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„Lost in Transition“ Analysen zur Aushandlung von Politik, Kultur und Identität im lokalen Raum von Tunis 2011–2014 Der Philosophischen Fakultät und Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zur Erlangung des Doktorgrades Dr. phil. vorgelegt von Nina Nowar

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„Lost in Transition“Analysen zur Aushandlung von Politik,

Kultur und Identität im lokalen Raum vonTunis

2011–2014

Der Philosophischen Fakultät und Fachbereich Theologieder Friedrich-Alexander-Universität

Erlangen-Nürnbergzur

Erlangung des Doktorgrades Dr. phil.vorgelegt von

Nina Nowar

Als Dissertation genehmigtvon der Philosophischen Fakultät und Fachbereich Theologieder Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-NürnbergTag der mündlichen Prüfung: 28. September 2020

Vorsitzender des Promotionsorgans: Prof. Dr. Thomas DemmelhuberGutachter: Prof. Dr. Thomas Demmelhuber

Prof. Dr. Georg Glasze

Meiner Familie

Vorwort

Die vorliegende Dissertation entstand über den Zeitraum von Winter 2012bis in das Frühjahr 2020 am Lehrstuhl für Politik und Gesellschaft des NahenOstens der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.Ich danke der Ilse und Dr. Alexander Mayer-Stiftung für mein Dissertations-stipendium von 2012 bis 2014. Die finanzielle Unterstützung hat es mirermöglicht, mich voll auf die Forschungsarbeit zu konzentrieren.Besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Thomas Demmelhubersowie Dr. Jörn Thielmann vom Erlanger Zentrum für Islam und Rechtin Europa EZIRE, ohne deren Vertrauen und Engagement dieses Disser-tationsprojekt, nach dem viel zu frühen Tod Prof. Christoph Schumanns,nicht beendet worden wäre. Sie haben mich mit wertvollen theoretischen,inhaltlichen und methodischen Impulsen für die Forschungsarbeit in jeglicherHinsicht unterstützt.Mein Dank geht auch an alle Interviewteilnehmer sowie Personen, welchemir Material und Informationen zur Verfügung gestellt oder mir beratendbei der Feldforschung zur Seite gestanden haben.Von großem Wert für die Entstehung dieser Arbeit waren die konstrukti-ven Diskussionen im Kollegium des EZIRE sowie die Gespräche mit denKollegen des von der VolkswagenStiftung finanzierten Forschungsprojekts„The Struggles over Identity, Morality and Public Space in Middle EasternCities“. Herzlichen Dank dafür.

Erlangen, den 23. April 2020

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Abstract

Nina Nowar

„Lost in Transition“ – Analysen zur Aushandlung von Politik, Kultur undIdentität im lokalen Raum von Tunis 2011–2014

Als junge Demokratie steht Tunesien als Hoffnungsträger und Erfolgsge-schichte im Mittelpunkt des Interesses der politikwissenschaftlichen Demo-kratieforschung. Ziel der vorliegenden Studie ist es, einen Einblick in diepolitische Übergangsphase Tunesiens zu geben. Dabei steht anstatt der vor-herrschenden wissenschaftlichen Perspektive auf nationalstaatliche Prozessedie Mikroebene politischer Aushandlungsprozesse im Mittelpunkt des Inter-esses. Zudem bricht die Studie mit normativen Erwartungshaltungen einerfortschreitenden Demokratisierung des Landes und distanziert sich von derperzipierten Pfadabhängigkeit der politikwissenschaftlichen Transitionsfor-schung. Jenseits dieses normativen Leitbilds wird die Vielfalt der politischenEntwicklungsalternativen erfasst, wie sie von den lokalen Akteuren in einemStadtviertel von Tunis verhandelt wurde. Die Leitfrage lautet dabei nicht,wohin sich Tunesien aus westlicher Perspektive entwickeln sollte oder wiediese Transition vorankommt, sondern danach, was tatsächlich passiert (vgl.Carothers 2002, S. 18).Während sich nach der tunesischen Revolution 2011 Normen und Institu-tionen des alten Systems auflösten, waren die demokratischen Verfahrennoch nicht vollständig etabliert (vgl. Merkel et. al 1996, S. 11 f.). In dasentstehende Machtvakuum traten im Lokalen nichtstaatliche Akteure hinein,

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welche die als normal wahrgenommene Ordnung dekonstruierten und neuverhandelten. Über diese politischen Aushandlungsprozesse und die Macht-effekte der Interaktionen veränderten sie die Diskurse im Viertel, welcheneue Vorstellungen von politischer Ordnung aufwarfen. Es zeigte sich, dassdiese Vorstellungen nicht unbedingt auf demokratischen Werten beruhten,sondern die Stabilität und Sicherheit des Landes sowie die demokratischeTransition sogar gefährdeten. Gegengesteuert wurde dieser drohenden De-stabilisierung in der Stadtteilgesellschaft wiederum über lokale Diskurse umgemeinsame politische und religiöse Identitäten sowie die tunesische Kulturals verbindender Faktor. Auch wurde deutlich, dass zivilgesellschaftlicheAkteure die Persistenz neopatrimonialer Netzwerke bedingten, währendgewaltbereite nichtstaatliche Akteure die freiwerdenden Möglichkeitsräumejenseits staatlicher Kontrolle ausnutzten, um eigene Strukturen aufzubauen.Die empirische Feldforschung beruht auf ethnografischen Interviews, teil-nehmender Beobachtung und fotografischer Dokumentation im öffentlichenStadtraum. Dabei wurden zunächst alle relevanten Akteure erfasst, ihreVorbedingungen, Agenda, Strategien und Taktiken beschrieben und mitein-ander in Beziehung gesetzt. Ihre Darstellung erfolgt prozesshaft, wobei sichdie Kapitel an den lokalen Aushandlungsphasen orientieren. Da diese Pha-sen der Diskurs- und Machtverschiebungen nicht unbedingt den nationalenEntwicklungen entsprechen, erfolgt zu Beginn jedes dieser Kapitel eine kurzeEinordnung in zeitlich parallel verlaufende Ereignisse auf der nationalenEbene.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18Anmerkungen zur Transliteration . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

1 Einführung und Grundlagen 211.1 Kontext und Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211.2 Forschungsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451.3 Forschungsabschnitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491.4 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

2 Forschungsstand 552.1 Forschungsprojekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572.2 Literaturbesprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

3 Anleihen aus der Foucault’schen Diskursvarianz 733.1 Verortung und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733.2 Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

3.2.1 Theoretische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763.2.2 Begriffsbestimmung – Was ist Diskurs? . . . . . . . . 79

3.3 Raum, Identität und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803.3.1 Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 813.3.2 Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 833.3.3 Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

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Inhaltsverzeichnis

3.4 Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 893.4.1 Begriffsbestimmung – Was ist Macht? . . . . . . . . . 903.4.2 Opposition und die Aufrechterhaltung von Macht . . 943.4.3 Analyse der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

3.5 Ausblick – Diskurs und Macht in Le Kram . . . . . . . . . . 101

4 Methoden und Datengrundlage 1034.1 Forschungsdesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1034.2 Qualitative Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

4.2.1 Ethnografische Interviews . . . . . . . . . . . . . . . 1054.2.2 Aufzeichnung und Auswertung der Interviews . . . . 110

4.3 Fotografische Dokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . 1154.4 Weitere Methoden der Datenerhebung . . . . . . . . . . . . 117

4.4.1 Teilnehmende Beobachtung . . . . . . . . . . . . . . 1174.4.2 Andere Datenquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

4.5 Zu den erhobenen Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

5 Forschungskontext Le Kram 1215.1 Verwaltungsstrukturen und geografische Lage Le Krams . . . 1225.2 Soziodemografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1235.3 Geschichtlicher Hintergrund und Infrastruktur . . . . . . . . 1275.4 Zwischenfazit – Historische Narrative . . . . . . . . . . . . . 140

6 Die lokale Aushandlung von Politik, Kultur und Identität, LeKram 2011–2014 1496.1 Phase Eins: Das Revolutionsjahr 2011 . . . . . . . . . . . . . 151

6.1.1 Nationaler Aufriss: Staat der Freiheit . . . . . . . . . 1516.1.2 Lokales Machtvakuum . . . . . . . . . . . . . . . . . 1596.1.3 Zwischenfazit – Religiöse Narrative . . . . . . . . . . 178

6.2 Phase Zwei: Lokaler Widerstand gegen den Staat 2012–2013 1816.2.1 Nationaler Aufriss: Die politische Krise . . . . . . . . 1816.2.2 Awlad al-Houma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

6.2.2.1 Männer der Revolution von Le Kram . . . . 192

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Inhaltsverzeichnis

6.2.2.2 Salafisten der Sayyida Khadija Moschee . . 2196.2.2.3 Joining Forces – Kooperationen von Miliz

und Salafisten im öffentlichen Raum . . . . 2306.2.3 Info Islam Tunisia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2426.2.4 Compassion-Fatigue . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2496.2.5 Zwischenfazit – Politische Narrative . . . . . . . . . . 260

6.3 Phase Drei: Die Rekonstruktion der Vergangenheit 2014 . . . 2646.3.1 Nationaler Aufriss: Blaue Finger – Verfassungsgebung

und Wahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2646.3.2 Neue Geografien der Macht . . . . . . . . . . . . . . 267

6.3.2.1 Maison de la culture Mustapha Agha . . . . 2836.3.2.2 Othman Ben Affan al-Jaziri Moschee . . . . 2946.3.2.3 Maison de la culture Hammouda Maali . . . 2966.3.2.4 Kram Team Fight Club . . . . . . . . . . . 2996.3.2.5 Maison des Jeunes Le Kram . . . . . . . . . 309

6.3.3 Zwischenfazit – Kulturelle Narrative . . . . . . . . . 318

7 Forschungsergebnisse und -perspektiven 3277.1 Forschungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

7.1.1 Die demokratische Transition Tunesiens . . . . . . . 3277.1.2 Die demokratische Transition auf der Mikroebene be-

trachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3297.1.2.1 Normative Prämissen auf dem Prüfstand . . 3297.1.2.2 Neopatrimoniale Reflexe . . . . . . . . . . . 338

