Dramenanalyse zu Edward Albees >>Die Ziege oder Wer ist Sylvia?>THE GOAT or Who is Sylvia? (notes...

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Stuhlfelner 1 Éduard-Henri Avril: Ancient Greek sodomising a goat 1 1 Ancient Greek sodomising a goat", plate XVII from 'De Figuris Veneris ' by F.K. Forberg, illustrated by Édouard-Henri Avril . Paris, 1884 >http://en.wikipedia.org/wiki/File:%C3%89douard-Henri_Avril_%2828%29.jpg <

Transcript of Dramenanalyse zu Edward Albees >>Die Ziege oder Wer ist Sylvia?>THE GOAT or Who is Sylvia? (notes...

Stuhlfelner 1

Éduard-Henri Avril: Ancient Greek sodomising a goat1

1 Ancient Greek sodomising a goat", plate XVII from 'De Figuris Veneris' by F.K. Forberg, illustrated by Édouard-Henri Avril. Paris, 1884>http://en.wikipedia.org/wiki/File:%C3%89douard-Henri_Avril_%2828%29.jpg<

Stuhlfelner 2

Inhaltsverzeichnis:

1 These...............................................................................................................................3

2 Einleitung........................................................................................................................3

3 Analyse von Die Ziege oder Wer ist Sylvia?...................................................................4

3.1 Struktur und Inhaltsübersicht..............................................................................4

3.1.1 Aufbau, Tektonik und Inhalt...................................................................5

3.1.2 Feingliederung........................................................................................7

3.2 Charaktere...........................................................................................................9

3.3 Form, Stil und Notation....................................................................................12

3.4 Übersetzungsanalyse.........................................................................................15

4 Vergleich mit der Tragödie der griechischen Antike.....................................................19

4.1 Aristoteles' Definition der Tragödie aus Poetik (Kap. 1-22)

angewandt auf Die Ziege mit Werkbeispielen..................................................20

5 Groteske Elemente nach Margret Dietrich in Die Ziege...............................................27

6 Fazit...............................................................................................................................31

7 Quellenverzeichnis........................................................................................................34

8 Plagiatserklärung...........................................................................................................35

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1 These

Edward Albee formuliert in seinem Untertitel den Anspruch, bei dem Drama Die

Ziege oder Wer ist Sylvia? handle es sich um ein Stück, welches der Definition der Tragödie

entspreche. Ich untersuche in der vorliegenden Abhandlung anhand einer Analyse des Werks

und historischer Werkvergleiche, der Definition von Tragödie in Poetik von Aristoteles und

anhand von Texten der Theaterwissenschaftlerin Margret Dietrich, inwieweit diese Aussage

standhalten kann. Das heißt, ob das Stück in das Genre Tragödie einzuordnen ist, oder ob der

Untertitel ironisch oder sarkastisch zu verstehen ist.

2 Einleitung

Ja, wer ist eigentlich Sylvia? Als Die Ziege am 10. März 2002 (zwei Tage vor Albees

74. Geburtstag) am Broadway im Golden Theatre2 Uraufführung hatte, kannten alle Edward

Albee. Schließlich war er ein in der Theaterlandschaft etablierter, gefeierter und vielfach

ausgezeichneter Dramatiker. Er hatte bereits drei Pulitzer Preise gewonnen, er war Träger der

Gold Medal in Drama der American Academy and Institute of Arts and Letters und der

National Medal of Arts.3 Mit Wer hat Angst vor Virginia Woolf? hatte er einen Kassenschlager

gelandet –die Rolle von Martha wurde im Theater unteranderem von Größen wie Uta Hagen4

und auf der Hollywood-Leinwand von Elisabeth Taylor5 verkörpert– aber Sylvia kannte

keiner.

Auch Die Ziege sollte sämtliche der wichtigsten amerikanischen Preise für bestes

neues Stück des Jahres 2002 abräumen: den Tony Award, den New York Drama Critics Circle

Award, den Drama Desk Award u.A. Ben Brantley schrieb, wie ich finde, sehr treffend in der

New York Times: „Kraftvoll … außergewöhnlich. … Vier Jahrzehnte nachdem Virginia Woolf

Schockwellen durch das Mainstream Theater sandte, stellt Mr. Albee noch immer Fragen, die

kein bedeutender amerikanischer Dramatiker zu fragen wagt“6

Als ich 2009 ein Auslandsstudienjahr an der University of Kansas absolvierte, las ich

erstmals Die Ziege. Vergleichbare Literatur war mir bis dato nicht untergekommen. Sowohl

2 Internet Broadway Database >http://ibdb.com/production.php?id=13285< © 2001-2013, The Broadway League, All Rights Reserved. 26.07.2013

3 Schleifer, Bernard THE GOAT or Who is Sylvia? Cover Information4 Hagen, Uta Kleines Schauspielerhandbuch (Respect for Acting) Autorenhaus Verlag GmbH, Berlin,

2007; S. 2125 Internet Movie Database: Who's afraid of Virginia Woolf? >http://www.imdb.com/title/tt0061184/?

ref_=sr_1< 26.07.20136 Schleifer, Bernard THE GOAT or Who is Sylvia? Cover InformationOriginal: „Powerful … extraordinary. … Four decades after Virginia Woolf sent shock waves through the

mainstream theatre, Mr. Albee still asks questions that no major Amerikan dramatist dares to ask.“

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der gehoben lockere Schreibstil, als auch der provokante und vielschichtige Inhalt faszinierten

mich auf Anhieb, bis heute. So lag es nahe, dieses Stück für die Abschlussarbeit zu wählen.

Der an sich tragische Werdegang der Hauptfigur Martin Gray, erzeugte bei mir derart

gemischte Gefühle, dass die Feststellung im Untertitel, bei Die Ziege handle es sich um

Notizen zu einer Definition der Tragödie, welche in der deutschen Übersetzung einfach

unterschlagen wurde (zumindest in der mir vorliegenden Ansichtsausgabe),

überprüfungswürdig erscheint. Allein, weil der Begriff Tragödie ein weitgefächerter ist und

sich seit den Anfängen in der griechischen Antike durchaus entwickelt hat.

3 Analyse von Die Ziege oder Wer ist Sylvia?

3.1 Struktur und Inhaltsübersicht

Die Ziege als Gegenwartsliteratur hat nicht den klassischen pyramidalen

Spannungsbogen nach Gustav Freytag. Auch baut Albee kein retardierendes Moment in die

Handlung ein, in dem die ausweglose Situation lösbar erschiene und die Figuren Hoffnung

schöpfen könnten. Meiner Meinung nach kann Die Ziege am treffendsten in folgenden

griechisch antiken Spannungsaufbau gegliedert werden:

– Exposition: Die Exposition, oder auch Einleitung, stellt Charaktere und

Gegebenheiten vor; dem Rezipienten werden die gegebenen Umstände

offenbart.

– Krise: Die Krise ist die logische Folge aus den vorgestellten

Charakteren und Umständen in der Einleitung. Sie ist die Basis

für den Verlauf des Stücks. Die Krise wird vom Protagonisten

durchlebt.

– Konflikt: Aus der Krise entsteht ein Konflikt zwischen den handelnden

Personen.

– Klimax: Die Klimax ist der Höhepunkt des Stücks, der aus der Eskalation

des Konflikts entsteht.

– Konklusion: In der Konklusion wird ein Fazit gezogen, das Geschehene wird

von den durch Krise und Konflikt gepeinigten Charakteren

resümiert.

Stuhlfelner 5

3.1.1 Aufbau und Inhalt7

Erste Szene:

Exposition: Seite 4-10: Der renommierte Architekt Martin Gray und seine Frau

Stevie bereiten die Wohnung für ein Interview anlässlich Martins 50. Geburtstags vor,

welches von seinem Freund Ross durchgeführt werden soll. Martin wird von Ängsten geplagt

Alzheimer zu bekommen. Er ist zerstreut und beschwert sich, sich nichts mehr merken zu

können. Außerdem hat er Visitenkarten in der Tasche, von deren Herkunft er vorgibt keinerlei

Ahnung zu haben. Als Stevie ihn damit konfrontiert, dass er möglicherweise eine Affäre mit

der Frau auf der Visitenkarte haben könnte, leugnet er zunächst, dass ihm derartiges bewusst

sei. Als Ross an der Türe klingelt, erhöht Stevie den Druck auf ihren Mann massiv, und er

gesteht ihr, dass er in eine gewisse Sylvia verliebt ist. Des Weiteren sagt er ihr im Eifer des

Wortgefechts, sie sei eine Ziege. Stevie hält das für einen Witz, b.z.w. eine Metapher und

öffnet Ross die Türe.

Krise: Seite 10-26: Ross begrüßt die beiden herzlich. Nach kurzem, aber

herzlichem Smalltalk lässt Stevie kichernd die Männer mit der Bemerkung, sie müsse noch

zur Zoohandlung, allein. Nach oberflächlicher Konversation zwischen Martin und Ross,

fängt Ross an, Martin zu interviewen. Jedoch Martin ist nicht bei der Sache, sodass Ross das

Interview entrüstet abbricht. Auf Ross' Frage, was mit seinem Freund los sei, antwortet

Martin ausweichend, er will zuerst nicht mit der Wahrheit herausrücken. Jedoch bohrt Ross

nach und überzeugt ihn schließlich von seiner Loyalität, sodass Martin ihm am Ende doch

gesteht, dass er eine Affäre mit einer gewissen Sylvia hat, bei der es sich um eine Ziege

handelt. Ross ist völlig entsetzt und kündigt an Stevie von der Affäre in Kenntnis zu setzen.

Zweite Szene:

Konflikt: Seite 27-51: Einen Tag später: Ross' Brief ist angekommen, Stevie,

Billy und Martin sind im Wohnzimmer. Martins Geheimnis ist gelüftet, sein Sohn Billy

schreit ihn an, wobei Martin ihn u.a. mit Scheiß Schwuler beschimpft und tief verletzt. Martin

schickt seinen 17-jährigen Sohn auf sein Zimmer, nun sind Stevie und er allein. Stevie

versucht sachlich zu bleiben, was ihr anfangs über weite Strecken gelingt. Sie liest den Brief

von Ross vor, lässt Martin ihre Reaktion nachempfinden, wie sie das Ganze zuerst für einen

üblen Witz gehalten hatte, dann aber ihr Gespräch über die Ziege rekapituliert hatte, sein

Geständnis, welches sie auch für einen Witz gehalten hatte und sein komischer Geruch, den

sie bis dahin nicht einzuordnen wusste. Nun möchte sie von Martin alle Einzelheiten wissen:

„Wenn ich Dich umbringe, dann muss ich genau wissen, warum – alle Einzelheiten.“8 Also

7 Einteilung in Exposition, Konflikt, Krise, Klimax, Konklusion von mir; Szeneneinteilung vom Autor8 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 35

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erzählt er. Er erzählt, wie er Sylvia kennen gelernt hatte, und dass die Visitenkarten von einer

Therapiegruppe für Sodomiten stammen. Martin besteht darauf, dass Stevie Sylvia nicht als

Neutrum bezeichnet. Als Stevie ihn fragt, welches Tier sein Gruppenleiter der

Selbsthilfegruppe „gefickt“ hätte, und er „ein kleines Schwein“ antwortet, fängt Stevie an den

Raum zu verwüsten. Sie wirft Porzellan und Bilder zu Boden, kann sich nicht mehr halten.

Martin fährt fort, dass er nicht verstünde, warum es Leute gebe, die sich von der Liebe

zu Tieren heilen lassen wollen, das tue doch keinem weh, und wenn man glücklich sei...

Außerdem konstatiert er, dass er nicht nur mit Sylvia „ins Bett gehen“ würde, sondern dass er

sie liebe und dass die Ziege ihn auch liebe. Stevie ist daraufhin am Ende, prophezeit ihm:

„Du ziehst mich runter, und Herrgott!, ich zieh dich runter mit mir!“9 und geht ab.

Dritte Szene:

Klimax: Seite 52-62 Billy kommt zurück zum Schauplatz des Streits. Sein

Vater sitzt in den Trümmern des einstigen Wohnzimmers, das Stevie in ihrer Verzweiflung

verwüstet hat. Billy spricht sich mit seinem Vater aus. Er wird immer verzweifelter, Martin

hat sein Leben zerstört, er zerbricht an dem tiefen Fall. Sein Vater war sein Ein und Alles,

nun sieht er, was er einst für eine Bilderbuchbeziehung seiner Eltern gehalten hatte, in

Trümmern liegen. Billy verliert in seiner Verzweiflung und Verwirrung die Beherrschung, die

Situation kippt, und er küsst seinen Vater leidenschaftlich auf den Mund. In diesem Moment

kommt Ross hinzu, welcher von der Szenerie reichlich geschockt ist. Martin fragt ihn, was er

hier wolle und beschimpft ihn als Judas. Stevie habe ihn angerufen, er werde gebraucht,

antwortet er knapp, und die ehemals besten Freunde setzen sich weiter auseinander. Martin

agiert völlig hemmungslos, er hat wegen Ross alles verloren, nun ist ihm alles gleichgültig.

