erweist sich als von mir und jeder Person

vollkommen unabhängig "an sich" seiend, und ich berühre es

evidentermaßen selbst und kein bloßes "Bild" davon.259

257 D. von Hildebrand, What is philosophy?, S. 115, 116. Vgl. auch a. a. O.,

S. 130, 131. 258 Die im dritten Kapitel näher zu erläuternde "ideale Existenz" dieser

notwendigen Wesenheiten und ihre eminente Beziehung zum real-kon-

kreten Sein in ihren verschiedenen Formen wird eindrucksvoll in What is

philosophy?, S. 114—140, herausgearbeitet. 259 O. Blaha hat in seinem Werk Das unmittelbare Wissen die Unmittel-

barkeit des Wissens betont gegenüber all den schon im ersten Teil

behandelten Versuchen, unser Wissen bzw. Erkennen bloß auf

"Abbilder" der Wirklichkeit einzuschränken. Sosehr mir die

Ablehnung der Abbildtheorie und das Aufzeigen ihrer inneren

Widersprüchlichkeit ganz richtig scheint, so wenig kann ich den a. a.

O., S. 88 ff., vorliegenden Lösungsversuch und Begründungsversuch,

wie ein Einzelsubjekt unmittelbar um etwas wissen könne, teilen.

Erstens scheint mir die Transzendenz der Erkenntnis die

Verschiedenheit von Subjekt und Objekt sowie die Verschiedenheit der

individuellen Subjekte und ihrer Akte geradezu einzuschließen und

198

Hier zerschellt jeder Zweifel, jede Möglichkeit des Wahnsinns und

damit die Auf-mich-Zurückgeworfenheit, die im Zweifeln liegt. In

jedem Menschen, der sich nach der Wahrheit sehnt, lebt eine unstillbare

Sehnsucht, das Seiende — und zwar je höher es steht, desto mehr, im

höchsten Sinne Gott— mit einer über jeden Zweifel erhabenen

Gewißheit so zu berühren, wie es in sich ist. Und gerade dies ist in der

Wesenserkenntnis einsichtigermaßen für wichtigste Wirklichkeiten

möglich. Hier liegt deshalb ein Triumph der Transzendenz über die

Immanenz, ein "Bankett des Geistes".

Diese absolut gewisse Erkenntnis enthüllt schließlich am radikalsten

die Unmöglichkeit, die "Transzendenz" der Erkenntnis durch die

Übereinstimmung eines "immanenten Vorgangs" mit einer

"transzendenten Wirklichkeit" zu erklären, wie dies etwa gegenüber

Augustinus Leibniz mit seiner Auffassung der geschlossenen Monaden

und der ihnen allein bekannten, immanenten "Ideen" versuchte, in

denen die ewigen Wahrheiten "repräsentiert" würden, wie dies ferner

Nikolai Hartmann mit seiner Lehre von der partiellen Deckung der

Seins- und Denkkategorien versucht hat und viele andere Denker auch.

Auf diese Weise könnte man sogar aus der Transzendentalphilosophie

noch eine Transzendenzphilosophie machen; dies aber ist absolut

unmöglich.

nicht irgendwie auf eine ontische Einheit, auf ein Einssein oder eine

Art gemeinsames, Leben" zurückgeführt werden zu können, was auch,

wie schon im 1. Teil angedeutet wurde, nicht eher die unmittelbare

Erkenntnis einer Sache begründen könnte.

Zweitens scheint mir nur an den "archimedischen Punkten" wirklich

diejenige Unmittelbarkeit des Erkennens vorzuliegen, in der ich mit

alle Täuschungs- und Irrtumsmöglichkeit ausschließender Gewißheit

die "Sache selbst", wie sie "an sich" besteht, berühren kann. Dies

scheint mir nicht ohne weiteres bei der Erkenntnis der Außenwelt und

überhaupt jeder Erkenntnis unmittelbar möglich zu sein, was ja den

Gegenstand dieses zweiten Teiles der Arbeit bildet. Drittens scheint mir auch (was O. Blaha, a. a. O., S. 84 ff., bestreitet), daß

es eine durch Sinne vermittelte, wenn auch in anderer Hinsicht

unmittelbare Wahrnehmung gibt, deren "Abhängigkeit" von aus der

Außenwelt eindringenden kausalen Einwirkungen mir unleugbar scheint.

(Vgl. dazu den Abschnitt über "mittelbare, unmittelbare und unvermittelte

Erkenntnis", S. 217 ff.)

199

Transzendentalphilosophie als Immanentismus und Gegensatz zur

Transzendenzphilosophie

Den Gegenstand der Transzendentalphilosophie bilden alle jene

"apriorischen" Elemente, die nach Kant Setzungen unseres Geistes,

Folgen einer Verstandestätigkeit, der transzendentalen Apperzeption

bzw. einer transzendentalen Synthesis sind260 und Erfahrung allererst

möglich machen. Kant selbst stellt seine Transzendentalphilosophie in

Gegensatz zu einer Transzendenzphilosophie und warnt vor einem

"transzendenten Gebrauch der Verstandesbegriffe", wonach diese nicht

bloß auf die Erscheinung, sondern auf die "Dinge an sich" gehen

würden. Dasselbe finden wir bei seiner Behandlung des

"transzendentalen Scheins", der nach ihm eben in nichts anderem

besteht als darin, daß die transzendentalen Ideen (Welt, Seele, Gott) als

transzendente Gegenstände betrachtet werden. An diesem

Immanentismus ändert m. E. auch die Kritik der praktischen Vernunft

nichts, was sich durch viele Stellen bei Kant belegen ließe.260a

Aber nicht nur betrachtet Kant selbst die Transzendentalphilosophie als

Gegensatz zur Transzendenzphilosophie, sondern sie ist auch ihr

Gegensatz, und es gibt keine Brücke zwischen beiden, so viele auch zu

bauen versucht werden.261

"Transzendentale Prinzipien" des Verstandes in dem Sinne, den Kant

dem Ausdruck "transzendental" gegeben hat, verlieren nämlich jeden

möglichen Sinn, falls es dem Geist gegeben ist, die notwendigen

Wesenheiten der transzendenten "Dinge an sich" zu erfassen. Die

transzendentalen Prinzipien und Grundsätze etc. sollen ja die

notwendigen Elemente erklären, die immer als transzendent und an sich

notwendig betrachtet wurden und deren Transzendenz eben Kant

leugnet. Die transzendentale Erklärung "unserer Erkenntnis von

260 Vgl. bes. KdrV, B 25, B 36, B 117—136. 260a Vgl. KdrV, A 95, a. a. O., S. 170; A 98, a. a. O., S. 172; A 99, a. a. O.,

S. 173. KdrV, B 642 ff. 261 Solche Versuche, über den transzendentalen Ansatz wieder zu einer

Philosophie des Transzendenten zu kommen, finden sich seit Kant in

großer Zahl. W. Cramers Philosophie etwa stellt einen solchen Versuch

dar. Vgl. dazu H. Wagner, Ist Metaphysik des Transzendenten möglich?

Die verschiedenen Versuche brauchen hier nicht aufgezählt zu werden.

200

Gegenständen, insofern diese a priori möglich sein soll", baut also

notwendig auf der Leugnung notwendiger, transzendenter Wesenheiten

der Dinge, die uns als solche bekannt seien, auf. Die durch eine

"transzendentale Synthesis" gebildete "Einheit des Gegenstandes" ist

also genau der unvereinbare Gegensatz zur in sich notwendigen,

transzendenten Einheit des Gegenstandes. "Transzendent" heißt: dem

Seienden an sich eigen, "transzendental": vom Subjekt auf das Objekt

projiziert.

Wenn wir wissen, was die transzendenten, notwendigen Wesenheiten

der "Dinge an sich" sind, so ist der Transzendentalphilosophie

schlechthin jeder Boden genommen. Wenn wir Recht haben, so

empfangen und erkennen wir in ebenso rezeptiver Weise das Wesen der

Dinge, das Notwendige in ihnen wie ihre empirischen Gestaltungen.

Wenn Kant Recht hat, so ist uns das unserem Geiste transzendente

Wesen der Wirklichkeit radikal unbekannt; wir müssen nur die Dinge

immer unter bestimmten allgemeinen Formen begreifen; was wir

wissen, ist höchstens noch, unter welchen unserem Geist immanenten

Anschauungs- und Denkformen wir die Welt betrachten müssen bzw.

wie wir nach ebenso immanenten Vernunftgesetzen der praktischen

Vernunft denken müssen (Postulate), wie die Wirklichkeit "an sich"

sei.262 Oder wir können von der Transzendentalphilosophie aus nur

durch den krassesten philosophischen Dogmatismus, in dem sich

überdies einige Widersprüche verbergen, behaupten, es gäbe eine

völlige oder partielle "Deckung" zwischen transzendentalen Prinzipien

und transzendentem Sosein der Dinge.

Wenn wir ferner die transzendenten notwendigen Wesenheiten der

Dinge an sich erkennen können, ist notwendigerweise der Gegenstand

der "Transzendentalphilosophie" eine Konstruktion bzw. "Erfindung"

Kants. Und hier sollte man nicht vergessen, daß Kant die

"kopernikanische Wendung" und damit die gesamte

Transzendentalphilosophie als eine Hypothese erklärt hat.263 Es steht

also nicht eine von unserer Seite behauptete Einsicht gegen eine von

Kants Seite behauptete Einsicht, sondern Einsicht gegen hypothetisch

angesetzte Möglichkeit.

262 Dies geht m. E. ganz deutlich aus vielen Stellen bei Kant, bes. aus KdrV,

B 846, 847 (A 818, 819) hervor! 263 KdrV, B XVI.

201

Alle notwendigen Eigenschaften der Gegenstände unserer Erkenntnis

sind nach unserer Auffassung also keineswegs nur Eigenschaften

bloßer Gegenstände unseres Anschauens und Denkens (keine bloßen

Eigenschaften der "Erscheinungen"), sondern wirkliche Eigenschaften

der "Sachen selbst", der "Dinge an sich", die sich unserem Geiste

erschließen. Es gibt nach der letztlich evidenten

Transzendenzphilosophie keine transzendentalen Anschauungs- und

Denkformen etc. Die einzige "transzendentale Bedingung" unseres

Erkennens (außer in dem früher besprochenen Bereich wirklicher

"Erscheinungen", die auf den Menschen bezogen sind) ist nichts

anderes als die Fähigkeit des Geistes, zu erkennen, das heißt die

Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis, in der er ein Seiendes

intentionaliter "haben" kann: Die notwendigen Eigenschaften der

Dinge aber sind ebensosehr im objektiven Sein der Dinge gegründet

wie ihre empirischen Zufälligkeiten.

Dieses transzendente Sein und Wesen der Dinge ist nach Kant unserem

Geiste vollkommen unbekannt, und diese These bildet den

Ausgangspunkt der Transzendentalphilosophie. Diese von ihm selbst

als solche erklärte Hypothese aber glauben wir durch die eines äußeren

Kriteriums weder fähige noch bedürftige Einsicht widerlegen zu

können, daß die transzendente Wirklichkeit, wie sie in sich selber ist,

unserem Geiste durchaus, wenn auch nicht in ihrer Totalität, zugänglich

ist.

Die Erkenntnis des "Dinges an sich" im "Cogito"

Erfahrung und unmittelbare Erkenntnis des "Dinges an sich" im

"Cogito": eine dreifache Äquivokation im Erfahrungsbegriff Kants

An dem früher analysierten konkreten Beispiel des Zweifels erschließt

sich uns leicht, daß metaphysische Erkenntnis keineswegs, wie Kant

gemeint hat, von aller Erfahrung unabhängig sein muß.

Es ist klar, daß philosophische Erkenntnis von Erfahrung im Sinne

Humes unabhängig sein muß, nämlich von bloßer Realkonstatierung

und Induktion. Insofern meine Erkenntnis auf "Fakten" angewiesen ist,

die mir in der Erfahrung gegeben sind, welche ich nur "konstatieren"

kann, welche nicht in sich notwendig, noch intelligibel, noch —

zumindest im einzelnen Fall — in ihrer objektiven, vom erkennenden

Subjekt und seinen Akten unabhängigen Existenz mit absoluter

202

Gewißheit gegeben sind, muß philosophische Erkenntnis von ihr

unabhängig sein.264

In der unmittelbaren Erfahrung meiner selbst als erkennendes Subjekt

handelt es sich aber zunächst um einen einzigartigen Fall von

Realitätserfahrung, in der mir mein objektives, von keinem Zweifel

entthronbares Sein in einem gegenüber der empirischen Erfahrung ganz

neuen Sinn von Erfahrung gegeben ist, nämlich als bewußter Vollzug

meines bewußten Seins, nicht also als etwas, von dem ich Erfahrung

habe, sondern was ich selbst bewußt erfahre, erlebe und bin.265 Die

Realität, die mir in dieser Erfahrung gegeben ist, kann unmöglich eine

"Erscheinung" sein, sondern das konkrete, reale Sein meiner eigenen

Person und ihrer Akte ist mir als solches in der Erfahrung meines

bewußten Seins unmittelbar zugänglich als das Sein, ohne dessen volle,

metaphysische Realität aller Schein und alle "Erscheinung'' absolut

undenkbar und unmöglich wären.

Doch über diese unmittelbare Gegebenheit meiner eigenen konkreten

Akte hinaus ist mir auch deren "Sosein", deren intelligible Wesenheit

mitgegeben, die ich zwar einmal in konkreter Erfahrung kennenlerne,

die aber dann davon unabhängig mir bekannt ist, so daß ich nicht

faktisch zweifeln muß, um eindeutig und klar das notwendige Wesen

des Zweifels vor meinem Geist zu sehen und zu erforschen. Es handelt

sich hier also keineswegs um eine bloße Konstatierung und

Beschreibung eines faktischen Seienden, sondern um ein tiefes,

innerliches Eindringen in die intelligible Soseinseinheit von etwas. Von

einer solchen an einem konkreten Seienden gewonnenen

"Soseinserfahrung" braucht die philosophische Erkenntnis in keiner

Weise unabhängig zu sein, um zu notwendigen und allgemeingültigen

Urteilen zu gelangen. Im Gegenteil: Je mehr solcher erfahrungsmäßiger

Kontakte ich besitze, je mehr vorphilosophischen Erfahrungskontakt

ich mit der Wirklichkeit habe, desto tiefer leuchten mir die intelligiblen

Wesenheiten auf, nach deren notwendiger Sinngestalt das Konkrete

"regiert" wird.266

264 Vgl. dazu D. von Hildebrand, What is philosophy?, S. 86 ff. 265 Dies hat Leibniz vielleicht am schärfsten formuliert. Vgl. Nouveau

Essais, IV, VII, § 7. Die philosophischen Schriften, Bd. V, S. 202/3. 266 Dies wird im 3. Kapitel der vorliegenden Untersuchung behandelt wer-

den (s. S. 290 ff.).

203

Solche Soseinserfahrung, in der ich notwendige Wesenheiten berühre,

und die Realerfahrung durchdringen sich in der philosophischen

Erfassung des "Cogito" derart, daß ich das eine nicht vom andern

trennen kann, so verschieden auch das unmittelbare Innesein meiner

Person im Vollzug meiner Akte von den Einsichten in das notwendige,

allgemeingültige Wesen dieser Akte ist.

In der Erkenntnis des "si fallor, sum" oder des "Cogito, sum" gewinne

ich keineswegs ausschließlich eine Wesenseinsicht, wie wenn ich

erkenne, daß Farbe notwendig Ausdehnung einschließt. Ich vollziehe

darin vielmehr ausdrücklich jenes einzigartige Innesein meines

konkreten, individuellen Seins, das ich ständig bin. In der Erkenntnis

des "Ich bin und darin kann mich niemand täuschen" mache ich mir

gleichsam ausdrücklich bewußt, mache ich zum Gegenstand meiner

Erkenntnis, daß ich immer um mich und meine Akte weiß. Dieses

bewußte Innesein der voll realen eigenen Person kann ich

ausschließlich bei meiner eigenen Person gewinnen. Nur zu mir selbst

habe ich jenen staunenswerten Zugang.

Zugleich ist mir jedoch nicht ausschließlich mein konkretes Sein und

meine Akte gegeben, sondern untrennbar damit verknüpft erkenne ich

auch deren notwendiges Wesen, das, was das Vollzugsbewußtsein als

solches wesenhaft vom "Bewußtsein von etwas" unterscheidet, den

Unterschied zwischen dem substantiellen Sein der Person und den von

dieser Person getragenen Akten, das Wesen von Zweifel, Erkennen

usw. In dieser unmittelbaren Berührung meiner eigenen Akte dringe ich

zu ihrem notwendigen Wesen vor und damit überschreite ich mein

eigenes konkretes Sein; ich erkenne nicht nur das Wesen "meines"

Bewußtseins, das ich nun deskribieren müßte: Nein! Ich dringe ein in

eine letzte, unzurückführbare, notwendige und intelligible Einheit und

sehe: Ohne zu urteilen, zu erinnern, zu wollen, zu wissen usw. kann

niemand zweifeln. Es ist "das Urteil", "die Erkenntnis", "der Wille"

selbst, die ich erkenne. Und zu einer solchen absolut gewissen Einsicht

in notwendige und allgemeingültige (in jeder möglichen Welt gültige!)

Wesenssachverhalte kann ich nur durchdringen, weil mir nicht nur das

konkrete Sein meiner Akte gegeben ist, nicht nur etwas, was "in mir"

ist, sondern etwas, was jenseits meiner selbst und in sich notwendig

ist.267

267 Dies wird im folgenden Kapitel näher behandelt werden.

204

In seinem Werk De vera religione führt Augustinus den Gedankengang

des "si fallor, sum" aus und zeigt dann noch deutlicher als sonst die

einzigartige Transzendenz, die im Cogito liegt, und besonders, wie ich

im "Cogito" zu ewigen Wahrheiten über das Wesen der Erkenntnis und

der Wahrheit gelangen kann:

"Deinde regulam ipsam quam vides concipe hoc modo: Omnis qui se

dubitantem intelligit, verum intelligit, et de hac re quam intelligit cenus

esr. Omnis ergo qui utrum sit veritas dubitat, in se ipso habet verum

unde non dubitet; nec ullum verum nisi veritate verum est. Non itaque

oportet eum de veritate dubitare qui potuit undecumque dubitare. Ubi

videntur haec, ibi est lumen sine spatio locorum et temporum et sine

ullo spatiorum talium phantasmate. Numquid ista ex aliqua parte

corrumpi possunt, etiamsi omnis ratiocinator intereat aut apud carnales

inferos veterescat? Non enim ratiecinatio talia facit, sed invenit. Ergo

antequam inveniantur, in se manent, et cum inveniuntur, nos innovant."

(De vera religione, XXXIX, 73, 205—207.)

In diesen wenigen Sätzen ist wieder eine ganze Welt von Wahrheit

unerschöpflich ausgedrückt. Jeder, der erkennt, daß er zweifelt, erkennt

ein wirklich Seiendes und ist dieser Wirklichkeit sicher. In dem Wort

verum drückt sich das ganze ontologische und existentielle Gewicht der

Erkenntniswahrheit, ihre Urbezogenheit auf das Sein aus, mit dem

übereinstimmend sie eben "Erkenntnis" ist und mit dem

übereinstimmend Urteile wahr sind. Jeder also, der an der Wahrheit

zweifelt, findet in sich etwas Wirkliches (seinen Zweifel) und etwas

Wahres (daß er nämlich zweifelt), an dessen Wahrheit er nicht zweifeln

kann. Auch erkenne ich nicht nur eine konkrete Wirklichkeit (meinen

Zweifel), sondern einen notwendigen Wesenssachverhalt (omnis

ergo...), eine ewige Wahrheit, d. h. eine Wahrheit, die nicht nur selbst

unvergänglich ist, wie jede Wahrheit, sondern die sich auch auf einen

ewig gültigen Sachverhalt bezieht. Also kann niemand an der Wahrheit

zweifeln, auch wenn er an allem sonst zweifelt. Diese ewige Wahrheit,

dieser Wesenssachverhalt ist jedoch nicht mit mir selbst identisch und

nicht wandelbar, also überschreite ich mich in seiner Erkenntnis selbst

und zugleich auch die Zeit und alles Veränderliche. Dieses "Licht" der

Wahrheit geht niemals unter, auch wenn ich stürbe. Ich habe eine

unmittelbare, absolut gewisse Erkenntnis von etwas, was ich nicht

205

selbst bin, was von meiner Person verschieden ist, nämlich diese

ewigen Wesenszusammenhänge:

"Noli foras ire, in teipsom redi; in interiore homine habitat veritas; et si

tuam naturam mutabilem inveneris, transcende et teipsom. Sed

memento cum te transcendis, ratiocinantem animam te transcendere.

Illuc ergo tende, unde ipsum lumen rationis accenditur. Quo enim

pervenit omnis bonus ratiocinator, nisi ad veritatem? cum ad seipsam

veriras non utique ratiocinando perveniat, sed quod ratiocinantes

appctunt, ipsa sit. .. Confitere te non esse quod ipsa est."

In sich selbst soll man nicht deshalb einkehren, weil diese Wesenheiten

ein "Teil" unseres Seins wären, sondern weil man die Wahrheit

unmittelbar mit dem Geiste berühren kann; dies gilt überall dort, wo es

sich um keine empirische Wahrheit handelt, die uns durch die Sinne

vermittelt wird, sondern um jene unmittelbare Berührung, in der der

Geist manche Gegenstände umfassen kann, wie notwendige

Wesenheiten. Steige über deine wandelbare Natur hinaus: Suche über

dir: Transcende teipsum! — Dieses Licht ewiger Wahrheiten würde

bleiben, auch wenn jeder Mensch unterginge: Denn solches mache ich

nicht, sondern ich finde es vor! Gerade also diese apriorischen, über der

empirischen Erfahrung notwendigen Wesenheiten sind etwas, was

unabhängig von meiner Person besteht und was nicht mein Geist

hervorbringt. Ja, genau im Gegensatz zu Kants Immanentismus verhält

es sich in Wirklichkeit: diese innerlich notwendigen Wesenheiten sind

die einzige — wesenhaft zeitlose — Quelle allgemeingültiger Urteile.

Dies ist auch keine Theorie, sondern eine letzte Einsicht, ja die

grundlegendste metaphysische Einsicht überhaupt: Die rezeptive

Transzendenz der Erkenntnis wird gerade dort mit unbezweifelbarer

Gewißheit erkannt, wo sie ewige, in sich notwendige

Wesenszusammenhänge erfaßt, über die sie nicht getäuscht werden

kann: Auch bevor diese erkannt waren, ruhen sie vollkommen in sich:

in se manent. Wir finden sie und bringen sie nicht hervor, ja, wir können

sogar erfassen: Niemand, selbst Gott nicht, könnte sie verändern; sie

sind nicht geschaffen und könnten niemals gemacht werden — als

Synthesis, welche die transzendentale Apperzeption hervorbrächte!

Wenn wir uns ihnen zuwenden, erneuern sie uns, das heißt: Alles Licht

in unserer Erkenntnis kommt daher, daß wir uns diesen in sich

notwendigen Zusammenhängen zuwenden, an denen alle Wirklichkeit

206

teilhabt — oder besser: Auch alles Licht, was in den konkreten,

individuellen Personen ist, kommt daher, daß sie teilhaben in der einen

oder anderen Weise an diesem "unvergänglichen Licht".

Ob es sich um einen notwendigen Sollenszusammenhang handelt (etwa

daß ich nicht verleumden, nicht ehebrechen und nicht morden oder daß

ich in der Liebe das Glück des Geliebten über das Glück meiner Einheit

mit ihm stellen soll) oder um einen notwendigen Seinszusammenhang

(etwa daß niemand zweifeln kann, ohne ein Bewußtsein von dem

Sachverhalt zu haben, an dessen Bestehen er zweifelt oder daß es kein

Zweifeln ohne ein von diesem selbst verschiedenes, reales Ich geben

kann) — weder die Notwendigkeit, noch die Allgemeingültigkeit, noch

die Intelligibilität solcher Wesenszusammenhänge wird irgendwie

dadurch gefährdet, daß ich einmal erfahren haben muß, was "Liebe"

ist, oder daß ich einmal einem konkreten Zweifel "begegnet" sein muß,

um ihr "Sosein" kennenzulernen.268

Deshalb irrt sich Kant in dem pseudoplausiblen, dogmatischen

Ausgangspunkt seiner ganzen Philosophie: nämlich in der Meinung,

die philosophische Erkenntnis, die auf Notwendiges und

Allgemeingültiges gerichtet ist, müsse von jeder Erfahrung unabhängig

sein. Sie muß in Wirklichkeit ausschließlich von Erfahrung im Sinne

von Realkonstatierung und Induktion unabhängig sein. Einer der

philosophischen "Ausfälle" Kants ist gerade dieser sein Ausgangspunkt

von dem Vorurteil Humes, in der Erfahrung sei uns nur reine Faktizität

268 Es wird als eines der größten Verdienste des frühen Husserl und noch

mehr Max Schelers zu betrachten sein, die Soseinserfahrung als eine vom

positivistischen Erfahrungsbegriff unberücksichtigte und für die

Philosophie klassische Erkenntnisquelle hervorgehoben zu haben. Vgl. M.

Scheler, Phänomenologie und Erkenntnistheorie, G. W., Bd. 10, besonders

S. 380 f. Doch hier muß wiederum mit allem Nachdruck darauf

hingewiesen werden, daß weder Husserl noch Scheler diejenige Erfahrung

philosophisch voll entdeckt haben, die allein als Ausgangspunkt für

philosophische Einsichten in Frage kommt: nämlich diejenige eines

Seienden, das eine notwendige Wesenheit besitzt. Dort allein besitzt die

Einklammerung des Daseins, von der Husserl und Scheler sprechen, ihre

Anwendbarkeit. Vgl. D. von Hildebrand, What is philosophy?, Kap. IV, 2:

The many meanings of the concepts apriori and experience, 3 C: Necessary

essential Unity. Zur Frage des Erfahrungsbegriffs bei Hildebrand und

Scheler vgl. auch die ausführlichere Darstellung und eigenständige

Behandlung dieses Themas in B. Wenisch, Der Wert, II, 1—4.

207

gegeben, niemals seien uns im Bereich dessen, was uns anschaulich

selbst gegeben ist und als solches erschließt, intelligible Wesenheiten

und notwendige Wesenszusammenhänge als solche bekannt. Daß

dieses Grunddogma Kants, das er mit Hume und dem Empirismus und

Positivismus teilt, falsch ist, wird im Laufe der Untersuchungen dieses

und des nächsten Kapitels immer deutlicher werden.

Die absolut gewisse Erkenntnis des Subjekts des Zweifels als

"Ding an sich"

Es wurden aus den vielen gegen Descartes erhobenen Einwänden

diejenigen Kants und Nietzsches als exemplarisch herausgehoben.

"Also erkenne ich mich nicht selber dadurch, daß ich mir meiner als

denkend bewußt bin, sondern wenn ich mir die Anschauung meiner

selbst, als in Ansehung der Funktion des Denkens bestimmt, bewußt

bin."

Kant konnte niemals eine andere Erkenntnisart erfassen als diejenige,

in der mir ein konkretes Einzelding durch die Sinnesorgane oder analog

durch andere "Funktionen" vermittelt bekannt wird (und selbst diese

mißdeutet er).

"Tanta est tamen cogitationis vis, ut nec mens quodam modo se in

conspectu suo ponat, nisi quando se cogitat: ac per hoc ita nihil in

conspectu mentis est, nisi unde cogitatur, ut nec ipsa mens, qua

cogitatur quidquid cogitatur, aliter possit esse in conspectu suo, nisi se

ipsam cogitando. Quomodo autem, quando se non cogitat, in conspectu

suo non sit, cum sine se ipsa nunquam esse possit, quasi alia sit ipsa,

alind conspectus eius, invenire non possum. Hoc quippe de oculo

corporis non aburde dicitur: ipse quippe oculus loco suo fixus est in

corpore, aspectus autem ejos in ea quae extra sunt tenditur, et usque ad

sidera extenditur. Nec est oculus in conspectu suo; quandoquidem non

conspicit se ipsum, nisi spcculo objecto, unde jam locuti sumus269: quod

nan fit utique quando se mens in suo conspectu sui cogitatione

269 Vergleiche a. a. O. X, Kap. 3—5, wo Augustinus noch ausführlicher die

hier gemachten Unterschiede klarmacht, wie überhaupt De Trinitate die

tiefsten und reichhaltigsten Stellen über Geist, Seele, Erkenntnis, Be-

wußtsein enthält, die man nur finden könnte.

208

constituit. Numquid ergo alia sua parte aliam partem suam videt, cum

se conspicit, sicut aliis membris nostris, qui sunt oculi, alia membra

nostra conspicimus, quae in nostro possunt esse conspectu? Quid dici

absurdius vel sentiri potest? Unde igitur aufertur mens, nisi a se ipsa?

et ubi ponitur in conspectu suo, nisi ante se ipsam? Non ergo ibi erit ubi

erat, quando in conspectu suo non erat; quia hic posita, inde sublata est.

Sed si conspicienda migravit, conspectura ubi manebit? An quasi

geminatur, ut et illic sit et hic, id est, et ubi conspicere, et ubi conspici

possit; ut in se ipsa sit conspiciens, ante se conspicua?

Nihil horum nobis veritas consulta respondet: quoniam quando isto

modo cogitamus, nonnisi corporum fictas imagines cogitamus, guod

mentem non esse paucis certissimum est mentibus, a quibus potest de

hac re veritas consuli. Proinde restat ut aliquid pertinens ad ejus

naturam sit conspectus ejus, et in eam, quendo se cogitat, non quasi per

loci spatium, sed incorporea conversione revocetur: cum vero non se

cogitat, non sit quidem in conspectu suo, nec de illa suus formetur

obtutus, sed tamen noverit se tanquam ipsa sit sibi memoria sui.270

In dieser Stelle kommt klar zum Ausdruck, was Kant nach dem Vorbild

der Empiristen niemals verstehen konnte: daß ich mir selbst nicht "als

bestimmt durch die Funktionen meines Denkens" bewußt bin, sondern

ohne alle Bestimmung durch "Funktionen" (welcher

Maschinenausdruck!) mich selbst berühre, wie ich bin, mir selbst ohne

alle Vermittlung bewußt bin.

Kant konnte weder das transzendierende Wesen des Erkennens

verstehen (obwohl er es in jedem Satz voraussetzt), in dem ich bei der

Erkenntnis notwendiger Wesenheiten den wirklichen Gegenstand

unmittelbar in seinem autonomen Sein erfasse, noch verstand er die

durch keine Sinne vermittelte, durch keine Kausalreihen und

"bestimmende Funktionen" hindurchgehende unmittelbare Berührung

meines eigenen konkreten personalen Seins in jenem alle meine Akte

begleitenden Vollzugsbewußtsein sowie auch in meinem erkennenden

Erfassen meiner selbst als "Objekt" meiner Erkenntnis.

Kant hätte niemals auf seinen irrigen Gedanken verfallen können, wir

könnten auch unser eigenes Sein niemals in dem erkennen, was wir "an

sich" sind, hätte er nicht in den Körperbildern gedacht, die Augustinus

mit dem Bilde des "Auges", das sich niemals selbst sehen kann, wie es

ist, verwirft und als haltlose Konstruktionen entlarvt.

270 Augustinus, De Trinitate, XIV, VI, 8.

209

"sine ulla phantasiarum vel phantasmatum imaginatione ludificatoria

mihi esse me idque nosse et amare certissimum est. Nulla in his veris

Academicorum argumenta formido dicentium: Quid si falleris? Si enim

fallor, sum. Nam qui non est, utique nec falli potest; ac per hoc sum, si

fallor. Quia ergo sum, si fallor, quo modo esse me fallor, quando certum

est me esse, si fallor? Quia igitur essem, si fallerer, etiamsi fallerer,

procul dubio in eo, quad me novi esse, non fallor. Consequens est

autem, ut etiam in eo, quod me novi nasse, non fallar. Sicut enim novi

esse me, ita etiam hoc ipsum, nosse me. Eaque duo cum amo, eundem

quoque amorem quiddam tertium nec imparis aestimationis eis quas

novi rebus adiungo. Neque enim fallor amare me, cum in his quae amo,

non fallar; quamquam et si illa falsa essent, falsa me amare verum esset.

Nam quo pacto recte reprehenderer et recte prohiberer ab amore

falsorum, si me illa amare falsum esset? Cum vero illa vera atque certa

sint, quis dubitet quod eorum, cum amantur, et ipse amor verus et certus

est? Tam porro nemo est qui esse se nolit, quam nemo est, qui non esse

beatus velit. Quo modo enim potest beatus esse, si nihil sit?"271

In dieser Formulierung steht man vor der atemberaubenden Größe eines

Denkers, der von einer so ursprünglichen Beziehung zu den Sachen

selbst, von einer so ehrfürchtigen Liebe zur Wahrheit und von einer

solchen Tiefe des Geistes ist, daß dagegen der gesamte deutsche

Idealismus nur als eine künstliche Konstruktion erscheint. In dieser

Erkenntnis meines eigenen Seins, die kein Irrtum sein kann, liegt kein

Eingesperrtsein in sich selbst, kein Immanentismus, sondern vielmehr

eine einzigartige Form der Transzendenz. Es ist gerade ein Gipfel von

Transzendenz, die Welt individueller, realer Substanzen in dem

archimedischen Punkte meiner eigenen Existenz zu erfassen, mich so

zu erkennen, wie ich objektiv bin, mit einer Gewißheit, die eben sicher

ist, keine "Erscheinung" zu erfassen, sondern einen Punkt der realen

Welt, der nicht mehr bloß "Erscheinung von" sein kann, da ich

wiederum nur mir "erscheinen" könnte, was zu einem unsinnigen

regressus ad infinitum führen würde, ja noch mehr: In dieser inneren

Widersprüchlichkeit drückt sich nur aus, was ich unmittelbar erkenne,

und nicht nur aus einer logischen Unstimmigkeit erschließe: "Nam qui

non est, utique nec falli potest." Hier zeigt es sich, daß ich diese

unmittelbare Gewißheit nicht nur als eine "Wahrnehmung", als ein

271 De civitate Dei, XI, XXVI.

210

Innesein meines eigenen Seins besitze, sondern auch als eine

Wesenseinsicht in den Zusammenhang zwischen substantiellem Sein

des "Ich" (sum) und dem Akt des Irrens bzw. der Täuschung, der

wesenhaft ein Subjekt voraussetzt; dies ist eine veritas aeterna, eine

ewige Wahrheit, die sich auf alle denkenden Wesen und auf alle

Täuschungen und Zweifel bezieht.

In dieser absolut gewissen Erkenntnis meiner eigenen, substantiellen

Existenz, die notwendig für meinen Zweifel vorausgesetzt ist, "habe ich

tatsächlich das Feld der Phainomena überschritten und bin in das Reich

der Noumena eingetreten". Daß es sich hier eindeutig um eine absolut

gewisse Erkenntnis meiner selbst als "Dinges an sich" handelt und daß

wirklich Kants Kritik durch diese augustinische Einsicht widerlegt

wird, sieht man noch deutlicher ein, wenn man sich die drei evident

verschiedenen "Sachen" vor Augen hält, die mit dem Begriff

"Bewußtseinsinhalt" gemeint werden können.

Drei Bedeutungen des Begriffs "Bewußtseinsinhalt"272

Unter "Bewußtseinsinhalt" kann man drei grundlegend verschiedene

Dinge verstehen:

1. Einmal kann man damit auf alle jene Wirklichkeiten hinweisen, von

denen ich ein Bewußtsein habe, wie im ersten Kapitel des ersten Teils

der Arbeit gezeigt wurde: die Natur, andere Personen, Zahlen, Zeit etc.

Hier ist der Ausdruck "Bewußtseinsinhalt" von vornherein irreführend,

wenn man die Transzendenz des Erkennens bedenkt, wie sie bisher

ausgeführt wurde. Ein Haus, ein Berg oder gar andere Personen, von

denen ich ein Bewußtsein haben kann, sind auch unabhängig davon,

"Objekt" eines "Bewußtseins von" zu sein, vollkommen autonome

Wirklichkeiten, die "an sich" sind. Sie werden auch in keiner Weise zu

"Teilen" meines Bewußtseins, wenn ich von ihnen Kenntnis nehme,

bzw. sie erkenne. Das "Bewußtsein von" besteht hier ja gerade darin,

erkennend an dem teilzuhaben, was verschieden ist von dem bewußten

Sein selbst.

2. Gerade wenn wir das objektive, an sich seiende Sein anderer

Personen betrachten, können wir auch den Fall des "fallor" in

272 Ich stütze mich im Folgenden auf Analysen D. von Hildebrands, die

dieser besonders in seinen erkenntnistheoretischen Vorlesungen (1964 in

Salzburg) hervorhob.

211

Erwägung ziehen, wie er in einem Traum oder einer Halluzination

vorliegt: daß nämlich diese Wirklichkeiten, die "an sich zu sein"

"beanspruchen", nur scheinbar "an sich" sind, nicht aber in

Wirklichkeit.

Es zeigt sich also die Möglichkeit, daß diese Wirklichkeiten nicht "an

sich" sind, sondern nur die elende Seinsweise besitzen, nichts andern

als "Objekte unseres Bewußtseins von" zu sein. Dies aber führt zu

einem gänzlich vom ersten verschiedenen Begriff von

"Bewußtseinsinhalt". Wir können nämlich im Unterschied zu

wirklichen Personen geträumte "Personen" "bloße Bewußtseinsinhalte"

nennen. Hiermit haben wir also im Unterschied zum ersten einen

negativen, einschränkenden Begriff von "Bewußtseinsinhalt".

Und für Kant, der die völlige Unerkennbarkeit von "Dingen an sich"

behauptet, müssen auch alle objektiven Erscheinungen (wie der

humane Aspekt der Außenwelt) zu "bloßem Schein" herabsinken, da es

keine Dinge mehr gibt, als deren "gültiges, wahres Antlitz" die

"Erscheinungen" betrachtet werden könnten; dies alles wurde schon

besprochen. Jetzt aber gilt es, hervorzuheben, daß sich in der genialsten

Formulierung des augustinisch-cartesischen Grundgedankens: "si

fallor, sum" besonders plastisch gerade auf der Möglichkeit, daß die

Gegenstände unserer bewußten Akte nicht real und bloße

"Bewußtseinsinhalte" sind, die absolut gewisse und voll reale bewußte

Existenz abhebt, die wir in einem dritten Sinn

3. "Bewußtseinsinhalt" nennen können, welcher Begriff dann die

bewußten Akte einer Person und deren bewußte Existenz bedeutet. Der

Akt des "fallor" kann nun unmöglich wieder als ein möglicherweise

irrealer "Gegenstand" betrachtet werden, von dem ich Bewußtsein

habe. Einer Erscheinung kann nichts erscheinen, und nicht einmal

einem realen Akt als solchem kann etwas erscheinen, sondern nur mir,

dem notwendig von jedem Irrtum vorausgesetzten realen, lebendigen,

substantiellen Subjekt der Akte der Erkenntnis oder des Irrens und der

Täuschung kann etwas erscheinen. Was also Augustinus im "si fallor,

sum" so unwiderstehlich aufdeckt, ist die Wahrheit, daß die volle

metaphysische Realität der Person und des Aktes der Täuschung in

keiner Weise dadurch getrübt wird, daß der Gegenstand, von dem ich

ein Bewußtsein habe, nicht existiert und ein bloßer

"Bewußtseinsinhalt" im zweiten Sinn des Wortes ist. Diese Erkenntnis

hat Descartes wieder aufgegriffen, und es ist abwegig, darin auch nur

die geringste Wendung zum Subjektivismus sehen zu wollen. Denn die

212

reale Person ist ja im höchsten Sinn objektiv und real seiend, mehr als

irgendein materieller Gegenstand. Nur die Verwechslung zwischen

"Bewußtseinsinhalt" im zweiten Sinn mit der Person und ihren realen

Akten konnte zu dem Mißtrauen verführen, diese als bloß "subjektiv",

als bloß "psychologisch" dem metaphysischen Sein entgegenstellen zu

wollen. Denn ein "bloß subjektives Sein", d. i. ein bloß einem Subjekt

scheinendes Sein, ist allerdings die schwächste Form des Seins, die

jeden metaphysischen Ernstes entbehrt. Gänzlich im Gegensatz dazu

ist der Akt der Täuschung und das diesen tragende Sein des Subjekts in

höchstem Maße real und objektiv und metaphysisch seiend.

Kant machte nun das Vollzugsbewußtsein in ein "Bewußtsein von"

umdeuten, das sich nicht von dem Bewußtsein unterscheidet, das ich

von äußeren Dingen in der Wahrnehmung habe.273 Er möchte alles mir

273 In De Tninitate von Augustinus stehen Gedanken über die Seele, die

eine vollkommene Widerlegung Kants bieten; dort weist Augustinus

auf dieselben schon damals verbreiteten Irrtümer hin, deren Opfer

Hume und Kant waren und die auf einer falschen Analogie mit Körpern

beruhen (a. a. O. X, III, 5):

"Quid ergo amat mens, cum ardenter se ipsam queerit ut noverit, dum

incognita sibi est?... se ipsam? Quomodo, cum se nondum noverit, nec

quisquam possit amare quod nescit?

An ei fama predicavit speciem suam, sicut de absentibus solemus

audire? Forte ergo nan se amat, sed quod de se fingit, hoc amat, longe

fortasse aliud quam ipsa est: aut si mens sui similem fingit, et ideo cum

hoc figmentum amat, se amat antequam noverit; quia id quod sui simile

est intuetur: novit igitur alias mentes ex quibus se fingat, et genere ipso

sibi nota est. Cur ergo cum alias mentes novit, se non novit, cum se ipsa

nihil sibi possit esse praesentius? Quod si ut oculis corporis magis alii

oculi noti sunt, quam ipsi sibi; non se ergo quaerat nunquam inventura.

Nunquam enim se oculi praeter specula videbunt: nec ullo modo

putandum est etiam rebus incorporeis contemplandis tale aliquid

adhiberi, ut mens tanquem in speculo se noverit.

At in ratione veritatis aeternae videt quam speciosum sit nosse

semetipsam, et hoc amat quod videt, studetque in se fieri? quia quamvis

sibi nota non sit, notum tamen ei est quem bonum sit, ut sibi nota sit.

Et hoc quidem permirabile est, nondum se nosse, et quam pulchrum sit

se nosse, jam nosse..." Vgl. auch die folgenden Stellen, die S. 215 zitiert werden.

213

Gegebene in die Welt der "Erscheinung" bannen und merkt die von

Augustinus und Descartes offenbar gemachte Unmöglichkeit nicht, daß

es ein das Sein der "Dinge an sich" verfehlendes Bewußtsein von etwas

(bloßen Erscheinungen) geben kann ohne ein voll reales und als solches

bewußtes, selbst gegebenes Sein, dem allein etwas erscheinen kann und

das unmöglich wieder Erscheinung sein kann. Gerade die Realität

dieses Aktes und des ihn notwendig "tragenden" Subjekts ist es ja, was,

wie Augustinus zeigt, jeden Schein und jede Erscheinung erst möglich

macht. Dies ist kein Schluß, sondern eine unmittelbare Einsicht in einen

wesensnotwendigen und zugleich real erlebten Zusammenhang.

Wenn Kant also meint, dieses "Vollzugsbewußtsein" sei mir niemals

unmittelbar selbst gegeben und könne als solches nie Gegenstand der

Reflexion sein, fällt er den von Augustinus klargelegten Körperbildern

zum Opfer und tritt in Widerspruch zu den erwähnten

Wesenszusammenhängen und unmittelbar gegebenen Sachverhalten.

Die absolut gewisse Einsicht in die "geistige Substantialität"

der Person

"An cum se nosse amat mens, non se quam nondum novit, sed ipsum

nosse amat; acerbiusque tolerat se ipsam deesse scientiae suae, qua vult

cuncta comprehendere? Novit autem quid sit nosse, et dum hoc amat

quod novit, etiam se cupit nosse. Ubi ergo nosse suum novit, si se nen

novit? Nam novit quod alia noverit, se autem non noverit: hinc enim

novit et quid sit nosse. Quo pacto igitur se aliquid scientem scit, quae

se ipsam nescit? Neque enim alteram mentem scientem scit, sed se

ipsam. Scit igitur se ipsam. Deinde cum se quaerit ut noverit,

quaerentem se jam novit. Jam se ergo novit. Quapropter non potest

omaino nescire se, quae dum se nescientem scit, se utique scit. Si autem

se nescientem nesciat, non se quaerit ut sciat. Quapropter eo ipso quo

se quaerit, magis se sibi notam quam ignotam esse convincitur. Novit

enim se quaerentem atque nescientem, dum se quaerit ut noverit."274

"quia non ita dicitur menti, Cognosce te ipsam, sicut dicitur, Cognosce

Cherubim et Seraphim: de absentibus enim illis credimus, secundum

quod caelestes quaedam potestates esse praedicantur. Neque sicut

dicitur, Cognosce voluntatem illins hominis: quae nobis nec ad

sentiendum ullo modo, nec ad intelligendum prsesto est, nisi

corporalibus signis editis; et hoc ita, ut magis credamus quam

274 Augustinus, De Trinitate, X, III, 5.

214

intelligamus. Neque ita ut dicitur homini, Vide faciem tuam: quod nisi

in speculo fieri non potest. Nam et ipsa nostra facies absens ab aspectu

nostro est, quia non ibi est quo ille dirigi potest. Sed cum dicitur menti,

Cognosce te ipsam, eo ictu quo intelligit quod dictum est, Te ipsam,

cognoscit se ipsam; nec ob aliud, quam eo quod sibi praesens est."275

Wenn es aber eine solche unmittelbare Selbsterkenntnis, ein solches

unvermitteltes und unmittelbares Innesein des eigenen Seins gibt, so ist

dieses nicht möglich bzw. keine wirkliche Erkenntnis unseres "Seins

an sich", wenn wir nicht wissen können, ob wir vielleicht "Gehirn,

Herz, Feuer, Aether oder irgendeine andere körperliche Substanz—

oder ein Akzidenz dieser Substanzen sind". (Vgl. a. a. O. X, VII, 9 ff.):

"Nullo modo autem recte dicitur sciri aliqua res, dum ejus ignoratur

substantia. Quapropter, cum se mens novit, substantiam suam novit; et

cum de se certa est, de substantia sua certa est. Certa est autem de se,

sicut convincunt ea quae supra dicta sunt. Nec omnino certa est, utrum

aer an ignis sit, an aliquod corpus vel aliquid corporis. Non est igitur

aliquid eorum: totumque illud quod se jubetur ut noverit, ad hoc

pertinet ut certa sit non se esse aliquid eorum de quibus incerta est,

idque solum esse se certa sit, quod solum esse se certa est. Sie enim

cogitat ignem aut aerem, et quidquid alind corporis cogitat. Neque ullo

modo fieri posset ut ita cogitaret id quod ipsa est, quemadmodum

cogitat id quod ipsa non est. Per phantasiam quippe imaginariam cogitat

haec omnia, sive ignem, sive aerem, sive illud vel illud corpus,

partemve illam, seu compaginem temperationemque corporis; nec

utique ista omnia, sed aliquid horum esse dicitur. Si quid autem horum

esset, aliter id quam cactera cogitaret, non scilicet per imaginale

figmentum, sicut cogitantur absentia, quae sensu corporis tacta sunt,

sive omnino ipsa, sive ejusdem generis aliqua; sed quadam interiore,

non simulata sed vera praesentia (non enim quidquam illi est se ipsa

praestantius): sicut cogitat vivere se, et meminisse, et intelligere, et

velle se. Novit enim haec in se, nec imaginatur quasi extra se illa sensu

tetigerit, sicut corporalia qusodam tanguntur. Ex quorum cogitationibus

si nihil sibi affingat, ur tale aliquid esse se putet, quidquid ei de se

remanet hoc solum ipsa est."276

275 Augustinus, a. a. O., X, IX, 12. 276 Augustinus, De Trinitate, X, X, 16.

215

Man könnte diese unvergleichlich tiefen Einsichten des hl. Augustinus

auch so formulieren: Wir selbst haben von unserem Sein, das wir selbst

sind, ein einzigartiges "Vollzugs"-Bewußtsein eben dieses unseres

Seins, das wir auch zum "Gegenstand" unserer Erkenntnis machen

können. Wir wissen in unmittelbarer Weise von uns. Hingegen haben

wir von allen körperlichen Substanzen in keiner Weise jene

unmittelbare Kenntnis, die wir im Vollzug unseres eigenen Seins von

uns selbst besitzen, und sind daher auch keine von ihnen. Wir stellen

sie vielmehr als Objekte eines "Bewußtseins von" dunkel vor und

können sie gar nicht anders—etwa "in einer wahren und unmöglich

eingebildeten inneren Gegenwart" erleben, in der wir uns selbst

erleben. Da wir also von unserem eigenen Sein jenes unmittelbare

Wissen im Vollzug dieses unseres Seins besitzen, während alle

körperlichen Substanzen (oder eine einzelne von diesen, die wir nach

dem Materialismus angeblich sein sollen) uns wesenhaft ausschließlich

als Objekte eines "Bewußtseins von" gegeben sind, können wir also

keine solche materielle Substanz sein, sondern wir selbst, unser eigenes

Sein ist eben ausschließlich das, von dem wir unmittelbar im Vollzug

wissen.

Dem kann noch hinzugefügt werden: Wenn wir uns wirklich in das

Wesen dieses keineswegs bloß erschlossenen, sondern uns unmittelbar

im Vollzug selbst gegebenen Seins vertiefen, das wir selbst als Träger

und Subjekt unserer Akte sind, dann sehen wir ein: Alle Akte setzen

notwendig ein sie tragendes Subjekt voraus, das notwendig substantiell

und nicht wieder bloß ein Akzidenz sein kann. Dieses bewußte,

lebendige, intentional auf Gegenstände gerichtete Sein ist ferner

wesenhaft eine geistig-bewußte Substanz und keine materielle. Es ist

uns im Wesen des räumlich ausgedehnten Seins einerseits gegeben, daß

es nicht Träger geistiger, einfacher Akte sein kann, wie es uns

umgekehrt im anschaulich gegebenen bewußten Sein als

wesensnotwendig aufleuchtet, daß dieses voll substantiell real, aber

niemals räumlich ausgedehnt sein kann.277 Dies leuchtet noch deutlicher

auf, wenn wir versuchen, irgendeines der auf alles materiell Seiende

anwendbaren Prädikate auf unsere Akte und uns selbst anzuwenden.

Eine schwere oder leichte Freude, ein längerer oder kürzerer

Erkenntnisakt, ein in Höhe, Tiefe und Breite meßbarer

277 All dies wird in einem Buch über Leib — Seele — Unsterblichkeit

ausführlich vom Verfasser behandelt werden.

216

Willensentschluß, ein dickes oder färbiges Erinnern oder Subjekt—all

dies ist wesenswidersprüchlich und unsinnig.

Ohne hier weiter ausführen zu können, was nur eine eingehende

Analyse über "Leib und Seele" leisten könnte, sei hier in diesen

knappen Andeutungen darauf hingewiesen, daß tatsächlich im "Co

gito" die absolut gewisse Erkenntnis des nicht-materiellen,

intentional-bewußten substantiellen Seins des Subjekts des Zweifels

und Denkens erreicht werden kann; nicht nur in der Wesenserkenntnis

als solcher, sondern auch in der unbezweifelbaren Erkenntnis des

realen Subjekts und seines substantiell-geistigen Seins gewinnen wir

synthetische Wahrheiten a priori und können damit den Kantischen

Einwänden gegen das Cogito begegnen. Es handelt sich dabei weder

um Trugschlüsse (Paralogismen) noch überhaupt um Schlüsse, sondern

um die unmittelbare Einsicht in das Wesen des uns eindeutig in seiner

Realität "an sich" gegebenen, eigenen substantiellen Seins im "si fallor,

sum".

Unmittelbare, mittelbare und durch die Sinne vermittelte

Erkenntnis

Im Vergleich zu Schlußfolgerungen, in denen ich etwa aus dem Rauch

auf die Existenz eines Feuers schließe, hat die Wahrnehmung (des

Rauches etwa) den Charakter der Unmittelbarkeit. Die Selbstpräsenz

des Gegenstandes, sein anschauliches Sich-Entfalten vor unserem Geist

und der erkenntnisspendende, fruchtbare Kontakt, in dem ich Neues

kennenlerne (im Unterschied etwa zur Vorstellung), sind Merkmale der

in diesem Sinne unmittelbaren Erkenntnis, deren Urform die

Wahrnehmung ist.278 Diese "Unmittelbarkeit der sinnlichen

Anschauung" hat auch Kant gesehen. Aber sein Fehler lag darin, diese

Unmittelbarkeit nur für sinnliche Gegenstände anzunehmen und schon

etwa die "Wahrnehmung der Schönheit" einer Sache, die

Wahrnehmung von Ausdrucksqualitäten, die Wahrnehmung von etwas

Geistigem, das im Sinnlichen ausgedrückt ist usw., zu übersehen. Alle

Kennzeichen der Wahrnehmung und der unmittelbaren Gegebenheit

278 D. von Hildebrand hat in What is philosophy?, Kap. VI, S. 172 ff., eine

genaue Analyse der Wahrnehmung und der in diesem Sinne unmittelbaren

Erkenntnis gegeben.

217

des Objekts in ihr treffen aber auch auf diese Wahrnehmung von etwas

Geistigem zu.279

Die leibhaftige Präsenz des Gegenstandes in jeder Form der

Wahrnehmung, wo wir ihn anschaulich selbst intentional besitzen, ist

aber nicht die einzige Form der Unmittelbarkeit von Erkenntnis.

Um eine zweite zu sehen, folgen wir einmal diesem Gedankengang:

Denken wir nur einen Augenblick an das unbegreifliche Geheimnis,

wie uns jede sinnliche Wahrnehmung durch zahllose Kausalreihen

vermittelt wird. Reize treffen auf unsere Sinnesorgane, werden über

komplizierte, elektro-chemische Prozesse zu unserm Gehirn geleitet:

und ohne diese kausalen und physiologischen Prozesse nehmen wir

keinen Gegenstand wahr. Das ungeheuer Staunenswerte dabei ist, daß

eine Kausalkette nötig ist, damit ein Gegenstand intentional vor

unserem Geist stehen kann. Mit anderen Worten, die Wahrnehmung, in

der wir in keiner Weise bloß kausal, sondern intentional mit einem

Objekt verbunden sind (was durch eine Welt voneinander geschieden

ist), ist doch zugleich das letzte Glied einer in unserem Leib

stattfindenden Kausalkette. Dies ist ein solches Wunder, daß es allein

ein Gottesbeweis sein kann. Nicht nur die Kausalketten sind

keineswegs intelligibel, und es ist durchaus nicht einzusehen, warum

wir nicht ganz andere Erlebnisse psychischer Art erleben, wenn

gewisse Ströme in unserem Gehirn auftreten. Vor allem ist es

wunderbar und unbegreiflich, daß wir nicht bloß kausierte psychische

Erlebnisse haben, wie etwa Schmerzen, sondern daß wir einen

Gegenstand unmittelbar (im ersten Sinn) wahrnehmen, obwohl er uns,

durch Kausalketten unseres Leibes vermittelt, gegenübertritt. Daß wir

dabei Gegenstände erfassen, ist ein natürliches "Geheimnis". Denn wir

könnten die vom Raum ausgehenden Strahlungen in einer vollkommen

anderen Weise erleben, also auch etwas sehen, was nicht ist, ohne daß

dies im geringsten "unwahrscheinlicher" wäre.280

279 Diese überaus widrige Erweiterung des Wahrnehmungsbegriffes ist wie-

der in besonderer Weise der klassischen Phänomenologie zu verdanken,

am deutlichsten bei D. von Hildebrand ausgeführt. Vgl. What is

philosophy?, Sinn philosophischen Fragens und Erkennens, Kap. VI. 280 Das gehe noch viel weiter. Nicht nur etwas sehen, was nicht ist, sondern

überhaupt könnten die elektromagnetischen Wellen, die Licht- oder die

Schallwellen vollkommen anders von uns erlebt werden: Es ist ja gar nicht

218

Trotz seiner unmittelbaren Selbstgegebenheit, in der ein Gegenstand

uns in der Sinneswahrnehmung entgegentritt, ist er also doch, durch

Kausalreihen vermittelt, uns gegenwärtig. Man könnte also sagen, er ist

uns nicht unvermittelt, wenn auch unmittelbar präsent. Jedoch —

abgesehen von dem Wunder dieser Verbindung zwischen Kausalität

und Intentionalität als solchem—wieso könnte nicht durch diese

Kausalketten uns bloß "scheinbar Seiendes" vermittelt werden? Könnte

man ja sogar die Gehirnpartien in einer so differenzierten Weise

erregen, daß alles, was wir je erlebten, wie gegenwärtig vor uns stünde,

ohne tatsächlich da zu sein? Man hat ja schon Versuche in dieser

Richtung durchgeführt.

Jedenfalls wäre es prinzipiell denkbar, daß durch solche Kausalketten

uns ganz andere Gegenstände vorgestellt werden, als tatsächlich

existieren.

Ist aber alle unsere Erkenntnis in diesem Sinne durch "kausale

Funktionen bestimmt" oder nicht? Gibt es auch eine Erkenntnis, in der

uns etwas nicht nur unmittelbar gegenwärtig, sondern auch völlig

unvermittelt selbst gegenwärtig ist, wo es also keine Möglichkeit der

Täuschung mehr gibt—so müssen wir hier fragen? Können wir

unabhängige Existenz sicher erkennen, oder ist diese nur ein Postulat?

Gibt es nur Dinge, wie andere Personen, die unabhängig von uns zu

sein scheinen, und wir müssen diesem objektiven Existenzanspruch

"Glauben schenken" in dem Sinne, in dem Husserl von einem

"Weltglauben" gesprochen hat?281

Wir müssen uns zwei Dinge klarmachen: Erstens ist es möglich

(prinzipiell), dieselben Kausalreihen im Gehirn anzuregen, ohne daß

die Kausalität dabei vom wirklichen Gegenstand ausgeht. Zweitens:

selbst wenn sie vom wirklichen Gegenstand ihren Ausgang nimmt, ist

es überaus geheimnisvoll und wunderbar, daß er uns dadurch selbst

gegenwärtig wird intentional und unmittelbar und daß nicht statt dessen

ganz andere merkwürdige Erlebnisse in uns ausgelöst werden.

Um die Eigenart dieser kausal vermittelten Erkenntnis aber noch tiefer

zu verstehen, müssen wir sie noch von einem anderen Phänomen

trennen, das es auch nur im Bereich der körperlichen,

evident, daß eine bestimmte Art von Gehirnströmen Wahrnehmungen

zugeordnet ist und nicht etwa Schmerzempfindungen hervorruft. 281 Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen. Diesen "Weltglauben" will

Husserl gerade überwinden.

219

wahrgenommenen Welt gibt. Wir meinen den entscheidenden

Unterschied zwischen konstitutiver und "Erscheinungs"-Wesenheit.282

Es gründet nämlich im Wesen der räumlich ausgedehnten und

besonders der im Raum strukturierten und geordneten Dinge, vor allem

der Lebewesen, daß es eine Doppeltheit von konstitutivem Sosein gibt

(zum Beispiel beim Walfisch als Säugetier oder beim Diamanten als

"Kohle") und von "Erscheinungssosein", von dem "Gesicht"

gleichsam, das dieses Seiende unserem Blick darbietet.

Dies ist wiederum verschieden von dem Falle, in dem etwas (Farbe)

getragen und hervorgerufen wird von etwas gänzlich anderem (Welle),

das keineswegs als das "konstitutive Wesen" von Farbe bezeichnet

werden kann.283

Diese Doppeltheit von Erscheinung und konstitutivem Wesen liegt im

Wesen der körperlichen Substanzen und bestünde überall, wo sichtbare

Körper geschaut werden können. Dieser Unterschied bestünde auch für

ein Wesen, das alle Dinge in einer unvermittelten Weise sieht und ihre

Farben und Gestalten schaut, ohne daß dieser gesehene Gegenstand

durch Kausalreihen im Leib vermittelt wäre und dadurch eine

Täuschung zustande kommen kann.

Jedenfalls fallen bei den geistigen Dingen, die uns in der Erfahrung

gegeben sind, also bei uns und unseren Akten und bei den notwendigen

Wesenheiten, auch bei denen räumlicher Dinge (Raum, Zeit, Körper,

Materie, Bewegung im Raum usw.) beide Arten von bloßer

Vermitteltheit und auch die Doppeltheit von Erscheinungswesenheit

und konstitutiver Wesenheit weg.

Es sind "keine Funktionen", nicht irgendwelche

Verstandeskonstitutionen oder gar Kausalreihen, durch die die

unmittelbare Erkenntnis meiner selbst oder auch der Wesenheiten der

Dinge hindurchgehen müßte;284 diese—wenn ich sie einmal

kennengelernt habe—schaue ich vielmehr selbst; keine bloße

"Erscheinungswesenheit" könnte eine dahinter liegende "konstitutive"

verbergen (dieser Unterschied besteht hier absolut nicht mehr, sogar bei

der Wesenheit der Farbe u. ä.); keine Kausalkette zwischen mir und der

282 Vgl. dazu auch D. von Hildebrand, What is philosophy? (IV, 3), S. 102

ff. und S. 166 ff. 283 A. a. O., S 110 ff. 284 In diesem Sinn ist also der Satz, "nihil est in intellectu, quod non prius

fuerit in sensibus" falsch.

220

Sache kann mir irgendwie etwas bloß "scheinbar Seiendes" vorstellen,

sondern ich umfasse den Gegenstand direkt ohne Vermittlung der Sinne

oder irgendwelcher anderer Vorgänge285, die zwischen meinem Geist

und dem Gegenstand stünden.286 Und endlich sind all diese

Wirklichkeiten mir unmittelbar selbst gegeben, sie sind leibhaftig

präsent, welche Unmittelbarkeit wir auch als ein Charakteristikum

jeder Wahrnehmung kennenlernten. Hier überbringen mir aber nicht

wie in der Sinneswahrnehmung kausalreihenartige Sinnesfunktionen

die Kenntnis vom Gegenstand, wodurch "Schein" und "Erscheinung"

zustande kommen können, in denen ich nicht den Gegenstand berühre,

wie er in sich ist. Also bricht in allen diesen Fällen jede Möglichkeit

eines Immanentismus zusammen—jede Möglichkeit, etwas bestehe

nur für meinen erkennenden Geist und nicht in sich.

Diese in jedem Sinn des Wortes unmittelbare Erkenntnis reicht also

soweit wie überhaupt notwendige Wesenheiten.287 Denn sie alle (etwa

285 Es gibt noch eine andere Bedeutung von "unmittelbar" und "vermittelt",

nämlich das unmittelbar, aber fundiert Gegebene. So setzt die Wahr-

nehmung der Schönheit einer Melodie das Hören der Töne und die Apper-

zeption der Melodie voraus. Die Schönheit der Melodie ist mir aber nicht

weniger unmittelbar gegeben als die Töne selbst. Sie ist auch nicht als

solche "vermittelt" durch Sinnesorgane und Kausalreihen, wie die Töne

selbst, aber sie setzt allerdings tragende Elemente (etwa Töne) und deren

Wahrnehmung voraus. In einem ganz anderen Sinn des Wortes könnte man

also auch die Schönheit einer Melodie durch die sie tragenden Töne und

deren Wahrnehmung "vermittelt" nennen. 286 Das heiß: natürlich in keiner Weise, daß nicht für alle seelischen Akte

Gehirnvorgänge die "Bedingung" sind, aber diese sind in keiner Weise die

Ursache und liegen auch nicht "zwischen meinem Geist und der Sache"

wie bei der Sinneswahrnehmung, sondern bilden vielmehr die

Voraussetzung dafür, daß mein Geist wach ist und sich frei unmittelbar

solchen Wesenheiten und Gegenständen zuwenden kann. 287 Nur notwendige, weil die andern nicht so sehr auf eigenen Füßen stehen

und keine solche innere Konsistenz haben, daß sie unabhängig von ihrer

konkreten Verwirklichung irgendein Erkenntnisinteresse besitzen, bzw.

daß sie einen von jeder Realkonstatierung unabhängigen Wesensgehalt

besitzen, zu dessen Erkenntnis auch ein einmaliger Erfahrungskontakt

genügt der schon beweist, daß es sich hier nicht um eine Fiktion, sondern

um Wirkliches handelt.

221

auch das Wesen von Raum, Körper, materieller Substanz und

Akzidenz, Farbe, räumlicher Bewegung usw.) können unmittelbar als

seiend mit dem Geiste erfaßt werden. (Nur die konkreten Farben,

Raumteile oder Körper werden durch Kausalreihen vermittelt, nicht

aber ihr Wesen, welches unserem Geist unmittelbar zugänglich ist,

sobald wir nur überhaupt einmal solches berührt haben, sei es auch nur

in einem Traum. Daß der Raum nicht mehr oder weniger als drei

Dimensionen haben kann,287a wissen wir etwa nicht nur durch den

sinnlich vermittelten Raum, also aus der Realkonstatierung des Raum",

die uns allerdings durch körperliche Organe vermittelt wird, sondern

durch eine unmittelbare Wesenseinsicht in den Raum.)

Ferner betrifft diese in jedem Sinn des Wortes unmittelbare Erkenntnis,

die uns aus den Fängen des in diesem Kapitel behandelten

Immanentismus befreit, auch Realität, reales konkretes Sein, und zwar

das unserer eigenen Person und ihrer Akte (und natürlich auch ihrer

Wesenheiten). Hier fällt natürlich auch beim konkreten Sein unserer

Akte der Unterschied zwischen "Erscheinungswesenheit" und

irgendeiner "dahinter" liegenden "konstitutiven" Wesenheit

einsichtigermaßen weg, und wir berühren diese unmittelbar.288

287a Die Thesen über vier- und mehrdimensionale Räume, mit denen

Physiker rechnen, haben einen ähnlichen Charakter wie die bekannten

Fiktionen mathematisdcher Art. Es scheint mir ein Mißverständnis, diese

Thesen metaphysisch-philosophisch "ernst" zu nehmen. Vgl. meine

Besprechung von Materie und Geist von J. de Vries in: Philosophischer

Literaturanzeiger Bd. 24, H. 2, S. 92—95. 288 Dies bedeutet selbstverständlich nicht, daß es nur bei körperlichen Din-

gen die Möglichkeit der Täuschung oder des Irrtums gibt und daß es nicht

ein weites Feld der "Selbsttäuschungen" gäbe. Die Unmittelbarkeit, mit der

wir unser eigenes Sein mit einer über jeden Zweifel erhabenen Sicherheit

erfassen, gilt einerseits für das Vollzugsbewußtsein als solches, anderer-

seits für die Wesenseinsichten in intelligible Zusammenhänge über das

eigene Sein und drittens für jene Art des reflexiven Bewußtseins, in der wir

uns einerseits einen Vollzug eines Aktes oder das eigene Sein, von dem wir

immer ein Bewußtsein haben, zu voll wacher, ausdrücklich vollzogener

Gegebenheit bringen und andererseits das intelligible, notwendige Wesen

eben dieses Aktes oder des Vollzugsbewußtseins vor Augen führen.

Keineswegs gilt diese von jeder Täuschungsmöglichkeit unbetroffene

Gewißheit für nachträgliche oder gleichzeitige Reflexionen, in denen wir

222

Auch die schlußfolgernde Erkenntnis ist keineswegs durch

Sinnesorgane vermittelt, in der wir etwa vom konkreten Sein unserer

eigenen Person und der Wesenseinsicht, daß zufälliges Seiendes nur

durch in sich notwendiges sein kann, aufsteigen zum Beweis der

Existenz Gottes.