7.2 Forschungsperspektive Mesoebene . . . . . . . . . . . . . . . 342

Anhang 347

Literaturverzeichnis 363

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Abkürzungsverzeichnis

AAA American Anthropological Association

ACAB All Cops are Bastards

ADLI Association de la défense des libertés individuelles

ASM Avenir sportif de La Marsa

ATCE Agence tunisienne de communication

ATI Agence tunisienne d’internet

ATSM Association tunisienne de soutien des minorités

BTI Bertelsmann Transformation Index

CPR Congrès pour la république

CTN Compagnie tunisienne de navigation

DWR Die wahre Religion

ENP Europäische Nachbarschaftspolitik

EU Europäische Union

FDTL Forum démocratique pour le travail et les libertés

IJMES International Journal of Middle East Studies

INS Institut national de la statistique

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Inhaltsverzeichnis

IRI International Republican Institute

ISIE Instance supérieure indépendante pour les élections

KSZE Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

LNPR Ligue nationale de protection de la révolution

LTDH Ligue tunisienne des droits de l’homme

MENA Middle East and North Africa

MIT Marché méditerranéen international du tourisme

MTI Mouvement de la tendance islamique

ODC Organisation de défense du consommateur

ONAT Ordre national des avocats de Tunisie

PJD Parti de la justice et du développement

PNUD Programme des Nations Unies pour le développement en Tunisie

RCD Rassemblement constitutionnel démocratique

SDECE Service de documentation extérieure et de contre-espionnage

SIED Salon international des énergies durables et maîtrise de l’énergie

STEG Société tunisienne de l’electricité et du gaz

TGM Tunis-Goulette-Marsa Bahnlinie

Transtu Société des transports de Tunis

UGET Union générale tunisienne des étudiants

UGTT Union générale tunisienne du travail

14

Inhaltsverzeichnis

UNESCO United Nations Educational, Scientific and CulturalOrganization

UTICA Union tunisienne de l’industrie, du commerce et de l’artisanat

15

Abbildungsverzeichnis

1.1 Stadtplan Tunis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461.2 Stadtplan Le Kram, Tunis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

4.1 Dokumentationsbogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

5.1 Stadtplan Tunis 1903 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1295.2 Vorstadtvilla in Le Kram Est . . . . . . . . . . . . . . . . . 1325.3 Hausfassade Le Kram Est . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1325.4 Straßenzug in Le Kram Ouest . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

6.1 Die OTPOR!-Faust als Symbol arabischer Jugendbewegungen 2006.2 Märtyrerverehrung in Le Kram Ouest . . . . . . . . . . . . . 2086.3 Einladung zur Gedenkfeier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2106.4 Graffiti Einheitspartei RCD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2166.5 Graffiti Polizeigewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2176.6 Struktur der Staatsorgane im Kalifat . . . . . . . . . . . . . 2246.7 Graffiti Dhikr Allah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2266.8 Das Logo der Miliz im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . 2356.9 Einladung zur Demonstration vor der US-Botschaft in Tunis 2376.10 Struktur Info Islam Tunisia . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2456.11 Startseite Webauftritt Info Islam Tunisia . . . . . . . . . . . 2486.12 Verfall salafistischer Graffitis in Le Kram Ouest . . . . . . . 2546.13 Secteur Interdit Le Kram 5 Decembre . . . . . . . . . . . . . 2716.14 Kunstprojekt mit Kindern in Le Kram Est . . . . . . . . . . 2896.15 Kunstprojekt mit Kindern in Le Kram Ouest – Wandbild

Flagge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

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Abbildungsverzeichnis

6.16 Kunstprojekt mit Kindern in Le Kram Ouest – WandbildMoscheen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298

6.17 Glückwunsch zum Eid al-Fitr mit Faustkampfmosaik . . . . 3056.18 Vereinslogo des Kram Team Fight Club . . . . . . . . . . . . 3076.19 Wandgestaltung Maison des Jeunes Le Kram . . . . . . . . . 316

7.1 Chronologie 2010 – 2011 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3527.2 Chronologie 2012/1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3537.3 Chronologie 2012/2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3547.4 Chronologie 2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3557.5 Chronologie 2014/1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3567.6 Chronologie 2014/2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3577.7 Chronologie 2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3587.8 Einladung zur Gedenkfeier – Übersetzung zu Abbildung 5.3 3597.9 Struktur der Staatsorgane im Kalifat – Übersetzung zu Ab-

bildung 5.6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3607.10 Struktur Info Islam Tunisia – Übersetzung zu Abbildung 5.10 361

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Anmerkungen zur Transliteration

Die Schreibweise der arabischsprachigen Begriffe entspricht den Regeln zurwissenschaftlichen Umschrift des International Journal of Middle East Stu-dies (IJMES). Die IJMES-Umschrift stellt eine Mischform aus Transliteration(buchstabengetreuer Umschrift) und Transkription (lautgerechter Umschrift)dar und ermöglicht dem Leser die Rekonstruktion des arabischen Schriftbilds.Der in Tunesien offiziell verwendete Sonderbuchstabe Qaf mit drei Punktenwurde entsprechend seiner Aussprache mit dem lateinischen Buchstaben gwiedergegeben. Aus dem Arabischen eingedeutschte Fachbegriffe, wie Nikaboder Dschihad, werden gemäß der aktuellen Rechtschreibung des Dudensund in lateinischer Umschrift wiedergegeben. Arabische Eigennamen werdenin ihrer aus der internationalen Presse und anderen wissenschaftlichen Pu-blikationen bekannten Schreibweise verwendet, weshalb es bei bestimmtenNamen, wie beispielsweise Muhammad, Mohamed oder Mohammed, zu Ab-weichungen kommen kann. Dies trifft insbesondere auf tunesische Namen zu,die in ihrer französischen Umschrift bekannt sind und in dieser Schreibweiseam erfolgversprechendsten recherchierbar sind. Alle arabischen (und persi-schen) Eigennamen werden bei ihrer ersten Nennung im Text einmalig umdie entsprechende IJMES-Umschrift in eckigen Klammern ergänzt. Abwei-chend von den Regeln des IJMES werden sie, wie die arabischen Fachbegriffe,ebenfalls mit diakritischen Zeichen versehen, um das arabische Schriftbildder Eigennamen leichter rekonstruierbar zu machen. Für Ortsnamen wirdeinheitlich die im Deutschen übliche Schreibweise verwendet. Die Namender zitierten Autoren werden nicht angepasst.Im Hinblick auf eine gendergerechte Sprache werden neutrale Formulierungenverwendet, welche das Geschlecht nicht sichtbar machen. Wo es aus Gründen

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Abbildungsverzeichnis

der besseren Lesbarkeit angeraten ist, wird wertungsfrei die männliche Formfür beide Geschlechter verwendet.

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1 Einführung und Grundlagen

1.1 Kontext und Zielsetzung

„Wenn das Volk eines Tages das Leben einfordert, dann muss das Schicksaldas gewähren. Die Nacht muss weichen, die Ketten gesprengt werden.“1

Tunesischer Nationaldichter Abu Qasim Chebbi

Ben à vie. Demokratie, soziale Gerechtigkeit und eine Verfassungsreformkündigte Zine el-Abidine Ben Ali [Zayn al-cAbidın Bin cAlı] (1936–2019)in seiner Antrittsrede an, nachdem er am 7. November 1987 den bis da-hin amtierenden Staatspräsidenten Habib Bourguiba [al-H. abıb Buruqayba](1903–2000) unblutig aus dem Präsidentenpalast geputscht hatte.2 Als selbst-ernannter Freund des Westens versprach er Stabilität und Sicherheit und

1Die zwei Strophen des Gedichts „Der Wille zur Freiheit“ des tunesischen National-dichters Abu Qasim Chebbi [Abu al-Qasim al-Shabbı] (1909–1939) sind seit demJahr 1987 Teil der tunesischen Nationalhymne. Ihre politische und staatskritischeKonnotation erfreut sich seit der Revolution im Jahr 2011 neuer Popularität. Auchüber die Staatsgrenzen Tunesiens hinaus wurden die Verse des Widerstands gegen dasfranzösische Protektorat zur Hymne der Revolution und Slogan politisch motivierterDemonstrationen in der arabischen Welt.Volltext der englischen Übersetzung: URL: http://www.jadaliyya.com/pages/index/1381/al-shabbis-the-will-to-life. Zugriff am 23.03.2020.

2Habib Bourguiba war von 1957 bis in das Jahr 1987 der erste Staatspräsident der am25. Juli 1957 ausgerufenen Republik Tunesien. In diesem Amt ließ er sich im Jahr1975 auf Lebenszeit bestätigen und verfolgte bis einen autoritären Regierungsstil.Sein Premierminister Zine el-Abidine Ben Ali ließ Bourguiba im November 1987 fürregierungsunfähig erklären und unter Hausarrest stellen. Ben Ali übernahm das Amtdes Staatspräsidenten.

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1 Einführung und Grundlagen

stand daraufhin fast ein Vierteljahrhundert an der Spitze des Staats. ZuBeginn seiner Amtszeit bis in die 1990er erließ Ben Ali formale Maßnahmen,um dem Bild des Modernisierers Tunesiens zu entsprechen.3 Er schuf einSozialversicherungssystem, setzte Bildungsreformen durch, propagierte dieEinhaltung von Menschenrechten und förderte Frauenrechte, was Tunesieninternationale Anerkennung und den Ruf eines Musterlands der Transfor-mation einbrachte. Nach diesen anfänglichen Liberalisierungsmaßnahmenstagnierte der Reformprozess um das politische System nach dem Jahr1992 jedoch zunehmend zugunsten einer Fokussierung auf eine neoliberaleWirtschaftsmodernisierung, welche er als seinen Amtsauftrag propagierte(vgl. Robert 1999, S. 75).4 Von den wirtschaftlichen Privatisierungen pro-fitierte jedoch allen voran der Familienclan um Ben Alis zweite Ehefrau,Leila Trabelsi [Layla T. rabilsı].5 Der Sicherheitsapparat wurde im Weiterenmassiv ausgebaut und politische Gegner sowie Aktivisten verhaftet, gefol-tert oder exiliert. Die Medien beziehungsweise der Zugang zu den Medienwurden zunehmend zensiert und eine Art künstliche Zivilgesellschaft alsGegengewicht zu den entstehenden Nichtregierungsorganisationen geschaf-fen.6 Die politische Opposition war bereits seit dem Jahr 1989 zugunstender Staatspartei Rassemblement constitutionnel démocratique (RCD) ver-einnahmt worden und Teile der Opposition, insbesondere aus dem religiösenSpektrum, wurden nicht zu den Wahlen zugelassen.7 Während in einem

3Um außenpolitisch das Image des makroökonomischen Erfolgspolitikers aufrechtzuer-halten und die Beziehungen zu Europa zu festigen, hatte Ben Ali bereits im Jahr 1990die Propagandaagentur Agence tunisienne de communication (ATCE) gegründet.