Plötzlich kommt Stevie zu den drei Männern. Sie schleift den Kadaver von Sylvia

herein, welcher sie die Kehle durchtrennt hatte. Die Phase der Klimax gipfelt an diesem

Punkt und stellt gleichzeitig den dramatischen Höhepunkt des Stücks dar.

Konklusion: Seite 62-63: Martin macht seinem Leid in einem gepeinigten

Urschrei Luft. Auf die Frage von Martin, womit dieser Mord zu rechtfertigen sei, antwortet

Stevie, dass die Ziege laut der Aussage von Martin, genauso in ihn verliebt war, wie er in sie

und in Stevie, sie folglich nicht schuldlos sei. Martin entschuldigt sich bei allen. Es tue ihm

leid. Stevie macht die Drohung, ihn mit sich hinabzuziehen, wahr.

Die Ziege ist in drei Szenen unterteilt, was in diesem Fall dem antiken Dreiakter

entspricht. Ansonsten ist keine kleinere Unterteilung vom Autor angegeben. Die Fünfteilung

9 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 51

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der Spannungsbögen wirft die Frage auf, warum Albee die Tektonik von Die Ziege in ein

Dreiaktschema eingeteilt hat. Albees Anspruch, er wolle die Tragödie definieren, wäre eine

Erklärung, warum er in diesem Fall den strukturellen Aufbau missachtet und die Handlung im

Sinne von Aristoteles in Anfang, Mitte und Schluss durch drei teilt. Ein weiterer Grund, dass

Albee den Dreiakter wählte, ist wohl, dass er eine Zersplitterung der Handlung in zu viele

Teile vermeiden wollte. So leitet er von Exposition zu Krise und von Klimax zu Konklusion

fließend ohne Vorhang über.

In der Moderne brechen viele Dramatiker bewusst mit der Einteilung in Akte, lassen

diese teils ganz weg. Ein weiterer Hinweis, dass Albee sich nicht an die klassische

Einteilungsweise hält, ist, dass er, was eigentlich einem Akt entspräche, als Szene bezeichnet.

Der Akt ist normalerweise die größte Einheit eines Dramas. Die Szene ist eigentlich das

nächstkleinere Einteilungsglied, dass den Akt wiederum in Raum- und Zeitwechsel unterteilt.

Raumwechsel finden bei Die Ziege überhaupt nicht statt. Zeitwechsel hingegen treten

tatsächlich nach jeder Szene ein. Von der ersten auf die zweite Szene verstreicht ein Tag, von

der zweiten auf die dritte Szene zirka eine Stunde. Mit der Einheit Szene als größte, verweist

Albee möglicherweise darauf, dass Die Ziege ein Ausschnitt einer größeren Handlung ist.

Folglich wäre das uns vorliegende Drama ein Akt aus Martins Leben, die der Handlung

vorangehenden - und nachfolgenden Akte fehlen. Dass die Handlung bei Beginn des Dramas

bereits läuft, und dass das Schicksal nach dem Ende ungewiss bleibt, unterstreicht dieses Bild

eines Handlungssegments.

3.1.2 Feingliederung

Die Einteilung von Exposition bis Konklusion kann nicht nur über den gesamten

Spannungsbogen eines Dramas vollzogen werden, sondern die einzelnen Rubriken können

wiederum nach dem gleichen Schema kategorisiert werden. So kann z.B. die Exposition

wiederum in Exposition bis Konklusion eingeteilt werden. Die Ziege ist folglich wohl

durchdacht und durchstrukturiert.

Exposition: Seite 4-10

Exposition: Charaktere von Martin und Stevie wird eingeführt.

Krise: Angst vor Alzheimer.

Konflikt: Anschuldigung seitens Stevie einer Affäre zwischen Martin und Clarissa

Atherton.

Klimax: Geständnis der Affäre mit Sylvia.

Stuhlfelner 8

Konklusion: „Da will man es ihnen sagen; will ehrlich sein. Und sie? Lachen einen aus.

„Du bist unmöglich!“ Ich glaube, sie hat recht.“10

Krise: Seite 10-26

Exposition: Ross wird eingeführt.

Krise: Gescheitertes Interview.

Konflikt: Persönliches Gespräch, Ross entlockt Martin sein Geheimnis.

Klimax: Martin gibt Ross das Foto, auf dem Sylvia zu sehen ist. Ross' Ausbruch:

„DU FICKST EINE ZIEGE!“

Konklusion: Martins Antwort: „(lange Pause; sachlich) Ja.“11

Konflikt: Seite 27-51

Exposition: Es ist allen Charakteren bekannt, dass Martin eine Affäre mit Sylvia

unterhält. Man sortiert sich, akzeptiert die Gegebenheiten. Billy ab.

Krise: Martin schildert Stevie den Werdegang seiner Affäre.

Konflikt: Stevie sagt ihm die Meinung, zerstört das Inventar.

Klimax: Stevie haut ab, droht Martin, ihn zu vernichten, wie er sie vernichtet hat.

Konklusion: Martin: „(als sie weg ist; als er die Tür hört; kleiner Junge) Stevie?

(Pause) Stevie?“12

Klimax: Seite 52-62

Exposition: Billy kommt zurück. Die Verwüstung wirkt auf ihn. Er erfährt, was passiert

ist.

Krise: Billys Krise, sein Vater war sein Ein und Alles. Martin hat ihn enttäuscht.

Konflikt: Billy maßregelt seinen Vater.

Klimax: Billy küsst Martin. Ross kommt hinzu. Stevie schleift die tote Sylvia an.

Konklusion: Im Zuge der Klimax gibt es bei Die Ziege keine eigene Konklusion, da

dies der Höhepunkt des Stücks ist und die stückübergreifende

Konklusion (S. 62-63) direkt ohne eigene Unterpunkte folgt. In dieser

reflektieren alle Charaktere die Geschehnisse.

10 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 1011 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 2612 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 51

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3.2 Charaktere

MARTIN Gray, Architekt, fünfzig Jahre alt13

Martin Gray existiert tatsächlich, jedoch ist der reale kein Architekt. Ursprünglich

Mietek Grayewski, ist ein Pole jüdischer Abstammung, ein Holocaustüberlebender, der nach

dem Einmarsch der Nazis im Warschauer Ghetto lebte und in dem Vernichtungslager

Treblinka interniert war. Von dort gelang ihm die Flucht, er tauchte in den Untergrund ab und

operierte dort als Partisan. Später schloss er sich der Roten Armee an und war an der

Eroberung von Berlin beteiligt. Nach dem Krieg emigrierte er in die U.S.A., schrieb seine

Memoiren, gelangte dadurch zu einigem Wohlstand und nahm den Namen Martin Gray an.

Dort heiratete er und bekam vier Kinder. Tragischerweise kamen seine Frau und alle Kinder

in einem Waldbrand um.14 Wie der reale Martin Gray, so verliert auch die literarische Figur im

Lauf von Die Ziege seine Familie, wenn auch auf völlig andere Art. „Bei der Tragödie halten

sich die Dichter an die Namen von Personen, die wirklich gelebt haben.“15

Gray als die Farbe Grau, passt gut zu der Wirkung, die Martin auf mich ausübt. Als

Charakter wirkt er anfangs sympathisch und liebenswert zerstreut. Es scheint als habe er eine

weiße Weste. Er ist erfolgreich in allem, was er tut und die vertraute Liebe zu seiner Frau

Stevie wird deutlich. Jedoch nach der Offenlegung seines Inneren, seines Triebhaften, wird er

für den Rezipienten unnachvollziehbar. Die anfangs aufgebaute Empathie seiner Person

gegenüber wirkt nach, aber eine Identifikation mit seinen Moralvorstellungen und

Gedankengängen, wird unmöglich. Wenn auch unnachvollziehbar, so erscheint er jedoch

nicht wahnsinnig. Er kann vom Rezipienten weder als rein distanziert böse, noch als rein

empathisch gut gesehen werden. Ein Schwarzweißdenken wird durch diese Ambivalenz

außer Kraft gesetzt. Er ist eine Mischung aus beidem: grau.

Grau kann auch als Allerweltsbezeichnung gesehen werden. Martin ist ein häufiger

Vorname und Gray ein häufiger Nachname. Obwohl Martin von Anfang bis Ende des Stücks

keine Allerweltsfigur ist –wie Ross im Interview etwas unbeholfen sagt: „Manche Leute,

nehme ich an, sind, naja … außergewöhnlicher als andere. Martin Gray […] ist so ein Mann,

eine Persönlichkeit.“16– so soll damit symbolisiert werden, dass jeder in unserer Gesellschaft

im Innern derart von der Norm abweichen könnte, wie Martin. Wie Ross am Ende des Stücks

konstatiert, so ist das eigene Seelenleben eines jeden privat und geht keinen etwas an, sobald

man aber eine Person aus dem öffentlichen Leben ist und die dunkelsten Geheimnisse

13 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 314 Wikipedia: Martin Gray >de.wikipedia.org/wiki/Martin_Gray< 27.07.201315 Aristoteles Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Kap.9 S. 3116 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 13

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entdeckt werden, so ist man unrehabilitierbar zerstört. In anderen Worten ist es für ihn

akzeptabel eine Ziege zu „ficken“, solange keiner davon weiß. Die im Verborgenen,

abgründigen sexuellen Fantasien eines jeden Mitmenschen könnten möglicherweise auf

irgendeinen krankhaften Fetisch destilliert werden. Nun ist Martin zwar von solch einem

krankhaften Fetisch, der Sodomie, besessen, aber er sagt, wie ich finde, sehr passend: „Was

turnt „uns“ eigentlich nicht an? Gibt's überhaupt etwas, was einen nicht anturnt, wenn man

ehrlich ist –“17 Der Mensch unterdrückt oft seine sexuellen Fantasien aus moralischen

Beweggründen. Was im Innern von manchem vorgeht, bleibt oft im Verborgenen. Albee

weist geschickt darauf hin, was in vielen unter uns schlummern könnte. Sex an sich ist nach

wie vor ein Tabuthema, welches zwar im Verborgenen praktiziert wird, aber seltenst

salonfähig diskutiert wird. Martin ist einer von „uns“, er ist ein voll integriertes Mitglied

unserer Gesellschaft, ob wir wollen, oder nicht. Schließlich hat Albee die Sodomie nicht

erfunden.

STEVIE, seine Frau

Stevie ist die Kurzform von Stefanie. Der Name Stefanie ist die weibliche Form von

Stefan, welcher auf den Heiligen Stephanus zurück zu führen ist, dem ersten christlichen

Märtyrer. Der Name wird von dem altgriechischen Begriff >>Stephanos<< abgeleitet, was

auf Deutsch so viel wie >>Kranz<< bedeutet. St. Stephanus war um 34 n. Chr. in Jerusalem

als Diakon für die Speisung von griechischen bedürftigen Gläubigen zuständig. Seine

Aufgaben waren neben Gebet und Handauflegen die Bewirtung Bedürftiger. Sein weltliches

Wirken war das eines Kellners in der Caritas. Er gilt in der christlichen Mythologie als

redegewandt und wundertätig. Angeklagt und verurteilt wurde er wegen Streitgesprächen, in

denen er den christlichen - gegen den jüdischen Glauben vertrat. Gerichtet wegen

Blasphemie gegen die Tora und weil er von der Zerstörung des Tempels gesprochen habe,

starb er mit den Worten, Gott solle seinen Peinigern die Sünde vergeben, durch Steinigung.

Um besser werfen zu können, entledigten sich die Peiniger von Stephanus ihrer Kleider.18 Ein

Fruchtbarkeitsritual aus dem Mittelalter war, dass die Burschen am Stephanustag ihre

Angebetete mit einer Rute oder einem Barbarazweig auf den Rücken schlugen.19

Das Martyrium von Stevie ist durchaus mit dem ihres Namenspatrons vergleichbar.