Sowohl die unerfindbare Idee eines absolut vollkommenen Wesens als

auch der Aufstieg vom Kontingenten zum Absoluten sind uns in keiner

Weise durch irgendwelche sinnliche Kausalreihen vermittelt worden.

Es ist absolut falsch, zu sagen, alle unsere Erkenntnis hebe in dem

Sinne bei den Sinnen an, daß wir nicht nur als erstes

Sinneswahrnehmungen haben, sondern daß uns auch nichts unmittelbar

gegeben sei, ohne durch Sinne vermittelt worden zu sein. Wer hat

jemals seinen Zweifel, sein Erkennen oder sein Bewußtsein gesehen,

getastet, gefühlt, gerochen oder geschmeckt und erst recht den

Zusammenhang zwischen zufälligem und notwendigem Sein? Also

sowohl konkretes, reales Sein als auch die notwendigen, intelligiblen

Soseinseinheiten der Dinge sind uns in jedem Sinn unmittelbar gegeben

und schließen jede Möglichkeit aus, ein Schein oder auch eine

"Erscheinung" sein zu können:

"Cum enim duo sunt genera rerum quae sciuntur, unum earum quae per

sensus corporis percipit animus, alterum earum quae per se ipsum:

multa illi philosophi garrierunt contra corporis sensus; animi autem

firmissimas per se ipsum perceptiones rerum verarum ... nequaquam in

dubium vocare potuerunt."

Auch wenn es verrückt wäre, fährt Augustinus fort, an der objektiven

Wirklichkeit dessen zu zweifeln, was wir durch unsere Sinne oder

durch das Zeugnis anderer erfahren haben, so ist doch die unfehlbar

ihren Gegenstand in seinem realen, objektiven Sein ergreifende

unmittelbare und unvermittelte Erkenntnis von etwas, das nicht

"Erscheinung von" sein kann, der Punkt, an dem allein jeder Zweifel

zerschellt, und zugleich ist diese absolut gewisse Erkenntnis die

Grundlage, auf der all unser empirisches Wissen und unser Glauben

ruht und ohne die es undenkbar und auch vollkommen seines "Bodens"

beraubt wäre. Deshalb ist auch die Philosophie die Grundlage aller

uns leicht vieles über uns einbilden oder uns in der Erinnerung täuschen

können.

223

übrigen Wissenschaften und zugleich die Königin aller natürlichen

Wissenschaften.

"Primo ipsa scientia, de qua veraciter cogitatio nostra formatur, quando

quas scimus loquimur, qualis aut quanta potest homini provenire,

quemlibet peritissimo atque doctissimo? Exceptis enim quse in animum

veniunt a sensibus corporis, in quibus tam multa aliter sunt quam videntur,

ut eorum verisimilitudine nimium constipatus, sanus ibi esse videatur qui

insanit; unde Academica philosophia sic invaluit, ut de omnibus dubitans

multo miserius insaniret; his ergo exceptis quae a corporis sensibus in

animum veniunt, quantum rerum remanet quod ita sciamus, sicut nos

vivere scimus? in quo prorsus non metuimus, ne aliqua verisimilitudine

forte fallamur, quoniam certum est etiam eum qui fallitur vivere; nec in eis

visis hoc habetur, quse objiciuntur extrinsecus, ut in eo sic fallatur oculus,

quemadmodum fallitur cum in aqua remus videtur infractus, et

navigantibus turres moveri, et alia sexcenta quae aliter sunt, quam videntur;

quia nec per oculum carnis hoc cernitur. Intima scientia est qua nos vivere

scimus, ubi ne illud quidem Academicus dicere potest: Fortasse dormis, et

nescis, et in somnis vides. Visa quippe somnantium simillima esse visis

vigilantium quis ignorat? Sed qui certus est de vitae suae scientia, non in

ea dicit, Scio me vigilare; sed, Scio me vivere: sive ergo dormiat, sive

vigilet, vivit. Nec in ea scientia per somnia falli potest; quia et dormire et

in somnis videre viventis est. Nec illud potest Acedemicus adversus istam

scientiam dicere. Furis fortassis et nescis; quia sanorum visis simillima sunt

etiam visa furentium: sed qui furit vivit. Nec contra Academicos dicit, Scio

me non furere; sed, Scio me vivere. Nunquam ergo falli nec mentiri potest,

qui se vivere dixerit scire. Mille itaque fallacium visorum genera

objiciantur ei qui dicit, Scio me vivere; nihil horum timebit, quando et qui

fallitur vivit.

Sed si talia sola pertinent ad humanam scientiam, perpauca sunt; nisi quia

in unoquogue genere ita multiplicantur, non solum pauca non sint verum

etiam reperianrur per infinitum numerum tendere. Qui enim dicit, Scio me

vivere, unum aliquid scire se dicit: proinde si dicat, Scio me scire me

vivere; duo sunt jam; hoc vero quod scit haec dua, tertium scire est: sic

potest addere et quartum, et quintum, et innumerabilia, si sufficiat. Sed quia

innumerabilem numerum vel comprehendere singula addendo, vel dicere

innumerabiliter non potest, hoc ipsum certissime comprehendit ac dicit, et

verum hoc esse, et tam innumerabile, ut vere ejus infinitum numerum non

possit comprehendere ac dicere."

224

Diese unendliche Zahl meiner Erkenntnisse, die allein in jener ersten

formal eingeschlossen sind, zeigt trotz der Armut des materialen

Gehaltes die Unendlichkeit der Zahl der mir möglichen absolut

gewissen Erkenntnisse. Dasselbe wendet Augustinus auf das Wissen

der Sehnsucht nach Glück an und fährt dann fort:

"ltem si quispiam dicat, errare nolo; nonne sive erret sive non erret, errare

tamen eum nolle verum erit? Quis est qui huic non impudentissime dicat,

Forsitan falleris? com profecto ubicumque fallatur, falli se tamen nolle non

fallitur. Et si hoc scire se dicat, addit quantum vult rerum numerum

cognitarum, et numerum esse perspicit infinitum. Qui enim dicit, Nolo me

falli et hoc me nolle scio, et hoc me scire scio; jam et si non commoda

elocutione, potest hinc infinitum numerum ostendere."288a

Über die irrige Meinung, absolut gewisse Erkenntnis setze ein

geschlossenes System voraus—die Frage nach dem

Anfang der Philosophie

"Mag das Volk glauben, daß Erkennen ein Zu-Ende-Kennen sei, der

Philosoph muß sich sagen: wenn ich den Vorgang zerlege, der in dem

Satz 'ich denke' ausgedrückt ist, so bekomme ich eine Reihe von

verwegenen Behauptungen, deren Begründung schwer, vielleicht

288a Augustinus, De Trinitate, XV, XII, 21. Die absolut gewissen, unmittel-

baren und durch Sinne nicht vermittelten Erkenntnisse umfassen aber

keineswegs nur eine solche formal-unendliche Anzahl von Erkenntnissen,

sondern sie reichen erstens soweit wie materiale, notwendige Wesenheiten

reichen, die ein viel weiteres Feld sind, als man denken möchte. Auf allen

Gebieten, seien es Raum, Zeit, Körper, Bewegung, Farbverhältnisse, seien

es sittliche Werte und Gegebenheiten, seien es logische Prinzipien und

metaphysische Wirklichkeiten, die Person und ihre verschiedenen Akte

oder die Kontingenz aller uns bekannten Dinge, seien es ästhetische

Gegebenheiten, sei es die Gemeinschaft, das Recht und seine Bereiche, der

Staat usw. — überall finden wir unzählige material verschiedene

notwendige Wesenheiten und die Sachverhalte, die in ihnen gründen. Also

hat die Philosophie ein weites Feld der Forschung vor sich, das sie wohl

niemals wird erschöpfen können. Außerdem finden wir im "si fallor, sum"

oder in den Gottesbeweisen auch eine unmittelbare und unvermittelte

Realerkenntnis.

225

unmöglich ist— zum Beispiel, daß ich es bin, der denkt, daß überhaupt

ein Etwas es sein muß, das denkt..."289

Weil also in jener unmittelbaren Gewißheit, daß ich sein muß, und zwar

als lebendiges Subjekt, um zweifeln zu können, unzählige andere

Fragen nach dem Wesen von Erkennen, Sicherheit, Wahrheit usw.

eingeschlossen sind, welche ich zweifellos nicht alle auf einmal

erkenne, da also meine Erkenntnis kein "Zu-Ende-Kennen" ist, meint

Nietzsche damit schon die Möglichkeit absoluter Gewißheit widerlegt

zu haben. Denn wie soll ich etwas sicher wissen, das vieles andere

notwendig einschließt, das ich noch nicht klar erkannt habe. Gegen ein

System wiederum, bei dem erst Ende klarwürde, daß der Anfang wahr

ist, erhebt Kierkegaard vor allem in der Unwissenschaftlichen

Nachschrift seine Einwände.290 Um dem Nietzscheschen Einwurf zu

begegnen, müßte man nach Ansicht derartiger "Systemphilosophen"

ein Gesamtsystem fertig haben, bevor man irgend etwas sicher wissen

könne, ein System also, in dem nicht nur die Zusammenhänge aller

Wirklichkeit erkannt und dargestellt werden, sondern in dem man

behauptet, die Gewißheit der Erkenntnis irgendeines Sachverhaltes

hänge von der Gewißheit aller übrigen mit diesem einen Sachverhalt

notwendig verbundenen Sachverhalte ab. Erst am Schluß also würde

alles klar, und solange das System nicht fertig ist, ist sozusagen alles

ungewiß und "in der Luft".

Diese Behauptungen laufen darauf hinaus, daß wir niemals ein

Seiendes mit absoluter Gewißheit erkennen können, wenn wir nicht

zugleich das erfassen, was von ihm notwendig eingeschlossen oder

vorausgesetzt ist. Wir haben gesehen, wie viele Einsichten in

notwendige Wesenssachverhalte gewonnen werden können, wenn wir

uns nur in das Wesen des Zweifels und all dessen, was in ihm enthalten

ist, vertiefen. Dabei konnten wir sehen, daß alle die

Wesenssachverhalte, die wir ausdrücklich oder andeutungsweise

erkannten, innerlich notwendig zusammenhängen. Alle diese

Sachverhalte hängen in den Wesenheiten (des Zweifels usw.), also der

Ordnung des Seins nach derart notwendig zusammen, daß die einen

unmöglich bestehen könnten, wenn nicht auch die anderen bestünden.

289 Vgl. die schon zu Anfang dieses Kapitels zitierte Nietzsche-Stelle. 290 Vgl. S. Kierkegaard, Unwissenschaftliche Nachschrift, I. Bd., II. Teil, 1.

Abschn., 4a, b.

226

Nachdem wir also einige mit Sicherheit erkannt hatten, wäre diese

Gewißheit sofort wieder in Frage gestellt worden, wenn jemand einen

der weiteren — von uns noch nicht ausdrücklich erkannten —

Sachverhalte geleugnet hätte, die objektiv notwendig von den bereits

erkannten Sachverhalten eingeschlossen oder sogar vorausgesetzt sind.

Denn wenn wir die von jemandem geleugneten (und von uns noch nicht

erkannten) Sachverhalte nicht mit Gewißheit erkennen können (und

wie können wir das wissen, bevor wir sie erkannt haben?), so würde

damit auch unsere erste Gewißheit sich als eine nur scheinbare

erweisen und auch die erste Sicherheit würde erschüttert und ihres

"Bodens" beraubt sein.

Kein Mensch, er sei denn ein Narr, könnte behaupten, alle objektiv

notwendig zusammenhängenden Sachverhalte auf einmal erschauen zu

können.

Wie ist es also möglich, einen notwendigen Wesenssachverhalt (wie

etwa, daß ich mich erinnern muß, um zu zweifeln) oder den realen

Sachverhalt, daß ich bin, mit Gewißheit zu erkennen, ohne daß ich all

jene Sachverhalte zugleich schon eingesehen hätte, ohne die dieser

nicht sein kann? Ist unsere Gewißheit und die Wahrheit also nur eine

scheinbare, weil wir nicht alles wissen? — Daß unser Erkennen kein

"Zu-Ende-Kennen" ist, sondern wesenhaft unvollständig, und zwar

auch in bezug auf die notwendig von dem Erkannten vorausgesetzten

Dinge, hat Descartes so formuliert:

"ich meine nämlich, er (der Zusammenhang dessen, was ich

geschrieben habe) ist der Art, daß zum Beweise jeder einzelnen Sache

alles das, was ihm selbst vorangeht, beiträgt, und ebenso der größte Teil

dessen, was ihm folgt."291

Wie können wir also trotz dieser Unvollständigkeit unserer Erkenntnis

über vieles absolute Gewißheit haben?

Der Grund dafür ist zunächst folgender: Die Wesenszusammenhänge,

die wir noch nicht erkannt haben, sind von denen, die wir erkennen,

nicht in dem Sinne "vorausgesetzt", daß wir diese nicht unmittelbar

erschauen könnten, ohne jene schon eingesehen zu haben. Oder anders

ausgedrückt: Unser Erkennen muß der Ordnung des Seins nicht derart

291 Descartes, Meditationen, 5. Erwiderung (537).

227

folgen, daß wir in der Ordnung der Erkenntnis "voraussetzen" müßten,

was der Ordnung des Seins nach vorausgesetzt ist.

Wesenhafte Unvollständigkeit unserer Erkenntnis und absolute

Gewißheit sind also keine Gegensätze. Wir können bei der Betrachtung

einer Wesenheit (z. B. des Zweifels) eine Teilwahrheit mit voller

Gewißheit einsehen, ohne zugleich alle andern Wahrheiten mitzusehen.

Deshalb ist unsere Erkenntnis keineswegs relativ, wenn auch

unvollständig.292 Denn der eingesehene Sachverhalt besteht tatsächlich

genauso, wie ich ihn erkenne. Und ich kann über sein Bestehen absolut

sicher sein, ohne alle notwendig mit ihm verknüpften Sachverhalte

zugleich einzusehen.

Das heißt aber, daß gerade das Gegenteil von dem, was Nietzsche

behauptet, wahr ist: Ich setze nicht alle übrigen (mit dem erkannten

notwendig verknüpften) Sachverhalte im Sinne einer "Annahme" bloß

voraus, ohne deren Rechtfertigung ich auch über das (demnach

"scheinbar") absolut sicher Erkannte nicht wirklich gewiß sein könnte,

sondern umgekehrt: Indem wir in einem Punkt klar und deutlich und

über allen Zweifel erhaben das objektive Bestehen eines Sachverhalts

einsehen, sind wir zugleich sicher, daß alle notwendig mit ihm

verknüpften Sachverhalte (auch wenn wir sie noch gar nicht ahnen),

auch bestehen.

Ein Gleichnis dafür ist das Betrachten einer Rosette in einer gotischen

Kathedrale, deren klare Sichtbarkeit nicht dadurch vermindere oder

abgeschwächt wird, daß ich nicht zugleich alle Mauern und Pfeiler

betrachten kann, auf denen die Rosette ruht.

Auf die Frage also: Gibt es einen Anfang der Philosophie?, müssen wir

antworten: Sicher gibt es grundlegendere und weniger grundlegende

Sachverhalte und Wahrheiten. Wir können jedoch an vielen Stellen

(keineswegs nur an den grundlegendsten) in das Reich jener

notwendigen und ewigen Wesenszusammenhänge oder an einen Punkt

der konkreten Welt im Cogito eintreten, ohne daß die Gewißheit

unserer Erkenntnis so lange in Frage gestellt bliebe, als wir noch nicht

auf alle Fragen geantwortet hätten, die sich auf das beziehen, was

292 Diesen Unterschied hat B. Schwarz in seinem Buch Der Irrtum...

herausgearbeitet. Besonders hat die Bedeutung dieses Unterschiedes D.

von Hildebrand in Das trojanische Pferd in der Stadt Gottes, (1968), Kap.

III, hervorgehoben.

228

notwendig mit dem von uns Erkannten verbunden oder auch von ihm

objektiv vorausgesetzt ist.293

Dabei muß zweierlei unterschieden werden.

Es gibt erstens viele Dinge, die wir in einer Einsicht "mitsehen" und

mitmeinen, ohne uns dessen ausdrücklich bewußt zu sein (etwa im

Beispiel des "cogito, ergo sum" das Wesen von Bewußtsein, Sein,

Substanz, usw.). Von diesen wissen wir in unserer absolut gewissen

Einsicht, daß wir sie auch ebenso einsehen können, wenn wir den Blick

nur auf sie richten. Alles, was wir in einer gewissen Erkenntnis

mitsehen, ohne es klar zu erkennen, schwäche deren absolute

Gewißheit in keiner Weise. Von dem Lichte dieser Erkenntnis fällt

vielmehr auch ein Schimmer auf alle damit notwendig verknüpften

Zusammenhänge.

Zweitens aber müssen wir festhalten: Eine absolut gewisse Einsicht,

oder auch zwei absolut gewisse Einsichten in zwei objektiv notwendig

verknüpfte Wahrheiten werden nicht einmal dann erschüttert, wenn wir

sie noch nicht "mitsehen", ja sogar wenn wir auf Grund unseres

schwachen Erkenntnisvermögens ihren Zusammenhang prinzipiell

nicht erkennen können.

So können wir die Verschiedenheit unseres Leibes von unserer Seele

als einen substantiellen Unterschied einsehen, und auch ihr

Zusammenhang ist uns vielfach gegeben (sei es vom Leib zur Seele,

wie im physischen Schmerz oder von der Seele zum Leib, wie im

Willen); trotzdem können wir prinzipiell nicht das "Wie" dieses

Übergangs von leiblichen Prozessen zu einem seelischen Erlebnis

erklären und erkennen. Offenbar ist dieses aber irgendwie notwendig.

Sollen wir deshalb irgendeinen der absolut gewiß eingesehenen

Sachverhalte leugnen, weil diese Schwierigkeit offenbleibt? Sollen wir

etwa die Realität des Leibes leugnen oder die Seele zu einem bloßen

"Epiphänomen" physiologischer Prozesse erklären?—Nein! An beiden

müssen wir festhalten als an sicher Erkanntem, obwohl wir eine mit

293 Deshalb gibt es zwar grundlegende, aber keine "ersten Wahrheiten" für

unser Erkennen. Und auch in Gott selbst, also der Ordnung des Seins nach,

ist die Fülle des Seins selbst die Grundlage von allem —und nicht etwa nur

eine Wahrheit, auf der alle weiteren als auf ihrem Fundament ruhen

würden, ähnlich dem Bau eines Hauses, wo ein Stein auf dem nächsten

ruhte und nicht umgekehrt.

229

diesen Wahrheiten der Ordnung des Seins nach notwendig verknüpfte

Wahrheit absolut nicht erkennen können.

Ebenso können wir die Freiheit unseres Willens mit einer zweifellosen

Gewißheit erfassen und in ihrem Wesen erkennen. Wir können auch

die Existenz eines absoluten Wesens, die Existenz Gottes mit

Sicherheit erkennen. Trotzdem können wir die Art des göttlichen

Aktes, von dem wir einerseits absolut abhängen, anderseits nicht

determiniert werden, nicht erkennen. Dies bleibt ein Mysterium, das

uns unerkennbar ist, solange wir leben. Also kann nicht einmal die

prinzipielle Unfähigkeit des Menschen, wesensnotwendig miteinander

verknüpfte Sachverhalte in ihrem Zusammenhang einsehen zu können,

die Gewißheit unserer Erkenntnis dieser Sachverhalte hindern, die uns

eindeutig in ihrem Sein gegeben sind.294

294 Diese zentrale Wahrheit hat Dietrich von Hildebrand besonders in den

Prolegomena zur Christlichen Ethik ausgeführt. Er hat darauf auch an

vielen andern Stellen hingewiesen als auf eine überaus wichtige Wahrheit.

Vgl. vor allem Das trojanische Pferd in der Stadt Gottes, S. 45 ff. und 102

ff.

Kardinal Newman hat darüber das Wort gesprochen: "Zehntausend

Schwierigkeiten rechtfertigen keinen einzigen Zweifel." Vgl.

Universitätspredigten. Aber auch Descartes hat dies besonders klar

gesehen und ausgesprochen: "Mais, à cause que es nous avons depuis

connu de Dieu, nous assure que sa puissance est si grande, que nous ferions

un crime de penser que nous eussions jamais esté capables de faire aucune

chose, qu'il ne l'eust auparavant ordonnée, nous pourrions aysément nous

embarrasser en des difficultez tres-grandes, si nous entreprenions

d'accorder la liberté de nostre volonté avec ses ordonnances, & si nous

taschions de comprendre, c'est à dire d'embrasser & comme limiter avec

nostre entendement toute l'estenduë de nostre libre arbitre & l'ordre de 1a

Prividence eternelle.

Au lieu que nous n'aurons point du tout de peine à nous en delivrer, si nous

remarquons que nostre pensée est finie, & que la toute-puissance de Dieu,

per laquelle il n'a pas seulement connu de toute éternité ce qui est ou peut

estre, mais il l'a aussi voulu..., est infinie. Ce qui fait que nous avons bien

assez d'intelligence pour connoistre clairement & distinctement que cette

puissance est en Dieu, mais que nous n'en avons pas assez pour comprendre

tellement son estenduë que nous puissions sçavoir comment elle laisse les

actions des hommes entièrement libres & indéterminées; & que, d'autre

costé, nous sommes aussi tellement assurez de la liberté et l'indifference

230

qui est en nous, qu'il n'y a rien que nous connoissions plus clairement...: de

façon que la toute-puissance de Dieu ne nous doit point empescher de la

croire. Car nous aurions tort de douter de ce que nous appercevons

interieurement & que nous sçavons par experience estre en nous, pource

que nous ne comprenons pas une autre chose que nous sçavons... estre

incomprehensible (pour nous) ,de sa nature'." (Descartes, Principes, I, §

40, 41 a. a. O., S. 42.)

Diese und viele andere Stellen bei Descartes beweisen, wie sehr man ihm

zu Unrecht einen Rationalismus vorwirft, der sich vermißt, die gesamte

Wirklichkeit erkennend zu erfassen, der also letztlich wie bei Hegel der

autonomen menschlichen Vernunft ein Erfassen des absoluten Geistes

zumißt ein "Zu-sich-selber-Kommen" des "objektiven Geistes".

Dies ist in keiner Weise die Konsequenz des cartesischen Ansatzes, der

erstens die Skepsis durch eine absolut gewisse Erkenntnis überwinden will

und zweitens das "objektive System der Wirklichkeit" in einer möglichst

systematischen und umfassenden Weise erkennen will, was immer

Aufgabe der Philosophie sein muß. Gott aber erkannte Descartes nicht nur

als eine niemals von irgend etwas anderem, etwa dem "cogito"

deduzierbare Wesenheit an, sondern auch als etwas, was unseren Geist

unendlich übersteigt was unendlich viele Geheimnisse birgt, die unserer

Vernunft unzugänglich sind und von denen der Philosoph nur einsehen

kann, daß Gott sie uns offenbaren kann: "Wenn daher Gott uns etwas von

sich oder anderen Dingen offenbaren sollte, was die natürlichen Kräfte

unseres Verstandes überschreitet, wie dies bei den Mysterien der

Fleischwerdung oder der Dreieinigkeit der Fall ist, so werden wir, obgleich

wir sie nicht klar einsehen, doch uns leidet weigern, sie zu glauben, und

wir werden uns durchaus nicht wundern, daß vieles teils in seiner eigenen

unermeßlichen Natur, teils in den von ihm geschaffenen Dingen unsere

Fassungskraft überschreite ... wir wollen ... Vorsicht gebrauchen und uns

immer gegenwärtig halten, daß Gott der unendliche Schöpfer aller Dinge

ist und wir durchaus endlich sind." Principia, 24, 25. Vgl. dazu auch etwa

4. Med. 7 oder 5. Erw. 531, a. a. O., S. 344.

Deshalb ist Descartes Philosophie nur autonom in dem Sinne, daß sie auf

eigenen Füßen steht und nicht "fideistisch" den Glauben zum Ausgangs-

punkt macht, was widerspruchsvoll ist, nicht aber in dem Sinne, daß

Descartes den Anspruch erhöbe, alles erkennen zu können, oder daß es

jenseits der menschlichen Vernunft keine Geheimnisse mehr geben könne.

Ja im Gegenteil, Descartes zeigt in seiner philosophischen

Gotteserkenntnis, daß wir ein unendlich unser Verstehen übersteigendes

Sein mit absoluter Gewißheit erkennen können und deckt somit in

231

Die wahre Voraussetzungslosigkeit der Philosophie

An dieser Stelle kann man auch die Natur der Voraussetzungslosigkeit

erkennen, die die Philosophie in der Tat wie keine andere Wissenschaft

fordert.

Die philosophische Erkenntnis hat selbstverständlich ontische

Voraussetzungen; so etwa die erkennende Person und die erkannten

Gegenstände oder auch die Erkenntnisfähigkeit da Philosophen. Solche

"Voraussetzungen" sind ja nicht thesenhafter Natur und tun der

Objektivität des Erkennens keinerlei Abbruch, ermöglichen sie

vielmehr, was leider häufig übersehen wird auf Grund von

Aquivokationen des Terminus "subjektiv".294a

In ausgesprochenem Widerspruch zur philosophischen Erkenntnis

stehen jedoch alle Arten von Voraussetzungen inhaltlicher Art, d. h.

vorausgesetzten Urteilen, von denen ich andere Urteile ableite, die

wiederum nicht auf in sich evidente Sachverhalte abzielen. In der

Philosophie dürfen niemals Sachverhalte vorausgesetzt werden, deren

objektives Bestehen sich unserem Geist nicht eindeutig ausweist. So

Wirklichkeit gerade die Möglichkeit der Offenbarung in einzigartiger

Weise auf, fern davon, diese Möglichkeit in irgendeiner Weise zu leugnen;

was sich auch in keiner Weise aus irgendeiner seiner Grundeinsichten

oder -gedenken "ergeben" könnte. 294a Es muß hier der manchmal aufgestellten These widersprochen

werden, daß zum Ideal der Objektivität der Erkenntnis die

"Aufhebung" des Subjekts gehöre. Erkennen ist ja, wie mit Recht

betont wird, notwendig der Akt eines Subjekts. Zum Ideal der

objektiven Wahrheitserkenntnis steht nun in keiner Weise das Subjekt

und seine Akte in irgendeinem Gegensatz. Das Subjekt und seine Akte

sind ja nur in dem voll positiven Sinn des Wortes "subjektiv", der

überhaupt für jede Erkenntnis vorausgesetzt ist, nicht aber in

irgendeiner der Bedeutungen, in denen der Terminus "subjektiv", auf

trübende Einflüsse auf die Erkenntnis von selten des Subjekts hinweist. In diesem negativen Sinn sind nur jene Thesen, Vorurteile oder Unfähig-

keiten "subjektiv", die das Subjekt hindern, die objektive Wirklichkeit zu

erkennen. Ich kann hier wiederum nur auf die Unterscheidungen

verweisen, die v. Hildebrand in What is philosophy?, S. 152 ff., durchführt.

Er arbeitet dort sechs verschiedene Bedeutungen des Ausdrucks

"subjektiv" und des ihm entsprechenden Ausdrucks "objektiv" heraus.

232

sind jede Art von Glaubensinhalt, jede ungeprüfte Annahme oder gar

Hypothesen als Ausgangspunkt philosophischer Erkenntnis unzulässig.

In allen gültigen philosophischen Erkenntnissen muß sich das Sein

selbst unserem Geist ausweisen, und das schließe aus, daß wir es aus

vorausgesetzten und nicht in sich evidenten Prinzipien erschließen

bzw. ableiten.

Allerdings mag es sein, daß nicht der Erkenntnisordnung, aber der

Seinsordnung nach Sachverhalte die objektive, ontische Voraussetzung

für die von uns als evident erkannten Sachverhalte bilden, ohne daß wir

jene schon erkannt hätten oder auch nur in der Lage sein müßten, sie zu

erkennen. Das haben wir ja vorhin gesehen.

Für die Voraussetzungslosigkeit der Philosophie, ohne die wesenhaft

keine absolut gewisse Erkenntnis möglich wäre, ist allerdings auch in

keiner Weise erforderlich, daß der Philosoph "leer" an die Welt

herantreten und keinerlei Erfahrung haben müsse. Im Gegenteil: Je

reicher seine vorphilosophische Erfahrung ist, desto mehr ist ihm die

Möglichkeit verliehen, sich auf deren intelligible, notwendige

Wesenszüge zu richten und sich von allen Vorurteilen und im negativen

Sinne "subjektiven" Voraussetzungen freizumachen. Ein möglichst

reicher unmittelbarer Sachkontakt ist für einen Philosophen ja gerade

dringend erfordert. Je mehr dieser erforderten Voraussetzungen ein

Philosoph hat, desto leichter wird er sich von allen "verbotenen"

Voraussetzungen inhaltlicher Art lösen können. Je mehr

Voraussetzungen, die ihn mit der objektiven Wirklichkeit und ihrer

Fülle in Berührung bringen, einem Philosophen geschenkt sind, desto

mehr kann er alle "doxa", alle bloß übernommenen "Ansichten"

überwinden.

Diese legitimen "Voraussetzungen" sollen aber gar nicht mit diesem

Ausdruck bezeichnet werden, sondern in ihnen gründet ja die wahre

Voraussetzungslosigkeit der Philosophie als der unmittelbare Zugang

zu in sich notwendigen und einsichtigen Seins- und

Sollenszusammenhängen.

233

3. KAPITEL

WAHRER "PLATONISMUS" UND WAHRER REALISMUS

Der transzendentale Idealismus des späten Husserl als ein

radikaler Immanentismus. — Die Äquivokationen im Begriff

des transzendentalen ego

Im Zusammenhang mit der Leugnung der metaphysischen

Transzendenz unseres Erkennens und an der Wurzel der wesenhaft

immanentistischen Transzendentalphilosophie stehen einige

Äquivokationen klassisch verschiedener Begriffe, bzw. die durch einen

vieldeutigen Ausdruck entstehende Verwirrung von fundamental

verschiedenen Wirklichkeiten. Es handele sich um eine verwirrende

Verwendung der Ausdrücke "Ich", "transzendentales Ich", "Geist"

usw., wie wir sie bei Kant, Fichte, Schelling, Hegel und allen

transzendental-idealistischen Systemen finden. Eine ähnliche

Äquivokation finden wir in Heideggers Begriff des "Daseins". Hier ist

nicht der geeignete Ort, auf diese einzelnen Denker getrennt

einzugehen, noch ihre Systeme darzustellen.

Wir wollen vielmehr an einigen Stellen aus Husserls Cartesianischen

Meditationen zu zeigen suchen, daß sich in seinem Begriff des

transzendentalen ego, wie er ihn im Laufe der Cartesianischen

Meditationen gebrauche, grundsätzlich verschiedene Wirklichkeiten

verbergen, und wie ohne ihre Verwirrung seine ganze

"Transzendentalphilosophie" nicht aufrechtzuerhalten ist. Ich bin

überzeugt, daß es genügt, diese — von jeder

Transzendentalphilosophie unabhängigen objektiven —

Urgegebenheiten klar zu unterscheiden, um gegen jeden

transzendentalen Idealismus, unter welcher Form auch immer,

gewappnet zu sein. Denn trotz aller Unterschiede der verschiedenen

Systeme295 liegt doch schon bei Kant jene vielfache Doppeldeutigkeit

295 Eugen Fink hat in seiner Studie Die phänomenologische Philosophie E.

Husserls in der gegenwärtigen Kritik, die E. Husserl selbst restlos gebilligt

hat, die Unterschiede zwischen dem kritizistischen Idealismus Kants und

des Neukantianismus und dem "transzendentalen Idealismus" Husserl

Ausfuhrlid behandelt, sowie auch deren gemeinsame Punkte. (Vgl.

besonders a. a. O., S. 95s—98, S. 106 ff.) Aber die von Fink betonten

Unterschiede betreffen keineswegs den Umstand, daß in beiden

234

des"Ich-Begriffes" zugrunde, die bei Husserl tragischerweise — im

Gegensatz zu seinem großartigen Beginn in den Logischen

Untersuchungen295 ihren Höhepunkt erreicht.

Wahrscheinlich ließe sich sogar zeigen, daß auch bei Averroes und in

jeder Philosophie, die dem Wesen der Person, als von allem

impersonalen "Geist" verschieden, nicht gerecht wird, dieselben

Doppeldeutigkeiten in anderer Form sich finden.

Wir wollen an einigen zentralen Stellen die Doppeldeutigkeit sowie die

Unterschiede klarstellen, auf die es uns hier ankommt, das Beispiel des

späten Husserl wählen wir aus mehreren Gründen.

Erstens weil er den Unterschied zwischen intentionalem,

gegenständlichem Bewußtsein und Bewußtseinsinhalt des vollzogenen

Bewußt- seins besonders klargemacht hatte und trotz dieser im ersten

Kapitel ausgeführten Unterschiede in einen radikalen Immanentismus

fiel.

Zweitens weil bei ihm die genannten Äquivokationen besonders

deutlich hervortreten und im erwähnten Spätwerk zu fassen sind.

transzendentalphilosophischen Systemen dieselben grundsätzlich

verschiedenen "Sachen", die den verschiedenen Begriffen von "ld,"

entsprechen, in einer verwirrenden Weise gebraucht werden und somit zu

schweren Irrtümern führen. Zwar führt E. Fink (a. a. O., S. 122 ff.) drei

verschiedene Ich-Begriffe an, die der "phänomenologischen Reduktion"

entsprechen, aber bei ihm findet sich nicht der leiseste Hinweis auf die

falsche Identifizierung und ausdrückliche Verwechslung dieser und

anderer verschiedener "Sachen", die wir im folgenden untersuchen wollen;

E. Fink bleibt ja prinzipiell innerhalb einer rein "immanenten" Darstellung

des Husserlschen "Systems", das er offensichtlich voll und ganz

unterschreibt. 295Seit der zweiten (nach den "Ideen..." revidierten) Auflage der Logischen

Untersuchungen finden sich dort allerdings verschiedendicke Aus-

führungen (vgl. a. a. O., II, I, S. 347, 348; 357, 363), in denen sich dieselben

Gedanken finden, denen Husserl in den Cartesianischen Meditationen

vielleicht den reinsten Ausdruck gegeben hat.

In den Logischen Untersuchungen (a. a. O., II, 1, S. 356 ff. und vor allem

S. 359 ff.) finden sich andererseits auch in den späteren Auflagen noch jene

aus der ersten Auflage übernommenen Unterscheidungen, in denen sich in

nuce die Aufdeckung jener späteren Äquivokationen und Irrtümer findet

die m. E. mit dem Begriff des "transzendentalen ego" verbunden sind.

235

Drittens weil dadurch klar wird, wie Heidegger dieselben Gedanken in

den immer ihm als gänzlich neu zugeschriebenen Begriffen des

"In-der-Welt-Seins" u. ä. übernommen hat und nur wenig von Husserls

radikalstem idealistischem Immanentismus abweicht. Statt der

Oberwindung des Gegensatzes zwischen "Realismus—Idealismus"

und der Seinsvergessenheit der ganzen bisherigen Philosophie und wie

die anderen maßlosen Ansprüche Heideggers lauten, finden wir bei ihm

den unheimlichsten metaphysischen Solipsismus und idealistischen

Immanentismus, der nur ein wenig mit "existentialistischen" Gedanken

vermischt ist.

Wir wollen die gänzlich verschiedenen Wirklichkeiten zunächst

nennen und dann an Stellen aus Husserl zeigen, wie sie alle im selben

Begriff des transzendentalen ego vermischt werden;296 durch das

systematische Übergehen notwendiger, intelligibler

Wesensunterschiede entsteht auch jene tiefe Verwirrung, ja letztlich

Unverständlichkeit, die Husserls und jede transzendental-idealistische

Philosophie kennzeichnet.

Manchmal meint Husserl mit dem transzendentalen ego nichts anderes

als

a) das konkrete, personale Subjekt; zumindest treffen die Aussagen, die

er macht, nur auf dieses zu. Dann wieder meint er

b) das in seiner Existenz eingeklammerte Ich, das Ich als reines Sosein

— als Phänomen; wieder an anderen Stellen

296 Roman Ingarden hat schon in seinen kritischen Bemerkungen zu den

Cartesianischen Meditationen (ebenda, S. 213), sowie in späteren

Vorträgen über E. Husserl (etwa in: Über den transzendentalen Idealismus

E. Husserls, a. a. O., S. 196, 197; 200—204) auf manche dieser

schwerwiegenden Äquivokationen im Begriff des "transzendentalen ego"

hingewiesen, allerdings mehr, indem er sie als "Schwierigkeiten"

bezeichnete, in die der Husserlsche Idealismus führe, und ohne auf alle der

hier genannten wesensverschiedenen Gebilde einzugehen, deren

Verwirrung in jedweder Form m. E. nicht bloß in unlösbare

Schwierigkeiten führt, sondern von Grund auf verkehrt ist.

R. Ingardens großes Verdienst Dein mir ferner darin zu liegen, daß er in

dem eben erwähnten Beitrag aus dem internationalen Kolloquium (der phä-

nomenologischen Philosophie) in Krefeld klar zeigt, daß der Gegensatz

Realismus-ldealismus" keineswegs, wie dies vielfach angenommen wird,

in dem "transzendentalen Idealismus" Husserls "überwunden" ist. Vgl.

dazu die folgenden Ausführungen.

236

c) meint er mit demselben Begriff nicht das ganz konkrete, bloß in

seiner Existenz eingeklammerte Ich als "Phänomen", sondern das in der

"eidetischen Wesensschau" zugängliche intelligible, notwendige

Wesen der Person, also den eigentlichen Gegenstand der

philosophischen Erkenntnis der Person. Schließlich

d) versteht er unter dem transzendentalen ego das transzendentale als

quasi-göttliches ego, als die ganze Welt konstituierend und als "Quelle

allen Seins, allen Sinnes, allen Erkennens". Einen anderen Aspekt

dieser Verwirrung enthüllt Husserl darin, daß er es

e) als "transzendentale Intersubiektivität" erklärt und darin den

Unterschied zwischen meiner Person und anderen Personen, meinem

ego und anderen "egos" zugleich voraussetzt und leugnet. Und

schließlich als sechster Sinn, der eine Nuance der beiden letztgenannten

darstellt, faßt Husserl

f) die transzendentale Subjektivität als Gegensatz zu jedem real

existierenden Subjekt, als dieses ausschließend, als eine reine "Ichheit",

die nicht individuell, sondern in allen die gleiche und alle konkreten

Ichs konstituierend ist (bei universaler Einklammerung von deren

Existenz).

A. Das transzendentale ego als konkrete, individuelle, existierende

Person

Zunächst finden sich bei Husserl viele Aussagen über das

"transzendentale ego", die "transzendentale Subjektivität", die

ausschließlich einen Sinn haben, wenn sie sich auf ein

individuell-existierendes Ich beziehen. Wenn Husserl von dem Ich

spricht, dem die ganze Welt gegeben ist, dem etwas erscheint, in

"dessen cogitationes mein ganzes Weltleben verläuft", das seinen

Seinsglauben aufgibt, das sich entschließt, oder wenn er von "dem

transzendentalen Ich des konkreten Philosophen" im Unterschied zu

anderen transzendentalen egos, von dem Ich, das Evidenzen hat usw.

spricht, so haben alle diese Aussagen von einem nicht lebendig und real

existierenden, personalen Ich überhaupt keinen Sinn. Einem nicht

existierenden ego kann weder eine Welt erscheinen, noch etwas evident

sein usw. Ein ego, das all die genannten Akte vollziehen kann, muß

notwendig individuell sein, bewußt existieren, voll real sein.

237

Noch deutlicher ist, daß Husserl oft mit dem transzendentalen ego die

konkret und individuell existierende Person meint, wenn er etwa sagt

(§ 9):297

"Wie weit kann das transzendentale Ich sich über sich selbst täuschen

und wie weit reimen die absolut zweifellosen Bestände trotz dieser

möglichen Täuschung?"

Ausschließlich eine real-existierende Person kann sich über sich

täuschen, ausschließlich das konkrete Subjekt. Es ist also kein Zweifel

darüber möglich, daß Husserl dieses oft "transzendentales ego" nennt.

Auch Landgrebe hat in einem Vortrag Über den Anfang der

Philosophie in der Philosophie Husseris, den er (am 6. Juni 1968) in

Salzburg hielt,298 darauf hingewiesen, daß Husserl zunächst unter dem

transzendentalen ego "das je eigene Id1 d" Philosophen" verstehe. Für

keine andere Wirklichkeit als die einzigartige des individuellen,

existierenden Subjekts haben ferner solche Aussagen einen Sinn (§ 8):

"Die Welt ist für mich überhaupt gar nichts anderes als die in solchem

Cogito bewußt seiende und mir geltende. Ihren ganzen... Sinn erhält sie

ausschließlid1 aus solchen cogitationes. In ihnen verläuft mein ganzes

Weltleben, wohin auch mein wissenschaftlich Forstendes und

begründendes Leben gehört. Ich kann in keine andere Welt hineinleben,

hineinerfahren, hineindenken, hineinwerten und -handeln..."

So schwere Irrtümer in dieser Stelle auf anklingen, so bezieht sie sich

doch eindeutig auf das konkrete Subjekt, in dessen cogito die Welt mir

bewußt ist. Nur einem existierenden, personalen Subjekt kann etwas

bewußt sein.

Dasselbe gilt ganz offenbar, wenn Husserl dem "transzendentalen ego"

die Fähigkeit zuschreibt, Fragen zu stellen. Auch das Ich, das Fragen

stellt, kann ausschließlich die konkret existierende Person sein (§ 41):

297 Wenn nichts anderes angegeben wird, beziehen sich die in Klammern

den Zitaten beigefügten §§-Nummern auf die Cartesianischen Medita-

tionen. 298 Vgl. etwa auch Landgrebes Beitrag am "Krefelder Kolloquium", Die

Bedeutung der Phänomenologie Husserl für die Selbstbesinnung der

Gegenwart, a. a. O., S. 220 ff.

238

"Wir fragen, wer ist denn das Ich, das solche transzendentale Fragen

rechtmäßig stellen kann? Kann in das als natürlicher Mensch...?"

Obwohl Husserl dies verneint, muß er sowohl unter "natürlichem Ich"

wie auch unter dem transzendentalen "Zuschauer-Ich", das allein

angeblich solche "transzendentale" Fragen stellen kann, das konkrete,

individuelle, existierende Ich verstehen, das allein die Fähigkeit besitzt,

überhaupt Fragen zu stellen.

Damit kommen wir auf eine im System Husserls wichtige Bemerkung.

Er spricht immer wieder von dem Akt "universaler epoché", in dem wir

allen Seinsglauben aufgeben, alle Existenz (auch die eigene!)

inhibieren, um reiner "Zuschauer unserer selbst" zu werden. Dieses

einklammernde ego, das zuschauen kann, kann wiederum

ausschließlich ein konkret-existierendes sein. (§ 15):

"Das Nicht-Mitmachen, Eids Enthalten des phänomenologisch

eingestellten Ich ist seine Sache."

Dieses "Ich", das sich "über dem naiv interessierten Ich" (interessiert

an der Existenz der Wirklichkeit, anderer Personen usw.) als das

phänomenologische, als "uninteressierter Zuschauer'' dieser

"unbeteiligte Zuschauer seiner selbst" kann wiederum nur die konkrete,

individuelle, bewußt existierende Person sein. Diese allein, dieses

einzigartig sich selbst bewußt besitzende Seiende allein kann schauen,

"sich selbst zuschauen" usw. Ebenso gilt dies, wenn Husserl in § 40

sagt, daß alles, was für mich ist und gilt, dies "in meiner

Bewußtseinssphäre" tut, daß alles "Bewußthaben einer Welt", daß alle

Wahrheit und Sein nur cogitatum meines cogito sei... usw. Wenn die

ganze Welt, zu der ich eine bewußte Beziehung habe, mir bewußt ist,

so kann dies wiederum nur das konkret und individuell existierende,

personale, bewußte Subjekt sein, von dem die Rede ist. Dabei liegt in

dieser Stelle wieder die später zu behandelnde Verwirrung zugrunde,

als würde die Tatsache, daß ich von nichts weiß, was nicht intentionaler

Gegenstand meines Bewußtseins wird, bzw. zu dem ich nicht in

bewußte, intentionale Beziehung trete, bedeuten, daß die Welt und alle

Seienden nur cogitata meines cogito wären, bzw. mir nie in ihrer von

meiner Subjektivität gänzlich unabhängigen Wirklichkeit gegeben sein

könnten.

239

Jedenfalls aber wollen wir hier ausdrücklich festhalten, daß sich das

von Husserl an all diesen und anderen Stellen Gesagte auf nichts

anderes sinnvollerweise beziehen kann als auf das konkret existierende

Ich, das sich von jedem nur ideal Existierenden oder von Wesenheiten,

aber auch Kunstwerken, mit einem Wort von allen geistigen Gebilden

außerpersonaler Natur durch eine Welt unterscheidet. Die zitierten

Husserl-Stellen beziehen sich

auf "die menschliche Person, die Seele des Menschen, die nicht nur in

einem analogen, sondern in einem gegenüber allem materiellen, allem

apersonalen Sein ungleich potenteren Sinn voll real ist,... die ganz

individuell, voll real hier und jetzt existiert'299...

"Innerhalb der metaphysischen Sphäre", so sagte D. von Hildebrand

weiter in dem zitierten Seminar, "scheint mir der allertiefste

Unterschied der zwischen Person und impersonalen Wesen zu sein, der

allertiefgreifendste außer dem von unendlich und endlich. Es ist dies

ein viel größerer Unterschied (Gegensatz) als zwischen Substanz und

Akzidenz oder irgend etwas anderes — eine neue Welt!" "Darum

möchte ich hier ausgehen von der Zweideutigkeit des Begriffes

,geistig'. Einmal meint man damit etwas Nichtmaterielles, entweder

etwas ideal Existierendes oder aber auch etwas Konkretes,

Individuelles, was aber doch nicht dieselbe Art der Realität wie ein

individueller Körper hat — und das andere Mal meint man das ganz

anders Geartete eines bewußten Subjektes, eine ganz neue Dimension

des Seins, das erwachte Sein, im Vergleich zu dem alles andere Sein

schläft, was das Mittelalter sehr schön mit dem Wort zum Ausdruck

gebracht hat: 'das sich selbst besitzende Sein'."

Ohne auf die von Hildebrand a. a. O. breit ausgeführte Beziehung

zwischen beiden Begriffen von "geistig" hier eingehen zu können, sei

durch diese Stellen nur klargemacht, daß die bisher von Husserl

zitierten Aussagen sich — ob er dies in jedem Fall zugibt oder nicht —

299 Die entscheidenden Unterschiede zwischen "geistig`. im Sinne des Per-

sonalen und im Sinne apersonaler Gebilde hat in ihrem ungeheuren Ge-

wicht und der durch die ganze Geschichte der Philosophie nie voll erkann-

ten Verschiedenheit Dietrich von Hildebrand in seinem Seminar "Geist und

Person" klar herausgearbeitet, das er 1964 in Salzburg hielt und daraus wir

einiges zitieren wollen. (Nach Originaltonbändern angefertigte Abschrift.)

240

offenbar auf dieses urreale, hic et nunc existierende, individuelle,

bewußte Sein, auf die Person beziehen.

Dies war gerade die von Husserl als "Rückfall in den Objektivismus"

betrachtete300— in Wirklichkeit aber klassisch-philosophische

Entdeckung Descartes'. Nur einem real-existierenden Subjekt kann

irgend etwas scheinen oder erscheinen. Nur dieses kann sich irren, wie

schon Augustinus zeigt. Diese meine Existenz ist mir unmittelbar selbst

gegeben. Ich kann von ihr absehen, aber indem ich das tue, setze ich sie

schon wieder voraus. Das heißt zweitens, daß alle Akte, von denen

Husserl spricht, alle Erkenntnisse, alle Evidenzen und alle

Einklammerung nur von einem existierenden, konkreten ego vollzogen

werden können, d. h. von dem von Husserl eingeklammerten, bzw. als

unerkennbar, ja unsinnig angesehenen "Endchen der wirklichen Welt"!

Das heißt schließlich drittens, daß alle nunmehr zu behandelnden

Bedeutungen von "transzendentalem ego" ausschließlich von der

Person erforscht und gestaut werden können. Alles Philosophieren —

sogar das "transzendental-phänomenologische", das dies zu vergessen

scheint — ist doch nur der Akt einer existierenden Person.301

B. Das transzendentale als das in seiner Existenz eingeklammerte

"ego", als "Ich-Phänomen"

An vielen Stellen leugnet Husserl emphatisch, daß er unter

transzendentalem ego das reale Subjekt meine, ja er behauptet, daß

dieses überhaupt keiner philosophischen Erkenntnis zugänglich sei,

daß Descartes hierin geirrt habe, schließlich sogar, daß es dieses gar

nicht gäbe.

(§ 8): "Dieses universale Außergeltungsetzen ... oder, wie auch gesagt

zu werden pflegt, diese phänomenologisch epoché oder dieses

Einklammern der objektiven Welt — stellt uns also nicht einem Nichts

gegenüber: ... was mir, dem Meditierenden dadurch zu eigen wird, ist

300 Abgesehen von den folgenden Stellen Husserls selbst vgl. dazu etwa

auch L. Landgrebes Aufsatz Die Bedeutung der Phänomenologie Husserls,

S. 217ff. 301 Dies hat S. Kierkegaard gegenüber dem Hegelianismus in seiner Un-

wissenschaftlichen Nachschrift zu den Philosophischen Brocken (I, II, 4a,

S. 97—101) klar hervorgehoben.

241

mein reines Leben mit all seinen reinen Gemeintheiten, das Universum

der Phänomene im Sinn der Phänomenologie..."

In § 7 bestimmt dies Husserl noch näher. (Das Sein der Welt nicht mehr

als selbstverständliche Tatsache, sondern nur noch als

"Geltungsphänomen".)

"... Im Zusammenhang damit darf es auch keineswegs als

selbstverständlich gelten, als ob wir in unserem apodiktischen reinen

ego ein kleines Endchen der Welt gerettet hätten, als das für das

philosophierende Ich einzig Unfragliche von der Welt und daß es nun

darauf ankomme, durch recht geleitete Schlußfolgerungen nach den

dem ego eingeborenen Prinzipien die übrige Welt hinzuzuerschließen.

Leider geht es so bei Descartes, mit der unscheinbaren, aber

verhängnisvollen Wendung, die das ego zur substantia cogitans, zur

abgetrennten menschlichen mens sive animus macht und zum

Ausgangsglied für Schlüsse nach dem Kausalprinzip, kurzum der

Wendung, durch die er zum Vater des (wie hier nodh nicht sichtlich

werden kann) widersinnigen transzendentalen Realismus302 geworden

ist. All das bleibt uns fern..." (Vgl. § 10 ff.)

Husserl setzt ausdrücklich hinzu, wir könnten das konkret existierende

Subjekt nicht erkennen, wenn wir beim unmittelbar Gegebenen bleiben

wollen, nämlich "nichts zur Aussage bringen, Evas wir nicht selbst

sehen". So habe Descartes die größte Entdeckung verfehlt, wenn auch

"fast gemacht".

In § 11 spricht Husserl noch deutlicher aus, daß es sich jetzt auf einmal

bei ihm im Begriff "transzendentales ego" um das in der Existenz

eingeklammerte Ich, das Ich als Phänomen handle:

"Dieses mir vermöge solcher epoché notwendig verbleibende Ich und

sein Ich-Leben ist nicht ein Stück der Welt, und sagt es: ,Ich bin, ego

cogito', so heißt dies nicht mehr: Ich, dieser Mensch, bin."

"Die phänomenologische epoché, die der Gang der gereinigten

Cartesianischen Meditationen von dem Philosophierenden fordert,

inhibiert die Seinsgeltung der objektiven Welt und schaltet sie damit

ganz und gar aus dem Urteilsfelde aus, und somit auch die

302 Diese Hervorhebung nicht im Original.

242

Seinsgeltung, wie aller objektiv apperzipierten Tatsachen, so auch

derjenigen der inneren Erfahrung."

"als dem transzendentalen Ich, dem erst mit der

transzendentalphänomenologischen epoché hervortretenden ..., als

reduziertes Ich" (S 11).

Also statt dem existierenden, einklammernden Subjekt (A) heißt jetzt

"durch eine scheinbar unscheinbare Wendung" auf einmal

transzendentales Ich etwas vollkommen anderes: das eingeklammerte

Ich als Phänomen.

In den §§ 12, 13 und 14 legt Husserl auf diesen Begriff des

tnnszendentalen ego das größte Gewicht:

"anstatt das ego cogito als apodiktisch evidente Prämisse für

vermeintlich zu führende Schlüsse auf eine transzendente Subjektivität

verwerten zu wollen, lenken wir unser Augenmerk darauf, daß die

phänomenologische epoché (mir, dem meditierenden Philosophen)

eine neuartige, unendliche Seinssphäre freilegt als Sphäre einer

neuartigen, transzendentalen Erfahrung..." (12). Diese "Wissenschaft

von der konkreten, transzendentalen Subjektivität" (13 ff.) "als in

wirklicher und In möglicher transzendentaler Erfahrung gegeben", also

"die gesamte transzendental-phänomenologische Forschung (ist) an die

unverbrüchliche Innehaltung der transzendentalen Reduktion

gebunden" (das ist wieder die Einklammerung der Existenz und damit

all die "Phänomene" von mir, meinen Akten und der Welt). (Vgl. S 14.)

Die in §§ 15, 16, 20 zu findenden weiteren Ausführungen über diesen

Begriff der transzendentalen Subjektivität interessieren uns hier nicht

weiter. Das einzig Entscheidende für uns ist jetzt, klar einen

vollkommen neuen Begriff des transzendentalen ego zu unterscheiden,

bzw. zu sehen, wie Husserl auf einmal von einer radikal verschiedenen

Wirklichkeit zu sprechen beginnt, nicht mehr von der existierenden

Person, sondern von dieser "als Phänomen".

Daß dieses "eingeklammerte Ich", das "Ich als Phänomen" von dem

ersten durch eine Welt verschieden ist, zeigt sich, wenn wir uns den

Aussagen zuwenden, die wir über es machen können und wenn wir

diese mit denen vergleichen, die wir über die Person, das allerrealste

und individuellste Seiende in der Welt machten.

1. Dieses Ich besitzt keine substantielle, reale Existenz, wie das erste.

243

2. Es ist eine (sehr künstliche und wie später klarwird, in mancher

Hinsicht widersinnige) Abstraktion, die ausschließlich als Objekt für

ein abstrahierendes, einklammerndes, real existierendes Subjekt

existiert; dieses "Ich als Phänomen" ist also nicht das erkennende

Subjekt, sondern nur das Objekt dieses erkennenden Subjekts.

3. Es besitzt kein bewußtes, personales Sein, nicht einmal eine ideale

Existenz, sondern ist das in seiner Existenz eingeklammerte reine

Sosein eines konkreten Ich.

4. Es kann deshalb keinen einzigen Akt vollziehen, weder

philosophieren, noch sonst etwas tun, sondern nur analysiert werden.

5. Es setzt nicht nur zu seiner Erkenntnis und "quasi-Existenz" als (von

der Existenz) abstrakter Erkenntnisgegenstand das real-existierende

Subjekt voraus, dessen Objekt es ist, sondern es enthält auch in sich

eine andere notwendige Beziehung auf ein real-existierendes Ich, auf

"das Endchen der wirklichen Welt", auf die "substantia cogitans",

insoferne es "dessen" mögliches Sosein ist, also die Möglichkeit der

Existenz einschließt (von der ja nur künstlich vom Philosophen

abgesehen wird), bzw. bei einem grundsätzlichen Absehen, ja Leugnen

der existierenden, seienden Welt, eine absurde Fiktion, ein Phantom

wird.

6. Wenn ich von diesem "reinen Ich" als Phänomen spreche und ihm

personale Eigenschaften zuschreibe (wie erkennen, vorstellen usw.),

dann kommen diese ihm ja nur zu, insofern ich es als Möglicher Weise)

so existierend, als real betrachte. Also: Nur wenn dieses Ich wirklich

existierte, hätte es irgendeine personale Eigenschaft, als

eingeklammertes, als bloßes "Phänomen" hat es keine solche.

7. Es ist zwar, wie Husserl immer wieder betont, konkret, solange nur

die Existenz eingeklammert ist, oder besser: es ist das — mögliche—

Sosein eines konkreten, personalen Ich. Es ist noch nicht die

allgemeine, notwendige Wesenheit. Damit kommen wir zu der dritten

Bedeutung des Begriffs transzendentales ego bei Husserl und müssen

dabei auch sehen, welchen eigentlichen Sinn die epoché, die

Einklammerung des Daseins, in der Philosophie zu spielen hat und wie

Husserl sie ganz äquivok gebraucht.

C. Das transzendentale ego als notwendiges, intelligibles Wesen d«

Person

244

Während Husserl, wie wir im vorigen Abschnitt gesehen haben,

zunächst das Ich in seiner ganzen Konkretheit beläßt und ausschließlich

die Existenz einklammert und alle übrigen Wissenschaften auf diesen

Boden stellen will, ja sogar die ganze Lebenseinstellung verändern

wollte in die eines "uninteressierten Zuschauers seiner selbst", was

besonders deutlich im erwähnten Vortrag Landgrebes in Salzburg

herauskam303 handelt es sich jetzt um den schon früher behandelten

klassischen Sinn der "Einklammerung", der in allen übrigen

Wissenschaften, die wesenhaft auf Realkonstatierung und Induktion

angewiesen sind, üb«haupt keinen Sinn hat, sondern nur in der

Philosophie, in der notwendige, intelligible Wesenheiten der Dinge

Gegenstand der Erkenntnis sind.

Durch das bloße "Einklammern der Existenz" erreiche ich in keiner

Weise die notwendige Wesenheit der Person, und dieses Absehen von

der konkreten Existenz des Seienden, von dem ich bei der

philosophischen Analyse ausgehe, gewinnt ausschließlich, wie Dietrich

von Hildebrand in entscheidender Weise gezeigt hat, einen Sinn, wo ff

sich um Data von so letzter innerer Notwendigkeit und Intelligibilität

handelt, die so auf eigenen Füßen und jenseits alles Zufälligen stehen,

daß auch ein geträumter Gegenstand als Erfahrungsgrundlage genügen

würde, um sich trotzdem über diese intelligiblen Data nicht zu

täuschen.304 Während ein Naturwissenschaftler jedes

Forschungsinteresse verliert, wenn sich herausstellt, daß der scheinbar

reale Gegenstand, von dem er ausging, nicht objektiv existierte,

sondern ein bloßer "Traumgegenstand" war, während dann auch seine

303 Vgl. dazu auch besonders L. Landerebe, Die Bedeutung der Phäno-

menologie Husserls, a. a. 0., S. 223. 304 Dies wurde schon S. 185 ff. ausführlicher behandelt. Hier sei nur noch

erwähnt, daß im Unterschied zu der vorigen Bedeutung von "transzenden-

talem ego" als in seiner Existenz eingeklammertem "Ich" als "Phänomen"

und im Gegensatz zu den sinnvollen, aber nicht notwendigen Soseins-

einheiten, die Husserl nicht von diesen unterscheidet, die notwendigen We-

senheiten eine schon vor jeder Abstraktion bestehende, echte

Allgemeinheit besitzen, die sich unserem Geiste als solche in ihrer

Notwendigkeit aufdrängt und keineswegs erst durch einen "Akt" der

Abstraktion erreicht wird. Vgl. dazu: What is philosophy? S. 129—131.

Dies hat auch Augustiaus in De Trinitate, IX, VI, 9—12, mit großer

Klarheit herausgearbeitet.

245

Ergebnisse zusammenbrechen und bloß "geträumt" sind, erschließt sich

mir der Gegenstand der Philosophie in seiner Wesensnotwendigkeit

und Allgemeingültigkeit in einer solchen Weise, daß, selbst wenn der

konkrete Ausgangspunkt nicht real sein sollte, der intelligible

Gegenstand der philosophischen Erkenntnis davon unberührt bleibt;305

wenn mir am Verhalten eines Menschen plötzlich das Wesen der

Wahrhaftigkeit oder der Ehrlichkeit aufgeht und nachträglich stellt sich

heraus, daß er gar nicht wirklich wahrhaftig war, sondern heuchelte,

dann ändert dies nichts an dem mir an ihm aufleuchtenden Wesen der

Wahrhaftigkeit und seiner allen Täuschungsmöglichkeiten enthobenen

objektiven Gültigkeit. Dies hängt damit zusammen, daß philosophische

Erkenntnis Einsicht in intelligible, notwendige Zusammenhänge und

nicht Feststellen von bloßen Fakten ist.

Während bei Husserls unter B ausgeführter universaler epoché nur ein

Gegenstand reiner Deskription vorliegt, der überdies alles Interesse

verliert, wenn diese Deskription sich nicht auf tatsächlich Existierendes

richtet, tritt nur bei dem Gegenstand philosophischer Erkenntnis, bei

dem eidos der Dinge, das zu klassisch ist, um jemals erfunden sein zu

können, der eigentliche Sinn dieses Absehens von konkreter Existenz

klar hervor. Also hier handelt es sich in keiner Weise um das Ich und

die Welt in aller Konkretheit mit eingeklammerter Existenz als ein

Geltungsphänomen, um eine "phantomhafte" Welt, sondern um die

intelligible Wesenheit, die nicht Gegenstand der anderen

Wissenschaften, sondern Gegenstand der Philosophie ist. Husserl

spricht auch von dieser Einsicht (wenn auch in einem sehr mit

Irrtümern verbundenen Sinn), wenn er von der "eidetischen Intuition"

als zweiter phänomenologischer Methode neben der epoché spricht.

Dies tritt ganz klar in § 34 hervor, wo also auf einmal die apriorischen,

wesensnotwendigen Zusammenhänge, der klassische Gegenstand der

Philosophie seit Platon und Aristoteles, an die Stelle des phantomhaften

"Phänomens" des Ich und der Welt treten.

Um das Wesen dieser ganz anderen, klassischen Gegebenheit zu

erforschen, die Husserl mitunter mit transzendentalem ego meint,

wenden wir uns wieder den Aussagen zu, die wir über diese Wesenheit

der Person im Unterschied zum bloßen Gegenstand einer "Deskription"

machen können.

305 Vgl. dazu die Analysen im vergangenen Kapitel, sowie die in diesem

Kapitel folgenden Analysen der notwendigen Wesenheiten.

246

1. Während jene in der Existenz eingeklammerte konkrete Person eine

reine Abstraktion ist, die ihre ganze "Existenz" dem Akt des Subjekts

verdankt, dem es beliebt, von aller konkreten Existenz abzusehen,

besitzt die intelligible Wesenheit der Person eine "ideale Existenz".

2. Sie besitzt einen in sich notwendigen, intelligiblen Charakter,

während das bloße Absehen von der Existenz in keiner Weise dazu

führt, sondern dabei alle Zufälligkeit, alles Andersseinkönnen bestehen

bleibt, das dem Menschen in all den Aspekten eignet, die die

Naturwissenschaften erforschen, wo es sich um von außen kommende

Realkonstatierungen handelt; auch allen sinnvollen, aber doch nicht

intelligiblen Verbindungen von "Elementen", wie wir sie bei Pflanzen,

Tieren, Kunstwerken, in der Natur finden, haftet diese Zufälligkeit306

an. Die notwendige Wesenheit hat hingegen keinerlei

Erfindungscharakter, ist auch nicht einmal eine Erfindung Gottes; sie

ist auch niemals von einem (Kontingenten) ego konstituiert, ist in sich.

3. Sie selbst hat im Unterschied zu A keinerlei personale Eigenschaften,

sondern ist die ideal existierende, intelligible Wesenheit personalen

Seins.

4. Dennoch — und auch das läßt Husserl mit seiner "totalen epoché" in

geradezu widersinniger Weise weg — besteht eine Urbeziehung

zwischen intelligiblem Sosein der Person und konkreten Personen.

Denn alle Wesenseigenschaften der Person, das heißt, alle

Eigenschaften, die ich in der "eidetischen Intuition" als wesenhaft der

Person eigen erfasse, wie freier Wille, Bewußtsein, ihre verschiedenen

Akte usw. — all dies sind ja Eigenschaften, die nicht die "Wesenheit

der Person" selbst, sondern ausschließlich konkrete, existierende

Personen besitzen. Wenn ich etwa über das Wesen sittlicher Schuld

nachdenke, erfasse ich ja doch, daß nicht dieses "allgemeine" Wesen,

sondern nur eine individuelle, existierende Person schuldig sein kann.

Ich schaue gleichsam "durch die allgemeine, notwendige Wesenheit

der Person" viel tiefer auf das, was die konkret existierende Person an

Eigenschaften besitzt, was sie ist. Eine reine Wesensforschung, bei

nicht nur systematischer methodischer Einklammerung der Existenz,

um die notwendige, intelligible Wesenheit zu erforschen, sondern bei

306 Zufällig heißt hier einfach "kontingent" bzw. nicht wesensnotwendig

und hat nichts mit Zufall im engeren Sinn und dem Fehlen eines aus-

drücklich gewollten Sinnes zu tun.

247

Ausklammerung, ja völliger Leugnung allen Interesses an der Existenz

von etwas, ist ein Unding, eine Phantomphilosophie.307

§ 15: "Also im konsequenten Vollzug der phänomenologischen

Reduktion verbleibt uns das offen endlose reine Bewußtseinsleben. . ."

(Vgl. auch §§ 16, 20, 21).308

D. Das transzendentale ego als Ursprung allen Sinnes und aller Geltung

— Transzendentalphilosophie als Gegenteil der

Transzendenzphilosophie

Es ist entscheidend, zu sehen, daß bei Husserl ohne Unterscheidungen

in verwirrenden Obergängen nicht nur gänzlich verschiedene

klassische Wirklichkeiten verwechselt, sondern auch Fiktionen

angesetzt werden, indem menschlich-personale, göttliche und

außerpersonale Eigenschaften mit in sich unmöglichen "Fähigkeiten"

in eins verschmolzen werden. Jetzt geraten wir an eine solche Fiktion,

nämlich an Husserls Begriff eines "transzendentalen ego" als

307 Vgl. S.290 ff. dieses Kapitels. 308 Der Begriff "phänomenologische Reduktion" hat also, wie nod1 klarer

werden wird, bei Husserl drei Wesentlich verschiedene Bedeutungen, was

zu einer ähnlichen Verwirrung führt, wie die Äquivokation im Begriff des

"transzendentalen ego":

1. Epoché als das Inhibieren der Existenz der Welt und des Ich, wodurch

das künstliche Gebilde (B) der Welt und des Ich in all ihrer Konkretion als

reines "Phänomen" entsteht.

2. Die Epoché als das berechtigte und klassische Absehen von der kon-

kreten Existenz des Seienden, an dem uns das notwendige, intelligible

Wesen der Person, der Sittlichkeit, der Erkenntnis aufgeht, wobei dieses

Wesen selbst jedoch eine notwendige Beziehung auf das real und konkret

Existierende hat, das ihm entspricht, "dessen" Wesen es ist.

3. Epoché als das radikale Ausklammern der konkret existierenden Welt

als Gegensatz zu jedem Behaupten der realen Existenz des "Ich" und der

"Welt". (Vgl. dazu S. 255 ff. dieses Kapitels.)