4Le programme de mise à niveau, deutsch Modernisierungsprogramm.5Leila Trabelsi (geb. 1956) ist die Witwe Ben Alis. Beide wurden nach der Revolution

in insgesamt 18 Punkten, darunter Anstiftung zu Mord und Verschwörung gegen dieinnere Sicherheit angeklagt. Am 20. Juni 2011 wurden sie in Tunis in Abwesenheit we-gen Veruntreuung des Staatsvermögens zu jeweils 35 Jahren Haft und einer Geldstrafevon umgerechnet rund 46 Millionen Euro verurteilt (Elvers-Guyot 2011).

6Unabhängige Organisationen wurden zudem genötigt, ihre Leitungspositionen mitregimetreuen Unterstützern Ben Alis zu besetzen, um eine Legalisierung zu erhalten.

7Keines der Wahlergebnisse seiner insgesamt fünf Präsidentschaftswahlen lag unter 89 %.Selbst zu den ersten pluralistischen Präsidentschaftswahlen am 24. Oktober 1999, in

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1.1 Kontext und Zielsetzung

bürgerlich-demokratischen Staatsverständnis die jeweilige Verfassung alsInstrument der Demokratisierung verstanden wird, setzte Ben Ali die tu-nesische Verfassung – wiederholt und in Akten präsidialer Willkür – alsInstrument der Regimesicherung ein. Im Jahr 2002 schaffte er beispielsweisedie 1988 von ihm selbst eingebrachte Begrenzung der Legislaturperiodenauf drei Amtszeiten ab, um eine Wiederwahl zu ermöglichen. Spätestens zudiesem Zeitpunkt erhielt er unter der tunesischen Bevölkerung die spöttischeBezeichnung „Ben à vie – Ben Ali lebenslänglich“. Demokratie wurde demLand, trotz Ben Alis Ankündigung von Reformen im Jahr 1997, bis zurRevolution 2011 nur in homöopathischen Dosierungen verabreicht, währendgleichzeitig gesellschaftliche Spannungen, wie der Hungerstreik der politi-schen Opposition am 18. Oktober 2005 oder die blutigen Aufstände 2008 inder Bergbauregion um Gafsa, zu Tage traten.

Tunesische Revolution 2011. Nach Jahrzehnten der Stagnation unter demRegime Ben Alis sprengte die tunesische Bevölkerung im Frühjahr 2011schließlich „die Ketten“. Am 14. Januar 2014 verließ Ben Ali infolge von Mas-senprotesten der tunesischen Bevölkerung das Land fluchtartig, woraufhinein Regierungssprecher die Regierung auflöste und Neuwahlen verkünde-te. Forderungen mit liberalen Anliegen nach individueller Freiheit, Arbeit,besseren Lebensbedingungen, Menschenwürde, Bürgerrechten und Schutzvor staatlichen Übergriffen wurden laut, fanden Resonanz und weitetensich bald auf andere autokratische Staaten der Middle East and NorthAfrica (MENA) Region aus. Die politischen Erschütterungen, welche auf dieSelbstverbrennung Mohamed Bouazizis [Muh. ammad al-Bucazızı] (1984–2011)in der Provinzstadt Sidi Bouzid folgten, brachten eine bisher ungekannteDynamik mit sich und führten am 14. Januar 2011 zum Sturz des autoritären

welchen zu ersten Mal in der Geschichte des Lands zwei weitere Kandidaten zugelassenwurden, wurde Ben Ali mit 99,44 % der Stimmen wiedergewählt.

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1 Einführung und Grundlagen

Regimes Ben Alis.8 Die politische Krise endete aber nicht mit der Revolte.9

Die raison d’être, der normative Kern des Systems an sich, hatte versagt.Aus der Performanzkrise des Regimes heraus entstanden Forderungen derÖffentlichkeit nach einer Neugründung der politischen Ordnung, die sichschließlich zu einer Revolution und damit dem Umsturz der Herrschaftsord-nung zuspitzten.10 Mit dem Beginn der tunesischen Revolution im Frühjahr2011 hat die Transitionsforschung wieder frischen Aufwind erhalten undweißt heute eine große Diversität an Forschungsfeldern auf, vereint durch dieFragestellung: Welche Faktoren bewirken die Veränderung? Tunesien selbstwird seither mit dem international erwarteten, politischen und gesellschaft-lichen Transitionsprozess zu einer (liberalen) Demokratie beziehungsweiseeiner demokratischen Konsolidierung verbunden. Dieses Desiderat spiegeltsich in einer mittlerweile unüberschaubaren Anzahl an Literatur, Projek-ten und Studien im Rahmen der Transitionsforschung wider. Studien, wiedie vorliegende, welche sich ohne normative Vorannahmen mit der Fragebeschäftigen, welche Ordnungsvorstellungen, jenseits der erwarteten Demo-kratisierung, tatsächlich in der Bevölkerung verhandelt werden, sind ungleichschwieriger zu finden (siehe Unterkapitel Forschungsstand).

Theoretische Erklärungsansätze. Diese häufig vorausgesetzte Pfadabhän-gigkeit des Transitionsprozesses in Richtung Demokratie nach westlichem

8Angestellte der kommunalen Verwaltung hatten zuvor den mobilen Verkaufsstand desGemüsehändlers Bouazizi gewaltsam beschlagnahmt.

9Der Begriff der Revolte bezeichnet nach Zimmermann eine massenhafte, oft gewaltsameund extralegale Erhebung gegen die herrschende(n) Elite(n). Ob diese erfolgreich istund zum Sturz und Austausch des Herrschaftspersonals führt, bleibt ergebnisoffen(vgl. Zimmermann 2012, S. 867 f.). Tatsächlich scheitern Revolten oft, wenn dasRegime über überlegene Gewaltmittel verfügt. Die Chancen auf Erfolg steigen, wennsich Polizei oder Militär hinter die Erhebung stellen, was jedoch einen späterenMilitärputsch nicht ausschließt.

10Anders als Revolten zielen Revolutionen auf einen Umsturz der Herrschaftsordnungab. Sie richten sich, neben der Kritik am performativen Versagen eines Regimes, imKern immer gegen die Defizite der normativen Prinzipien eines Systems als genuineUrsache für die Krise (Beetham 2013).

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1.1 Kontext und Zielsetzung

Vorbild hängt mit der Entwicklung des Forschungszweigs selbst zusammen,der auf eine jahrzehntelange Tradition zurückblickt. In der deutschen Po-litikwissenschaft dominiert die Einteilung der Transitionsforschung in viertheoretische Erklärungsansätze, welche system-, struktur-, kultur- oder ak-teurszentriert argumentieren.Die Systemtheorien bilden den ältesten Ansatz, darunter Parsons soziologi-sche Grundlegung, Luhmanns Theorie der autopoietischen Teilsysteme unddie politikwissenschaftliche Modernisierungstheorie (Luhmann 2015, Parsons1976, 2009). Bereits die frühe Modernisierungstheorie der 1950er und 1960erJahre untersuchte die Erfordernisse von Demokratisierungsprozessen undtrug entscheidend zu ihrer Entfaltung bei. Der damalige Entwicklungsstandder Vereinigten Staaten von Amerika und anderer westlicher Industrieländererhielt im Zuge dessen eine Art Vorbildfunktion für die zu erwartendenDemokratisierungsphasen von Entwicklungsländern. In den Nachwehen deszweiten Weltkriegs und unter den Bedingungen des Kalten Kriegs entstanddas Modell parallel zu der Idee einer Rollback-Politik des US-amerikanischenPolitikers John Foster Dulles (1888–1959).11 Der ideologische Antagonismus,die westzentrierte Perspektive und die darauf basierende Verknüpfung mitnormativen Prämissen prägen bis heute die theoretischen Grundlagen desansonsten sehr heterogenen Forschungsfelds. Einige Vordenker der Moderni-sierungstheorie argumentierten, dass autoritäre Regime die immer komplexerwerdenden Gesellschaften, deren gestiegene gesellschaftliche Mobilisierungund damit einhergehende Partizipationsansprüche nicht mehr beherrschenkönnten und damit einen Wandel bedingten (Almond & Bingham Powell1966, Issawi 1956, Lerner 1958). Lipset hingegen vertrat die Position, Transi-tion sei die Folge einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung des jeweiligenLandes: „[T]he more well-to-do a nation, the greater the chances that it will

11John Foster Dulles diente unter dem ehemaligen US-Präsident Dwight D. Eisenhower(1890–1969) von 1953 bis in das Jahr 1959 als Außenminister und trat im KaltenKrieg gegen die Sowjetunion als entschiedener Gegner des Kommunismus auf. Erverfolgte das Ziel, den Einfluss der demokratischen westlichen Welt auszuweiten unddas Einflussgebiet der Sowjetunion zurückzudrängen.

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1 Einführung und Grundlagen

sustain democracy“ (Lipset 1959, S. 75).12 In einer empirischen Studie legteer den Zusammenhang zwischen einem steigenden Bruttoinlandsprodukt unddem Demokratisierungsgrad eines Landes dar (Lipset 1981). Andere Autorenwie Przeworski, Alvarez, Cheibub und Limongi (Przeworski et al. 2000)widersprechen dieser Schlüsselhypothese zwar, bleiben aber in ihrer normati-ven Herangehensweise ebenfalls der Prämisse der Demokratieentwicklungverbunden. Sie argumentieren, dass ein ansteigendes Pro-Kopf-Einkommenkeine Vorbedingung einer demokratischen Transition autoritärer Regimedarstelle. Vielmehr ereigne diese sich willkürlich. Das Pro-Kopf-Einkommenbedinge aber die Konsolidierung der neu entstandenen Demokratie, welcheaufgrund des Wohlstands stabil bleibe.Strukturalistische Ansätze kritisieren den Fortschrittsglauben und die Deter-miniertheit der Systemtheorien. Anstatt eines universellen Modernisierungs-pfads als Folge von Bildung und Wohlstand, sehen sie den Ursprung derVeränderung im Aufbrechen gesellschaftlicher Interessensstrukturen sowieder komplexen Machtverteilung antagonistischer sozialer Klassen (Huberet al. 1993, Moore 1993, Therborn 1977).Vertreter kulturtheoretischer Ansätze verweisen auf kulturelle und religiöseBedingungsfaktoren als stabilisierende Faktoren politischer Systeme (Bour-dieu 1982, Giddens 1996). Sie seien beständiger als der Grad der Moderni-sierung oder die Machtverteilung und keinen kurzfristigen Veränderungenunterworfen. Dabei dominiert die Annahme, dass sich der durch die Aufklä-rung geprägte, westliche Kulturkreis offener und aufnahmefähiger gegenüberfreiheitlich-demokratischen Werte und Normen darstellt, als patriarchalgeprägte oder religiös orientierte Gesellschaften. „Eine fundamentalistisch-religiöse Kultur behindert die Verbreitung demokratiestützender Normenund Verhaltensweisen in der Gesellschaft. Sie versagt den demokratischenInstitutionen die eigenständige demokratische Legitimität und belastet des-halb die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft“ (Merkel & Puhle1999, S. 49). Als nach dem Zusammenbruch des Ostblocks keine Demo-

12Begünstigende Indikatoren wirtschaftlicher Entwicklung sind, laut Lipset, eine steigendeAlphabetisierungsrate, Urbanisierung, Industrialisierung und Wohlstand.