So wie die Vollstrecker von St. Stephanus, hat sich auch Martin seiner Kleider entledigt, als er

sich an der Ziege verging und Stevies Leben vernichtete. Sowohl der Name Stephanos, als

17 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 6018 Heid, Stefan Stephanus: Der erste Märtyrer Langer, Michael (Hg.) Licht der Erde: Die Heiligen Verlag

Herder, Freiburg in Breisgau. 1984 S.7919 Jöckle, Clemens Das große Heiligen Lexikon Parkland Verlag, Köln. 2003

Stuhlfelner 11

auch die Menschen mit denen er lebte und arbeitete, verweisen auf Griechenland, die Wiege

der Tragödie. Das barbarische mittelalterliche Fruchtbarkeitsritual, passt zur Thematik von

Fruchtbarkeit und instinktiver, triebgesteuerter Sexualität von Die Ziege. Als Stevie Martin

fragt, wer sie selbst für ihn sei, schließt er seine Beschreibung mit der Feststellung ab, Stevie

sei seine Köchin, seine Flaschenspülerin20, was im Deutschen wenig Sinn macht. Das

Sprichwort you're the chief cook and bottle washer, heißt, dass man für alles zuständig ist,

quasi der Chefkoch und der Spüljunge in einer Person ist. Diese Redensart kann als

Anspielung auf Stephanus, den Kellner, zurückgeführt werden. Die Redewendung ist im

Englischen allerdings meist nicht auf jemanden bezogen, der tatsächlich kocht, oder Flaschen

spült, auch wenn Stevie wahrscheinlich die Funktion eines Kochs für Martin erfüllt. Es ist

viel mehr im übertragenen Sinne, also metaphorisch zu verstehen. Der Witz von Martin ist,

dass er die Allegorie wörtlich nimmt und sich nochmal vergewissert, ob sie tatsächlich seine

Flaschen wasche. Vergleichbar wäre im Deutschen in etwa, wenn sich jemand scherzhaft

nach den Kosten für Pferdestallungen erkundigt, wenn ihm ein anderer sagt, einem

geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.

ROSS Tuttle, Fernsehjournalist, Martins Freund

Tuttle ist sowohl phonetisch als auch orthographisch dem englischen tattle sehr

ähnlich. Tattle heißt auf Deutsch Gerede, Geschwätz, Getratsche, was dem Wesen von Ross

absolut entspricht. Er ist ein Schwätzer, dem es schwer fällt auf den Punkt zu kommen.

Seine zwanghafte political correctness lässt ihn unsouverän und unglaubwürdig erscheinen,

wie man beim Interview21 gut erkennen kann. Im privaten Gespräch „unter Männern“ mit

Martin zeigt er sich von seiner wahren, ekelhaft schmierig wirkenden Seite. Off the record

legt er wenig Wert auf gepflegte Umgangsformen oder Integrität gegenüber Angestellten oder

Frauen. Während Ross auf Titten fixiert ist, wäre Martin der Romantiker, der sich, statt auf

Geschlechtsteile, auf die Augen seiner Geliebten Sylvia bezieht, wenn Sylvia seine Frau und

keine Ziege wäre.

Im Amerikanischen heißt to tattle auch petzen. To tattle on Martin to Stevie heißt auf

Deutsch, Martin bei Stevie verpetzen. Da er die intimen Geheimnisse von Martin an Stevie

weitergibt und von allen anderen Charakteren dafür Undank erntet, passt dieser Name perfekt

zu Ross.

20 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 621 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 13

Stuhlfelner 12

BILLY, Stevies und Martins Sohn, siebzehn Jahre alt

Kurzform von William. Meine erste Assoziation zu Billy ist Billy Boy, der

Kondomfabrikant. „[…] im Gegensatz zu ihren Wettbewerben [sic] kommt die Marke nicht

medizinisch-langweilig, sondern bunt, frisch und frech daher.“22 Der ausgeprägte Sexualtrieb

von Billy passt zu dieser Assoziation. Seine Wirkung auf andere Charaktere und seine

Selbsteinschätzung sind in diesem Punkt kongruent. Billy: „Ich will mit absolut jedem

schlafen.“23 Dass der Autor die gleiche Assoziation hatte, ist allerdings unwahrscheinlich, da

Billy Boy lediglich in Deutschland vertrieben wird. Dieser Gedanke ist allenfalls für die

Wirkungsweise auf deutsche Rezipienten von Bedeutung.

Viel entscheidender und vor allem gewollter erscheint die Anspielung auf billy goat,

auf die mich mein Freund Dr. Grant Wille brachte, als ich ihm Die Ziege zu lesen gab und

ihm meine Recherche zu den anderen Namen erzählte. Billy goat heißt soviel wie

Ziegenbock auf Englisch. Eine naheliegende Assoziation für den englischsprachigen

Rezipienten. Billy als der Sohn eines „Ziegenfickers“. Ein Wink mit dem Zaunpfahl.

Albees Auswahl der Namen sind folglich alles sprechende Namen, wenn auch mehr

oder weniger offensichtlich und geben so explizite auktoriale Hinweise auf den Charakter der

Figur.

3.3 Form, Stil und Notation

Albee schreibt in Die Ziege einen wenig, knapp gehaltenen Nebentext, der für den

Schauspieler die Emotion verdeutlichen und die Haltung, aus der der Charakter spricht,

klarstellen soll. Des Weiteren werden Örtlichkeit und Aktion der Charaktere ohne

weiterführende Erklärung angegeben. Ein Beispiel wäre: „Wohnzimmer; STEVIE auf der

Bühne, arrangiert Blumen.“24 Dies legt die Situation fest, lässt aber viel

Interpretationsspielraum für die darstellenden Künstler. Des Weiteren benutzt der Autor

Didaskalien in Form einer Widmung (For Liz McCann –because25) und in Form des

Untertitels in Klammern, es handle sich um Notizen einer Definition der Tragödie, auf dem

der Hauptteil dieser Arbeit basiert.26 Elisabeth Ireland McCann war die Produzentin der

Broadwayproduktionen von Die Ziege und Wer hat Angst vor Virginia Woolf?27. Albee

22 Billy Boy Firmenphilosophie >http://billy-boy.com/de/marke/philosophie.html< 28.07.201323 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 5924 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 425 Albee, Edward THE GOAT or Who is Sylvia? Seite 5

(in der deutschen Ansichtsausgabe des Theaterverlags nicht enthalten)26 Siehe Kapitel 4 und 527 Internet Broadway Database: Elisabeth Ireland McCann 3.11.2013

Stuhlfelner 13

bedankt sich in Form dieser Widmung für deren Zusammenarbeit. Der Untertitel gibt dem

Rezipienten einen Denkanstoß und erweckt Spannung auf das Drama.

Die Ziege ist ein repräsentativer Ausschnitt aus dem Leben Martins und seines

Umfelds. Die Geschichte ist offen, sie steigt in eine laufende Handlung ein und mündet in ein

offenes Ende. Dennoch hat das Drama eine geschlossene Form: Die Figurenzahl ist

begrenzt, die Geschichte ist kausal miteinander verknüpft und baut auf einer Folge von

Geschehnissen auf, die in Szenen strukturiert ist. Der Dialog ist das vorherrschende

Kommunikationsmittel, was auch typisch für die geschlossene Form ist.

Am Anfang, wenn sich der Vorhang hebt, läuft bereits die Aktion des

Blumenarrangierens von Stevie. Am Ende werden alle Handelnden mit ihrem unsäglichen

Leid alleine gelassen, das Zusammentreffen wird nicht aufgelöst, es liegt am Zuschauer sich

die langfristigen Folgen für die Charaktere des Dramas auszumalen. Wird Stevie Martin

verlassen? Wie wird Billy die Enttäuschung verkraften? Werden Ross und Martin, die einst

engste Freunde waren, je wieder zusammen finden können? Wird die Öffentlichkeit von

diesem Skandal erfahren? Wird die Metropole der Welt jemals durch Martin fertiggestellt,

oder zerbricht er an Einsamkeit? All das sind Fragen, die am Ende des Stücks offen bleiben

und die sich jeder Rezipient selbst zu beantworten hat.

Die Syntax des Haupttextes ist überwiegend in der Parataxe zwischen zwei

Dialogpartnern, die alternierend zueinander sprechen, zusammengesetzt. Die Hypotaxe tritt

immer dann auf, wenn jemand in einer Erzählung ins Detail geht, ansonsten wird meist in

kurzen, klaren Hauptsätzen, teils sogar in Ellipsen (z.B. „Wer? Ach so! Ach so. Jetzt dann;

jetzt gleich.“28), kommuniziert. Folglich überwiegt der dialogische Zeilenstil.

Wie Heinrich von Kleist es 1805 in seinem Aufsatz Über die allmähliche Verfertigung

der Gedanken beim Reden29 beschreibt, so ist Die Ziege sehr nah an der Umgangssprache

gehalten. Kleist konstatiert in besagtem Aufsatz „L'idee [sic] vient en parlant“, was mit der

Gedanke kommt beim Sprechen übersetzt werden kann. Dies geschieht in Die Ziege, indem

Albee die Illusion der ungeplanten, spontanen Entstehung von artikulierten Gedankengängen

in das Stück einwebt. Zwar beschäftigt sich Kleist mit der freien Rede aus dem Stegreif, aber

genau das ist es, was ein Theaterstück simulieren will. Eine aus dem Moment entstandene

Konversation, bei der keiner der Dialogpartner weiß, wo sie hinführen wird. So werden oft

paralinguistische Zeichen (Ähm, Ah, Mhm) verwendet. Wie in der englischen

Umgangssprache üblich, so bedient sich auch die deutsche Übersetzung häufig der Apokope.

Im Englischen wäre eine Apokope z.B. it's oder isn't, in der deutschen Übersetzung z.B.

28 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 429 http://gutenberg.spiegel.de/buch/589/1 25.01.2014

Stuhlfelner 14

„N'tschuldige?“30, oder „geht’s“, „sei's drum“31 und „drin“.32 Die Sprache ist oft nicht flüssig.

Außer natürlichen Sinnpausen, wie bei Punkt oder Semikolon, verwendet Albee noch andere

Unterteilungen: Die Charaktere suchen nach Worten, denken aktiv, was dem Leser mit

Gedankenstrichen (104 mal insgesamt im Werk; d.h. 1,65 Gedankenstriche/Seite im

Durchschnitt) signalisiert wird. Bei den Gedankenstrichen habe ich die den Gedanken

ergänzende Parenthesen nicht mitgezählt. Eine Parenthese ist beispielsweise in Ross' Brief zu

finden: „[…] weil ich euch beide liebe –respektiere und liebe– deshalb kann ich nicht

stillschweigend zusehen [...]“.33 Parenthesen habe ich nicht zu den Gedankenstrichen gezählt,

weil sie nicht zwangsläufig eine gesprochenen Pause bedeuten (Parenthesen in Die Ziege 21;

d.h. durchschnittlich eine Parenthese alle drei Seiten). Das von Albee am häufigsten

verwendete retardierende Satzzeichen ist die Zäsur, welche er ganze 308 mal, d.h. im

Durchschnitt beinahe 5 mal pro Seite, verwendet. Nicht gezählt habe ich, wenn jemand

unterbrochen wird und dadurch keine Sprechpause entsteht, da der Dialogpartner direkt

anschließt. Des Weiteren ist der nebentextliche Hinweis (Pause) 33 mal, teilweise mit

spezifizierenden Angaben wie z.B. lange Pause, d.h. durchschnittlich ca. jede zweite Seite, zu

finden. Alle retardierenden Elemente in Die Ziege (Gedankenstrich, Zäsur, Pause)

zusammengezählt, ergeben die stattliche Summe von 445 Verzögerungen. Das heißt, dass im

Durchschnitt sieben mal auf jeder Seite nach Worten gesucht, überlegt, oder aus anderem

Grund der Satz in der Schwebe pausiert wird, um dann auf den Punkt zu kommen.

Der Schauspieler kennt seinen Text, weiß den Satz, der als nächstes kommt und kennt

das Ende der Geschichte, die Figur aber weiß nichts von all dem. Albee erzeugt mit seinem

geschriebenen Text für den Rezipienten die Illusion, die Handlung würde zum ersten Mal

passieren. Aufgabe des Schauspielers ist es, diese gute Vorlage als frisch und neu zu

präsentieren, auch wenn der Text auswendig gelernt ist und vielleicht schon an die 300 mal

gespielt wurde, wie es bei der Eröffnungsproduktion am Broadway der Fall war.34 All das sind

Indikatoren, die auf das Hinausgehen von normaler, niedergeschriebener Prosa oder

gewöhnliche wörtliche Rede hinweisen; Albee schreibt gesprochene Sprache, die, wie es

scheint, allmählich auf der Bühne verfertigt wird. Die Figuren ringen mit Konfrontation,

erkennen neue Sachverhalte, müssen diese aktiv verarbeiten und den Informationsüberfluss

anschließend verdauen. Sie müssen sich schlussendlich damit abfinden, dass ihr Leben von

30 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 1531 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 832 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 1033 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 2834 Internet Broadway Database: The Goat or who is Sylvia? >http://ibdb.com/production.php?id=13285< ©

2001-2013, The Broadway League, All Rights Reserved. 13.08.2013

Stuhlfelner 15

Grund auf umgekrempelt wird und in Wirklichkeit nichts so war, wie es schien. Und das bei

jeder Aufführung aufs Neue.