248

quasischöpferisches,309a ja quasi-göttliches Sein.309 Dies beginnt schon

im § 8:

"Die Welt ist für mich überhaupt gar nichts anderes als die in solchem

cogito bewußt seiende und mir geltende. Ihren ganzen, ihren

universalen, und spezialen Sinn und ihre Seinsgehung hat sie

ausschließlich aus solchen cogitationes... ich kann in keine andere Welt

hineinleben... als die in mir und aus mir selbst Sinn und Geltung hat."

Hier werden zwei radikal verschiedene Dinge verwechselt Die erste

These ist richtig: Sicherlich ist es wahr, daß ich alles Sein; von dem

ich weiß, durch , "cogitationes" erfasse, daß ich in Erkenntnisakten von

allem Sinn und Wert Kenntnis habe, mit dem ich in Berührung bin.

Aber zunächst kann ich nicht nur annehmen, sondern klar erkennen,

daß das Sein auch vor meiner Evidenz war, daß es weit über mein

Erkennen hinausreicht, sogar über das Erkennen, zu dem ich prinzipiell

fähig bin. Aber vor allem, und das ist noch wichtiger: Es ist eine zweite

total verschiedene These, die Welt, von der ich rezeptiv Kenntnis habe,

die meinem Leben Sinn und Wert gibt, die ich zwar nur durch meine

Akte erfasse, die aber in Wirklichkeit, d. i. an sich, besteht, sei

eigentlich von meinen cogitationes "konstituiert", empfange aus ihnen

ihren Sinn und Wert. Hier kommen wir auf das seit Kant grundlegende

Dogma der Transzendental Philosophie, auf ihre grundlegende

Verwechslung zu sprechen. Die erste wahre These wird mit der zweiten

falschen verwechselt. Diese widerstreitet nicht nur jeder Erfahrung,

309a Zur Berechtigung des Ausdrucks "quasi-schöpferisch" vgl. S. 130

(Anm. 164) dieser Arbeit und J. Seifert, Kritik am Relativismus und

Immanentismus in E. Husserls "Cartesianischen Meditationen", in:

Salzburger Jb. f. Philos XIV/1970, 101 ff., wo der Begriff der passiven

Synthesis bei Husserl im Verhältnis zum Begriff "Schöpfung" behandelt

wird. 309 In dieser neuen Bedeutung von "transzendentalem ego" spricht Husserl

von diesem schon in den Ideen... als "absolutes Sein", als Sein, "quae nulla

re indiget ad existendum", wobei mit nulla re nicht nur jedes geschaffene

Seiende gemeint ist, wie bei Descartes, sondern offenbar jedes Sein

überhaupt. R Ingarden hat in Über den transzendentalen Idealismus bei E.

Husserl, a. a. O., s. 199—204, auf die vielfache Doppeldeutigkeit hinge-

wiesen, die dem Husserlschen Begriff des "absoluten Seins" zugrunde

liegt.

249

unserem bewußten Dialog mit der Welt, in dem wir offenbar nicht den

Sinn der "Worte" geben, die wir empfangen und vernehmen, sondern

es widerstreitet auch der Wahrheit, da dieser Dialog nicht nur ein

psychologischer Aspekt, sondern eine letzte metaphysische Realität ist.

Hier wird die Rezeptivität des Subjekts ganz stillschweigend als bloßer

Aspekt gedeutet, ohne die ungeheuerliche Wendung zu sehen, die das

einschließt und die Kant wenigstens noch als solche (kopernikanische)

bis zu einem gewissen Grade erkannt hat.

"So geht also in der Tat dem natürlichen Sein der Welt... voran als an

sich frischeres Sein das des reinen ego und seiner cogitationes. Der

natürliche Seinsboden ist in seiner Seinsgeltung sekundär, er setzt

beständig den transzendentalen voraus...". (§ 8). "Für mich, das

meditierende Ich, das, in der epoché stehend und verbleibend, sich

ausschließlich als Geltungsgrund aller objektiven Geltungen und

Gründe setzt, gibt es also kein psychologisches Ich, keine psychischen

Phänomene ... als Bestandstücke psycho-physischer Menschen... Die

objektive Welt, die für mich ist, die für mich je war und sein wird, je

sein kann mit allen ihren Objekten, schöpft, sagte ich, ihren ganzen

Sinn und ihre Seinsgeltung, die sie jeweils für mich hat, aus mir selbst,

aus mir als dem transzendentalen ich..." (§ 11).

Diese Position also in der vierten Bedeutung des transzendentalen Ich

bringt außerdem in der radikalsten Weise das zum Ausdruck, was schon

bei Kant vorliegt: die kopernikanische Wendung; nicht mehr das Sein

und die Werte erschließen sich meinem empfangenden Geist, sondern

wir bestimmen diese — bei Husserl nur ohne jedes "Ding an

sich" als Grenzbegriff.

Die Einsichtigkeit des Sachverhalts, daß nur das Subjekt durch seine

Akte zu der objektiven Welt Zugang haben kann, das Geheimnis jeder

Person, daß in ihr gleichsam eine neue Welt liegt, daß, indem diese sich

ihr erschließt, die ganze Welt gleichsam ein neues, unersetzliches Mal

bewußt ergriffen und erfaßt wird — diese Wahrheiten werden

stillschweigend mit einer nicht nur uneinsichtigen, sondern sogar

einsichtiger Weise falschen These identifiziert: daß diese gesamte

Wirklichkeit durch meine Akte begründet werde, aus mir Sinn und

Geltung habe. Dies führt zu einem radikalen Immanentismus trotz

250

allem "Gerede" von Transzendenz, und hier berühren wir etwas, was

auch für Heideggers Philosophie gilt:

"Zum eigenen Sinn alles Geldideen gehört diese Transzendenz,

obschon es den gesamten es bestimmenden Sinn, und mit seiner

Seinsgeltung, nur aus meinem Erfahren, aus meinem jeweiligen

Vorstellen, Denken, Tun, Werten gewinnt und gewinnen kann — aud1

den eines eventuell evident gültigen Seins, eben aus meinen eigenen

Evidenzen, aus meinen begründenden Akten. Gehört zum eigenen Sinn

der Welt diese Transzendenz irreellen Beschlossenseins, so heißt dann

das Ich selbst, das sie als geltenden Sinn in siel trägt, und von diesem

seinerseits notwendig vorausgesetzt ist, im phänomenologischen Sinne

transzendental; die aus dieser Korrelation erwachsenden Probleme

heißen demnach, transzendental-philosophische." (§ 11)

Hier sehen wir also, was transzendental nun bei Husserl eigentlich

bedeutet. Ebenso sehen wir, wie hier bei aller Betonung der

"Transzendenz" der Welt der äußerste denkbare Immanentismus

vorliegt. Gerade da die dem Subjekt transzendente, objektive

Wirklichkeit, der objektive Sinn, die objektiven Werte geleugnet

werden, an denen das Subjekt teilhaben könnte, wird die Quelle dieses

Sinnes vom Sein selbst in das Subjekt verlegt, das durch seine Natur

gleichsam alle "transzendente Welt" begründet. Und diese Tätigkeit,

diese quasigöttliche, schöpferische Tätigkeit, die vollkommen allem

unmittelbar Gegebenen widerstreitet (siehe die oben behandelte

Verwechslung) begründet allen "scheinbar" jenseits des Subjekts

liegenden "immanent-transzendenten" Sinn. Insofern also mein ego

angeblich allen transzendenten Sinn gibt, heißt es transzendental.

Dieses Sinngeben geht weit über alles Schaffen hinaus, dem ja

zumindest die Sinnprinzipien des Schaffens und des Geschaffenen

absolut vorgegeben sind. Die Husserlsche Konstitution bringt auch

diese noch hervor und ist noch "schöpferischer" als alles Schaffen. Also

ist die Transzendentalphilosophie der genaue Gegensatz zu der

Transzendenzphilosophie

und betrifft ein Unding, bringt schon als Begriff einen Irrtum zum

Ausdruck.

Wenn ich als Kontingente Person etwas als bloßes "Objekt für mich"

"setze", so bleibe ich in einem vollkommenen Immanentismus

eingeschlossen und das von mir "Gesetzte" verbleibt als bloßer

251

Bewußtseinsgegenstand ohne transzendente Realität.310 Wenn Gott

hingegen etwas schafft, so verleiht er diesem Seienden ein von dem

"Objektsein für Gottes Geist" unabhängiges Sein. Er verleiht ihm volle

autonome Realität. Dies darf allerdings nur so verstanden werden, daß

der Mensd1 nicht bloß ein Objekt für Gottes Erkennen, sondern eine

substantielle, freie Person ist, die von ihm verschieden ist und niemals

so, daß der Mensch durch sich selbst "autonom" bestehen, werden oder

sein könnte. Wenn ich allerdings nicht begreife, daß Gott, ich und

andere Personen nicht ein selbes "Ich" besitzen können, dann verstehe

ich solche Wesenswidersprüche nicht. Aber dies ist absolut evident.

Mit anderen Worten: Ganz gleichgültig, ob ich wäre oder nicht, wären

die anderen Personen und Gott. Ferner sind alle anderen Personen und

ich selbst Kontingent, Gott allein ist absolut. All diese

Unterscheidungen, die hier nur angedeutet werden können, und viele

andere werden aber selbst von dem so besonders für Unterscheidungen

und exakte philosophische Herausarbeitung der Dinge angelegten

Husserl einfach umgangen.

Indem Husserl die eigentliche Rezeptivität des Erkennens in dem früher

bestimmten Sinn leugnet, gibt er auch dem Begriff intentional den Sinn

von "spontan". Er behauptet also, aller rezeptiven intentionalen

Tätigkeit des Subjekts liege letztlich eine spontane zugrunde. (Vgl. §

14 und auch § 20.) Damit wird weiter sogar das Widersinnige

behauptet, daß alle Sinnfülle und alle Wesenheiten vom

transzendentalen ego konstituiert würden, also nicht objektive, in sich

notwendige Sinneinheiten darstellen, sondern eine vom Subjekt

ausgehende Synthesis seien — ein "Zusammendenken" gleichsam.311

310 Innerhalb meiner Ichheit". Denken wir nur an das dritte Grundprinzip

des Fichteschen Systems. Vgl. dazu die Ausführungen über das "Ding an

sich" in den beiden vorigen Kapiteln. 311 Trotz gewisser Versuche bei Husserl, diesen "Anthropologismus" und

aprioristischen Konstruktivismus zu überwinden, ist dies von Husserls

Ansatz der "Konstitution" der Welt durch ein transzendentales ego her

unmöglich, was im folgenden Abschnitt noch deutlicher wird.

Vollkommen zu Recht bestehen daher folgende Bedenken, die R. Ingarden

zu den Cartesianischen Meditationen (a. a. O., S. 219) geäußert hat:

"Ich könnte nicht sagen, daß die echten idealen Gegenstände: die Ideen, die

idealen Begriffe und die Wesenheiten, 'Produkte', 'intentionale Gebilde'

sind, die in subjektiven Operationen geschaffen werden. Und dies nicht nur

252

E. Das transzendentale egoals Gegensatz zur real existierenden Person

aus dem Grunde, weil mir meine Intuition diese Gegenständlichkeiten als

unschaffbar, unentstehbar zeigt, sondern auch aus dem wissenschaftstheo-

retischen Grunde, daß dann die Idee einer eidetischen Wissenschaft, sich

entweder widersinnig zeigt oder sich in die Idee: 'Schöpfung besonderer

Art' verwandelt..." Besonders dem als erstes erhobenen Bedenken

Ingardens muß voll und ganz zugestimmt werden, wenn man die Stellen

aus den Cartesianischen Meditationen (§ 38 ff.) betrachtet, auf die er sich

dabei bezieht: Husserl unterscheidet dort zwischen einer "aktiven und einer

passiven Genesis" und sagt dazu: "In der ersten fungiert das Ich als durch

spezifische Ichakte, als erzeugendes, konstituierendes"... er spricht weiter

von "Vernunfterzeugnissen, die insgesamt den Charakter der Irrealität

haben (der idealen Gegenstände)". (§ 38) R. Ingarden weist auch an der

erwähnten Stelle auf den inneren Widerspruch hin, in den jede Auffassung

des Erkennens als Erzeugen von etwas führt und der zu Anfang des zweiten

Kapitels (II. Teil) der vorliegenden Arbeit behandelt wurde.

Noch in mancher Hinsicht ausführlicher bringt Ingarden dieselben Argu-

mente in Über den transzendentalen Idealismus bei E. Husserl (a. a. O., S.

192, 193, 195 ff.) vor. Dabei gilt, wie schon aus den zitierten Stellen

hervorgeht, die Husserlsche Auffassung des Hervorbringens und Konsti-

tuierens der Welt im Bewußtsein ebenso für die passive Arie für die aktive

Genesis, eben "für allen Sinn". Husserl spricht von der "Konstitution durch

passive Genesis" (§ 38, S. 112).

Wenn Husserl das "reine ego" nicht als das göttliche, absolute Sein selbst

faßt, in dem dann die notwendigen Wesenheiten gegründet (allerdings

nicht von ihm geschaffen, erzeugt etc.) wären, ist ein anthropologistischer

Relativismus, wie Husserl selbst ihn in den Logischen Untersuchungen be-

stimmt und als widersinnig widerlegt hat, die unausweichliche Folge.

Daran wird auch nichts durch den von Husserl als gänzlich in seinem

Geiste approbierten Versuch E. Finks geändert, der versucht, einen

wesentlichen Unterschied zwischen der Husserlschen "Konstitutionsidee"

und der kritizistischen herauszuarbeiten. (Vgl. bes.: E. Husserl in der

gegenwärtigen Kritik, a. a. O., S. 145 ff.). Denn diese bleiben im

wesentlichen doch gleich, wie die erwähnten Stellen zeigen. Vor allem aber

führt die Husserlsche Idee des "transzendentalen ego" als "absolutes

Alleben", die gleich besprochen werden soll, außer zu den bisherigen

Äquivokationen und Irrtümern noch zu anderen inneren Widersprüchen,

die Husserls "transzendentalen Idealismus" als innerlich unhaltbar

erweisen werden.

253

F. Der transzendentale Idealismus und die transzendentale

Intersubjektivität

Wenn wir uns die Frage stellen: Was ist dieses transzendentale ego in

dem zuletzt erwähnten Sinn, was entspricht ihm als Wirklichkeit?,

so müssen wir sagen: nichts. Es ist eine phantastische Erfindung.

Erstens gibt es keine Wirklichkeit, welche Ideen, notwendige

Wesenheiten usw. konstituiert bzw. schafft.. Einzig in Gott, der damit

aber wesenhaft selbst ewig ist, sind alle Wesenheiten in einem ganz

anderen geheimnisvollen Sinn "begründet". Also werden hier dem

transzendentalen ego, der Kontingenten, begrenzten Person

quasigöttliche Prädikate zugeschrieben. Anderseits ist diese

Wirklichkeit nach Husserl überhaupt keine Person, überhaupt kein

individuelles Ich mehr, aber auch nicht eine Wesenheit. Gott, ideales

Sein, andere Personen und "ich" sind hier in einer phantastisch

unheimlichen Weise miteinander verwirrt.

Nachdem Husserl (§ 40) noch einmal ausgeführt hat, daß alles "Sein

und alle Wahrheit ganz und gar in mir verläuft", aller Sinn und alle

Werte von meinen cogitationes konstituiert würden, stellt er die

cartesianische Frage:

"Aber wie kann dieses ganze, in der Immanenz des Bewußtseinslebens

verlaufende Spiel objektive Bedeutung gewinnen? Wie kann die

Evidenz (die clara et distincta perceptio) mehr beanspruchen, als ein

Bewußtseinscharakter in mir zu sein? Es ist (unter Beiseitelegung der

vielleicht gar nicht so gleichgültigen Ausschaltung der Seinsgeltung

der Welt) das Cartesianische Problem, das durch die göttliche veracitas

gelöst werden sollte."

In § 41 löst Husserl die ganze Frage mit einer Sophistik, die schon

bedenklid1 an Heidegger erinnert, mit dem "Außer-Mir", das ich immer

schon als natürlicher Mensch habe (das berühmte "In-der-Welt-Sein"

Heideggers ist also ein Husserlscher Gedanke); er bezeichnet einfade

das cartesianische Problem als einen Widersinn, ohne richtige Gründe

dafür angeben zu können. Dann aber verkündet er seinen

Immanentismus noch klarer:

254

"Transzendenz in jeder Form ist ein immanenter, innerhalb des ego sich

konstituierender Seinscharakter. Jeder erdenkliche Sinn, jedes

erdenkliche Sein, ob es immanent oder transzendent heißt, fällt in den

Bereich der transzendentalen Subjektivität als der Sinn und Sein

konstituierenden."

"Das Universum wahren Seins fassen zu wollen als etwas, das

außerhalb des Universums möglichen Bewußtseins, möglicher

Erkenntnis, möglicher Evidenz steht,... ist unsinnig. Wesensmäßig

gehört beides zusammen, und wesensmäßig Zusammengehöriges ist

auch konkret eins, eins in der absoluten einzigen Konkretion der

transzendentalen Subjektivität." (§ 41)

Wenn wir uns fragen, was Husserl denn mit Bewußtsein meine,

außerhalb dessen es kein Sein geben soll, so stoßen wir auch auf eine

weitere, von den bisher behandelten ganz verschiedene

Doppeldeutigkeit. Husserl meint mit diesem Begriff nicht nur ohne

klare Unterscheidung einmal die reale Person, dann die in ihrer

Existenz eingeklammerte als "Ich-Phänomen", dann die intelligible

Wesenheit, dann eine quasi-göttliche Fähigkeit des Menschen —

sondern die Rede von "dem Bewußtsein" verschleiert auch noch die

Tatsache, daß es Verschiedene bewußte Seiende gibt und nicht ein

Bewußtsein.

1. Das transzendentale Ich und die verschiedenen "Ichs" — die Frage

des Solipsismus

Gehen wir auf die Aussagen Husserls zurück, in denen er unter dem

transzendentalen Ich das bewußte Sein selbst meint (A), die einzige

Wirklichkeit, die adäquat mit dem Ausdruck "Bewußtsein" bezeichnet

wird, so taucht die entscheidende Frage auf: Welches Bewußtsein meint

Husserl hier? — Ist mein, des Philosophierenden Ich, Bewußt sein

gemeint, ist das Bewußtsein einer anderen Person gemeint, oder ist gar

das bewußte Sein des absoluten Seins, Gottes, gemeint?

Nun ist es aber unmöglich, wenn man verschiedene bewußte Seiende

erkennt, von einem oder von dem Bewußtsein zu sprechen, jenseits

dessen es nichts geben könne. Denn wenn es nicht nur ein einziges,

sondern mehrere bewußte Seiende gilt, so ist es eine wesensnotwendige

und intelligible Tatsache, daß eine Person (ein bewußtes Seiendes) der

anderen transzendent sein muß. Um ein anderes bewußtes Sein

255

erkennen zu können, muß ich notwendig etwas erkennen können, was

ich nicht bin und was nicht nur aus meinen Akten seine Gültigkeit und

sein Sein erhält.

Diese notwendige, ewige Wahrheit wird nur durch das Sophisma

Husserls — und aller idealistischen Philosophie — verschleiert, daß

man mit demselben Begriff "Ich", "Subjekt", "ego", "transzendentale

Subjektivität" usw. bald mich und bald andere Personen — oder gar

Gott — meint. Es ist dann jedoch ein glatter Widerspruch zu behaupten,

es gäbe keine Möglichkeit, ein transzendentes Sein als solches zu

erkennen, was nicht durch das Bewußtsein konstituiert sei, und

anderseits den notwendig aus einer solchen Position sich ergeben den

Solipsismus abzulehnen. Scheinbare Plausibilität erreicht dieses

Sophisma dadurch, daß man nicht von mir und anderen Personen

spricht, sondern "vom Bewußtsein", das sich schließlich als

"lntersubjektivität erfährt". Man verdeckt damit die Wahrheit, daß

nämlich in dem Augenblick, da ein Bewußtsein (= bewußtes Sein) von

anderen bewußten Seienden Bewußtsein besitzt und diese real

existieren, sie dem ersten absolut transzendent und keineswegs bloß

von ihm konstituiert sein können.

Diesem Widerspruch entgeht man noch weniger, wenn man das

"Bewußtsein" als das "Wesen eines jedes bewußten Seins" auffaßt,

denn gerade dann gehört — im Augenblick, in dem man verschiedene

bewußte Seiende anerkennt — wesensnotwendig zum Bewußtsein in

Gemeinschaft ein transzendentes Erkennen, um die Realität einer

andern Person erkennen zu können.

Im Augenblick nämlich, in dem man behauptet, jenseits des

Bewußtseins gäbe es kein Sein und alles Sein, alle Transzendenz sei in

dem Sinn immanent, als sie "ihren ganzen, ihren universalen und

spezialen Sinn und ihre Seinsgeltung ausschließlich in solchen

cogitationes hat" (§ 8), führt eine solche Position notwendig in den

Solipsismus. Im Augenblick, in dem man sagt: "Transzendenz in jeder

Form ist ein immanenter, innerhalb des ego sich konstituierender

Seinscharakter" (S 41), leugnet man die Transzendenz im

metaphysischen Sinne, in dem sie in diesem Teil behandelt wird und

kann nur mehr ein Bewußtsein (das "Ich") anerkennen und niemals

mehr andere reale Personen, die ja noch viel mehr meinem Bewußtsein

transzendent sind als irgendein materieller Gegenstand.

Dieser Solipsismus wird auch von Husserl als Folge seiner Position

gesehen und schließlich keineswegs wirklich überwunden.

256

"Aber wie steht es dann mit den anderen ego's, die doch nicht bloße

Vorstellung und Vorgestelltes in mir sind, synthetische Einheit

möglicher Bewährung in mir, sondern sinngemäß eben Andere. Haben

wir also dem transzendentalen Realismus" (damit ist Descartes'

Philosophie gemeint) "nicht Unrecht getan? Es mag ihm an

phänomenologischer Grundlegung fehlen, aber im Prinzipiellen behält

er Recht, insofern als er einen Weg von der Immanenz des ego zur

Transzendenz des Andern sucht." (§ 42)

Husserl gibt hier also mehr oder minder klar zu, daß der andere

wesenhaft nicht nur in einer "immanenten", sondern einer wirklichen

Transzendenz, nicht bloß als in mir konstituiert und aus meinen

cogitationes allen Sinn und Seinsgeltung schöpfend, zumindest zu

existieren "scheint". Husserl gibt auch zu, daß es unmöglich scheint,

aus seiner Position den Solipsismus zu vermeiden:

,,Unwillkürlich halte ich mich, das ego, für einen solus ipse, und halte

alle konstitutiven Bestände, schon nachdem ich ein erstes Verständnis

gewonnen habe, für konstitutive Leistungen, immer nod1 für bloß

eigene Gehalte dieses eigenen ego. (§ 62)

So gut Husserl aber auch diesen unausweichlichen Solipsismus

einzusehen scheint, so ist doch seine Widerlegung desselben eine reine

Scheinwiderlegung, im Grunde ein irreführendes Spiel mit Worten.

(Genau dasselbe gilt von Heideggers Lösung dieses Problems, die er

übrigens vollkommen vom späten Husserl übernommen und dabei wie

etwas unerhört Neues ausgegeben hat).312 So schreibt Husserl:

,,Wenn in mir, dem transzendentalen ego, wie faktisch, andere egales

transzendental konstituiert sind, und, als von der mir damit

erwachsenen transzendentalen lntersubjektivität ihrerseits konstituiert,

eine allgemeinsame objektive Welt, so gilt alles vorhin Gesagte nicht

bloß für mein faktisches ego, sondern auch für diese faktische in der

meinen Sinn und Seinsgeltung gewinnende lntersubjektivität und

Welt." (S 41)

312 Vgl. Sein und Zeit, §§ 12, 13, 18 B—21; 26, 27; 43, 44.

257

Ohne mich hier auf eine ausführliche Auslegung fieser Stelle einlassen

zu können, sei nur bemerkt, daß fiese "anderen", mit denen ich eine

gemeinsame Welt habe, dennoch bloß "in mir, dem transzendentalen

ego, konstituiert" bleiben. Das aber heiße nichts anderes als die

offenkundige Wahrheit, daß ich in einer Welt mit anderen Personen zu

leben scheine, daß das "phänomenale Bild der Welt", das

"In-der-Welt-Sein" sich so gibt. Aber — und das ist die

allentscheidende Frage — ist es wirklich so? Sind diese anderen

Personen voll real und das heiße nichts anderes, als wirklich meinem

Sein transzendent, unabhängig von meinen Akten, in sich real, genauso

wie mein Sein nicht bloß "als Objekt ihrer cogitationes" sein kann?

Wenn andere historische Personen real sind, müssen sie ja schon vor

mir existiere haben, wie ein Sokrates oder Augustinus, und nicht nur

von Gnaden meiner cogitationes, "in denen mein Weltleben verläuft"

und darin ich sie denke. Wenn aber jetzt lebende Personen nicht

unabhängig von meinem Bewußtsein und seinen Akten und jenseits

ihrer existieren, so sind sie überhaupt nicht real.

Ohne eine solche in ihrem Wesen liegende Unabhängigkeit von

meinem Geist zu haben, sind sie überhaupt nicht, wie schon im ersten

und zweiten Kapitel dieses Teiles gezeigt wurde — auch wenn ich in

meiner Welterfahrung noch so konkret und eng mit ihnenzusammen zu

leben scheine. Denn dies wäre dann ein bloßer Schein in der

Husserlschen und Heideggerschen Welt mit ihrer "immanenten

Transzendenz". Vor allem in den Paragraphen vor § 60 und diesem

selbst versucht Husserl, durch doppeldeutige Analysen der

"Fremderfahrung", dieses "Phänomens", zu einer Intersubjektivitze zu

gelangen. Aber diese sogenannte "Intersubjektivität" hat nichts mit

einer wirklichen Oberwindung des Solipsismus zu tun, es ist in keiner

Weise der Durchbruch zu realen, anderen Personen, mit denen ich in

Gemeinschaft lebe und die meinem Bewußtsein transzendent sind. Es

sind nicht andere Ichs mit der Wesenhaft jedem bewußten, personalen

Sein eigenen unersetzlichen, unvermischbaren Individualität, es sind

keine anderen lebendigen, sehenden Subjekte. Nein! Diese "anderen"

sind wieder nur Phänomene, sie gehören zu meiner "Umwelt" (§ 60),

ich bin ein "Mitmensch" (S 60), insofern ich sie phänomenal als

"andere" habe — aber sie sind nicht wirklich, objektiv, unabhängig von

meinem Bewußtsein! Dies drücke sich gerade an der Stelle aus, in der

Husserl den Solipsismus überwunden zu haben behauptet:

258

"Der Schein des Solipsismus ist aufgelöst, obschon der Satz die

fundamentale Geltung behält, daß alles, was für mich ist, seinen

Seinssinn ausschließlich aus mir selbst, aus meiner Bewußtseinssphäre

schöpfen kann." (§ 62. vgl. ff.)

Damit sind sie eben gerade nicht andere: "aus mir selbst, ausschließlich

aus meiner Bewußtseinssphäre ihren Seinssinn schöpfend"; haben sie

bloß die schwache "Existenz" jener "Phänomene", die wir Seite 240 ff.

ausgeführt haben. Damit aber ist Husserl, der in den Logischen

Untersuchungen den Psychologismus und Anthropologismus so

großartig widerlege hat, selbst in einen noch radikaler im eigenen

Bewußtseinsleben steckenbleibenden Immanentismus geraten.

Dagegen ist der Psychologismus noch harmlos, da er erstens nicht so

prinzipiell jedes transzendente Sein leugnet, auf dieses vielmehr (wie

etwa Berkeley) wieder zurückschließt, und zweitens nicht jede Existenz

so radikal ausschaltet wie Husserl.

2. Das transzendentale ego als überhaupt kein reales Subjekt: Leugnung

der Existenz

Und damit kommen wir auf den widersinnigsten Punkt zurück, daß ja

nach Husserl mein transzendentales ego, das reine ego, nicht ein

existierendes, lebendiges Subjekt sein soll, sondern ein in seiner

Existenz eingeklammertes "Etwas" (vgl. S. 240 ff.). Und zwar soll ich

nicht nur in methodischer Einklammerung von der Existenz zwecks

Wesensforschung absehen (was, wie erwähnt, bei den intelligiblen,

notwendigen Wesenheiten, dem Gegenstand philosophischer

Forschung, sinnvoll ist), sondern auch zum methodischen Zweifel als

dem Infragestellen der Existenz übergehen, um zu absolut gewissem

Sein zu gelangen. Dabei klammert aber Husserl nicht (wie Descartes)

nur die Existenz der Außenwelt ein, um dann zu sehen, daß mir die

eigene Existenz unbezweifelbar gewiß gegeben ist, sondern ohne

Grund klammert Husserl auch die eigene Existenz ein, wobei er die

entscheidende Einsicht Descartes' verkennt, daß zwar die Welt mir

prinzipiell bloß "erscheinen" könnte, damit aber die Realität des

existierenden Subjekts und seines Täuschungsaktes unangetastet wäre.

Husserl dehnt also grundlos, ja widersinniger Weise diesen

methodischen Zweifel auf das ego aus und damit ist sein

transzendentale ego kein reales Subjekt. Endlich aber, und das ist das

259

Absurdeste, sieht er nicht nur von der Existenz ab, er klammert sie nicht

nur ein, sondern klammert sie radikal aus, er streicht sie aus, er erhebt

die Epoché zu einer metaphysischen These und erklärt eine

Philosophie, die jemals wieder eine reale Existenz des ego oder der

Welt erreichen will, den "transzendentalen Realismus", wie er eine

solche Philosophie nennt, für "einen Widersinn" (§ 42). Er versetzt uns

in eine "gespenstische Welt" ohne jede reale Existenz. Er nennt am

Abschluß der Cartesianischen Meditationen alle Wissenschaft und

Philosophie, die den "Seinsglauben" nicht aufgegeben hat, eine

"Wissenschaft in der Weltverlorenheit" und setzt dann hinzu:

"Man muß die Welt erst durch die epoché verlieren, um sie in

universaler Selbstbesinnung wiederzugewinnen. Noli foras ire, sagt

Augustin, in te redi, in interiore homine habitat veritas."

Aber Husserl vergißt, was Augustinus weiter sagt:

"Et si tuam naturam mutabilem inveneris, transcende et te ipsum. Sed

memento, cum te transcendis, ratiocinantem animam te transcendere.

Illuc ergo tende, unde ipsum lumen rationis accenditur. Quo enim

pervenit omnis bonus ratiocinator nisi ad veritatem?... Confitere te non

esse, quod ipse sit: siquidem se ipse non quaerit; tu autem ad ipsam

quaerendo venisti."313

Augustinus sagt, ich muß mich in mich selbst sammeln und dann

transzendieren, um zur Wahrheit, zu anderen Personen, zu Gott zu

gelangen. Vor allem aber bin zunächst auch ich selbst als lebendige,

existierende Person das Unbezweifelbar Wirkliche, das sich gegenüber

allem "fallor" erweist. Wenn ich diese Existenz aber leugne, dann ist ja

auch das transzendentale ego ein "Phänomen" mit eingeklammerter

Existenz, und dann bedürfte es, wie wir gesehen, ja selbst wieder eines

lebendigen, realen Subjekts, für das allein es Phänomen sein könnte.

Wenn Husserl aber von der "absoluten einzigen Konkretion der

transzendentalen Subjektivität" als dem "alles tragenden Sein" (§ 41

und 64) spricht, dann scheint er wieder an eine Art Allgeist zu denken,

der in allen Individuen wirkt und sie trägt und in dem sie geeint sind.

313 De vera religione, XXXIV.

260

Jedenfalls spricht er einer als Geistsubstanz aufgefaßten

"lntersubjektivität" geradezu göttliche Prädikate zu:

"Das an sich erste Sein, das jeder weltlichen Objektivität vorangehende

und sie tragende, ist die transzendentale lntersubjektivität, das in

verschiedenen Formen sich vergemeinschaftende All der Monaden."

Vor solchen Widersprüchen können wir nur mit Erstaunen stehen und

uns fragen, wie ein Mann, der die Logischen Untersuchungen schreiben

konnte, zu einer derartigen Philosophie kommen konnte, in der alle

notwendigen, intelligiblen Wesenszusammenhänge zwischen der

einzelnen, bewußten Person, anderen und Gott geleugnet werden.314

Eine solche Philosophie kann nicht verstanden werden, denn sie setzt

sich über die Quelle aller Verstehbarkeit hinweg, die intelligiblen

Wesensnotwendigkeiten:

daß jedes bewußte Sein real existieren und individuell sein muß, daß es

nie mit einer andern Person in eine Fusion zusammenfließen kann, daß

jede andere bewußte Seiende mir transzendent ist, daß es unabhängig

von mir existieren muß, um überhaupt real zu sein, daß das Erkennen

keine schöpferische Tätigkeit ist, sondern eine rezeptive, der nicht

wieder eine spontane (konstituierende) zugrunde liegen kann, daß die

notwendigen Wesenheiten dem Bewußtsein absolut transzendent und

unveränderlich sind, daß wir selbst kontingent und veränderlich sind,

daß nicht nur andere Menschen, sondern erst recht Gott, das an sich

erste Sein, unserem Geiste transzendent ist und wir seine Existenz

einsehen können usw. usw. Wenn ein Philosoph sich aber systematisch

über diese intelligiblen und notwendigen, ewigen Wahrheiten

hinwegsetzt, dann wird er unverständlich, dunkel und verwirrend, was

man nicht mit Tiefe verwechseln darf. Denn die wahre Tiefe eines

Philosophen besteht darin, in möglichster Einfachheit und zugleich

Differenziertheit die notwendigen Wesensunterschiede und ewigen

Wahrheiten herauszuarbeiten und zu voller philosophischer

Bewußtheit zu bringen.

314 Die wirkliche Beziehung meines "ego" zu Gott würde eine neue Arbeit

über Gotteserkenntnis erfordern. Gerade in der Verwischung der dort zu

behandelnden Wesensunterschiede, des unendlichen Abstands Zwisten

dem göttlichen und meinem Sein, liegt aber die größte Verwirrung und der

tiefste Irrtum Husserls.

261

Wahrer Platonismus

Die für die Philosophie und die menschliche Existenz entscheidende

Frage nach "ewigen Wahrheiten"

"Die Philosophen sind diejenigen, welche das sich immer gleich und

auf dieselbe Weise Verhaltende fassen können; die aber dies nicht

können, sondern immer unter dem Vielen und mannigfach sich

Verhaltenden umherirren, sind nicht Philosophen."315

Als die wichtigste Eigenschaft der Philosophen führt Platon an, daß sie

nicht dem Veränderlichen überhaupt und besonders nicht den

schwankenden Zeitmoden und wechselnden Anschauungen

unterworfen sind, sondern "daß sie (die Philosophen) immer diejenigen

Erkenntnisse lieben, welche ihnen etwas offenbaren von jenem Sein,

welches immer ist und nicht durch das Entstehen und Vergehen unstet

gemacht wird''.316

Daß sie sich etwas in sich Notwendigem und ewig Gleichbleibendem

zuwendet, ist also für Platon das erste Grundmerkmal philosophischer

Erkenntnis; daß er sich den "Urbildern", den "Ideen" oder den

Wesenheiten der Dinge zuwendet und sie tiefer zu erfassen sucht,

scheint Platon ferner nicht nur ein Grundzug des Philosophen, sondern

darüber hinaus überhaupt jedes guten Menschen zu sein. Die

notwendigen Wesenheiten des Seienden und ihre Erkenntnis erscheint

Platon mit das Wichtigste im menschlichen Leben überhaupt."317

Die früher schon behandelte Frage, was diese notwendigen

Wesenheiten der Dinge sind und ob der Mensch dem zufälligen und

geschichtlichen Sein ausgeliefert ist oder dieses transzendieren und zu

ewig-gültigen Maßstäben dringen kann, ist eine der

allerentscheidendsten Fragen überhaupt.

315 Platon, Politeia, VI. Buch, 484b. 316 A. a. O., 485b. 317 Auch Reinach weist in Was Ist Phänomenologie, auf die Tatsache hin,

daß diese Wesenheiten zum Wichtigsten in der Philosophie und, wenn man

es bis zum Ende durchdenkt, zum Wichtigsten in der Welt überhaupt

gehören.

262

"Die Erkenntnis der notwendigen und ewigen Wahrheiten aber ist es,

was uns von den bloßen Tieren unterscheidet und in den Besitz der

Vernunft und Wissenschaft setzt, indem sie zur Erkenntnis unserer

selbst und Gottes erhebt. Eben dieses ist es, was man in uns als

vernünftige Seele oder Geist bezeichnet."318

Die Erkenntnis, daß es notwendige, zeitlose und intelligible

Wesenhaften gibt, ist eine tiefe, fundamentale Einsicht Platons und

überhaupt der abendländischen Philosophie, die man heute gerne mit

den Schlagworten "Platonismus", "Hellenismus" oder "überholter

'Essentialismus" abtun möchte. Dabei ist man gewöhnt, daß heute jeder

unter dem in drohendem und herablassendem Ton ausgesprochenen

Schlagwort "Platonismus" zusammenschrickt und in die Worte

ausbricht: "Nein, nein — ich bin natürlich kein Platoniker'!"

Nun kann man tatsächlich die Behauptung wagen, Platon habe gewisse

Irrtümer (wie die Präexistenzlehre) und unnötige Voraussetzungen

(etwa die unmittelbare Schau der Ideen vor aller Erfahrung) mit seiner

Ideenlehre verbunden. Solange man unter "Platonismus" nur dies

meint, sollen wir lieber der Wahrheit als Platon folgen. Aber all diese

Kritik muß verstummen vor der vielleicht größten philosophischen

Entdeckung und Einsicht, die je gemacht wurde: die platonische im

Menon dargelegte Erkenntnis des Unterschiedes zwischen empirischer

Erkenntnis, d. i. Realkonstatierung und Induktion auf der einen und

apriorischer Erkenntnis, d. i. Wesenseinsicht auf der anderen Seite.319

Platon hat als erster in dieser Klarheit die überwältigende

philosophische Einsicht gehabt, daß diese Welt des Werdens, diese

konkrete Welt, in der alles entsteht und vergeht und in der Zeit dauert,

daß diese wechselnde, Kontingente Wirklichkeit nur sein kann, weil es

in ihr Ad über ihr Etwas Nicht-Werdendes, Ewiges gibt. Sofern das

Wort Heraklits (des "weinenden wahr wäre: pánta òeé; — alles fließt,

wäre diese Welt gleich einem Nichtsein.

318 Leibniz, Monadologie, 29. 319 Platon hat überdies, wie im ersten Kapitel dieser Arbeit erwähnt wurde,

die Erkenntnis im engeren Sinn von allem bloßen "Meinen" und jeder (auch

der "richtigen") "Doxa" unterschieden, welcher Unterschied ebenfalls bei

ihm mit åpist×mh im Unterschied zu péstiw (ìru× dìja) bezeichnet wird.

263

Denn sie geht nicht nur vom aktuellen Gegenwärtigsein stets in ein

Vergangensein und Nichtmehrsein über320, sondern könnte auch keinen

Augenblick existieren, ohne an unveränderlichen, ewigen Wesenheiten

"teilzuhaben". Platon unterschied nun nicht klar zwischen zwei

grundverschiedenen, notwendigen Beziehungen des wandelnden auf

ein ewiges Sein. Zunächst könnte das reale, vergängliche Sein

unmöglich ohne ein immer aktuelles, unwandelbares "ens realissimum"

sein, was näher zu erweisen den Gegenstand einer eigenen Arbeit über

philosophische Gotteserkenntnis bilden würde. Zweitens aber ist das

kontingente Seiende nur, indem es in seinem Wesen an etwas Ewigem

und Unvergänglichem "teilhat". Dies hat Platon vor allem im Auge,

wenn er sieht, daß das wandelbare, kontingente Seiende "aus Sein und

Nichtsein gemischt" ist. Könnte es doch keinen materiellen Körper

geben ohne den Raum und seine drei Dimensionen sowie die unendlich

vielen notwendigen Gesetze des Raumes! Könnte es doch überhaupt

nichts Seiendes geben ohne das im "Wesen des Seins" notwendig

gegründete, unveränderliche Gesetz vom Widerspruch, ohne das

Gesetz der Identität oder dasjenige vom ausgeschlossenen Dritten!

Könnte es doch die Person nicht geben ohne die zeitlosen, ewigen

Wesensgesetze nicht nur des Raumes und der Zeit, sondern aller

personalen Akte und des bewußten Seins der Person. Ohne diese

zeitlosen Wesensgesetze ist ja, wie schon gezeigt wurde, nicht einmal

ein einziger Zweifelsakt denkbar und überhaupt möglich. Das gesamte

geistige Leben des Menschen, die Sphäre der sittlichen Werte und

Forderungen sowie der rechtlichen Beziehungen, die Gemeinschaft,

das Erkennen, Wollen und Fühlen, die gesamte Wirklichkeit ist ohne

solche zeitlose Wesenheiten unmöglich und könnte unmöglich ohne sie

sein.

Erst in der Erkenntnis von Wesenszusammenhängen, die nicht

wechseln, nur in deren Erkenntnis und in der Beziehung zu

nicht-empirischen Wahrheiten und zu anderen Personen im Lichte

dieser ewigen

320 Dies gilt für alles kontingente reale Seiende überhaupt, tritt aber be-

sonders im Tode hervor: welches "Sein" hätte etwa das menschliche Leben

noch, wenn es mit dem Tode endgültig nicht mehr wäre, wenn das letzte

Wort dasjenige Orpheus' aus Glucks gleichnamiger Oper wäre: "Eurydike

ist nicht mehr!" Obwohl auch das vergangene Sein nicht einfach ein Nicht-

sein ist, kommt es doch ohne Beziehung auf Unsterblichkeit diesem nahe.

264

Wahrheiten321 — entfaltet sich ferner die Intelligenz, der Reichtum, der

metaphysische Ernst und die einzigartige Größe personalen Seins, über

sich selbst hinausschreiten zu können:

"Du fragst: warum wollen doch alle Seelen mit so großem Fleiß die

Gefilde der Wahrfecit sehen? — So höre: Dort auf jenen lichten

Flächen wächst die Weide des edelsten Teiles der Seele, und auf dieser

Wiese finden die Flügel, welche die Seele beschwingen, ihre

Nahrung... Auf dieser Bahn, da schaut die Seele ... nicht die

Wissenschaft, die stets am Gegenstände wechselt und mit dem, was wir

in der Zeit wirklich nennen, spielt; nein hier erkennt die Seele die

Wissenschaft vor dem, was wahrhaft und ewig da ist."322

Die Anerkennung unveränderlicher, zeitloser Wesenheiten der Dinge

bedeutet nicht die geringste Abwertung der konkreten und

existentiellen Wirklichkeit. Im Gegenteil: Wie schon mehrmals

erwähnt Wurde und im folgenden näher untersucht wird, besteht eine

letzte, enge und notwendige Beziehung zwischen dem zeitlosen,

unveränderlichen Sein notwendiger Wesenheiten und "ewiger

Wahrheiten" — ohne die buchstäblich nichts existieren könnte — und

der konkreten, individuellen Wirklichkeit, deren Existenz in ihrem

ganzen Gewicht ohne etwas Ewiges aufgehoben würde. Deshalb ist

"Platonismus" im Sinne der klassischen philosophischen Einsichten

Platons die Grundlage jedes wahren Existentialismus, wie wir ihn etwa

in der höchsten Form bei Augustinus finden.

Zwei Bedeutungen von "Sein" und drei Dimensionen des Seins

Wenn in diesem Kapitel das Verhältnis der notwendigen Wesenheiten

zur konkret-existierenden Wirklichkeit behandelt werden soll, ist es

nötig, kurz auf zwei grundverschiedene "Sachen" hinzuweisen, die wir

mit dem Begriff "Sein" meinen können.323

321 Im höchsten, hier nicht mehr thematischen Sinn deshalb nur in der Be-

ziehung zum in

jeder Hinsicht absolut seienden Gott. 322 Platon, Phaidros, 247 d ff. 323 Eine Analyse der verschiedenen Seinsbegriffe würde eine eigene Arbeit

erfordern. Hier wollen wir nur die Bedeutungen hervorheben, die im Laufe

265

Wenn man von "Sein", vom "Sein selbst" im Unterschied zum

Seienden spricht, kann man damit den Gegenstand jenes Staunens

meinen, das Leibniz für den Anfang der Philosophie hielt: darüber,

"daß überhaupt etwas ist nicht vielmehr nichts". Mit "Sein" in diesem

ersten Sinn meinen wir daher das, was jedes Staubkorn, jede Zahl, jedes

Seiende überhaupt und Gott selbst besitzen. Das hier Gemeinte können

wir nur in dem dritten Grad aristotelischer Abstraktion erfassen: Es ist

das jenseits aller weiteren Bestimmungen liegende "Sein" selbst. Im

Gegensatz zu Hegel, der dieses allgemeine "Sein" auf Grund seiner Ast

völligen Unbestimmbarkeit mit dem Nichts identifizierte, muß betont

werden, daß es gerade den Gegensatz zum Nichts bedeutet, allerdings

nur jenen Gegensatz zum Nichtsein, den wir in überhaupt jeglichem

Seienden finden. In diesem "Sein" gründen ferner auch jene

Grundprinzipien (Identitätsprinzip, Kontradiktionsprinzip, Satz vom

ausgeschlossenen Dritten), die für alles Seiende eine grundlegende

Rolle spielen.

Wenn wir dieses "Sein" betrachten, sehen wir aber gleichzeitig, daß es

als solches gar nicht ist, sondern daß jegliches Seiende sich nicht

einfachhin aus dem Nichtsein hervorhebt, sondern dies auf eine

bestimmte Weise tut, daß jedes Seiende ein bestimmtes Sosein besitzt,

eine bestimmte Seinsart. Nicht das allgemeinste Sein, sondern eben

diese jeweils besondere "Seinsart" des materiellen, menschlichen,

idealen, oder an höchster Stelle des absoluten Seins, stellt den

eigentlichen Gegenstand der Metaphysik dar. Das "Sein" in diesem

zweiten Sinn ist also gerade nicht das allem Seienden Gemeinsame,

sondern das jeweils Besondere seiner Seinsart, seiner "Weise", sich aus

dem Nichtsein in die Welt des Seins zu erheben.

Wenn wir also das Sein des Seienden in diesem zweiten, vom ersten

ganz verschiedenen Sinne betrachten, leuchtet als eine grundlegende

Wahrheit auf, daß es drei grundsätzliche Richtungen bzw.

"Dimensionen" gilt, in denen Seiendes sich aus dem Nichtsein erheben

und "sein" kann. Diese drei Dimensionen stehen in vielfacher

Beziehung zueinander und müssen in Gott alle drei in vollkommenster

Weise bestehen, sie können aber auch getrennt von einander auftreten.

Zunächst kann etwas sich auf Grund seiner inneren Intelligibilität und

"Lichtfülle" aus dem Nichtsein herausheben. In diesem Sinne sind etwa

des Kapitels, besonders anläßlich der Werterkenntnis und der Beziehung

der Wesenheiten zur konkreten Existenz, eine wichtige Rolle spielen.

266

der Gegenstand der Mathematik, die idealen Raumgesetze oder die

Zahlen und ihre intelligiblen Zusammenhänge spezifisch aus dem

Chaotischen, Nichtseienden herausgehoben durch ihre innere

"Gestalthaftigkeit" etc. Alles, was ein notwendiges Wesen besitzt (und

je erfüllter und reicher dieses ist, desto mehr), hebt sich dergestalt aus

dem Nichtsein. Den Gegensatz dazu bildet das Chaotische, Dunkle,

Ungestaltete, Unintelligible.

Eine zweite, prinzipiell von der ersten unterschiedene Dimension des

Seins ist diejenige der Realität, bzw. der realen Existenz. In diesem

Sinn ist das substantielle Sein in besonderer Weise Urbild des Seins,

das konkret-individuell existierende Sein im Gegensatz zu allem bloß

abstrakten oder als bloßer Gegenstand eines "Bewußtseins von"

existierenden Sein. Einen Höhepunkt erreicht diese Dimension des

Seins in der Person, diesem "sich selbst besitzenden", erwachten, voll

real vollzogenen, individuell-existierenden Sein, gegenüber dem alles

übrige Seiende "schläft" und gleichsam "nicht ist", weil es sein Sein

nicht bewußt vollzieht.

Ein solches reales Seiendes, wie etwa ein Stein, kann aber viel weniger

intelligibel sein als etwa eine Zahl oder die ideale Wesenheit des

Kreises als Gegenstand der Mathematik. Es fällt diese Dimension des

Seins, nämlich die Realität, nicht notwendig mit der erst genannten

zusammen.

Eine dritte Grunddimension des Seins ist schließlich das in sich

Bedeutsame, der Wert. Ein Seiendes, das nicht nur einfach intelligibel

oder real ist, sondern auch sein soll, hebt sich in der zentralsten Weise

aus dem Nichtsein heraus. Am deutlichsten ist dies bei sittlich guten

Haltungen oder Handlungen, die gebieterisch gefordert sind, von denen

es nicht nur besser ist, wenn sie sind, als wenn sie nicht sind, sondern

die in "absolutem" kategorischem Sinn sein sollen, während ihr

Gegenteil, etwa böse Handlungen, nicht sein sollen. Der Wert ist das

Herz des Seins, während das Unwertige, nicht seinsollende Sein,

obwohl es etwa als Haß und Grausamkeit voll real existieren kann, in

gewissem Sinn vom innersten Geheimnis, bzw. Wesen des Seins (dem

Sein, das nicht nur einfach faktisch ist, sondern sein soll, ein Charakter,

der ihm bleibt, auch wenn es schon existiert) noch weiter entfernt ist

als das Nichtseiende.

Diese knappen Andeutungen eines der zentralsten Themen der

Metaphysik müssen genügen, um darauf hinzuweisen, daß in bezug auf

diese drei Dimensionen des "Seins" die Frage nach der Transzendenz

267

des Menschen in der Erkenntnis zu stellen ist: 1. Wo kann ich

intelligibles, in sich notwendiges Sein erkennen? 2. Wo kann ich das

voll real existierende Sein erkennend 3. Wo und wie kann ich

wertvolles Sein erkennen?

In enger Verbindung mit dem Thema dieses Kapitels, nämlich die

Beziehung zwischen notwendigen, ewigen Wesenheiten und

konkretrealem Seiendem zu erforschen, werden wir auch diese drei

Grunddimensionen der Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis

an

entscheidenden Punkten erweisen. Es soll herausgearbeitet werden, in

welchem Verhältnis sie alle drei zu den notwendigen Wesenheiten und

"ewigen Wahrheiten" stehen und daß die Betonung des voll real,

konkret-individual existierenden Seins in keiner Weise zu der

"platonischen" Betonung notwendiger Wesenheiten in irgendeinem

Gegensatz steht.

Schließlich soll auch im Gegensatz zu dem Husserlschen

Immanentismus einer von aller konkreten Existenz abgelösten "Welt

des Idealen" gerade die notwendige Beziehung idealer, notwendiger

Wesenheiten auf das konkret-Existierende besonders herausgearbeitet

werden.

Obwohl es notwendige und vom konkreten Seienden verschiedene

ideale Wesenheiten da Seienden und der in ihm gegründeten Werte

herauszuarbeiten gilt, muß deutlich erwiesen werden, daß diese

Wesenheiten sich ganz auf das konkret existierende Seiende und die

voll realen Werte der Dinge beziehen, "deren Wesen" sie ja in näher zu

bestimmendem Sinne "sind".

Nihilismus als letzte Konsequenz der Leugnung ewiger Wahrheiten

Nietzsche hat richtig erkannt, daß die Kantische Leugnung in sich

notwendiger, intelligibler Wesenheiten des Wirklichen, daß die

Leugnung ewiger Wahrheiten und der Erkennbarkeit "an sich seiender"

Dinge letzten Endes zum Nihilismus führt. Denn sowohl der Begriff

des Seins, als auch der Wesenheit, als auch des Wertes ist ebenso wie

der Wahrheitsbegriff in der Kopernikanischen Wendung von Kant

nicht neu begründet, wie er dachte, sondern vollkommen aufgelöst

worden. Mit seinem Angriff auf die Erkenntnis von "Dingen an sich",

zunächst aber mit seiner Leugnung der Erkennbarkeit in sich

notwendiger Wesenheiten der Dinge hat Kant das geistige Leben der

268

Person an der tiefsten Wurzel getroffen. Wenn wirklich alle in sich

notwendigen Wesenszusammenhänge, ohne die nichts sein kann, in

Wirklichkeit nicht solche, sondern von unserem Geist an die Dinge

herangebrachte Elemente wären, so wäre Nihilismus die letzte

Konsequenz.

Wir haben schon zu zeigen gesucht, daß Kant mit der Leugnung in sich

notwendiger Wesenheiten das geleugnet hat, wonach er in seiner

großartigen Fragestellung suchte: den Ursprung, die Begründung für

notwendige Wahrheiten, für "synthetische Urteile a priori". Jetzt aber

gilt es, noch mehr die Zentralität dieser Frage zu sehen: Kant sah —

und es ist so — daß alle Sinnhaftigkeit und Gestaltetheit der Welt, das,

was sie aus dem Chaotischen erhebt, eben jene notwendigen Elemente

und nicht-empirischen Zusammenhänge sind, die nicht dem Zufall und

der Faktizität unterworfen sind.

Wenn es aber nichts in sich selber Notwendiges gibt, nichts in sich

selber auf Grund seines Wesens Sinn- und Wertvolles, sondern wenn

alle Notwendigkeit, statt im transzendenten Sein, nur in einer

transzendentalen, aller Erfahrung vorgängigen Verstandeskonstitution

liegt, dann gibt es im Grunde wieder keine Notwendigkeit und keinen

in sich ruhenden Wert; denn dann ist hinter der "Notwendigkeit" wieder

die Faktizität meiner Verstandeskonstitution, von der ich —abgesehen

davon, daß sie nie die Wahrheit begründen kann324— nicht einmal

einsehen kann, ob sie nicht auch anders sein könnte bei anderen Wesen

(dies gibt Kant zu) oder auch bei anderen Menschen (dies leugnet Kant

inkonsequenterweise, wie schon früher bemerkt wurde).

Indem er sie auf eine "Verstandeskonstitution" zurückführt, erklärt

Kant im Grunde die synthetischen Urteile a priori für unwiderlegbare

notwendige Irrtümer; indem er sie auf eine nicht in sich selbst

notwendige, sondern auf den Menschen relative

Verstandeskonstitution zurückführt, reduziert Kant alles "Notwendige"

im Grunde auch auf etwas "Empirisches" wie die Empiristen; denn der

324Denn selbst wenn ich nach Kant das notwendige Wesen meines Verstan-

des als "an sich seiender" Realität einsehen könnte und sogar, daß alle

möglichen Wesen an dieselben Denkgesetze gebunden wären, dann

blieben unter den Kantischen Voraussetzungen alle

synthetischen Urteile a priori über die übrigen Gegenstände unserer

Erkenntnis immer noch

bloß "unwiderlegbare Irrtümer", vgl. Teil II, Kap. 2, dieser Arbeit.

269

einzige wirkliche Gegensatz zum Zufälligen, Empirischen ist das in

sich notwendige Sein und damit "ewige Wahrheiten".

In sich notwendige Wesenheiten sind die einzige Begründung für

notwendige Wahrheiten. Im Augenblick, da "notwendige" Wahrheiten

aus "Verstandesgesetzen" abgeleitet werden, verlieren sie nicht nur ihre

objektive Einsichtigkeit, ihre Intelligibilität in sich selbst, sondern sind

vor allem in ihrem "Ursprung" unnotwendig und dunkel. Sie kommen

— wenn sie nicht auf Grund der in ihnen selbst liegenden

Notwendigkeit als solche intelligibel sind — dann aus einer "blinden",

unbewußten Macht.

Es ist deshalb durchaus auch in der Konsequenz von Kant, wenn

Schelling oder schon der frühe Nietzsche als Ursprung allen Geistes

einen blinden, irrationalen Urgrund der Seele annimmt, den Nietzsche

das "Dionysische" nennt. Die objektive Intelligibilität der Wirklichkeit

Wird geleugnet und muß daher durch ein "blindes" Anwenden von

Anschauungsformen und Kategorien etc. ersetzt werden. Die

Intelligibilität und innere Notwendigkeit des alle Wirklichkeit

begründenden notwendigen Seins und der das Seiende ermöglichenden

notwendigen Wesenheiten ist aber die Lebensquelle des Geistes. Wenn

man ewige Wahrheiten leugnet, muß man daher notwendig den Geist

auf etwas Ungeistiges zurückfuhren. Bei Kant, Hegel, Schelling,

Schopenhauer und Nietzsche liegen deshalb auch die

psychologistischen, skeptizistischen, relativistischen, historistischen

und positivistischen Angriffe verborgen, die die Person und ihr

geistiges Leben aus einer irrationalen dunklen Macht, aus einem

dunklen Trieb "begründen" und damit im Nihilismus auflösen.

Deshalb sollen hier noch einmal die Merkmale notwendiger

Wesenheiten erwähnt werden, wie sie im Vorausgegangenen schon

erarbeitet wurden, sowie jetzt auch auf die für alle objektiven Werte

und für die konkret-existierende Wirklichkeit grundlegende Bedeutung

ewiger Wesenheiten bzw. ewiger Wahrheiten hingewiesen werden soll.

Das "ideale Sein" notwendiger Wesenheiten und zwei "Beweise" dafür

Die Merkmale notwendiger Wesenheiten, die wir angeführt haben,

scheinen mir alle unmittelbar einschließend zu besagen, daß diese

notwendigen Wesenheiten "etwas" sind, was sowohl Dasein als auch

Sosein aller konkret existierenden Dinge transzendiert und von ihnen

verschieden ist.

270

"Noch abgesehen von ihrer konkreten Existenz hier und jetzt, sind sie

(diese notwendigen Wesenheiten) etwas vollkommen Autonomes und

Objektives, unabhängig von ihrem Objektsein für unser Bewußtsein."325

Descartes spricht eindringlich davon in der 5. Meditation:

"Hierbei verdient meiner Meinung nach die höchste Beachtung, daß ich

bei mir unzählige Ideen finde von gewissen Dingen, von denen man,

wenngleich sie vielleicht nirgendwo außer mir existieren, dennoch

nicht sagen kann, sie seien Nichts. Und wenngleich ich sie in gewisser

Weise willkürlich denke, so erdichte ich sie dennoch nicht, vielmehr

haben sie ihre wahrhaften und unveränderlichen Wesenheiten."326

Descartes führt dabei das Dreieck u. a. an und betont die

Unveränderlichkeit dieser Wesenheiten sowie auch die Tatsache, daß

wir über sie Wahrheit erkennen können, daß sie gänzlich unserer

Willkür entzogen sind, und sagt dann:

"Offenbar ist alles, was wahr ist, auch etwas... wenn ich selbst träumte,

so ist dennoch alles sicher wahr, was meinem Verstand einleuchtend

ist."327

"Es gehört wesenhaft zu diesen notwendigen Soseinseinheiten, daß wir

es bei ihnen mit einem so ,potenten' Sosein zu tun haben, daß es auf

Grund seines Gehaltes vollkommen auf eigenen Füßen steht, und daß

es nicht aufhört, ein durchaus seriöser Gegenstand unserer Erkenntnis

zu werden, selbst unter der Annahme, es existiere kein realer

Gegenstand dieser Art. Ja, in der Tat, diese klassischen notwendigen

Einheiten sind so potent, daß sie in gewissem Sinne sind, selbst wenn

zufällig kein Exemplar ihrer Art konkret existiert. Wir können ein

echtes Eidos nicht in das Reich der Phantasie verbannen, in das Reich

der Fiktionen, Halluzinationen oder Träume. In welcher Weise auch

immer diese Wesenheiten sich unserem Geiste erschließen, sie stehen

in einem solchen Ausmaß auf ihren eigenen Füßen, dank ihrer inneren

Potenz und Fülle ihrer notwendigen Sinnhaftigkeit, daß die völlige

Autonomie ihres Seins unerschütterlich ist. Für ihre volle Gültigkeit

325 D. von Hildebrand, Christliche Ethik, S. 17. 326 R. Descartes, Meditationen V, 5. 327 A. a. O., V, 6.

271

bedürfen sie weder der Hilfe ihrer Gegenwart in einem konkret

existierenden Gegenstand noch ihres Gedachtwerdens von uns. Sie

allein besitzen im vollen Sinn eine ideale Existenz, eine Art der

Existenz, die sie auf Grund der Solidität und Notwendigkeit ihres

Soseins besitzen. Sie können von keiner Relativität berührt werden in

dem Akt, in dem sie uns gegenwärtig werden. Diese Notwendigen'

intelligiblen Einheiten sind so mit ratio erfüllt und voll Intelligibilität,

daß ihre objektive Gültigkeit nicht mehr von dem Akt abhängt, in dem

wir sie erfassen. Wir haben zuvor gesehen, daß wenn mir in einem

Traum das Sosein eines Dreiecks, der Farm rot oder des freien Willens

klar und eindeutig gegeben wäre, so wäre die Wesenheit selbst in keiner

Weise bloß geträumt... wenn wir anderseits von einem unbekannten

Metall träumen würden, oder von einer neuen Käferart, so würde der

Traumcharakter nicht nur die Existenz dieser Inhalte angehen, sondern

auch ihr Sosein. Sie würden deshalb alles ernsthafte

Erkenntnisinteresse verlieren... Doch im Falle des Soseins, das eine

notwendige Einheit besitzt, ist der Traumindex völlig äußerlich in

bezug auf sie, und kann sie in keiner Weise ihrer Gültigkeit und

Bedeutung berauben."328

We saw that these necessary and highly intelligible essences exclude

any assumption that they are mere fictions or illusions. Even if we

suspend the question as to whether any just man truly exists, the essence

of justice clearly excludes the possibility that it is a mere fiction or

illusion. It could never be the mere product of a human mind. It is in

any case something objective, possessing an autonomy of being. It is.

We have only to compare it with the such-being of a horse or a

mountain in order to grasp the 'ideal existence' which justice as such

possesses, independently of its concrete realization in a man, an ideal

existence which the such-being of a subspecies of beetles, for example,

in no way possesses.

The very fact of this 'ideal existence' reveals itself especially when we

consider that all the states of facts rooted necessarily in these essences

are an eminent object of synthetic propositions, full of plenitude and

importance. The most classical domain of truth comprises the

propositions referring to these necessary states of facts, to these eternal

verities.

328 Vgl. D. v. Hildebrand, Der Sinn philosophischen Fragens und

Erkennens, S. 57.

What is philosophy?, S. 114, 115.

272

As we shall see later on, these eternal verities apply to all possible

reality and thus contain a fundamental insight into reality. When we

grasp the full validity of these states of facts, their intrinsic impact and

import, then we understand that it is impossible to deny the 'ideal

existence' of these beings."329

Welcher Art auch immer der "metaphysische Status" solcher

Wesenheiten sein mag, ob man ten Namen "ideale ExisKnz"

gebrauchen will oder nicht, jedenfalls sind diese notwendigen,

intelligiblen Wesenheiten weder "nicht", noch identisch mit den

konkreten Soseinseinheiten existierender Seiender, noch auch sind sie

bloß das "Gemeinsame" am Sosein konkreter Dinge, das wir durch

"Abstraktion" herausheben würden, sondern ihr notwendiger, echt

allgemeiner Charakter besteht ganz in sich ohne jeden auf

Realkonstatierung und Induktion aufbauenden "Akt der Abstraktion''.330

Es scheint mir außer den von Hildebrand genannten Merkmalen und

Kennzeichen dafür, daß es sich hier um eine wirkliche "ideale

Existenz" solcher notwendiger Wesenheiten handelt, besonders zwei

Hinweise zu geben, aus denen man ersieht, daß diese notwendigen

Wesenheiten notwendig "etwas" sein müssen außerhalb und vor ihrer

"Verwirklichung" als Soseinseinheiten konkreter Seiender. 331

1. Alle Dinge und Personen, die uns unmittelbar in ihrem Sein gegeben

sind, und ebenso alle personalen Akte haben einen zeitlichen Anfang,

eine zeitliche Dauer und können prinzipiell nach einer bestimmten Zeit

ein Ende finden. Da sie also offenbar in ihrer konkreten Existenz nicht

notwendig sind, ist es auch nicht notwendig, daß sie so sind. Obwohl

sie auch ihrem Sosein nach insofern notwendig sind, als sie eine

notwendige Soseinseinheit "verwirklichen" bzw. an ihr "teilhaben",

kann man doch diese innere, intelligible Notwendigkeit idealer

329 D. v. Hildebrand, What is philosophy?, F. 16/17. Darauf folgt eine

genauere Analyse der verschiedenen Arten dieser idealen Existenz in den

verschiedenen Seinsbereichen sowie des verschiedenen Verhältnisses

solcher idealer Wesenheiten zur Realität. Trotz ihres klärenden Charakters

kann diese wichtige Analyse hier nicht angedeutet werden. 330 Vgl. a. a. O., S. 112 ff., sowie die Analyse notwendiger Wesenheiten im

vorigen Kapitel dieser Arbeit. 331 Wir sprechen hier nicht von jenen Wesenheiten, die, wie Hildebrand a.

a. O., S. 118 ff., zeigt, wesenhaft vom Reich des real Existierenden aus-

geschlossen sind.

273

Wesenheiten nicht von den konkreten, ihnen entsprechenden Seienden

ableiten, da diese auch ihrem Sosein nach entstehen und werden und

also nicht notwendig sind.

Von den notwendigen Wesenheiten von Person, Zweifel, Erkenntnis,

Wille, Ehrfurcht, Liebe, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Bitte,

Verzeihen usw. kann man hingegen unmöglich sagen, sie würden und

entstünden — sie sind einfach, und zwar unabhängig und vor jedem

konkreten Seienden, das ihnen jedoch notwendig entsprechen muß.332

Da sie notwendig sind, sind sie auch zeitlos und unveränderlich. Als

die "aeternae rationes" oder "ldeen" bzw. Wesenheiten gewisser Dinge

sind sie selbst notwendig.

Wenn uns also ein immer gleichbleibendes, in sich notwendiges Wesen

solcher (in ihrer konkreten Existenz wie auch in ihrem konkreten

Sosein) zufälliger Dinge aufgeht, kann deren unveränderliche,

notwendige und intelligible "Soseinseinheit" nicht einfachhin identisch

sein mit den konkreten Soseinseinheiten konkreter Personen und ihrer

Akte oder anderer konkret-existierender Wirklichkeiten, die alle

entstehen und vergehen. Bloß das "Gemeinsame" der wechselnden,

kontingenten Dinge können diese Wesenheiten aber auch nicht sein,

denn wie könnten sie dann notwendig und intelligibel sein und alles

konkret Seiende "beherrschen"?

Wenn es also in den nicht-notwendigen Dingen Notwendiges gibt, so

kann die Sinnfülle und Notwendigkeit ihres Soseins nicht in diesen

veränderlichen konkreten Dingen selbst gegründet sein. Die Bedeutung

dieser Wahrheit kann nur ermessen werden, wenn man die

Wesensnotwendigkeit als völlig verschieden von der bloß aus dem

Widerspruchsprinzip stammenden Notwendigkeit erkennt.333

Wenn es also nicht überhaupt geleugnet wird, daß wir allgemeingültige

und ewige metaphysische Wahrheiten (synthetische Urteile a priori)

einsehen können, dann muß man auf zugeben, daß diese intelligiblen

Wesenheiten das Sein der konkreten Dinge und auch ihr konkretes

Sosein in einem erst näher zu bestimmenden Sinne transzendieren.