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1.1 Kontext und Zielsetzung

kratisierung der MENA-Region folgte, sahen sich einige Autoren in demArgument einer kulturellen Einzigartigkeit der Region bestätigt, welche dennatürlichen Verlauf einer Demokratisierung verhindert (Huntington 1984,Pratt 2007, Sharabi 1988). Die Rechtfertigung, Islam und Demokratie seiennicht miteinander vereinbar, wurde laut (Kedouri 1992). Abgrenzungsversu-che und die Unterstellung unausweichlicher, konflikthafter Zusammenstößezwischen kulturellen oder religiösen Entitäten prägten die wissenschaftli-chen Auseinandersetzungen.13 Der Islam stellt für sie ein Hindernis für eineweitere Demokratisierung dar (Huntington 1993, Lewis 1990). Diese sim-plifizierende Annahme ist jedoch hochproblematisch. Nicht alle religiösenund soziologischen Entwicklungstrends werden zwangsweise vom Islam alsReligion bestimmt. Außerdem ist der Islam, wie das Christentum auch,keine homogene Entität. Seine Ausprägungen variieren je nach Kontext undZeit stark (Schulze 2016). Ebenso variabel sind die Auffassungen über dasVerhältnis von Islam und Demokratie unter den Muslimen selbst (Salamé1994). Unter islamischen Intellektuellen und Theologen finden sich heutegegensätzliche Positionen. Ein prominentes Nein zur Demokratie vertritt dasWerk Sayyid Abu A’la Maududis (Maududi 1979, 1997). Andere moderne is-lamische Vordenker, wie der tunesische Intellektuelle Rachid al-Ghannouchi,sehen keinen Konflikt zwischen Islam und Demokratie. Al-Ghannouchi ver-sucht beispielsweise, seine Agenda in der von islamischen Werten geleitetenEnnahdha-Partei, arabisch h. izb al-nahd. a, deutsch Partei der Erneuerung,umzusetzen.14 In einem Interview mit dem arabischen Nachrichtensenderal-Jazeera erklärt er: „(...) democracy and Islam are integral, not conflicting

13Schon Lipset wies auf den Zusammenhang der Entwicklung demokratiefördernder Werteund Normen mit dem zunehmenden Grad der Modernisierung hin.

14Die Ennahdha-Partei ging im Jahr 1988 aus der verbotenen Partei Mouvement de latendance islamique (MTI) hervor, welche Teil der islamischen Erneuerungsbewegungin Tunesien war. Ihre Mitglieder wurden unter dem Ben Ali-Regime politisch verfolgt.Erst nach der Revolution 2011 konnte sich die Ennahdha als eine der einflussreichstenParteien Tunesiens etablieren. Unter der Führung al-Ghannouchis positioniert sich dieEnnahdha-Partei heute, nach dem Vorbild christdemokratischer Parteien in Europa,als muslimdemokratische Kraft Tunesiens.

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1 Einführung und Grundlagen

priciples. Democracy thrives with Islam and Islam thrives with democracy.They (...) are intimate and co-existent couples and friends“ (Ryan 2012).Rachid al-Ghannouchi entwirft in seinen Überlegungen das Bild eines zivilenStaates, arabisch al-dawla al-madaniyya, in welchem die religiösen Akteu-re die demokratischen Prärogative respektieren, während der Staat denBürgern das verfassungsmäßige Grundrecht auf Religionsfreiheit zuspricht(al-Ghannouchi 2011).15 Der iranische Reformer und Philosoph MohammadMojtahed Shabestari geht sogar so weit, in der Demokratie die vernunftge-lenkte Umsetzung koranischer Prinzipien zu sehen (Shabestari 2009). Folglichlautet mittlerweile der Konsens der wissenschaftlichen Debatte, dass dieThese der Unvereinbarkeit von Islam und Demokratie empirisch nicht haltbarist (Rutherford 1999, Youngs 2006). Vor diesem Hintergrund formulieren seitdem Jahr 2011 nicht nur Akteurstheoretiker unterschiedlichste Annahmenüber eine mögliche Zukunft der MENA-Staaten. Eine Machtübernahme derIslamisten nach dem Vorbild der Iranischen Revolution wird dabei ebenso inBetracht gezogen, wie ein Postislamismus im Sinn Olivier Roys (Roy 2001).Vertreter des akteurszentrierten Ansatzes gehen von der Prämisse aus, dassdie Demokratisierung maßgeblich von den beteiligten Akteuren initiiert wird.Im Transitionsprozess lösen sich die Normen und Institutionen des altenSystems auf während die demokratische Verfahren noch nicht vollständigetabliert sind. Dadurch entsteht ein Machtvakuum, welches von starkenAkteuren besetzt wird (vgl. Merkel et al. 1996, S. 11 f.). Über deren Agendaund Strategien, die mit den Interessen anderer Akteure im Konflikt stehenkönnen, wird der Struktur- und Systemwandel weiter vorangetrieben. An-ders als über system- oder strukturpolitisch argumentierende Ansätze kannmittels des mikroanalytischen akteurszentrierten Ansatzes die Evolution derRahmenbedingungen und das Entwicklungspotenzial eines Systems erfasstwerden (vgl. Sandschneider 1996, S. 42). Innerhalb des akteurszentrierten

15Der zivile Staat steht hier im Gegensatz zu der Idee eines religiösen Staates. Der arabi-sche Begriff madaniyya soll zudem den arabischen Ausdruck calmaniyya umgehen. DerBegriff calmaniyya bedeutet säkular und trägt im Arabischen eine stark antireligiöseKonnotation.

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1.1 Kontext und Zielsetzung

Ansatzes sind zwei Hauptströmungen vertreten. Die erste Forschungsrich-tung will anhand der Akteure die Ziele und Prozesse der demokratischenTransition deskriptiv erfasst. Auf deren Grundlage sollen generelle Aussagenzum typischen Verlauf einer Demokratisierung dem dem erwartbaren Ver-halten der daran beteiligten Akteure generiert werden. Die zweite Strömungkonzentriert sich auf die Erforschung der notwendigen Bedingungen füreinen Übergang von Autokratie zu Demokratie anhand von Rational-Choice-Verfahren. Die an der Transition beteiligten Akteure verhalten sich folglichrational, um ihr Interessenspektrum durchzusetzen, wobei sie strukturel-le Faktoren und institutionelle Gegebenheiten in ihr Kalkül einbeziehen.Deshalb kann das Verhalten der Akteure auch nicht als alleiniger Erklärungs-ansatz für Transitionsprozesse sondern muss als einer der Einflussfaktorengelten. Die Erkenntnisse der mikroanalytischen Ebene müssen mit den struk-turellen und institutionellen Rahmenbedingungen in Zusammenhang gesetztwerden. Bei der Identifizierung der beobachteten Akteure darf zudem keineKonzentration auf Akteure erfolgen, welche demokratiefördernd agieren, umdas deterministische Denken der Modernisierungstheorien zu umgehen.

Transition. Den Begriff der Transition definieren O’Donnell und Schmit-ter als die klar begrenzte Zeitspanne zwischen dem Übergang von einempolitischen Regime zu dem nächsten, wobei die Regeln des politischen Spielszunächst offen bleiben und von unterschiedlichen Akteuren ausgehandeltwerden. Die Prozesse der Transition verlaufen nicht unbedingt linear undkönnen sich auch über einen längeren Zeitraum erstrecken, der von Kri-sen, Stagnation oder Rückschlägen geprägt sein kann (O’Donnell 1993).Die beteiligten Akteure versuchen in dieser Phase, ihre eigenen Interessendurchzusetzen und die Ressourcenverteilung der Zukunft positiv für sichselbst zu beeinflussen, wobei Gewinner und Verlierer des Wandels entstehen.Die Transition beginnt charakteristischerweise mit der Modifizierung dereigenen Herrschaft durch die unter Druck stehenden, autoritären Amtsinha-ber. Während die Einheits- oder Staatspartei zu diesem Zeitpunkt häufigdem Regime als Instrument sozialer und politischer Kontrolle dient, formiert

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1 Einführung und Grundlagen

sich die Opposition und beginnt mit den Softlinern des Regimes zu koope-rieren. Die Softliner des Regimes und die Opposition arbeiten zusammenund verdrängen die Hardliner des Regimes.16 Linz und Stephan erweiterndiese Konstellation zu einem four-player game aus Hardlinern, Softlinern,der Opposition und weiteren Partnern außerhalb des Regimes (Linz & Ste-pan 1996). Dieses four-player game der Demokratisierungstheorie hat einegraduelle politische Liberalisierung und das Angebot größerer individuellerRechte und Freiheiten der Bürger zur Folge. Es ist allerdings nur ein ersterSchritt, der noch keinen Regimewechsel beinhaltet. Die Transition ist erstbeendet, wenn das neue Regime eingesetzt ist.17 Andere Autoren schrän-ken den Begriff der Transition stärker ein und gehen von dem explizitenWandel nicht demokratischer, sprich autoritärer oder totalitärer Regime,in eine konkrete Form eines demokratischen Regimes aus (Merkel & Puhle1999, S. 105). Transitionen stellen folglich Wandlungsprozesse innerhalb derpolitischen Sphäre dar.18 Der erstrebenswerte Ausgang einer Transition ist

16Hardliner verteidigen den autoritären Status quo und lehnen jegliche Kompromisse ab.Softliner des Regimes hingegen befürworten die graduelle Öffnung, um der Oppositionein ungefährliches Ventil für den Ausdruck des eigenen Unmuts zu geben. DiesesZugeständnis soll das autoritäre Regime zusätzlich stabilisieren (vgl. Eisenstadt et al.2017, S. 123).