3.4 Übersetzungsanalyse

Die Ziege wurde für den Deutschen Theaterverlag von Alissa und Martin Walser

übersetzt. Meine Erfahrung mit Übersetzungen moderner Theaterstücke ist, etwas polemisch

ausgedrückt, dass so manche durchschnittliche Staubsaugeranleitung gewissenhafter übersetzt

ist, als einige moderne Theaterstücke. Jene Stücke sind von Schreib- und Tippfehlern,

Übersetzungsfehlern und uneleganten Formulierungen übersät. Der Deutsche Theaterverlag

selbst entschuldigt sich schon von vornherein in einer standardisierten Beigabe bei seinen

Kunden, wenn man sich eine „Ansichtssendung mit dem kompletten Stückinhalt als

Loseblattausgabe“ bestellt: „Wir bitten freundlich um Verständnis, dass sich beim Ausdruck

der Stücke eventuell Fehler einschleichen können, die das Bild und/ oder die Orthographie

beeinträchtigen.“

Ganz so gravierend schlecht ist die Übersetzung von Die Ziege nicht, auch wenn oft

unnötig vom Original abgewichen wird. Metaphern und Redewendungen werden meist zwar

erkannt, aber unexakt, sinnentstellend, oder ungebräuchlich übersetzt. Außerdem fehlen teils

entscheidende Passagen, teils wird, wie ich finde, unnötig und sinnentfremdend

hinzugedichtet. Wenn auch verständlich, so kann sich diese Übersetzung sicherlich nicht mit

beispielsweise den bis heute geläufigen Schlegel Übersetzungen von Shakespeares Werken

messen. Sie ist keinesfalls ein Werk, welches gleichermaßen zwei Jahrhunderte überdauern

wird und ist kein großes Kunstwerk für sich. Meiner Meinung nach büßt Die Ziege zum

Originaltext The Goat deutlich an rhetorischem Scharfsinn und Witz ein. Während das

englische Original rund und fließend von Albee geschrieben wurde und durch seine

Wortgewandtheit der Behandlung dieses heiklen Themas besticht, so ist die Walser

Übersetzung oft holprig und weniger geschickt formuliert. Die Charaktere erscheinen im

Deutschen plumper. Durch geringere Wortgewandtheit wirken sie auf mich weniger

überragend und intellektuell, was das Stück eine Spur weiter in Richtung vulgär ordinäre

Profanität als das Original verschiebt: Ein Beispiel eines holprig formulierten Satzes ist

„Schön, wenn man zu jung ist für etwas, oder?“35 Dieser ist zwar grammatikalisch nicht

falsch, klingt aber holprig. Dieser Satz hat nicht mehr viel mit dem „Isn't it nice to be too

young for something?“36 gemein. Ist es nicht schön für etwas zu jung zu sein? wäre eleganter

und runder formuliert gewesen. Denn Stevie spricht wortgewandt und rund. Zwar leger, aber

35 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 736 Albee, Edward THE GOAT or Who is Sylvia? S. 12

Stuhlfelner 16

keinesfalls holprig verkrampft. In der Übersetzung wird der Eindruck vermittelt, Stevie sei

umständlich, was überhaupt nicht ihrem Wesen entspricht. Sie ist gerade heraus und spricht

geschliffen, aber gleichzeitig locker, genau wie Martin. Dies ist ein impliziter figuraler

Verstoß, der der Figur eine andere Sprechweise und somit einen anderen Soziolekt gibt,

folglich auf ganz andere Charakterzüge schließen lässt.

Es scheint so, als hätte man Zeitdruck bei der Übersetzung gehabt und sich nicht

eingehend genug damit beschäftigt. Die Ziege ist im freien Handel nicht erhältlich, sondern

muss von einem Theaterbetrieb bestellt werden. Es liegt an der Inszenierung des Regisseurs

und an den Schauspielern, den Rohdiamant der Übersetzung zu schleifen. Der Rezipient

hingegen, liest in diesem Falle nicht, sondern sieht eine Inszenierung des Theaterstücks.

Folglich sieht er die Interpretation der Inszenierung. Da das Buch nicht im freien Handel

erhältlich ist, muss er sich nicht mit Ungereimtheiten der Übersetzung herumschlagen,

sondern bekommt das Drama im Theater von einem Regisseur interpretiert und gesäubert auf

dem Silbertablett serviert. Das ist für mich die einzig logische Erklärung, warum die Verlage

mit den Übersetzungen nicht das bestmögliche Ergebnis liefern. Ich sehe zwar ein, dass die

Übersetzung eines Texts selten an das Original herankommt, aber dennoch sollte man

versuchen Bestmögliches zu leisten, um dem Autor gerecht zu werden.

Um einen tieferen Einblick in die wahre Kernaussage des Autors zu erhalten, habe ich

mir die Arbeit gemacht, die gesamte Übersetzung zu editieren und die Punkte

herauszuarbeiten, in denen die Übersetzung vom Originaltext abweicht.

Wie bereits erwähnt, fehlen Untertitel und Widmung. Das ist zwar für den

Rezipienten nicht unbedingt entscheidend, aber aus Gründen der Vollständigkeit sollten diese

in der Komplettausgabe enthalten sein. Der Autor hat sich schließlich etwas dabei gedacht.

Dass der Untertitel nicht ohne Bedeutung ist, kann schon daraus geschlossen werden, dass er

genug Stoff liefert, darauf eine Abschlussarbeit zu basieren.

Falsch wäre es natürlich auch, ein Werk wörtlich zu übersetzen. An oberster Stelle gilt

es, aus meiner Perspektive als Schauspieler, die Emotion zu übersetzen. Andere Worte zu

gebrauchen und damit in der Fremdsprache das gleiche Bild zu vermitteln, ist richtig und

legitim. Selbstverständlich muss sinngemäß übersetzt werden, ich verstehe allerdings nicht,

warum vom Original abgewichen werden muss, wenn dies nicht aus dem Sinn oder Wortlaut

der anderen Sprache heraus nötig ist. So sagt Stevie im Original auf Seite 8: „Todd.“ worauf

Martin „What?“ fragt. In der Übersetzung aber fragt er nicht die eins zu eins Übersetzung

„Was?“, sondern „Todd?“37. Sinnentfremdend ist diese Änderung der Übersetzer nun nicht,

37 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 4

Stuhlfelner 17

aber unnötig. In diesem Fall hätte man den Wortlaut von Albee wörtlich aus dem Englischen

übersetzen können, ohne eine Qualitätsminderung hinnehmen zu müssen. Zwar stellt die von

Herrn und Frau Walser gewählte Übersetzung dieses Beispiels auch keine Verschlechterung

des Textes, oder Sinnententstellung dar. Sie ist aber nicht so nah wie möglich am Original,

was eine gute Übersetzung in diesem Fall leisten sollte.

Auch Satzzeichen sind entscheidend. Ob eine Figur „Hoffnungslos.“38 oder

„Hopelessly!“39 sagt, ist ein großer Unterschied. Das Wort ist zwar akkurat übersetzt. Wie

Martin es aber sagt, nämlich mit Nachdruck und innerem Konflikt, was das Ausrufezeichen in

diesem Kontext anzeigt, ist entscheidend.

Als Ross und Martin sich über Billys sexuelle Orientierung unterhalten, sagt Ross,

dass seine Homosexualität bloß ein „Rutscher“ sei. Sehr uneindeutig und unelegant. Im

Original wird von einer Phase gesprochen, wobei Martin die Metapher auf die Mondphase

bezieht. Hier hätte man ohne Probleme auch im Deutschen die gleiche Metapher verwenden

können. Die Metapher, wo Martin den Scherkopf für seinen Rasierapparat sucht und er dann

mit einem Wortspiel auf seine Symptome für Alzheimer zu sprechen kommt, indem er sagt:

„Einen neuen Kopf! Das brauche ich auch!“40 Dieses Wortspiel ist sehr gut erkannt und im

Sinne des Autors übersetzt. Bei der Mondmetapher hingegen kommt die Übersetzung völlig

vom Bild weg. He'll straigthen out–to make a pun“41 kann zwar nicht wörtlich ins Deutsche

übersetzt werden, da to be straight in jenem Kontext heterosexuell sein bedeutet, jedoch

könnte man einfach sagen: Der kommt schon wieder auf die richtige Bahn– Um beim Bild zu

bleiben. So wäre die Übersetzung beim Bild des Mondes wie im Originaltext geblieben, der

Mondbahn nämlich, und hätte nicht an Qualität gegenüber dem Original eingebüßt. Meines

Erachtens wäre diese Variante nicht nur näher an Albee, sondern würde auch Martins gewitzte

Ironie und Situationskomik beibehalten. Das Wort Rutscher ist mir in diesem Kontext

unbekannt. Ich kann mir zusammenreimen, was wahrscheinlich gemeint sein soll, nämlich

ein Ausrutscher, dennoch bleibt der Sinn unklar.

Auch die Abwandlung von Zahlen halte ich für Ungenauigkeit und Humbug. Als

Ross im Interview von der Metropole der Welt erzählt, spricht er in der deutschen Version von

einem 27 Mrd. Dollar Projekt.42 Albee schrieb aber von 200 Mrd. Dollar (two hundred billion

dollar43). Eine 7,4 fache Differenz, die die Walsers Martin da aberkennen.

38 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 939 Albee, Edward THE GOAT or Who is Sylvia? S. 1640 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 541 Albee, Edward THE GOAT or Who is Sylvia? S. 2242 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 13/1543 Albee, Edward THE GOAT or Who is Sylvia? S. 24

Stuhlfelner 18

Im Nebentext wurde ebenfalls manchmal unexakt gearbeitet. Ob jemand über etwas

unerfreut44 oder humorlos45 ist, ist ein völlig anderer Sachverhalt. Eine weitere Änderung

eines Wesenszuges einer Figur. Ein anderes nebentextliches Beispiel ist, wenn Frustrated

explosion46 mit Explodierte Frustration47 und nicht mit frustrierte Explosion im eigentlichen

Sinne übersetzt wird. Das ist schon ein merklicher Unterschied.

Außerdem sollten Wörter, die auch im Deutschen gebräuchlich sind, meines Erachtens

nicht übersetzt werden. Als Ross das Interview abbricht, sagt er auf Englisch CUT! CUT!48,

was im Deutschen Fachjargon der Regisseure am Set durchaus üblich wäre. SCHNITT!

SCHNITT! wäre auch möglich, aber SCHNEIDEN! SCHNEIDEN!49 habe ich noch von

keinem Regisseur gehört, mit dem ich zusammenarbeiten durfte. Auch die Firma „basic

services“50 müsste für meinen Geschmack nicht in „Basis Service“51 eingedeutscht werden.

Schließlich sind wir an englische Firmennamen und Anglizismen gewohnt. Schimpfwörter

wie „motherfucker“52 sollten nicht mit Übersetzungen wie „Arschloch“53 verharmlost werden,

sondern sollten beibehalten werden, da diese auch von Deutschen benutzt werden und

Motherfucker meines Erachtens noch beleidigender als Arschloch konnotiert ist.

Von den Walsers hinzugefügt ist z.B. jener Kommentar nach der Frage, warum Martin

sich nichts mehr merken kann während Stevie die Blumen gießt:

STEVIE Wirst du dich erinnern, dass die Wasser brauchen? (Deutet drauf)MARTIN (schaut hin) Hm? (Wieder hoch) Ja, ich glaube schon.54

Davon abgesehen, dass die Regieanweisungen mal groß und mal klein geschrieben anfangen,

was nicht kohärent ist, ist diese Überleitung in der englischen Originalausgabe nicht zu

finden. Ausgelassen wurde hingegen der nicht unerhebliche Verweis, dass Martin womöglich

auch Ansätze zu pädophilen Neigungen hat: Als er versucht Ross den Kuss mit seinem Sohn

Billy zu erklären, erzählt er, dass einmal ein Mann ihm erzählt habe, dass sein Baby jenen

erigierte. Im Original fragt Billy, ob er das Baby gewesen ist. Martin antwortet: „(So clearly

a lie; gently) Of course not, Billy.“55 Im Deutschen fehlt jener Aspekt komplett, dass Martin

dieser erigierte Vater war.56

44 Albee, Edward THE GOAT or Who is Sylvia? S. 25 Original: „Not amused“45 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 1446 Albee, Edward THE GOAT or Who is Sylvia? S. 3547 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 1948 Albee, Edward THE GOAT or Who is Sylvia? S. 2649 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 1550 Albee, Edward THE GOAT or Who is Sylvia? S. 1451 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 852 Albee, Edward THE GOAT or Who is Sylvia? S. 10553 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 6054 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 455 Albee, Edward THE GOAT or Who is Sylvia? S. 10656 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 60

Stuhlfelner 19

Die Übersetzungsanalyse dient dazu, zu klären was in der Abschlussarbeit eigentlich

analysiert wird. Die vorangegangene Analyse und die folgende Genrestudie bezieht sich auf

die deutschsprachige Übersetzung, macht aber kenntlich, wenn diese vom englischen

Originaltext abweicht. Ich habe The Goat im Original kennengelernt und dieses Bild des

Dramas dauert an. Das verwässerte Abbild, das die Walsers mit dieser Übersetzung schufen,

dient lediglich der Veranschaulichung des Themenkomplexes von Albee im Rahmen einer

deutschsprachigen Abschlussarbeit.