332 Dies gilt nicht von den nichtnotwendigen Soseinseinheiten, wie Hund,

Katze, Hirsch, Rose etc., die zwar auch nicht "entstehen", aber doch nicht

notwendig sind oder vor jedem konkret Seienden als dieses beherrschend

existieren und erkannt werden können. Sie werden vielmehr wirklich, aus

diesem erkannt. 333 Vgl. Kap. 2 des zweiten Teiles der Arbeit: S. 170 ff.

274

Denn wenn es notwendige Wesenheiten von (ihrer Existenz und ihrem

konkreten Sosein nach) nicht notwendigen Dingen gilt, dann müssen

sie "jenseits" und vor aller konkreten Dingwelt eine "ideale Existenz"

besitzen, sie müssen dann die in jeder möglichen Welt gültigen "ewigen

Wahrheiten" über nicht-ewig Seiendes einschließen.

2. Wenn ich ferner die notwendigen Wesenheiten wirklich nur in und

an den konkreten Dingen erkennen könnte, dann könnte ich sie niemals

mit absoluter Gewißheit erkennen. Denn etwas real Existierendes

(außer meiner eigenen Existenz und der Existenz Gottes) kann ich

überhaupt nie mit absoluter Gewißheit erkennen. Ferner könnte ich

selbst bei den in mir mit unmittelbarer Gewißheit erlebten Akten nur

eine "absolute, empirische Gewißheit" im Augenblick der

unmittelbaren Berührung mit dem konkreten Seienden haben, wie die

Gewißheit: ich sehe jetzt, daß ich im Zweifel des bezweifelten

Sachverhalts bewußt bin und daß dies notwendig ist.

In Wirklichkeit sind diese Wesenheiten hingegen in sich notwendig und

unabhängig von ihrer konkreten Verwirklichung hier und jetzt etwas

Autonomes. Nur deshalb kann ich sie jederzeit betrachten, wenn ich

nur meinen Geist auf sie richte und ohne daß ich sie in einem konkret

gegebenen Seienden als dessen notwendiges Wesen erkennen könnte.

Wie gesagt, kann mir ja überdies eine solche notwendige Wesenheit

nicht nur aus dem Realkontakt bekannt werden, sondern auch durch

eine bloß erdichtete Gestalt, eine Romanfigur etc. Selbst die

Realerfahrung hat für die Erkenntnis notwendiger Wesenheiten immer

nur die Funktion, mich mit einer solchen intelligiblen Soseinseinheit in

Berührung zu bringen, die autonom und "etwas" ist, unabhängig von

der Frage, ob sie wirklich in dem mir zum Ausgangspunkt dienenden

Seienden verwirklicht ist. Auch wenn wir ferner das Wesen des

Verzeihens oder eines Versprechensaktes oder da Zweifels an einem

konkreten Fall kennenlernen, so sehen wir nicht die Notwendigkeit des

konkreten Soseins dieser Akte, sondern ihrer Wesenheit selbst ein, die

als ihr "eidos" deutlich vor unserem Geiste steht. Dieses intelligible

eidos — und nicht nur das konkret verwirklichte Sosein — ist in diesem

Falle ebenfalls "Gegeben".

Das konkrete Sosein der Akte ist mir ja im Unterschied zu deren

intelligibler Wesenheit nur undeutlich und unklar, mit anderen Akten

gemischt und oft nur auf Grund von "Glaubenselementen" gegeben,

während die intelligible Wesenheit mir unmittelbar intuitiv selbst

gegeben ist. Wenn mir an einem konkreten Menschen das Wesen der

275

Reue aufgeht, ist mir also deren notwendiges Wesen voll anschaulich

und unmittelbar gegeben, während diese konkrete Reue als diesem

Wesen entsprechend und es erschließend mir viel weniger deutlich

gegeben ist. Ober das konkrete Sosein des Reueaktes kann ich mich

täuschen, über die notwendige Wesenheit der Reue nicht.334

334 Diese Unterschiede — und damit vor allem den Unterschied zwischen

intelligiblen, notwendigen Wesenheiten und dem ihnen entsprechenden,

konkreten Sosein der Dinge — hat der hl. Augustinus mit besonderer

Eindringlichkeit gesehen und in De Trinitate eindrucksvoll dargestellt:

"Sed cum se ipsam novit humana mens..., non aliquid incommutabile

novit...: aliterque unusquisque homo loquendo enuntiat mentem suam, quid

in se ipso agatur atttendens; aliter autem humanem mentem speciali aut

generell cognitione diefinit.. Itaque cum mihi de sua propria loquitur,

utrum intelligat hoc aut illud, an non intelligat, et urrum Igelit, an nolit hoc

aut illud, credo: cum vero de humana specialiter aut generaliter Herum

dicit, agnosco et approbo. Unde maxifestum est, alind unumquemque

widere in se, quod sibi alius dicenti credat, non tamen videat; alind autem

in ipse veritate, quod alius quo-tue possit intueri: quorum alterum mutart

per tempora, alterum incomutabili aeternitate consistere. Neque enim

oculis corporeis multas mentes videndo, per similitudinem colligimus

generalem vel specialem mentis humanae notitiam: sed intuemur

inviolabilem veritatem, ex qua perrecte, quantum possumus, definiamus,

non qualis sit uniuscuiusque hominis mens, sed qualis esse sempiternis

rationibus debeat."

10. Nach einer ebenfalls sehr wichtigen, schönen Stelle über die "unver-

änderlichen, unseren Geist transzendierenden Regeln" des Schönen fährt

Augustinus in 11 fort:

"Nam unde in me fraterni amoris inflammatur ardor, cum audio virum

aliquem pro fidei pulchritudine et firmitate acria tormenta tolerasse? Et si

mihi digito ostendatur ipse homo, studeo mihi conjungere, notum facere,

amicitia colligare. Itaque si facultas datur, accedo, alloquor, sermonem

confero, affectum meum in illum quibus verbis possum exprimo,....Amo

itaque fidelem et fortem virum amore casto atque germano. Quod si mihi

inter nostras loquelas fateatur, aut incautus aliquo modo sese indicet, quod

vel te Deo credat incongrua, atque in illo quoque carnale aliquid desideret,

et pro tali errore illa pertulerit, vel speratae pecuniae cupiditate, vel inani

aviditate laudis humanae; statim amor ille, quo in eum ferebar, offensus, et

quasi repercussus, atque ab indigno homine ablatus, in ea forme permanet,

ex qua eum talem credens amaveram. Nisi forte ad hoc amo jam, ut talis

sit, cum talem non esse comperero. At in illo homine nihil mutatus est:

276

Schließlich enthält jegliches konkrete, kontingente Seiende

wesensnotwendig nicht nur die intelligible Wesensstruktur als solche,

sondern auch Zufälliges, Erfindungshaftes in sich.

Vor allem aber kann die notwendige, ideale Wesenheit selbst überhaupt

nicht in einem kontingenten, zufälligen Seienden real werden, sondern

nur etwas, das an dieser notwendigen Wesenheit "teilhat", in dem sich

aber Notwendiges mit Zufälligem mischt.

Wie kann ich also aus — ihrem realen Dasein und Sosein nach — nicht

absolut gewiß berührbaren Dingen, denen überdies noch Zufälliges

beigemischt ist, durch Abstraktion (?!) absolut gewisse

Wesenserkenntnis haben, wenn dieses intelligible Datum nicht die

konkrete Soseinseinheit transzendiert und von ihr verschieden ist?

Indem ich sie mit absoluter Gewißheit einsehe, erkenne ich dann

umgekehrt, daß alles konkrete Seiende unter ihren "Gesetzen" steht.

Die "ideale Existenz" notwendiger, allgemeiner Wesenheiten muß klar

anerkannt werden, um schwerwiegende Irrtümer zu vermeiden

Wir müssen jetzt noch an zwei Irrtümern die Wichtigkeit des Gesagten

erläutern; dabei wird auch die untrennbare Verbundenheit

mutart tamen potest, ut fiat quod eum jam esse credideram. In mente autem

mea mutata est utique ipse existimatio, quse de illo aliter se habebat, et

aliter habet: idemque amor ab intentione perfruendi ad intentionem con-

sulendi, incommutabili desuper justititia jubente deflexus est. Ipsa vero

forme inconcussee ac stabilis veritatis, et in qua fruerer homine bonum eum

credens, et in qua consulo ut bonus sit, eadem luce incorruptibilis sinceris-

simaeque rationis et meae mentis aspectum, et illam phantasiae nubem,

quam desuper cerno, cum eumdem hominem quem videram cogito, imper-

turbabili aeternitate perfundit."

"... Itaque de istis (schönen Dingen) secundum illam (Wahrheit) judicamus,

et illam cernimus rationalis mentis intuitu. Ista vero aut praesentia sensu

corporis tangimus, aut imagines absentium fixas in memoria recordamur,

aut ex earum similitudine talia fingimus, qualia nos ipsi, se vellemus atque

possemus, etiam opere moliremur: aliter autem rationes artemque

ineffabiliter pulchram talium figurarum super aciem mentis simplici

intelligentia capientes." VII, 12. "In illa igitur aeterna veritate, ex qua

temporalia facta sunt omnia, formam secundum quam sumus, et secundum

quam vel in nobis vel in corporibus vera et recta ratione aliquid operamur,

visu mentis aspicimus." Augustinus, De Trinitate, IX, VI, 9—IX, VII, 12.

277

von wahrem Realismus und der Anerkennung einer "idealen Existenz"

deutlicher werden.

Wir sehen in diesem Zusammenhang von Nominalismus und

Positivismus ab, die indirekt durch alle bisherigen Analysen widerlegt

sind. Wir müssen vielmehr an gewisse Gedanken von Aristoteles und

Thomas und noch viel mehr an große Irrtümer von Averroes, Hegel

oder Husserl denken.

Wir finden in diesen Philosophien ansatzweise oder in konsequenter

Durchführung den Versuch, die "unnötige Verdoppelung der Welt

durch eine ideale Existenz notwendiger Wesenheiten" zu vermeiden

und diese allgemeinen, notwendigen Elemente irgendwie in die Dinge,

in die wirkliche Wele hineinzunehmen. (Beim späten Husserl finden

wir in gewisser Hinsicht den umgekehrten Versuch.)

Entweder schreibt man dann, wie Hegel dies in höchstem Maß tut, den

allgemeinen, idealen, impersonal-geistigen Wesenheiten eine Art

hypostasierter, quasi-personaler Realität zu und behauptet das

"Wirken" eines "allgemeinen Geistes" — oder man versucht

zumindest, die allgemeinen Wesenheiten als "konstitutive Elemente"

der konkret existierenden Seienden aufzufassen. Dann wären alle

"allgemeinen", alle den notwendigen Wesenheiten unterworfenen Züge

der wirklichen Welt tatsächlich ein und dieselben in allen Individuen.

Nur das unerklärliche, unsagbare Individuum-Sein wird dann als

wirklich individuell dem Seienden zugesprochen.

Dies ist aber ein Irrtum. Denn das "Menschsein" von Beethoven und

Platon ist in keiner Weise in betten dasselbe, so daß etwa nur die

"Beethoven-Eigenheiten" oder tie "Platon-Eigenheiten" individuell,

alle wesenhaft menschlichen Eigenschaften in ihnen hingegen

allgemein und ein und dieselben wären. In Beethoven und Platon sind

vielmehr auch alle zum Wesen des Menschen gehörenden

Eigenschaften, wie ihr freier Wille, ihr Erkenntnisvermögen etc. ganz

individuell.

Ja, hier scheint mir eher noch der Nominalismus im Recht zu sein.

Denn bei nicht-notwendigen Soseinseinheiten, deren allgemeine Züge

wir durch Induktion und Abstraktion gewinnen, ist tatsächlich das

Allgemeine in gewisser Weise nach dem konkreten Seienden und aus

fiesem erst gewonnen. Die "notwendigen Wesenheiten" hingegen

gehen der konkreten Wirklichkeit eindeutig als "Bedingung ihrer

Möglichkeit" und Grund ihres "Sinnes" vorher, was sich durch die

vorhin besprochenen Argumente erweisen läßt.

278

Jedenfalls scheine mir die Position, das Allgemeine bestehe in idealer

Existenz vor den Dingen oder als Abstraktion nach den Dingen —

je nach dem Fall — möglich zu sein. Daß hingegen die allgemeinen

Wesenszüge der Wirklichkeit als allgemeine in den individuellen

Dingen als deren Konstituentien bestünden, ist unmöglich. Dies führt

in objektiver Konsequenz notwendig zum Averroismus, den selbst der

hl. Thomas nicht genügend in seiner Wurzel getroffen zu haben scheint.

Es ist von größter Bedeutung, das wirkliche Verhältnis zwischen

allgemeinen, notwendigen Wesenszusammenhängen und

individuellem Seiendem zu sehen. Dies schließt eindeutig die ideale

Existenz der ersteren ein und gerade diese verbürgt die voll individuelle

Existenz konkreter Seiender. Jedes "Hineinnehmen" der allgemeinen,

notwendigen Elemente in die einzelnen Seienden als deren konstitutive

"Bestandteile" hingegen löst die Individuen und deren letzte

Eigenständigkeit auf, rückt sie entweder in die Nähe von "Teilen" eine

Kontinuums oder macht sie zu "Manifestationen" einer "allgemeinen

Substanz". Eine solche ist jedoch ein in sich widersprüchliches

Gebilde. Wir können mit letzter Evidenz erfassen, daß "Allgemeinheit"

niemals Merkmal einer Substanz und ihrer Proprietäten sein kann.

Der Charakter des "Allgemeinen" ist vielmehr auf die "idealen

Gebilde" beschränkt. Darum führt auch die Nichtanerkennung der zwei

Wirklichkeitsbereiche von realem und tief auf dieses hingeordnetem

"idealem" Sein notwendig zur Auflösung des Individuums und letztlich

zum Pantheismus. Mit diesen Hinweisen, die nach einer näheren

Ausführung verlangen, um voll geklärt zu werden, müssen wir uns hier

begnügen. Die Erkenntnis dieser "idealen Gebilde" ist auch vor der

Beantwortung der schwierigen Frage möglich, ob und inwiefern diese

"idealen Gebilde" in einer notwendigen Beziehung zu Gott stehen, die

uns jedenfalls nicht unmittelbar gegeben ist.

Werterkenntnis

Transzendenz in Erkenntnis objektiver Werte und Nihilismus in deren

Leugnung

Ohne Wesenserkenntnis gibt es ferner auch keine Werterkenntnis:

279

Wenn es aber keine Erkenntnis objektiver Werte gibt, dann sind unser

geistiges Leben und die metaphysische Welt selbst an ihrer tiefsten

Wurzel getroffen: Denn die Werte sind das Herz des Seins.335

Gäbe es nur die Transzendenz der Erkenntnis im Erfassen in sich

notwendiger Wesenheiten, wie sie auch "Kreis" und "Gerade" sind, so

gäbe es das nicht, was allein unser Leben wirklich sinnvoll machen

kann: die Welt der Werte, die Wirklichkeit, die Fülle des Seienden als

etwas, was sich in verschiedenen Rangstufen aus der Sphäre des

Indifferenten und Neutralen heraushebt durch seine in sich ruhende

Bedeutsamkeit und Kostbarkeit, das heißt durch eine Kostbarkeit, die

dem Ding an sich selbst eigen ist und ihm in keiner Weise von uns

beigelegt wird oder von einer Relation des Dinges auf uns abhängt. Der

innere Reichtum, das Wesen des menschlichen Geistes und seine

Fähigkeit, sich selbst zu überschreiten, die Tiefe seines Intellekts,

seines Willens und seines Herzens entfaltet sich erst dort, wo er etwas

begegnet, was nicht nur in sich selber notwendig, sondern was in sich

selber bedeutsam und allem relativ oder absolut neutralen Sein

entgegengesetzt ist und noch viel mehr allem, was zwar ist, aber nicht

sein sollte, das heißt allen unwertigen Wirklichkeiten, wie es alle

ungerechten Leiden und noch mehr alle ungerechten Taten und

Stellungnahmen sind. Diese tiefste Dimension des Seins, diese Quelle

allen Sinnes, die Werte, die in sich ruhende Bedeutsamkeit, hat D. von

Hildebrand in einzigartiger Klarheit herausgearbeitet, so fundamental

und überall vorausgesetzt diese Wirklichkeit auch immer war.336

335 Deshalb ist Suds die absolute Wertfülle das "Zentrums' des absoluten

Seins: die Heiligkeit Gottes. 336 Vgl. bes. D. von Hildebrand, Christliche Ethik, Kap. I—5; 7—9. Es kann

hier nicht darauf eingegangen werden, welche zentrale Rolle der Wert

schon seit der Platonischen Philosophie der Idee du Guten in der

Geschichte der Philosophie (man denke an den Begriff des "bonum") ge-

spielt hat. Zu einer philosophischen "prise de conscience" des Wertes ist es

allerdings in besonderer Weise seit Nietzsches Leugnung der Werte

gekommen, in der Nietzsche, klarer als dies gewöhnlich geschah, die

Eigentümlichkeit und fundamentale Bedeutung des Wertes als Nidel

einfach mit dem Begriff des Seins identisch ins Auge gefaßt hat. Die Stufen

in der philosophischen Herausarbeitung des Wertes nach Nietzsche

brauchen hier nicht erwähnt zu werden. Der frühe Max Scheler stellt in

dieser Entwicklung einen Höhepunkt dar. Allerdings muß ausdrücklich

betont werden, daß D. von Hildebrand durch seine Entdeckung dreier

280

Die klare Erkenntnis objektiver Werte ist aber noch gewichtiger als die

Herausarbeitung eines von unserem Geiste unabhängigen, objektiven

Seins als solchem.337

Daß ich fähig bin, diese Dimension des Seienden zu erfassen, in der es

sich aus dem Neutralen, Indifferenten heraushebt — nicht nur durch

meine subjektive Befriedigung, nicht einmal nur durch die Tatsache,

daß es objektiv gut für mich ist — sondern in sich selber, auf Grund

seines Wesens, darin liegt die Quelle allen geistigen Lebens, allen

wahren Glückes.

In den objektiven Werten liegt das eigentliche Geheimnis des Seins,

von ihnen empfängt die Transzendenz unserer Erkenntnis ihren tiefsten

Sinn. Das hat Nietzsche erkannt und deshalb ist sein Nihilismus von

solcher "Tiefe". Es ist so, wie Nietzsche sagt: Eine Wirklichkeit, die

zwar ist, in sich selber aber überhaupt keine Bedeutsamkeit und keinen

Wert besitzt, oder einen so minimalen wie die Materie eines

weggeworfenen Werkzeuges, oder gar eine unwertige reale Welt wäre

viel furchtbarer in ihrem Sein als in ihrem Nichtsein.338

grundsätzlich verschiedener intelligibler Bedeutsamkeitskategorien das

eigentliche Wesen der Werte erst zu voller philosophischer Erkenntnis

gebracht hat. Diese für die gesamte Ethik entscheidende Entdeckung dreier

verschiedener Bedeutsamkeitsarten und damit die eigentliche Entdeckung

der Werte macht D. von Hildebrand in meinen Augen zu einem der größten

Ethiker und Metaphysiker überhaupt.—Vgl. dazu die ausgezeichnete

Arbeit B. Wenischs: Der Wert — eine an D. von Hildebrand orientierte

Auseinandersetzung mit M. Scheler. 337 Vgl. dazu den Abschnitt S. 149 ff. dieser Arbeit. 338 "Nihilismus (d. h. die radikale Ablehnung Fron Wert, Sinn, Wünschbar-

keit)" Ne. We., III, S. 881. "Jeder Glaube ist ein Für-wahr-halten. Die

extremste Form des Nihilismus wäre die Einsicht: daß jeder Glaube, jedes

Für-wahr-halten notwendig falsch ist: weil es eine wahre Welt gar nicht

gibt." Ne. We., Bd. III, S. 555.

". . . so entsteht die letzte Form des Nihilismus, welche den Unglauben an

eine metaphysische Weit in sich schließt... Was ist im Grunde geschehen?

Das Gefühl der Wertlosigkeit wurde erzielt, als man begriff, daß weder mit

dem Begriff 'Zweck', noch mit dem Begriff 'Einheit', noch mit dem Begriff

'Wahrheit' der Gesamtcharakter des Daseins interpretiert werden darf... der

Charakter des Daseins ist nicht 'wahr', ist falsch..., man hat schlechterdings

keinen Grund mehr, eine wahre Welt sich einzureden... Kurz: die

Kategorien 'Zwveck', 'Einheit', 'Sein', mit denen wir der Welt einen Wert

281

Das Staunen über die Realität der Werte ist deshalb noch viel tiefer als

das Staunen darüber, daß überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts.

Denn es ist das Staunen darüber, daß etwas ist, von dem es besser ist,

daß es ist, als daß es nicht ist, daß etwas ist, das in sich sein soll, auch

wenn es schon ist.

Die Werterkenntnis setzt natürlich in eminentem Sinn die volle

Transzendenz unserer Erkenntnis überhaupt voraus. Wer sie leugnet,

muß konsequenterweise, wie wir gesehen haben, auch alle objektiven

Werte leugnen. Es gibt aber auch andere Gründe, die nicht vom

allgemeinen Relativismus abgeleitet sind und zur Leugnung der Werte

führen. Diese hat Dietrich von Hildebrand in Christliche Ethik vor

allem im Kapitel "Ethischer Relativismus" behandelt.339 In der

unendlichen Tiefe und Majestät des Reiches objektiver Werte und ihrer

Intelligibilität liegt auch der Grund für die Tiefe und Geistigkeit unserer

Motive und Antworten. Wer deshalb Objektive Werte und ihre

Erkennbarkeit leugnet, leugnet damit auch alle gestiegen Motive im

Bereich des Sittlichen und der übrigen Wertanworten. Eine blinde,

eingelegt haben, werden wieder von uns herausgezogen —und nun sieht

die Welt wertlos aus..." Ne. We., Bd. III, S. 678.

"Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: Das Dasein,

so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne

ein Finale ins Nichts: 'die ewige Wiederkehr'.

Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das 'Sinnlose')

ewig" Ne. We., Bd. III, S. 853.

"Der radikale Nihilismus ist die Überzeugung einer absoluten

Unhaltbarkeit des Daseins, wenn es sich um die höchsten Werte, die man

anerkennt, handelt; hinzugerechnet die Einsicht, daß wir nicht das

geringste Recht haben, ein Jenseits oder ein An-sich der Dinge

anzunehmen, das Göttlich', das leibhafte Moral wären' Ne. We., Bd. III, S.

567.

"Ein Nihilist ist der Mensch, welcher von der Welt, wie sie ist, urteilt, sie

sollte nicht sein, und von der Welt, wie sie sein sollte, urteilt, sie existiert

nicht. Demnach hat dasein (handeln, leiden, wollen, fühlen) keinen Sinn:

das Pathos des 'Umsonst' ist das Nihilisten-Pathos — zugleich noch als

Pathos eine Inkonsequenz des Nihilisten." Ne. We., Bd. III, S. 549. 339 Vgl. auch die ausgezeichnete Arbeit von Fritz Wenisch, Die Objektivität

der Werte.

282

ungeistige Daseinsgier muß dann mit ihrem entsetzlichen

Immanentismus an ihre Stelle treten.340

340 Diese Folge zeigt sich am konsequentesten in Nietzsches Werken. Die

dionysische Lebenshaltung, das Streben nach Rausch, Wollust und

Machtgefühl tritt an die Stelle aller geistigen, von Wert und Sinn diktierten

Antworten. Dies habe ich in einem Aufsatz über F. Nietzsche zu zeigen

versucht. Vgl. Ne. We., Bd. III, S. 755, 911. Oder Ne. We., Bd. 1, 24: "das

Wesen des Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die Analogie

des Rausches gebracht wird". "Der Grausame genießt den höchsten Kitzel

des Machtgefühls", Ne. We., Bd. I, S. 1029 (18).

In Jenseits von Gut und Böse, im Abschnitt: "Der freie Geist", in dem

Nietzsche sein Ideal des "freien Geistes", des "Versuchers" (42, Ne. We.,

Bd. II, S. 605) schildert, spricht er diese "Motive" deutlich aus: "Wir Um-

gekehrten, die wir uns ein Auge und ein Gewissen für die Frage aufgemacht

haben, wo und wie bisher die Pflanze 'Mensch' am kräftigsten in die Höhe

gewachsen ist, vermeinen, daß dies jedesmal unter den umgekehrten

Bedingungen geschehen ist, daß dazu die Gefährlichkeit seiner Lage erst

ins Ungeheure wachsen, seine Erfindungs- und Vorstellungskraft (sein

'Geist') unter langem Druck und Zwang sich ins Feine und Verwegene

entwickeln, sein Lebens-Wille bis zum unbedingten Macht-Willen

gesteigert werden mußte — wir vermeinen, daß Härte, Gewaltsamkeit,

Sklaverei, Gefahr auf der Gasse und im Herzen, Verborgenheit,

Stoizismus, Versucherkunst und Teufelei jeder Art, den alles Böse,

Furchtbare, Tyrannische, Raubtier- und Schlangenhafte am Menschen so

gut zur Erhöhung der Spezial Mensch dient, als sein Gegenteil..." (44) Ne.

We., Bd. II, S. 606. "jenes Gefühl von Glück,... das der Rausch jeder Art

mit sich bringt." Ne. We., Bd. III, S. 744.

Im Zarathustra (III. Teil): "Von den drei Bösen" (Ne. We., Bd. II, S. 436)

bezeichnet Nietzsche die drei von ihm nun als höchste eingesetzten Grund-

motive: Wollust, Herrschsucht, Selbstsucht."

"Dionysos: Sinnlichkeit und Grausamkeit... mit dem Wort dionysisch ist

ausgedrückt: . . . ein Hinausgreifen... über den Abgrund des Verbrechens:

das leidenschaftlich-schmerzliche Überschwellen in dunklere, vollere

schwebendere Zustände; ein verzücktes Ja-sagen zum Gesamtcharakter des

Lebens . . ." (Wille zur Macht, 1049/50).

Und an anderer Stelle nennt Nietzsche den Rausch das "Zeichen der

Selbstherrlichkeit und Kraft".

Eine eigene Arbeit wäre erforderlich, um genauer die von jeder Wahrheit

und objektiven Werten losgelöste, bzw. sich gegen diese richtende

Lebenshaltung zu untersuchen, die letztlich ein Triumph des wider die

283

Was sind Werte? (Drei Kategorien der Bedeutsamkeit)

In den ersten beiden Kapiteln seiner Christlichen Ethik zeigt D. von

Hildebrand zunächst, daß kein Seiendes unseren Willen oder eine

geistige affektive Antwort zu motivieren vermag, das uns als gänzlich

gleichgültig, indifferent entgegentritt. Jene Eigenschaft nun, durch die

sich ein Seiendes aus dem Bereich des Neutralen, Indifferenten

heraushebt in positiver oder negativer Richtung, nennt er

"Bedeutsamkeit".

Im zweiten Kapitel wirft er die metaphysisch und für die gesamte Ethik

entscheidende Frage auf, ob die "Bedeutsamkeit", ob jene Eigenschaft,

durch die sich ein Seiendes aus dem Indifferenten heraushebt, nur eine,

einheitliche ist, die vielleicht Grade oder Stufen kennt — oder ob es

prinzipiell verschiedene Arten gibt, durch die sich ein Seiendes aus der

Öde der Neutralität erheben und "bedeutsam" sein kann. Ist das

"bonum" eine immer gleiche Art, in der sich ein Seiendes in

"freundlicher" Weise an uns wendet und uns anzieht — dann wäre z.

B. der Unterschied zwischen Gut und Böse nur einer des Grades und

der Erkenntnis, da in diesem Falle Gute und Böse gleicherweise nach

dem strebten, was sie für ein "Gutes" hielten — oder gibt es von Grund

auf verschiedenartige Quellen der "Bedeutsamkeit" eines Seienden? Im

dritten Kapitel, aus dem wir im folgenden einige wichtige Stellen

zitieren, findet diese Frage ihre Beantwortung:

"Nehmen wir erstens an, jemand mache uns ein Kompliment. Wir

merken vielleicht, daß wir es nicht ganz verdienen, aber es ist uns

dennoch angenehm, es gefällt uns. Es ist nichts Neutrales und

Indifferentes für uns, wie wenn uns jemand erklärt, sein Name beginne

mit einem T." ... "Es stellt sich uns als angenehm dar, ausgestattet mit

den Merkmalen eines bonum, kurz als etwas Bedeutsames."

"Nehmen wir ferner an, wir seien Zeugen einer großmütigen Tat

geworden, jemand habe ein schweres Unrecht verziehen. Auch hier

fällt uns ein Gegensatz zu neutralen Tätigkeiten auf, etwa... zum...

Werte, die Lebensquelle des Geistes, gerichteten Hochmuts und der

Begehrlichkeit ist. Vgl. dazu auch D. von Hildebrand, Christliche Ethik,

IV. Teil, besonders Kap. 35. Zum "wahren Leeren des Geistes" vgl. a. a.

O., Kap. 17, 18.

284

Eine-Zigarette-Anzünden... wir sind uns bewußt, dieser Akt ist

bedeutsam, er ist etwas, was sein soll."

Vergleichen wir diese beiden Typen des Bedeutsamen:

285

I. Das bloß subjektiv

Befriedigende (Kompliment)

1. "Das erste — das Kompliment,

ist nur subjektiv bedeutsam.

Die Bedeutsamkeit des

Kompliments zehrt ausschließlich

von seiner Relation auf unsere

Befriedigung, sobald es von dieser

geschieden wird, sinkt es zurück

in die Anonymität des Neutralen

und Indifferenten. Die

Bedeutsamkeit des Angenehmen

oder Befriedigenden wird immer

durch die Präposition ,für'

ausgedrückt. Etwas ist angenehm

für oder befriedigend für

jemanden."

286

II. Der Wert = das in sich

Bedeutsame (Großmütiges

Verzeihen)

1. "Der Akt des Verzeihens

dagegen ist in sich bedeutsam.

Im Gegensatz dazu erweist sich

der großmütige Akt des

Verzeihens als etwas in sich

Bedeutsames... Seine spezifische

Bedeutsamkeit zehrt nicht von

irgendwelcher Beziehung zu

unserem Vergnügen und unserer

Befriedigung. Er steht vor uns als

etwas wesenhaft und autonom

Bedeutsames, das in keiner Weise

von unserer Reaktion abhängig

ist...

Andererseits verlangen die

Ausdrücke 'heroisch', 'schön',

'edel', 'erhaben' durchaus nicht die

Präposition 'für'; sie

widersprechen ihr vielmehr. Ein

Akt der Liebe ist nicht erhaben für

jemanden, sowenig wie die

Neunte Beethovens oder ein

herrlicher Sonnenuntergang schön

für jemanden ist."

287

2. "Ein Leben, das

ununterbrochenen Strom von

Vergnügungen bestünde, könnte

uns niemals einen Augenblick

jenes seligen Glückes gewähren,

das echt werthaltige

Wirklichkeiten erzeugen...die

egozentrische Lust, die Aristippos

als das einzig wahre Gut

hinstellte..., egozentrisches

'Glück' zehrt sich auf die Dauer

selbst auf und endet in Langeweile

und Leere... Das beständige

Genießen des bloß subjektiv

Befriedigenden wirft uns

schließlich in unsere eigene

Begrenztheit zurück und kerkert

uns in uns selbst ein.

Im Falle des subjektiv

Befriedigenden... ist unser

Vergnügen das principium und

die am Gegenstand haftende

Bedeutsamkeit des Angenehmen

oder Befriedigenden das

principiatum."

"Deshalb ist der Unterschied

zwischen dem Glück, das der

bloßen Existenz eines Wertes

entströmt und dem Vergnügen an

etwas subjektiv Befriedigendem

kein Unterschied des Grades,

sondern der Art: eine

Wesensverschiedenheit."

288

2. "Sicherlich haben die Dinge,

die wir in sich selber bedeutsam

nennen, die werttragenden Dinge,

die Fähigkeit, Freude zu

spenden... Das Entzücken, die

Ergriffenheit, die wir als Zeuge

einer edlen sittlichen Tat oder

beim Anblick der Schönheit eines

sternenbesäten Himmels erleben,

setzt wesenhaft das Bewußtsein

voraus, daß die Bedeutsamkeit

des Gegenstandes in keiner Weise

von der Freude, die er uns

schenkt, abhängt. Denn diese

Seligkeit erwächst gerade aus

unserer Konfrontation mit einem

in sich selbst bedeutsamen

Gegenstand, der majestätisch und

autonom in seiner Erhabenheit

und Hoheit vor uns stehe. Es

gehört gerade zu unserer

Seligkeit, daß wir hier einen

Gegenstand finden, der

vollkommen unabhängig von

unserer Reaktion auf ihn ist,

dessen Bedeutsamkeit wir nicht

verändern, weder erhöhen noch

verringern können; denn sie

erwächst ihm nicht aus einem

Verhältnis zu uns, sondern aus

seiner eigenen Ranghöhe. Er steht

gleichsam als eine Botschaft von

oben vor uns; er trägt uns über uns

selbst hinaus... Unsere

Zuwendung zu einem Wert erhebe

uns... befreie uns vom Kreisen um

uns selbst und

289

träge uns in eine von uns selbst,

unseren Stimmungen, unserer

jeweiligen Verfassung

unabhängige, transzendente

Ordnung. Dieses beglückende

Erlebnis setzt eine Teilhabe an

dem in sich Bedeutsamen voraus,

ihm wohne eine Harmonie inne,

die allein das in sich Gute, das

wesenhaft Edle ausstrahlen. Es

entfaltet eine Leuchtkraft vor uns,

die mit der inneren Schönheit des

Wertes 'kongenial'... ist...

Die...Sehnsucht, einer alle

Egozentrik überragenden

Wirklichkeit gegenüberzustehen,

gehört Wahrhaft zum tiefsten

Wesen des Menschen... Das echte,

tiefe Glück... ist Wesenhaft ein

Begleitphänomen; denn es ist in

keiner Weise die Wurzel dieser

Bedeutsamkeit, sondern ströme

als Überfluß aus ihr hervor...

Darum ist dieses Glück etwas

'Sekundäres, ungeachtet der

Tatsache, daß die Fähigkeit, uns

Freude zu spenden, ein

wesentliches Merkmal der Werte

ist. Wir sollen uns sogar an ihnen

freuen. Der Wert ist hier das

principium (Bestimmende) und

unser Glück das principiatum

(Bestimmte)."

290

"Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal finden wir in der Weise, in der

jeder Bedeutsamkeitstypus sich an uns wendet."

3. "Andererseits stellen bloß

subjektiv befriedigende

Gegenstände eine Forderung

dieser Art an uns. Sie ziehen uns

an, laden uns ein; aber es ist uns

ganz klar, daß wir ihnen keine

Antwort schulden und es uns

freisteht, ihrer Einladung zu

folgen oder nicht. Wenn uns ein

köstliches Gericht lockt, spüren

wir deutlich, daf3 es ganz in

unserem Belieben steht, ob wir

dieser Verlockung nachgeben

oder nicht. Wir alle wissen, wie

lächerlich es wäre, wollte jemand

sagen, er unterwerfe sich der

Verpflichtung, Bridge zu spielen

und überwinde die Versuchung,

einem Kranken zu helfen."

291

3. "Jedes werttragende Gut lege

uns gewissermaßen die

Verpflichtung auf, ihm eine

adäquate Antwort zu geben. Wir

sprechen hier noch nicht von der

einzigartigen Verpflichtung, die

wir die sittliche nennen und die an

unser Gewissen appelliere. Wir

denken jetzt an den Eindruck, den

wir empfangen, sobald wir mit

etwas in sich Bedeutsamem

konfrontiere werden, etwa mit der

Schönheit in Natur und Kunst,

mit... einer großen Wahrheit, mit

der Herrlichkeit sittlicher Werte.

In allen diesen Fällen sind wir uns

deutlich bewußt, daß der

Gegenstand eine adäquate

Antwort von uns fordert. Wir

begreifen, daß es weder unserer

willkürlichen Entscheidung noch

unserer zufälligen Stimmung

überlassen ist, ob wir antworten

oder nicht und wie wir antworten.

3 A. "Die Anziehungskraft des

subjektiv Befriedigenden lullt uns

dagegen ein und versetzt uns in

einen Zustand, in dem wir dem

Instinkt nachgeben; sie hat die

Tendenz, unser freies

Personzentrum zu entthronen.

292

3 A. "Die Forderung eines echten

Wertes nach adäquater Antwort

ergeht an uns in souveräner, aber

unaufdringlicher, soberer

(nüchterner) Weise. Sie appelliert

an unser freies Personzentrum."

"Schließlich spiegelt sich die wesenhafte Verschiedenheit beider

Bedeutsamkeitskategorien deutlich in der Art, in der wir auf sie

antworten. Betrachten wir die Begeisterung, mit der wir auf eine

heroische sittliche Tat reagieren, und vergleichen wir diese Antwort mit

unserem Interesse an etwas subjektiv Befriedigendem, z. B. einer

vorteilhaften geschäftlichen Spekulation."

4. "Das Interesse an dem

subjektiv Befriedigenden

Ofenbart... eine

Ichbefangenheit, ein Beziehen

des Objektes auf uns selbst, auf

die egozentrische

Befriedigung, für die wir es

benützen. Hier konformieren

wir uns nicht dem Gut um

seiner in sich ruhenden

Bedeutsamkeit willen...

sondern passen vielmehr das

Objekt uns an. Wir sind

vielleicht völlig von ihm

eingenommen, versagen uns

seinetwegen viele

Vergnügungen; doch im

dynamischen Gehabtwerden

von einem subjektiv

Befriedigenden liegt noch

nichts von dem Wesen wahrer

Hingabe, nichts von diesem

Sichausliefern an etwas... um

seiner selbst willen

Bedeutsames."

293

4. "Wir sehen klar, daß die

Antwort im ersten Fall den

Charakter einer Hingabe

unserer selbst, eines

Hinausgehens über die

Grenzen unserer

Ichbezogenheit, einer gewissen

Unterwerfung hat."

"Die Verschiedenheit von Wert und nur subjektiv Befriedigendem ist

zuweilen als bloßer Gradunterschied interpretiert worden... Tatsächlich

war dies die Meinung Max Schelers... Aber für diese

Bedeutsamkeitsarten gibt es keinen gemeinsamen Nenner. Wir stehen

hier vor zwei völlig verschiedenen Gesichtspunkten: Bedeutsamkeit

meint in jedem Fall etwas anderes."

5. "Wir können von größerem

oder geringerem Vergnügen

sprechen, aber das nur subjektiv

Befriedigende gestattet uns nicht,

hier den Begriff von niedriger und

höher, wie in der Wertsphäre

anzuwenden... Die

Anziehungskraft der Krone auf

Macbeth, die tiefe Befriedigung

seines Hochmutes und Ehrgeizes,

die das Königtum ihm verschafft,

ist dem in sich Bedeutsamen

keinesfalls näher als die

angenehme Qualität eines

warmen Bades."

294

5. "Sobald wir die Attribute

'niedriger' und 'höher' auf zwei

erfreuliche Erlebnisse anwenden,

beurteilen wir sie schon vom

Gesichtspunkt des Wertes und

nicht mehr von dem des bloß

subjektiv Befriedigenden. Wir

können also sagen: Die Freude,

die wir beim Hören einer

Haydn-Symphonie empfinden, ist

etwas Höheres als das Vergnügen,

das uns eine gute Speise machen

kann. Höher bedeutet hier edler

und ist offenbar ein Urteil über

zwei Erlebnisse vom

Wertgesichtspunkt aus... die aus

dem rein subjektiv

Befriedigenden stammende

Qualität eines warmen Bades ist

dem bescheidenen Wert einer

geistreichen Bemerkung ebenso

fern wie dem hohen Wert eines

großmütigen Verzeihensaktes."

295

"Die Tatsache, daß der Unterschied zwischen Wert und subjektiv

Befriedigendem ein wesenhafter ist, dem zwei verschiedene

Sinngehalte von Bedeutsamkeit entsprechen, tritt vor allem im Fall

eines Konfliktes zwischen der Verlockung eines Angenehmen und der

Forderung eines Wertes zutage...die Kategorie Res subjektiv

Befriedigenden ist nicht auf gewisse Gegenstände gerichtet, die in sich

selbst keine andere Bedeutsamkeit besäßen, sondern auf den

Gesichtspunkt, unter dem wir uns diesen Dingen zuwenden."

III. Das objektive Gut für die Person

Es gibt noch einen "dritten fundamentalen Typ des bonum... Beim

Nachdenken über die Dankbarkeit und ihr wirkliches Objekt entdecken

wir, daß die Wohltat, die uns jemand erwiesen hat, für die wir dankbar

sind, weder zum Gesichtspunkt des nur subjektiv Befriedigenden noch

zu dem des in sich Bedeutsamen gehört..."

"Diese dritte Bedeutsamkeitskategorie zeigt sich auch ganz deutlich,

wenn man das Formalobjekt des menschlichen Verzeihens betrachtet,

nämlich das uns zugefügte objektive Übel. Weder den Unwert einer

sittlichen Schuld noch etwas rein subjektiv Unbefriedigendes könnten

wir möglicherweise verzeihen. Ebenso zeige sich diese Bedeutsamkeit

eindeutig als diejenige, die Sokrates in seinem berühmten Wort im

Auge hat: ,Es ist für den Menschen ein größeres Übel, Unrecht zu tun

als Unrecht zu leiden."341a

Indem er von den verschiedenen Bedeuesamkeieskategorien ausgeht,

gelangt D. von Hildebrand also zu der klaren Erkenntnis der Werte als

jener Eigenschaften einer Sache, die ihr in sich selbst eine Kostbarkeit

verleihen, die von keiner Relation auf unsere Person abhänge. Und

damit hat er einen zentralen metaphysischen Beitrag geleistet.

Wir wollen noch einige wichtige Stellen anführen, in denen Hildebrand

von den objektiven Werten als den Eigenschaften spricht, die einem

Seienden auf Grund seines Wesens in sich zukommen.

341a Zur näheren Analyse dieser Bedeutsamkeitskategorie vgl. a. a. O., S. 67

ff, und vor allem die Analyse des Sokrates-Wortes, S. 72 ff.

296

Die Objektivität der Werte — Wesenserkenntnis und Werterkenntnis

"Das zentrale Problem ist jedoch die Frage, ob die Werte echte

Seinsproprietäten sind, die wir im Seienden vorfinden können, selbst

wenn wir von jeder möglichen Motivation absehen. Sagen wir von

einem Reueakt, er ist sittlich gut oder rahmen wir einen Mann als

intelligent oder als ein Genie oder sprechen wir von der Würde der

menschlichen Person, so berufen wir uns ohne Zweifel auf Vorzüge,

die Proprietäten des betreffenden Seienden sind; wir meinen nicht nur

Gesichtspunkte möglicher Motivation. Der sittliche Adel eines

Reueaktes, seine in sich ruhende Bedeutsamkeit ist uns eindeutig

gegeben, wenn wir uns in das Wesen eines solchen Aktes vertiefen. Um

die innere Gutheit und sittliche Schönheit der Reue zu erkennen,

brauchen wir sie nicht unter einem bestimmten Gesichtspunkt zu

betrachten. Es genügt schon, daß unser Geist ungehindert von Hochmut

und Begehrlichkeit sei und unser geistiges Auge nicht durch eine

Perversion unseres Willens erblindet.''341

Doch welcher Art ist diese Erkenntnis? — Wieder werden wir die

zentrale Rolle der platonischen Entdeckung notwendiger

Soseinseinheiten erkennen:

"Und wenn wir erkennen: diese innere Gutheit, dieser sittliche Wert

wohnt wirklich der Reue inne, so ist dies nicht bloß eine

Wahrnehmung, ähnlich der, die uns ermöglicht festzustellen, daß Blut

rot ist. Vielmehr verstehen und begreifen wir, daß eine wesenhafte

Verbindung zwischen dem Wert und dem Gegenstand besteht. Es ist

nicht nur eine andere und tiefere Beziehung als die zwischen Substanz

und Akzidenz — die typische Relation des Anhaftens, der Inhärenz —

, sondern darüber hinaus eine notwendige, intelligible Verbindung,

nicht bloß eine faktische und akzidentelle. Wir verstehen: die Reue ist

sittlich gut und so muß es sein. Das besagt allerdings nicht, wir könnten

den Wert der Reue durch eine Deduktion ihrer Bedeutsamkeit von

etwas anderem beweisen. Wir sahen früher: die Bedeutsamkeit als

solche kann man nie von irgend etwas Neutralem ableiten. Jeder Wert

muß erfaßt werden. Ist ein Mensch für einen Wert blind, so können wir,

341 Diese und folgende Stellen stammen am D. von Hildebrand, Christliche

Ethik, Kap.7: "Die Bedeutsamkeitskategorien als Seinsproprietäten",

S.109ff.

297

wenn wir ihm helfen wollen, ihn zu erfassen, nichts anderes tun, als

ihm den Weg ebnen, indem wir alle Hindernisse in seinem Willen

entfernen und versuchen, ihn in die Ausstrahlungssphäre dieses Wertes

zu ziehen."

Wenn wir aber auch keinen Wert von etwas anderem ableiten können,

so heiße das in keiner Weise, die Werterkenntnis sei nicht ebenso gewiß

und objektiv wie irgendeine andere Erkenntnis. Wir haben im

Gegenteil schon gesehen, daß die ursprünglichste und rationalste

Erkenntnis, auf der übrigens alle Schlußverfahren ruhen, die

Wesenseinsicht in notwendige Zusammenhänge ist. Eben die

Wesenserkenntnis ist aber auch die Grundlage der Werterkenntnis:

... "haben wir einmal den Wert erfaßt, so verstehen wir, daß er

wesenhaft im Sosein der Reue gründet. Die essentielle Verbindung

zwischen sittlicher Gutheit und Reue ist uns nicht weniger univok

gegeben. Mit anderen Worten: die Relation zwischen einem Seienden

und seinem Wert ist bei einer direkten Bedeutsamkeit342 in sich (dem

Wert) nicht empirisch und kontingent, sondern vielmehr notwendig

und intelligibel. Betrachten wir die Liebe, dann begreifen wir sofort:

sie ist notwendig gut. Wir... verstehen: so ist es und muß es immer sein.

Es ist einfach unsinnig zu behaupten, wir meinten mit dem Wert eines

Aktes der Liebe oder der Gerechtigkeit nur einen

Motivationsgesichtspunkt, denn der Wert selbst zeigt sich uns evident

als eine Proprietät dieser Akte."

Wenn wir diese Bedeutsamkeit in sich, die einem Akt auf Grund seines

Wesens eigen ist, mit einer bloß indirekt (durch den Befehl einer

Autorität) bedeutsamen Sache vergleichen, so wird dies noch klarer.

Wir werden gleich zeigen, wie dies in keiner Weise einen Idealismus

in dem Sinne einschließt, als wären "Werte" damit etwas vom

Konkreten, Individuellen Ausgeschlossenes, bloß "Ideales". Der Wert

gründet vielmehr im intelligiblen "Sosein" von etwas und wird real, wo

immer etwas sich verwirklicht, was dieses Wesen hat.

Jetzt gilt es, klar die Objektivität der Werte zu erkennen:

"Wir sehen also: Der Wert ist in jedem Sinn des Wortes objektiv. Er ist

objektiv, sofern er eine echte Proprietät des Seienden ist, von dem wir

342 Im Unterschied zum Nützlichen, vgl. a. a. O., Kap. 4.

298

den Wert aussagen. Selbst abgesehen von jeder möglichen Motivation

besitzt das Seiende Werte. Sie gehören sosehr zu ihm, daß sie geradezu

das Mark seines Sinngehaltes bilden. Man kann sie keineswegs als nur

relationale Aspekte des Seienden, die dieses für unser Wünschen und

Wollen hat, interpretieren.

... auch wenn wir sie in reiner Kontemplation betrachten, leuchten sie

fort in derselben inneren Schönheit und Gehaltfülle, in ihrem

axiologischen Charakter, in eben der Gesolltheit, die ihr reales Sein

umgibt."

Die philosophische Herausarbeitung der Werte sowie die

Zurückweisung der Einwände, die man gegen ihre Objektivität erhebt,

findet sich in den schon angegebenen Kapiteln.343 Hier wollen wir nur

besonders darauf hinweisen, wie falsch es ist, die Werte deshalb zu

leugnen, weil sie nur unmittelbar einsichtig, nicht aber "beweisbar" und

"demonstrierbar" sind.

In dem Kapitel "Der Wert als unzurückführbare Urgegebenheit" führt

D. von Hildebrand dies aus. Urgegebenheit bedeutet hier sowohl, daß

man den Wert auf nichts anderes reduzieren oder durch etwas anderes

erklären kann (was auch für die Farbe Rot gilt), als auch, daß man ihn

nicht leugnen kann, ohne ihn vorauszusetzen, wie dies etwa auch im

Falle der Wahrheit, der Erkenntnis, des Seins usw. ist. Die Erkenntnis

der Urgegebenheiten aber, die man auf nichts anderes reduzieren oder

durch dieses beweisen kann, ist die höchste Form rationaler Erkenntnis,

was heute meist geleugnet wird:

"Der moderne Begriff des Axioms, der eine willkürliche Annahme oder

bestenfalls eine Hypothese bezeichnet, hat also das unmittelbar

Einsichtige als Ausgangspunkt verdrängt. Man hat vergessen, daß die

Fähigkeit eines Beweises oder Argumentes, etwas intelligibel zu

machen, letztlich in der Möglichkeit gründet, ein Urteil mit anderen zu

verknüpfen, die entweder selbst unmittelbar einsichtig oder durch

unmittelbar einsichtige Prinzipien sicher begründet sind. Wäre die

unmittelbare Einsichtigkeit nicht Höhepunkt aller Intelligibilität und

letzte Quelle aller absoluten Gewißheit, dann wäre jeder Beweisgrund

seiner Einsichtigkeit beraubt; er wäre ebenso sinnlos, wie der Begriff

einer Wirkursache in einer Welt ohne Erstursache. Haben wir einmal

343 Über die Beziehung zwischen Wert und objektivem Gut der Person

sowie deren Beziehung zum Glück vgl. a. a. O., Kap. 7.

299

erfaßt, daß das unmittelbar Einsichtige eine höhere Intelligibilität

besitzt als jede Erklärung aus den Ursachen (ex causis) und daß die

ganze Intelligibilität und verbürgende Kraft eines Beweises auf der

Intelligibilität des unmittelbar Einsichtigen beruht, so bricht jene

Gleichsetzung der Intelligibilität mit dem aus Folgerungen und

Gründen Bewiesenen zusammen. Angesichts eines Evidenten

fortgesetzt Beweise fordern, zu fragen, warum es so sei, ist kein

Zeichen, daß man nach einer tieferen Intelligibilität verlangt, sondern

im Gegenteil ein Zeichen für die Unfähigkeit, das Wesen der Evidenz

und der Intelligibilität zu verstehen...

Außerdem hat ein Wert, der sich in seiner Bedeutsamkeit evident

darbietet, eine viel höhere Intelligibilität, als irgendein Beweis je

erwirken könnte; er macht jede Frage, warum er bedeutsam sei,

überflüssig. Das gilt vor allem für den allgemeinen Begriff des Wertes

oder des in sich Bedeutsamen . . ."344

Die spezifische Transzendenz des Menschen in der Werterkenntnis

Darin, daß wir aber nicht nur etwas in sich Notwendiges, sondern auch

etwas in sich Bedeutsames, Kostbares, Wertvolles erkennen können,

liegt eine Transzendenz unserer Erkenntnis, die weit über jene

hinausgeht, in der wir ein reales, individuelles Seiendes (die eigene

Person) oder notwendige autonome Wesenheiten als solche berühren

können. Darin, daß wir das notwendige Wesen von etwas erkennen

können, das auf Grund dieses Wesens auch in sich bedeutsam ist, liegt

eine solche Tiefe der Transzendenz, daß man sie als eine vollkommen

neue Dimension der Transzendenz erfassen muß. So wie die

344 Im 9. Kapitel der Christlichen Ethik findet sich eine Widerlegung des

ethischen Relativismus und die Behandlung einiger Gründe, die es ver-

ständlich machen, warum in der Wertsphäre zwar ebensosehr eine innere

Intelligibilität herrscht wie im Gegenstand der Geometrie, wie aber sowohl

regen der größeren Tiefe und Ehrfurcht, die zur Werterkenntnis voraus-

gesetzt ist als auch wegen vieler anderer Gründe es nur allzu verständlich

ist, daß es viele Formen der Wertblindheit und der Leugnung objektiver

Werte gilt, die in keiner Weise irgendeinen Beweis gegen deren Intelligibi-

lität bilden. Dieses Thema hat D. v. Hildebrand am ausführlichsten in

seinem Werk Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis ausgeführt. Vgl.

auch zum Thema des Wertrelativismus F. Wenisch, Dir Objektivität der

Werte.

300

Wirklichkeit in sich selbst öde, "immanent" wäre, wenn alles vom

neutralen Rhythmus eines neutralen Seins beherrscht wäre, wenn alle

Werte und Bedeutsamkeit auf bloß subjektive Gefühle reduziert

würden, so liegt auch hier — in der Teilhabe an der wesenhaften

Gutheit von etwas — ein Höhepunkt der Transzendenz unserer

Erkenntnis.

Wir können in dieser Arbeit nicht von der noch höheren Transzendenz

des Menschen sprechen, die darin liegt, daß er Träger sittlicher Werte

werden kann. Hier wollen wir nur darauf hinweisen, daß auch die

Erkenntnis der sittlichen Werte eine viel höhere Transzendenz

einschließt als alle sonstige Werterkenntnis, da es sich hier um das

ewige, unwandelbare Maß unseres Lebens handelt, um die höchsten

Werte, um Werte, die uns vor eine Entscheidung angesichts der

Ewigkeit stellen, in denen, wie Kierkegaard sagt, "das Ewige atmet".

Daß es sich hier um Werte handelt, die auf Grund ihres Wesens

unendlich tief sind, daß sie in der tiefsten Beziehung zum Wesen Gottes

stehen, und vieles andere ist Grund für die einzigartige Transzendenz

unserer selbst in ihrer Erkenntnis.

Das metaphysische Gewicht der Werte

"Es ist offensichtlich absurd, anzunehmen, das Problem des Seienden

und der Existenz erhebe sich nur für unsere Erkenntnis und vom

Gesichtspunkt der Befriedigung unseres Wissensdranges aus. Dasselbe

gilt von der Frage der Bedeutsamkeit. Der Kontrast zwischen der

grauen, faden Leere des Indifferenten und der farbigen, sinnträchtigen

Fülle des Bedeutsamen enthüllt uns die letzte Tragweite dieser Frage.

Die Fiktion einer absolut neutralen und indifferenten Welt könnten wir

keinen Augenblick lang ertragen. Bedeutsamkeit ist so fundamental wie

das Sein.345 Die Annahme, es gäbe keine Bedeutsamkeit alles sei in

345 Von den auf Seite 261 ff. getroffenen Unterscheidungen verschiedener

Seinsbegriffe fällt Licht auf den Sinn dieses Ausdrucks, daß

"Bedeutsamkeit ebenso fundamental, wie das Sein" ist. B. Wenisch

bemerkt in Der Wert S. 20, anläßlich dieser These: "Es gibt nichts, was so

fundamental ist, wie das Sein oder was das Seiende in seinem Sein

transzendieren könnte." Solange man "Sein" in der ersten der erwähnten

Bedeutungen dieses Begriffs versteht, gilt dies ganz sicherlich nur, insofern

auch alle Werte und Güter das "Sein" in diesem umfassendsten,

allgemeinsten Sinne einschließen, aber nicht, insofern dieses "Sein" im

301

Wirklichkeit neutral, jede Bedeutsamkeit ein bloß relationaler Aspekt,

würde einem vollständigen Zusammenbruch des Kosmos

gleichkommen. Wir verstehen jetzt die elementare — ich möchte sogar

sagen unvermeidbare Wichtigkeit der Frage: Was ist der Sinn, die

Bedeutsamkeit eines Seienden?

Hier liegen letzte, an die Wurzel unseres Daseins gehende, im wahrsten

Sinn des Wortes existentielle Probleme. Sie transzendieren jedoch den

Bereich unseres eigenen Seins, denn sie beziehen sich auf etwas, was

seine von uns unabhängige innere Notwendigkeit besitzt und die letzte

metaphysische Schicht berührt. Solcherart ist die Frage nach dem Sinn

und der Bedeutsamkeit des einzelnen Seienden und vor allem des

ganzen Universums. Wenn wir nur wissen, daß etwas ist oder existiert,

sind wir noch nicht zu der vollen Antwort durchgedrungen, die sich

objektiv aufdrängt und nach, der unser Geist wesenhaft dürstet. Die

Existenz eines Dinges ruft notwendig die Frage nach seinem Sinn,

seiner Bedeutsamkeit hervor. Die metaphysische Unbefriedigtheit, die

wir erfahren, solange wir keine Antwort auf diese letzte Frage über das

Universum haben, ist in der natürlichen Sphäre ein 'Präludium' zu jener

'Unruhe', die nach dem hl. Augustinus unser Herz erfüllt, bis wir Gott

gefunden haben...

Ist uns diese Frage aber einmal ganz bewußt geworden, so verstehen

wir auch, daß diese Bedeutsamkeit (nach der wir hier fragen) mit dem

in sich Bedeutsamen, dem Wert, zusammenfällt. Keine andere Art der

Bedeutsamkeit könnte je diese letzte Antwort geben. Mit der

Feststellung, etwas sei subjektiv befriedigend oder selbst ein objektives

Gut für die Person, bleibt die fundamentale Frage seiner endgültigen

Bedeutsamkeit unbeantwortet.

...Wie nur die Autonomie des Seins (d. h. seine Vorgegebenheit

gegenüber dem Bewußtsein und seine Unabhängigkeit von unserem

Geist) die letzte Erfüllung unseres Suchens nach Wahrheit zu spenden

allgemeinsten Sinne schon irgendwie mit dem Werte identisch wäre oder

diesen auch nur in seinem Begriff einschlösse. Wenn "Sein" im zweiten

Sinn als die jeweils besondere Weise des Seins verstanden wird, dann ist

es selbstverständlich, daß Werte auch sind, besonders wenn sie konkret

verwirklicht existieren. Dann ist ja das Wertsein sogar die Innerste der drei

Dimensionen des Seins, kann aber weder von der ersten (dem

Intelligibelsein) noch von der zweiten (dem Realsein) abgeleitet werden.

Es kann hier nur auf die Kapitel 7, 8, 12 in Christliche Ethik verwiesen

werden, sowie auf die ausgezeichneten Bemerkungen, die B. Wenisch a. a.

O., besonders in Kap. V, 5, macht.

302

vermag, ebenso kann die unabweisbare metaphysische Frage der

Bedeutsamkeit nur von dem autonom in sich Bedeutsamen, dem Wert,

beantwortet werden !"346

"Versuchen wir, uns eine vollkommen neutrale Welt vorzustellen —

eine wesenhaft unmögliche Fiktion — , so wird uns klar, daß alles

seinen Sinn verlieren würde: unser Leben wäre zu einem absurden

circulus vitiosus herabgedrückt; es würde sogar unter das Niveau des

tierischen Lebens absinken. Selbst in einer Welt, in der nur die

Bedeutsamkeit des subjektiv Befriedigenden existierte, würde unser

Leben zusammenbrechen. Eingekerkert in unsere Egozentrik, ohne den

archimedischen Punkt objektiver Bedeutsamkeit, wären wir vom

wahren Glück wie von jeder Selbsthingabe, von aller Liebe, aller

Begeisterung und Bewunderung ausgeschlossen. wir könnten nicht

einmal behaupten, daß Weisheit der Torheit vorzuziehen ist...

"Mit der Behauptung dieser Tatsache führen wir den Wert keineswegs

als ein Postulat ein. Eine Solde Interpretation würde vollkommen

mißverstehen, was wir meinen... Unser Ziel ist ausschließlich, die

Konsequenzen aus einer Leugnung des Wertbegriffes zu ziehen und zu

zeigen, in welchem Ausmaß er beständig vorausgesetzt wird...

jedermann an das zu erinnern, was er in einer tieferen Schadet besitzt,

ihn in diese tiefere Schicht zu ziehen, in der er das datum des Wertes

erfaßt und daß er gerade den Angelpunkt des Daseins und Lebens

bildet."347

Wahrer Realismus und ewige Wesenheiten

Ein konstruierter Gegensatz zwischen idealen Wesenheiten und

individueller Existenz

Es ist eines der Kennzeichen gegenwärtiger Modephilosophien, daß sie

die Dinge, die wesenhaft widersprechend und unvereinbar sind,

miteinander vereinbaren und dadurch tief scheinen wollen, daß sie aber

diejenigen Dinge, die überhaupt nicht den geringsten Widerspruch

346 Vgl. Christliche Ethik, Kap. 5, S. 92—94. "Wert'. heißt also bei D. von

Hildebrand zugleich das, was immer der letzte Sinn des bonum war, und

zugleich unterscheidet sich sein Wertbegriff von dem Schelers und der

"Wertphilosophie" oder gar dem relativistischer "Werttheorien"

fundamental. Vgl. a. a. O., Kap. 9. 347 Vgl. a. a. O., S. 95, 96.

303

enthalten, für einander widersprechend ansehen. So meint man heute,

die substantielle Verschiedenheit von Leib und Seele sei unverträglich

mit der Einheit des Menschen, während sie in Wirklichkeit ihre

Voraussetzung ist. So meint man, die absolute Verschiedenheit und

optische Transzendenz Gottes als unendliches personales Wesen sei

mit seiner Gegenwart in der Schöpfung unvereinbar, während sie in

Wirklichkeit ihre Grundlage und eines ohne das andere undenkbar

wäre. So meint man, die Liebe und Einheit zwischen zwei Personen

und vor allem zwischen Gott und dem Geschöpf sei unverträglich mit

der realen und ewig bewahrten Verschiedenheit d« Personen, während

in Wirklichkeit gerade diese erst die Vereinigung der Liebe möglich

macht und gerade in der Gemeinschaft die Individualität am tiefsten

gegenwärtig und erfüllt ist.

Andererseits meint man, tief zu sein, wenn man das

Widerspruchsprinzip in Gott aufhebt (in der Nachfolge von Nikolaus

von Cues), wenn man "jenseits" des Gegensatzes von Gut und Böse

"steht", wenn man den Gegensatz von wahr und falsch in Gott für

irrelevant hält.

So wendet sich Nietzsche (und dann Heidegger) entschieden gegen jede

"übersinnliche Welt", gegen jedes Maß der Wirklichkeit durch die

platonischen Einsichten. Er meint sogar, diese unnötige "Verdoppelung

der Welt", die schon Aristoteles Platon vorwarf, stelle eine Entwertung

der wirklichen Welt dar.348

Verschiedenheit und Unterscheidung von Verschiedenem heißt jedoch

nicht Trennung und Auseinanderreißen und stellt nicht den mindesten

Gegensatz zur Einheit zweier Wirklichkeiten dar. Es gibt nämlich ganz

verschiedene Arten der "Einheit". Identität ist nur eine von ihnen,

keineswegs die einzige.

Konkrete Wirklichkeit und ewige Wesenheiten

348 Nietzsche meint, durch diese Flucht in eine erlogene, fingierte Welt

würde die diesseitige Welt, die "Erde" (Zarathustra) verdächtigt und ent-

wertet. Deshalb müsse man sie abschaffen. Vgl. dazu besonders auch am

der Götzendämmerung den Abschnitt: "Wie die 'wahre Welt' endlich zur

Fabel Wurde", den Heidegger in seinem Bude über Nietzsche, Bd. I,

ausführlich behandelt. Vgl. dazu auf M. Heidegger, Platons Lehre von der

Wahrheit.

304

1. Wenn man mit "Platonismus" allerdings jenen

"Ideenimmanentismus" meinen sollte, wonach wir nur "Ideen"

erkennen können, aber nicht ihre Beziehung zur wirklichen Welt, so

muß man demgegenüber auf die spezifische Urbezogenheit der

Wesenheiten auf das konkrete, substantielle Sein und seine

Eigenschaften hinweisen. Dabei geht es noch nicht um die Rolle der

Erfahrung für die Wesenserkenntnis, sondern um ein in ihnen

gründend" Merkmal. Jede Wesenheit "lebt ja davon", daß sie von der

Soseinseinheit der jeweils Soseienden "handelt", indem meistens auch

das substantielle, oft das individuell-personale Sein gerade das "ist",

was wir im Akt der Wesenserkenntnis besser begreifen. In diesem Sinn

ist jede Abschneidung der Wesenheiten von der Welt des konkreten,

existierenden Seins unsinnig und unmöglich.

Die Transzendenz unserer Wesenserkenntnis liegt gerade darin, daß es

sich in ihr um das Wesen und den Maßstab von allem So-seienden

handelt, um das, was in jedem konkret Soseienden dieses Wesens

"verwirklicht" ist. Sonst, wenn es sich nämlich nur um "Ideen"

handelte, ohne Beziehung zu einem konkreten Seienden (was in sich

unmöglich ist, da es sich ja dabei immer um das Sosein von etwas

handelt, auf das die Wesenheit hinweist), wären wir allerdings in einer

"immanenten Ideenwelt" eingeschlossen, ja, damit würde aber auch

diese ihres Sinnes beraubt sein.

2. Andererseits ist Nietzsches Gedanke, es handle Eide bei den

notwendigen, ideal seienden Wesenheiten als solchen um eine

"Entwertung der wirklichen Welt" (was Heidegger ihm unbedenklich

nachsagt) ein radikales Mißverständnis. Denn in Wirklichkeit liegt

gerade in den "rationes aeternae" der Dinge, in der Tatsache, daß es

etwas Unerfindbares, notwendig Vereintes, gibt, der einzige Grund für

die Sinnfülle, ja überhaupt für das Sein der konkreten Dinge. Die

konkrete Existenz von Dingen wäre völlig hohl und gleichgültig ohne

jene Sinnfülle, die gerade darin gegründet ist, daß nicht alles

"ebensogut anders sein könnte", daß es nicht einfach faktisch "so ist",

wie wir feststellen können, sondern daß es in seinem Sein an einer

unerfundenen und unerfindbaren Sinnfülle teilhat, welche unmöglich

wäre, gäbe es nicht über dem Wandelnden und vor ibm

wesensnotwendige Fülle, die jede Zufälligkeit ausschließt. Dies soll

nun am Beispiel der Werte, bei denen das Mißverständnis, als handle

es sich bei deren notwendigen Wesenheiten um eine "abgetrennte, zum

305

konkret Existierenden beziehungslose Welt", besonders verbreitet ist,349

veranschaulicht werden.

Es soll dabei auch deutlicher als bisher gezeigt werden, wie falsch der

Einwand gegen die ideale Existenz notwendiger Wesenheiten ist, der

besagt, deren Beziehung zur konkret-existierenden Welt bleibe bei

ihrer Annahme unverständlich.

Die Realität der Werte

Vor allem Werte setzen notwendig solche notwendige Wesenheiten

voraus. Wo es nur Zufälliges gibt, sind Werte unmöglich.