17O’Donnell und Schmitter lassen in ihrer Definition bewusst offen, um welche Art desRegimes es sich jeweils handelt. Fishman kritisiert in seinem Reviewartikel zu denArbeiten von Opello, Schmitter, O’Donnell und Gunther et al. deren mangelndePräzision in der Abgrenzung der Begriffe Regime und Staat. Fishman definiert Regimeals: „formal or informal organization of the center of political power, and of it’srelation with the broader society. A regime determines who has access to politicalpower, and how those who are in power deal with those who are not“ (Fishman1990, S. 428). Seine Begriffsbestimmung gilt heute als Standarddefinition innerhalbder Transitionsforschung. Fishman bewegt sich damit innerhalb des traditionellenKonzeption von Macht nach Weber, die sich als asymmetrische Beziehung zwischenHerrschern und Beherrschten manifestiert (Weber 1972). Mehr zum Foucault’schenVerständnis von Macht als System von Beziehungen folgt in Kapitel 3.4.1 ab Seite 90.

18Der Begriff der Transformation wird im deutschen Sprachgebrauch oft synonym zurTransition verwendet. Er bezeichnet in der Politikwissenschaft einen grundlegendenWechsel des Gesamtsystems, das heißt neben der politischen Sphäre unterliegt auch

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1.1 Kontext und Zielsetzung

für O’Donnell und Schmitter jedoch ebenfalls die Auflösung des autoritärenRegimes und die Errichtung einer Form der Demokratie. Idealerweise habendie beteiligten Akteure sich zu diesem Zeitpunkt geeinigt und fügen sich denmehr oder weniger expliziten Regeln politischer Aushandlungsprozesse undStrukturen (vgl. O’Donnell & Schmitter 1986, S. 65). In ihrer Argumentationstützen O’Donnell und Schmitter sich auf Rüstows akteurszentrierten Transi-tionsbegriff, dessen Fokus auf den politischen Eliten liegt, deren Handeln fürdie Stabilität eines Regimes als entscheidend gilt. In der normativen Erwar-tung der demokratischen Transition kam zu einem Schulterschluss zwischenWissenschaft und der US-amerikanischen Agenda der Demokratieförderungunter dem Staatspräsident Ronald Reagan (1911–2004).19 Die Demokratie-förderung beruht auf dem Verständnis einer Überlegenheit demokratischerOrdnungen und blieb nicht nur auf die US-amerikanische Agenda beschränkt.Auch für die Europäische Union ist sie bis heute ein bedeutendes Anliegen,insbesondere im Hinblick auf die Sicherheit an ihren Grenzen. Grundsätzlichkann die Demokratieförderung indirekt, zum Beispiel über die Unterstützungvon good governance, über die Medien oder über die gezielte Unterstützungpolitischer wie gesellschaftlicher Akteure im Zielland erfolgen. Die direkteDemokratieförderung geht sogar bis hin zu gezielten Interventionen, welcheeinen Regimewechsel herbeizuführen versuchen. Betrachtet man retrospektivdie erzielten Ergebnisse dieser Politik, kann man im Falle der europäischenBemühungen in Tunesien eher von einer Förderung des autokratischen Re-gimes Ben Alis ausgehen. O’Donnell und Schmitter waren in den 1980er

die gesellschaftliche und/oder die ökonomische Ordnung Veränderungen. Der WandelOsteuropa in den 1990er Jahren lässt sich als Transformation beschreiben, da nebendem politischen System auch ein Bruch mit dem Wirtschaftssystems stattfand (Wolf& Hopfmann 1998).

19Der republikanische Politiker Ronald Wilson Reagan regierte als 40. Staatspräsidentvon 1981 bis in das Jahr 1989 die Vereinigten Staaten von Amerika. Er bezeichnetein einer Rede am 8. März 1983 in Orlando, Florida, die Sowjetunion als evil empire,deutsch Reich des Bösen. Reagan war davon überzeugt, dass die US-Außenpolitik denpolitischen Einflussbereich der Sowjetunion in der damals sogenannten „Dritten Welt“zurückdrängen muss.

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1 Einführung und Grundlagen

Jahren wegweisend für dieses Verständnis von Demokratisierungsprozes-sen. Aufgrund des einige Jahre später einsetzenden Demokratieoptimismusstand der Begriff der Transition in der vergleichenden Politikwissenschaftab den 1990er Jahren ausschließlich für den Übergang zur Demokratie. Eineentsprechende Terminologie für den Wandel zur Autokratie existierte zu-nächst nicht (Albrecht & Frankenberger 2010, Ambrosio 2010, Erdmann2011). O’Donnell und Schmitter betonten in ihrer Definition aus dem Jahr1986 noch, dass auch die Rückkehr zu einer anderen Form autokratischerHerrschaft oder eine revolutionäre Alternative, eventuell begleitet von ge-walttätigen Konfrontationen, möglich seien (vgl. O’Donnell & Schmitter1986, S. 6 ff). Unterstützend in Richtung Demokratie wirkt die intellektuelleund moralische Autorität zivilgesellschaftlicher Akteure, die sich gegen dasautoritäre Regime positionieren und ihre Forderungen artikulieren.20 Zuden einflussreichsten unter ihnen zählen, laut O’Donnell und Schmitter,Fachverbände, Menschenrechtsorganisationen, Intellektuelle, Akademiker,Künstler und Gewerkschaften (vgl. O’Donnell & Schmitter 1986, S. 57).Die Forderungen dieser Akteure variieren. Typischer Weise beinhalten siejedoch den Wunsch nach Reformen, welche soziale Gerechtigkeit, ökonomi-sche Gleichheit oder Freiheit garantieren sollen. Politische Parteien hingegenspielen zu Beginn des Transitionsprozesses eine eher untergeordnete Rolle, dasie häufig erst nach der Aufhebung der Restriktionen in großer Anzahl neugegründet werden und zunächst in interne Konflikte verstrickt sind. Erst imVerlauf der Transition (re-)organisieren sie sich. Von großer Bedeutung sinddie ersten freien Wahlen nach dem Ende autokratischer Herrschaft. Währendder sogenannten Gründungswahlen werden Posten von nationaler Signifikanzin freien und fairen Wahlen besetzt, zu denen sowohl bereits bestehende alsauch neu gegründete Parteien Zugang erhalten (vgl. O’Donnell & Schmitter1986, S. 59). Das hat zur Folge, dass sich die Parteienlandschaft zunächst

20Der Blick auf zivilgesellschaftliche Akteure aus dem islamischen Spektrum zeigt, dassdiese Pfadabhängigkeit nicht zwingend gegeben ist. Auch wenn zivilgesellschaftlicheAkteure gegen ein autoritäres Regime protestieren, zielen sie nicht unbedingt aufDemokratie ab.

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1.1 Kontext und Zielsetzung

stark fragmentiert. Die Anzahl der Parteien reduziert sich erst im Verlaufweiterer Wahlen wieder (vgl. Reich 2004, S. 236). Auslöser sind zumeistSperrklauseln, welche der Zersplitterung des Parlaments entgegenwirkensollen. Kleine Parteien sehen sich aufgrund dieser Sperrklausen aus pragma-tischen Erwägungen heraus zu Zusammenschlüssen gezwungen, um einenSitz zu erhalten oder ziehen sich mit geringen Wahlerfolgen wieder aus derParteienlandschaft zurück. Andere Autoren betonen ebenfalls die Bedeutungder Wahlen im Aushandlungsprozess neuer Legitimationsnarrative sowieals Ziel des demokratischen Übergangs. Sie differenzieren jedoch stärkerzwischen verschiedenen Typen postautoritärer Wahlen (vgl. Huntington1991, S. 174). Przeworski (vgl. Przeworski 1991, S. 66 f.) und Pettai (vgl.Pettai 2012, S. 14 f.) definieren Übergangswahlen als geprägt von eineminternen Konflikt zwischen Anhängern des alten Regimes und der bisherigenOpposition. Erst in den anschließenden Gründungswahlen werden Konfliktetatsächlich zwischen den Parteien ausgetragen. Damit stellen die Wahlennicht nur den Abschluss der Transition dar, sondern sind inhärenter Teilihrer Dynamik (vgl. Pettai 2012, S. 15). Die Konsolidierungsphase der neuentstandenen Demokratie bleibt bei O’Donnell und Schmitter außen vor.Der normative Fokus liegt bei ihnen auf dem eigentlichen Transitionsprozesszur Demokratie.

Konzeptionelle Probleme und theoretische Weiterentwicklung. Im Verlauf der1990er Jahre verfestigte sich unter dem Eindruck der sogenannten drittenWelle der Demokratisierung (Huntington 1991, Schmitter & Karl 1994) dieVorstellung, welche Demokratie als Desiderat und damit notwendiges Ergeb-nis des Wandels postulierte.21 In einem Ablauf immer gleicher Sequenzen21Huntington beschreibt drei Wellen der Demokratisierung. Ihre Ursache sieht er un-

ter anderen im zunehmenden Legitimationsdefizit der autoritären Regime. Die ersteWelle basiert auf den nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts in den USA, imVereinigten Königreich Großbritannien, in Frankreich und in der Schweiz. Sie erlitteinen Rückschlag in der Zwischenkriegszeit. Die zweite Welle der Demokratisierungsieht er als Erfolg alliierter Politik. Nach dem zweiten Weltkrieg entstanden demokra-tische Staaten, wie Westdeutschland, Österreich, die Türkei oder Japan, gefolgt von

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1 Einführung und Grundlagen

wurde ein teleologischer Übergang zur Demokratie impliziert, während gleich-zeitig Wahlen als garantiertes Allheilmittel für Legitimität und politischePartizipation verklärt wurden (vgl. Schedler 2002, S. 36). Dass diese Progno-se empirisch nicht haltbar ist, zeigen die autoritären oder hybriden Regime,welche aus der dritten Welle der Demokratisierung hervorgingen. Levitskyund Way beschrieben die Entwicklung der teleologischen Erwartungshaltungder politikwissenschaftlichen Forschung bezüglich autokratischer Staatenmit dem Terminus excessive optimism, deutsch übersteigerter Optimismus,(Levitsky & Way 2015, S. 48). Sie begründen ihre Haltung mit der Entste-hung zahlreicher Regime in Afrika, Asien, Osteuropa und Südamerika. DieseRegime seien nicht auf dem vorgezeichneten Weg zur Demokratie stehengeblieben, ruhten oder seien verhindert, sondern bildeten eine eigene Arthybrider Regime. Die Transition führte in Ländern wie Kambodscha nichtzu einer Demokratisierung. Demokratische Institutionen wurden dort nurin dem Ringen um Macht instrumentalisiert. Der politische Wettbewerbwurde beispielsweise im Wahlkampf ausgetragen, der allerdings nicht vonfreien und fairen Wahlen gefolgt wurde. Diese hybriden Regime bezeichnenLevitsky und Was als competitive authoritarian (Levitsky & Way 2010).„Competitive authoritarian regimes are civilian regimes in which formaldemocratic institutions exist and are widely viewed as the primary meansof gaining power, but in which incumbents’ abuse of the state places themat a significant advantage vis-a-vis their opponents.“ (Levitsky & Way 2010,S. 5). Theoretische Beiträge der Autoritarismusforschung erhalten seit den1990er Jahren immer mehr Aufmerksamkeit. Sie setzen sich zunehmend mitpositiven und negativen Einflussfaktoren auf die Stabilität beziehungsweiseResilienz autoritärer Regime auseinander und betonen, dass letztere nicht:

einer Rückwelle in Lateinamerika. Die dritte Welle der Demokratisierung beginnt fürHuntington mit der Nelkenrevolution im Jahr 1974 in Portugal. Sie umfasst zudemSpanien, Griechenland, Staaten in Lateinamerika und Südostasien. Den Höhepunktder dritten Welle sieht Huntington im demokratischen Umbruch der sozialistischenLänder Osteuropas. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Thesen Huntingtonsfindet sich in den Working Papers von Diamond (Diamond 1997a,b).