4 Vergleich mit der Tragödie der griechischen Antike

Ich habe mich entschieden, den Hauptteil der Untersuchung, ob es sich bei Die Ziege

um eine Tragödie handelt, bei den Anfängen von Textforschung der Gattung Tragödie zu

beginnen. Das Werk Poetik, in dem Aristoteles die Tragödie abhandelte, kann auf den

Zeitraum zwischen 335 v. Chr. und seinem Todesjahr 332 v. Chr. datiert werden57 und

(abgesehen von den abwertenden Schriften seines Lehrers Platon) ist die Poetik die erste

erhaltene Beschreibung der Tragödie überhaupt58 und die erste Schrift, die lediglich die

Dichtung behandelt59. Es stellt sich die Frage, ob die Überprüfung des Zutreffens eines

Leitfadens von Aristoteles auf Albees ca. 2.343 Jahre später erschienen Werks Die Ziege Sinn

macht. Auch wenn es für den ersten Moment unwahrscheinlich erscheinen mag, dass Albee

Poetik bedacht haben sollte und noch unwahrscheinlicher, dass Aristoteles ein annähernd

vergleichbares Drama wie Die Ziege gekannt haben sollte, so lautet meine Antwort dennoch

ganz entschieden, ja, es macht Sinn. Schließlich stellt Albee die Behauptung auf, bei Die

Ziege handle es sich um Notizen einer Definition der Tragödie, nicht der modernen Tragödie,

oder einer unbestimmten Form von Tragödie. Auch wenn ich nicht glaube, dass Albee

bewusst die Poetik angewandt hat, um Die Ziege zu schreiben, so bin ich überzeugt, dass er

mit dem antiken Leitfaden vertraut war. Aus dem gleichen Grund, warum noch heute antike

und klassische Stücke funktionieren, ist Poetik heute noch aktuell: Es gibt gewisse

Grundthematiken und Regeln, wie Liebe, Hass, Allianzen, Kampf, Ränke und Intrigen, nach

denen der Mensch beschaffen ist, die den Menschen damals wie heute beschäftigen und nach

denen er funktioniert. Im Umkehrschluss gibt es gewisse Grundregeln, die ein gutes Drama

erfüllen muss und die sich seither nicht geändert haben. Da Aristoteles mit der Poetik eine

Art Leitfaden geschaffen hatte, was der Dichter, oder moderner ausgedrückt, der Dramatiker

erfüllen muss, um eine gute Tragödie zu verfassen, stellt dieser Text eine ideale Grundlage für

57 Fuhrmann, Manfred Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Nachwort S. 15258 Fuhrmann, Manfred Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Nachwort S. 15159 Fuhrmann, Manfred Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Nachwort S. 155

Stuhlfelner 20

die kritische Prüfung von Die Ziege dar. Ob Aristoteles wohl Die Ziege als Tragödie

anerkennen würde?

4.1 Aristoteles' Definition der Tragödie aus Poetik (Kap. 1-22)

angewandt auf Die Ziege mit Werkbeispielen

Die erste Abgrenzung zwischen Komödie und Tragödie stellt Aristoteles im letzten

Satz des 2. Kapitels fest: „die Komödie sucht schlechtere, die Tragödie bessere Menschen

nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen.“ Und schon haben wir das erste Indiz,

das für eine Tragödie spricht. Denn in dem Fall ist nicht die moralisch hinterfragbare sexuelle

Orientierung von Martin gemeint, sondern sein Status in der Gesellschaft. Martin ist

überdurchschnittlich intelligent, wohlhabend und erfolgreich ohnegleichen. Wie Ross im

Interview treffend konstatiert, ist Martin außergewöhnlich und hebt sich von dem Rest seiner

Mitmenschen ab. Das spricht für die Tragödie.

Im 6. Kapitel ist Aristoteles' faustregelartige Tragödiendefinition zu finden:

Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe in anziehend geformter Sprache […] – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorrufen und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.60

Die Ziege ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung61. Zwar

wird die Problematik der Figuren nicht aufgelöst. Der Rezipient erfährt nicht was nach

Jammer und Schaudern der handelnden Charaktere mit ihnen geschehen wird. In gewohntem

Rhythmus weiterzuleben erscheint für alle Beteiligten undenkbar, das Geschehene kann kaum

durch Verarbeitung wieder gut gemacht werden. Das Resultat der Tragödie ist eine neue

Geschichte, die Handlung ist abgeschlossen. „Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende

hat.“62 Der Aufbau von Die Ziege ist klar durchdacht und die Geschichte wird zu Ende

erzählt. Zwar hat Die Ziege ein offenes Ende, dennoch eine geschlossene Form. Auch dies

entspricht der klassisch antiken Tragödie. Da Aristoteles oft Sophokles' König Ödipus als

Musterbeispiel für seine Ausführungen über die Tragödie anführt, will auch ich einige

Parallelen der Dramen aufzeigen. Wie Die Ziege hat auch König Ödipus eine geschlossene

Handlung, wenngleich das Drama nur ein Handlungsfragment des gesamten Epos abbildet.

Man erfährt im Drama lediglich durch Erzählung, wie Ödipus in die Situation gekommen ist,

in der er sich zu Beginn des Dramas befindet. Die Handlung schließt nicht den Orakelspruch

von Delphi, Ödipus' Bezwingen der Sphinx und die darauffolgende Krönung ein. Zu Beginn

60 Aristoteles Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Kap. 6 S. 1961 Siehe dazu auch: 3.3 Form Stil und Notation62 Aristoteles Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Kap. 7 S. 25

Stuhlfelner 21

von König Ödipus ist Ödipus bereits König, genau wie Martin, der zu Beginn von Die Ziege

bereits preisgekrönter Stararchitekt ist. Bei beiden Stücken ist die Zukunft der Protagonisten

ungewiss. Ödipus konstatiert, ins Exil gehen zu wollen, was dort passieren wird ist nicht

mehr Teil der Handlung. Die Zukunft Martins ist völlig im Dunklen.

Mit Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht unterscheidet Aristoteles

zwischen der schauspielerisch dargestellten Tragödie und dem berichteten Epos, wie ihn

Homer mit der Ilias oder der Odyssee verfasste. Nicht gemeint ist natürlich ein Bericht eines

Handelnden, der durchaus legitim ist und aufgrund von limitierten Darstellungsmöglichkeiten

auf der Bühne, sowie eines Rückblicks in die Vergangenheit eines Handelnden ein häufig

verwendetes, die Handlung bereicherndes Stilmittel darstellt. Handelnd berichten ist auch in

der Tragödie erlaubt.

Die bestimmte Größe einer Tragödie beschreibt Aristoteles im 5. Kapitel näher: „die

Tragödie versucht, sich nach Möglichkeit innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufs zu halten

oder nur wenig darüber hinauszugehen“.63 Tatsächlich spielt sich die erlebte Handlung von

Die Ziege über einen Zeitraum von wenigen Stunden ab. Zwischen Szene Eins und Zwei ist

aber ein Zeitsprung von einem Tag. Diese Zeit benötigt Stevie, um die in Ross' Brief

unglaubliche Realität zu glauben. So wird die Verkehrung der Umstände in den Konflikt für

den Rezipienten plausibel gemacht. Es gibt zahlreiche Verweisungen in die Vergangenheit

(Ross' Einführung für die Zuschauer in das Interview, Martins Erzählungen von seiner

Begegnung mit Sylvia) und in die Zukunft (in Form von Drohungen [„Du ziehst mich runter,

und Herrgott!, ich zieh dich runter mit mir!“64] und Vorahnungen [Martin als Ross klingelt:

„Doom time!“65 {in der deutschen Übersetzung etwas kraftlos mit Schicksal übersetzt,

treffender wäre Untergang, jüngstes Gericht, das Martin anscheinend voraussieht}]). Die

Aristotelische Einheit der Zeit ist im Fall von Die Ziege nicht gegeben. Dies wäre gewiss ein

Punkt gewesen, den Aristoteles kritikwürdig gefunden hätte, viele moderne Dramatiker

missachten diese Einheit allerdings bewusst. Im Falle von Die Ziege, hat die Nichteinhaltung

der Einheit der Zeit zur Folge, dass der Rezipient zwei verschiedene Grundsituationen

präsentiert bekommt. Es wäre unglaubwürdig, wenn der Erkenntnisprozess bei Stevie, dass

Martin eine Affäre mit Sylvia unterhält, von jetzt auf gleich passieren würde. Stevie erklärt

rückblickend, wie der Erkenntnisprozess vonstatten gegangen ist, was die Figuren gleich in

vollem Konflikt starten lässt. Hier wird nichts aufgebaut, sondern gleich auf hohem Niveau

gestartet.

63 Aristoteles Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Kap.5 S. 1764 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 5165 Albee, Edward THE GOAT or Who is Sylvia? S. 16

Stuhlfelner 22

Mit anziehender Sprache meint Aristoteles die Versform mit Metrum und die

Chorsätze, welche mit Melodie gesungen präsentiert wurden.66 Die Ziege ist zwar weder mit

Chorpartien versehen, noch in gebundener Sprache verfasst, allerdings geht Aristoteles von

der ihm bekannten, zeitgenössischen Norm aus, in der Dramen verfasst wurden. Die moderne

Tragödie hat diese Merkmale über die Jahrhunderte abgelegt. Aristoteles selbst relativiert die

Wichtigkeit der Verse für eine Tragödie mehrfach. Sprache war für ihn ein Fundament der

Tragödie und definiert sich wie für uns heute als die Verständigung durch Worte, egal ob im

Vers oder in Prosa.67 Der Vers macht nicht den Dichter aus, sondern der behandelte Stoff, der

Inhalt. Als Beispiel nennt Aristoteles den Epen-Dichter Homer, welcher in seinen Schriften

das gleiche Versmaß wie der Naturforscher Empedokles in seinen naturwissenschaftlichen

Abhandlungen, verwendet. Auch wenn die äußere Form gleich sein mag, so bleibt

Empedokles dennoch ein Wissenschaftler und kann laut Aristoteles nicht zu den Dichtern

gezählt werden. Andererseits ist Chairemon, der sich seiner Zeit an kein durchgehendes

Versmaß hielt, ein Dichter.68 Demnach ist auch Die Ziege Dichtung und Albee nach

Aristoteles' Definition ein Dichter. Außerdem soll die Tragödie nach Möglichkeit der

Umgangssprache nachempfunden sein,69 was bei Die Ziege zweifelsohne der Fall ist.70 Auch

die Überleitung durch Gesang ist nicht von Nöten. Mit der rhetorischen Frage, was es für

einen Unterschied mache, ob nun von einem Handlungsteil zum Anderen mit Gesang oder

einer Rede übergeleitet werde, verweist Aristoteles eindeutig darauf, dass der Chor zwar

üblich war, aber damals wie heute keineswegs nötig für eine Tragödie ist.71

Um die Frage nach der Wichtigkeit von Versmaß und Chorpartien endgültig zu

beantworten, folgendes Zitat: „Die Feststellung, ob eine Tragödie mit einer anderen

vergleichbar sei oder nicht, kann man aufgrund von keiner Gegebenheit mit dem selben Recht

treffen wie aufgrund der Handlung.“72 Bei der Handlung einer Tragödie differenziert

Aristoteles im darauffolgenden Satz, dass erst ein guter Knoten geknüpft und dieser dann

aufgelöst wird. Der Knoten ist , was ich in Kapitel 3.1 als Krise und Konflikt bezeichne, die

Lösung ist die Klimax und die Konklusion. Im Knoten wird das Problem des Helden

dargelegt (Martin hat eine Affäre mit der Ziege Sylvia) und durch das Problem entsteht ein

Konflikt zwischen dem Helden und einer Anderen Person (zwischen Martin und Stevie). Die

Lösung wird durch die Eskalation des Konflikts eingeleitet. Dessen Produkt ist das Erkennen

66 Aristoteles Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Kap. 6 S. 1967 Aristoteles Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Kap. 6 S. 2568 Aristoteles Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Kap. 1 S. 769 Aristoteles Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Kap. 22 S. 7770 Siehe Kapitel 3.3 Form, Stil und Notation71 Aristoteles Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Kap. 18 S. 6172 Aristoteles Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Kap. 18 S. 59

Stuhlfelner 23

der Handelnden von der Eskalation, die sich mit der Katastrophe abfinden und diese im Zuge

der Lösung verarbeiten. Des Weiteren sollte die Handlung einer Tragödie eine Einheit

bilden.73 Es sollte ein Ziel eines Helden verfolgt und eine Geschichte erzählt werden, nur was

die Haupthandlung fördert, ist Teil des Ganzen. In Die Ziege wird ein Handlungsstrang

durchgezogen und die Charakterisierung der Handelnden unterstützt das Voranbringen des

Plots. Als einzigen Kritikpunkt diesen Fall betreffend, habe ich das Tête-à-Tête zwischen

Martin und Billy anzuführen. Dieses bringt die Handlung nicht weiter, ist ein anderes Thema

und meines Erachtens keine logische Folge der Geschehnisse. Ich empfinde dies als eine

Spur über das Ziel hinausgeschossen, aber verzeihbar. Abgesehen davon ist die Einheit der

Handlung gegeben. Ob eine Liebesbeziehung mit einer Ziege als Handlung von Aristoteles

als angemessen für die Tragödie gesehen würde? Ich denke ja. Schließlich handelt auch

König Ödipus von sexueller Verfehlung des Helden. Des Weiteren ist die Illustration auf

Seite 1 aus einer Sammlung römischer und griechischer antiker Sexualpraktiken

entnommen.74 Die Sodomie war den alten Griechen also durchaus bekannt.