Alle sittlichen Tugenden, die Person usw. "haben" solche intelligible

und notwendige Wesenheiten, deren Sosein über jede bloße

Erscheinung, über jede "Erfindbarkeit" erhaben ist — und in diesen

notwendigen Wesenheiten von Person, Reue, Liebe usw. gründet in

intelligibler Weise ihr jeweiliger Wert. So ist die philosophische

Werterkenntnis (aber auch das, was der naive Mensch im Werterfassen

tut) immer auf Wesenserkenntnis aufgebaut. Ja, es ist auch umgekehrt

so: Nur in dem Maß, in dem ich den Wert erfasse, der im Sosein von

Reue, Liebe, Gerechtigkeit, Person, Freiheit usw. gründet, habe ich

überhaupt die wirkliche Einsicht in die notwendige Wesenheit des

betreffenden Seienden gewonnen. Die Vorstellung also, als wäre die

Erkenntnis in der Philosophie ursprünglich neutrale Soseinserkenntnis

und die Werterkenntnis dann nur etwas Dazukommendes, ist absolut

falsch. Betrachten wir die Fortsetzung eines schon einmal von uns

zitierten Textes:

"Und wenn wir erkennen: diese innere Gutheit, dieser sittliche Wert

wohnt wirklich der Reue inne — so ist dies nicht bloß eine

Wahrnehmung, ähnlich der, die uns ermöglicht festzustellen, daß Blut

rot ist. Vielmehr verstehen und begreifen wir, daß eine wesenhafte

Verbindung zwischen dem Wert und dem Gegenstand besteht. Es ist

nicht nur eine andere und tiefere Beziehung als die zwischen Substanz

349 Dagegen hat besonders verdienstlich B. Wenisch in seiner ausführlichen

und auch historisch gut begründeten Analyse (Der Wert) die volle

Beziehung der Werte zum konkreten Sein herausgearbeitet, in Ausein-

andersetzung mit den vielerlei gegen M. Scheler und D. von Hildebrand

besonders von der Seite der Scholastik erhobenen Einwänden.

306

und Akzidenz — die typische Relation des Anhaftens, der Inhärenz —

, sondern darüber hinaus eine notwendige, intelligible Verbindung,

nicht bloß eine faktische oder akzidentelle. Wir verstehen: Die Reue ist

sittlich gut und das muß so sein... die Bedeutsamkeit als solche kann

man nie von etwas Neutralem ableiten. Jeder Wert muß erfaßt werden...

Aber wenn es wahr ist, daß der Wert der Reue nicht von einem

neutralen Bereich, von neutralen Gesetzen oder von der immanenten

Logik eines neutral gesehenen Seienden abgeleitet werden kann, so

steht auch fest: haben wir einmal den Wert erfaßt, so verstehen wir, daß

er wesenhaft im Sosein der Reue gründet. Die essentielle Verbindung

zwischen sittlicher Gutheit und Reue ist uns nicht weniger univok

gegeben... die Relation zwischen einem Seienden und seinem Wert ist

bei einer direkten Bedeutsamkeit in sich nicht empirisch und

kontingent, sondern notwendig und intelligibel... Es ist einfach

unsinnig zu behaupten, wir meinten mit dem Wert eines Aktes der

Liebe oder der Gerechtigkeit nur einen Motivationsgesichtspunkt, denn

der Wert selbst zeigt sich uns evident als eine Proprietät dieser Akte."350

"Man mag vielleicht entgegnen: Der Wert ist nur ein Ideal, das in der

Wesenheit eines Etwas wurzelt, aber keine Proprietät eines realen,

konkreten, individuellen Aktes... Wenn Ausdehnung wesenhaft zur

Natur der Materie gehört, so findet sich offenbar überall, wo es

konkretes, körperhaftes Seiendes gibt, auch Ausdehnung als eine

konkrete, reale Proprietät. Alle diese Elemente, Merkmale und

Proprietäten, die essentiell in einer Wesenheit gründen, werden real,

konkret und individuell, sobald ein Objekt, das seine Wesenheit besitzt,

real wird. Darum ist die Frage, ob der Wert auch an einem konkreten,

individuellen List von bestimmter Art haftet, als solche schon

gegenstandslos..."351

"die reale konkrete Existenz eines werttragenden Seienden ist jedoch

keineswegs eine notwendige Bedingung für das Auffinden eines

Wertes; der sittliche Adel einer heroischen Tat kann ebenso in der

Handlung eines Romanhelden erfaßt werden." "Werte gehören so sehr

zum Seienden, daß sie geradezu das Mark seines Sinngehaltes bilden."

"Die Gutheit der Gerechtigkeit, die Kostbarkeit einer unsterblichen

Seele, und der Wert der Erkenntnis sind auch in dem Sinn objektiv, daß

ihre Bedeutsamkeit keine Beziehung zu einer Person voraussetzt: im

Gegensatz zum objektiven Gut für die Person sind sie in sich

bedeutsam".

350 D. von Hildebrand, Christliche Ethik, S. 110. 351 A. a. O., S. 111.

307

"Die Fülle der Werte ist die wahre, volle Wirklichkeit... der innere

Gestus des Wertes in seinem Glanz und seiner Gesolltheit ist in

Wahrheit das Herz und die Seele des Seins...das innere Feuer der

Werte, ihre immerwährende Glorie und Herrlichkeit: dies ist das letzte

Wort.''352

Die absolut gewisse Erkenntnis der metaphysischen,

substantiellen Wirklichkeit der eigenen Person

Teils wegen der Beschränktheit des Rahmens, teils wegen des Planes

zu einem ausführlichen Werk über "Leib, Seele, Unsterblichkeit"353

möchte ich in dieser Arbeit davon absehen, noch ausführlicher als

bisher herauszuarbeiten, wie wir im "si fallor, sum" mit absoluter,

zweifelloser Gewißheit die unentthronbare, an sich seiende Existenz

der eigenen Person erfassen können.

Dies wurde in den wesentlichen Zügen ja schon im vergangenen

Kapitel entwickelt und hier sei nur noch ausdrücklich betont, daß beim

"Cogito" die "Einklammerung" der eigenen Existenz oder gar die

Leugnung ihrer Erkennbarkeit und die Ablehnung des

"transzendentalen Realismus", wie wir sie in Husserls Spätphilosophie

fanden, unhaltbar falsch ist. Im "Cogito" ist der Punkt, wo wir nicht nur

— wie in jeder Wesenseinsicht — in Beziehung auf alle einer

notwendigen Wesenheit entsprechenden konkret existierenden und

überhaupt möglichen Seienden absolut gewisse Erkenntnisse haben,

sondern die reale Existenz der eigenen Person selbst unmittelbar

berühren in ihrer Unentthronbarkeit. Wenn man den eigentlichen

Vorrang der realen Existenz vor rein ideal-Seiendem erkennt, dessen

352 A. a. O., S. 99. Mit der Frage nach dem letzten Sieg der Werte in der

Wirklichkeit berühren wir die entscheidendste Frage nach der Tran-

szendenz des Menschen in der Gotteserkenntnis, was den Gegenstand einer

neuen Arbeit bilden würde. 353 Dort soll vor allem die substantielle Verschiedenheit von Leib und Seele

als Bedingung der Möglichkeit ihrer tiefen Einheit behandelt werden.

Ferner sollen grundlegend verschiedene Dimensionen und Weisen ihrer

Vereinigung herausgearbeitet werden sowie das Wesen der Substantialität

der Seele, ihre Abhängigkeit und Unabhängigkeit vom Leibe, das

Verhältnis und die verschiedenen Arten von unbewußtem und bewußtem

Sein u. a. m.

308

Eigenart wir vorhin andeuteten, dann versteht man auch, wie tief

beglückend es ist, das konkrete, individuell-existierende Sein, das voll

reale Sein unmittelbar berühren zu können, was schon in diesem

Kapitel gegenüber dem Immanentismus des späten Husserl und seiner

Cartesianischen Meditationen sowie in den ersten beiden Kapiteln des

II. Teiles vorliegender Arbeit herausgearbeitet wurde.

Die absolut gewisse Erkenntnis der objektiven Realität der Zeit

In der absolut gewissen Erkenntnis der eigenen Person und des Wesens

meiner Akte in ihrem "Sein an sich" ist auch eingeschlossen, daß ich

eine von mir selbst verschiedene, geheimnisvolle Realität erfasse: die

Zeit. In dem Obergang vom Zweifel zur absolut gewissen Erkenntnis,

die den Zweifel entthront und der Vergangenheit angehören läßt, in der

Tatsache, daß ich zweifelte und nun nicht mehr zweifle, leuchtet mir

nicht nur die notwendige Wesenheit, sondern auch die Realität der Zeit

auf, in der sich mein Sein vollzieht und entfaltet. Ich sehe ein, daß die

Zeit nicht Teil meines bewußten Seins, sondern vielmehr eine

objektive, von ihm vorausgesetzte, mediumshafte Wirklichkeit ist —

ich sehe ein, daß der Zeitpunkt, in dem ich zweifelte und der

Augenblick, in dem ich zur vollen Einsicht geh langte, verschieden

sind, ja daß Zweifel und Gewißheit nicht (im selben Sinn) im selben

Augenblick in mir bestehen können. Ich sehe ein, daß die Zeit, in der

ich einen bestimmten Zweifel hegte, niemals wieder kommen kann; ich

sehe ein, daß die Zeit nie zurückgehen kann und daß vergangene

Augenblicke niemals wieder gegenwärtige werden können, was sie

doch waren, ehe sie vergehen konnten. Vieles andere Staunenswerte

sehe ich über das Wesen und zugleich über die volle Realität der Zeit

ein, was mich in unergründliche Geheimnisse fahrt und es mir

schwermacht, die "Zeit selbst" von dem zu unterscheiden, was in einer

Beziehung zu ihr steht, ohne sie selbst zu sein, wie Veränderung,

Bewegung, Vergehen des Seins... Wäre die Zeit nur eine subjektive

Anschfauungsform und keine objektive Realität, in der sich unser Sein

vollzieht, so wären sowohl meine eigene Person als auch die Außenwelt

ein bloßer Schein, was wir schon früher gesehen haben.

Wenn wir sagen, daß die objektive Realität der Zeit "an sich" mit

absoluter Gewißheit erkannt werden kann, so muß dies näher erklärt

werden. Können wir die reale Zeit mit ebensolcher Gewißheit erkennen

309

wie unser eigenes Sein? Können wir auch den Raum mit absoluter

Gewißheit erkennen?

Wir können bezüglich' der Realität der Zeit nicht auf jenen

elementarsten und einleuchtenden Wesens-Zusammenhang hinweisen,

der zwischen jedem Akt des Zweifels oder Erkennens und dem von ihm

notwendig vorausgesetzten realen Subjekt besteht. Die Zeit ist nicht so

elementar und unausweichlich als notwendige, reale Grundlage jedes

bewußten Aktes gegeben, wie die Realität des "Ich" im "si fallor, sum".

Sie "drängt sich" unserem Geist nicht in derselben Weise "auf".

Ferner gibt es bei der Zeit nicht jene urhafte Berührung ihres realen

Seins, die uns hinsichtlich unseres eigenen Seins im

Vollzugsbewußtsein gewährt ist.

Dazu kommt noch, daß die Zeit selbst als von unserem Sein

verschieden und als Grundlage jedes Werdens und jeder Erinnerung ein

so geheimnisvolles unergründliches und — für sich betrachtet —

dünnes "Medium" ist, daß sie sozusagen dem sich rein auf sie

richtenden Blick zu verblassen droht.

Aber trotzdem müssen wir sehen, wie wir auch dem realen eigenen Sein

und den alle realen Seienden beherrschenden notwendigen

Wesenszusammenhängen auch das reale Sein der Zeit mit absoluter

Gewißheit erkennen und unmittelbar-unvermittelt berühren können.

Gegenüber dem Raum hat sie den "Vorzug", daß sie in keiner Weise in

ihrer konkreten Realität durch die Sinnesorgane "vermittelt" wird,

sondern uns in ein« ganz unmittelbar-unvermittelten Weise mit dem

Vollzug unseres bewußten Seins schon gegeben ist. Außerdem ist sie

das notwendige "Medium" nicht nur aller Körper und ihrer

Bewegungen, wie es auch der Raum ist, sondern auch all unserer

geistigen Akte. Die Zeit ist uns in unseren realen Akten, etwa dem

Zweifel und der mit ihm verknüpften Erinnerung, als voll reales

''Mediums'' dieser Akte und ihrer ''Phasen'' unmittelbar zugänglich.

Wir können nicht nur die ideale Wesenheit der Zeit unmittelbar und

unvermittelt erfassen (dies können wir bei sämtlichen notwendigen

Wesenheiten und selbstverständlich auch der des Raumes), sondern

auch ihr reales Sein können wir in einer analogen Unmittelbarkeit

erfassen, "innerlich wahrnehmen", wie in der Reflexion unser eigenes

Sein. In jeglicher Erinnerung, ohne die unsere Existenz unmöglich ist,

begegnen wir der geheimnisvollen Wirklichkeit der Zeit. Zugleich

können wir das notwendige, intelligible Wesen der Zeit erfassen. Darin

gründet etwa eindeutig die Tatsache, daß die Zeit die objektive, reale

310

Voraussetzung jeglicher Veränderung, Bewegung, jedes Werdens

überhaupt ist und dies sehen wir wiederum in seiner notwendigen

Gültigkeit für jede mögliche Welt ein. Wir sehen ein, daß dies "an sich"

so ist und daß es sich in keiner Weise so verhält, wie viele annehmen,

daß nämlich die Zeit eine Folge oder ein Attribut der Veränderung ist

und nicht vielmehr jedem Werden notwendig als sein "Medium" und

seine Voraussetzung vorhergeht. Dies hat Kant etwa gegenüber

Aristoteles klar gesehen, indem er die Zeit als "Bedingung der

Möglichkeit" für alle Erfahrung von Veränderung begreift. Allerdings

muß gegen Kant gemäß unserer früheren Erkenntnis betont werden,

daß die Zeit in einem objektiven, metaphysischen Sinn "an sich" die

Bedingung der Möglichkeit jedes Werdens ist. Indem wir im Zweifel

die metaphysische Realität der eigenen Person erkennen und die

objektiven, notwendigen Wesenheiten der hier in unmittelbarer

Erfahrung gegebenen Akte erfassen, gilt alles über die Autonomie

dieses Seins ''an sich''; schon Gesagte auch für die Zeit. Von ihr haben

wir ähnlich wie beim "Cogito" zugleich eine Wesenserkenntnis und

zugleich eine unmittelbare, unvermittelte Realerkenntnis.

Ebenso wie A. Reinach in seinem Aufsatz: Über das Wesen der

Bewegung (in: Ges. Schriften a. a. O.) nachgewiesen hat, daß die

absolute Bewegung der relationalen vorhergeht und daß der Raum die

objektive Voraussetzung bewegter oder ruhender Körper ist, könnte

auch erwiesen werden, was einer späteren Arbeit vorbehalten sein muß,

daß die "an-sich-Realität" der Zeit objektives Medium und

Voraussetzung der Dauer und jeder Entwicklung unseres Seins, jeder

Erinnerung etc. ist. Ohne die "Realität der Zeit an sich" würde unser

ganzes Leben, unser geistiges sowie leibliches Sein zu einem Schein,

nicht einer objektiven "Erscheinung" herabsinken. Alle Akte der

Umkehr und Veränderung wären ohne sie ein bloßer Schein, wie wir

schon gesehen haben.

Es kann erst in einer späteren Veröffentlichung eine genaue

Wesensanalyse der Zeit geboten werden, in der auch die scheinbaren

Antinomien des Raumes und der Zeit und zahlreiche andere Fragen

behandelt werden.

Hier sei nur auf einige Wesensmerkmale der mit absoluter Gewißheit

erkannten realen Zeit hingedeutet: Die Zeit hat am meisten den

Charakter eines "Mediums" für alle konkret werdende Wirklichkeit,

wie auch für deren Dauer. Die Zeit sinkt zu einem relativen "Nichtsein"

oder erhebt sich zu höchster Bedeutung je nach dem Seienden, das sich

311

in ganz verschiedener Weise in ihr entfaltet oder in ihr dauert. Die Zeit

bedeutet Dauer, Fülle der Augenblicke, Reichtum oder Flüchtigkeit

und Armut, je nach dem Seienden, das in ihr ist.

Im Wesen der Zeit selbst liegt ihr reinster Kontinuums-Charakter, die

kontinuierliche Abfolge der in einander übergehenden Zeitmomente,

der kontinuierliche "Strom", dessen einzelne Augenblicke sich zwar

nicht klar von den andern wie echte Individuen abheben, dessen

einzelne "Strecken" und "Punkte" aber doch absolut unwiederholbar

und einmalig sind. Es ist evident, daß zwar Experimente, aber niemals

vergangene Augenblicke (oder vergangene Taten etc.) wiederholt oder

ungeschehen gemacht werden könnten. Ebenso existieren die Teile und

"Punkte" der Zeit nie wie die des Raumes ''nebeneinander'', zugleich,

sondern ''nacheinander'' oder ''voreinander''. Auch auf die

Unumkehrbarkeit und viele andere Wesensmerkmale der Zeit kann hier

bloß hingewiesen werden.

Je mehr wir uns in diese notwendigen, intelligiblen Wesensmerkmale

der Zeit vertiefen würden, desto klarer würde uns, daß die Zeit

tatsächlich ein in sich notwendiges, unerfindbares Sosein besitzt, das

ebenso wie ihre Realität mit absoluter Gewißheit erfaßt werden kann,

wenn wir uns nur in das Sosein der vom Akt des Zweifels notwendig

eingeschlossenen Akte der Erinnerung u. a. versenken.

Doch auch das große Thema der Zeit würde den Rahmen dieser Arbeit

sprengen. Wir müssen uns hier mit dem Hinweis begnügen, daß das

über die Wesenseinsicht und Realerkenntnis früher Gesagte einschließt

und die Grundlage dafür bildet, daß wir auch die Realität der Zeit und

ihr Wesen mit einer über allen Zweifel erhabenen Gewißheit als "an

sich seiende Realität" und nicht bloß als "subjektive

Anschauungsform" begreifen können, daß wir im "si fallor, sum" etwa

oder in der Wesenseinsicht in den Akt des Behauptens, in dem wir

Subjekt, Kopula und Prädikat nacheinander aussprechen, das

notwendige Wesen und die Realität der Zeit unmittelbar berühren

können, in ähnlicher Weise wie unser eigenes Sein und die

notwendigen Wesenheiten überhaupt.

Die objektive, reale Existenz der Außenwelt und anderer

Personen

Die Leugnung der objektiven Wirklichkeit der Außenwelt als

312

Immanentismus

Wir haben gesehen, daß Kant die allentscheidende Wahrheitsfrage

durch die Frage der unerläßlichen Vorausgesetztheit ersetzt und daher

übersieht, daß es einen unermeßlichen Unterschied macht, ob ich in den

synthetischen Urteilen a priori notwendige Irrtümer begehe und in

unvermeidlichen Illusionen lebe oder ob ich die Wirklichkeit mit

meinem Geist erreichen kann, ob ich die Notwendigkeit

allgemeingültiger Sachverhalte erkennen kann, die im Wesen der

Sachen selbst gründen, oder nur eine "Denknotwendigkeit" in die

Dinge projiziere Doch Kant übersieht auch etwas anderes vollkommen,

dem wir jetzt unsere Aufmerksamkeit zuwenden wollen: Im

Augenblick, in dem ich Raum und Zeit und die Verstandeskategorien

als Produkt des Geistes erkläre (daß es nicht das "empirische Ich" ist,

das dies hervorbringt, sondern ein sogenanntes "transzendentales Ich",

bleibt dabei vollkommen gleich und ändert für unsere Frage nicht das

mindeste), habe ich nicht nur jede Möglichkeit, zu erkennen, was ich

selbst "an sich" bin, zerstört, sondern auch die ganze "Außenwelt" zu

einem "Schein" erklärt. Was für meine Person gilt, gilt natürlich auch

für die anderen. Hier leuchtet in besonderer Gewalt der "Riesenkampf"

auf, der zwischen Transzendentalphilosophie und der wahren, das

heißt, der Transzendenzphilosophie besteht: Von der

Transzendentalphilosophie fuhrt keine Brücke jemals wieder zur

Philosophie der Transzendenz, wie schon im vorigen Kapitel gezeigt

wurde. Die Transzendentalphilosophie hat überhaupt ausschließlich

einen Sinn, nachdem man die Transzendenz der Erkenntnis geleugnet

hat. Denn nur, wenn es diese nicht gibt, muß man die Erkenntnis statt

als Sich-selbst-Überschreiten des Erkennenden zum objektiven Sein

transzendental erklären als Anwendung von vom Geist produzierten

Begriffen und Anschauungsformen. Damit wird aber nicht nur die

materielle Außenwelt in der subjektunabhängigen Existenz geleugnet,

die sie zu besitzen gleichsam "behauptet" und an der kein Mensch im

unmittelbaren Sachkontakt zweifelt, sondern, was noch viel schlimmer

ist, auch die anderen Personen können dann überhaupt nicht mehr

erkannt werden, wie sie sind, und damit sind alle Liebe, alle

Gemeinschaft, auch alle moralischen Werte an ihrer Wurzel getroffen.

(Vgl. S. 129 ff. dieser Arbeit.)

Es ist auch heute neu gefordert, in aller Klarheit das "alles-zerstörende"

Werk Kants aufzudecken und zu bekämpfen, das sich in tausend

313

Formen versteckt und nicht weniger katastrophal ist trotz allem

Schönen, was Kant oft sagt, trotz seiner überragenden Genialität, als

das Werk des Positivismus Humes. Wenn auch nur Raum und Zeit, um

alles übrige einmal unerwähnt zu lassen, bloße subjektive

Anschauungsformen sind, die ich in der Erfahrung voraussetze, die

aber nicht wirklich so sind, wie ich sie erkenne, dann sind auch alle

andern Personen, all ihre Eigenschaften, all ihre Freuden und Leiden,

ihre Liebe und ihre Empörung, ihre Schuld und Bekehrung, die

Wesenhaft die volle Realität der Zeit einschließen, eine bloße

"Konstruktion" meines Geistes, die sich — mir unbewußt — im

"transzendentalen Ich" vollzieht.354 Schon wenn ich Raum und Zeit

wegnehme — in denen ich ja auch alle anderen Personen kenne, in allen

ihren Akten, ihren Veränderungen, ihrer Umkehr, ihrem Sprechen, den

Ereignissen des Lebens — kenne ich vom andern "Menschen an sich"

(und dieser allein interessiert mich und nicht ein bloßes "Mitsein")

nicht. Wenn Raum und Zeit nicht gänzlich von meinem Geist

unabhängige Wirklichkeiten sind, in denen sich objektiv mein Sein

vollzieht, dann bin ich selbst und dann ist die Welt ein

"selbsterfundenes Märchen".

Wenn die Zeit nur eine subjektive Anschauungsform und keine

''objektive autonome Realität wäre, wenn es in der Folge davon auch

keine Objektive Seinsbewegung in der Zeit" gäbe, wie H. C.-Martius

sie in ihrem Buch Die Zeit herausgearbeitet hat, dann wäre es z. B. nicht

objektiv so, daß ein Mensch eine Schuld beging, vor der er nicht

schuldig war oder nach der ihm diese Tat wieder verziehen und

nachgelassen werden könnte.

354 Hier müssen wir noch einmal ausdrücklich betonen, daß die Deutung der

Erkenntnis als Anwendung spontan vom Geist erzeugter Anschanungs- -

und Denkformen auf ein amorphes Material notwendig zum Solipsismus

führen muß, wie wir schon auf S. 163 ff., 252 ff. gezeigt haben.

Daher verfällt Kant schon in der Behauptung der Allgemeingültigkeit tran-

srendentaler Prinzipien einem Widerspruch, da er hierbei unkritisch die

Existenz anderer Menschen implicite voraussetzt. Auch die Ansetzung

eines transzendentalen ego hilft hier nichts, da ich ja dessen "an sich" und

für andere Menschen bestehende Gültigkeit einsehen müßte, was niemals

in einem Akt des Konstruierens, sondern ausschließlich in einem

rezeptiven Erkennen möglich wäre.

314

Also nicht nur für das Sprechen oder die Erinnerung, sondern auch für

die allertiefsten, personalen Wirklichkeiten im Menschen ist die Zeit

als eine objektive Realität vorausgesetzt, wenn nicht unser ganzes

Leben zu einer "maya", zu einem bloßen unwirklichen Schein erklärt

werden soll. Die Frage nun, auf die es jetzt ankommt, ist, ob die andern

Personen objektiv, also unabhängig von meinem Sein sind, und zwar

so sind, wie ich sie sehe und erkenne. Kant hat in seiner Verschiebung

der Wahrheitsfrage durch die nach der unentbehrlichen

Vorausgesetztheit verkannt, daß — außer den wirklich "erscheinenden"

sekundären Sinnesqualitäten — die ganze Natur, die äußere Welt, und

vor allem andere Menschen (ganz zu schweigen von den sittlichen

Werten und vor allem von Gott) überhaupt nur sind, wenn sie

unabhängig von unserem Erkennen, außer uns und jenseits des bloßen

"Objektseins" für einen Geist, auch den göttlichen Geist, "an sich" sind.

Wenn ich mich nicht mit jenem "Mitsein" zufrieden geben will, das von

der Frage des von mir unabhängigen Seins der geliebten Person absieht

und einen metaphysischen Solipsismus darstellt, als welchen Gabriel

Marcel sehr zu Recht Heideggers Philosophie bezeichnet hat, dann muß

mich der Kantische Gedanke, niemals das "Ding an sich" oder der

Husserlsche, niemals die individuelle Existenz erkennen zu können, zur

Verzweiflung bringen. In der Außenwelt und besonders der Realität

anderer Personen nimmt ja die konkrete, individuelle Existenz

gegenüber der idealen Wesenheit eine unvergleichliche

Vorrangstellung ein und macht Ofenbar, daß außer in Gott, wo die

notwendige Wesenheit und die reale Existenz einander gegenseitig

einschließen, nicht die ideale Wesenheit als solche, sondern das

substantielle, individuelle Seiende, das real Existierende das

"eigentliche Sein" ist, sosehr ihm in anderer Hinsicht als Bedingung

seiner Möglichkeit die notwendige, ewige Wesenheit personalen Seins

vorhergeht. Doch sehen wir gerade, wenn wir das Wesen der Person

betrachten, in diesem den einzigartigen Primat und die unvergleichliche

Kostbarkeit, die dem individuell existierenden personalen Sein in

seiner absoluten Einzigartigkeit gegenüber aller "idealen Existenz"

zukommt.

Die Frage also, ob wir in der Gemeinschaft mit der voll realen, von dem

Objektsein für uns und jeden andern Geist unabhängigen Existenz

anderer Personen in Berührung treten, ist in einer Hinsicht noch

bedeutungsvoller als die Frage, ob wir in der Wesenserkenntnis eine

315

autonome, für alles mögliche Seiende gültige und es beherrschende

Wirklichkeit berühren.

Zwar haben wir schon in den vorausgehenden Kapiteln gesehen, daß

gewisse Aspekte von Raum und Zeit, daß das objektiv-gültige "Antlitz"

der Wirklichkeit sich auf der Ebene der Erscheinung konstituiert, auf

der Ebene des Gegenstandseins für den Menschen, beziehungsweise

für ein Bewußtsein.

Aber schon die "primären Sinnesqualitäten" (wie Gestalt, Form,

Ausdehnung) haben ein vollkommen von jedem perzipierenden

Subjekt unabhängiges, objektives Sein (Ausdehnung, Masse,

Bewegung usw.), das wir zwar in einem bestimmten "Menschenaspekt"

sehen, das aber objektiv ist, und erst Recht sind Raum und Zeit, noch

viel mehr aber andere Personen wesenhaft "an sich" (oder sie wären ein

bloßer Schein).

Alle genannten Wirklichkeiten und am tiefsten andere Personen

erheben also den "Anspruch", sind uns gegeben als etwas, was

unabhängig von jedem Erkenntnissubjekt sein muß, um objektiv zu

sein, ja um überhaupt zu sein! Ungleich den Sinnesqualitäten als

solchen, liege im Wesen von all diesen Seienden, unabhängig von jeder

Erkenntnis voll aktuell so zu existieren, wie wir sie erkennen. Dieses

Bewußtsein begleitet jeden Menschen mit so elementarer

Ursprünglichkeit, daß es fast absurd erscheine, dies zu betonen und in

tiefem Staunen diese Wahrheit ins volle Licht philosophischer

Bewußtheit zu heben. In jedem Augenblick, in dem wir mit einem

Menschen sprechen, hören, was er getan hat, was er tun wird, erkennen,

was er ist und vor allem, ihn lieben, haben wir das urgegebene Wissen,

daß all dies, Raum, Zeit, Dinge, andere Menschen, ihre vergangene

Schuld, ihre späte Umkehr, so sind, objektiv und unabhängig von all

unserer Erkenntnis so sind, wie wir sie erkennen. Wäre diese

unabhängige Existenz der Welt nur ein Schein, so wäre die einzig

richtige Antwort jene Verzweiflung Heinrich von Kleists, jene

Verwundung unseres "heiligsten Inneren", von der wir schon in der

Einleitung gesprochen haben.

An dieser Stelle möchte ich nunmehr die vom Erkenntnisstandpunkt

bedeutsame Frage stellen: Wenn wir also jetzt erkannt haben, daß in

vielen Fällen die vollkommen objektive, subjektsunabhängige

Wirklichkeit vorausgesetzt wird, wenn unser ganzes Leben davon

getragen ist, wenn sogar vollkommene Sinnlosigkeit in es einziehen

würde, wäre dieser "objektive Unabhängigkeitsanspruch" der

316

Außenwelt ungültig, wenn also nur durch schwere Irrtümer und

Verwechslungen Heidegger sagen konnte, daß dieses Problem kein

seriöses Problem, sondern eine Scheinfrage sei,355 dann müssen wir uns

nun die Frage stellen: Wie können wir die Legitimität dieses

elementaren Anspruches erkennen, den wir sehen, wenn wir das

Gegebene ernstnehmen? — Ist dieser Anspruch nicht vielreiche doch

355 Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, I. Teil, VI. Kap., § 43a: "Die Frage,

ob überhaupt eine Welt sei und ob deren Sein bewiesen werden Rinne, ist

als Frage, die das Dasein" (= der Mensch) "als In-der-Welt-sein stellt —

und wer anders sollte sie stellen? — ohne Sinn" (S. 202). Die Fragestellung

Descartes' und auch Kants, der es als Skandal der Philosophie bezeichnet,

einen Beweis für das Dasein der Dinge außer mir noch nicht geliefert zu

haben, lehnt also Heidegger als sinnlos ab, obwohl sie sich seit Platon und

Augustinus als eine der klassischen Fragen erweist. Heidegger schreibt (a.

a. O., S. 205): "Der ,Skandal der Philosophie' besteht nicht darin, daß dieser

Beweis bislang noch aussteht, sondern darin, daß solche Beweise immer

wieder erwartet und versucht werden." Dabei mein: Heidegger, diese Frage

setze voraus, daß man ein isoliertes, "weltloses" Subjekt künstlich ansetze.

Das "Dasein als In-der-Welt-sein" verstanden sei jenseits aller solcher

Fragestellungen. In Wirklichkeit aber verwechselt Heidegger die Tatsache,

daß es zum Menschen selbstverständlich gehört, "in einer Welt" zu leben

und ständig auf sie bezogen zu sein, was Descartes nicht nur nicht leugnet,

sondern wovon er ausgebt und was gerade den Ansatzpunkt seiner Frage

bildet — mit der ganz anderen Frage, ob der objektive Anspruch dieser

Augenwelt zu Recht besteht, unabhängig davon, Gegenstand unseres

"Bewußtseins von" zu sein, "an sich" zu existieren. Die Frage ist gerade,

ob wir nur ein Welt habendes Dasein" sind, das sich beständig in einer Welt

"vorfindet" oder ob es an sich diese reale Welt gibt, ob sie "an sich" so ist,

wie sie uns gegeben ist oder ob sie wie eine Traumwelt nur "an sich" zu

sein scheint, was bei jeder Täuschung der Fall ist. Es scheint mir bei

Heidegger eine unehrliche Scheinüberwindung dieses Problems

vorzuliegen, bei der die eigentliche Frage nicht einmal gestellt, aber dabei

im Grunde in einer extrem idealistischen Weise gelöst wird, wie bes. aus §

44 a. a. O. hervorgeht. Diese Heideggersche "Lösung" der klassischen

Frage nach der objektiven Existenz der Außenwelt ist ebenso idealistisch

wie die Husserlsche Lösung der Frage des aus seinem Idealismus sich

ergebenden Problems da Solipsismus durch "das Phänomen des

Fremdbewußtseins", was wir schon zu Eingang dieses Kapitels behandelt

haben.

317

im Grunde eine Täuschung in dem Sinne, daß er nicht erfüllt ist, und

wir also doch in einer Welt leben, wo wir wie durch ein "Wunderglas"

getäuscht werden, ähnlich dem, das E. T. A. Hoffmann in dem

Sandmann beschreibt und das der Zaubermann Copula einem jungen

Manne gibt, der dadurch das, was "an sich" eine Puppe ist, als eine

menschliche Person sieht?

Die Legitimierung des Unabhängigkeitsanspruches der objektiven

Außenwelt

Wir haben gesehen, daß die objektive Realität der eigenen Person und

ihrer Akte in keiner Weise durch die Infragestellung der unabhängigen

objektiven Existenz der Gegenstände der Außenwelt entthront würde,

sondern vielmehr auch in jedem Traum vorausgesetzt wäre. Jetzt

wollen wir uns eine neue Frage stellen: Wie können wir sicher sein, daß

wir nicht ewig träumen von der Welt, daß diese keine Fabel ist, wie das

von Stirner als konsequente Folge jedes Idealismus aufgedeckt und

vertreten wurde?

Abgesehen von dem inneren Grauen, von dem absoluten Widerspruch

zu dem majestätischen Anspruch der Außenwelt, zu sein, unabhängig

davon, ob ich von ihr weiß oder nicht, ist es, wie schon im I. Teil

gezeigt wurde, absolut einsichtig, daß ich in keiner Weise bewußt diese

Außenwelt schaffe, in der ich täglich Neues lerne. Es ist absolut gewiß,

daß ich nicht das größte Genie bin und alle Werke und Dinge schaffe,

die ich sehe. Es ist aber auch absolut gewiß, daß nicht ein "an-sich-Teil"

meiner selbst dieser Schöpfer sein kann, da das Unbewußte als ein

absolut Unbewußtes niemals etwas schaffen, vor allem sinnvoll

schaffen kann, was auch eine Wesenseinsicht ist. (Ein so erbärmlicher

Gott, der nicht einmal weiß, was er selbst alles ständig schafft, ist ein

Unding.)

Außerdem aber ist das Traumerlebnis durch eine besondere Unordnung

gekennzeichnet und durch die assoziative Abfolge der Dinge bedingt,

die häufig sogar wesenseinsichtigen Gesetzen widersprechen, etwa

dem Gesetz der Kontinuität der Bewegung, der Unteilbarkeit von

Personen usw. — außerdem aber ist die "Traumwelt" auch nicht wie

318

die Tageswelt durch die verschiedensten Sinneswahrnehmungen und

Sinnzusammenhänge gegenseitig gestützt.356

Also bleibt für den Leugner der Außenwelt "an sich" ganz offenbar nur

die Möglichkeit, daß ein böser Geist mir die Außenwelt vorgaukelt —

böse, weil er eine der grauenhaftesten Täuschungen in mir hervorrufen

würde, da geradezu aller Sinn meines Lebens ausgelöscht und

unterhöhlt würde, wenn der Ernst, in dem ich andere Menschen z. B.

als reale Personen liebe, untergraben würde. Ein böser allmächtiger

Geist, wie Descartes erkannt hat, wäre dann der einzige Urheber, der

— ohne die objektive Realität der Außenwelt — mir in seiner Allmacht

einen in allem überzeugenden, täuschenden Schein der Welt

vorgaukeln könnte, ohne daß diese wirklich wäre.

Dies ist eine abstruse Konstruktion nicht bloß deshalb, weil es

"unrealistisch" ist, sondern aus dem tiefsten Grund, den Descartes

anführt, der Wahrhaftigkeit Gottes, das heißt, dem Wesenswiderspruch

zum Absoluten, den dies einschließen würde.357 Wir müssen uns

klarmachen, daß — ohne die Bosheit eines solchen Geistes zu

verstehen — im Grunde die östlichen Religionen alle einen solchen

täuschenden Betrug der Wirklichkeit annehmen, daß Hegel dies auch

im Grunde annimmt, daß auch Kants Lehre irgendwie darauf

hinausläuft, daß dies eindeutig Schopenhauers Auffassung ist und daß

etwa Nietzsche den Urgrund da Kosmos als einen "Willen zur Macht"

auffaßt, der sowohl Gut als Böse, der alle Betrügerei einschließt.358

Doch wir brauchen uns nur der tragischen Situation dieses Lebens

bewußt zu sein, wir brauchen nur an unseren Tod zu denken und vor

allem an den geliebter Waen. Ich sage, wenn dieser das letzte Wort

wäre, dann wäre der Schöpfer der Welt ein böser Betrüger, und das

nehmen schließlich alle Atheisten und alle Menschen an, die nicht von

der Unsterblichkeit überzeugt sind.

356 Eine Analyse der objektiven Existenz der Außenwelt findet sich auch in

What is philosophy? von D. von Hildebrand; ich stütze mich vorwiegend

auf die noch erweiterte Analyse dieser Frage in seinen

erkenntnistheoretischen Gastvorlesungen (Salzburg 1964). 357 Eine nähere "Begründung" dieser kartesischen Einsicht könnte erst in

einer Arbeit über philosophische Gotteserkenntnis geleistet werden. 358 Diese Auffassung kennzeichnet Nietzsches Philosophie von der Geburt

der Tragödie an bis zum letzten Aphorismus am dem Willen zur Macht.

319

Warum nun, so frage ich, sollte nicht ein solcher böser Geist auch

imstande sein, den Menschen mit einem Gaukelspiel zum Narren zu

halten — außer dies widerspricht dem Wesen des Absoluten?

Descartes' Alternative ist zutiefst richtig. In der Gutheit Gottes ist das

letzte Fundament nicht nur all unserer Hoffnung und unseren

Vertrauens, sondern auch alles unseres dauernden, auf Erinnerung

aufgebauten Wissens und unseres Vertrauens auf die objektive Realität

der Außenwelt und anderer Personen.359

In diesem Punkt ist Descartes noch über das Augustinische "si fallor,

sum"-Argument hinausgegangen und hat hier die tiefste Wirklichkeit

als letzten Grund der gewissen Erkenntnis entdeckt.

Trotz des bisher Gesagten und von Descartes Zugestandenen über die

absolut gewisse Einsicht in wesensnotwendige Wahrheiten und der

zweifellos gewissen Existenz der substantiellen, metaphysischen

Wirklichkeit der eigenen Person ist es ganz wahr, daß eine letzte und

absolute Gewißheit, die dauert und die auch das Vertrauen auf die

Erinnerung an einmal Erkanntes wesentlich mit einschließt, vor allem

aber, daß die absolute Gewißheit bezüglich der objektiven Wirklichkeit

der Außenwelt nur an dem letzten und höchsten Punkt zu erreichen ist:

in der Güte des absoluten Wesens. Denn wenn Wille zur Täuschung in

jenem Geiste sein könnte, ohne den weder ich noch irgend etwas sonst

sein könnte, dann wäre das letzte Fundament der Wirklichkeit zerstört

und damit das Vertrauen auf alles, was ich nicht im Augenblick mit

letzter Evidenz einsehe, unberechtigt. Doch ist uns wohl schon vor der

ausdrücklichen philosophischen Gotteserkenntnis, der höchsten Form

der Transzendenz des Menschen in der natürlichen Erkenntnis, die

Unmöglichkeit eines "Betrüger-Geistes" als Hintergrund des Seins und

unseres Lebens in geheimnisvoller Weise im Wesen der Wirklichkeit

selbst ahnungshaft gegeben. Wir kennen aus der Ordnung der Natur

und unserer Wesenserkenntnis immer etwas vom Wesen Gottes, was

uns verhindert, an der objektiven Außenwelt zu zweifeln, auch dann,

359 Dabei müssen wir ganz klar anerkennen, worauf Descartes wiederholt

hingewiesen hat, daß er nicht von der unmittelbaren Einsicht in einen

Wesenszusammenhang (in der 5. Meditation nennt er hier ausdrücklich

auch das Wesen des Dreiecks) oder in das "Cogito, sum" spricht, sondern

von dem Vertrauen auf die Erinnerung unserer Einsicht und auf die

Erkenntnis der nicht wesensnotwendigen, objektiven Existenz der

Außenwelt.

320

wenn wir nicht ausdrücklich an Gott glauben oder seine Existenz

erkannt haben.

Im Wesen der Werte, im Wesen der Ordnung von Gut und Böse, im

Wesen der Schönheit von Natur und Kunst gibt es etwas wie einen

Widerschein von jener letzten Ordnung und Güte und "veracitas Dei",

die den letzten Grund des Seins bildet und von der ich auf Grund diese

"Abglanzes" schon überzeugt bin, bevor ich ausdrücklich in der

Erkenntnis dazu aufsteige. Eine gewisse Kenntnis des Wesens der

Wirklichkeit verbietet mir anzunehmen, ein Dämon habe die Welt

geschaffen oder ein "allmächtiger Betrüger" gaukle sie mir vor. Eine

vom Teufel erfundene Welt "sähe anders aus", obwohl die Macht des

Bösen in der Wirklichkeit so gewaltig ist. Doch die Unschuld eines

Kindes, die herzbewegende Güte, die manchen Menschen eigen ist, die

"Frohe Botschaft der Werte''360 verkündet als eine in all diesen Werten

vernehmliche "Stimme" den letzten Grund der Wirklichkeit als den

Inbegriff des Guten.

Man könnte gegen diese Einsicht Descartes' einwerfen, wie Nietzsche,

man "moralisiere damit das Sein", man begehe einen kindlichen

Anthropomorphismus und wisse im Grunde nichts vom absoluten Sein.

Und damit kommen wir zu der höchsten Frage der Philosophie und zur

Frage nach dem Gipfel der Transzendenz des Menschen in der

philosophischen Erkenntnis: zur Frage nach der Erkennbarkeit des

Daseins und gewisser Wesenseigenschaften Gottes, ohne welche

Erkenntnis wir trotz aller gewonnenen Einsichten in gewissem Sinne

noch unter Schattenbildern herumtappen. Im Wissen, daß diese höchste

philosophische Erkenntnis von Platon und Aristoteles bis Augustinus

und Anselm, von Thomas v. A. und Descartes bis zu verschiedenen

Denkern der Moderne gewonnen wurde, überlassen wir die eigene

Klärung dieser höchsten Stufe der "Transzendenz des Menschen in der

Erkenntnis" einer späteren Veröffentlichung. Wir mußten uns in dieser

Arbeit damit begnügen, das sichere Fundament aufzuweisen, auf dem

sich alle weiteren Dimensionen der "Transzendenz des Menschen"

erheben.

360 Vgl. D. von Hildebrand, Christliche Ethik, Kap. 13.

321

Wenn es auch nur gelingen sollte, einem einzigen Leser durch meine

Arbeit die Augen dafür zu öffnen, daß der Mensch die an sich seiende

Wirklichkeit und die objektive Wahrheit erkennen kann, so wäre die

Veröffentlichung dieser Arbeit nicht umsonst. Denn, was Sokrates als

Aufgabe des Philosophen bezeichnet, nämlich anderen einen "geistigen

Hebammendienst" zu leisten, ist ein heute besonders nötiges Ziel auch

dieses Buches: Möge es inmitten des geistigen Chaos der Gegenwart

anderen zur "Geburt" der Erkenntnis objektiver Wahrheit verhelfen,

von der aller Sinn unseres Lebens abhängt.

NACHWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE

Nachdem ich diese Arbeit beendet hatte, sind mehrere Schriften

erschienen, die sich auf das von mir behandelte Thema beziehen.

Zumindest auf einige der wichtigsten unter ihnen muß hier noch kurz

hingewiesen werden. Ich möchte auch auf eine Reihe hilfreicher

Bemerkungen eingehen, die mich veranlassen, Grundthemen und

zentrale Termini weiter zu klären, um möglichen Mißverständnissen

vorzubeugen und die Richtung anzudeuten, nach der die

Fortentwicklung der hier dargelegten Thesen erfolgen sollte.

Zunächst gaben mir H. E. Hengstenbergs Werke und seine

Bemerkungen zu meiner Arbeit sowie auch einige mir erst später

zugängliche Texte361 die Anregung, das Verhältnis zwischen Erkenntnis

und Irrtum, das Hauptthema des I. Teils der vorliegenden Schrift, näher

zu klären. So müßte sicherlich noch eingehender das Verhältnis

zwischen dem rein empfangenden "Erkennen im engeren Sinn" und

dem "Erkennen im weiteren Sinn" herausgearbeitet und gezeigt

werden, wie im eigentlichen Erkennen nie ein Irrtum liegen kann. Es

müßte das genaue Verhältnis zwischen spontaner und rezeptiver

Tätigkeit, zwischen Irrtum, Wahrheit und Erkenntnis noch sorgfältiger

untersucht werden, um noch unmißverständlicher zur Evidenz zu

bringen, daß innerhalb der Tätigkeit des Empfangens kein Irrtum

möglich ist und die Irrtumsmöglichkeit erst dort beginnt, wo der

361 Vor allem die bedeutende Schrift von Walter Hoeres, Kritik der tran-

szendentalphilosophischen Erkenntnistheorie, Stuttgart 1969; Alice von

Hildebrands klare und tiefe Analyse, On the Pseudo-Obvious (in:

Verwahrheit, Wert und Sein, hrsg. von B. Schwarz, Regensburg 1970), und

das umfassende Werk Winfried Weiers, Sinn und Teilhabe, Salzburg 1970.

322

unmittelbare Sachkontakt verlassen wird. Doch konnte mich kein

Argument davon überzeugen, daß die im I. Teil der Arbeit vorgetragene

These falsch oder auch bloß unwesentlich wäre: daß nämlich nicht bloß

im Begriff, sondern im Wesen von Erkenntnis (im engeren Sinn)

gründet, daß in ihr selbst kein Irrtum liegen kann. Vor allem die im I.

Teil der Arbeit dargelegte Einsicht Platons und Descartes', daß der Akt

des Erkennens und der des Irrens wesensverschieden sind und niemals

auf der Ebene des empfangenden Erkennens, sondern ausschließlich

auf der Ebene spontan-produktiver geistiger Tätigkeit ein Irrtum sich

finden kann, muß wohl gegen Einwände Hengstenbergs noch

abgesichert, darf aber unmöglich aufgegeben werden. Ähnliches gilt

für den Einwand Hoeres', der nicht bloß das Erkennen selbst (das

Erfassen der Wirklichkeit) als ein Empfangen erfaßt, sondern auch das

anschließende Urteilen für eine "empfangende Schau" hält. Dabei wird

wohl der Urteilsakt mit der "Sachverhaltserkenntnis" identifiziert. So

unvergleichlich viel näher ich der Erkenntnislehre Hoeres' stehe als der

transzerdentalphilosophischen, so muß ich doch in der Entdeckung der

Spontaneität des Urteilsaktes eine echte Erkenntnis Kants erblicken,

deren volle Anerkennung und Klärung mir gerade dann wichtig scheint,

wenn man den entdeckenden, empfangenden Grundzug des

Erkenntnisaktes so klar aufweist wie Hoeres. Gerade in dem

unerbittlichen Kampf gegen jede Form des transzendentalen

Idealismus, nach dem das Erkennen selbst ein Erzeugen des

Gegenstandes ist, muß man das empfangende Erfassen des Seins von

dem der Behauptung eigenen geistig-spontanen "Hinstellen" des

Sachverhalts durch das Medium eines "Urteils" unterscheiden. Doch

verdanke ich sowohl Hoeres als auch Hengstenberg zahlreiche wichtige

Anregungen zu einem vertieften Verständnis des Verhältnisses

zwischen Erkenntnis, Irrtum, Sein und Wahrheit, auf die ich in späteren

Veröffentlichungen eingehen möchte. Insbesondere der I. Teil meiner

Arbeit ist ja der Natur des Erkenntnisaktes gewidmet. Es ist der

Versuch, die "Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis"

herauszuarbeiten, d. h. die einzigartige Form des

Sich-selbst-Überschreitens, die im Erkennen liegt. Dabei ist es vor

allem der empfangende Grundgestus des Erkennens, sein

"zentripetaler" Charakter, dem mein Interesse gilt. Erkennen ist

niemals ein geistiges "Hervorbringen" und niemals ein "immanenter"

psychologischer Zustand, sondern ein Empfangen, Erschauen, Erfassen

von einem Sein, das unserem Erkenntnisakt transzendent ist, jenseits

323

seiner liegt. Dies hat W. Hoeres (a. a. O.) bewundernswert klar

herausgearbeitet.

Dabei ist es ein marxistisches und auf die Transzendentalphilosophie

zurückgehendes grobes Vorurteil, als sei ein solches Empfangen bloße

Passivität, als bestünde nicht eine ungeheuer staunenswerte Tätigkeit

des Empfangens und eine unvergleichliche Größe des Menschen darin,

aktiv empfangen zu können, ein Sein zu erfassen, geistig zu haben, wie

Augustinus es oft ausdrückte, das er nicht selber ist.362

Hier berühre ich nun eine wichtige Richtung der Ergänzung meiner

Arbeit durch eine ausführlichere Klärung des Wesens der Wahrheit, als

sie mir in diesem Buch möglich war. Vor allem der Terminus

"unvollständige Wahrheit" und "Wahrheiten", der öfters von mir

gebraucht wird, bedürfte einer Klärung. In beiden Fällen ist der

Ausdruck "eine Wahrheit" gleichbedeutend mit einem "wahren Urteil"

über einen bestimmten Sachverhalt. Allerdings kommt dabei die

Tatsache zum Ausdruck, daß "die Wahrheit" über einen bestimmten

Tatbestand ganz unabhängig davon ist, ob sie von Menschen in einem

wahren Urteil tatsächlich ausgesprochen wird oder nicht. Wenn wir ein

"wahres Urteil" fällen, so entsteht nicht durch dieses Aussprechen erst

"die betreffende Wahrheit", sondern sie besteht schon zuvor und "reicht

so weit wie das Sein" selbst. Mit "Wahrheiten" ist also das gemeint,

was den verschiedenen wahren Urteilen entspricht, schon bevor diese

formuliert werden und was dann in ihnen ihre Wahrheit ausmacht.

Selbstverständlich ist damit nicht gemeint, daß das Wesen der

Wahrheit, die "Übereinstimmung" eines Urteils mit dem in ihm

behaupteten Sachverhalt, jeweils ein verschiedenes wäre. Wenn man

unter "Wahrheit" das Wesen der Wahrheit meint, gibt es natürlich nur

eine Wahrheit. Leider kann eine in diesem Zusammenhang überaus

wichtige nähere Analyse der Wahrheit in diesem Rahmen unmöglich

geboten werden; ich kann nur auf die unübertrefflichen Analysen des

Urteils und seines Wahrheitsanspruchs sowie des Wesens der Wahrheit

hinweisen, die A. Pfänder in seiner Logik geleistet hat.363 Sie können in

vollkommenster Weise die hier nötige Ergänzung bieten.

362 Dies haben Hoeres a. a. O. und John Crosby in Zur Kritik der

marxistischen Anthropologie (Dissertation, Salzburg 1970) hervorragend

nachgewiesen. 363 Vgl. dazu Alexander Pfänder, Logik, Tübingen 1963, S. 384: "Falschheit

des Urteils liegt schon dann vor, wenn das Selbstverhalten des

324

Der Ausdruck "unvollständige Wahrheit" muß ferner so verstanden

werden, daß ein vollständig wahres Urteil den Gegenstand, auf den es

sich bezieht, nicht erschöpft und daher durch andere vollständig "wahre

Urteile" ("Wahrheiten") vervollständigt werden muß. Nicht aber ist

damit irgendwie gemeint, daß ein univokes Urteil "halbwahr" bzw.

mehr oder minder wahr, also "unvollständig wahr" sein könnte, was

allerdings, wie Hengstenberg mit vollem Recht hervorhebt, in einem

Widerspruch zu der Natur der Wahrheit sowie zu meinem Versuch, den

Relativismus und die Skepsis zu überwinden, stehen müßte. Zweifellos

würden die von mir in diesem Zusammenhang gebrauchten Ausdrücke

oft erst durch eine eingehendere Analyse ihren präzisen Sinn erhalten.

Doch scheint es mir für den Leser möglich, bei Ausdrücken, die ein

verschiedenes Verständnis zulassen, den von mir gemeinten Sinn aus

dem Zusammenhang zu erkennen.

Am meisten muß vielleicht einem falschen Verständnis des öfters

gebrauchten Ausdrucks "einige Wahrheiten" vorgebeugt werden.

Sicherlich ist mit dem auch hier verwendeten Plural nicht gemeint, es

gäbe "mehrere Wahrheiten", die einander widersprächen und

irgendeinen Gegensatz zum Wesen der Wahrheit oder zur einen,

allumfassenden Wahrheit bilden würden. Augustinus, der den

Ausdruck "veritates aeternae" geprägt hat, war einer solchen Meinung

so fern, daß dieser Punkt keiner näheren Erläuterung bedarf. Offenbar

können niemals zwei einander kontradiktorisch entgegengesetzte

Urteile, von denen das eine auf das Bestehen eines Sachverhaltes

abzielt und das andere die Existenz desselben Sachverhaltes leugnet,

zugleich wahr sein.

Wenn daher von ewigen Wahrheiten im Plural die Rede ist, so sind

damit zunächst besondere wahre Urteile gemeint, die zusammen einen

"Teil" der einen Wahrheit (als dem Inbegriff wahrer Urteile) bilden.

Gegenstandes auch "nur in irgendeinem Punkte dem Behauptungsgehalt

des Urteils widerstreitet". "Jedes Urteil ist entweder wahr oder falsch" (a.

a. O., S. 387). So ist etwa das Urteil: "Alle Menschen sind Frauen" nicht

"unvollständig" oder "halb wahr", sondern einfachhin falsch, wenn auch

ein Teil der Menschheit aus Frauen besteht. Das erwähnte Urteil zielt aber

nicht auf diesen wirklichen Sachverhalt, sondern auf einen anderen ab,

nämlich auf die Weiblichkeit jedes einzelnen Menschen. Und dieser

Sachverhalt besteht nicht; daher ist das ihn meinende Urteil einfach falsch,

nicht "unvollständig wahr".

325

Diese besondere Art von wahren Urteilen hebt sich von den übrigen

durch die Eigenart der ihnen entsprechenden Sachverhalte ab. Jedes

Urteil (immer als mit einem Urteilssatze verknüpfte "Bedeutung"

verstanden) zielt ja auf das Bestehen eines Sachverhaltes ab und ist

dann wahr, wenn der Sachverhalt wirklich in der Weise besteht, wie

das Urteil ihn "meint". Die "ewige Wahrheiten" genannten Urteile

zielen nun auf eine ganz besondere Art von Sachverhalten ab, deren

Eigenart der Terminus "ewig" angibt. Gegen diesen Ausdruck könnte

ja zunächst geltend gemacht werden, daß jedes wahre Urteil, daß "jede

Wahrheit" "ewig" bzw. zeitlos ist. Auch die Wahrheit eines Urteils, das

sich auf den gewöhnlichsten Sachverhalt bezieht, wie etwa auf die

Einwohnerzahl einer bestimmten Stadt zu einer bestimmten Zeit, kann

sich niemals ändern. Dieses Urteil, wenn es wirklich wahr ist, kann

niemals "unwahr" werden. Dennoch enthalten solche "Wahrheiten"

insoferne einen Bezug zur Zeit, als die Sachverhalte, auf die sie sich

beziehen, zeitlich wandelbar sind. So verändert sich die Einwohnerzahl

einer Stadt ständig und daher ist — der veränderlichen Natur solcher

Sachverhalte entsprechend — in derartigen "Wahrheiten" ein Bezug

zur Zeit enthalten. Es wird das Bestehen oder Bestandenhaben dieses

oder jenes Sachverhalts zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt behaupte.

Würde man diese Bezugnahme solcher Urteile auf den bestimmten

historischen Augenblick, zu dem der in ihnen behauptete Sachverhalt

bestand, weglassen, so würde ein gleichlautender Urteilssatz im

Grunde verschiedene Urteile zum Ausdruck bringen, von denen sehr

wohl eines wahr, ein anderes falsch sein könnte. So wäre ein Satz, wie:

"Heuer starb Sokrates" wahr, wenn er auf das Jahr 399 v. Chr. bezogen

und in diesem Jahr ausgesprochen worden wäre, hingegen falsch, wenn

man das darin gemeinte Ereignis mit denselben Worten auf einen

anderen Zeitpunkt (etwa das Jahr 1970 n. Chr.) verlegen wollte.

Und genau diese Art des Bezugs zur Zeit fälle bei den "ewigen

Wahrheiten" weg, da die in ihnen ausgesägten Sachverhalte nicht

zeitlich wandelbar sind, sondern zeitlos, notwendig, unwandelbar und

höchst intelligibel. Jedes universale apodiktische Urteil — somit

nahezu jedes philosophische Urteil — weist, wie wir gezeigt haben,

wesenhaft auf das Bestehen solcher notwendiger, zeitloser

Wesenszusammenhänge hin. Die Philosophie steht und fällt daher mit

der Möglichkeit, solche Wesensgesetze zu entdecken und voll bewußt

zu erkennen. Dem Nachweis, daß es solche zeitlosen, intelligiblen und

unwandelbaren Wesenssachverhalte, Wesensgesetze etc. gibt, ist

326

insbesondere der II. Teil der vorliegenden Arbeit gewidmet. Dort wird

auch behandelt, wie diese zeitlosen Wesenszusammenhänge (die man

selber "veritates aeternae" nennen kann, wenn damit auch primär die

auf sie bezüglichen wahren Urteile gemeint sind), die in "notwendigen

Wesenheiten" (dem, was Platon primär mit den "Ideen" im Auge hatte)

gründen, von größter Bedeutung für die gesamte Wirklichkeit sind, wie

ohne sie keine Erkenntnis und überhaupt kein Sein bestehen könnte. So

wichtig hier auch eine Weitere Klärung ist, so kann ich mich

diesbezüglich mit dem Hinweis auf die Analyse der Wahrheit in

Pfänders Logik und in den später zitierten Quellen begnügen.

Notgedrungen konnte in diesem Buch nicht mehr alles ausführlich

untersucht werden, was schon in den Büchern, auf die ich mich in

meiner Forschung stützte, erarbeitet wurde.

Ähnliches gilt für den an zentraler Stelle dieser Arbeit eingeführten

Ausdruck "notwendige Wesenheit". Es ist damit etwas Prinzipiell von

dem Verschiedenes gemeint, was etwa Hengstenberg als "Wesenheit"

bezeichnet und von dem er sagt, es sei ausschließlich in Gott

"notwendig". Er meint dabei das konkret-individuelle Sosein eines

Seienden und dieses ist natürlich bei keinem Kontingenten Seienden

notwendig. Das betreffende Seiende und damit sein konkretes Sosein

könnten ja auch nicht existieren. Es ist also mit "notwendiger

Wesenheit" hier ein allgemeines, notwendiges Genus gemeint, das, wie

wir im II. Teil nachweisen, ein bestimmtes "ideales Sein" besitzt, das

ja auch Hengstenberg voll anerkennt. Ja, in: Thesen zur

Seinskonstitution (in: Franzisk. Studien, Jg 49, H. 1—2) hat er auf die

verhängnisvollen Folgen hingewiesen, die jede Auffassung hat, die das

"allgemeine, ideale Sein" als konstitutiven Bestandteil des einzelnen

Seienden auffaßt. Allerdings macht Hengstenberg den m. E. überaus

wichtigen, ja entscheidenden Unterschied nicht, den wir in D. v.

Hildebrands erkenntnistheoretischen Werken finden: Das Sosein der

verschiedenen Seienden hat eine zutiefst verschiedene Stufe innerer

Sinneinheit und Sinnfülle. Während etwa eine zufällige

Aneinanderreihung von Tönen keine Melodie ergibt und von keinerlei

innerem "Sinnprinzip" her geeint ist, während die "Einheit" dieser

Tonfolge nur diejenige ihres faktischen Vorkommens ist, rein von

außen und lose geeint, treffen wir z. B. schon in einer sinnvollen

Melodie oder in anderer Weise in den verschiedenen einzelnen

Pflanzenoder Tierarten auf ein inneres Sinnprinzip, das es erlaubt,

einen Unterschied zwischen Allgemeinem und Individuellem zu

327

machen; hier finden wir ein sinnvolles, bis zu einem gewissen Grad

intuitiv erfaßbares, jedenfalls sinnvollerweise durch Beobachtung und

Induktion empirisch erforschbares allgemeines "Eines". Dennoch sind

diese Gebilde solcherart, daß ein empirisches Kennenlernen und

Studium der Fakten unerläßlich ist. Dieses sinnvolle "morphische"

Sosein besitzt nicht den Charakter voller Intelligibilität. Es läßt sich

hier das "Allgemeine" nicht an einem einzigen Fall schon feststellen,

sondern erfordert wiederholtes Kennenlernen. Vor allem aber hängen

die einzelnen Momente innerhalb dieses Soseins nicht dergestalt

notwendig zusammen, daß irgendeine Einsicht möglich wäre, die uns

das Urteil erlaubte, daß dieses und jenes Element notwendig mit diesem

und jenem anderen verknüpft wäre. Eine philosophische, apriorische

Erkenntnis über die Unterschiede zwischen Katzen und Hunden kann

es eben nicht geben, sondern zum wissenschaftlich soliden Feststellen

dieses Unterschiedes sind ausgedehnte empirische Forschungen,

Beobachtungen und Induktion erfordert.

In der Philosophie hingegen finden wir als deren Hauptgegenstände

Typen von Sosein, die eine wesenhaft höhere Stufe der "Einheit",

nämlich innere Notwendigkeit und Intelligibilität besitzen. Hier finden

wir nicht nur ein inneres Sinnprinzip, sondern ein nicht mehr

kontingent-veränderliches, ein notwendig-unerfindbares Sosein, wie

Person, Erkenntnis, Freiheit, Gerechtigkeit etc., das uns erlaubt: 1. an

einem einzigen realen, ja bloß vorgestellten Fall das allgemeine Sosein

kennenzulernen, 2. die notwendige Verbindung, etwa zwischen

Gerechtigkeit und Freiheit, Verantwortlichkeit, Person einzusehen,

derart, daß ich z. B. erkennen kann, daß wesenhaft nie das Sosein von

Gerechtigkeit oder irgendeinem sittlichen Wert sich konstituieren

könnte in einem außerpersonalen, unfreien Seienden. 3. eine Einsicht,

ein Verstehen der intelligiblen, lichtvoll von innen her einander

fordernden Elemente dieser "Soseinseinheiten"; dies ist im Falle der

einzelnen Tierarten unmöglich. 4. Absolute Gewißheit über die

allgemeine, ausnahmslose Gültigkeit der in solchen "notwendigen

Wesenheiten" gründenden Gesetze für jedes individuelle Seiende, das

ein solchen Wesenheiten "entsprechendes" Sosein besitzt, also: Wo

immer — in jeder möglichen Welt — die Qualität der Gerechtigkeit

vorkommt, muß sie in einer freien, verantwortlichen Person realisiert

werden.

Die notwendige innere "Geeintheit" dieser "idealen notwendigen

Wesenheiten" ist auch der Grund dafür, daß die "konditionale

328

Notwendigkeit" besteht, von der Hengstenberg spricht. Nur hier also

gilt, was Hengstenberg treffend als "konditionale Notwendigkeit"

bezeichnet. (Wenn Gerechtigkeit existiert, muß Freiheit sein.) Denn z.

B. im Falle einer Tierart, wie einer Kuh oder einem Schaf, sind

philosophische, absolut gewisse Erkenntnisse in allgemeine "Gesetze"

über jedes individuelle Schaf, bzw. jede Kuh, unmöglich. Die

verschiedenen Tierarten, so sinnvoll sie sind, könnten auch andere

Merkmale aufweisen, es könnte alle möglichen Verbindungen jener

verschiedensten Elemente geben, die sinnvoll, aber nicht notwendig in

den einzelnen Tierarten vereinigt sind. Daher ist eben hier nicht eine

philosophisch-apriorische, sondern eine empirisch-induktive

Forschung angebracht.

Es hängt nämlich nicht bloß an der Methode (etwa der Husserlschen

epoché), wann apriorisch-philosophische Erkenntnis möglich ist,

sondern ebensosehr an der Eigenart des Gegenstandes und der Stufe

innerer Sinneinheit. Und gerade darin sehe ich eine der überragendsten

Entdeckungen D. v. Hildebrands, die im Laufe dieses Buches teils

erläutert, teils vorausgesetzt wird. Daher kann man — so verstanden —

unmöglich auf den Terminus der "notwendigen Wesenheiten"

verzichten, der ganz bewußt gebrauche ist.

Damit berühren wir auch schon den Terminus "absolute Gewißheit",

der ebenso bewußt verwendet wird. Allerdings muß er recht verstanden

werden. Er bezieht sich auf eine Erkenntnis, in der ich das von meinem

Geist verschiedene Seiende mit einer von keinem Zweifel

erschütterbaren Gewißheit erfasse, und zwar nicht bloß mit einem

subjektiven Gefühl der Sicherheit, sondern mit einer objekeiven, von

der Sache selbst meinem Geist gespendeten Gewißheit, in der nicht

bloß objektiv keine Täuschung und kein Irrtum mehr möglich sind,

sondern ich auch weiß, daß solches ausgeschlossen ist. Der Terminus

"absolut" beziehe sich dabei zunächst auf diesen archimedischen

Punkt, an dem jede Zweifelsmöglichkeit und Berechtigung eines

Zweifels ausscheidet. Zweitens aber bedeutet er — wenn es sich um

allgemeine Zusammenhänge handelt — den Gegensatz zu dem

"graduellen Wachsen" der Wahrscheinlichkeit, wie wir es bei aller

empirisch-induktiven Erkenntnis der "Naturgesetze" finden. Es ist

nicht von dem Wahrscheinlichen je ein graduelles Wachsen bis zu

dieser Gewißheit möglich, sondern die Absolute Gewißheit ist eine

wesensmäßig von jeder, auch der höchsten "Wahrscheinlichkeit"

verschiedene Gegebenheit. Es ist meine feste Überzeugung, die

329

insbesondere anhand der augustinischen Zweifelsanalysen in dieser

Arbeit erhärtet wird, daß eine solche philosophische Gewißheit

möglich ist und daß nur in ihr die Philosophie und jedes menschliche

Wissen, ja, auch jedes Glauben ein "fundamenrum inconcussum"

findet, ohne das diese "in der Luft" hängen, ja, unmöglich sein würden.

Absolute Gewißheit bedeutet daher den Gegensatz zu jeder

"irrationalen Annahme", anfänglichen "Hypothese", zu jeder Art eines

deshalb rational nicht mehr beweisbaren Wissens, weil es ungewisser

als das Bewiesene wäre; es handelt sich hier vielmehr um das

rationalste Wissen, das die Grundlage jedes Beweises ist, das die

Grundlage der durch irgendwelche Beweise erreichbaren Sicherheit ist,

um ein Wissen, das nur deshalb keines Beweises, keiner weiteren

Begründung fähig ist, weil es einer solchen nicht bedürftig ist.

In der 1970 erschienenen Festschrift für D. v. Hildebrand (Wahrheit,

Wert und Sein, Regensburg: 1970; hrsg. von B. Schwarz) wurde dies in

den Beiträgen von Balduin Schwarz (D. v. Hildebrands Lehre von der

Soseinserfahrung) in den philosophiegeschichtlichen

Zusammenhängen und der Beziehung zur Erfahrung und von Fritz

Wenisch (Gewißheitskriterium und Einsicht) gegen den Positivismus

und dessen Einwände herausgearbeitet. Dietrich von Hildebrands

Analysen dieses Phänomens werden in meiner Arbeit zitiere und sind

zur Ergänzung in dieser Frage heranzuziehen. Schließlich wäre es

äußerst wünschenswert, in diesem Zusammenhang die Beiträge anderer

Autoren zu berücksichtigen, die über das Problem der Gewißheit

gearbeitet haben, wie A. Schöpf oder F. Wiedmann.