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1.1 Kontext und Zielsetzung

„partizipationsfeindlich, geschlossen, unflexibel, adaptions- und innovations-träge“ sind (Merkel 1999, S. 63). Ebenso wenig ist die Demokratie gegenüberdem Autoritarismus nachhaltiger oder normativ überlegen oder die Autokra-tie eine reine Vorstufe der Demokratie. Autoritäre Regime setzen Reformenund Anpassungen sogar gezielt zur Konsolidierung ein und beweisen mitihrem selbstsicheren Auftreten deutlich ihre Resilienz (vgl. Bank 2009, S. 11).Es bleibt anzumerken, dass auch im Rahmen der Autoritarismusforschungder Fokus häufig auf der Ebene der Eliten liegt (Bratton & van de Walle1997, Brownlee 2007, Geddes 1999, Jourde 2007).Desweiteren besteht in der Transitionsforschung das Problem der Wahl derMessinstrumente, welche die Forschungsergebnisse stark beeinflussen könnenund eine große Relevanz für ihre Interpretation aufweisen. Interne sowieexterne Kritiker problematisieren die Annahmen der Transitionsforschungzu dem Verlauf und den Ergebnissen der Transition als zu optimistisch,stereotyp und simplifizierend. Sie bemühen sich um die theoretische Wei-terentwicklungen der Ansätze, da keiner dieser Ansätze eine vollständigeErfassung aller relevanten Variablen leisten kann (Collier & Levitsky 1997,Schubert & Tetzlaff 1998a, Zakaria 1997). Merkel schlägt zur theoretischenWeiterentwicklung des Konzepts die Synthese von system-, struktur-, kultur-und akteursbezogenen Konzepten vor, da alle Ansätze wichtige analytischePerspektiven auf den komplexen Gegenstand liefern. Die Kombination ihrerjeweiligen Defizite und Stärken in bestimmten Phasen und Kontexten er-scheinen ihm für Steigerung der Aussagekraft und Ergebnisrelevanz sinnvoll(Merkel 1999). Juan Linz, ein Schüler Lipsets, setzt sich mit den Problemender demokratischen Transition und der Konsolidierung auseinander. Gemein-sam mit seinem ehemaligen Schüler Alfred Stepan veröffentlicht er im Jahr1996 in „Problems of Democratic Transition and Consolidation. SouthernEurope, South America, and Post-Communist Europe“ (Linz & Stepan1996) eine erste systematische, vergleichende Analyse demokratischer Kon-solidierungsprozesse in Südeuropa und Südamerika. Linz und Stepan stellensich damit den konzeptionellen Problemen, welche der Transitionsansatz inBezug auf die neuen postkommunistischen Demokratien aufweist, und liefern

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eine überarbeitete Konzeption von nicht demokratischen Regimetypen. Siebeschreiben deren individuelle Transitionsmöglichkeiten und unterscheidenzudem die Kriterien einer demokratischen Konsolidierung von denen einerPseudodemokratisierung. In ihre Analyse beziehen sie auch bisher in derTransitionsliteratur unbeachtete institutionelle, ökonomische oder kulturel-le Faktoren mit ein. Stephen Cohen lehnt hingegen als ausgesprochenerKritiker postkommunistischer Transitionstheorien die Transitionsforschungals wiederaufbereitete Variante der Modernisierungstheorie konsequent ab(Cohen 2000, S. 21). Er kritisiert, dass deren überholte Ansätze unter demDeckmantel einer neuen Terminologie vermarktet werden (Cohen 1999, S.48).

The End of the Transition Paradigm. In bisher ungekannter Deutlichkeitspitzt Carothers die Debatte zu und legt im Jahr 2002 in seinem Artikel „TheEnd of the Transition Paradigm“ dar, dass die grundlegenden Prämissenhinter dem Transitionsmodell den realen politischen Entwicklungen nichtstandhalten. Er diskutiert drei kritische Aspekte der politikwissenschaftlichenForschung – die Transition autoritärer Herrschaft, die Nachwirkungen dieserTransition sowie die politische Praxis der Demokratieförderung. Carothersruft das Ende des Paradigmas aus und plädiert für realistischere Erwartun-gen und ergebnisoffene Fragestellungen: „What is happening politically?“soll das bisher übliche „How is its democratic transition going?“ ablösen(Carothers 2002, S. 18). Er hinterfragt die fünf von ihm herausgearbeitetenGrundannahmen des Transitionsparadigmas und vertritt den Standpunkt,dass diese zu deterministisch angelegt seien. In der Kritik steht erstens dieteleologische Prämisse, welche jeden Staat, welcher Ansätze zeigt, sich vonder vorherrschenden Diktatur zu befreien, sofort als im demokratischen Tran-sitionsprozess befindlich begreift. Die damit verbundene, implizite normativeErwartung: „(...) the instauration and eventual consolidation of politicaldemocracy constitutes per se a desirable goal“ (O’Donnell & Schmitter 1986,S. 3), sei jedoch irreführend und zu sehr auf Westeuropa und Nordamerikazentriert. Die Prognosen der Transitionsforschung ließen mögliche Entwick-

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1.1 Kontext und Zielsetzung

lungsalternativen außer Acht. Er wirft die Frage nach den klassifikatorischenProblemen von Staaten der dritten Welle der Demokratisierung auf. Be-steht für sie noch eine Perspektive der demokratischen Entwicklung oderweisen sie keine positive Dynamik der Demokratisierung mehr auf? DieMeinungen gehen in der Forschung sehr stark auseinander. Einige sehen sienoch auf einem demokratischen Weg, der Transitionsprozess dauere nur sehrlange an (Barkan 2000). Andere attestieren, dass die Staaten in in einemDauerzustand blockierter oder defekter Demokratien stagnieren und sichdamit in einer politischen Grauzone zwischen Demokratie und Autokratiebefinden (Merkel et al. 2003, Schubert & Tetzlaff 1998b). Für eine weitereGruppe stellen sie aufgrund ihres hybriden Charakters ein neues, alternativespolitisches System dar (Hadenius & Teorell 2007, Levitsky & Way 2010,Wigell 2008). Während dieses System einige demokratische Merkmale, wieRaum für oppositionelle Parteien, regelmäßige Wahlen, eine unabhängigeZivilgesellschaft oder eine demokratische Verfassung, aufweist, besitzt esjedoch auch schwerwiegende demokratische Defizite. Ein geringer Grad derPartizipation, mangelhafte Repräsentation bürgerlicher Interessen oder derMissbrauch des Gesetzes durch Regierungsbeamte weisen auf eine Autokra-tie hin. Zweitens zeigt sich in der Realität, dass viele Staaten sich andersverhalten, als es das Modell prophezeit. Entweder sie durchlaufen keinendemokratischen Prozess des politischen Übergangs oder der vorhergesagteAblauf des Systemwandels – Öffnung, Durchbruch und Konsolidierung –entspricht nicht den postulierten Transitionsstufen zur Demokratie. DieseAbweichungen werden, laut Carothers, jedoch weitgehend verkannt und ihreVarianz lediglich in ihrer Richtung oder ihrer Geschwindigkeit zur Kenntnisgenommen (vgl. Carothers 2002, S. 7). Drittens werden die Bedeutung derWahlen für die demokratische Legitimation der Regierung, die Vertiefungpolitischer Partizipation und die staatliche Rechenschaftspflicht gegenüberihren Bürgern als Generator des Übergangs überschätzt. Sie stellen keines-falls sichere Garanten für den demokratischen Wandel dar. Das bedeutetnicht, dass Wahlen dahingehend sinnlos sind. Die Erwartungshaltung derDemokratieforschung an ihr Vermögen, den demokratischen Prozess tief grei-

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1 Einführung und Grundlagen

fend zu befördern, entspricht jedoch nicht ihrer tatsächlichen Wirkungskraft.Klientelistische Politik und personalisierte Parteistrukturen untergraben diedemokratische Triebkraft der Wahlen. Viertens wurde der aus der struk-turellen Verfasstheit der Staaten, seien es Faktoren wie die ökonomischeStufe, die politische Geschichte, die ethnische Zusammensetzung der Be-völkerung, soziokulturelle Traditionen oder andere Elemente, entstehendenDynamik lange Zeit zu große Relevanz beigemessen. Das Interesse lag aufder Erforschung von Eliten und strukturellen Aspekte der Staaten als aus-schlaggebende Elemente der Transition (Rüstow 1970). Die Perspektive aufwirtschaftlichen Wohlstand, institutionelle Verhältnisse oder soziale Klassenals Einflussfaktoren generierte zu Beginn der 1990er Jahre große Aufmerk-samkeit und wurde von verschiedenen Wissenschaftlern aufgegriffen (Bratton& van de Walle 1997, Bunce 1999, Przeworski 1991, Przeworski & Limongi1993). Fünftens widerspricht Carothers der Annahme, dass die demokrati-sche Transition der dritten Welle der Demokratisierung an kohärente undfunktionierende Staaten anknüpfen konnte. Vielmehr waren in vielen dersogenannten weak states der ehemaligen Sowjetunion und in SubsaharaAfrika nationalstaatliche Institutionen weitgehend inexistent. Die relativstabilen staatlichen Strukturen in Lateinamerika und Asien erschwertendagegen den Wandlungsprozess zusätzlich. Carothers’ kritische Auseinan-dersetzung traf bei ihrem Erscheinen auf einen Nerv. Sie generierte durchihre provozierende Zuspitzung eine intensive und weitreichende wissenschaft-liche Debatte, welche die Schlüsselannahmen des Paradigmas reflektierteund aufarbeitete. O’Donnell, dessen gemeinsame Arbeit mit Schmitter imFokus von Carothers’ Kritik steht, bemängelt Carothers simplifizierendeund bruchstückhafte Darstellung eines sehr differenzierten Forschungsfeldes:„Carothers lumps together, under the heading of the „transition paradigm“,a large and uneven body of work, and then proceeds to concentrate hiscriticisms on some of the weakest parts of it“ (O’Donnell 2002, S. 6). Erbetont, dass sein Gemeinschaftswerk mit Schmitter bewusst ergebnisoffenangelegt gewesen ist. Dennoch stimmt er Carothers zu, was die fehlgeleitetenWeiterentwicklungen des Paradigmas betrifft. Der Kern der aufgeworfenen