Die Zuschauer erleben durch Empathie den Jammer und das Schaudern des Helden

mit und erfahren dadurch die berühmte, vielfach rezipierte Katharsis (Reinigung) von

derartigen Gefühlszuständen. Was Aristoteles damit genau meinte, ist nicht eindeutig

überliefert, da der Begriff für dieses Phänomen auf die Dichtung bezogen, von Aristoteles

erstmalig gebraucht wurde und abgesehen von dem angegeben Zitat der Definition der

Tragödie keine weitere Erwähnung oder sonstige Erklärung findet. Wahrscheinlich beschrieb

Aristoteles die Katharsis, wie er sie im Kontext zu Theater verstand, im verlorenen Teil der

Poetik, in dem er die Komödie definiert hatte.75 Der Begriff wurde bis dahin gemeinhin

sowohl im religiösen - (Läuterung), als auch im medizinischen Sinne (Entgiftung)

gebraucht.76 Nicht zuletzt, da diese aristotelische Bedeutung von Katharsis nicht eindeutig

überliefert ist, ist der Begriff über die Wirkungsweise der Tragödie so spannend. Ich denke,

jeder versierte Theatergänger hat an eigenem Leib erfahren, was Aristoteles mit dem

orgiastischen Glücksgefühl gemeint haben muss, das man nach den aufgelösten Spannungen

einer gut erzählten Bühnenhandlung verspürt. Es ist anzunehmen, dass er den Begriff sowohl

spirituell als auch heilend verstanden hat.

Wichtig für die Tragödie ist, dass der Wendepunkt einen Wechsel von Glück in

Unglück beschreibt und nicht umgekehrt. Das Glück muss sich durch einen

73 Aristoteles Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Kap.8 S. 2774 Wikipedia: De Figuris Veneris

>http://en.wikipedia.org/wiki/De_Figuris_Veneris:_A_Manual_of_Classical_Erotica<75 Fuhrmann, Manfred Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Nachwort S. 146-14776 Fuhrmann, Manfred Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Nachwort S. 164

Stuhlfelner 24

schwerwiegenden Fehler des Helden ins Gegenteil verkehren. Dies hat zur Folge, dass die

Tragödie unglücklich ausgeht.77 Der glückliche Martin ist auf dem Höhepunkt seines

Schaffens, er hat alles erreicht und begeht mit der aus freien Stücken getroffenen

Entscheidung, eine sodomitische Beziehung zu der Ziege Sylvia einzugehen, den Fehler, der

sein Leben und das seines engsten Umfelds, zerstört. Dass er diese Entscheidung bei

Bewusstsein und aus freien Stücken trifft, aber noch nicht weiß, welche schwerwiegenden

Konsequenzen diese nach sich zieht, er erst Einsicht erlangt, nachdem die Tat bereits

„unheilbar“ durchgeführt, d.h. dass der gravierende Fehler nicht wieder gut zu machen ist,

entspricht der Grundsituation in König Ödipus78 – eine musterhafte Grundsituation für die

Tragödie.

Genauer zu betrachten sind auch der Jammer (Eleos) und das Schaudern (Phobos).79

Diese Gefühlszustände sind für Aristoteles Grundvoraussetzung sowohl für die Empfindung

der Handelnden, als auch für die Übertragung auf das Publikum und machen das Tragische

einer Bühnenhandlung aus. Jammern und Schaudern stellen sich aufgrund der unerwarteten,

aber folgerichtigen Lösung bei den Charakteren ein,80 das Publikum empfindet empathisch

mit. Mitleid wird durch das Publikum empfunden, wenn eine Angst des Zuschauers

vorherrscht, dass das auf der Bühne dargestellte Leid auch einem selbst passieren könnte.81 82

Jammer und Schauder können durch die Art der Inszenierung hervorgerufen werden, besser

ist jedoch, wenn diese in der Handlung der Tragödie bereits unvermeidbar eingebettet sind.83

Durch die dramatische Klimax, der Präsentation der durch Stevie ermordeten Sylvia, wird

Martin in den Gefühlszustand versetzt, welcher von Aristoteles als „schweres Leid“

bezeichnet wird. Beim Rezipienten wird in bei Die Ziege zwar eindeutig Phobos über des

Vergehen von Martin an der Ziege ausgelöst, jedoch empfand ich beim Lesen keinerlei

Jammer. Martin wird seine gerechte Strafe zuteil, folglich kann kein Eleos entstehen.

Die Ziege hat der Definition Aristoteles' nach eine komplizierte Fabel. Das heißt, dass

die Wende durch eine Wiedererkennung und Peripetie zu Stande kommt und sich logisch aus

dem Handlungsverlauf ergibt. Die Wiedererkennung ist, dass Stevie erkennt, dass es sich bei

der Affäre, die Martin mit Sylvia unterhält um die Affäre mit einer tatsächlichen Ziege

handelt, was sie ihm nicht verzeihen kann; allgemein formuliert ist die Wiedererkennung „ein

Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis, mit der Folge, daß Freundschaft oder Feindschaft

77 Aristoteles Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Kap. 13 S. 4178 Aristoteles Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Kap. 14 S. 4579 Fuhrmann, Manfred Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Nachwort S. 16180 Aristoteles Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Kap.9 S. 3381 Aristoteles Rhetorik Reclam Verlag, Stuttgart. 1999; Zweites Buch: 8.82 Siehe dazu 3.2 Charaktere MARTIN83 Aristoteles Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Kap. 14 S. 41

Stuhlfelner 25

eintritt“.84 Gleichzeitig schwenkt Martins Situation von Glück in Unglück um. Das Gegenteil,

dessen, was er sich erhofft, trifft durch Notwendigkeit ein; dieses Ereignis nennt Aristoteles

Peripetie.85 Wenn Wiedererkennung und Peripetie wie bei Die Ziege gleichzeitig auftreten, so

ist dies laut Aristoteles ideal für die Tragödie, da dadurch die unerlässlichen Gefühle Jammer

und Schaudern erzeugt werden.86

Die Wiedererkennung muss basierend auf Aristoteles die Wiedererkennung einer

Person von einer anderen, oder zweier Personen, die gegenseitig einander gewahr werden,

sein.87 Da Stevie aber keine Person, sondern ein Tier erkennt, kann ich Albees

Wiedererkennung nicht als die klassische gelten lassen, ohne ein Auge zuzudrücken. Wäre

Sylvia ein Mensch, so könnte sie wohl den Grund, warum Stevie ihr die Kehle

durchschneidet, erkennen. Da sie aber ein Tier ist, dass selbst wenn man ihm ein

Gefühlsleben zuschreibt, kann es unmöglich die moralische Problematik einer Affäre mit

einem verheirateten einer anderen Art angehörigen Mann erkennen. Martin aber sieht Sylvia

zumindest als ein einem Menschen gleichgestelltes Wesen, ja, sogar als ein für ihn

bedeutsameres Wesen als alle seine Mitmenschen auf einer Ebene zusammen mit seiner Frau

Stevie. Martin spricht von Sylvia durchgängig als sei sie menschlich, bis auf eine Ausnahme

(MARTIN „Dort halte ich sie.“88). Aristoteles geht hier von den ihm bekannten Umständen

eines Dramas aus, die Wiedererkennung zwischen Mensch und Tier funktioniert im Fall von

Die Ziege aber ebenso gut wie bei einem Menschen, der einen anderen Mensch erkennt.

Zusammen mit Peripetie und Wiedererkennung ist das bereits erwähnte schwere Leid

der dritte Teil der Fabel. Schweres Leid entsteht, wenn Todesfälle von Angehörigen oder

dergleichen, auf offener Bühne eintreten und schmerzliche Trauer bei den Handelnden

verursachen.89 Die Präsentation der toten Sylvia erzeugt bei Martin einen derartigen Ausbruch

tiefster Trauer. Auch Stevie und Billy empfinden schweres Leid, durch das nicht

nachvollziehbare Handeln von Martin. All das geschieht innerhalb der engsten Familie, so

wie Aristoteles es wollte.

Die meisten Kriterien von Die Ziege entsprechen zwar der aristotelischen Auffassung

der Tragödie auffallend genau, dennoch bleibt begründeter Restzweifel, ob Die Ziege

tatsächlich als Tragödie gesehen werden darf. Durch die witzige Tendenz Albees besteht die

Gefahr, dass Martin lächerlich erscheint. Aristoteles beschreibt, wie bereits erwähnt, das

84 Aristoteles Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Kap. 11 S. 3585 Aristoteles Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Kap. 11 S. 3586 Aristoteles Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Kap. 11 S. 3587 Aristoteles Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Kap. 11 S. 35-3788 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 3589 Aristoteles Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Kap. 11 S. 37

Stuhlfelner 26

Mitleid des Publikums mit dem tragischen Helden als Grundlage für die Tragödie. Mir fällt

es schwer uneingeschränktes Mitleid für Martin zu empfinden. Er hat sich schließlich durch

eigenes Verschulden in diese sehr prekäre Lage gebracht und sein Schicksal scheint die

gerechtfertigte Strafe darzustellen. Dadurch, dass Martin seine gerechte Strafe ereilt, wirkt er

in seinem Ringen nach Schadensbegrenzung oftmals lächerlich. Lächerliche Eigenschaften

sind laut Aristoteles den Figuren einer Komödie vorbehalten.90

Nun ist es nicht so, dass eine Tragödie völlig ohne Witz sein muss, ganz im Gegenteil.

Shakespeares Hamlet ist wohl zweifelsfrei eine der bekanntesten, allgemein anerkannten

Tragödien. Was viele aber nicht wissen, ist, wie zweideutig der Satz „To a nunnery go“

gelesen werden kann. So hat nunnery nicht nur die offensichtliche Bedeutung eines

Nonnenklosters, sondern wurde im Elisabethanischen Zeitalter auch als gleichbedeutend mit

Bordell gebraucht.91 Hamlet fordert seine Ophelia also nicht nur auf Nonne zu werden,

sondern rät ihr auch gleichzeitig sich zu prostituieren. Ich bin überzeugt, dass dieses

Wortspiel zu Shakespeares Zeiten brüllendes Gelächter im Zuschauerraum ausgelöst haben

muss. Shakespeare ist bekannt für seine sexuellen Anspielungen, in Komödien wie in

Tragödien. Entscheidend für die tragische Wirkung ist also nicht der Witz innerhalb des

Dramas, sondern das tragische Ende. Da in Hamlet mehr oder weniger alle Figuren am Ende

sterben, fällt in diesem Fall die Einordnung in das Genre Tragödie nicht schwer. Schwieriger

ist es im Fall von Die Ziege, da „nur“ ein Tier zu Tode kommt.

Die meisten von Albee verwendeten Stilistiken stimmen mit der Definition von

Aristoteles überein. Die Einheit der Zeit ist nicht gegeben. Die Ziege ist nicht in gebundener

Sprache verfasst. Am schwerwiegendsten ist jedoch, dass Martin nicht zu bejammern ist.

Zwar schaudern wir bei seinen Taten, aber Eleos tritt nicht ein. Eleos ist aber sowohl beim

Publikum als auch beim Protagonisten Grundvoraussetzung für die Tragödie. Martin

durchlebt Jammer, er bejammert seine tote „Geliebte“ und seine zerstörte Familie. Der

Rezipient kann dieses Gefühl jedoch nicht mit ihm teilen. Er lacht vielmehr über die absurde

Situation, oder fühlt Genugtuung für die gerechte Bestrafung Martins. Weil wir Martins

bewusstes Handeln eine sexuelle Beziehung mit einem Tier zu unterhalten, als unartgerecht,

falsch und abstoßend empfinden, fühlen wir mit Stevie mit, verstehen ihre heftige Reaktion.