Doch muß der Ausdruck "absolute Gewißheit" gegen ein anderes

mögliches Mißverständnis abgesichert werden. Es ist damit keineswegs

irgendeine mystische, außergewöhnliche Erfahrung gemeint oder gar

ein bloß subjektives inneres Gefühl der Gewißheit, sondern eine von

der Natur des Gegenstandes her "determinierte", ganz von seiner

letzten Ineelligibilität und Zugänglichkeit für unseren Geist

"getragene" Gewißheit. Selbstverständlich ist diese, wie Descartes so

tief sah, auf die Augenblicke dieses letzten "bewußten Durchdringens"

beschränkt und ausschließlich dann gegeben, wenn der menschliche

Geist sich ganz rein auf die "Sachen selbst" richtet, diese sprechen läßt

und in seinen Behauptungen nicht über das Eingesehene hinausgeht. Es

ist mit dieser "absoluten Gewißheit" nicht gemeint, daß in bezug auf

die "zeitlosen Wesensgesetze", die "veritates aeternae", keinerlei

Irrtum möglich sei: eine Behauptung, die schlagend durch die

330

Wirklichkeit widerlege wird. Doch sind, wie wir zeigten, diese Irrtümer

nur möglich, wenn vom Menschen irgendeine der Bedingungen nicht

erfüllt wird, die ihn bis zur absoluten Gewißheit führen, wenn er daher

zu dieser von dem Sachkontakt gespeisten letzten Gewißheit gar nicht

kommt.

Keineswegs meint der Ausdruck "absolute Gewißheit" irgendein

vollkommenes göttliches Wissen. Weder besitzen wir eine

unwandelbar dauernde Erkenntnis und Gewißheit über die

Wirklichkeit, noch können wir irgendein Seiendes durch und durch

vollkommen durchdringen und in vollkommen umfassender Weise

erkennen. In dieser Richtung des ewig-wandellosen Besitzes der

Erkenntnis einerseits und des vollständigen Durchdringens

andererseits läge ein ganz neuer Sinn des Ausdrucks "absolut", den wir

daher in dieser Bedeutung in keiner Weise auf die menschliche

Gewißheit anwenden wollen. Wir betonen ja ausführlich, daß jede

menschliche Erkenntnis unvollständig ist und auch, daß wir immer und

immer wieder zu den Quellen der "absoluten Gewißheit" hindringen

müssen. Und hier liegt selbstverständlich eine nicht-absolute

Begrenztheit unserer Gewißheit, sowohl was den Gegenstand, auf den

sie sich erstreckt (Umfang und Tiefe der Erkenntnis und Gewißheit),

als auch was die Vollkommenheit des "Besitzes" dieser Gewißheit

anlangt (ewige Dauer). Hier möchte ich jedoch auf einen wichtigen

Punkt der Ergänzung dieser Arbeit hinweisen, den ich bald in einer

weiteren Veröffentlichung vorzulegen hoffe: Die augustinischen und

cartesischen Analysen des Zweifels und die gewaltige im "sf fallor,

sum" enthaltene Einsicht in "ewige Wahrheiten" einerseits und in die

objektive, metaphysische Existenz einer Person andererseits bilden den

Kernpunkt dieser Arbeit. Der hier gelegene einzigartige

"archimedische Punkt", den Augustinus entdeckte, begrifft die

Doppeltheit der Realerkenntnis und der Wesenserkenntnis, die im

"Cogito" in inniger gegenseitiger Durchdringung vorliegen, wie wir im

II. Teil der Arbeit ausführten.

Doch gibt es in bezug auf die notwendigen Wesensgesetze, die "ewigen

Wahrheiten" einen anderen Punkt, der — allerdings ohne zugleich

Gewißheit über die Existenz einer Person zu geben — vielleicht noch

zentraler, fundamentaler und einleuchtender ist und den Aristoteles in

seiner Auseinandersetzung mit der Skepsis schärftstens

herausgearbeitet hat: die "obersten logischen Grundgesetze" und

insbesondere das Widerspruchsprinzip, das notwendig mit allen darin

331

gründenden Zusammenhängen von jedem Zweifel und — vor allem —

jeder Wahrheitsleugnung vorausgesetzt ist. Da die im

"Widerspruchsprinzip" gelegenen und in ihm gründenden "ewigen

Wahrheiten" noch grundlegender und formaler sind als die im Wesen

des Zweifels eingeschlossenen, so liegt hier eine wichtige Ergänzung

zum II. Teil dieser Arbeit, die ich in einem Aufsatz behandeln werde.

Die Überzeugungskraft und letzte Einsichtigkeit dieser von Aristoteles

und Pfänder herausgearbeiteten Wahrheiten wird das Kernthema

unserer Arbeit noch weiter klären.

Durch eine solche Weiterführung könnte auch noch leichter gesehen

werden, daß die von uns hervorgehobene absolut gewisse Einsicht in

notwendige, ausnahmslos allgemeingültige "Wesensgesetze", die wir

anhand der augustinischen Zweifelsanalysen darlegten, in keiner Weise

mit einer "Introspektion" verwechselt werden darf. Es handelt sich

dabei um unserem Bewußtsein "transzendente"

Wesenszusammenhänge, die wir mit ebensolcher absoluter Gewißheit

einsehen können, wenn sie sich gar nicht (oder nicht primär) auf unser

personales Sein beziehen. So ist die Einsicht in die

"an-sich-bestehende" ausnahmslose Gültigkeit der ontologischen und

logischen "obersten Grundgesetze" von derselben jeden Irrtum

ausschließenden und jeden Zweifel überwindenden absoluten

Gewißheit, wie die Einsicht in die Tatsache, daß ein Zweifelsakt

niemals vorkommen könnte ohne ein ihn vollziehendes, voll wirkliches

Subjekt.

Damit antworte ich schon teilweise auf einen weiteren Haupteinwand,

den Hoeres und in etwas anderer Weise Hengstenberg gegen meine

Auffassung vorbringen, daß ich nämlich der "Introspektion" einen

höheren Grad der Gewißheit als der "Außenweltserkennenis"

einräume, ja, die absolute Gewißheit zu sehr auf die Introspektion

einschränke. Dies gilt jedenfalls insoferne in keiner Weise, als ich die

Einsicht in wesensnotwendige, allgemeingültige Zusammenhänge als

eine Hauptquelle absolut gewisser Erkenntnis herausarbeite und diese

keinerlei "innere Wahrnehmung" ist, sondern sich vielmehr auf eine

von meinem individuellen Bewußtsein gänzlich verschiedene,

notwendige und ineelligible Sphäre "idealer Gesetzlichkeiten" bezieht.

Allerdings bezieht sich besagter Einwand primär auf die Erkenntnis der

wirklichen Welt. Und hier scheine ich wirklich die absolute Gewißheit

auf die unentthronbare, von jedem eigenen Zweifel vorausgesetzte

Existenz meiner eigenen Person einzuschränken.

332

Tatsächlich scheint mir etwa der Versuch von Hoeres unzulässig, keine

prinzipielle Priorität der Erkenntnis der eigenen Person vor der

Erkenntnis der Außenwelt zuzugeben, ja, ein solches Zugeständnis

schon für den ersten Schritt zum Idealismus anzusehen. Erstens handelt

es sich hier schon deshalb in keiner Weise um einen "Idealismus", weil

die Transzendenz menschlichen Erkennens sich ja ebenso in der

Erkenntnis der eigenen Person findet, ja, die Tatsache, daß nur "ich" es

bin, dessen Existenz sich mir in ihrer Wirklichkeit in einzigartiger,

unausweichlicher Weise aufdrängt und erschließt, gibt dieser

Erkenntnis keinerlei "subjektivistische Note". Wichtig ist, daß in der

mit absoluter Gewißheit erfaßten eigenen Existenz mir eine wirkliche

Person in ihrer Existenz gegeben ist: Ich bin, also existiert wirklich eine

Person, also ist die objektive, metaphysische Existenz einer Person

erwiesen. Um den objektiven Charakter dieser Erkenntnis zu betonen,

könnte man sagen: cogito, ergo sum, ergo esse est.

Zweitens habe ich betont, wenn auch in dieser Arbeit nicht ausführen

können, daß wir auch über die Existenz Gottes eine absolute Gewißheit

— von verschiedenen Wesenseinsichten und der Realerkenntnis der

eigenen Person aus gewinnen können, damit aber "absolute Gewißheit"

über ein von uns vollkommen verschiedenes, in keinerlei

"Introspektion" erfaßbares, allerrealstes Sein.

Drittens habe ich im I. Teil der Arbeit auch eine unmittelbare absolute

innerhalb der Sinneswahrnehmung betont, insoferne die in dieser

unmittelbar gegebenen Sachverhalte betrachtet werden; so kann ich

etwa eindeutig und sicher erkennen, daß ein Stab mir als gerade oder

gebrochen "erscheint" und mir daher nahelegt, ihn für wirklich gerade

oder gebrochen zu halten. Allerdings schiene es mir entschieden eine

(Überspannung der menschlichen Fähigkeiten zu sein, eine absolut

gewisse Erkenntnis der transzendenten Wirklichkeit des im Einzelfall

Wahrgenommenen zu behaupten, wie mir jeder Fall der

Sinnestäuschung zu beweisen scheint. Überdies ist das sich an jede

Sinneswahrnehmung anschließende "Glaubenselement" (vgl. den I.

Teil der Arbeit) zwar durchaus legitim, macht aber doch die in der

Sinneswahrnehmung liegende Realerkenntnis der objektiven Welt zu

einer "Erkenntnis im weiteren Sinn", die nicht wesenhaft irrtumsfrei ist.

Daher hat die im Vollzugsbewußtsein eingeschlossene unabweisbare

Erkenntnis der metaphysischen Wirklichkeit des eigenen Seins eine

unleugbare Priorität über die Erkenttnis der Außenwelt durch die

Sinneswahrnehmung.. Diese "Priorität" darf weder zeitlich noch so

333

verstanden werden, als erzeuge die eigene Person die "Außenwelt"

durch Anschauungsformen etc., sondern "Priorität" nur in dem Sinne,

daß wir in bezug auf unsere eigene Existenz eine einzigartige,

unabweisbare Gewißheit besitzen. Es ist im einzelnen Fall durchaus

möglich, daß eine Landschaft oder eine andere Person bloß

"halluziniert" ist, während es in keinem einzigen Falle möglich ist, daß

jemand seine eigene Existenz bloß "träumt" oder "halluziniert", weil

für jede Täuschung und jeden Irrtum die objektive Existenz des

Träumenden, die metaphysisch voll seriöse Wirklichkeit des Irrenden

vorausgesetzt ist.

Viertens habe ich keinerlei "prinzipielles Mißtrauen" oder Skepsis

gegenüber der Gültigkeit der Sinneswahrnehmung geäußert, sondern

vielmehr ausgeführt, daß wir in Beziehung auf das Gesamt unserer

Außenweltserfahrung, auf Grund des "Netzwerkes" sich gegenseitig

bestätigender Sinneswahrnehmungen, zu einer Sicherheit über die

darin gegebene Außenwelt und deren "objektive, transzendente

Existenz" gelangen können. Doch besteht diese Gewißheit nicht im

einzelnen Fall und bedarf überdies, um zur "absoluten Gewißheit" zu

werden, wie Descartes in einzigartiger Tiefe und Klarheit sah, der

Erkenntnis, daß mein Schöpfer kein böser Dämon sein kann, was sicher

eine ausführlichere Darlegung verdienen würde, als ich sie bieten

konnte.

Fünftens muß ich den Einwand, ich würde dadurch die

Außenweltserkenntnis und die absolut gewisse "Wesenserkenntnis"

heillos "trennen", entschieden zurückweisen. Denn die Tatsache, daß

wir mit absoluter Gewißheit notwendige, allgemeine Wesensgesetze

erkennen können, die sich auf jedes mögliche Seiende, oder speziell auf

den Raum oder alle räumliche Bewegung etc. beziehen, ist ja eine

besonders wichtige "Bestätigung", ja ein unentbehrlicher "Beweis" für

die objektive Wirklichkeit der durch die Sinne wahrgenommenen Welt.

Denn die Tatsache, daß — im Gegensatz zum Traum — die im

Wachzustande wahrgenommene Welt diesen unmittelbar und

unvermittelt mit absoluter Gewißheit erkennbaren, wesensnotwendigen

Gesetzen so streng "gehorcht", ist ja das wichtigste Element der

wundervollen "Ordnung" der konkreten Außenwelt, jener "Ordnung",

die ein Hauptbeweis für die objektive Wirklichkeit der Außenwelt ist.

Daran anschließend muß sechstens betont werden, daß man mir auf

Grund der Anerkennung einer "idealen Existenz" der notwendigen

Wesenheiten (II. Teil, Kap. 3) keinesfalls zu Recht den Vorwurf

334

machen kann, ich würde die reale Welt von einer "idealen" trennen. Ich

trenne sie nicht, sondern unterscheide sie nur als zwei verschiedene,

aber zutiefst aufeinander bezogene Wirklichkeitsbereiche. In diesen

idealen, notwendigen Wesenheiten gründen ja Gesetze, die in jedem

möglichen Fall der wirklichen Existenz eines Seienden, das einer

solchen "Wesenheit" entspricht, ihre Anwendung finden. Ich weiß also

mit jeder einzelnen Einsicht in einen solchen allgemeinen

Wesenszusammenhang, etwa daß Gerechtigkeit wesenhaft eine freie,

reale Person voraussetzt, um sich zu "konstituieren" (im

Hengstenbergschen metaphysischen Sinne und als Gegensatz zu jeder

bloß "transzendentalen" Konstitution, wie sie der späte Husserl

vertritt), etwas über alle individuell-konkreten gerechten Handlungen

oder Haltungen, daß diese nämlich in jedem einzelnen Falle eine

individuell-reale, freie Person wesenhaft voraussetzen. Die Erkenntnis

notwendiger Wesenheiten und Wesensgesetze ist also ein

hauptsächlicher indirekter "Schlüssel" zur Erkenntnis der wirklichen

Welt, wenn ich auch das individuelle Vorkommen von gerechten

Handlungen nicht durch Einsicht in allgemeine

Wesenszusammenhänge, sondern nur durch Sinneswahrnehmungen

und andere geistige Formen der Wahrnehmung erkennen kann. Doch

diese Verschiedenheit von Wesenseinsicht und Wahrnehmung bedeutet

doch noch lange keine "Trennung" beider, sowenig wie die

Verschiedenheit zweier Personen Gemeinschaft und Vereinigung

ausschließt. Eine ausführlichere Analyse der Sinneswahrnehmung und

weiterer geistiger Formen der Wahrnehmung, wie sie z. B. Hedwig

Conrad-Martius, Hans Jonas und D. von Hildebrand an verschiedenen

Stellen gegeben haben, kann ich leiser nicht durchfahren, nehme aber

diese mir von Hengstenberg und Hoeres gegebene Anregung dankbar

für eine spätere Veröffentlichung an. Zu einer solchen Ergänzung der

Analyse der Wahrnehmung würde auch die wichtige Frage gehören, wo

uns "durch" Wahrnehmung nicht nur der "humane Aspekt der

Außenwelt", sondern die Seienden, wie sie "an sich" sind, gegeben

sind. Hier kann ich nur betonen, daß ich so weit entfernt von einem

Mißtrauen gegen die Sinneswahrnehmung oder gar die höheren

Formen "geistiger Wahrnehmung" bin, daß ich von der Tatsache

überzeugt bin, daß sich uns viele Elemente der "Dinge an sich"— in

dem früher herausgearbeiteten engeren Sinn dieses Ausdrucks — in der

Wahrnehmung erschließen.

335

Es ist ferner wichtig, noch ausdrücklich hervorzuheben, was sich aus

dem Gesagten ja ergibt, daß die Rede von den "ewigen Wahrheiten"

und von "absoluter Gewißheit" nicht den mindesten Glauben an die

Offenbarung voraussetzt. Wir wehren uns entschieden gegen jedes

fideistische Voraussetzen des Glaubens, das in der Philosophie von

verhängnisvollen Folgen ist, sobald man annimmt, es gäbe kein

sicheres Wissen ohne vorausgesetzte Glaubensinhalte. Wir wollen

vielmehr zeigen, wie vor jedem Glauben bzw. unabhängig von jedem

Glauben eine von keinem Zweifel zu erschütternde Erkenntnis

objektiver Wahrheit möglich ist. Dabei meine ich hier nicht, daß es

keine Philosophie der Glaubens oder der Religion geben könnte, die

übrigens den positiven Glauben des "Religionsphilosophen" nicht

voraussetze und bei der es sich um intelligible, philosophisch erfaßbare

Wesensstrukturen des Glaubens oder der Stellungnahmen, die bloß auf

Grund des Glaubens möglich sind, handelt. Es wäre eine von

schwerwiegenden Vorurteilen belastete Haltung, die diese Möglichkeit

bestreiten wollte. Doch darum geht es in dieser Arbeit in keiner Weise.

Was wir hier hervorheben, ist vielmehr die entschiedene Verteidigung

einer rein philosophischen Erkenntnis, wie sie sich nicht nur in der

Antike und bei Descartes, sondern ebenso bei Augustinus, Thomas v.

A. oder Bonaventura findet, worauf wir hier leider nicht näher eingehen

können.

Nachtem ich bisher die "Sachen" andeutete, die in dieser Arbeit

herausgearbeitet werden (vgl. dazu auch die Einleitung) und vor allem

einige Bemerkungen machte, um Mißverständnissen vorzubeugen,

müssen auch die Auffassungen genannt werden, die als unhaltbar und

irrig bekämpft und mit aller Entschiedenheit abgelehnt werden müssen.

Dies ist zunächst jede Form der Skepsis und vor allem des Relativismus.

Dabei ist er von keiner entscheidenden Bedeutung, wodurch der

Relativismus die Wahrheit "relativieren" möchte: Manche extremen

Relativisten behaupten, die Wahrheit (und damit das Sein) sei von

jedem individuellen Menschen abhängig, der Einzelne sei das "Maß der

Dinge, der seienden, daß sie sind und der nicht seienden, daß sie nicht

sind". Andere Relativisten wollen die Wahrheit im Einfluß des

Hegelianismus von der besonderen historisch-soziologisch-kulturellen

Epoche abhängig machen und auf die interpersonal-historische Realität

gewisser Ideen zu einer bestimmten Zeitepoche reduzieren. Wieder

andere (wie Kant, Fichte oder der späte Husserl) möchten die Wahrheit

auf die "menschliche Vernunft" als solche zurückführen, auf die für alle

336

Menschen gültigen Anschauungs- und Denkformen (bzw. die von der

Vernunft erzeugten "transzendentalen Ideen") oder auf die

menschlich-intentionalen Akte, die nach dem späten Husserl allen Sinn

konstituieren. In unserer Arbeit wollten wir aufweisen, das jede Form

der Transzendentalphilosophie, nach der das Erkennen selbst oder eine

diesem zugrunde liegende Struktur des "transzendentalen Ich" den

Gegenstand "hervorbringt" statt ihn in seiner von unserem Erkennen

unabhängigen, "an-sich-seienden" Wirklichkeit zu erfassen, nicht nur

irrig, sondern relativistisch ist (vgl. dazu den II. Teil dieser Arbeit, vor

allem den Abschnitt über E. Husserls Spätphilosophie). Statt zu einer

Wahrheit führt auch diese letztere Auffassung höchstens zu notwendig

der "specie Mensch" eingeborenen Irrtümern. Es soll gezeigt werden,

daß es zwischen klassischem "Realismus" (diesen so weit gefaßt, daß

auch Platon und Augustinus "Realisten" sind) und

Transzendentalphilosophie keinerlei Brücke gibt und alle solchen

Versuche unhaltbar sind. Dies sollte primär durch eine systematische

Analyse der Transzendenz der Menschen in der Erkenntnis (aber auch

anhand einiger Beispiele) erwiesen werden.364

Ebenso entschieden wie jede Form des Relativismus und

Transzendentalismus wird in diesem Buch auch der Positivismus,

Neopositivismus und Empirismus zurückgewiesen. Dies geschieht

allerdings fast nur indirekt durch die systematischen Analysen der

"notwendigen Wesenheiten", der analytischen und synthetischen

Urteile und durch den Aufweis der Möglichkeit, zu Jahren

"synthetischen Urteilen a priori" zu gelangen, durch den Aufweis des

doppeldeutigen "Erfahrungsbegriffes" und der empiristischen

(positivistischen) Einengung desselben etc.365

364 An dieser Stelle muß ich auf eine wichtige philosophische

Neuerscheinung noch einmal ausdrücklich hinweisen: W. Hoeres, Kritik

der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie, Stuttgart 1969, wo

dieser Punkt vor allem gegenüber den neuscholastischen Versuchen, eine

derartige "Brücke" zu bauen, erhärtet wird. Ein ausführliches Eingehen auf

dieses bedeutende Buch war mir leider in dieser Arbeit nicht mehr möglich,

aber ich konnte es im "Philosophischen Literaturanzeiger" (Bd. 22, H 6, S.

324—328) besprechen. 365 Hier möchte ich insbesondere auf die oben erwähnten Aufsätze hin

weisen: D. v. Hildebrands Lehre von der Soseinserfahrung in ihren philo-

sophiegeschichtlichen Zusammenhängen, von B. Schwarz und:

337

Abschließend möchte ich noch auf einige weitere Werke hinweisen,

deren ausführliche Berücksichtigung wünschenswert, aber wegen da

relativ knappen Raumes und da groß angelegten Themas dieser Arbeit

unmöglich war.

Besonders denke ich hier an die Werke H. E. Hengstenbergs, die eine

ausführliche Berücksichtigung erfordern und sehr der Klärung und

Ergänzung meiner Analysen dienen würden.

Während die unerbittliche Zurückweisung jeder

transzendental-philosophischen Umdeutung des Erkennens in ein

geistiges Produzieren mich mit W. Hoeres eng verbindet, sehe ich in

dem gewaltigen historisch-systematischen Werk Winfried Weiers: Sinn

und Teilhabe — Das Grundthema der abendländischen

Geistesentwicklung (Salzburger Studien zur Philosophie, Bd. 8,

Salzburg 1970) in anderer Richtung wichtige Ergänzungen zu meiner

Arbeit. Insbesondere der Aufweis der "Emanzipation des

transzendenten Sinnes aus dem transzendentalen Sinn" (vgl. a. a. O.

Kap. 20—22) enthält eine für meine Arbeit wesentliche historische

Ergänzung. Weiers Werk enthält jedoch weit darüber hinaus eine

unerschöpfliche Fülle historischer Untersuchungen, die in engster

Verbindung zu meiner Arbeit stehen. Doch war es leider unmöglich,

das dort neu erarbeitete Material sowie die systematischen

Ausführungen Weiers bei der Herausgabe dieser Arbeit zu

berücksichtigen.366

Ferner hätte ich gerne die für mein Thema relevanten Beiträge in:

Wahrheit, Wert und Sein (Festgabe für D. v. Hildebrand zum 80.

Geburtstag, hrsg. von B. Schwarz, Regensburg 1970) berücksichtigt,

da vor allem die Beiträge von J. Crosby, A. von Hildebrand, B. Schwarz

und F. Wenisch sich mit wichtigen Ergänzungen direkt auf mein Thema

beziehen: Auf das Problem des "Wahrheitskriteriums" (F. Wenisch)

und vor allem auf den im I. Teil meiner Arbeit behandelten zentralen

Unterschied zwischen der Wesensstruktur von Erkennen und Irren.

Dieser wichtige Unterschied wird am Beispiel des

Scheinselbstverständlichen (On the Pseudo-Obvious) von Alice von

Hildebrand klar und überzeugend herausgearbeitet. Den vollkommen

Gewißheitskriterium und Einsicht, von Fritz Wenisch. Dort wird

unmittelbar der Positivismus und Neopositivismus behandelt. 366 Vgl. meine Besprechung dieses Buches im "Philosophischen Literatur-

anzeiger", Bd. 24, H. 5, S. 302—310.

338

zu Unrecht mit echter Evidenz verwechselten Charakter solcher

innerhalb der "Philosophie" häufiger "Scheinselbstverständlichkeiten",

ja, deren wirklicher Evidenz und Gewißheit entgegengesetzten

Charakter arbeitet die Autorin glänzend heraus. Schließlich konnte ich

auch auf einige Ergänzungen zu dieser Arbeit nicht mehr hinweisen,

die in Dissertationen von John Crosby, Damian Fedoryka und Franz

Ryschawy an der Universität Salzburg vorliegen (1970) und zahlreiche

Ergänzungen sowohl in historischer Hinsicht, insbesondere über B.

Bolzano (Ryschawy), als auch in systematischer Hinsicht bieten.

Endlich hätte ich auch noch gerne auf eigene Ergänzungen zu meiner

Arbeit367 hingewiesen, die sich insbesondere auf den II. Teil, Kap. 3,

beziehen. Vor allem die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis

des "Seins selbst" in den verschiedenen Bedeutungen dieses Ausdrucks

wird a. a. O. weiter aufgewiesen, wie auch die in dieser Arbeit bloß

angedeuteten "drei Grunddimensionen des Seins" dort näher

herausgearbeitet wurden.

Die hier gebotenen Hinweise können selbstverständlich in keiner

Weise erschöpfend sein, sondern nur in mancher Hinsicht die Arbeit

klären und ergänzen.

In dem Bemühen, den Blick auf die einzigartige Fähigkeit der

Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis objektiver Wahrheit zu

richten, fühle ich mich den bedeutendsten Philosophen der Geschichte

zutieftst verpflichtet und stehe auf "ihren Schultern", wenn auch gerade

manche der berühmtesten und patentesten Denker in tragischer oder

auch ressentimenterfüllter Weise das Gefängnis eines

"Immanentismus" verkündeten bzw. verkünden und dem Menschen

diese Fähigkeit des Sich-Überschreitens in der Erkenntnis auf der, wie

wir sahen, auch alle weiteren Dimensionen menschlicher Transzendenz

beruhen. Es handelt sich daher bei unserem Thema um den

"Lebensnerv" des Geistes, gegen den heute unzählige Angriffe geführt

werden.

Mit unserem Buch wollen wir zunächst die weithin abgestorbene

Diskussion über diese zentrale Frage wiederbeleben und vor allem —

wider alle Skepsis und geistige Erlahmung unserer Zeit — nachweisen,

daß der Mensch der Öde und dem geistigen Tod einer "Eingesperrtseins

367 Vgl. meinen Beitrag: Die verschiedenen Bedeutungen von "Sein" — D.

v. Hildebrand als Metaphysiker und M. Heideggers Vorwurf der Seins-

vergessenheit in: Wahrheit, Wert und Sein, a. a. O., S. 301—332.

339

in die eigenen Gedankenspinngewebe" entkommen und zur "Quelle"

seines geistigen Lebens gelangen kann, die in der von seinem Geist

unabhängigen Wirklichkeit liegt. Dies vermag der Mensch, weil er

fähig ist, sein eigenes Bewußtsein in einer auf nichts anderes

zurückführbaren, höchst staunenswerten Weise zu überschreiten und

die Wirklichkeit in der Fülle ihrer inneren Bedeutsamkeit und

Kostbarkeit zu erfassen, wie sie "in sich" ist — jenseits aller

Abhängigkeit von einem menschlichen Geist.

340

ANHANG ZUR ZWEITEN AUFLAGE

Der Grund dafür, daß die zweite Auflage des binnen Jahresfrist in erster

Auflage vergriffenen vorliegenden Buches erst jetzt erscheint, besteht

vor allem darin, daß dieser zweiten Auflage ein Anhang beigegeben

werden sollte, der jedoch beinahe zu einem Buch anwuchs, so daß der

Autor im Einvernehmen mit dem Verlag schließlich entschied, diesen

Anhang für eine oder mehrere getrennte Veröffentlichungen

aufzuheben. Sonst wäre die zweite Auflage von Erkenntnis objektiver

Wahrheit nicht mehr dasselbe Buch geblieben.

Im folgenden seien deshalb nur kurz die grundsätzlichen Probleme und

Ergebnisse dargestellt, deren ausführliche Behandlung, Begründung

und bibliographische Dokumentation ich als Fortsetzung dieses Buches

für entscheidend wichtig halte und — wenigstens teilweise — in

absehbarer Zeit zu veröffentlichen hoffe.

Ontologische Wahrheit

Zunächst erfordert der neue Titel dieses Buches, das, wie im Vorwort

zur ersten Auflage erwähnt, ursprünglich Die Transzendenz des

Menschen in der Erkenntnis hieß, eine eingehendere Untersuchung des

Wesens von Objektiver "Wahrheit":

Es besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen den verschiedenen

als "ontologische Wahrheit" (oder "Seinswahrheit") faßbaren

Gegebenheiten einerseits, und der "logischen Wahrheit"

("gnoseologischen" Wahrheit oder "Urteilswahrheit") andererseits; (die

Frage der sittlichen oder künstlerischen Wahrheit kann in unserem

Zusammenhang ganz außer Betracht bleiben).

Mit Hilfe des Ausdrucks "ontologische" Wahrheit kann man einmal auf

die selbst-evidente Tatsache hinweisen, daß jedes Seiende, insofern es

ist oder auch nur möglich ist, prinzipiell erkennbar sein muß. In dieser

"transzendentalen" Bestimmung allen Seins (im scholastischen Sinn

des Wortes "transzendental" als allgemeinste universale

Seinsbestimmung, nicht im Kantischen Sinn von "transzendental"!) als

erkennbar (intelligibel) ist eine tiefe Wesenseinsicht der Scholastik

ausgedrückt. Während etwas nicht Seiendes oder gar etwas "in sich

Unmögliches" unerkennbar sein kann, liegt es im notwendigen Wesen

allen wenn auch nicht notwendig dem menschlichen, so doch dem

341

erkennenden Geist prinzipiell geöffnet zu sein, solcherart daß jedes

Seiende in seiner Eigenart und Existenz verstehbar und erkennbar ist,

jeweils in einer seinem Sein entsprechenden Erkenntnisform.

Einen zweiten und noch tieferen Sinn von "ontologischer Wahrheit"

haben wir im Auge, wenn wir gerade nicht jedes Seiende schlechthin

als "wahr" bezeichnen, sondern unter den existierenden Wirklichkeiten

z. B. eine wahre einer falschen Freundschaft, Treue, Liebe etc.

entgegenstellen. Im dritten Kapitel des zweiten Teils des vorliegenden

Buches wird die Verschiedenheit allgemeiner notwendiger

Wesenheiten von den einzelnen Dingen untersucht. In Anlehnung an

diese Analysen wäre zu zeigen, wie insbesondere bei allen

werttragenden Wirklichkeiten die "Idee" oder die "allgemeine

Wesenheit" von etwas viel "vollkommener" ist im Sinne eines "Ideals"

als alles, dem wir innerhalb der empirisch erfahrbaren Welt begegnen.

So messen wir die konkreten von uns erfahrenen Lieben oder gerechten

Handlungen an einer "idealen" und intelligiblen "Idee" der Liebe oder

Gerechtigkeit und beurteilen nach dieser "Idee" im Sinne eines

"Ideals", ob und inwieweit die Wirklichkeit ihr entspricht.

Insbesondere auf der Grundlage einer philosophischen Gotteslehre

(oder auch von seiten der Offenbarungs-Theologie) ließe sich im

Anschluß an Augustinus' Quaestio XLVI De Ideis diese bereits vom

"wahren Platonismus" her zu gewinnende Einsicht in die "ontologische

Wahrheit" als Übereinstimmung mit der "Idee" wesentlich vertiefen

und ausfahren, daß überall, wo wir ein notwendiges Wesen oder auch

wo wir einen tief sinnvollen "Logos" und inneren Sinngehalt eines

Seienden finden, wir eine "Idee" in Gottes Geist (in je verschiedenem

Sinne) annehmen müssen.

Mit Platon und Augustinus (und ihren Nachfolgern, zu denen nicht bloß

Anselm, Bonaventura oder auch Descartes zählen, sondern auch

Thomas v. Aquin) ließe sich dann von "ontologischer Wahrheit" eines

Seienden dort und in dem Maße sprechen, in dem ein Seiendes seinem

"idealen Wesen" bzw. seiner "göttlichen Idee", der "ewigen Idee dieses

Seienden in Gottes Geist" entspricht. Wenn man sich dabei aller

nötigen Unterscheidungen zwischen notwendigen und nicht

notwendigen Wesensgesetzen und Wesenheiten, die in der

vorliegenden Abhandlung bereits behandelt wurden, bewußt bleibt,

kann man in tiefem Sinn von der "ontologischen Wahrheit" eines

Seienden als dem Maß seiner Übereinstimmung mit seiner allgemeinen

"Idee" oder — wenn es sich z. B. um einen individuellen Menschen

342

handelt — auch mit seiner besonderen "idealen Gestalt", in der es von

Gottes Schöpfergeist geplant ist, sprechen.

Schließlich kann man auch von ontologischer Wahrheit als jener

inneren Wahrheit" sprechen, die keinerlei "Übereinstimmung" mehr

beinhaltet, sondern die wir etwa in den notwendigen Wesenheiten

selbst vorfanden. "Innere Wahrheit" meint dann den "inneren Sinn", ja

die innere "Unerfindbarkeit", wie wir sie z. B. im notwendigen

intelligiblen Wesen von etwas entdecken. In dieser Bedeutung kann

auch das göttliche Wesen selber als "wahr" bezeichnet werden, nicht

weil es seiner eigenen Idee von sich entspräche (was ein nicht

sinnvoller Gedanke wäre), sondern weil man hier die letzte

ontologische Quelle allen Sinns, Seins und aller Wahrheit im Auge hat,

den Ursprung der "ontologischen Wahrheit" im zweiten und letztlich

auch derjenigen im ersten Sinn. Von dieser ontologischen Wahrheit im

dritten Sinn war die Rede, als wir von der unerfindbaren Sinnfülle

notwendiger Wesenheiten handelten, an deren Eigenart Kant in der

Transzendentalphilosophie so grundsätzlich vorbeiging und in der das

metaphysische Fundament jener unbezweifelbaren Gewißheit der

Wesenserkenntnis liegt, von der wir bereits handelten. Dem

entsprechend wäre eine Untersuchung der "ontologischen Wahrheit"

im Sinne "innerer Wahrheit" ein entscheidender metaphysischer

Beitrag zur Fortführung von Erkenntnis objektiver Wahrheit (bes. S.

151 ff.; S. 191 ff.; S. 198 ff. und des dritten Kapitels des zweiten Teils).

Die in der Wesenserkenntnis gewonnene unbezweifelbare

Transzendenz das Menschen in der erkennenden Hinnahme einer

Seinsstruktur, die unmöglich eine Täuschung sein oder in seiner

subjekiv-transzendentalen Verfassung gründen kann, sondern uns über

das "Ding an sich", das "Sein selbst" belehrt, würde durch eine solche

Untersuchung der "inneren" ontologischen Wahrheit notwendiger

Wesenheiten wesentlich deutlicher werden.

Urteilswahrheit als Übereinstimmung

Noch unmittelbarer von der Thematik das Buches her geboten wäre

eine weitere Analyse der Eigenart der Urteilswahrheit. Was hatten wir

im Auge, wenn wir das aus Begriffen bestehende "Urteilsgebilde" (vgl.

eben, S. 98 ff.) als wahr oder falsch bezeichneten?

Zweifellos meinten wir mit Urteilswahrheit irgendwie geartete

Übereinstimmung zwischen dem Urteil und dem Sein, eine adaequzeio

343

intellectus et rei, wie es die klassische scholastische Urteils- und

Wahrheitslehre mit Recht nenne. Doch welcher Art ist diese

"adaequatio" ?

Innerhalb des Dialektischen Materialismus, insbesondere in seiner auf

Lenins Empiriokritizismus zurückgehenden Komponente, wird das

Wesen der Wahrheit als "Widerspiegelung" bezeichnet; von dieser

"Widerspiegelung" wird behauptet, sie sei ein wesenhaft materielles

Phänomen; auf diese Weise soll begründet werden, daß ausschließlich

der Materialismus auch eine "objektive Wahrheit" vertreten kann.

In Absetzung von dieser (mit anderen vom Deutschen Idealismus

beeinflußten oder pragmatischen Zügen der Marxistischen

Erkenntnistheorie unvereinbaren) Lehre gilt es, Folgendes zu betonen:

Zunächst handelt es sich bei der adaequatio zwischen Urteil und

Sachverhalt in keiner Weise um ein Abbildungsverhältnis, oder gar um

ein "Widerspiegelungsverhältnis", wie dies z. B. A. Pfänder glänzend

in seiner Logik gezeigt hat. Die "Entsprechung" zwischen

Urteil(sinhalt) und Sachverhalt ist meist mit einer äußersten

"Unähnlichkeit" verbunden; das logische Urteilsgebilde, das in

folgenden Sätzen ausgedrückt wird: "der Mond scheint" oder

"Verantwortlichkeit setzt Freiheit voraus", ähnelt z. B. keineswegs dem

Sachverhalt des Scheinens des Mondes oder der Beziehung zwischen

Freiheit und Verantwortlichkeit, wenngleich diese den Gegenstand des

Urteils bilden und das Urteil wahr ist. Die "Übereinstimmung" besteht

vielmehr in einem logischen Zusammentreffen der urteilsmäßigen

"Setzung" eines Sachverhalts mit dem wirklichen seinsmäßigen

Bestehen desselben. Das tatsächliche "Selbstverhalten" eines

Gegenstandes trifft zusammen mit dem im Urteil gemeinten und

"behaupteten Verhalten" desselben Gegenstandes.

Von daher ergibt sich bereits zweitens schärfste Kritik an der

Marxistischen Behauptung, daß die Übereinstimmung zwischen Urteil

und Sachverhalt nur als eine materielle Widerspiegelung (analog der

im buchstäblichen Spiegel zu findenden) gedeutet werden kann, und

daher Materialismus und Anerkennung objektiver Wahrheit untrennbar

verknüpfe seien. Gerade das Gegenteil ist wahr: Wie die

Übereinstimmung zwischen Urteil und Sachverhalt keinerlei

Widerspiegelung ist, so ist sie erst recht keine materielle

Widerspiegelung oder irgendeine mit materiellen Analogien und

Begriffen überhaupt erfaßbare Beziehung; vielmehr handelt es sich

hier um ein rein logisches und "durch und durch" "geistiges", d. h. nicht

344

materielles, nicht in räumlichen Verhältnissen sich Abspielendes oder

zwischen nicht identischen materiellen Teilen bestehendes Verhältnis.

Also erweist sich die Anerkennung objektiver Wahrheit und die

Anerkennung einer nicht-materiellen Wirklichkeit bzw. "geistigen"

Entsprechung als untrennbar, im krassen Gegensatz zur

MarxistischLeninistischen Behauptung.

Ferner ist klar daran festzuhalten, daß die verschiedenen Bedeutungen

von "ontologischer Wahrheit" durchaus in keinem Gegensatz zur

klassischen und bloß tiefer zu interpretierenden Adäquationstheorie der

Wahrheit stehen, wie Heidegger durch seine die verschiedensten

Wahrheitsbegriffe vermengenden und verwirrenden

a½lhqteia-Diskussion nahelegt. Im Gegenteil: die verschiedenen

Dimensionen ontologischer Wahrheit sind notwendig mit der

"Urteilswahrheit" verknüpft. Man könnte von seinsmäßiger Walhoheit

gar nicht reden, ohne Urteilswahrheit bereits vorauszusetzen, die in der

recht zu verstehenden "Übereinstimmung" mit der Wirklichkeit

besteht. Umgekehrt fundiert die ontologische Wahrheit gerade die

Möglichkeit von Erkennen und Urteilen und damit von

"Urteilswahrheit". Im Namen der wie immer verstandenen

Seinswahrheit gegen die absolut grundlegende Rolle der

Urteilswahrheit als adaequatio aufzutreten, muß daher als eine dem

Wesen der Wahrheit durchaus widersprechende und in sich

widerspruchsvolle philosophische Position betrachtet werden.

Kritische Analyse anderer Wahrheitstheorien

Es gibt verschiedene Wahrheitstheorien, die die klassische und wahre

Fassung der Urteilswahrheit (= logischen Wahrheit) als adaequatio

intellectus et rei ersetzen oder ergänzen wollen. Diese Theorien sind

mit drei prinzipiell verschiedenen "Ansprüchen" aufgetreten: 1. als

Erklärungsversuche des "Wesens" der Wahrheit, 2. als Angabe

notwendiger "Bedingungen" der Wahrheit, 3. als Theorien über ein

"Kriterium" von Wahrheit. Meist wurden historisch diese drei

verschiedenen Fragen und "Ansprüche" der Wahrheitstheorien nicht

klar unterschieden. Im folgenden werden wir jedoch jede der

behandelten "Wahrheitstheorien" gemäß den drei erwähnten

Ansprüchen getrennt zu beurteilen haben.

Die Kohärenztheorie der Wahrheit: Diese historisch auf Hegel,

Bradley, Joachim und Bosanquet zurückgehende Wahrheitstheorie ist

345

wohl die philosophisch anspruchsvollste. Sie versucht entweder, das

Wesen der Urteilswahrheit, oder in der Form, in der neuerdings

"unorthodoxe" Vertreter des logischen Positivismus (wie N. Rescher in

seinem Buch Coherence Theory of Truth) sich ihr zuwenden, die

Bedingung und das Kriterium von Wahrheit in der "Kohärenz" zu

sehen.

Zunächst muß dabei gefragt werden, was unter "Kohärenz" eigentlich

zu verstehen sei, worüber keinerlei Klarheit herrscht. Bei Hegel und

Bradley tendiert der Sinn von Kohärenz zu dem einer streng

notwendigen oder logisch aßleitbaren (zusammenhängenden)

gegenseitigen Abhängigkeit, wobei der Sinn und die Wahrheit eines

Satzes von dem Sinn und der Wahrheit aller übrigen abhinge und diese

notwendig einschlösse. Ja, "Wahrheit" besteht danach in einem

("dialektisch" verstandenen) Verhältnis notwendigen gegenseitigen

Zusammenhangs.

Bei Rescher wird wohl unter Kohärenz primär einfachhin

Widerspruchsfreiheit in bezug auf andere Sätze verstanden.

Eine unmittelbar anschließende Frage gilt dem x, womit zu

"kohärieren" Urteilswahrheit sein oder garantieren soll? Handelt es sich

um Übereinstimmung oder logisch notwendige Abhängigkeit mit allen

anderen Urteilen, mit einigen, nur mit den wahren?

1. Fassen wir diese Theorie als Versuch einer Wesensbestimmung der

Wahrheit auf, so ist sie jedenfalls falsch, wie aus folgendem

einleuchtend gemacht werden kann (und wie übrigens auch Rescher a.

a. O. betont): Was wir mit Wahrheit meinen, oder besser was

Urteilswahrheit ist, ist evidentermaßen etwas anderes als logische

Kohärenz mit anderen Urteilen. Wenn wir auf die mit dem Ausdruck

"Wahrheit" bezeichnete Urgegebenheit achten, so ist klar, daß wir

damit eben die oben charakterisierte "Übereinstimmung" mit der

Wirklichkeit und nicht das Verhältnis eines Urteils zu einem andern

meinen. Selbst wenn mit Hegel anzunehmen wäre, daß sämtliche

Urteile, die wahr sind, notwendig zusammenhängen, so bestünde

eindeutig ihre Wahrheit nicht in diesem gegenseitigen Abhängigkeits-

und Kohärenzverhältnis, sondern sie bestünde vielmehr in der

Tatsache, daß alle diese notwendig zusammenhängenden Urteile mit

den Sachverhalten "übereinstimmen", die sie behauptend "setzen".

Abgesehen von der indirekt durch das unmittelbar (unter 2) Folgende

sich ergebenden Kritik der "Kohärenztheorie" als versuchter

Wesensbestimmung der Urteilswahrheit, erweist sich deren Falschheit

346

auch, wenn man der Frage, womit ein Urteil übereinstimmen soll, um

wahr zu sein, näher nachgeht. Denn offenbar kann nicht die

Übereinstimmung mit allen anderen Urteilen gemeint sein, da ja dann

auch die falschen mit eingeschlossen wären, und dann jede Wahrheit

auch mit ihrer Leugnung kohärent sein müßte, was Unsinn ist. Wenn

man aber nur die "Kohärenz" eines Urteils mit allen wahren Urteilen

als Wesen der Wahrheit bezeichnet, bewegt sich eine solche Definition

entweder in einem zu einem infiniten Regreß führenden circulus

vitiosus, oder sie nimmt ein von Kohärenz verschiedenes Wesen der

Wahrheit als "adaequatio" an, als jene grundlegende Eigenschafe eines

Urteils, mit dem "übereinstimmend" ein anderes Urteil eben wahr sein

soll. In jedem Fall wird offenbar, daß "Kohärenz" nicht das Wesen der

Urteilswahrheit sein kann. Wie auch Rescher gezeigt hat, setze jede in

diesem Sinne konsequente Kohärenztheorie die Urgegebenheit des

Wesens der Wahrheit als adaequatio nur wieder voraus. Die

Urteilswahrheit als Übereinstimmung des Urteils mit dem bestehenden

Sachverhalt ist absolut "unhintergehbar", unleugbar, ohne in

Widersprüche zu geraten, aber vor allem ein letzt-evidentes datum.

2. Weder notwendige gegenseitige Zusammenhänge noch bloße

Widerspruchsfreiheit von Urteilen mit sämtlichen anderen Urteilen

kann ferner zu Recht als Bedingung der Wahrheit bezeichnet werden,

da schon gezeigt wurde, daß es gerade zum Wesen der Wahrheit gehört,

im Widerspruch zu (wenigstens kontradiktorisch entsprechenden)

falschen Urteilen zu stehen. Ferner kann nicht einmal notwendige

Kohärenz eines Urteils mit allen anderen wahren Urteilen, wohl aber

Widerspruchsfreiheit eines Urteils in bezug auf alle anderen wahren

Urteile als Bedingung der Wahrheit bezeichnet werden.

Widerspruchsfreiheit ist tatsächlich ein bereits von Platon im Gorgias

betontes Merkmal der Wahrheit, wenn er sagt, Wahrheit könne nie

widerlegt werden, sondern nur Irrtümer können widerlegt werden.

Denn nur falsche Urteile können in Widerspruch mit bereits als wahr

erkannten Urteilen geraten, niemals aber wahre Urteile. Diese

Widerspruchslosigkeit besagt aber in keiner Weise notwendige

Abhängigkeit. Und hier berühren wir eine bei Bradley und Hegel

vorliegende falsche Voraussetzung der idealistischen Kohärenztheorie

der Wahrheit: nämlich eine Leugnung wirklich empirischer, faktischer,

nicht notwendiger Wahrheiten. Es liegt aber im Wesen sowohl der

Urgegebenheit der Kontingenz als auch der Entscheidungsfreiheit, daß

347

es metaphysisch nicht notwendig miteinander verknüpfte Sachverhalte

wirklich gilt, was sich durch kein "System" aus der Welt schaffen läßt.

Damit ist jedoch klar, daß Kohärenz im Sinne einer notwendigen

gegenseitigen Implikation aller Wahrheiten nicht Bedingung für

Wahrheit ist.

Hingegen ist Kohärenz im Sinne einfacher Widerspruchslosigkeit

allerdings Bedingung für Wahrheit, jedoch auch das nur, wenn man

Widerspruchslosigkeit in bezug auf andere (oder alle) wahren Urteile

meint. Daß es eine Wahrheit, die anderen wahren Urteilen widerspricht,

nicht geben kann, gründet in der evidenten "Einheit" aller Wahrheit und

allen Seins: in der mit der Erkennbarkeit allen Seins

zusammenhängenden Widerspruchslosigkeit der Wirklichkeit und

Wahrheit.

3. Als Kriterium kann die Kohärenz eines wahren Urteils mit anderen

wahren Urteilen nicht schlechtweg in Betracht kommen, es sei denn im

Sinne eines rein negativen Kriteriums: daß nämlich ein Urteil, das

anderen wahren Urteilen (als wahr erkannten Urteilen) widerspricht,

nicht wahr sein könne.

Offensichtlich ist jedoch Kohärenz (Widerspruchslosigkeit) mit

anderen wahren Urteilen (und erst recht mit falschen Urteilen) nicht

genug, um Wahrheit zu sichern. Die Widerspruchslosigkeit eines

Systems oder eines Urteilsganzen beweist nicht Wahrheit. So sind alle

rein empirisch falschen Urteile, auch wenn sie keinem andern wahren

Urteil widersprechen, immer noch falsch. (Wenn man allerdings nicht

nur die bereits erkannten, sondern auch die noch nicht erkannten Urteile

in die Diskussion einbezieht, dann gibt es für jedes falsche Urteil —

auch für jedes bloß empirisch falsche — ein oder mehrere wahre

Urteile, denen es widerspricht: auf alle Fälle seinem kontradiktorischen

Gegenteil, aber auch vielen anderen wahren Urteilen. Da menschliches

Erkennen endlich ist, kann diese Tatsache jedoch nicht als Grundlage

eines Wahrheitskriteriums dienen.)

Man muß allerdings zugeben, daß unter bestimmten Voraussetzungen

(z. B. bei den Vermutungen eines Sherlock Holmes über sehr komplexe

kriminalistische Sachverhalte, oder bei einem überaus komplexen

System von wahren Urteilen, in Fällen wo gewisse Anzeichen für die

Wahrheit eines weiteren Urteils sprechen) die bloße

Widerspruchsloslgkeit bzw. eine sinnhafte "Entsprechung" (Kohärenz

hier also als nicht bloß faktische Widerspruchslosigkeit, sondern als

348

sinnvolle Entsprechung verstanden) schon ein gewisses, wenn auch nie

ein ausreichendes Kriterium für Wahrheit sein kann.

Wenn allerdings unter Kohärenz die formal-logische oder die in

manchen Seinsgebieten vorliegende material-wesenhafte notwendige

Verknüpfung zweier wahrer Urteile verstanden wird, dann ist eine

solche notwendige Verknüpfung eines noch nicht als wahr erkannten

Urteils mit einem bereits als wahr erkannten ein ausreichendes

Kriterium für seine Wahrheit.

Diese Art der Kohärenz wird ja stets bei dem logischen Schließen aus

bereits bekannten Fakten verwendet.

Allerdings verweist uns die bereits oft wiederholte Tatsache, daß nur

die notwendige Verknüpfung eines Urteils "mit bereits als wahr

erkannten Urteilen" uns seine Wahrheit garantiert, darauf, daß es ein

noch viel tieferes und ursprünglicheres "Kennzeichen" der Wahrheit

geben muß, das nicht innerhalb der Kohärenz liegt.

Die pragmatistische (pragmatizistische) und neopositivistische

Wahrheitstheorie: Diese Theorie kommt wiederum sowohl als

Wesens-"Definition" der Wahrheit als auch als kriteriologische

Wahrheitstheorie oft vor. Auf C. S. Peirce, W. James und J. Dewey in

besonderem Maße zurückgehend, findet sich diese Theorie auch bereits

früher in vielen Stellen bei Nietzsche u. a. Nicht als Wesenstheorie von

begrifflicher Bedeutung und Wahrheit, wohl aber als kriteriologische

Theorie der Wahrheit kommt sie auch innerhalb des Dialektischen

Materialismus und der Marxistischen Textbuch-Philosophie oft vor.

Wahrheit wird in diesen Theorien entweder in

politischgesellschaftlicher Nützlichkeit, im Erfolg einer Theorie, im

lebensfördernden Charakter einer Auffassung (Nietzsche) u. ä.

gesehen, oder aber der Erfolg wird als Kriterium der Wahrheit

gewertet, wie im Marxismus, wo man häufig polemische Äußerungen

gegen den pragmatistischen Wesensbegriff von Wahrheit antreffen

kann.

1. Als Wesensbestimmung von Urteilswahrheit ist die pragmatistische

Wahrheitsdefinition völlig unbrauchbar. Denn was immer sonst die

Beziehung zwischen Wahrheit und Erfolg sein mag, Wahrheit meint

jedenfalls nicht diesen Erfolg, ist nicht mit ihm identisch. Am ehesten

legt sich eine derartige Auffassung noch dann nahe, wenn man mit

Peirce oder auch mit dem "Wiener Kreis" unter "Erfolg" die Summe

der Erfahrungen versteht, in denen sich eine Theorie verifizieren (oder

"nicht falsifizieren") läßt. Die Wahrheit eines Urteils wäre dann der

349

"Erfolg" nur im Sinne der praktischen Erfahrung (Versuche etc.), in

denen diese Wahrheit verifiziert werden kann.

Doch auch hier (in dieser spezifisch eingegrenzten Bedeutung von

Erfolg) zeigt sich deutlich, daß die Wahrheit eines Urteils eben nur sein

Abziehen auf einen Sachverhalt, der wirklich besteht, meint; ein Urteil

kann demgemäß durchaus wahr sein, bevor es verifiziert wird; bereits

der Wortsinn von "Verifikation" als "Bestätigung von Wahrheit" zeigt

übrigens die Verschiedenheit der Wahrheit, die bestätigt werden soll,

von ihrer Bestätigung als solcher.

Erst recht ist Wahrheit evidenterweise nicht identisch mit einem Erfolg

in anderem Sinne, etwa dem politischen Erfolg einer Ideologie im

Machtkampf (die nationalsozialistischen oder kommunistischen Siege

z. B.) oder einfach der Beherrschung des Zeitgeistes. Hier bedeutet

"Erfolg" nicht mehr die Wahrnehmung des in einem Urteil

vorhergesagten Sachverhalts bzw. das Eintreten dieses Sachverhalts,

was in der Tat die Wahrheit des ihn vorhersagenden Urteils bestätigt,

sondern hier bedeutet "Erfolg" einen dem Sinn und der

Behauptungsintention des Urteils an sich fremden äußeren Zweck, zu

dem jemand das Urteil "gebraucht", oder dessen Überzeugungs- und

Motivationskraft bei den Massen. Dieser Erfolg ist ebenso wenig

identisch mit Wahrheit, daß er

2. nicht einmal eine notwendige Bedingung für Wahrheit ist, es sei

denn, man setze eine Metaphysik voraus, nach der die Wahrheit, die

offensichtlich in der Geschichte nicht immer siegt, auf die Dauer und

in ihren Tiefenwirkungen und vor allem am Ende der Weltgeschichte

siegen muß. Eine solche Metaphysik kann allerdings niemals auf

materialistischer Grundlage gültig begründet werden, sondern nur auf

einer theozentrischen, nach der in und durch Gott am Ende der Welt

letztlich nur die Wahrheit siegen wird. Daß der Marxismus in einer

säkularisierten Gestalt eine solche Überzeugung vom

historischahistorischen "Endsieg des Wahren" (in der Ideologie des

Proletariats bzw. der "klassenlosen Gesellschaft") vertritt, ist eine

Inkonsequenz. Denn der Sieg einer bloß von materiellen ökonomischen

Bedingungen abhängigen Entwicklung kann niemals deren Wahrheit

garantieren, sondern nur wenn ein unendlich weiser und mächtiger

Geist Urquell allen Seins ist, wird "am Ende" sicher nur die Wahrheit

herrschen. Doch selbst aus theistischer Sicht kann niemals begründet

werden, der historische Sieg von Ideen als solcher und deren politische

Macht seien eine Wahrheitsbedingung; ja sogar der eschatologische

350

Sieg der Wahrheit ist mehr eine notwendige Folge der Wahrheit und

der Macht Gottes als eine Bedingung für Wahrheit.

3. Auch als "Kriterium" der Wahrheit kommt der "Erfolg" nur im ersten

Sinn des Ausdrucks in Frage, wo nämlich mit "Erfolg" das Eintreten

eines von einer Theorie gerade behaupteten Sachverhalts gemeint ist.

In diesem Sinne, wie von marxistischen Textbüchern immer wieder

herangezogen wird, beweist der "Erfolg" von Experimenten —

zumindest insofern deren Ergebnis sich unmittelbar auf ein in einer

Hypothese vorhergesagtes Gesetz bezieht — die Wahrheit dieser

Hypothese.

Sobald jedoch "Erfolg" einen Sachverhalt meint, der nicht strikt der

Urteilssetzung entspricht, so beweist "Erfolg" überhaupt nicht

notwendig die Wahrheit eines Urteils. In diesem Sinne ist z. B. der

marxistische Anspruch, die kommunistischen Siege bewiesen die

Wahrheit des kommunistischen Systems, falsch, ja geradezu absurd.

Dabei ist auf den oft hervorgehobenen Widerspruch hinzuweisen, in

den die marxistische Ideologie dadurch gerät, daß sie zwar die

politischen Siege des Nationalsozialismus oder den wirtschaftlichen

Fortschritt des Westens nicht als Wahrheitsbeweis anerkennt, wohl

aber seit Lenin die eigenen "Erfolge" als Wahrheitsbeweise anführt.

Dabei ist die These vom historisch-gesellschaftlichen Erfolg als

Wahrheitsbeweis bei Hegel wenigstens noch durch die Philosophie des

"Weltgeistes" begründet, während eine solche Begründung innerhalb

des Dialektischen Materialismus ganz fehlt, sondern nur in Form eines

blinden darwinistisch-naiven und "dialektischen" Fortschrittsglaubens

weiterlebt. Doch in jedweder — auch der Hegelschen — Form ist die

Theorie, daß irgendein historisch-gesellschaftlicher Erfolg als solcher

ein Wahrheitsbeweis sei, abzulehnen. Denn offenbar haben die

widersprechendsten Ideologien und Überzeugungen vorübergehend

historischen Erfolg gehabt und die Ideen des Zeitgeistes, die sich

überdies oft widersprechen, jeweils für wahr zu halten, stellt einen trotz

Hegels Autorität leicht durchschaubaren und primitiven Irrtum dar.

In einer ganz anderen Form ist dieser Gedanke des "Erfolges" als

Wahrheitskriterium übrigens auch in der Apostelgeschichte im

Gamaliel-Argument enthalten, der vorschlägt die Apostel nicht

hinzurichten, denn: ist ihre Lehre Menschenwerk, wird sie sich von

selbst verlieren, ist sie göttlichen Ursprungs, wird sie trotz

menschlicher Vernichtungsversuche bestehen bleiben. In dieser Form

ist etwas Tiefes in der Auffassung gesehen, daß die historische

351

Wirksamkeit einer Religion deren Wahrheit beweise, insofern hier eine

allgemeine (und nicht mehr durch besagtes "Erfolgs"-Kriterium zu

erkennende) Wahrheit zugrundegelegt wird: nämlich die, daß eine

einheitliche und auf Jahrhunderte wirksame religiöse Anschauung, die

sich nicht in zahllose Sekten zersplittert, nicht als bloßes Produkt

menschlichen Geistes, sondern nur als göttliche Wirkung möglich ist.

Doch selbst hier darf das Kriterium des "Erfolges" und Dauerns

ausschließlich im Zusammenhang anderer und noch tieferer

Kennzeichen der Wahrheit angewendet werden, was in diesem Rahmen

nicht näher begründet werden kann.

Noch ein Zusatz ist nötig: Wenn man mit "Erfolg" im ersten Sinne nicht

die jeweils einem Sachverhalt angemessene Erfahrungs- und

Verifikationsart, sondern vielmehr immer eine empirische Verifikation

meint, wie es in gewissem Ausmalt bei Peirce und noch mehr bei den

Vertretern des logischen Positivismus geschieht, dann ist eine solche

oft alle anderen Erkenntnismethoden als bloß zu "sinnlosen Sätzen"

führend abqualifizierende Kriteriologie der Wahrheit grundfalsch. Nur

bei experimentell oder wahrnehmungsmäßig überprüfbaren

Sachverhalten kann eine solche empirische Verfikationsmethode als

Kriterium für die Wahrheit von Sätzen bzw. als Weg von deren

Feststellung mit Recht angesehen werden. Sobald jedoch apriorische

Wesenszusammenhänge oder Sinnzusammenhänge oder andersartige

Sachverhalte auf dem Spiele stehen, läßt Sich deren Wahrheit gerade

prinzipiell nicht mit Erfahrungen im Sinne der pragmatistischen,

pragmatizistischen oder neopositivistischen Theorien feststellen.

Deshalb kann auch "Erfolg" im Sinne von Wahrnehmung und

empirischen Verifikationsmethoden nur in ganz eng begrenztem

Rahmen als ein Kriterium für Wahrheit unter anderen überlegenen

Kriterien anerkannt werden, auf die sogar die empirischen

"Verifikationen" als auf ihre letzte Quelle zurückgehen.

Die Konsensustheorie der Wahrheit: Wiederum im Rückgriff auf

Peirce und andere vorwiegend amerikanische Denker wurde eine der

Kohärenztheorie nahestehende Wahrheitstheorie, eine

Konsensustheorie der Wahrheit, entwickelt. Demnach wäre entweder

Konsens das Wesen der Wahrheit, bzw. konsensusfähig zu sein, oder

zumindest wäre die Konsensfähigkeit einer These eine Bedingung oder

ein Kriterium für ihre Wahrheit.

Dabei kann wiederum entweder der Konsens "vieler" als solcher als

Wesen der Wahrheit oder als Kriterium für Wahrheit gemeint sein, oder

352

aber es kann nur der Konsens mit bereits als wahr erkannten Urteilen

bzw. mit Personen gemeint sein, von denen feststeht oder anzunehmen

ist, daß sie die Wahrheit erkannten. In diesem letzteren Sinne geht ja

auch der Gottesbeweis "ex consensu gentium" auf den Konsens als

Wahrheitskriterium zurück (also lange vor Circe).

1. Als Wesenscharakterisierung von Wahrheit ist weder der faktische

Konsens irgendwelcher Personen noch die Konsensfähigkeit

brauchbar. Denn was die Wahrheit eines Urteils ist, ist evidenzermaßen

von dem Konsens oder der Konsensfähigkeit verschieden. Wenn ich

erfahre, daß ein Urteil konsensfähig ist oder daß über es Konsens

herrscht, erfahre ich nicht damit, daß das Urteil wahr ist; die Wahrheit

ist damit nicht ausgesagt, wie sich auch daraus ergibt, daß ich

weiterfragen muß, ob denn Konsens ein Kriterium oder eine Bedingung

von Wahrheit ist, was eine sinnlose Frage wäre, wenn mit Konsens und

Wahrheit oder mit Konsensfähigkeit und Wahrheit dasselbe gemeint

wäre.

2. Wenn unter Konsens einfach die Übereinstimmung vieler Menschen

oder auch nur der Konsens der Weisen, Erfahrenen etc. gemeint ist,

dabei aber nicht absolut vorausgesetzt werden kann, daß die

"konsentierenden" Personen notwendig und sicher die Wahrheit

erkennen, dann ist der Konsens auch in keiner Weise Bedingung der

Wahrheit. Ganz offensichtlich kann ein Urteil wahr sein, obwohl die

Toren oder sogar "die Weisen" nicht darüber übereinstimmen.

Wenn unter Konsensfähigkeit jedoch bloß gemeint ist, daß alle

Wahrheit prinzipiell trotz aller persönlicher Schwierigkeiten und

Hindernisse erkennbar ist und daher prinzipiell Konsens über sie erzielt

wenden kann, dann ist Konsensfähigkeit in diesem Sinne ähnlich wie

Erkennbarkeit und als Folge derselben allerdings ein Wesensmerkmal

der Wahrheit. In diesem Sinn ist es auch "Bedingung" bzw.

notwendiges Merkmal der Wahrheit, daß prinzipiell Übereinstimmung

über sie erzielt werden kann. Jedoch besagt diese Konsensfähigkeit

nicht im geringsten, daß historisch unter allen Menschen oder auch nur

unter allen Wahrheitsliebenden ein Konsens über alle Wahrheit erzielt

wenden kann. Darüber noch mehr im Rahmen unserer Diskussion des

"Dogmatismus-Problems".

3. Als Wahrheitskriterium kann der Konsens vieler überhaupt nicht

dienen. Denn die Vielen stimmen sehr häufig gerade im Irrtum überein;

erst recht kann nicht das, was etwa "der moderne Mensch" (den es

faktisch gar nicht gibt, sondern der eine fiktive Größe bleibt)

353

übereinstimmend annimmt, als wahr betrachtet werden. Nicht einmal,

wenn man nur an den Konsens von Weisen denkt, bietet deren Konsens

mehr als einen gewissen u. U. starken Hinweis auf Wahrheit.

Nur dort, wo absolut feststeht, daß eine Autorität die Wahrheit

erkannte, bietet Konsens Garantie der Wahrheit. Dabei ist mit Konsens

im Unterschied zu Kohärenz gemeint, daß ein und denselben

Sachverhalt Übereinstimmung herrscht. Ausschließlich innerhalb der

Theologie, die die Hl. Schrift als Gottes unfehlbar wahres Wort

betrachtet, darf und soll der eindeutig erwiesene Konsens mit diesem

"Wort" als absolutes Kriterium für Wahrheit betrachtet werden (bzw.

in der katholischen Kirche auch der Konsens mit den Dogmen).

Jede säkularisierte Form jedoch, die den Konsens vieler oder den

Konsens mit einigen als Autoritäten geachteten Menschen für ein

letztes Wahrheitskriterium hält, ist irrig. Denn solange ein Wesen

irrtumsanfällig ist, wie jeder Mensch als solcher, kann niemals der

Konsens mit ihm als absolutes Wahrheitskriterium betrachtet werden.

Allerdings kann in begrenztem Maß auch hier (z. B. in der Historie,

wenn eine Theorie eines Historikers durch eine vertrauenerweckende

Originalquelle eines Augenzeugen bestätigt wird) der Konsensus mit

einer "Autorität" eine gewisse zuverlässige Gewähr bzw. ein Kriterium

für "wahrscheinliche" Wahrheit bieten, im Maße der echten Kompetenz

oder Vertrauenswürdigkeit eines Zeugen oder einer Autorität.

Ebenso kann, wie wiederum aus der Kriminalistik, Historie oder dem

Recht erhellt, der Konsens mehrerer oder vieler als solcher dann als

Wahrheitskriterium gelten, wenn er kaum oder gar nicht anders als

durch die Wahrheit erklärbar ist. Dies wird ja auch in der berühmten

Begebenheit von Susanne im Bade geschildert, wo der Prophet Daniel

mit Recht aus dem mangelnden Konsens des Berichtes der beiden Alten

auf Lüge schließen kann, während ihr Konsens ein Anzeichen von

Wahrheit gewesen wäre.

Wenn nämlich zwei oder mehr wirkliche oder angebliche Augenzeugen

einer Begebenheit in einer Einzelheit, über die sie sich kaum

abgesprochen haben können und eine Abhängigkeit voneinander

ausgeschlossen ist, übereinstimmen, ist Wahrheit der plausibelste

Grund dieser Übereinstimmung. Insofern ist also Konsens unter ganz

bestimmten Umständen Kriterium der Wahrheit selbst dort, wo noch

nicht von vornherein die Wahrheit der einen Seite feststeht.

Die erwähnte wesensnotwendige Tatsache hingegen, daß mit der

Erkennbarkeit der Wahrheit auch immer die prinzipielle

354

Verständigungsmöglichkeit gegeben ist, kommt als Kriterium für

Wahrheit kaum in Frage; denn, wenn nicht andere innere Kriterien

vorliegen, kann Übereinstimmung leicht auch in Irrtümern erzielt

werden und deutet als solche noch gar nicht auf Wahrheit. Die unter

zahllosen Denkern herrschende Übereinstimmung in bezug auf

Nationalsozialismus oder ein kommunistisches Glaubensbekenntnis

oder auch diejenige über ein religiöses und wahres Glaubensbekenntnis

beweist als solche nicht die Wahrheit. Nur wenn aus anderen Gründen

angenommen werden darf, daß die Übereinstimmung aus wahren und

guten Gründen erfolgte, darf diese Übereinstimmung als zusätzliche

"Wahrheitsbestätigung" begrüßt werden.