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1.1 Kontext und Zielsetzung

Kritik bleibt, auch wenn die Vielfältigkeit des Forschungsfeldes, die massi-ve Problematik der Pfadabhängigkeit sowie der normative Charakter derAnalysen berücksichtigt werden. Das teleologische Modell strukturiert mitbeachtenswerter Beharrlichkeit weiterhin die Erwartungen der Sozialwissen-schaft. Die teils unbefriedigende Empirie der Studien und ihre normativeAusrichtung, welche mit der westlichen Praxis der DemokratieförderungHand in Hand geht, verwehren die unvoreingenommene Untersuchung realerpolitischer Entwicklungen. Die Aufgabe an die Selbstreflexion und kritischeHinterfragung des Paradigmas lautet folglich, die Realität und Normalitätzukünftig anzuerkennen, neue Fragestellungen und Herangehensweisen zuentwickeln und bisher vernachlässigte Perspektiven in die Analyse einzube-ziehen.

Transition in Tunesien. Per Definition des Begriffs der Transition vonO’Donnell und Schmitter hat das Warten auf Godot im tunesischen Transi-tionsprozess tatsächlich ein Ende gefunden (Albrecht & Schlumberger 2004).Dennoch bleiben sozioökonomische Faktoren in Tunesien unwägbar. Tunesienzeigt nach wie vor deutliche Defizite in den Bereichen Sicherheit, Grundver-sorgung und Schutz von Bürgerrechten.22 Im Hinblick auf die angeführtenDimensionen einer Demokratie ergibt sich im Fall des postrevolutionärenTunesiens das Bild eines Staats, der über fundamentale Elemente einer Demo-kratie verfügt. Deshalb sprechen viele Forschende im Untersuchungszeitraumdieser Studie bereits von einer abgeschlossenen demokratischen Transition,deren Konsolidierung noch abzuwarten bleibt. Faktisch befindet sich Tunesi-en damit in einer Art Grauzone, in der ein erneuter democratic breakdownnicht ausgeschlossen werden kann. Entsprechend der Kriterien von Eizenstatet al. ist Tunesien auch nach der Revolution als weak state zu klassifizieren(vgl. Eizenstat et al. 2005, S. 136). Trotz vorangegangener, selbstkritischerDebatten der Transitionsforschung nehmen zahlreiche Studien weiterhin eine

22Der Demokratiestatus Tunesiens wird im Tunisia Country Report 2016 des BertelsmannTransformation Index (BTI) als defekte Demokratie eingestuft, deren MarktwirtschaftFunktionsdefizite aufweist (Bertelsmann Stiftung 2016).

39

1 Einführung und Grundlagen

westliche Perspektive ein und interpretieren ihre Ergebnisse zum Teil sogarunter Einbezug orientalischer Klischees. Eine Demokratisierung Tunesienswird als gegeben vorausgesetzt. Der Fokus der Analysen bleibt vorrangig aufder Rolle der Eliten und den Institutionen.23 Akteure unterhalb der Staats-ebene, deren Handlungen sich ebenfalls auf das staatliche Gewaltmonopol,die Umsetzung staatlichen Rechts und die politische Stabilität auswirken,werden hingegen selten in empirischen Einzelfallstudien thematisiert.

Anspruch der Studie. Diese explorative Studie distanziert sich deshalb be-wusst von der perzipierten Pfadabhängigkeit der Demokratieforschung. Essteht nicht zur Debatte, wohin sich Tunesien aus westlicher Perspektiveentwickeln sollte, nicht, welche die richtige Ordnung für das Land sein könn-te. Die vorliegende Arbeit fragt, anknüpfend an Carothers Kritik an derGültigkeit des Transitionsparadigmas, nicht aus einem theologischen Ver-ständnis heraus danach, wie die Transition Tunesiens vorankommt, sondern,was politisch tatsächlich passiert. Vom normativen Leitbild einer Demo-kratisierung Tunesiens wird zugunsten einer vorurteilsfreien Beobachtungder politischen Lage Abstand genommen. Es existiert kein natürlicher Pro-zess oder vorgezeichneter, historischer Weg zur Demokratie, sondern eineVielfalt der Entwicklungsmöglichkeiten. Diese gilt es, objektiv und wer-tungsfrei wissenschaftlich zu erfassen. Wissenschaftliche Theorien dürfen indieser Studie folglich nicht den Ausgangspunkt der Herleitung darstellen.Sie werden erst nach dem Abschluss der Feldforschung zur Deutung undEinordnung empirisch gewonnener Daten herangezogen und stellen die An-schlussmöglichkeiten an die wissenschaftliche Debatte bereit. Anders als inder Transitionsforschung gemeinhin üblich, soll in dieser Arbeit darum auchein weiter gefasstes Verständnis von Demokratisierung zu Grunde gelegtwerden. Nicht das Konkurrenzverhältnis zu autokratischen Systemen unddie daraus resultierenden identitären Zuschreibungen von Herrschern undBeherrschten stehen im Zentrum, sondern die Legitimation der politischenOrdnung und der Herrschaftsausübung, die politischen Verfahrensweisen23Darunter fallen staatliche, nichtstaatliche sowie zivilgesellschaftliche Kräfte.

40

1.1 Kontext und Zielsetzung

und die Partizipation der Bevölkerung an politischen Prozessen (Mannheim1935). Im beobachteten Stadtteil von Tunis, Le Kram, waren während des Be-obachtungszeitraums wesentliche Kernelementen und zentrale Mechanismender Legitimation nicht gegeben. Politische Teilhabe, wie über Kommunal-wahlen, war auf Grund persistierender, vorrevolutionärer Strukturen für dieEinwohner nur eingeschränkt möglich. Unter ihnen bestand Unzufriedenheitmit der Staatsorganisation und den Leistungen der Herrschenden. Sie äu-ßerten grundsätzliche Zweifel an den Legitimitätsansprüchen des Regimes.Gleichzeitig traten lokale Akteure auf, welche im politischen Vakuum nachder Revolution eigenmächtig staatliche Aufgaben übernahmen und eigeneOrdnungsentwürfe bewarben. Im beschränkten lokalen Rahmen propagier-ten sie die Möglichkeit zur politischen Partizipation, indem sie diese zurTeilnahme an ihren gewaltbereiten Aktionen umdeuteten. Sie setzten sichals Ansprechpartner für die unmittelbare Verbesserung der Lebensumständein Le Kram in Szene, wobei sie gleichzeitig die Leistungskraft der Regierungin Frage stellten. Zudem nutzten sie geschickt unterschiedliche Identitätsan-gebote für die lokale Gemeinschaft, um die Zustimmung der Bevölkerung zuIhrem Handeln zu generieren.

Akteure auf der Mikroebene. Die Studie geht demnach noch einen Schritt wei-ter und stellt sich den aktuellen Forschungstrends mit ihrer Fokussierung aufdie Metaebene entgegen. Der vorherrschende Blick der Transitionsforschungauf die nationale Ebene, staatliche Institutionen und Eliten ist nicht ausrei-chend, um den tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruch in Tunesien adäquatzu erfassen und einzuordnen. Wenn die Transitionsforschung danach fragt,welche Faktoren Veränderung bewirken, dann dürfen lokale Einflussfaktorenin der Analyse nicht unberücksichtigt bleiben. Im Nachklang der Revolutiontun sich im Lokalen ungekannte Möglichkeitsräume, frei von staatlichenEinschränkungen und Zwängen, auf. Soziale Aushandlungsprozesse führendort zu der Herausbildung beziehungsweise dem grundsätzlichen Wandelder normativen politischen Ordnung. Die Pluralität von Werthaltungenfordert die tunesische Gesellschaft heraus. Sie zwingt sie zur Konsensfindung

41

1 Einführung und Grundlagen

und der Schaffung neuer Regeln des Zusammenlebens. Dieser fundamen-tale Wandel wird in der tunesischen Öffentlichkeit seit dem Jahr 2011 inFragen zu der Konstruktion und der Überbrückung multipler Formen undden Nuancen von Identitäten und Kultur im Raum sichtbar. Es handeltsich hierbei um immanente soziale Prozesse der Neuaushandlung von Ge-sellschaft und Religion, wie Mardin und Çakır sie bereits im Jahr 2008 in„Mahalle Baskısı“ in der Türkei beschreiben (Mardin & Çakır 2008). Auchin Tunesien schwelen solche Prozesse seit Jahren, konnten die nationaleAgenda zunächst aber nicht erreichen. Erst die revolutionäre Dynamik löstesie aus ihrer lokalen Verankerung und beförderte sie in den Fokus der (inter-)nationalen Öffentlichkeit. Auf der nationalen Ebene angesiedelte Studienmüssen deshalb zukünftig durch weitere Studien der lokalen Ebene ergänztwerden. Die lokale Ebene als epistemologische Zielfolie kann, unabhängigvon normativen Prämissen, eine bisher unbekannte Sichtweise auf Tunesienliefern. Sie bieten einen privilegierten Zugang auf die Abbildung des Ringensum Macht sowie die Sichtbarmachung von Machtbeziehungen. Diese Studiebetrachtet dementsprechend in einem bottom-up-Ansatz und unter Einbezuginterdisziplinärer Perspektiven die Akteure der Mikroebene als Ursprungund Ausgangspunkt herrschaftsstruktureller Veränderungsprozesse und derAushandlung von Ordnung. Diese Akteure sind, wie in den akteurszentriertenTheorieansätzen der Transitionsforschung beschrieben, ein entscheidenderFaktor der Aushandlung des politischen Systems und der Verfassungsord-nung. Sie sind führend beteiligt an den lokalen Dynamiken der Aushandlungvon Macht und Diskurs.