Wir haben das Gefühl, Martin hat es verdient, für seine Taten Rede und Antwort zu stehen

und die Konsequenzen zu tragen. Genau dieses Gefühl, dass dem Schurken92 seine gerechte

90 Aristoteles Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Kap. 5 S. 1791 Wilson, John Dover What Happens in Hamlet Cambridge University Press. 1935

Kap.: The nunnery scene S. 134/13592 Aristotle The Poetics of Aristotle: A translation by S. H. Butcher the Pennsylvania State University,

Electronic Classics Series, 2000 chapter: XIII pg. 17 Original: „utter villain“

Stuhlfelner 27

Strafe zu Teil wird, widerspricht eindeutig dem tragischen Gedanken.93 Gleichzeitig ist jenes

Manko, dass bei Die Ziege für eine echte Tragödie in Reinform fehlt, auch der

Hauptunterschied zu Sophokles' König Ödipus: Ödipus tut uns leid. Er hat schreckliches

getan, aber unbewusst. Martin ging sehenden Auges in sein Verderben. Ödipus hingegen

stellt sich als Schuldiger für das Verbrechen heraus, für das er einen Schuldigen sucht. Als er

als erwiesen ansieht, dass er selbst der Schuldige ist, wendet er die Bestrafung an sich selbst

an, indem er sich die Augen aussticht und sich selbst in die Verbannung schickt. Martin

hingegen leugnet bis zum Schluss seine Schuldigkeit. Es ist ihm unbegreiflich, was er falsch

gemacht haben soll.

Da mir die Einordnung von Die Ziege in die klassischen Gattungen Komödie und

Tragödie folglich nicht möglich ist, muss vorerst der neutrale Begriff Schauspiel verwendet

werden. Als Schauspiel werden jene Dramen bezeichnet, welche nicht eindeutig einem Genre

zugehörig sind. Dies trifft auf eine Vielzahl moderner Stücke zu.

Peter Kümmel schrieb 2004 im Zuge einer Inszenierung von Andrea Berth am Wiener

Akademietheater in Die Zeit:

Die Ziege hat den Untertitel „Anmerkungen zu einer Definition des Tragischen". Es ist keine Farce, keine Satire, keine Groteske. Albee bedient sich zwar dieser Gattungen, aber nur, um in deren Deckung das Tragische einzukreisen, den vergessenen Mittelpunkt, um den herum sich die Echokünste niedergelassen haben wie Schmarotzer. – Es ist ihm also ernst.94

Zu dem Schluss, dass es Albee ernst ist, bin auch ich gekommen. Dass Albee sich

lediglich grotesker Elemente bedient, um das Tragische zu untermauern, halte ich jedoch für

zu eng gedacht. Ist die Groteske doch notwendig tragisch. In der Tat bin ich der Meinung,

dass Die Ziege eindeutig als grotesk einzuordnen ist.

5 Groteske Elemente nach Margret Dietrich in Die Ziege

Die Groteske ist zwar weder Darstellungsform, noch Literaturgenre, sondern laut

Dietrich in erster Linie eine Wahrnehmungsform bzw. ein Lebensgefühl des Rezipienten.95 Da

Theater eine darstellende Kunst ist, trifft dies jedoch auf jedes Genre des Theaters zu. Ohne

die Wahrnehmung des Rezipienten wäre auch die Tragödie nicht tragisch. Der Rezipient

muss Eleos und Phobos empfinden, sonst werden die Grundpfeiler des Tragischen nicht

erfüllt. Auch die Komödie würde nicht komisch sein, wenn kein Rezipient sie aufnähme und

93 Aristoteles Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982; Kap. 13 S. 3994 Kümmel, Peter Er schmolz dahin Die Zeit Ausgabe 04/2004

http://www.zeit.de/2004/04/Albee95 Dietrich, Margret Das moderne Drama; Das Groteske und das Absurde Kröner Verlag, Stuttgart. 1961

Stuhlfelner 28

als komisch bewerten würde. Das Groteske zieht sich durch sämtliche Hochphasen des

Theaters, wenngleich es zeitweise außer Mode geriet. Die Groteske ist untrennbar mit dem

Tragischen verbunden, so ist sie auch in den Hochphasen der Tragödie angesiedelt.

„Wo groteskes Lebensgefühl entsteht, leidet der Mensch auf des Messers Schneide,

zwischen Tod und Tanz, zwischen Erstarren und Leben, zwischen Ohnmachtsgefühl und Mut

zum Aushalten, dort wo Lachen und Weinen zusammenfallen.“96 Dieser Satz beschreibt exakt

das gemischte Gefühl, das ich empfand, als ich Die Ziege erstmalig las, und das ich auch nach

eingehender Analyse nicht abschütteln konnte. Jene dialektische Beschreibung, die aus

vereinten Gegensätzen zu einem dritten Gefühl führt, ist meiner Meinung nach der

Grundtenor von Die Ziege. Sich widersprechende Gefühle können in der Groteske

problemlos nebeneinander auskommen, ohne sich gegenseitig auszuschließen. Auch die

Charaktere durchleben jenes groteske Lebensgefühl. Das Todesmotiv ist der Höhepunkt von

Stevies Rage. Sie schlachtet Sylvia, was so garnicht zu ihrem Lebensstandard und ihrer

Einstellung passen will. Sie verliert jegliche Zivilisiertheit und Ratio, handelt instinktiv und

zorngesteuert, wird zum Raubtier. Die in Szene 1 etablierte Stevie ist nach der Enthüllung

von Martins Geheimnis nicht wiederzuerkennen. Sie war eine der amerikanischen

Oberschicht zugehörige, sorglose, liebende Ehefrau, die gerne ausgeht (Tanzmotiv) und

einkaufen geht. Es wird in Die Ziege nicht erwähnt, dass Stevie einer Arbeit nachginge. Es

gibt nur Hinweise auf ihre Freizeitgestaltung, welche auf ihren gesellschaftlichen Status

rückschließen lassen. Auch was sie einkauft, lässt auf Oberschicht schließen: elegante

Fingerhandschuhe und Kaviar.97 Stevie lebte den American Dream. Dann wird sie zur

Mörderin an der unschuldigen Sylvia und radiert dadurch ihre Bilderbuchvergangenheit aus.

Damit reißt sie auch Martin vom Tanzmotiv in das Todesmotiv.

Das widersprüchliche Motiv des Erstarrens und Lebens ist charakteristisch für die

Figuren in Die Ziege. Beide Motive finden sich im Rededuktus der Figuren wieder. Das

Erstarren manifestiert sich in den retardierenden Elementen, welche in Kapitel 3.3 Form, Stil

und Notation (S. 13-15) näher beschrieben sind. Leben zeigen die Figuren durch

leidenschaftlichen Redefluss, in dem sie ihren Standpunkt darlegen und verteidigen.

Ohnmacht und Mut zum Aushalten durchleben alle Figuren zu jeder Zeit nach der

Offenbarung von Martins Affäre. Sie sind ständig im Konflikt mit sich. Die vorgeschlagenen

Situationen, wie Stanislawski sie bezeichnet98, hier also der Kosmos, der vom Autor

96 Dietrich, Margret Das moderne Drama; Das Groteske und das Absurde 1961 S. 48397 Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 3198 Simhandl, Peter Stanislawski Lesebuch edition sigma rainer bohn verlag, Berlin; 2., durchgesehene Auflage

1992 Kap.: 5. S.53

Stuhlfelner 29

vorgegeben ist, lassen die Figuren ohnmächtig ausgeliefert die nötigen Konsequenzen ihres

Handelns durchleben. Wie ein Boot im Sturm sind die Figuren ausgeliefert und müssen sich

gegen die Umstände aufbäumen, um nicht unterzugehen, was sie nach Leibeskräften

versuchen. Hinzu kommt, dass alle Figuren gegensätzliche Positionen vertreten und sich im

Konflikt zueinander gegenseitig torpedieren, um den Untergang des anderen zu bewirken.

Der unvermeidbar tragische Ausgang der Groteske macht sie im Bestreben über Wasser zu

bleiben ohnmächtig gegen höhere Gewalten, die Albee ihnen auferlegt hat. Die Basis für die

Groteske ist das Bewusstsein für das Unfassbare im Kontext mit der beschränkten

Auffassungsgabe des Geistes (im Falle von Die Ziege Sexualpraktiken mit einem Tier), das

Ausgesetztsein unbegreiflicher Gewalten (die nötige Aufarbeitung der Affäre). Das Wissen

über diesen Zustand, aber nicht dessen Akzeptanz, ist das Ziel einer Groteske.99

Der Zwiespalt zwischen Lachen und Weinen manifestiert sich sowohl beim

Zuschauer, als auch bei den Figuren. So hält Stevie Martins Geständnis anfangs für einen

Witz, so auch Ross' Brief. Sie muss lachen, obgleich sie den Brief doch für einen Schritt zu

weit gegangen empfindet. Sie empfindet es auf eine entsetzliche Art lustig.100 Die selbe

Aussage führt bei ihr zu entgegengesetzten Reaktionen. In besagtem Abschnitt erklärt sie die

Grundstimmung der Groteske, die auch der Rezipient durchlebt. „Tragik und Groteske als

Kunstformen wachsen aus dem Erschrecken, aus dem Verletztsein durch das Unbegreifbare

[...]“.101 Stevie kann das Handeln ihres Mannes unmöglich nachvollziehen, wodurch zwingend

sowohl Tragik als auch Groteske entsteht. Auch Ross lacht zunächst über Martins

Geständnis. Auch ihm bleibt es im Halse stecken als er der Ernsthaftigkeit dahinter gewahr

wird.

Die für die Tragödie typische Katharsis tritt beim Rezipienten auch bei der Groteske

auf. In der Groteske werden, durch ein Portrait schmerzhaft extremer Manifestation der

Hilflosigkeit des Menschen, Spannungen aufgebaut, was durch ein tragisches Lachen beim

Publikum Katharsis hervorruft. Dies tritt immer in Verbund mit einem latenten Unbehagen

auf.102 Es ist also das Lachen über Martins Schicksal, das beim Rezipienten kathartisch wirkt,

nicht seine Bestrafung, wie es in der Tragödie der Fall wäre. Jenes Lachen ist aber nicht das

gleiche, wie es bei einer Komödie auftritt, sondern „Lachen über das grotesk Empfundene[,

das] >>im Halse steckenbleibt<<“.103 Der tragische Grundgedanke ist hierbei Voraussetzung.

99 Dietrich, Margret Das moderne Drama; Das Groteske und das Absurde Albrecht Kröner Verlag, Stuttgart. 1961 S.482

100Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 33101Dietrich, Margret Das moderne Drama; Das Groteske und das Absurde 1961 S. 482102Dietrich, Margret Das moderne Drama; Das Groteske und das Absurde 1961 S. 481103Dietrich, Margret Das moderne Drama; Das Groteske und das Absurde 1961 S. 481

Stuhlfelner 30

In der Groteske wird nicht rational logisch gehandelt, sondern aus dem Affekt, sie

entsteht aus dem Gefühlsleben, nicht aus dem Intellekt heraus. Der Protagonist ist innerlich

gespalten, er lebt aus Spannungen heraus.104 Dies trifft auf Martin zu, der nicht aus rationalen

Beweggründen heraus entscheidet, eine Affäre mit einer Ziege zu unterhalten, sondern aus

niederen Trieben heraus. Oder aus „Liebe“ heraus, wie er es nennt. Auch Stevie lässt

jeglichen Intellekt außen vor und entschließt sich aus dem Bedürfnis Rache heraus, zum

Schlächter der an sich unschuldigen Sylvia zu werden. Die Ziege als antikes Opfertier wird

von Stevie getötet um Martins Sünden zu vergelten.

Ein groteskes Motiv stellt das Wissen der Verbannung des Menschen aus dem Paradies

dar.105 Martin ist ein Architekt, der in einem urbanen Ballungsgebiet lebt und dessen Beruf es

ist, Großstadtarchitektur zu entwerfen. Der völlig utopische Plan, die Metropole der Welt in

den Weizenfeldern von Kansas aus dem Boden zu stampfen, stellt für Martin keinen

besonderen Kitzel dar. Er spricht im Stück immer abgelenkt oder gelangweilt von diesem

Projekt. Im krassen Gegensatz zu seinem Beruf steht seine Landflucht. Er sucht ein

Landhaus für sich und Stevie, um sich dort erholen zu können. Die Landschaftsbeschreibung,

die er Ross und Stevie gibt, als Martin den Blick von dem Hügel beschreibt106, wirkt auf

eigenartige Art verklärt. Die Umgebung, in der er Sylvia zum ersten Mal traf, scheint für ihn

paradiesisch zu sein. Als er jedoch seinen Sündenfall mit Sylvia eingeht, wird Stevie zum

Racheengel und verweist Martin von seinem Zufluchtsort vor „dem Alltag und dem erstarrten

Berufsleben“.107

Am eindeutigsten weist wohl der für die Groteske typische Grusel in Form von

Dämonischem oder Tierischem auf jene dramatische Gattung hin.108

Schließlich entsteht der gesamte Grusel von Die Ziege durch das Tiersein von Sylvia. Die

zivilisierten Charaktere Martin und Stevie verfallen mit laufender Handlung immer mehr in

tierische Verhaltensmuster, handeln bar jeder Vernunft und geben sich immer mehr triebhaften

Instinkten preis. Stevie wirft Martin in folgendem Dialogfragment eben jenes vor, was er

bestätigt:

MARTIN Nein; es geht nicht um's [sic] Ficken. [...]STEVIE (Pause; dann noch sicherer) Doch! Es geht um's [sic] Ficken! Es geht

darum, dass du ein Tier bist!MARTIN (denkt darüber nach; leise) Dass ich eins bin, dachte ich sowieso. […]

Ich dachte ich sei eins; ich dachte wir alle seien … Tiere.109

104Dietrich, Margret Das moderne Drama; Das Groteske und das Absurde 1961 S. 484ff.105Dietrich, Margret Das moderne Drama; Das Groteske und das Absurde 1961 S. 487106Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 23/45107Dietrich, Margret Das moderne Drama; Das Groteske und das Absurde 1961 S. 489108Dietrich, Margret Das moderne Drama; Das Groteske und das Absurde 1961 S. 488ff.109Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 49

Stuhlfelner 31

Der groteske Mensch ist sich auch seiner Abstammung vom Affen bewusst.110 Martin spielt

hier auf den Menschen als biologisches Säugetier an, dessen Gene sich nicht großartig von

dem Erbgut eines Schimpansen unterscheiden.