Die Evidenztheorie der Wahrheit: Abschließend sei hier nur auf die von

F. Brentano vertretene und philosophisch tiefste der falschen

Wahrheitstheorien verwiesen, die nämlich Wahrheit mit Evidenz

gleichsetzt, oder wenigstens in Evidenz das entscheidende Kriterium

der Wahrheit sieht.

1. Wenn Evidenz als Wesen der Wahrheit derart betrachtet wird, daß

Wahrsein eines Urteils nur besagen solle, daß dieses Urteil entweder

evident ist, zur Evidenz gebracht werden kann oder daß ein mit Evidenz

Urteilender so urteilen würde, dann ist diese Theorie eindeutig falsch

und stellt eine besonders gefährliche, weil subtile Untergrabung der

Wahrheit dar, dadurch daß sie das principiatum (nämlich Evidenz) zum

principium macht und dadurch überdies den Charakter von Evidenz

verfälscht. Denn die Evidenz eines Urteils meint gerade, daß ein Urteil

auf Grund seiner Wahrheit dem erkennenden Geist einleuchtend oder

gewiß erkennbar werden kann. Seine Wahrheit bedeutet beileibe nicht,

daß es evident werden kann, vielmehr eben dies Schlichte, daß es mit

einem tatsächlich bestehenden Sachverhalt übereinstimmt. Zu sagen,

wahr sein bedeute ebenso zu urteilen, wie ein mit Evidenz Urteilender

urteilen würde, verkennt sowohl das Wesen der Wahrheit als

Übereinstimmung als auch die Tatsache, daß Evidenz nur von der

Wahrheit her versenden, begründet und definiert werden kann, niemals

aber Wahrheit von der Evidenz her. Denn in dem Augenblick, wo nicht

mehr die als "Übereinstimmung" mit der Wirklichkeit verstandene

Wahrheit den Grund für die Evidenz bildet, rückt das so verkannte

Evidenzerlebnis auf die Stufe eines bloß psychologisch immanenten

Erlebnisses herab und dem Subjektivismus ist Tür und Tor geöffnet.

Evidenz wird ein subjektives Erlebnis, anstatt als jenes wesenhaft

transzendierende Erlebnis erkannt zu werden, in dem der Erkennende

355

des seinem Geist transzendenten wahren Urteils inne wird, das als wahr

von Evidenz ganz verschieden und unabhängig ist.

Es wäre näher zu zeigen, daß Brentanos Lehre darin ihre Wurzel hat,

daß Brentano die Adaequatio-Lehre verwirft, weil er die

"Übereinstimmung" zu wörtlich nimmt, so daß die Wahrheit über

fiktive oder nicht bestehende Dinge von ihm nicht mehr als adaequatio

anerkannt wird.

Es ist jedoch offenbar, daß eben immer die Wirklichkeit und die

tatsächlichen Sachverhalte Maß der Wahrheit für die mit ihnen

"übereinstimmenden" Urteile ist: die seienden Dinge sind Maß der

Wahrheit darüber, daß sie sind, die nicht Seienden Maß der Wahrheit

darüber, daß sie nicht sind. So treffen Brentanos Bedenken gar nicht

den tieferen Sinn der "adaequatio".

2. Wenn man Evidenz als verwirklichte versteht, ist sie sicher auch

nicht Voraussetzung für Wahrheit; denn jedes Urteil ist entweder wahr

oder falsch, ganz unabhängig davon, ob es von uns oder von einem

andern Menschen mit Evidenz erkannt wird oder nicht.

Brentano hat jedoch die mögliche Evidenz im Auge (ähnlich wie Peirce

die mögliche Sinneserfahrung). Dann ist es allerdings (weniger

Bedingung für Wahrheit als eher) im Wesen der Wahrheit und ihrer

Erkennbarkeit begründet, daß sie wenigstens prinzipiell zur Evidenz

gebracht Werden kann, vorausgesetzt, man versteht hier Evidenz nicht

als Einsicht, sondern als die dem jeweiligen Sachverhalt entsprechende

Form sicherer Erkenntnis. In diesem Sinn ist es zwar nicht das Wesen

von Wahrheit, wohl aber eine notwendige Folge (Implikation) eines

wahren Urteils, daß ein mit Evidenz Urteilender es fällen würde.

3. Als Kriterium für Wahrheit ist Evidenz allerdings das höchste und

grundlegendste. Alle anderen Wahrheitskriterien, die wir diskutierten,

führen jeweils von mittelbarer auf unmittelbare Evidenz im Sinne einer

"Wahrnehmung" von Tatsachen oder im Sinne des "Einsehens letztlich

gegebener Zusammenhänge" zurück. Wenn auch die Evidenz (vor

allem die der Sinne) sekundär durch andere Kriterien (z. B. Kohärenz

mit bereits als wahr erkannten Urteilen) zusätzlich "bestätigt" werden

kann, so bedarf sie — wenigstens bei tatsächlicher unmittelbarer

Evidenz — solcher Bestätigung keineswegs notwendig, während alle

anderen Kriterien ihrerseits der Evidenz als Grundlage notwendig

bedürfen.

356

Da auf die Frage des "inneren" Kriteriums für Wahrheit innerhalb

dieses Anhangs noch verschiedentlich eingegangen werden wird, kann

diese kurze Diskussion hier abgebrochen werden.

Über Möglichkeit und Bedeutung "absolut gewisser"

Erkenntnis, Antwort auf Einwände

Auch sollte ein von verschiedenen thomistischen Autoren erhobener

Einwand gegen ein Grundanliegen dieses Buches eingehend untersucht

werden: nämlich den Versuch, eine absolut gewisse menschliche

Erkenntnis zu begründen. Gegen ein solches Streben nach absolut

gewisser Erkenntnis wird geltend gemacht, daß es sich auf etwas dem

Menschen prinzipiell Verwehrtes, auf eine "übermenschliche

Weisheit" richte und daher der Hybris entspringe; daß es ferner zum

Subjektivismus führe, wie wir ihn in der Folge von Descartes in der

Neueren Philosophie feststellen; und daß schließlich ein solches

Streben kein klassisches und wichtiges, sondern ein der Antike und

dem Mittelalter kaum wichtig erscheinendes Ziel habe, das eigentlich

erst in der Neuzeit (vor allem seit Descartes) als grundlegend

angesehen wurde.

Dieser Einwand ist gewiß insofern berechtigt, als es ein falsches

Streben nach einem dem Menschen in seiner Begrenztheit verwehrten

Maß an Gewißheit gibt, von dem besessen ein Philosoph alle nicht

absolut gewisse Erkenntnis, und vor allem alles Glauben und

Vertrauen, auf denen unser Leben in vielen zentralsten Bereichen

aufgebaut ist, nicht gelten lassen will; und in einem solchen

"prometheischen" Streben nach Gewißheit übersieht man fast

unweigerlich, daß die meiste wissenschaftliche Erkenntnis (z. B. alle

historische Erkenntnis), daß sogar unsere Sinneswahrnehmung und

noch mehr unser Wissen um den Charakter und die Liebe anderer

Menschen, um nur einige Beispiele zu nennen, Elemente des

Vertrauens und Glaubens enthalten, ohne die unser Leben

unmenschlich, ja verzweiflungsvoll wäre. In ganz neuem Sinn gilt dies

für den religiösen Glauben eines Menschen, der zwar mit einer letzten

und begründeten religiösen Sicherheit, aber nicht mit philosophischer

Evidenz verbunden ist. In einem "un-menschlichen" Streben nach

rationaler Gewißheit befangen, muß man diese Bereiche des

menschlichen Lebens entweder in ihrer Bedeutung verkennen und

negieren, oder aber sie völlig umdeuten, wie Kierkegaard dies z. B.

357

Hegels allen Glauben "aufbebendem" "absolutem Wissen" mit Recht

vorwarf. Ein solches Streben nach einer schon in der Apologie des

Sokrates so tiefsinnig und ironisch bekämpften "übermenschlichen

Weisheit" entspringt in der Tat dem Hochmut und schließt ein

Verkennen der Grenzen unserer Natur ein.

Gleich pervertiert ist ein Streben nach Gewißheit, bei dem uns die

Gewißheit unserer Erkenntnis einer Wahrheit wichtiger wird als der

Inhalt und die Bedeutung einer Wahrheit und wir die von Pieper

erwähnte tiefe Einsicht von Aristoteles und Thomas v. Aquin

vergessen, daß das geringste Wissen über die höchsten Dinge mehr

wert ist als das sicherste Wissen über geringere. So wie einem

Liebenden der geringste Hinweis über die Person und Liebe des

Geliebten wichtiger ist als das sicherste Wissen über weniger wichtige

Gegenstände, so sollte im allgemeinen unser Streben primär auf die

wichtigsten Wahrheiten abzielen, wie immer sie dem Menschen

zugänglich sind, und niemals sollte uns die Gewißheit des eigenen

Erkennens wichtiger werden als der Inhalt einer Wahrheit.

Die Pervertierung des Gewißheitsstrebens wird jedoch dort am größten,

wo die Gewißheit von der Wahrheit, von der allein sie wahrhaft

begründet werden kann und ihren Wert empfängt, losgelöst wird, so

daß Gewißheit uns wichtiger wird als die Wahrheit, und die — dadurch

"unterminierte" — "Gewißheit" der Prinzipien unseres Denkens und

Handelns nicht nur von der Wahrheit "isoliert" wird, sondern an deren

Stelle tritt: "Gewißheit" als Ersatz für Wahrheit, wie dies im

vorliegenden Buch bezüglich der Kantischen Begründung von

"synthetischen Urteilen a priori" kritisiert wird.

In der Kritik all dieser Phänomene, die sicherlich die Neuzeit

weitgehend beherrschen, stimme ich dem erwähnten Einwand voll zu.

Doch kann ich mich diesem Einwand in keiner Weise anschließen,

insofern darin neben den drei erwähnten berechtigten Kritiken drei

weitere Thesen enthalten sind: nämlich

1. daß prinzipiell das ernste Bemühen um unbezweifelbare und

unfehlbar gewisse Erkenntnis (in der keine Täuschung sein kann)

verfehlt sei, weil es die menschlichen Erkenntnisgrenzen verkenne; 2.

daß die Frage der Erkenntnisgewißheit höchstens eine untergeordnete

Bedeutung habe, nicht aber eine zentrale Stellung einnehme; 3. daß das

ernsthafte Stellen der Gewißheitsfrage zum Subjektivismus führe und

daher auch historisch erst bei Descartes und innerhalb der auf ihn

folgenden (subjektivistischen) Philosophie eine zentrale Rolle spiele,

358

in der mittelalterlichen und antiken Philosophie hingegen stets eine

untergeordnete Rolle gespielt habe.

Die erste dieser Thesen wird in den Hauptteilen dieses Buches durch

den positiven Aufweis der Möglichkeit absolut gewisser Erkenntnis

indirekt kritisiert bzw. widerlegt. Im Rahmen der historischen

Hinweise über Augustinus und Bonaventura wird noch zusätzlich

einiges zu dieser These kritisch bemerkt werden.

Bezüglich der zweiten These gälte es aufzuweisen, daß wir gerade im

Maß unserer Liebe zu einer objektiven Wahrheit auch nach Gewißheit

der Erkenntnis streben und streben sollen, wo immer diese uns

geschenkt ist. Dies ist erstens und vor allem von dem Interesse an der

Wahrheit selbst gefordert; denn wir wissen ja von der Wahrheit bzw.

von deren objektivem Bestehen, an dem uns liegt, ausschließlich durch

unsere Erkenntnis und die in ihr gegründeten berechtigten Akte des

Annehmens und Glaubens. Wir können daher gar nicht am wirklichen

(sicheren) Sein und der Wahrheit interessiert sein, ohne zugleich an der

sicheren Erkenntnis derselben interessiert zu sein als dem einzigen

Fundament, auf dem unser Interesse an der Wahrheit sich als

gerechtfertigt und als auf etwas Wirkliches gerichtet erweisen kann.

Zweitens ist unser Interesse an Erkenntnisgewißheit auch deshalb

gefordert, weil die gewisse Erkenntnis der Wahrheit auch ein hohes Gut

für uns ist. In dem Maß, in dem wir es in diesem Leben erlangen

können, sollen wir wenigstens grundsätzlich danach streben; in dem

Maß, in dem es uns im jetzigen Leben nicht geschenkt ist, sollen wir,

wie Sokrates in Platons Phaidon, uns danach sehnen, nach dem Tode

diese Erkenntnisgewißheit über die höchste und umfassendste

Wahrheit zu erlangen; diese Sehnsucht, fern davon, in rationalistischem

Gegensatz zum Glauben zu stehen, ist ja auch in der christlichen

Hoffnung auf die visio beatifica enthalten und findet überdies in der

Begründetheit und "Vernünftigkeit" des Glaubens selbst schon in

diesem Leben eine gewisse Erfüllung. Drittens ist Erkenntnisgewißheit

entscheidend wichtig, weil alle Wahrscheinlichkeit und alles Glauben

stets den Boden eines unbezweifelbaren Wissens voraussetzen. Wenn

wie Sokrates in Platons Phaidon, uns danach sehnen, nach dem Tode

auch nichts im echten Sinn, d. h. begründeterweise, glauben, wie im

ersten Teil des vorliegenden Buches innerhalb der Diskussion der

"Erkenntnis im engeren Sinn" ausgeführt wurde. Was für den Glauben

gilt, gilt auch für Wahrscheinlichkeit, die gleichfalls nur auf der

Grundlage von Gewißheit möglich ist.

359

Aus dem bisher Gesagten ist bereits nicht nur die zentrale Bedeutung

der Gewißheitsfrage, sondern auch die Irrigkeit der weiteren These

offenbar, daß das ernste Streben nach natürlicher Erkenntnisgewißheit

zum Subjektivismus führe. Dies wäre höchstens dann wahr, wenn man

heimlich einen Skeptizismus voraussetzt, dem gemäß jedes Suchen

nach unbezweifelbarer Gewißheit nur zur Skepsis und zum Zweifel an

allem Erkennen führen könne und damit zum Subjektivismus. Gibt es

dagegen gewisse Erkenntnis, so führt uns die Suche nach ihr zu

sicherem Wissen um objektive Wahrheit und damit zur Überwindung

jedes Subjektivismus und zur Begründung auch allen sinnvollen

Vertrauens und Annehmens. Wie könnte aber jemand, dem an der

Wirklichkeit selbst, an der objektiven Wahrheit liegt, der Frage

gegenüber gleichgültig sein, ob es diese Wirklichkeit und Wahrheit am

Ende gar nicht gibt oder ob seine Erkenntnis derselben, durch die er

von ihr weiß, tatsächlich sicher begründet ist und damit auch eine

zuverlässige Grundlage für ein auf erkannten Gründen aufgebautes

Glauben darstellt!?

Auch im Hinblick auf seine "historische Seite" ist der diskutierte

Einwand gegen das Gewißheitsstreben unberechtigt. Es ist zwar eine

verbreitete falsche Meinung, daß erst seit Descartes und in der Neueren

Philosophie nach ihm das Gewißheitsproblem eine zentrale und, wie

man fälschlich meint, unweigerlich zum Subjektivismus führende

Rolle spiele. Doch wurde bereits im vorliegenden Buch an Hand von

einer Reihe von Augustinus-Stellen gezeigt, an welch zentraler Stelle

und wie intensiv Augustinus die Frage beschäftigt hat, ob es

unbezweifelbare Erkenntnis der Wahrheit gilt; sein in den Confessiones

beschriebener Lebensweg, seine Retractationes, sein Contra

Academicos, De Libero Arbitrio und viele andere Werke beweisen,

welch ernstes Problem der Skeptizismus für Augustinus persönlich

darstellte und wie wichtig es ihm war, zu einem allen Zweifel

überwindenden, unfehlbaren Wissen der Wahrheit zu gelangen. Auch

für Parmenides, Platon, Aristoteles (siehe spätere Ausführungen weiter

unten), Thomas v. A. und viele andere Denker der Antike und des

Mittelalters könnte man ähnliches zeigen. Hier sei nur kurz darauf

eingegangen, daß Bonaventura (wie ich in einem bald erscheinenden

Aufsatz zu zeigen suche) in einer ganz ausdrücklichen Weise, die

Descartes an Radikalität in nichts nachsteht, die Wichtigkeit einer

gewissen Erkenntnis betont. Eine solche Erkenntnis, die auf der

Objektseite durch Unveränderlichkeit und Notwendigkeit, auf der

360

Subjektseite aber durch unfehlbare Gewißheit (infallibilitas)

ausgezeichnet ist, gehört sogar unabdingbar zum Adel der

menschlichen Erkenntnis (nobilitas cognitionis) und zur Würde des

Erkennenden (dignitas cognoscentis). Es würde einen wichtigen

systematischen und historischen Beitrag zur Fortsetzung dieses Buches

darstellen nachzuweisen, daß bei Bonaventura (und bereits bei

Augustinus) nicht nur die im vorliegenden Buch besonders

hervorgehobenen Merkmale apriorischer Wesenserkenntnis

(Wesensnotwendigkeit, lückenlose Allgemeinheit, hohe Intelligibilität

und absolute Gewißheit), sondern noch weitere die Eigenart dieser

Erkenntnis und ihres Gegenstandes sehr erhellende Momente

aufgewiesen werden. Hier seien nur die wichtigsten Merkmale der

gewissen Erkenntnis notwendiger Wesensgesetze, wie Bonaventura sie

herausarbeitet, angeführt: ihr Gegenstand ist absolut wesensnotwendig,

so daß selbst die Allmacht Gottes eine solche Wesensnotwendigkeit

nicht ändern könnte, weil dies eine in sich absurde Un-Macht bedeuten

würde und eine absolute Unmöglichkeit ist, diese Wesensgesetze sind

unveränderlich (immutabiles); und, daraus erwachsend, ewig bzw.

zeitlos (aeternae, interminabiles); und dies wiederum nicht bloß

faktisch, sondern im Sinne wesenhafter Unzerstörbarkeit und

Unvergänglichkeit.

Daß diese Merkmale den "Dingen selbst" zukommen und nicht bloß

auf eine subjektive Denknotwendigkeit oder Setzung zurückgehen,

erweist sich besonders deutlich durch weitere Kennzeichen dieser

Erkenntnis bzw. ihres Gegenstandes, der notwendigen Wahrheiten

bzw. Wesenssachverhalte:

durch die luminositas (hohe Intelligibilität), kraft deren der Gegenstand

solcher gewissen Erkenntnis dem rationalen Geist als "einsichtig", als

"selbst-evident" einstrahlt. Damit hängt wieder die Unbeurteilbarkeit

dieser Gesetze als letzte Quelle unserer objektiven Gewißheit

zusammen. Diese "iniudicabilitas" meint nach Augustinus und

Bonaventura zunächst, daß diese Gesetze, um in ihrer Gültigkeit und

Objektivität erkannt zu werden, keinerlei außer ihnen liegenden

Kriteriums bedürfen. Sie sind wegen ihrer unzurückführbaren Evidenz

keines Beweises fähig oder bedürftig; die sie erfassende Erkenntnis ist

deshalb wesenhaft unmittelbar in dem Sinne, daß ihr Gegenstand nicht

durch das Medium irgendwelcher anderer Gegenstände erkannt oder an

ihnen bemessen und beurteilt werden kann. Da es nichts sicherer

Erkanntes gibt, können wir unsere Erkenntnis und Anerkennung dieser

361

notwendigen Wahrheiten nicht nach "irgendetwas anderem" richten,

sondern diese "richten" von sich aus unseren Geist, weisen unsere

Erkenntnis als "richtig" aus, sind die Quelle aller Richtigkeit unseres

Denkens. Wir können ihr Licht an nichts anderem, sondern nur unsere

Erkenntnis an ihrem selbst-evidenten Licht beurteilen; unser an sich

fehlbares Denken ist "ihrem Richtspruch" gemäß wahr oder falsch.

Eine zweite Bedeutung dieser "iniudicabilitas" muß hier unerwähnt

bleiben.

Mit der "iniudicabilitas" hängt ein weiteres Merkmal dieser Erkenntnis

zusammen, in dem uns die objektive Wahrheit des in ihr Erkannten

verbürgt wird, nämlich ihre Unbezweifelbarkeit (indubitabilitas), ja

ihre unfehlbare Gewißheit (infallibilitas), wie Bonaventura betont. In

diesem doppelten Sinn war auch im vorliegenden Buch von "absoluter

Gewißheit" die Rede: als Zweifel ausschließend und als Irrtum

ausschließend. Bonaventura fügt in diesem Zusammenhang hinzu, daß

weder die veränderlichen Dinge noch der veränderliche Geist als

solche, sondern nur die notwendigen und unveränderlichen "rationes"

(Ideen, Wesenheiten, Wesensgesetzlichkeiten, Wesenspläne) der

Dinge unserem Geist diese unfehlbare und absolut unbezweifelbare

Erkenntnis zu spenden vermögen. Ganz in dem in diesem Buch

intendierten Sinn führt Bonaventura die Transzendenz dieser

notwendigen Wesensgesetze als von unserem Geist und den

veränderlichen Dingen unabhängig, als von unserem Geist

vorgefundene "lux et veritas infallibilis" aus, die in einem rezeptiven

Erkenntnisakt erfaßt wird. Betonter als bei Augustinus und im

Gegensatz zu Descartes hängt nach Bonaventura nicht nur die Evidenz

der Sinne, sondern auch die der eigenen Erkenntnis im Cogito in

bestimmtem Sinne von der Erkenntnis dieser notwendigen,

unveränderlichen Wahrheiten ab. Darin liegt eine wichtige

systematische Ergänzung zu den Ausführungen des vorliegenden

Buches: daß nämlich die Evidenz des eigenen Seins nicht neben

derjenigen notwendiger Wesensgesetze steht, sondern der letzteren als

der Erkenntnis der "rationes aeternae" zu verdanken ist. Denn wie

könnten wir auch nur mit Gewißheit erkennen, daß wir existieren, wenn

wir dies nicht "im Licht" der unveränderlichen Gesetze des

Widerspruchs, des notwendigen Vorausgesetztseins eines Subjekts für

jeden Akt etc., also "im Licht ewiger Wahrheiten", verstünden. Daß die

Gewißheit der Erkenntnis unseres eigenen Seins durch keinen Zweifel

erschüttert werden kann, erkennen wir also auf Grund der ("logisch",

362

wenn auch nicht notwendig zeitlich) primären Erkenntnis notwendiger

Wesenszusammenhänge. So ist die Erkenntnis notwendiger

Wesenszusammenhänge selbst uns durch unbezweifelbare und

unfehlbare Gewißheit als objektiv verbürgt und Anfang aller übrigen

Gewißheit.

Erkenntnis, Apriori und Erfahrung

Im Gegensatz zu Thomas v. Aquin lehrt Bonaventura dabei, daß eine

direkte Berührung zwischen erkennendem menschlichem Geist und

"ewigen Ideen" stattfindet, obwohl er gleichzeitig stärker als

Augustinus und im Anschluß an Aristoteles betont, daß das "alleinige

Licht

dieser ewigen Wesengsgesetze" ("Ideen in Gottes Geist") nicht — als

unmittelbar Geschautes — sich selbst genügende Grundlage sicherer

menschlicher Erkenntnis ist, sondern daß dieses "Licht durch

Sinneserkenntnis, Abstraktion und Erfahrung "vermittelt" werden muß:

oder noch genauer, Bonaventura weist tiefsinnig auf, daß diese Gesetze

uns in der Erfahrung der Dinge "mitgegeben" sind; sie werden also im

strengen Sinn der Fachterminologie Bonaventuras nicht eingesehen

(intuitae), sondern mitgesehen (contuitae), ein bemerkenswerter

Beitrag zu der im vorliegenden Buch entwickelten Problematik der

"Soseinserfahrung". Hier sei noch erwähnt, daß ich bald als

Fortführung dieses Buches in einer Arbeit über Gottesbeweise eine

eingehendere Untersuchung des "Erfahrungsbegriffes" vorlegen werde,

sowohl der verschiedenen Bedeutungen von "Daseinserfahrung" (z. B.

empirische Wahrnehmung eines Daseienden, wiederholte Beobachtung

eines Daseienden plus induktiver Erkenntnis seiner

Soseinseigenschaften, absolut gewisse Daseinserfahrung im Cogito)

als auch ihrer verschiedenen Rolle für die "Soseinserfahrung"

notwendiger Wesenszusammenhänge. Vor allem angesichts

grundlegender metaphysischer Probleme (vornehmlich der

philosophischen Gottesbeweise) ist ferner eine eingehende

Untersuchung der verschiedenen Dimensionen und Perfektionen der

"Soseinserfahrung" notwendiger Wesenheiten erforderlich: Tiefe,

Vollständigkeit, Unmittelbarkeit, Klarheit, Positivität sowie deren

Gegenteil (etwa Unvollständigkeit, Mittelbarkeit, Erfahrung durch

Gegenteil = negative Erfahrung) werden u. a. in der erwähnten Arbeit

näher untersucht werden. Auch der Unterschied zwischen einer

363

"Soseinserfahrung" im Sinne des reinen "Kennenlernens" einer

notwendigen Wesenheit und einer Erfahrung des in einem Fall

existierenden (oder vorstellbaren) ,Soseins" wird dort klarer gemacht

werden.

In der Einleitung zu meinem Buch Leib und Seele. Ein Beitrag zur

philosophischen Anthropologie (Salzburg 1974) finden sich einige

Ausführungen zu dem weiteren Problem, inwieferne intelligible, doch

nicht notwendige Soseinseinheiten und ihre Erfahrung Ausgangspunkt

philosophischer Analysen werden können. Zum Problem der

"negativen Erfahrung" machte William Marra in seinem Aufsatz

"Creative Negation" (in: Wahrheit, Wert und Sein, hrsg. v. B. Schwarz,

Regensburg 1970) sehr bemerkenswerte Beiträge.

Weitere wichtige Beiträge Bonaventuras — vor allem im Itinerarium

—, die die Beziehung zwischen Erkenntnisgewißheit und Erinnerung

betreffen, ein von Descartes gesehenes und nur unzureichend gelöstes

Problem, können hier bloß angedeutet werden. Bonaventura zeigt

überzeugend, daß es sich nicht um ein blindes Vertrauen auf das

Gedächtnis handelt, wenn wir auf in der Vergangenheit gewonnenen

Einsichten weiterbauen, deren gegenwärtige Erinnerung nur durch

Gottes Wahrhaftigkeit gerechtfertigt werden könne, so daß volle

Evidenz und Gewißheit nur dem je augenblicklichen evidenten

Erkennen zukomme. Er weist nach, daß diese Gesetze, wie sie dem

Intellekt des sie erst Erkennenden (intellectui apprehendentis)

unfehlbar und Unbezweifelbar sind, so auch unauslöschbar

(indelebiles) dem Gedächtnis des sich Erinnernden (memoria

recolentis) eingeprägt und dem Geist gleichsam immer gegenwärtig

sind; ihr Licht ist, wenn auch gewöhnlich nicht thematisch, doch dem

in der Gegenwart Erkennenden präsent, nicht wie etwas dem

Gedächtnis blind Geglaubtes, sondern "tanquam semper praesentes".

Damit ist außer der veracitas Dei der letzte Gewißheitsgrund unserer

Erinnerung auch der ständigen Gegenwart dieser Wahrheiten vor

unserem Geist zu verdanken, so daß wir ihrer einerseits ständig in

überaktueller Weise sicher sind und andererseits wissen, daß wir uns

ihrer jeden Augenblick aktuell versichern können. Innerhalb unserer

Auseinandersetzung mit Stegmüller werden wir auf dieses Problem in

diesem Nachwort noch einmal zurückkommen.

Als Fortführung des dritten Kapitels, II. Teil, dieses Buches wäre auch

der von Augustinus und Bonaventura gebrachte Aufweis eines weiteren

Merkmals der Wesensgesetze, ihrer "incoarctabilitas", wichtig. Damit

364

ist ihre Unabhängigkeit von Raum und Zeit, ihre Gegenwart "vor" dem

Geist jedes Menschen aller Zeiten gemeint, worin sich ihre

Transzendenz sowohl gegenüber dem konkret-individuellen Wesen der

Einzeldinge als auch gegenüber dem menschlichen Geist manifestiert.

Auch zeigt die "incoarctabilitas" dieser Gesetze, daß sie nicht von der

(Soseins-)Erfahrung der Einzeldinge in dem Sinn abhängen, daß die

Gewißheit, mit der wir sie erfassen, von der Gewißheit unserer

Erkenntnis des konkret-existierenden Soseins der Einzeldinge

abhängen würde, was, wie früher ausgeführt, widersprüchlich wäre,

sondern in einer eigenen Erfahrung des "reinen, idealen" Soseins

kennengelernt werden. Nur so ist letztlich die Tatsache verständlich,

daß diese Wesensgesetze und die Wahrheiten über sie nicht "deine" und

"meine" sind und auch nicht vom aktuellen "Sosein" der Dinge in Raum

und Zeit abhängen, sondern allgemein sind und sich jedem

erkennenden Menschen als "dieselben" Gesetze zeigen, die

"selbst-evident" sind. Sie müssen also etwas sowohl unserem Geist als

auch den Einzeldingen gegenüber Transzendentes, Ungeschaffenes

sein. Auf sie, und nicht auf das individuelle Sosein der Einzeldinge,

bezieht sich die Soseinerfahrung, von der philosophische Erkenntnis

ausgeht. Es ist im Rahmen dieses Anhangs unmöglich, diese Lehre

weiter zu verfolgen, die das im vorliegenden Buch Gesagte weiter

klären und außerdem bei einer absolut gewissen Erkenntnis sei eine erst

in der Moderne aufgekommene und mit einem Subjektivismus

verbundene, nicht bloß in sachlicher, sondern auch in historischer

Hinsicht falsch ist.

Ewige Wahrheiten und ewige Wahrheit (Gott)

Es muß auch erwähnt werden, daß ein entscheidendes metaphysisches

Problem, das mit der in diesem Buch dargelegten idealen Existenz

notwendiger Wesenheiten und ewiger Wahrheiten verknüpft ist, bei

Augustinus und Bonaventura eine tiefsinnige Behandlung erfährt: es

geht um die Frage, wie solche "ewige Wahrheiten" oder "ideale

Wesenheiten" mit dem absoluten, göttlichen Sein vereinbar sind, ohne

daß man die Absolutheit Gottes im Sinne des platonischen Demiurgen,

der auf von ihm unabhängige "Ideen" blickt, beeinträchtigt. In der

berühmten Quaestio XLVI De Ideis hat Augustinus, und im Anschluß

an ihn Bonaventura, Wesentliches zur Beantwortung dieser im

Mittelalter eingehend diskutierten metaphysischen Frage beigetragen.

365

Augustinus und Bonaventura haben die unleugbare Gegebenheit

"idealer Wesenheiten" und ewiger Wahrheiten klar gesehen und

andererseits jede platonische oder neuplatonische Infragestellung der

Absolutheit des göttlichen Seins vermieden. Es kann sich bei der

Erklärung der "Einheit" dieser beiden Wahrheiten nur um einen

spekulativen Versuch der Klärung handeln, in welcher Richtung die

Lösung der "aporetischen Beziehung" zwischen den beiden eindeutig

und klar erkennbaren Wahrheiten (ewige Wahrheiten und Absolutheit

Gottes) liegt. Vgl. dazu das unten noch über Aporien, Antinomien und

Paradoxien Gesagte.

In diesem Buch nicht gehandelte Ausgangspunkte für "absolut

gewisse" Erkenntnis

Ein anderer wichtiger Beitrag zur Fortführung der in diesem Buch

vorliegenden Ausführungen bestünde in der Untersuchung von

Ausgangspuckten für absolut gewisse Erkenntnis, die von den in

diesem Buch behandelten verschieden sind. Eine solche Analyse würde

erstens zeigen, daß es neben der realen Existenz der eigenen (und damit

einer) Person und neben notwendigen Wesenszusammenhängen noch

andere absolut gewisse Gegebenheiten gilt; und zweitens, daß man den

archimedischen Punkt absolut gewisser Wesensgesetze nicht bloß in

der Analyse des im Irren oder sich Täuschen Gegebenen, sondern auch

von anderen, zum Teil noch grundlegenderen Sachverhalten her

gewinnen kann.

Mit Augustinus (Soliloquia), Bonaventura (bes. Quaestiones

Disputatue De Mysterio Trinitatis) und Bolzano (Wissenschaftslehre)

gälte es, in diesem Bestreben zunächst das notwendige Sein der

Wahrheit als einen elementaren evidenten Ausgangspunkt für sichere

Erkenntnis aufzuweisen. Dabei wäre zu zeigen, daß, obwohl die

Urteils-Wahrheit in einer adaequatio intellectus et rei besteht (dem

Zusammentreffen der urteilsmäßigen Setzung mit dem Selbstverhalten

des — behaupteten — Sachverhaltes), die den vom Menschen gefällten

Urteilen zukommende Wahrheit dennoch unmöglich als etwas zeitlich

Entstehendes oder Vergehendes gefaßt werden kann. Vielmehr gibt es

die unsere Urteile wahr machende Wahrheit notwendig und daher kann

diese Wahrheit unmöglich durch unser Urteilen erst in Existenz treten.

Das nicht-Sein von Wahrheit ist in sich unmöglich, was besonders klar

darin hervortritt, daß es ja auch über nicht-Seiendes Wahrheit gibt (z.

366

B. daß es eben nicht ist) und die Annahme des nicht-Seins von

Wahrheit in sich widersprüchlich ist, da es ja auch bei dieser Annahme

wahr wäre, daß es keine Wahrheit gibt. Daß es sich bei dieser

augustinischen Argumentation und bei entsprechenden späteren

Argumentationen (z. B. bei Bolzano) um keinen Sophismus handelt,

sondern um eine tief ins Wesen der Wirklichkeit und Wahrheit

hineinleuchtende Tatsache der Evidenz, "daß es Wahrheit gilt",

versuche ich in einem demnächst im Münchener Jahrbuch für

Philosophie erscheinenden Artikel "Bonaventuras Interpretation der

augustinischen These vom notwendigen Sein der Wahrheit" zu zeigen.

Ferner wäre der z. B. von Leibniz und Scheler als evidentester

Ausgangspunkt für die Erkenntnis betrachtete Sachverhalt, "daß es

überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts", eingehend zu

behandeln. Auch hier liegt ein in vielfältigem Sinn entfaltbares

urevidentes Urteil (bzw. mehrere solche Urteile und entsprechende

Sachverhalte) vor: sowohl die sich auf "Sein" im weitesten Sinn (also

auch z. B. ideal Seiendes einschließend) als auch die sich auf real

existierendes Sein im engeren Sinn beziehende Tatsache, "daß es

überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts", ist urevident und in

jeder anderen evidenten Erkenntnis "mitgegeben".

Auch die ersten metaphysischen Seinsprinzipien sowie das "Sein" im

weitesten Sinn als ihre Grundlage, bilden einen grundlegendsten

evidenten Ausgangspunkt für absolut gewisse Erkenntnis: das

Identitätsprinzip, das Widerspruchsprinzip, das Prinzip vom

ausgeschlossenen Dritten (das gegenüber den Einwänden moderner

mehrwertiger Logiker weiter zu klären wäre) oder das Prinzip vom

zureichenden Grunde sind in noch fundamentalerem Sinn als die auf

ihnen aufbauenden entsprechenden Obersten Logischen Gesetze von

absolut unbezweifelbarer, unfehlbarer Gewißheit. Aristoteles wählt im

Buch Gamma seiner Metaphysik das Widerspruchsprinzip als ein

solches selbst-evidentes grundlegendstes Prinzip, das jede Skepsis

widerlegt und von jeder These eines Skeptikers unweigerlich

vorausgesetzt wird; das vor allem in seiner objektiven Wahrheit mit

Gewißheit erkannt werden kann. Augustinus zeigt auch (in: Contra

Academicos), daß nicht nur jede These, sondern auch jeder Zweifel das

Widerspruchsprinzip notwendig voraussetzt, da ich ja nur zweifeln

kann, wenn ich weiß, daß ein Sachverhalt nur entweder bestehen oder

nicht bestehen kann. Bei Bonaventura und vielen anderen

mittelalterlichen Philosophen wurde das Widerspruchsprinzip als ein

367

absolut grundlegendes selbst-evidentes Prinzip näher erklärt, als ein so

elementar evidenter Sachverhalt, daß kein Denkakt möglich ist, ohne

daß (wenigstens stillschweigend) die Wahrheit dieses Prinzips erfaßt

wird. In jüngster Zeit wurde das Widerspruchsprinzip (vor allem in

logischer Fassung) in E. Husserls Logischen Untersuchungen

gegenüber seinen psychologistischen und relativistischen

Fehlinterpretationen neu in seinem objektiven Charakter

herausgearbeitet. Bei B. Schwarz in Der Irrtum in der Philosophie wird

diese Analyse durch ihre Anwendung auf die Irrtumsproblematik

weiter geklärt; auch in A. Pfänders Logik finden wir eine besonders

bemerkenswerte Darstellung der Evidenz sowohl des

Widerspruchsprinzips im logischen wie des es fundierenden

Widerspruchsprinzips im ontologischen Sinn. In einer wesentlich über

Husserl hinausgehenden und den späteren

transzerdentalsubjektivistischen Standpunkt Husserls (und der von

Maréchal beeinflußten Neuthomistischen Schule) glänzend

kritisierenden Darstellung des Widerspruchsprinzips hat W. Hoeres in

Kritik der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie gegenüber

dem "Transzendentalen Relativismus" die objektive, unserem Geist

transzendente Notwendigkeit und Gültigkeit des Widerspruchsprinzips

als eines letztevidenten Prinzips erwiesen. In diesem Zusammenhang

sei auch auf den Beitrag von J. Crosby in der Festschrift für B. Schwarz:

Rehabilitierung der Philosophie (hrsg. von D. v. Hildebrand,

Regensburg 1974, S. 108 ff.) hingewiesen, in dem eine weitere Klärung

der "objektiven Evidenz" des Widerspruchsprinzips als eines

selbst-evidenten Seinsgesetzes, an dem jeder Skeptizismus und

Relativismus scheitert, vorgenommen wird. In seiner letzten Evidenz

und in seinem absolut grundlegenden Charakter für alles Sein und alle

Wahrheit (und die gesamte Logik) eignet sich das Widerspruchsprinzip

in der Tat in besonderer Weise als Ausgangspunkt für den Aufweis

absolut gewisser Erkenntnis objektiver Wahrheit und Wirklichkeit.

Auch von dem noch so radikal Zweifelnden wird dieses Prinzip als

"Bedingung der Möglichkeit" solchen Zweifels miterfaßt; vor allem

jedoch kann es als objektives, unserem Geist transzendentes

Wesensgesetz für alles Seiende vom Zweifelnden mit Evidenz erkannt

werden. Ohne daß die Wahrheit des Widerspruchsprinzips wenigstens

implizit erfaßt (und jedenfalls vorausgesetzt) wird, könnte selbst der

radikalste Zweifel nicht zustandekommen.

368

Ein anderer möglicher Ausgangspunkt für absolut gewisse Erkenntnis

betrifft wiederum das "Sein", doch nicht in dem allgemeinsten Sinn

genommen, in dem die ersten metaphysischen Prinzipien in ihm

gründen, auch nicht in dem Sinne, "daß es überhaupt etwas gibt und

nicht vielmehr nichts", sondern vielmehr im Sinne des "to³ o·ntvw o¹n",

des "Seins im eigentlichsten, vollsten Sinn". Dabei ist noch nicht das

absolute, vollkommenste Sein gemeint, sondern vielmehr jene

Dimension oder jener "Kern" der Wirklichkeit, der im

hervorragendsten Sinn als "Sein" bezeichnet werden kann. Daß dieses

"wahrhaft Seiende" und auch die mit ihm verknüpften elementarsten

Unterschiede innerhalb der Wirklichkeit von elementarer Evidenz

seien, wurde in vielen Formen vertreten. Hier wäre die Platonische

These, die "Ideen" wären das "wirklich Wirkliche", die Aristotelische,

dies sei die "Substanz", die von Augustinus, Kierkegaard oder D. v.

Hildebrand vertretene These, das "eigentlich Seiende" sei die Person,

und andere Thesen zu diskutieren und dabei jeweils die Frage zu

stellen, ob es bei diesem "eigentlich Seienden" auch um eine

letzt-evidente, mit Gewißheit erkennbare "metaphysische

Grundtatsache" gehe. Hier sei nur auf eine Schule hingewiesen, die am

ehesten ihre These über das "Sein" im eigentlichsten Sinn mit dem

Anspruch auf erste Evidenz verbindet: auf den sogenannten

"existentiellen Thomismus", wie er insbesondere von E. Gilson

vertreten wird. In diesem Sinn erhebt Gilson in seinem Buch Being and

Some Philosophers, in einer langen arabisch-scholastischen Tradition

stehend, zunächst "das Sein" auf die Stelle des erst erkannten und

evidentesten Gegenstands der Erkenntnis. Dabei geht er gleich dazu

über, damit auch den elementaren Unterschied zwischen möglichem

Seienden (das er als "Seiendes minus Existenz" faßt) und wirklichem

Seienden, bzw. den Unterschied zwischen Wesen und Existenz, als

evidenten aufzuweisen, indem er ausdrücklich an ein unmittelbares

"Einsehen" (Sehen) appelliert und die Rolle des Philosophen als eines

Menschen beschreibt, der auffordert, in eine bestimmte Richtung zu

blicken und es dem Partner überläßt, zu sehen — oder zu übersehen. In

der Tat ist hier der Bezug zur Einsicht am Platz, denn der Unterschied

zwischen Wesen und Existenz (und zwischen möglichem und

wirklichem Sein) zeichnet sich durch eine unzurückführbare

Einsichtigkeit aus und kann ausschließlich mit Hilfe von Einsicht erfaßt

werden. Auch ist dieser Unterschied so elementar, daß er tatsächlich in

fast allen Formen des Zweifels, sicher im si fallor, sum und der

369

Erkenntnis der eigenen Person mit-erkannt wird oder sogar (implizit)

vorher erkannt sein muß. Die Eigenart "dessen, was" wir dabei mit

"Existenz" meinen und vom Wesen eines Seienden unterscheiden,

diese Gegebenheit von zentralster Bedeutung, welche den Unterschied

zwischen wirklicher Welt und "Welt" als bloße Möglichkeit ausmacht,

wird dabei miterfaßt. Auch ist es gewiß evident, daß dieses Existieren,

dieses "to be" oder "esse" einen einzigartig hervorgehobenen Platz

innerhalb dessen einnimmt, was wir als "Sein" im eigentlichen Sinn

bezeichnen, wie Gilson im Anschluß an Thomas v. A. vertritt. In einer

eingehenden Auseinandersetzung und einer Würdigung des Buches

Gilsons sowie der thomasischen und thomistischen Metaphysik wird in

meiner Arbeit Essence and Existence (1976) dieses "esse" (bzw.

Existenz) in seiner Verschiedenheit vom und Beziehung zum Wesen

eines Seienden untersucht werden. Es handelt sich dabei ohne Zweifel

um einen der schwerst zu analysierenden und zugleich elementarsten

Unterschiede, um etwas, was "jedes Kind" "kennt" und zugleich um

etwas, was wir kaum zur vollen Klarheit begrifflichen und

philosophischen Erfassens zu bringen vermögen; in ähnlicher Weise ist

auch die in noch viel eigentlicherem Sinn "das Sein" im vorzüglichen

Sinn ausmachende Gegebenheit individuell-einzigartiger Existenz, wie

wir sie nur innerhalb des personalen Seins finden, philosophisch kaum

zu fassen und durch das Medium von Begriffen auszudrücken.

Zugleich ist Existenz und auch personaleinzigartige Existenz eine

elementarste Urgegebenheit. In den in diesem Buch dargelegten

Einsichten in die Existenz des denkenden Subjekts, den

Auseinandersetzungen mit dem späten Husserl und mit dem Vorwurf

des Platonismus haben wir das "Sein" als Existenz stets miterkannt und

"vorausgesetzt" als eine elementare, jederzeit zu philosophischer "prise

de conscience" erhebbare Urgegebenheit. An manchen Stellen des

Buches ist ausdrücklich von diesem Unterschied und seiner Bedeutung

die Rede, ohne daß dabei hinreichend auf seine zentrale Rolle

eingegangen werden konnte.

In der näheren Analyse dieser Themen wird vor allem zu zeigen sein,

daß Gilson — unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Kant — zwar

völlig im Recht ist, wenn er hervorhebt, daß sich "Existenz" von allen

Wesensprädikaten eines Seienden grundsätzlich unterscheidet und

auch daß Existenz — als individuelle Existenz, als konkrete Existenz

eines Seienden — begrifflich nicht faßbar ist (ähnlich wie es wegen des

"ineffablen" Charakters eines Individuums unmöglich ist, durch einen

370

Allgemeinbegriff auf sein individuelles Sein als solches hinzuweisen;

nur durch ein "Zeigen" oder einen Namen oder in einem besonderen

Wahrnehmen oder Erfassen eines Individuums können wir auf dieses

abzielen, dieses zum Gegenstand eines intentional-geistigen Aktes

machen). Aber zugleich wäre zu zeigen, daß sowohl Kant als auch

Gilson übersehen, daß Existenz, wenn auch gewiß kein

Wesensprädikat, doch ein ungeheuer reales Prädikat eines Seienden ist,

ein "Existenzprädikat"! Da Gilson gerade die Existenz als "das Sein"

bezeichnet, ist es unfaßbar, daß er mit Kant sagen kann, zwischen

hundert bloß vorgestellten und hundert wirklichen Talern bestehe kein

einziger in einem Prädikat angebbarer Unterschied und kein

Unterschied an Vollkommenheit; daß diese bis in die Gegenwart

(Malcolm, Hartshorne u. a.) die Diskussion des anselmischen

Gottesbeweises bestimmende These Kants falsch ist, sieht man leicht,

wenn man sich die Tatsache klarmacht, daß zwischen einem bloß

möglichen und einem wirklichen Gegenstand nicht "gar kein

Unterschied" besteht, sondern vielmehr ein radikaler, "sämtliche

Wesensprädikate" mitumfassender Unterschied. Solange man

dieselben Wesensprädikate auf wirkliche Gegenstände einerseits und

auf bloß mögliche andererseits anwendet, bewegt man sich in einer

"existentialen" Äquivokation. Der scharfe Verstand oder die sittlichen

Qualitäten eines bloß möglichen Menschen und die eines wirklichen

Menschen sind durch "eine Welt" verschieden. Und in der Tat haben

wir in allen Sprachen Begriffe wie Existieren, Werden etc., durch die

wir auf den radikalen Unterschied der bloß möglichen Welt "vor" und

der wirklichen Welt "nach" der Schöpfung hinweisen können.

Und dies ist so, obwohl die mit Existenz bezeichnete Gegebenheit sich

—jedenfalls in allen kontingenten Seienden — von allen essentiellen

Prädikaten unterscheidet; damit ist sie aber nicht weniger ein reales

Prädikat.

Ferner: wenn auch kein Allgemeinbegriff als solcher die individuelle

Existenz zu treffen vermag und überdies kein Wesensbegriff die

allgemeine Eigenart von Existenz, wo immer sie vorkommt,

ausdrücken kann, so kann man doch begrifflich die allgemeine Struktur

dessen, was es heißt zu existieren, analysieren; der Begriff "Existenz"

selber sowie ihm verwandte Begriffe dienen dazu. Eine solche

begriffliche Analyse von "Existenz" versucht ja Gilson selber, obgleich

er — auf Grund mangelnder Unterscheidung der eben erwähnten

verschiedenen Dinge — diese Möglichkeit ausdrücklich leugnet. Auf

371

diesen Widerspruch in seinen Äußerungen haben mit Recht einige

seiner Kritiker (wie L.-M. Régis) hingewiesen.

In einer Abhandlung Essence and Existence (1976) habe ich eine dieses

Buch ergänzende Untersuchung über Existenz und ihre Erkennbarkeit

durchgeführt, u. a. um die Diskussion des ontologischen Arguments bei

Kant, Malcolm, Hartshorne, Findlay u. a. kritisch zu würdigen. Die

Erfassung der allgemeinen "Eigenart" oder des "Wesens" von Existenz

im Sinne nicht des "Soseins", sondern dessen, "was 'existieren' heißt",

unterscheidet sich jedoch von aller sonstigen Wesensanalyse; darauf so

nachdrücklich hingewiesen zu haben, stellt ein großes Verdienst

Gilsons darf.368

Die oben erwähnte Untersuchung über "Existenz" und über den

Unterschied zwischen Sosein und Existenz als einen letztevidenten

Unterschied wird somit auch einen prinzipiell neuartigen Beitrag zur

Fortführung dieses Buches darstellen. Das Erfassen dessen, was

"Existenz" ist, richtet sich auf einen von sonstigen Wesenheiten und

Wesensgesetzen, wie sie in diesem Buch behandelt wurden, ganz

verschiedenen "Gegenstand" im weitesten Sinn des Wortes. Auch die

von einer allgemeinen Analyse dessen, was "Existenz" heißt, ganz

verschiedene Erkenntnis eines hic et nunc existierenden Seienden,

dessen Existenz durch keinen allgemeinen Begriff faßbar ist als

individuelle, wird dort näher dargelegt werden; dabei wird kritisch zu

prüfen sein, ob Gilsons Meinung, die Existenz werde nur im "Urteilen"

erfaßt, der Wirklichkeit entspricht. Es gilt zu zeigen, daß eine solche

Existenz-Erkenntnis, wie sie in diesem Buch eine entscheidende Rolle

spielte bei der Erkenntnis der Existenz der eigenen Person und der

realen Außenwelt, auf eine einzigartige Erfahrung im

Vollzugsbewußtsein bzw. auf Wahrnehmung zurückgeht, die sich

wesenhaft auf Einzeldinge (existierende Dinge) richtet; im Gegensatz

zur thomistischen These, nur Allgemeines könne Gegenstand des

Intellekts (Verstehens) sein, ist, Duns Scotus folgend, m. E. überdies

die Tatsache eines intellektuellen Begreifens des Individuums als

Individuum in seiner ineffablen Eigenart herauszuarbeiten, wie es jeder

368 Allerdings sieht Gilson dabei die gleichermaßen zentrale Rolle des

"Wesens" eines Seienden nicht, das ja seinerseits (als Wesen einer Person

eines Staubkorns etc.) die Existenz und deren ganze Würde und Eigenart

"bestimmt". Insofern muß das "eigentlich Seiende" nicht in "Existenz als

solcher", sondern in der "Einheit aus Wesen und Existenz" erkannt werden.

372

Liebe zugrundeliegt, worauf wieder Duns Scotus tiefsinnig

hingewiesen hat.

Ein anderer möglicher Ausgangspunkt für absolut gewisse Erkenntnis

ist die "selbst-evidente Existenz" des Absoluten, des göttlichen Seins

(quo maius nihil cogitari possit), wie Anselm von Canterbury und im

Anschluß an ihn viele andere Denker dies vertreten haben, oder aber

die Einsicht: wenn es überhaupt etwas gibt, gibt es auch ein absolutes,

ewiges, göttliches Sein. Seit Parmenides zumindest bleibt die Frage, ob

das göttlich-absolute Sein einen ersten Ausgangspunkt für absolut

gewisse Erkenntnis bilden kann, ein Grundproblem abendländischer

Philosophie. Die Behandlung dieses Problems (und eine Verteidigung

sowohl der Kontingenzbeweise als auch des Anselmischen

Gottesbeweises) ist im oben angekündigten Buch über Gottesbeweise

unternommen worden.

Daß es noch weitere mögliche Ausgangspunkte für die sichere

Erkenntnis objektiver Wahrheit gibt, sei hier nur erwähnt. Auf solche

weitere Ausgangspunkte, z. B. das, was E. Husserl eine "rein logische

Grammatik" nennt, oder die evidente Objektivität von Werten oder die

Urphänomene des sittlich Guten und Bösen, deren Evidenz M. Scheler,

D. v. Hildebrand und in jüngster Zeit wieder H.-E. Hengstenberg zu

Beginn seiner Grundlegung der Ethik (Stuttgart 1972) dargelegt haben,

und damit auch auf die Evidenz eines Sollens, kann hier bloß

hingewiesen werden. Z. T. wurde dieses Thema ja innerhalb des

vorliegenden Bedies bei der Analyse des augustinischen

cogito und im letzten Kapitel bereits behandelt. Einer dieses Buch

ergänzenden Untersuchung bedürfte auch die Frage, ob und in welchem

Sinn die Sinneswahrnehmung Ausgangspunkt absolut gewisser

Erkenntnis sein könne, worauf im ersten Teil dieses Buches nur kurz

eingegangen wurde.

Der Grund für die Vielheit möglicher Ausgangspunkte für

gewisse Erkenntnis

Daß es eine solche Breite und Vielfalt von Urgegebenheiten gibt, die in

ihrer letzten Evidenz als Ausgangspunkte unbezweifelbar gewisser

Erkenntnis dienen können, rührt von der in diesem Buch (S. 225 ff.)

bereits ausgeführten Tatsache her, daß die Wirklichkeit nicht ein

geschlossenes System ist, in dem jeder Sachverhalt nur auf der

Grundlage der Erkenntnis aller übrigen Sachverhalte erkannt werden

373

könnte. Ja, es gibt nicht einmal eine erst-evidente Wahrheit, ein

einziges wahres Urteil, das für seine Wahrheit keine andere Wahrheit

voraussetzt und so selbst Grundlage aller übrigen Wahrheiten und aller

Erkenntnis wäre; noch weniger können die grundlegendsten

Wesenssachverhalte oder die erwähnten selbst-evidenten Sachverhalte

voneinander abgeleitet werden. Vielmehr gibt es zwar grundlegendste

und weniger grundlegende selbst-evidente Sachverhalte bzw.

Wesenheiten in Hinsicht auf die "Ordnung unseres Erkennens" (so sind

etwa die ersten metaphysischen Prinzipien grundlegendste "Prinzipien"

des Erkennens), aber weder handelt es sich hier um ein einziges wahres

Urteil (vielmehr sind die ersten Seinsprinzipien schon verschiedene

gleich-evidente), noch läßt sich ein einziger "Bezirk" der Wirklichkeit

(etwa die ersten Seinsprinzipien) als absolut grundlegendster

Gegenstand sicheren Erkennens abgrenzen; vielmehr sind (neben den

ersten Seinsprinzipien) auch grundlegendste logische Sachverhalte,

unsere eigene Existenz oder die Tatsache, daß wir zu erkennen

vermögen und uns dabei entdeckend verhalten etc. in je verschiedener

Weise dermaßen grundlegend, daß wir, ohne sie zu wissen, nichts

wissen könnten. Auch können andere weniger grundlegende

Sachverhalte — wie daß allgemein "jeder Schein eine reale Person

voraussetzt" oder daß der Gegenstand des Zweifels Sachverhalte (nicht

einfach "Sachen") sind oder daß eine Frage als solche nicht wahr und

falsch sein kann — schon mit Gewißheit erkannt werden, bevor andere

grundlegendere Sachverhalte (wie die ersten metaphysischen

Prinzipien) schon ausdrücklich erkannt sind. Bei der gewissen

Erkenntnis eines Sachverhaltes haben dann andere (oft notwendig

vorausgesetzte) Sachverhalte den Charakter von stets schon implizit

mit-erkannten Tatsamen und Prinzipien; es gibt überhaupt keine

Tatsache bzw. keinen Sachverhalt, den wir erkennen könnten, ohne

dabei schon — zumindest implizit — andere Sachverhalte

mitzuerkennen. Innerhalb der ersten Seinsprinzipien sind etwa das

Identitäts- und Kontradiktionsprinzip untereinander gegenseitig

abhängig, insofern z. B. der Sachverhalt nicht bestehen kann, daß kein

Seiendes gleichzeitig im selben Sinne sein und nicht sein kann, ohne

daß zugleich die wahrhafte Identität jedes Seienden mit sich selbst

bestünde; diese zwei auseinander nicht ableitbaren Prinzipien hängen

doch notwendig zusammen; auch setzt die Erkenntnis des einen

Prinzips voraus, daß das andere jedenfalls implizit mit-erkannt ist.

Wiederum könnten wir diese Prinzipien gar nicht mit Gewißheit

374

erkennen, wüßten wir nicht gleichzeitig (wenigstens implizit), daß wir

existieren, daß wir evident erkennen können, daß unser Erkennen nicht

ein Produzieren, sondern eine entdeckende Hinnahme bzw. eine Schau

des Gegebenen ist usw.

Von daher ist zu erklären, daß es eine große Freiheit in der Wahl des

Ausgangspunktes gibt, den wir aus dem Gefüge in vielfacher

wechselseitiger Abhängigkeit stehender selbst-evidenter Wahrheiten

herausgreifen, um zuerst ihn zu erkennen und uns dann auch den mit

ihm notwendig verknüpften Prinzipien und Wahrheiten zuzuwenden.

Diese Tatsache, auf die wir innerhalb einer kurzen Auseinandersetzung

mit W. Stegmüller noch zurückkommen werden, hindert in keiner

Weise, daß jeder dieser mit Gewißheit erkennbaren Sachverhalte ein

"archimedischer", unerschütterlicher Punkt ist, auf dessen

unbezweifelbarem und mit unfehlbarer Evidenz erfaßten Boden unser

Erkennen sicher ruht; wenn auch dem endlichen Erkennen jene

"Unruhe" wesentlich ist, in dem stets weiter und weiter nach der

Erkenntnis des intelligiblen "Gesamtgefüges" der allumfassenden

Wahrheit strebt.

"Ding an sich" und "Konstitutionsproblematik"

Die im vorliegenden Buch enthaltenen Untersuchungen über das "Ding

an sich" und sein Verhältnis zu Schein und Erscheinung müßten in

einer ergänzenden Behandlung all jener Gegenstände und Aspekte

näher geklärt werden, die sich durch das erkennende Subjekt

"konstituieren" (Konstitutionsproblem). Zweifellos reicht die Sphäre

solcher durch das Subjekt konstituierten bzw. mit-konstituierter

Aspekte weiter als der in diesem Buch behandelte Bereich von "Schein"

oder auch von "Erscheinung" im Sinn eines objektiv gültigen Aspektes

der Dinge, der jedoch nicht "unabhängig" davon, daß ein Seiendes

Objekt eines erkennenden Wesens wird, besteht. Es wäre näher zu

untersuchen, inwieweit nicht nur das "subjektive Zeitgefühl", das von

Individuum zu Individuum wechselt, sondern auch das menschliche

Zeiterleben als solches sowie die verschiedensten Formen von

begrenzenden "Perspektiven" auf die materielle und geistige Welt,

inwieweit auf der Gegenstand als "unvollkommen erkannter" vom

erkennenden menschlichen Subjekt "abhängt". Auch die weitere Frage,

inwieweit die wesenhaft einzigartige Stellung jedes erkennenden

Subjekts zu sich selbst und zur Welt bestimmte Aspekte "konstituiert",

375

die zwar weder bloße Erscheinung noch gar "Schein" sind, die aber

doch nicht völlig unabhängig vom erkennenden Subjekt bestehen, wäre

zu untersuchen. Der "Gegenstandscharakter" eines Seienden "für" ein

erkennendes Subjekt, seine "Objektstelle", an die es gerückt werden

kann, ist z. B. nicht dem Seienden "an sich" eigen, sondern schließt eine

Beziehung zum Erkennenden ein und wird durch das erkennende

Subjekt "mitkonstituiert". Zwar steht das erkannte Seiende (außer im

Fall der Reflexion) wesenhaft und objektiv dem Erkennenden

"gegenüber" und insofern gründet die Subjekt-Objekt-Situation im

metaphysischen Wesen der Person und ihres "Gegenüber" (insofern

handelt es sich hier auch um viel mehr als um Erscheinung); aber

andererseits — obwohl sie mehr als Erscheinung und erst recht nicht,

wie dies oft behauptet wird, bloße Frucht einer künstlichen

Subjekt-Objekt-Spaltung ist — beinhaltet die Objekt-Stelle, an der sich

ein Seiendes mir gegenüber befindet, doch eine an mein Subjekt

gebundene "Perspektive" und einen objektiven "Aspekt" eines anderen

Seienden, der diesem nicht schlechtweg "an sich", unabhängig vom

erkennenden Subjekt, zukommt. Ähnliches würde auch für den

"Ich"- oder den "Du"-Charakter eines Seienden gelten.

Es wäre eine sorgfältige Untersuchung nötig, um die genaue Eigenart

der jeweiligen Abhängigkeit solcher "Aspekte" oder die Erkenntnis

beeinflussender "Relationen" vom erkennenden Subjekt

herauszuarbeiten. Eine solche Fortführung des vorliegendes Buches,

wie sie etwa in der Besprechung desselben im "international

Philosophical Quarterly" (Vol. XIV, No. 3; Sept. 1974) von J. Hart

vorgeschlagen wird, würde im Sinne einer weiteren Klärung der

"Konstitutionsproblematik" eine wichtige Ergänzung bilden. Doch

würde eine solche Ergänzung in keiner Weise in der von Hart

vorgeschlagenen "sanguinischeren" Mittelstellung zwischen

Transzendentalphilosophie und Transrendenzphilosophie (als

realistischer Ontologie) münden; vielmehr würde sowohl die jeweils

verschiedene "Objektivität" solcher konstituierten "Erscheinungen"

oder "Aspekte" der Wirklichkeit herausgearbeitet werden müssen als

auch jener zentrale Wirklichkeitsbereich des "an sich Seienden" durch

eine solche Untersuchung nur noch eindeutiger hervortreten. Zu dessen

Wesen gehört es durchaus, in der in diesem Buch angegebenen Weise

"an sich" zu existieren und so erfaßt zu werden, wie er in sich selber

ist, unabhängig vom erkennenden Subjekt, das sich selber transzendiert

und am Seienden in seinem Selbstsein erkennend partizipiert. Auf diese

376

so einfache und doch zugleiche so geheimnisvoll-tiefe Grundstruktur

des Erkennens als Entdeckung eines an sich Seienden hat W. Hoeres in

seinem Buch Kritik der transzendentalphilosophiseben

Erkenntnistheorie, besonders im Schlußteil desselben, in einer

besonders klärenden Analyse hingewiesen. In Hoeres' Buch finden sich

viele völlig neue Beiträge zum Konstitutionsproblem, insbesondere im

Rahmen der kritischen Untersuchung jener der

Transzendentalphilosophie eigenen Verkennung des Erkennens als

rezeptiv hinnehmenden Akt. Dort wird die von Hart anscheinend

vorgeschlagene "Synthese" zwischen Realismus und transzendentaler

Konstitution scharfsinnig als "Versuch im Unmöglichen" erwiesen. In

anderer Richtung als in Hoeres' Buch würde die

Konstitutionsproblematik in der eben erwähnten systematischen

Erforschung aller Arten von "Aspekten" des Seins für erkennende

Subjekte geklärt werden. Gerade ein allen Aspekten volles

Rechnung-Tragen, die vom Subjekt mit-konstituiert werden, würde

dabei zum tieferen Verständnis der überwältigenden Rolle jener

Erkenntnis führen, deren intentionaler Gegenstand die Wirklichkeit

selbst in ihrem vom Subjekt ganz unabhängigen Wesen und Existieren

ist.

Kritik des Fideismus und der Stellung W. Stegmüllers zum

Evidenzproblem. Rationale Begründbarkeit der Wesenseinsicht

und "Voraussetzungen"

Eine weitere wichtige Ergänzung zu diesem Buch wäre eine Kritik der

verschiedensten Formen des Fideismus, der einen rational nicht

begründbaren Glauben als Ausgangspunkt aller Philosophie wählt bzw.

für unvermeidbar hält. In vielen Formen des Fideismus (z. B. der

sogenannten Reformphilosophie, die besonders H. Dooyeweerd neu

begründete, manchen Formen christlicher Existenzphilosophie und

zeitgenössischer thomistischer Philosophie) wird ein relgiöser

(jüdischer oder christlicher) Glaube als Ausgangspunkt des

Philosophierens und als letzte Instanz für philosophische Erkenntnis

befürwortet. Eine solche Auffassung verkennt, daß jeder

Offenbarungsglaube bereits auf philosophischen Voraussetzungen und

Erkenntnissen (wenigstens implizit) beruht und daß die

natürlich-philosophische Erkenntnis dem Glauben gegenüber durchaus

selbständig und vorgeordnet ist, trotz vieler gegenseitiger

377

Beziehungen. Vor allem mit der Form des Fideismus, die sich nicht so

sehr auf irgendeinen Offenbarungsglauben, sondern auf "Glauben" im

Sinne eines unbegründeten "Annehmens" stützt, wäre eine

Auseinandersetzung wichtig. Eine solche Auffassung wird nicht nur

von manchen Existenzphilosophen (etwa Windischer) vertreten,

sondern etwa auch von einem modernen "Wissenschaftstheoretiker",

wie W. Stegmüller, z. B. in seinem Buch Metaphysik, Skepsis,

Wissenschaft (2. Aufl. Berlin—Heidelberg 1969). Stegmüller

argumentiert dort, daß eine Einsicht in evidente Zusammenhänge nur

in einem weder begründbaren noch widerlegbaren, weder rational

gerechtfertigten noch als unberechtigt erweisbaren Glauben

angenommen bzw. verworfen werden kann. Der Grund für diese

Position ist u. a. Stegmüllers Ansicht, daß jede Argumentation gegen

Einsicht notwendig zu einem Selbstwiderspruch führt, da jede

Argumentation oder Beweisführung, jedes Anführen von Gründen

gegen die Existenz von Einsichten wieder selbst Einsichten als

Ausgangspunkt voraussetzt (worin Stegmüller völlig zugestimmt

werden muß); andererseits führe jede rationale Begründung von

Einsicht zu einem zirkulären Argument bzw. zu einer petitio principii,

da man für jede derartige Argumentation bereits Einsicht und deren

Gültigkeit voraussetze.

Soll damit nur gesagt sein, daß es kein äußeres Kriterium und erst recht

keinen "Beweis" für Einsicht geben kann, so ist dem ebenfalls ganz

beizupflichten. Doch gilt es, den Grund dafür klar zu erkennen, der

nämlich darin besteht, daß die direkte Erkenntnisform der Einsicht

keines Beweises fähig ist, weil sie keines Beweises bedürftig ist. Einen

Beweis für Einsicht zu verlangen, heißt ja gerade, das Wesen von

Einsicht zu verkennen. Und überdies führt jeder Versuch, Einsicht in

ihrer Gültigkeit durch irgendeinen Beweis zu begründen, wie bereits

Aristoteles in der Zweiten Analytik gezeigt hat und wie Stegmüller

neuerdings aufweist, einem ungültigen zirkulären

Argumentationsverfahren.

Doch so sehr Stegmüllers Hinweis auf den zirkulären Charakter jeder

beweishaften, argumentativen Begründung der Einsicht beizustimmen

ist, so wenig seiner Begründung; der Schluß, den er aus der

Unbegründbarkeit der Einsicht durch Beweise, Argumente etc. zieht,

daß nämlich diese ihren Grund darin habe, daß Einsicht überhaupt nicht

rational zu begründen sei und nur in einem irrationalen Glauben

angenommen werden könne, ist sowohl logisch unbegründet als auch

378

falsch. Die Einsicht in evidente Sachverhalte besitzt eben nicht in

einem "Argument" (Beweis), sondern in der inneren Intelligibilität, in

der wesenhaften Notwendigkeit, der "iniudicabilitas" und

unbezweifelbaren Gewißheit, in denen uns der Gegenstand gegeben ist,

eine volle rationale Rechtfertigung in sich selbst, und zwar eine viel

größere als irgendein Kriterium oder Beweis, der ja wieder auf Einsicht

aufbauen müßte, sie jemals geben könnte.

Die Evidenz einsichtiger Sachverhalte ist selbst die eminenteste

rationale Rechtfertigung und muß keineswegs blind geglaubt werden.

Der Begriff einer blind "geglaubten Evidenz" ist außerdem eine

contradictio in adjecto: eine bloß unbegründet zu glaubende Evidenz

ist überhaupt keine Evidenz.

Überdies unterscheidet Stegmüller nicht zwischen fünf

grundverschiedenen Arten von Voraussetzungen, die er stillschweigend

so behandelt, als würden für jede dieselben Bedenken gelten, was in

Wirklichkeit gar nicht zutrifft. Wenn Stegmüller also meint, daß man

notwendig Einsicht bereits voraussetzt, um Einsicht zu begründen, so

kann dies folgende völlig verschiedene Dinge meinen:

Erstens kann es heißen, daß man die Existenz von Einsicht nur mit

Hilfe von Einsicht feststellen kann, daß es also Einsicht objektiv geben

muß, damit man sie feststellen kann. In diesem Zusammenhang sollte

man gar nicht davon sprechen, daß wir Einsicht voraussetzen, sondern

vielmehr davon, daß Einsicht objektiv, ontologisch, vorausgesetzt ist,

damit Einsicht festgestellt werden kann. Dasselbe läßt sich für

Erkenntnis überhaupt sagen. Wir können Erkenntnis nur mit Hilfe von

Erkenntnis, nur durch Erkenntnis feststellen. Also ist die

Tatsächlichkeit von Erkenntnis objektiv dafür vorausgesetzt, daß man

Erkenntnis feststellen kann. Nur wenn es Erkenntnis wirklich gibt, kann

sie festgestellt werden. Dies ist völlig zuzugeben, stellt aber auch nicht

den mindesten Einwand gegen die Begründbarkeit bzw. rationale

Erkennbarkeit von Einsicht bzw. Erkenntnis dar.

Würde dies einen Einwand darstellen, könnte es prinzipiell keine

sichere Erkenntnis darüber geben, daß es Erkenntnis oder Einsicht gilt.

Damit würde also Stegmüller nicht bloß die menschliche Erkenntnis

(als rational gerechtfertigte) leugnen, sondern auch daß es überhaupt so

etwas wie sichere, rational gerechtfertigte Erkenntnis geben könne.

Denn weder Engel noch Gott könnten anders ihre Erkenntnis oder

Einsicht rational begründen als eben wieder durch Einsicht oder

Erkenntnis, daß sie einsehen und wissen. Obwohl ich nicht annehme,

379

daß Stegmüller diese kühne These von einer "absoluten Unmöglichkeit

rationaler Erkenntnisbegründung" vertritt, könnte er von seinem

philosophischen Standort aus diese Konsequenz doch ziehen wollen

und rational begründbare Erkenntnis oder Einsicht überhaupt leugnen

und sie wesenhaft (für Menschen und jedes mögliche denkende Wesen)

durch einen durch nichts begründbaren "Glauben" an Einsicht

grundlegen wollen.

Wäre aber Stegmüller auch bereit, diese — mir absurd scheinende —

Konsequenz aus seiner Position zu ziehen, so bliebe der Haupteinwand

gegen seine Auffassung davon ganz unberührt: daß nämlich die

Ablehnung dieser ersten Art von (ontologischer) Voraussetzung im

Zusammenhang rationaler Erkenntnisbegründung in keiner Weise

berechtigt ist. Dabei ist es nicht nur in keiner Weise evident (und erst

recht nicht beweisbar), daß die ontologische Vorausgesetztheit von

Einsicht zur Feststellung von Einsicht deren rationale Begründung

ausschließe, sondern das Gegenteil ist evident:

Die Fähigkeit rationaler Einsicht ist wesenhaft vorausgesetzt, um

Einsicht feststellen zu können. Ja, man kann sogar noch weiter gehen:

Es ist einsichtig, daß nur die (objektiv vorausgesetzte) Fähigkeit

evidenten Erkennens (Einsehens) es sein kann, mit der die Existenz von

Einsicht zweifelsfrei festgestellt und die Einsicht als rational

gerechtfertigt erkannt werden kann. Denn jede andere Feststellung,

jeder andere Ausweis der Einsicht als rational gerechtfertigt müßte

entweder durch Beweis erfolgen, und dann würde er auf selbst-evidente

Prämissen (und wieder auf Einsicht) zurückgehen, oder aber durch

irgendein äußeres Kriterium verbürgt werden, das ebenfalls direkt oder

indirekt mit Hilfe von Einsicht in evidente Sachverhalte gerechtfertigt

werden müßte. Damit führt aber jede andere rationale Rechtfertigung

der Erkenntnis und Einsicht (außer deren Feststellung mit Hilfe

unmittelbar evidenten Erkennens und Einsehens) in der Tat zu einem

unhaltbaren Zirkelschluß, zu einer petitio principii. Also ist die

Tatsache, daß Einsicht objektiv vorausgesetzt ist, um Einsicht zu

rechtfertigen bzw. als rational begründet zu erfassen, nicht nur kein

Einwand gegen eine voll legitime rationale Begründbarkeit von

Einsicht, sondern der evidenzermaßen einzig mögliche und voll

legitime Weg der rationalen Begründung von Einsicht.

Darauf weist die große abendländische Tradition der Philosophie mit

den in ihr vorfindlichen Analysen von Evidenz immer wieder hin;

besonders das oben bereits erwähnte, von Augustinus und Bonaventura

380

näher erläuterte Merkmal der "iniudicabilitas", daß es eben kein

äußeres Merkmal für Einsicht gibt, sondern vielmehr die innere

Notwendigkeit und Klarheit des Gegenstandes selbst die Einsicht

richtet und ihre Wahrheit verbürgt, besagt eben dies: daß ich nur

einsehen, evident erfassen kann, daß ich einsehe; daß der Gegenstand

mit dem Licht seiner Intelligibilität dem Erkennenden verbürgt, daß

sein Erkennen nicht irrt.

Dabei kann man innerhalb der ersten (ontologischen)

Vorausgesetztheit von Einsicht für ihre Feststellung noch zwei

Bedeutungen unterscheiden: einmal kann man darauf verweisen, daß es

Einsicht tatsächlich geben muß, damit es die ihr eigene innere

Selbst-Rechtfertigung im Sinne der evident-gewissen Erfassung eines

Seienden geben könne. Dies ist selbstverständlich und der Hinweis

darauf, daß es "evidente Selbst-Rechtfertigung" von Einsicht nur geben

kann, wenn und insofern es Einsicht gilt, stellt gewiß keinen Einwand

gegen diese Art von rationaler Begründetheit dar. Sodann könnte man

mit der ontologischen Vorausgesetztheit von Einsicht für ihre

Begründung meinen, eine gewisse Feststellung von Einsicht verlange

jeweils eine zweite (Meta-)Einsicht, mit deren Hilfe die Gültigkeit der

ersten als evidente festgestellt werde, im Sinne einer Einsicht in die

Evidenz einer anderen Einsicht (man würde etwa behaupten: um das

Widerspruchsprinzip mit Gewißheit einzusehen bzw. um diese Einsicht

als rational gerechtfertigt zu begründen, bedarf es einer zweiten

Einsicht, daß die erste Einsicht in das Widerspruchsprinzip wirklich

eine evidente war). Würde jeweils eine andere Einsicht ontologisch

erforderlich sein, um eine (erste) Einsicht zu begründen, müßte ein

solche ontologisches Vorausgesetztsein von Einsicht für die

Begründung von Einsicht zu einem unendlichen ontologischen Regreß

führen, der nie abgeschlossen sein und daher eine volle rationale

Begründung der jeweils vorausgesetzten (und stets eine andere

Begründung verlangenden) Einsicht unmöglich machen würde. Da

nämlich unter dieser Voraussetzung immer die jeweilige Meta-Einsicht

einer Begründung entbehren würde, solange man nicht zu einer

weiteren Einsicht rekurrierte usf., und da durch die jeweilige

Meta-Einsicht erst die voraufgehende(n) Einsicht(en) begründet

würde(n), gäbe es überhaupt keine rationale Begründbarkeit von

Einsicht, und Einsicht wäre unter dieser zweiten Art ontologischer

Voraussetzung unmöglich.

381

In Antwort darauf hier nur zwei Bemerkungen: Erstens trägt ein

evidentes Erkennen jeweils seine innere Rechtfertigung bereits in dem

Sinne "in sich", daß in ein und demselben Akt der Gegenstand erfaßt

und die unbezweifelbare Gewißheit erlebt wird, mit der er erfaßt wird.

Zweitens ist es wahr, daß eine volle philosophische Erfassung des

Wesens und des unbezweifelbaren Charakters einer evidenten Einsicht

zumindest zwei Einsichten voraussetzt, z. B. die Einsicht in das

Widerspruchsprinzip und die Einsicht, daß ich dieses Prinzip mit

unfehlbarer Gewißheit erkenne und worin diese Evidenz besteht. Doch

diese zweite Einsicht trägt nicht bloß in dem Sinne wie die erste ihre

Rechtfertigung "in sich" als Erleben der Evidenz, sondern auf Grund

der philosophischen Erfassung des Wesens von Evidenz erfasse ich

"ein für allemal" für alle anderen evidenten Erkenntnisse und für "sie

selbst", daß und warum Evidenz im eigentlichen Sinn Wahrheit

verbürgt; und ich benötige nicht wieder eine dritte, vierte usf. Einsicht,

um die innere Evidenz meiner philosophischen Einsichtsbegründung

rational zu begründen. So ist also auch die recht verstandene

ontologische Vorausgesetztheit von einer zweiten Einsicht zur

rationalen Begründung (im philosophischen Sinn) von ersten

Einsichten keinerlei Einwand gegen die rationale Begründbarkeit von

Einsicht, da sie nicht zu einem unendlichen Regreß führt.

Die nun folgenden vier Arten von Voraussetzung können als "thetische

Voraussetzungen" den eben besprochenen ontologischen

Voraussetzungen gegenübergestellt werden, weil es sich bei ihnen um

vorausgesetzte Thesen handelt.

Eine zweite grundsätzlich verschiedene Art von Voraussetzung liegt

dann vor, wenn innerhalb eines mittelbaren formal-logischen

Schlußverfahrens die Wahrheit der Konclusio bereits in den Prämissen

(oder wenigstens einer derselben) vorausgesetzt wird. Diese

Voraussetzung treffen wir z. B. in der jüdischen Erzählung an, in der

ein Rabbi die Wahrheit seiner bezweifelten Erzählung, daß Gott selbst

sich neben ihn gesetzt habe, dadurch beweisen will, daß "Gott sich doch

nicht neben einen Lügner setzen" würde. Diese Art der Voraussetzung

ist illegitim und als petitio principii zu bezeichnen, weil hier die

Wahrheit der Konclusio, die es zu beweisen gilt (in unserem Fall, daß

Gott neben dem Rabbi saß), bereits in einer Prämisse (daß Gott sich

neben ihn gesetzt habe, was ausschließe, daß er ein Lügner sei)

vorausgesetzt wird. In diesem Sinn würde man allerdings, wie

Stegmüller gezeigt hat, die Existenz von Einsicht immer explizit oder

382

implizit in den Prämissen voraussetzen, wollte man sie durch ein

Beweisverfahren rechtfertigen wollen. Jeder Versuch, Einsicht durch

ihr äußere Kriterien zu rechtfertigen, führt in der Tat zu einem

zirkulären Argument bzw. zu einer petitio principii und ist daher

unmöglich.

Wie jedoch bereits betont, handelt es sich bei der inneren Begründung

von Einsicht durch ihre Evidenz nicht um solches beweisartiges

Begründen. Der Hauptgrund, aus dem Stegmüller ein beweisartiges

Argumentieren für die Gültigkeit von Einsicht für nötig erachtet, liegt

wohl in der von ihm hervorgehobenen Möglichkeit und Tatsächlichkeit

der Täuschung über Evidenzen bzw. in der Tatsache bloß subjektiver

oder bloß "eingebildeter Evidenzen". So schwerwiegend dieser Grund

ist, er stellt sich als unberechtigt heraus, sobald man den wesenhaften

inneren Unterschied zwischen Erkenntnis (Einsicht) und Irrtum

(Täuschung über Einsicht, Einbildung, daß man Einsicht besitze)

erfaßt, wie er eingehend im ersten Teil des vorliegenden Buches (bes.

Kap. 3) durchgeführt wird. Gerade Stegmüllers Position ist ein neuer

Grund dafür, diesen bereits von Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin,

Descartes u. a. Denkern hervorgehobenen Unterschied als einen für die

Erkenntnislehre entscheidenden und mit äußerster Schärfe zu

machenden Unterschied zu erkennen.

Eine dritte, prinzipiell verschiedene Bedeutung erhält der Ausdruck

"Voraussetzung" dann, wenn man damit blind geglaubte, unbegründete

oder unbegründbare "Annahmen" meint, von denen wir in einer

(angeblichen) Erkenntnis bzw. einem Schlußverfahren ausgehen. Eine

solche Art blinder Voraussetzung, wie wir sie bezeichnen können,

verhindert allerdings jede Erkenntnisgewißheit, ja sogar jede

Erkenntnis. Denn ein auf einer völlig blind geglaubten Prämisse

gegründetes Meinen muß ebenso ein blindes Meinen bleiben. Wenn ein

Meinen oder Schließen von einer unbegründeten oder gar

unbegründbaren Voraussetzung seinen Ausgang nimmt, dann ist ein

solches Meinen bzw. das Ergebnis eines solchen Schließens überhaupt

nicht mehr als Erkenntnis zu bezeichnen, sondern nimmt an der

völligen Unbegründetheit der vorausgesetzten These teil.

Paradoxerweise verteidigt gerade Stegmüller diese Art von

Voraussetzung, wenn er seine, Einsicht befürwortende, Position in

einem blinden (unbegründbaren) Glauben an die Gültigkeit von

Einsicht grundgelegt sieht, und die Position des Skeptikers in einem

gleichermaßen unbegründbaren Glauben, daß Einsicht ungültig sei.

383

Diese Position Stegmüllers erhebt eine wesenhaft für rationale

Erkenntnis fatale Voraussetzung zum Ausgangspunkt für alles

Erkennen und kann sich daher nicht ernstlich vom Vorwurf der Skepsis

freihalten. Denn wenn Stegmüller auch für seine Person erklärt, den

nicht-skeptischen "Glauben" zu besitzen, daß es gültige Einsicht gibt,

so sagt er doch zugleich, daß dieser Glaube in seiner völligen rationalen

Unbegründbarkeit genausogut wahr wie falsch sein könne und man

daher nicht mehr Berechtigung hat, diesen Glauben anstatt des

skeptischen zu haben. Das ist aber eben eine skeptische Konsequenz

seiner Position, da sie — objektiv — die Annahme von Einsicht und

Wahrheit als radikal zweifelhaft hinstellt.

Eine vierte Art von Voraussetzung ist gegeben, wo nicht blind

geglaubte, sondern evidente Voraussetzungen und Prämissen einem

Schluß zugrundeliegen. Solange solche Voraussetzungen

stillschweigend gemacht werden und — ohne in ihrer Evidenz erfaßt

zu sein — einem Schlußverfahren zugrundeliegen, kann man in einem

Einwand darauf hinweisen, daß eine Erkenntnis mit solchen

Voraussetzungen ihre Begründung und rationale Rechtfertigung in

einer anderen Erkenntnis habe und daher erst dann voll begründetes

und rational gerechtfertigtes Wissen wird, wenn die Voraussetzungen

bewußt gemacht und zur Evidenz gebracht sind. Ein solcher Einwand

macht zwar deutlich, daß es sich bei einem mit Erkenntnisanspruch

auftretenden Schlußverfahren noch nicht um eigentliche Erkenntnis

handelt, aber anstatt — wie im Hinweis auf "blinde Voraussetzungen"

— jeden Erkenntnisanspruch eines solchen Verfahrens zu

unterminieren, weist dieser Einwand vielmehr den Weg, auf dem der

noch nicht gerechtfertigte Erkenntnisanspruch gerechtfertigt werden

kann, nämlich in der Evidentmachung der evidenten Voraussetzungen.

Eine fünfte Art von Voraussetzungen, die in mathematischer, logischer

und philosophischer Erkenntnis häufig zu finden, ja unvermeidbar sind,

läßt sich außer durch ihren mit den Voraussetzungen im vierten Sinn

geteilten evidenten Charakter durch folgende zwei Merkmale

bestimmen: Erstens handelt es sich dabei nicht um Voraussetzungen im

vierten Sinn, die (wie z. B. in komplexeren mathematischen

Beweisverfahren) solcherart vorausgesetzt sind, daß kein unmittelbarer

erkenntnismäßiger Zugang zu den Konklusionen möglich ist, sondern

es unerläßlich ist, die Wahrheit der Konklusionen durch die Wahrheit

der als Voraussetzung fungierenden Prämissen zu erkennen. Im

Gegensatz dazu können z. B. die obersten logischen Grundsätze direkt

384

erfaßt und mit Gewißheit erkannt werden, ohne daß ihre objektiven

evidenten Voraussetzungen (die ersten Seinsprinzipien) ausdrücklich

zur Evidenz gebracht worden wären. Obwohl die obersten logischen

Grundsätze die ersten Seinsprinzipien voraussetzen und in ihnen

gründen, müssen sie nicht aus diesen wie aus den Prämissen einer

Schlußkette erschlossen werden. Erst recht wird z. B. die Erkenntnis

daß ich selber existiere und tatsächlich erkenne, für die Einsicht in die

Gültigkeit eines logischen Schlußverfahrens nicht in dem Sinne

vorausgesetzt, daß ich auf dessen Gültigkeit von meiner Existenz und

der Tatsächlichkeit meines Erkennens aus erst schließen müßte. Zur

Gültigkeit des Barbara-Syllogismus habe ich nicht erst "Zugang"

"durch" die Wahrheiten, daß ich existiere und wirklich erkenne. Ich

kann mir vielmehr direkt die Eigenart eines Syllogismus

vergegenwärtigen, ohne den Umweg über und "durch" die Erkenntnis

meiner Existenz usf. wie "durch" Prämissen gehen zu müssen.

Trotzdem bleibt es wahr, daß die Objektivität meiner Erkenntnis

bezüglich der Gültigkeit eines logischen Schlußverfahrens von den

(evident wahren) voraussetzenden Erkenntnis bezweifelt werden. Und

dennoch geht die Erkenntnis abhängt. Umgekehrt kann ich z. B.

Gewißheit über meine eigene Existenz gewinnen, ohne ausdrücklich

die Wahrheit des Widerspruchsprinzips erkannt zu haben, obgleich

ohne dessen Gültigkeit auch meine Existenz unmöglich wäre, und auch

die Erkenntnis meiner Existenz für ihre Gültigkeit die Wahrheit des

Widerspruchsprinzips "voraussetzt". Wenn die Wahrheit irgendeiner

dieser Voraussetzungen bezweifelt werden könnte, müßte auch die

Wahrheit aller sie voraussetzenden Erkenntnis bezweifelt werden. Und

dennoch geht die Erkenntnis, die solche Voraussetzungen hat, nicht von

diesen Voraussetzungen wie von Prämissen aus, sondern ist

"unmittelbar". Dies führt uns bereits zum zweiten Merkmal dieser

Voraussetzungen.

voraussetzenden Erkenntnis bezweifele werden. Und dennoch geht die

zeichnen, daß die "vorausgesetzten" evidenten Thesen implizit in der

Erkenntnis anderer (sie voraussetzender) Wahrheit "mitgesehen"

werden. Diese Voraussetzungen gleichen einem "Licht im

Hintergrund"; die augenblicklich erkannte Wahrheit wird gleichsam

auf dem "lichthaften Horizont" der miterkannten evidenten Wahrheiten

eingesehen, ähnlich wie das Sehen eines Hauses u. a. auf dem implizit

miterkannten Hintergrund des Sehens des Sonnenlichtes, der Art dieses

Lichtes, anderer Gegenstände, und des Gewahrens des eigenen Sehens

385

erfolgt. Menschliches Erkennen ist überhaupt nur dadurch als evidentes

möglich, daß es einen unmittelbaren Zugang zu einzelnen Wahrheiten

gibt (und diese nicht "durch" all ihre Voraussetzungen als Prämissen

erkannt bzw. erschlossen werden müssen). Menschliches Erkennen ist

überhaupt nur möglich, weil wir Dinge unmittelbar erkennen können,

ohne dabei ausdrücklich alle anderen notwendig und als

Voraussetzungen damit verknüpften Sachverhalte erkennen zu müssen;

und zwar müssen wir nicht nur nicht alle für das Sein des

Erkenntnisgegenstandes nötigen Voraussetzungen ausdrücklich

erkennen, sondern nicht einmal jene evidenten Voraussetzungen, ohne

die die erkannte Wahrheit nicht wahr sein könnte. In der evidenten

Erkenntnis des logischen Widerspruchsprinzips werden z. B. die für

dessen Wahrheit vorausgesetzten Sachverhalte (wahren Urteile), wie

das ontologische Widerspruchsprinzip, und die für unsere Erkenntnis

dieser Wahrheit vorausgesetzten Sachverhalte (wie die eigene

Existenz) implizit miterkannt; der Erkennende weiß, man kann sich alle

für die von ihm als evident erkannte Wahrheit vorausgesetzten

evidenten Wahrheiten ebenfalls zur evidenten Gegebenheit bringen;

wenigstens können diese prinzipiell zur Evidenz gebracht werden.

Denn nicht sämtliche Voraussetzungen im fünften Sinn werden implizit

in solcher Weise "mitgesehen", daß eine Erkenntnis von dem

Bewußtsein begleitet wird, diese evidenten Voraussetzungen können

jederzeit vom Erkennenden selbst zur vollen Gegebenheit gebracht

werden; es gibt vielmehr auch solche Voraussetzungen, von deren

genauer Eigenart ich gar keine Vorstellung besitzen muß und die ich

mir auch prinzipiell nicht zur Evidenz bringen kann; in bezug auf

solche Voraussetzungen (z. B. das für das Erkenntnisgeschehen

vorausgesetzte Zusammenwirken von Primärursache und

Sekundärursachen sowie die dieses Zusammenwirken betreffenden uns

verborgenen Voraussetzungen) verbürgt eine evidente Erkenntnis mir

nur, daß alle von mir erkennbaren und unerkennbaren objektiven und

notwendigen (ja auch zufälligen) Voraussetzungen meiner evidenten

Erkenntnis objektiv bestehen müssen. Diese Voraussetzungen "sehe ich

also mit" nur in dem Sinn, daß mein evidentes Erkennen ihr

Gegebensein "prinzipiell verbürgt". Viele andere Voraussetzungen im

fünften Sinn hingegen "sehe ich mit" in der klareren Weise, daß sie mir

in meinem Erkenntnisakt implizit "mitgegeben" sind.

Während der Hinweis auf Voraussetzungen im vierten Sinn noch

insofern einen "Einwand" gegen eine "Erkenntnis" darstellt, als sie erst

386

durch Aufweis und ausdrückliche Erkenntnis ihrer vorausgesetzten

evidenten Prämissen zur Erkenntnis wird, stellt der Hinweis auf die

letzte Art von Voraussetzungen überhaupt keinen Einwand dar,

sondern weist nur auf ein für menschliches Erkennen entscheidendes

"mirandum" hin: auf den "Evidenzhorizont" (und den prinzipiell

miterkannten "Voraussetzungshorizont"), innerhalb dessen jede

menschliche Einsicht steht, die durch Evidenz ausgezeichnet ist. Im

fünften Sinn von Voraussetzung hat allerdings die rational begründete

Erkenntnis, daß es Einsicht gibt, viele Evidenzvoraussetzungen: so

setzt sie "Einsicht" in dem Sinne voraus, daß ich als evidente These

"voraussetze", auch dies, daß ich jetzt einsehe, wieder zum Gegenstand

einer Einsicht machen zu können (dies weiß ich "mit" beim Gewinnen

jedweder Einsicht); auch daß ich wirklich existiere und kein Schein bin,

daß etwas nicht zugleich evident und im selben Sinn nicht evident sein

kann, daß jedes Sein (und daher auch Erkennen) mit sich identisch ist,

daß Erkennen kein Erzeugen, sondern Vorfinden eines Gegenstandes

ist und vieles andere setze ich bei der rationalen Begründung von

Einsicht voraus; (auch sehe ich prinzipiell mit ein, daß alle mir

unerkennbaren Voraussetzungen dieser evidenten Erkenntnis objektiv

bestehen müssen). Wie wir aber sahen, ist der Hinweis auf diese Art

von "Voraussetzungen" in keiner Weise ein Einwand gegen die volle

Gewißheit menschlicher Erkenntnis. Diese fünfte Art von

"Voraussetzung" weist uns vielmehr auf eine Universalität hin, kraft

deren eine Einsicht nicht ein isoliertes "Einzelereignis" ist, das

ausschließlich und isoliert einen einzigen Gegenstand hätte; in jeder

Einsicht werden viele andere Sachverhalte implizit "mitgesehen", bzw.

jede Einsicht wird von dem (durch ihre Gewißheit verbürgten) Wissen

begleitet, daß alle Sachverhalte und Wahrheiten, die für die Wahrheit

ihres Gegenstands vorausgesetzt sind, auch bestehen.

So sehen wir, daß die Tatsache, daß jede Einsicht und a fortiori jede

rationale Begründung von Einsicht die Existenz von Einsicht im ersten

und fünften Sinn des Ausdrucks "voraussetzt", nichts gegen die

Möglichkeit ihrer vollen rationalen Begründbarkeit besagt. Stegmüller

unterscheidet diese beiden Arten des Vorausgesetztseins von Einsicht

für die rationale Begründung von Einsicht nicht von illegitimen

Voraussetzungen (vor allem der zweiten und dritten Art von

Voraussetzung). Dabei entgeht ihm, daß die dritte Art von

Voraussetzung, was immer ihr Inhalt sein mag (ob der Glaube, daß es

Einsicht gibt oder etwas anderes), nicht bloß mit der rationalen

387

Begründbarkeit, sondern mit dem wirklichen Bestehen von Einsicht in

evidente Sachverhalte unverträglich ist. Indem er also behauptet, man

müsse sich klarmachen, daß Einsicht Voraussetzungen im dritten Sinne

besitze und daher nicht rational begründet werden könne, stellt er nicht

bloß eine falsche These auf, sondern eine material widersprüchliche: er

knüpft nämlich Einsicht an eine "Voraussetzung", die, wenn Einsicht

sie machen würde, Einsicht und Evidenz gerade aufhöbe. So sehr seine

Analyse der Tatsache zutrifft, daß jede Argumentation gegen Einsicht

sich selbst widerspricht und jedes beweisartige Begründen von Einsicht

zu einer petitio principii fuhrt, so muß auf die bei Stegmüller zu

findende Verwechslung grundsätzlich verschiedener Arten von

Voraussetzungen sowie das Vorbeigehen am wirklichen "inneren"

Kennzeichen und Rechtfertigungsgrund rationaler evidenter Einsicht

hingewiesen werden. Da die von Stegmüller angeschnittenen Probleme

seit der Antike grundlegend sind und da sein diskutiertes Buch in dem

Handbuch Philosophischer Grundbegriffe als der "fraglos

bedeutendste Beitrag" zum Evidenzproblem bezeichnet wird (a. a. O.

Bd. 2, S. 434), rechtfertigt sich eine längere Auseinandersetzung mit

diesem Buch in dem Nachwort zu einem mit Erkenntnis objektiver

Wahrheit betitelten Werk, das die Einsicht in evidente

Zusammenhänge an so zentraler Stelle behandelt369.

Evidenz und das "Antinomienproblem"

Ein weiterer Beitrag zur Klärung der in diesem Buch behandelten

Themen wäre in einer eingehenden Auseinandersetzung mit dem

Antinomienproblem zu sehen. Dieses bereits in den antiken

Zenonischen Antinomien aufgedeckte und in der Neueren Philosophie

besonders durch Kant, Hegel und Marx (Dialektik) akut gewordene

Problem hat eine (auch Stegmüllers diskutierte Ansichten wesentlich

beeinflussende) neue Verschärfung dadurch erfahren, daß auch

innerhalb der scheinbar strengsten Wissenschaften der Mathematik und

369 In diesem Zusammenhang sei auf die demnächst bei A. Pustet (Salzburg)

erscheinende Schrift von F. Wenisch hingewiesen: Das Methodenproblem

in der Philosophie, in der eine ausführliche Auseinandersetzung zwischen

der Methode der Einsicht in wesensnotwendige Zusammenhänge und dem

logischen Positivismus sowie vielen Vertretern moderner

Wissenschaftstheorie vorliegt.

388

Logik das Antinomienproblem in Form einer "Grundlagenkrise"

aufgetreten ist. Die Frage, ob es innerhalb der Metaphysik, innerhalb

logischer und mathematischer Grundprinzipien, die scheinbar von

letzter Evidenz sind, innere Widersprüche gebe, ob es also Einsichten

in kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte oder Beweise

kontradiktorisch entgegengesetzter Thesen gebe, muß als ein

Grundproblem der Philosophie und insbesondere jeder die Gültigkeit

von Wesenseinsicht verteidigenden Philosophie betrachtet werden.

Abgesehen von einigen klassischen Beiträgen zu dieser Frage (etwa bei

Aristoteles) und einigen Neueren (etwa bei A. Reinach), ist dieses

Grundproblem von der in diesem Buch vertretenen philosophischen

Tradition noch kaum in Angriff genommen worden.

Hier kann nur schlagworthaft auf die mit den Ausdrücken "Aporien",

"Antinomien" und "logische Paradoxien" gemeinten unterscheidbaren

Gegebenheiten und Probleme sowie auf die Richtung ihrer "Lösung"

hingewiesen werden: Unter "Aporien" im strengen Sinn (oder

"natürlichen Geheimnissen", wie ich sie in meinem Buch Leib und

Seele im Anschluß an Newman nannte und dadurch bei manchen

Lesern Anlaß zu schweren Mißverständnissen gab) kann man

"undurchdringliche Zusammenhänge" verstehen, deren Existenz wir

zwar klar erkennen, deren Eigenart wir aber in besonders augenfälliger

Weise nicht "verstehen", intellektuell nicht "umfassen" können. Wir

erkennen dabei zwei Wirklichkeiten (z. B. Leib und Seele, Freiheit und

Kontingenz, absolutes und kontingentes Sein), können auch jede dieser

Wirklichkeiten sowie die Tatsache ihres Zusammenhangs mit

Gewißheit erkennen; aber die Eigenart ihres Zusammenhangs im Sinne

des letzten "Wie" ihres Zusammenhangs ist uns nicht (oder höchstens

andeutungsweise in "Analogien", Spekulationen) zugänglich. Seit

Parmenides (angesichts der Aporie des Zusammenhangs zwischen

werdender Welt und ewig-absolutem Sein) finden wir immer wieder

den Versuch, beim Bewußtwerden solcher Aporien die eine der beiden

erkannten Wirklichkeiten auf Kosten der andern zu leugnen und die

bloße Unerkennbarkeit des genauen "Wie" eines Zusammenhangs mit

einer erkannten Unmöglichkeit desselben zu verwechseln. Dabei wird

statt dem Festhalten am sicher Erkannten dieses teilweise

(irrationalistisch) geleugnet und gleichzeitig (rationalistisch) ein

Wissen in bezug auf Unmöglichkeit behauptet, wo bloß ein

Nicht-Wissen des "Wie" der Möglichkeit vorliegt. Die Lösung bzw.

Überwindung besteht — kurz angedeutet — im klaren Unterscheiden

389

zwischen Wissen und Nicht-Wissen bzw. im Vermeiden einer

Behauptung des Wissens, wo wir nicht wissen, einerseits, und im

unbeirrbaren Festhalten am Wissen, wo es uns gewährt ist, andererseits.

Aporien im gekennzeichneten Sinn müssen von den eigentlichen

"Antinomien" klar unterschieden werden, worunter man die scheinbare

bzw. angebliche Tatsache meint, zwei kontradiktorische Sachverhalte

könnten mit Evidenz eingesehen oder bewiesen werden, wie etwa daß

die Welt einen zeitlichen Anfang sowohl haben müsse als nicht haben

könne oder daß es Freiheit zugleich geben müsse, wenn es Kausalität

gibt, und daß zugleich Kausalität Freiheit ausschließe, um zwei

Kantische Antinomien zu erwähnen.

Es ist unmöglich, hier näher zu erklären, warum man rechtmäßig und

mit Gewißheit zu dem Ergebnis gelangen kann, daß es wirkliche

Antinomien gar nicht gibt, sondern nur scheinbare. Dies ist einmal

dadurch gegeben, daß einerseits das Widerspruchsprinzip universal gilt

und andererseits nur das erkannt werden kann, was ist. Ferner läßt sich

bei vielen angeblichen Antinomien konkret zeigen, daß nicht für beide,

sondern nur für einen der antinomischen Sachverhalte eine echte

Evidenz oder ein Beweis möglich ist, daß also auch der Schein der

Antinomie bei näherem Zusehen verschwindet (z. B. bei Kants

Freiheitsantinomie). In manchen Fällen handelt es sich bei einer

scheinbaren Antinomie um eine Aporie in einem anderen als dem oben

präzisierten Sinn, nämlich um einen Mangel jeglicher Einsicht oder

eines klaren Beweises dafür, welcher von den beiden

kontradiktorischen Sachverhalten wirklich besteht, wobei Gründe

sowohl für die Annahme des einen wie des andern sprechen, ohne daß

letzte Evidenz vorliegt (z. B. bei gewissen Dimensionen der zweiten

Kantischen Antinomie). In anderen Fällen läßt sich an der Basis einer

scheinbaren Antinomie eine Äquivokation aufweisen, welcher Aufweis

zum Ergebnis führt, daß zwei ganz verschiedene Sachverhalte, die nur

auf Grund einer Äquivokation als kontradiktorisch erscheinen,

bewiesen oder eingesehen werden (z. B. bei Kants erster, zweiter und

vierter Antinomie). In wieder anderen Fällen stellt sich eine scheinbare

Antinomie als bloße "logische Paradoxie" heraus.

Unter logischen Paradoxien (nicht glücklich auch logische Antinomien

genannt) oder mathematischen Paradoxien sind jene Fälle verstanden,

in denen nicht, wie bei den Antinomien im oben bestimmten Sinn, aus

einer (offenbaren) Tatsache (z. B. der Realität von Zeit, Bewegung,

Kausalität), sondern aus einer in sich widersprüchlichen These oder

390

Forderung zwei kontradiktorische Thesen folgen. Dementsprechend ist

sowohl die "Struktur" als auch die Lösung solcher logischer Paradoxien

verschieden von dem Fall der scheinbaren "Antinomien". Die Lösung

liegt hier in dem Aufdecken der spezifischen in sich

widerspruchsvollen These oder der Forderung, deren innere Absurdität

verständlicherweise zur Folgerung kontradiktorischer Thesen führt.

Sobald man aufzudecken in der Lage ist, daß die antinomischen

Sachverhalte nicht von einer Tatsache oder Möglichkeit, sondern von

einer in sich widerspruchsvollen unmöglichen Fiktion abgeleitet

werden, sind die logischen Paradoxien "gelöst", insofern dann klar ist,

daß sie keinerlei Einwand gegen die Objektivität der Einsicht

darstellen; denn das in ihnen scheinbar verletzte Widerspruchsprinzip

gilt ja nur für seiende und mögliche Sachverhalte, nicht jedoch für in

sich unmögliche, absurde Ansetzungen, von denen antinomische

Sachverhalte ableiten zu können kein ernsthaftes Problem darstellt. In

diesem Zusammenhang wäre auch das z. B. Russels "Theory of Types"

zugrunde liegende Prinzip zu kritisieren, daß jeweils eine

"Selbstanwendung" einer These zu logischen Paradoxien führe. In

seinem oben erwähnten Artikel behandelt J. Crosby die Russelsche

Theorie und weist überzeugend ihre Unhaltbarkeit nach.

Dies alles kann hier bloß angedeutet werden; es ist jedoch von größter

philosophischer Bedeutung, durch eingehende Behandlung der

bezeichneten Fragen die volle Gültigkeit und das Wesen objektiver

Evidenz zu klären, indem man gleichzeitig echte Einsichten und

Beweise von "Scheineinsichten" und "Scheinbeweisen" unterscheidet

und gleichzeitig zeigt, daß das angebliche Feststellen echter

Antinomien und Paradoxien auf solche zurückgeht.

Einsicht und Argumentation.

Kritik des "Dogmatismsus"-Vorwurfs gegen Wesenseinsicht

Im Zusammenhang mit dem Evidenzproblem stellt sich schließlich

noch die wichtige Frage nach dem Verhältnis zwischen Einsicht und

Argumentation, bzw. die Frage nach der Unüberwindbarkelt des

Dogmatismusverdachtes, der sich gegen die Verteidigung objektiver

Evidenz richtet. Wenn man die philosophische Erkenntnis und

menschliche Erkenntnis insgesamt auf nicht mehr zu hinterfragende

Evidenzen gründet, die für alles Argumentieren und Beweisen

391

vorausgesetzt sind, so erhebt sich der Einwand, daß man sich damit

jeder Möglichkeit der Argumentation begibt und also die Grundregeln

der Wissenschaftlichkeit und intersubjektiven Kommunikation

verletzt. Wird eine Einsicht bestritten, so kann man sich nur auf einen

isolierten Privatstandpunkt, auf ein fanatisches Festhalten an Einsicht

zurückziehen.

Abgesehen davon, daß man in der Tat, wie Stegmüller in seinem oben

zitierten Werk neuerlich gezeigt hat, Einsicht unmöglich durch

irgendwelche Beweise begründen kann — was bereits vom Wesen der

Einsicht und dem Ursprung aller rationalen Begründung her erklärt

wurde und was stillschweigend jedweder mögliche Standpunkt ebenso

wie der unsere voraussetzt —, schließt dieser Einwand viele

Mißverständnisse, die Beziehung zwischen Einsicht und

Argumentation betreffend, ein. Wer sich auf Einsicht beruft, beraubt

sich genauso wenig wie jemand, der sich auf irgendeine andere

Erkenntnisart beruft, der Möglichkeiten, in einem Dialog zu

argumentieren und die bestrittene Einsicht anderen zu vermitteln. Im

Gegenteil, die Methode der Einsicht erlaubt, gerade intersubjektiv —

bis an die Grenzen menschlicher Verständigungsmöglichkeit überhaupt

— sich zu verständigen, weit mehr als irgendein fideistischer,

transzendentalphilosophischer oder irgendein anderer Standpunkt dies

erlaubt, der nicht selbst-evidente Sachverhalte, sondern Annahmen,

unbegründbare Glaubensakte, Hypothesen, Setzungen, Sprachspiele,

historisch-ökonomische, politische, progressive oder traditionell

bedingte Thesen zugrunde legt.

Zunächst ist bereits die systematische Anwendung von Einsicht ein

grundlegender Weg der Verständigung, da ja Einsichten nicht isolierte

Fakten sind, sondern ihre systematische Entfaltung und ihre Ergänzung

durch weitere Einsichten neues Licht auf die jeweils früheren wirft.

Schon von daher ergeben sich im Gespräch unabsehbare prinzipielle

Möglichkeiten der gegenseitigen Verständigung; insbesondere wenn

man an die Elemente der Einsichtsentfaltung denkt, erweist sich dies:

die Unterscheidung wesentlich verschiedener Gegebenheiten und die

systematische Erforschung und Differenzierung einer Wirklichkeit

trägt häufig zur Verständigung nach anfänglicher

Meinungsverschiedenheit bei. Begriffliche und sprachanalytische

Klärungen und Unterscheidungen spielen dabei im Dienst von

sachlichen Unterscheidungen eine wesentliche Rolle. Die Verwendung

konkreter Beispiele, an Hand derer man Sachverhalte einsehen kann,

392

die bei abstraktem Vortrag leicht unverständlich bleiben, die Hinweise

auf und Erforschung von gültigen Analogien sowie vor allem die

Ausschaltung irreführender Analogien, die vielen Irrtümern zugrunde

liegen, sind bewährte Wege

zur Einsichtsvermittlung bei anfänglicher Meinungsverschiedenheit.

Wiederum ist das Aufdecken begrifflicher Äquivokationen in

doppeldeutigen Fragen, damit das Präzisieren der Fragestellungen

und das Vermeiden falsch gestellter Fragen ein häufig zur

Verständigung führendes Mittel, durch das man vielfach

erkenntnismäßige Einigung erzielen kann.

Ferner kann man in manchen Fällen auch einen unmittelbar

einsichtigen Sachverhalt von Prämissen her beweisen, die der Gegner

anerkennt, in der Hoffnung, der andere möge auf dieser Grundlage

dann auch den vollkommeneren Weg unmittelbarer Einsicht in den zur

Debatte stehenden Sachverhalt gewinnen. Dieser Weg ist bei vielen

ethischen Themen, bei der Diskussion der Verschiedenheit von Leib

und Seele und in vielen anderen Fällen möglich, in denen derselbe

Sachverhalt vom Wesen der Sache her einsehbar, aber gleichfalls

indirekt und "äußerlicher" von der Anerkennung verschiedener

allgemeinerer Prinzipien her erkannt werden kann; dieser Weg spielt

auch beim Verhältnis zwischen Kontingenzbeweisen für das Dasein

Gottes und dem "ontologischen Gottesbeweis" eine Rolle.

Wiederum begründet gerade die Einsicht die volle Legitimität jener

Argumentationsverfahren, in denen — auf der Basis des evidenten

Widerspruchsprinzips — auf absolute Widersprüche gegnerischer

Thesen hingewiesen wird (z. B. der These "Es gibt keine Wahrheit"),

oder auf Widersprüche, die sich aus dem Verhältnis zwischen

Sprechendem (seiner unweigerlichen Annahmen) und dem Inhalt der

von ihm aufgestellten These ergeben (z. B. bei der vom Menschen

aufgestellten These "Der Mensch kann keine Wahrheit erkennen").

Möglichkeiten der Argumentation bieten sich auch durch den Hinweis

auf "materiale Widersprüche" einer gegnerischen Position an, wie sie

z. B. jeder Materialismus begeht, der das Bewußtsein als Epiphänomen

oder kausales Produkt von Gehirnvorgängen begreift. Darauf habe ich

in meinem Buch Leib und Seele eingehend hingewiesen.

Andere Hinführungsmittel zur Einsicht im Sinne von

"Argumentationen ad hominem", wie Platon sie in fast allen Dialogen

verwendet, sind voll mit Einsicht verträglich, ja erst von ihr her voll

begründbar. So kann man z. B. auf Folgen oder Voraussetzungen einer

393

gegnerischen Position hinweisen, die vom Diskussionspartner zunächst

nicht bemerkt werden, die er aber im Laufe des Gesprächs selbst

anzuerkennen genötigt ist, und von denen her er selbst seine

ursprüngliche These verwirft, weil er ihre Absurdität, evidente

moralische Ungeheuerlichkeit, Irrigkeit oder ähnliches erkennt. Ein

ähnlicher Weg der Einsichtsvermittlung ist der von G. Marcel als

"negativer Test" bezeichnete, worin man sich eine Welt, die eines

geleugneten Phänomens beraubt wäre, vorstellt (z. B. im Gespräch mit

einem Relativisten, Immoralisten, Atheisten etc.), und dann auf Grund

der offensichtlichen und existentiellen "Unmöglichkeit", in einer

solchen Welt zu leben, zur Einsicht in die Existenz des fälschlich

geleugneten Phänomens gelangt. Ein noch reineres "argumentum ad

hominem" liegt vor, wenn man einfach auf faktische Widersprüche

hinweist, in die sich ein Diskussionspartner verstrickt und deren

Aufdeckung ihn zu einer Entscheidung für oder gegen eine von ihm

zuvor aufgestellte These zwingt, und damit oft direkt oder indirekt

durch weitere Argumentationen zur Einsicht führt.

Ein anderer vorläufiger Weg der Einsichtsvermittlung mag es sein, auf

unlösbare Schwierigkeiten einer scheinbar alles erklärenden falschen

These hinzuweisen, z. B. der Marxistischen Widerspiegelungstheorie

oder des Kantischen transzerdentalphilosophischen Ansatzes.

Vor allem ist der volle Gebrauch aller logischen Argumente sowohl

innerhalb der Begründung von nur durch Beweis zu gewinnenden

Ergebnissen als auch in der Aufdeckung aller Arten von Trugschlüssen

und logischen Fehlern, wie sie neuerdings von Hamlyn untersucht

wurden, mit der Betonung der fundamentalen Rolle der Einsicht nicht

bloß verträglich, sondern von ihr her erst wirklich Begründbar.

Wenn also der Dogmatismusverdacht nicht bloß gegen unkritische und

leichtfertige Berufung auf Evidenz, sondern auch gegen

verantwortliche Berufung auf sie und gegen die Anerkennung ihrer

grundlegenden Rolle erhoben wird, erweist er sich als völlig

unbegründet. Jede andere Position ist notwendig viel "dogmatischer"

bzw. allein wirklich "dogmatisch" im negativen Sinn: Erstens deshalb,

weil sie sich auf einem nicht universalen rationalen Prinzip gründet,

wie die Einsicht es darstellt, sondern auf subjektivem Glauben,

Tradition etc.; zweitens, weil sie sich vieler der oben angeführten

Begründungs- und Argumentationswege "prinzipiell" beraubt (z. B. des

wichtigen Weges systematischer Analyse evidenter Strukturen);

drittens, weil sämtliche genannten Argumentationsweisen (alle

394

logischen Argumente, Hinweise auf Widersprüche, Analogien etc.)

ausschließlich im Dienste der Einsicht sinnvoll sind, mit Hilfe von

Einsicht beschritten werden und durch Einsicht in ihrer objektiven

evidenten Grundlage begründet werden können. Wenn z. B. das

Widerspruchsprinzip nicht als objektiv evident anerkannt wird, so

beraubt man sich ja damit aller Gültigkeit für das allgemein

beschrittene Argumentationsverfahren des Hinweises auf

Widersprüche in der gegnerischen Position. Dann mag es wirklich so

sein, wie Stegmüller am Schlüsse seines oben diskutierten Buches

meint, daß alle Argumentationen und Hinweise auf Widersprüche "ins

Nichts gebaut" sind, dann würde wirklich alles Beweisen nur auf

subjektive menschliche Denkformen oder relative historische oder

sprachliche Strukturen zurückgehen und damit bloß einen

"spielerischen Charakter", keinerlei objektive Argumentationskraft

besitzen. Damit ist aber völlige Isolation, Privatstandpunkt,

unbegründbar dogmatisches Aufstellen von Thesen auf Grund

subjektiver Meinung, willkürlicher Setzung etc. nicht die Folge der

Anerkennung objektiver Evidenz und Einsicht, sondern vielmehr

gerade die Folge der Verwerfung derselben.

Dies alles wäre weiter auszuführen und zu begründen; dabei ließe sich

auch auf die vieldeutige Verwendung und den schlagworthaften

Charakter des Begriffs "Dogmatismus" hinweisen, dessen

Bedeutungsinhalt zwischen dem Aufstellen blind geglaubter Thesen,

dem unkritischen Behaupten von Evidenz, wo sie nicht vorliegt, dem

fanatischen, die Freiheit anderer verletzenden Festhalten an Thesen,

dem ideologischen Benützen von Thesen im politischen Machtkampf,

der arroganten "Besserwisserei", dem unzureichenden Begründen von

Behauptungen, dem Vertreten einer objektiven Wahrheit (also einem

nicht-skeptischen, nicht-transzerdentalphilosophischen Standpunkt)

und vielen anderen Bedeutungen hin und her schwankt. Dabei wird in

einer oft an Kritiklosigkeit und Sophistik unüberbietbaren Weise jeder

eine objektive Wahrheit verteidigende Standpunkt mit Haltungen

identifiziert, die damit nichts zu tun haben und abzulehnen sind.

Diese Hinweise müssen hier genügen. Eine nähere Analyse des

Schlagworts "Dogmatismus" kann in diesem Rahmen nicht geboten

werden.

395

Am Ende dieses Anhanges sei noch erwähnt, daß die eigentliche

Bedeutung der in diesem Buch erörterten philosophischen

Wesenseinsicht in unserem Geist transzendente Sachverhalte sich erst

in ihrer fruchtbaren Anwendung auf die verschiedensten

Wirklichkeitsbereiche erweist. Die große Fruchtbarkeit, die diese

Methode der Einsicht (die mit allen gültigen Beweis- und

Argumentationsmethoden vollkommen verträglich ist, ja diese, wie in

einer Arbeit über "Einsicht und Argumentation" gezeigt werden soll,

erst begründen kann) in der Entdeckung zahlreicher metaphysischer,

ethischer, ästhetischer, erkenntnistheoretischer, logischer u. a.

Wesensgesetze und Wirklichkeiten hat, zeigt erst das volle Ausmaß

ihrer Bedeutung370.

Wie in Erkenntnis objektiver Wahrheit ausgeführt, hat D. v. Hildebrand

weit über Husserl, Scheler, Pfänder, Reinach u. a. hinaus entscheidende

Beiträge zur Klärung und rationalen Begründung dieser Methode und

auch zu ihrer Fruchtbarmachung für die verschiedensten Gebiete der

Philosophie geleistet. Von dem bevorstehenden Erscheinen seines

bahnbrechenden erkenntnistheoretischen Hauptwerks What is

Philosophy? in deutscher Sprache (in der von der

Dietrich-vonHildebrand-Gesellschaft edierten und bei Kohlhammer

und Habbel verlegten Ausgabe "Gesammelte Werke") und der bereits

erfolgten Neuauflage des Werkes in englischer Sprache darf man

erhoffen, daß es nicht nur durch seinen erkenntnistheoretischen

Eigengehalt, sondern auch durch seine Fruchtbarkeit zur Grundlegung

der verschiedensten Gebiete der Philosophie eine seiner Bedeutung

angemessene Wirkung haben wird. Möge das vorliegende Buch, teils

durch die Anwendung der großen Einsichten der Münchner

Phänomenologen — die in "What is Philosophy?" einen Höhepunkt

theoretischer Klarheit erreichen — auf konkrete Probleme und kritische

Auseinandersetzungen mit einflußreichen philosophischen

Strömungen der Gegenwart, teils durch ergänzende Untersuchungen

370 In diesem Sinn versuchte ich beispielsweise in meiner

Habilitationsschrift Leib und Seele zu zeigen, wie die verschiedensten

falschen Positionen bezüglich des Leib-Seele-Problems weitgehend auf

einer Verkennung der Methode der Wesenseinsicht beruhen und wie,

positiv gesprochen, diese Methode zur Behandlung dieses grundlegenden

Problems einer philosophischen Anthropologie unerläßlich und fruchtbar

ist.

396

einen bescheidenen Beitrag leisten zu dem aus dem immanentistischen

Gefängnis des späten Husserl hinausführenden Philosophieren über das

"Sein selbst".

Im Sinne der ursprünglichen Münchner Phänomenologie und

klassischen Tradition macht sich bereits eine Reihe jüngerer Denker

bemerkbar, die vor der Gründung eines Internationalen

Philosophischen Jahrbuchs stehen371, das der Fortführung der

philosophia perennis bzw. der im vorliegenden Buch als

"Transzendenzphilosophie" bezeichneten Philosophie dienen soll. Daß

sich bereits so viele Denker in diesem Anliegen und in zahlreichen

Publikationen vereinen, daß die erste Auflage des vorliegenden Buches

so schnell vergriffen war, daß das demselben Anliegen gewidmete

Doktor-Programm an der Universität Dallas (University of Dallas) so

viele begabte und intensiv dasselbe Anliegen teilende Studenten

anzieht, nehme ich als Zeichen daß die Rehabilitierung der

Philosophie372 von vielen Denkern in Angriff genommen wird, welche

die in diesem Buch behandelte und bisher noch kaum beachtete

Revolution der Philosophie, die zu einem Ausbrechen aus dem

Gefängnis des Immanentismus, Relativismus, Transzendentalismus

und logisdien Positivismus und zu einer Neubegründung des

philosophischen Erkennens des "Wesens der Wirklichkeit'' selbst führt,

in ihrem vollen Philosophischen Gewicht verstehen.

Dabei steht diese Bewegung der "Rehabilitierung der Philosophie" —

von einer intensiven Auseinandersetzung mit den großen Problemen,

die in der modernen Philosophie aufgeworfen wurden, begleitet —

keineswegs allein, auf eine ,,Schule'' beschränkt. Bedeutende

Philosophen wie W. Hoeres, J. de Vries, H.-E. Hengstenberg und

manche andere gehen und gingen in eine ähnliche Richtung, gelangen

zu denselben evidenten Ergebnissen, obgleich von einer anderen

philosophischen Tradition, vorwiegend scholastisch-mittelalterlicher

Philosophie, ausgehend.

Die erwähnte philosophische Erneuerungsbewegung baut auf den

großen, zu allen Zeiten gewonnenen Ergebnissen philosophischer

Forschung auf und fühlt sich daher mit den Denkern aller Zeiten, die

dieselbe Wahrheit erkannten, verbunden, wie Platon, Aristoteles,

371 Aletheia. International Journal for Philosophy. 372 Titel des 1974 bei Habbel erschienenen Festschriftbandes für B.

Schwarz.

397

Augustinus, Bonaventura u. a., bei denen sich, wie in diesem Anhang

angedeutet, dieselben Grundergebnisse finden, deren Darstellung und

Weiterführung das vorliegende Buch gewidmet ist, und von denen gilt,

daß sie in sich bestehen, bevor wir sie finden, und daß sie uns und unser

Philosophieren zu allen gleiten erneuern, wenn wir sie finden, wie

Augustinus sagt:

Non enim ratiocinatio talia facit, sed invenit. Ergo antequam

inveniantur, in se manent, et cum inveniuntur, nos innovant. (De Vera

Religione, XXXIX, 13). — (Denn solche Wahrheiten schafft das

Denken nicht, sondern es findet sie. Bevor sie also gefunden werden,

ruhen sie in sich; und wenn sie gefunden werden, erneuern sie uns.)

IRVING, den 15. Februar 1975

JOSEF SEIFERT

398

INHALT

VORWORT

EINLEITUNG

Die Bedrohung der Erkenntnis durch den Immanentismus

Was heißt Transzendenz?

Transzendieren als Akt der Person .

Transzendenz als objektives Verhältnis zweier Wirklichkeiten .

Transzendenz als das Sein jenseits der menschlichen Erkenntnis .

Die Verkündung der "absoluten Transzendenz" als Immanentismus

Das Thema der Arbeit und einige methodische Vorübelegungen

Die Grundthemen der Arbeit

Der Ausgangspunkt der folgenden Untersuchungen vom bewußten

Akt des Erkennens

Die Rolle der Untersuchungen Res ersten Teils für den zweiten

Die Methode dieser Arbeit

I. TEIL

ERKENNTNIS, TÄUSCHUNG, IRRTUM. DIE IN JEDEM

ERKENNEN GELEGENE TRANSZENDENZ

1. KAPITEL: DIE INTENTIONALITÄT UND

REZEPTIVITÄT JEDER FORM VON ERKENNTNIS

Allgemeine Wesenszüge der Erkenntnis

Erkenntnis läßt sich auf nichts anderes zurückführen oder aus ihm

ableiten

Die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt in der Erkenntnis ist

eine intentionale

Erkennen ist ohne Person und Person ohne Erkennen unmöglich

Das Erkennen ist eine einseitige Berührung zwischen Subjekt und

Objekt, die keine Identität zwischen erkennendem Subjekt und

Erkanntem voraussetzt oder einschließt .

399

Psychologistischer Immanentismus

Versuche, die Erkenntnis auf andere Wirklichkeiten zurückzuführen

und allgemeine Gründe dafür

Psychologistische Umdeutung des Erkennens

Psychologistische Umdeutungen des uns unmittelbar gegebenen,

bewußten Erkenntnisaktes

Subjektiver Idealismus und Rationalismus als Psychologismus

Psychologismus als Immanentismus

Das Wesen der Intentionalität gegenüber den psychologistischen

Umdeutungen

Intentionales "Bewußtsein v o n" und "Vollzugsbewußtsein" als zwei

nicht aufeinander zurückführbare Urgegebenheiten

Das Scheitern des Versuches, die Gegenstände des "Bewußtseins

von" auf immanente, reale Inhalte des Bewußtseins zurückzuführen

Die Widersprüchlichkeit und der unendliche Regreß in dem Versuch,

das Vollzugsbewußtsein auf das "Bewußtsein von" zurückzuführen

— ein dem Psychologismus entgegengesetzter Irrtum

Die Subjekt-Objekt-Relation kann nie als eine Kausalrelation

aufgefaßt werden .

Der innere Widerspruch des Materialismus und jeder Zurückführung

der Erkenntnisrelation auf eine Kausalrelation .

Die über die Intentionalität hinausgehende Transzendenz jeder

Erkenntnis

N. Hartmanns Einwurf: Intentionalität heißt nicht Transzendenz

Die Transzendenz jeden Erkennens

Erkennen im eigentlichen Sinn und mit Glauben oder Interpretation

verbundenes Erkennen

Erkennen, Kenntnisnahme, Wissen, Kennen

Die Transzendenz in der Erkenntnis ist wesenhaft ein Empfangen

Nietzsches Auffassung der Erkenntnis als ein Schaffen — ein radikaler

Immanentismus

Unterschied zum bloßen Psychologismus

Nietzsches und Kant Auffassung des Erkennens

400

Dir beiden Grundrichtungen der Transzendenz

Die "rezeptive Transzendenz" des Erkennens als Grundlage jeder

Transzendenz, doch nicht als einzige Form derselben

Der Dialog und die metaphysische Bedeutung der beiden

Grundrichtungen der Transzendenz

Das Erkennen als Grundform der "rezeptiven Transzendenz"

2. KAPITEL: DIE REZEPTIVITAT DES ERKENNENS

GEGENÜBER DER SPONTANEITÄT VON BEGRIFFSBILDUNG

UND URTEILEN

Bezeichnen mit Begriffen als spontaner Akt .

Gegenstandserkenntnis und Begriff

Begriff und Sache innerhalb der Philosophie.—Die Notwendigkeit,

daß die spontane Tätigkeit der Begriffsbildung von der rezeptiven

des Erkennens getragen sei

Die rezeptive Transzendenz des Erkennens tut sich in der spontanen

Transzendenz der Begriffsbildung kund

Die spontane Transzendenz des Urteilens

Transzendenz und Wahrheitsanspruch

Überzeugung zwischen Sachverhaltserkenntnis und Urteil

Urteilssatz und Urteilsakt—Überzeugung und Überzeugungsinhalt

Sache und Sachverhalte—Unvollständige Erkenntnis, Wahrheit, Irrtum

3. KAPITEL: ERKENNTNIS UND IRRTUM

Irrtumsmöglichkeit nur in Überzeugung und Urteil, nicht in Erkenntnis

Immanentismus in der Auffassung des Unterschiedes zwischen

Erkenntnis und Irrtum als bloß äußeren Unterschied

In der Erkenntnis irren wir uns niemals

Konsequenzen dieser Wahrheit

Unvollständige Wahrheit und Irrtum

Wie kann ich selbst wissen, ob ich irre oder erkenne?

401

Immanentismus in der Auffassung, nur ein "idealer Beobachter"

könne Erkenntnis von Irrtum unterscheiden

Die Verschiedenheit des Vollzugsbewußtseins bei Erkennen und

Irren

Über die Frage der Unbewußtheit der spontanen Tätigkeit beim Irren

Die Irrtumslosigkeit der Erkenntnis ist keine Tautologie

Die Transzendenz jeglicher Erkenntnis als Grundlage aller

Transzendenz des Menschen

Drei Fragen, die eine weitere Erforschung der Transzendenz der

Erkenntnis nötig machen

II. TEIL

NEUE STUFEN DER TRANSZENDENZ DER ERKENNTNIS:

UNBEZWEIFELBAR GEWISSE ERKENNTNIS, ERKENNTNIS

DER "DINGE AN SICH" UND EWIGER WAHRHEITEN

1. KAPITEL: DIE EINSICHT IN NOTWENDIGE

WESENSZUSAMMENHÄNGE UND DIE UNBEZWEIFELBAR

GEWISSE ERKENNTNIS EINES AN SICH SEIENDEN SUBJEKTS

Die Leugnung der Erkennbarkeit von Dingen an sich als

Immanentismus

Vier des subjektivistischen und idealistischen Immanentismus

Immanentismus als Versuch der Auflösung des Unterschiedes zwischen

Idealismus und Realismus .

Welche Wirklichkeiten sind überhaupt nicht, wenn sie nicht vom

menschlichen Bewußtsein unabhängig an sich sind?

Was heißt "an sich" und "unabhängig von jedem erkennenden

Subjekt"?

Die Leugnung der Erkennbarkeit des "Dinges an sich" als der

gemeinsame Punkt der früher erwähnten Form des Immanentismus

402

Die zwei archimedischen Punkte innerhalb des "Seins an sich", in

deren Erkenntnis jede Zweifelmöglichkeit zerschellt

Realerkenntnisse und Wesenseinsichten im Cogito

2. KAPITEL: DIE UNENTTHRONBARKEIT DER ERKENNTNIS

DES "DINGES AN SICH" IM "COGITO"

Der Kampf gegen die Transzendenz metaphysischer Erkenntnis im

"Cogito"

Der innere Widerspruch in der Leugnung der Erkennbarkeit des

"Dinges an sich" und in der gleichzeitigen Behauptung, die

menschliche Erkenntnis sei "allgemeingültig"

Kants Zugeständnis, daß die Wahrheit des "si fallor, sum" seine ganze

"kritische" Philosophie widerlegen würde

Über Wesen und Bedeutung des Unterschiedes zwischen analytischen

und synthetischen Sätzen a priori

Die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori

Die Grundfrage jeder Metaphysik, "die in Zukunft als Wissenschaft

wird auftreten können" und ihre immanentistische Formulierung

bei Kant

Gründe für die immanentistische "Erklärung" der Möglichkeit

synthetischer Urteile a priori bei Kant .

Auf der Äquivokation von "Erfahrung" ruht die ganze Kantische Kritik

Eine weitere entscheidende Entdeckung v. Hildebrands: Drei

Soseinsarten

Die verschiedenen Bedeutungen von a priori

Die Transzendenz in der Erkenntnis des "Dinges an sich" in der

Wesenserkenntnis nicht nur notwendig vorausgesetzt, sondern

einsichtig möglich

Transzendenz als Überschreiten alles Erfindbaren und Zufälligen

Nietzsches Auffassung der Erkenntnis als unbewußtes Schaffen

403

Die Unmöglichkeit, Wesenserkenntnis als unbewußtes Schaffen zu

deuten und der Endpunkt der Phantasie

Transzendenz als Überschreiten des Wandelbaren: ewige Wahrheiten

Absolute Gewißheit als "Beweis" der Transzendenz — Zwei Arten

von Evidenz und die Frage nach einem Kriterium für die Evidenz

Transzendentalphilosophie als Immanentismus und Gegensatz zur

Transzendenzphilosophie

Die Erkenntnis des "Dinges an sich" im "Cogito" .

Erfahrung und unmittelbare Erkenntnis des "Dinges an sich" im

"Cogito": dreifache Äquivokation im Erfahrungsbegriff Kants

Die absolut gewisse Erkenntnis des Subjekts des Zweifels als "Ding

Drei Bedeutungen des Begriffs "Bewußtseinsinhalt"

Die absolut gewisse Einsicht in die "geistige Substantialität" der

Person

Unmittelbare, mittelbare und durch die Sinne Vermittelte Erkenntnis

Über die irrige Meinung, absolut gewisse Erkenntnis setze ein

geschlossenes System voraus—die Frage nach dem Anfang der

Philosophie

Die wahre Voraussetzungslosigkeit der Philosophie

3. KAPITEL: WAHRER "PLATONISMUS" UND WAHRER

REALISMUS

Der transzendentale Idealismus des späten Husserl als ein radikaler

Immanentismus.—Die -Äquivokationen im Begriff des

transzendentalen ego

Das transzendentale ego als konkrete, individuelle, existierende

Person

Das transzendentale als das in seiner Existenz eingeklammerte "ego"

als "Ich-Phänomen" .

Das transzendentale ego als notwendiges, intelligibles Wesen der

Person

Das transzendentale ego als Ursprung allen Sinnes und aller Geltung

— Transzendentalphilosophie als Gegenteil der

Transzendenzphilosophie

404

Das transzendentale ego als Gegensatz zur real existierenden Person.

— Der transzendentale Idealismus und die transzendentale

Intersubjektivität: Das transzendentale Ich und die verschiedenen

"Ichs"—Die Frage des Solipsismus. Das transzendentale ego als

überhaupt kein Subjekt: Leugnung der Existenz

Wahrer Platonismus

Die für die Philosophie und die Menschliche Existenz entscheidende

Frage nach "ewigen Wahrheiten"

Zwei Bedeutungen von "Sein" und drei Dimensionen des Seins

Nihilismus als letzte Konsequenz der Leugnung ewiger Wahrheiten

Das "ideale Sein" notwendiger Wesenheiten und zwei "Beweise"

dafür

Die "ideale Existenz" notwendiger allgemeiner Wesenheiten muß

klar anerkannt werden, um schwerwiegende Irrtümer zu vermeiden

Werterkenntnis

Transzendenz in Erkenntnis objektiver Werte und Nihilismus in

deren Leugnung

Was sind Werte? (3 Kategorien der Bedeutsamkeit)

Die Objektivität der Werte — Wesenserkenntnis und Werterkenntnis

Die spezifische Transzendenz des Menschen in der Werterkenntnis

Das metaphysische Gewicht der Werte

Wahrer Realismus und ewige Wesenheiten

Ein konstruierter Gegensatz zwischen idealen Wesenheiten und

individueller Existenz

Konkrete Wirklichkeit und ewige Wesenheiten

Die Realität der Werte

Die absolut gewisse Erkenntnis der metaphysischen, substantiellen

Wirklichkeit der eigenen Person

Die absolut gewisse Erkenntnis der objektiven Realität der Zeit

Die objektive, reale Existenz der Außenwelt sind anderer Personen

Die Leugnung der objektiven Wirklichkeit der Außenwelt als

Immanentismus

Die Legitimierung des Unabhängigkeitsanspruches der objektiven

Außenwelt

405

NACHWORT zur ersten Auflage

ANHANG mit Personen- und Sachregister zur 2. Auflage

LITERATURNACHWEIS

PERSONEN- UND SACHREGISTER

LITERATURNACHWEIS

zur ersten Auflage

(Über alle in der Arbeit zitierten Werke)

Akten des XIV. Internationalen Kongresses für Philosophie in Wien (2.

bis 9. September 1968) Bd. I und II. Wien, Herder 1968.

Anselm, von Canterbury: Werke in Allers: Leben, Lehre, Werke des hl.

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zweite. Paderborn, F. Schöningh 1953. Ethica Nicomachea. Oxford

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Livres VI—X

(oeuvres . . . 34) a.a.O. 1959.

Livres XI—XIV

(oeuvres . . . 35) a.a.O. 1959.

Livres XV—XVIII

(oeuvres . . . 36) a.a.O. 1960.

Livres XIX—XXII

(oeuvres . . . 37) a.a.O. 1960.

Confessionum Libri XIII (lat.), hrsg. Wangnereck SJ. Turin, Società

Editrice Internationale 1962. Contra Academicos (franz.-lat.) in:

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