Der groteske Mensch ist „innerlich gespalten und aus dynamischen inneren

Spannungen lebend.“111 Dies deckt sich mit der Aussage Martins, er sei „zutiefst gestört,

hochgradig gespalten...“112 Stevie ist als verletztes Opfer, bis zu dem Punkt, als sie durch die

Tötung von Sylvia zum Täter wird, eher tragisch als grotesk. (STEVIE „Ich bin die

Tragische.“113) Sie ist, im Gegensatz zu Martin, der Tragische Held, der aushalten muss. Als

sie aber die Ziege umbringt, verliert sie diesen Status. Sie ist um Fassung und Ratio bemüht,

was ihr nach der Enthüllung anfangs weitgehend gelingt, kann den Tabubruch Martins aber

nicht verkraften und gleitet in groteske Verhaltensmuster ab, bis sie sich diesen schließlich in

Gänze hingibt. Der Gedankengang, ein unschuldiges Tier hinzurichten, um sich am untreuen

Ehepartner zu rächen und dem Tier jegliche Schuldfähigkeit zuzusprechen, ist schlussendlich

voll und ganz in der Grotesken anzusiedeln.

6 Fazit

Die Provokation des Tabus ist häufiges Thema der Groteske.114

Als solche Tabu-Welt hat sich im Zuge der progressiven Entfremdung zwischen Intellekt und Fühlen eine Konvention des Verschweigens gebildet, ein Tabu für all die animalischen Begierden, die im emotionellen Zentrum des Menschen genauso da sind wie der Sinn für das Schöne und die Harmonie. […] Das unheimlich Amoralische im Menschen tritt als Menschlich-Allzumenschliches auf, spielerisch leicht formuliert und scharf zugleich wie Stahl.115

Dieses Provozieren durch ein animalisches Tabu treibt Albee in Die Ziege meisterhaft auf die

Spitze. Zoophilie ist ein derartiges Tabu, dass es bisweilen sogar totgeschwiegen und als

urban legend abgetan wurde. Skandalbands wie Die Ärzte riefen das Thema im

deutschsprachigen Raum in den 80 Jahren zurück auf den Plan: In Claudia Teil 1-3 schockte

die Punkband mit Liedzeilen wie:

Claudia hat 'nen Schäferhundund den hat sie nicht ohne Grund.Abends springt er in ihr Bettund dann geht es rund.116

110Dietrich, Margret Das moderne Drama; Das Groteske und das Absurde 1961 S. 487111Dietrich, Margret Das moderne Drama; Das Groteske und das Absurde 1961 S. 485112Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 49113Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? S. 46114Dietrich, Margret Das moderne Drama; Das Groteske und das Absurde 1961 S. 487115Dietrich, Margret Das moderne Drama; Das Groteske und das Absurde 1961 S. 487, 488116Die Ärzte: Claudia Teil 1

Stuhlfelner 32

Oder:

Claudia hat jetzt ein Pferdmit dem sie ziemlich oft verkehrt.Sie ist bei ihm jede Nacht,Gott weiß was sie dort macht.117

„Bisher kann nach dem Gesetz nur verfolgt werden, wer "einem Wirbeltier aus

Rohheit erhebliche Schmerzen oder Leiden" zufügt oder ihm länger anhaltende erhebliche

Schmerzen zumutet“118 Am 13. Dezember 2012 entschied der Bundestag, Zoophilie im Zuge

des Artenschutzgesetzes unter Strafe zu stellen.119 Das Thema wurde heiß diskutiert,

allerdings weitgehend abseits der Öffentlichkeit. Auf der einen Seite Tierschützer, auf der

anderen Seite Zoophile organisiert im Verband Zeta ("Zoophiles Engagement für Toleranz

und Aufklärung")120 Am 1. Februar 2013 wurde die Novelle vom Bundesrat bestätigt und wird

ab sofort mit einem Bußgeld von bis zu 25.000€ geahndet.121 Wie abseitig das Thema

Zoophilie in Deutschland tatsächlich ist, zeigt, dass lediglich die linksalternative Berliner

TAZ über die Entscheidung des Bundesrats, den Zoophiliezusatz des Artenschutzgesetzes

betreffend, berichtete. Die New York Times berichtete ebenfalls von der Verabschiedung des

Gesetzes122, was zeigt, dass das Thema Zoophilie in den USA weitaus bedeutender ist.

Aktuell sammelt der Zeta Verband Gelder, um das Gesetz vor dem

Bundesverfassungsgericht anzufechten.123 „Der Paragraf 175b, der "widernatürliche Unzucht

mit Tieren" unter Strafe stellte, wurde 1969 gestrichen. Paragraf 175, das war der Passus, der

auch sexuelle Handlungen unter Männern verbot.“124 Zoophilie ist also seit der Hippy

Generation in Deutschland legal gewesen und nun seit Februar 2013 wieder unter Strafe

gestellt. Albee behandelt ein sowohl in Deutschland, als auch in den USA kontrovers

diskutiertes, hochaktuelles Tabuthema, das er humorvoll, grotesk anspricht und in virtuos

verfasster Sprache dem Rezipienten näher bringt.

117Die Ärzte: Claudia Teil 2118Theile, Charlotte Sexueller Kontakt zu Tieren soll bestraft werden Süddeutsche Zeitung 28.11.2012

>http://www.sueddeutsche.de/politik/agrar-ausschuss-entscheidet-ueber-zoophilie-sexueller-kontakt-zu-tieren-soll-bestraft-werden-1.1535498<

119 Ehemaliger Verfassungsrichter Hassemer zum Zoophilie-Verbot: "Nicht alles Widerliche verdient staatliche Strafe" Süddeutsche Zeitung 13.12.2012

>http://www.sueddeutsche.de/politik/ehemaliger-verfassungsrichter-hassemer-zum-zoophilie-verbot-nicht-alles-widerliche-verdient-staatliche-strafe-1.1548925<

120Theile, Charlotte Sexueller Kontakt zu Tieren soll bestraft werden Süddeutsche Zeitung 28.11.2012121Die Tageszeitung Sodomie wird Ordnungswiedrigkeit 2.2.2013 >http://www.taz.de/!110289/<122Cotrell, Chris German Legislators Vote to Outlaw Bestiality February 2, 2013

>http://www.nytimes.com/2013/02/02/world/europe/german-legislators-vote-to-outlaw-bestiality.html?_r=2&<

123Die Tageszeitung Sodomie wird Ordnungswiedrigkeit 2.2.2013124Theile, Charlotte Sexueller Kontakt zu Tieren soll bestraft werden Süddeutsche Zeitung 28.11.2012

Stuhlfelner 33

Da der Ursprung des Worts Tragödie aus dem Altgriechischen als Bocksgesang125 (im

Englischen geschlechtsneutral: goat song) übersetzt wird, ist der Untertitel ein geschickter

Wortwitz des Autors. Die Ziege ist meiner Meinung nach definitiv gesellschaftskritisch

tragisch, aber nicht als Tragödie. Die Groteske transportiert das dialektische Lebensgefühl,

das Widerlichkeiten und Tragik mit einem ironischen Augenzwinkern präsentiert.

125Brockhaus: Das Taschenlexikon in 24 Bänden. 2010 Gütersloh/ München Tragödie

Stuhlfelner 34

7 Quellenverzeichnis

Bücher

Albee, Edward Die Ziege oder Wer ist Sylvia? Ansichtssendung mit dem komplettenStückinhalt als Loseblattausgabe. Deutscher Theaterverlag, Weinheim

Albee, Edward THE GOAT or Who is Sylvia? The Overlook Press, Peter Mayer Publishers,Inc., Woodstock & New York, 2000 Cover information: Schleifer, Bernard

Aristoteles Poetik: Griechisch/Deutsch Reclam Verlag, Stuttgart. 1982Übersetzung und Nachwort: Fuhrmann, Manfred

Aristotle The Poetics of Aristotle: A translation by S. H. Butcher the Pennsylvania State University, Electronic Classics Series, 2000>http://www2.hn.psu.edu/faculty/jmanis/aristotl/poetics.pdf<

Dietrich, Margret Das moderne Drama; Das Groteske und das Absurde Alfred Kröner Verlag,Stuttgart. 1961

Hagen, Uta Kleines Schauspielerhandbuch (Respect for Acting) Autorenhaus Verlag GmbH,Berlin, 2007

Jöckle, Clemens Das große Heiligen Lexikon Parkland Verlag, Köln. 2003

Heid, Stefan Stephanus: Der erste Märtyrer Langer, Michael (Hg.) Licht der Erde: Die Heiligen Verlag Herder, Freiburg in Breisgau. 1984 S.79

Simhandl, Peter Stanislawski Lesebuch edition sigma rainer bohn verlag, Berlin. 2., durchgesehene Auflage 1992

Wilson, John Dover What Happens in Hamlet Cambridge University Press. 1935

Artikel

Cotrell, Chris German Legislators Vote to Outlaw Bestiality February 2, 2013>http://www.nytimes.com/2013/02/02/world/europe/german-legislators-vote-to-

outlaw-bestiality.html?_r=2&<

Ehemaliger Verfassungsrichter Hassemer zum Zoophilie-Verbot: "Nicht alles Widerlicheverdient staatliche Strafe" Süddeutsche Zeitung 13.12.2012

>http://www.sueddeutsche.de/politik/ehemaliger-verfassungsrichter-hassemer-zum-zoophilie-verbot-nicht-alles-widerliche-verdient-staatliche-strafe-1.1548925<

Kleist, Heinrich von Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden http://gutenberg.spiegel.de/buch/589/1 25.01.2014

Kümmel, Peter Er schmolz dahin Die Zeit Ausgabe 04/2004http://www.zeit.de/2004/04/Albee

Stuhlfelner 35

Die Tageszeitung Sodomie wird Ordnungswiedrigkeit 2.2.2013 >http://www.taz.de/!110289/<

Theile, Charlotte Sexueller Kontakt zu Tieren soll bestraft werden Süddeutsche Zeitung 28.11.2012

>http://www.sueddeutsche.de/politik/agrar-ausschuss-entscheidet-ueber-zoophilie-sexueller-kontakt-zu-tieren-soll-bestraft-werden-1.1535498<

Websites

Billy Boy Firmenphilosophie >http://billy-boy.com/de/marke/philosophie.html< 28.07.2013

Internet Broadway Database >http://ibdb.com/production.php?id=13285< © 2001-2013, TheBroadway League, All Rights Reserved. 26.07.2013

Internet Movie Database: Who's afraid of Virginia Woolf?>http://www.imdb.com/title/tt0061184/?ref_=sr_1< 26.07.2013

Wikipedia: De Figuris Veneris>http://en.wikipedia.org/wiki/De_Figuris_Veneris:_A_Manual_of_Classical_Erotica<

21.02.2014

Wikipedia: Martin Gray >de.wikipedia.org/wiki/Martin_Gray< 27.07.2013

BildnachweisAncient Greek sodomising a goat", plate XVII from 'De Figuris Veneris' by F.K. Forberg,

illustrated by Édouard-Henri Avril. Paris, 1884>http://en.wikipedia.org/wiki/File:%C3%89douard-Henri_Avril_%2828%29.jpg< 21.02.2014

8 PlagiatserklärungIch versichere, dass ich die vorliegende schriftliche Abschlussarbeit selbständig

angefertigt und keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe. Alle Stellen, die

dem Wortlaut oder dem Sinn nach anderen Werken entnommen sind, habe ich in jedem

einzelnen Fall unter genauer Angabe der Quelle (einschließlich des World Wide Web sowie

anderer elektronischer Datensammlungen) deutlich als Entlehnung kenntlich gemacht.

Dies gilt auch für angefügte Zeichnungen, bildliche Darstellungen, Skizzen und

dergleichen.

Ich nehme zur Kenntnis, dass die nachgewiesenen Unterlassung der Herkunftsangabe

als versuchte Täuschung bzw. als Plagiat gewertet und mit Maßnahmen bis hin zur

Aberkennung des Abschlusses geahndet wird.

____________________________________________

Ort, Datum, Unterschrift