Reichweite der Studie. Da es sich um eine Studie der lokalen Ebene handelt,erscheint die Reichweite des Befundes zunächst gering. Die politikwissen-schaftliche Nahostforschung beschränkt sich in der Annahme, signifikanteMacht besäßen ausschließlich staatliche Institutionen, auf die Analyse vonEliten und formalen Institutionen (vgl. Eickelman 2002, S. 317). AutoritäreStaaten, welche die Macht auf einen kleinen Personenkreis konzentrierenund die politischen Partizipationsmöglichkeiten gewöhnlicher Bürger weit-

42

1.1 Kontext und Zielsetzung

reichend unterdrücken, verschieben den Fokus der Forschung dahingehendzusätzlich. Weitere Gründe, auf der Makroebene anzusetzen, sind gemein-hin auch die epistemische Präferenz für Universales über dem Partikularensowie die Herausforderungen der Informationsgewinnung selbst, die sichim Lokalen äußerst aufwendig gestaltet und wesentlich unübersichtlicheresDatenmaterial generiert (vgl. Kalyvas 2003, S. 480). Komplexe Analysenpolitischer Ordnung bedürfen jedoch eines tiefer gehenden Blicks auf dieAktivitäten nicht elitärer Akteure. Deren Interessen und Wertevorstellungenbleiben in der Transitionsforschung, selbst innerhalb des akteurszentrier-ten Ansatzes, bisher weitgehend unterrepräsentiert, obwohl im Lokalen dasPolitische erst erkennbar wird. Dort nehmen abstrakte Konzepte in derInteraktion eine konkrete Form an. Der öffentliche Raum eines Stadtviertels,die Straßen, Plätze oder Parkanlagen sind die Arena der Politik, welchedurch Aushandlungsprozesse marginaler Akteure erzeugt wird. Hier tretensie durch die aktive und partizipative Verwendung des Raumes in Konfliktemit dem Staat und fordern diesen heraus (vgl. Bayat 2013, S. 52, S. 228f.). Diese Herausforderung kann unterschiedliche Formen annehmen, wiedas bewusste Untergraben der Staatsgewalt, die Gegenüberwachung vonStaatsbediensteten, die Schaffung informeller politischer Institutionen oderdie Aneignung öffentlicher Güter. Das Handeln bewegt sich damit auch imillegalen oder quasiillegalen Rahmen, da die staatliche Regulierung und Li-zenzierung oder die Verteilung von Gütern umgangen wird. Durch ihr aktivesund passives Eingreifen in die politische Ordnung triggern lokale AkteureVeränderungen derselben. Sie können Massen mobilisieren und sind als alter-native politische Institutionen der Ursprung der Auseinandersetzungen überdas Staatswesen und die Verfassungsordnung.24 Lokale Akteure sind dabeikeinesfalls bedeutender als staatliche Eliten, aber dennoch ein entscheidendesPuzzleteil zum Verständnis politischer Dynamiken (vgl. Singerman 1997,S. 3). Sie initiieren und nutzen gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse,welche abweichende Ordnungsvorstellungen hervorbringen können. Können

24Dieses alternative politische System kann unter anderem gemeinnützige Organisationen,Familienunternehmen oder Moscheen einschließen.

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1 Einführung und Grundlagen

diese sich im öffentlichen Diskurs durchsetzen, zeigen sie deutlich, dassnormative Vorannahmen zum demokratischen Wandel nicht den politischenRealitäten im Land entsprechen müssen. Politische Partizipation umfasstin dieser Studie folglich nicht nur „the activities aimed at influencing theselection of government personnel and/or the actions they take“ (Verba &Nie 1972, S. 2), sondern basiert auf der breiteren und im deutschen Sprach-raum üblicheren Definition von Max Kaase. Politische Partizipation sind alleHandlungen, „die Bürger einzeln oder in Gruppen freiwillig mit dem Zielvornehmen, Entscheidungen auf den verschiedenen Ebenen des politischenSystems (Gemeinden, Land, Bund, evtl. supranationale Einheiten) zu beein-flussen und/oder selbst zu treffen“ (Kaase 2000). Diese Definition ermöglichtdie Anerkennung von Machtkämpfen und interner Konflikte auf der Mikro-ebene als Form politischer Partizipation und liefert wichtige Einblicke indie innere Logik von Politiken und die Vielfalt wirksamer Mächte unterhalbnationalstaatlicher Aushandlungsprozesse.25 Die Studie setzt damit, unterVerzicht auf normative Vorannahmen, einen bislang eher vernachlässigtenBaustein der Analyse um und birgt eine neue Perspektive auf die treibendenKräfte hinter dem Wandel. Gleichzeitig leistet sie einen Beitrag zur Über-windung der lokalen Blindheit politikwissenschaftlicher Fallstudien und derAufhebung simplifizierender Vorstellungen einer Trennung der nationalenund lokalen Ebene. Insbesondere über personelle Netzwerke und die Kommu-nikation abseits etablierter Strukturen können heterogene Beziehungsgefügeund Verstrickungen der wirkenden Kräfte in ihren räumlichen Relationenoffengelegt werden: „What one needs to know is the manner in which the

25Obwohl Merkels Standardwerk „Systemtransformation“ (Merkel 1999) eine umfassendeEinführung in die Theorie und Empirie der Transitionsforschung darstellt, spiegeltes auch deren Forschungslücken im Bereich (gewaltbereiter) nichtstaatlicher Akteu-re in Postkonfliktsituationen wider. Mit der Korrelation von Systemstabilität undSicherheitsstrukturen setzen sich dagegen Jones et al. in der Studie „Establishinglaw and order after conflict“ auseinander (Jones et al. 2005). Zur Demokratisierungund innerstaatlichem Gewaltpotential siehe den Sammelband „Der demokratischeUnfrieden“ der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (Spanger 2012).

44

1.2 Forschungsinteresse

local issues, local perceptions, and local problems shaped and informed thenational perceptive (...) and conversly (...)“ (Howell 1997, S. 309).

1.2 Forschungsinteresse

Forschungsfeld. Die Basis dieses Forschungsprojekts beruht auf der Annah-me, dass sich genannte Aushandlungsprozesse landesweit im öffentlichenRaum der lokalen Ebene beobachten lassen. In den Nachbarschaften undVierteln tunesischer Großstädte werden sie deutlich sichtbar. Die Strukturdes tunesischen Städtebaus wird entlang sozialer Trennlinien erkennbar. DieWohnviertel von Tunis sind geprägt durch Segregationsprozesse nach demökonomischen Status der Bevölkerungsgruppen. Diese Strukturen findensich in anderen Städten des Nahen Ostens, wie Kairo, Amman oder Beirut,ebenfalls wieder, wo gated communities und die ethnische oder religiöseZugehörigkeit zur Polarisierung beitragen.26 Gleichzeitig geht diese Segrega-tion mit unterschiedlichen Lebensstilen einher, die ihren Ausdruck in derInfrastruktur, der Architektur, den Freizeitangeboten, der Street Art, denKleidungsstilen, dem Warenangebot und den Verhaltensweisen der Bevölke-rung im öffentlichen Raum finden. Genannte Faktoren geben einen tiefenEinblick und Aufschluss über das jeweilige soziale und kulturelle Milieu,dem das Forschungsinteresse gilt (Schumann & Soudias 2013). IndividuelleFreiheiten und Lifestyle sind in Tunesien oft eng mit der eigenen ökonomi-sche Situation und den damit einhergehenden Wohnverhältnissen verknüpft.Verschiedene Orte und Umfelder erfordern an die Umwelt angepasste Ver-haltensweisen und den Spagat zwischen unterschiedlichen Wertesystemenim Alltag, wie Kapitel 5 ab Seite 121 zeigt. Tunis scheint als Hauptstadtmehr Raum für individuelle Freiheiten zu bieten als die Kleinstädte oderDörfer im tunesischen Inland.

26Eine gated community ist ein bewachter und in sich geschlossener Wohnkomplex,der je nach Größe auch über eine eigene Infrastruktur an Bildungseinrichtungen,Arbeitsplätzen oder medizinischer Versorgung verfügen kann.

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1 Einführung und Grundlagen

Abbildung 1.1: Stadtplan Tunis; Quelle: Google Maps

Für diese explorative Studie auf der Mikroebene wurde das StadtviertelLe Kram im Osten der tunesischen Hauptstadt Tunis ausgewählt (roteMarkierung; siehe Abbildung 1.1 auf Seite 46). Es bildet einen Querschnittder tunesischen Bevölkerung ab. Entsprechend der in Tunis zu erwarten-den sozialen Segregation in verschiedene Stadtviertel, zeigt sich im Fall LeKrams zudem ein interner Bruch in unterschiedliche soziale Schichten. LeKram ist in sich segregiert in einen eher ärmeren Westteil und einen mittel-ständischen Osten, der vormals Wohnort der tunesischen Oberklasse war.Die Tunis-Goulette-Marsa Bahnlinie (TGM) stellt die sichtbare, vertikaleGrenzlinie zwischen den beiden Teilen des Viertels dar (rote Markierung;siehe Abbildung 1.2 auf Seite 47).Gleichzeitig verschärfen sich die sozialen Spannungen durch die demografi-sche Zusammensetzung des Viertels aus vermeintlich länger eingesessenen

46

1.2 Forschungsinteresse

Abbildung 1.2: Stadtplan Le Kram, Tunis; Quelle: Google Maps

sowie aus allen Landesteilen zugezogenen Bewohnern.27 In Ermangelungdemografischer und geschichtlicher Studien zu Le Kram war es zunächstnötig, einen generellen Überblick über das Viertel zu gewinnen. In mehrerenForschungsaufenthalten wurden der geschichtliche Hintergrund und die orts-ansässigen Institutionen erfasst.

Fragestellungen. Die an das Stadtviertel Le Kram herangetragenen Fra-gestellungen bewegen sich auf zwei Analyseebenen. Die erste Ebene isteine Bestandsaufnahme des Forschungskontexts und der an den lokalenAushandlungsprozessen beteiligten Akteure. Zunächst werden dabei dieAkteure identifiziert und ihre Hintergründe beschrieben. Hinzu kommen

27Die Zuwanderungszahl ist in Le Kram, im Vergleich zu anderen Stadtvierteln vonTunis, relativ hoch. Laut Zensus zogen 2014 insgesamt 10994 Personen nach Le Kram.Abzüglich der aus Le Kram abgewanderten Personen ergibt sich eine Anzahl von 7109Personen (Institut national de la statistique 2014, S. 76). Auffällig ist auch die hoheAbwanderung aus wohlhabenderen Stadtteilen, wie Carthage, die wohl weniger aufdie Binnenmigration als auf die Migration ins Ausland zurückzuführen ist.

47

1 Einführung und Grundlagen

Fragen danach, welche Inhalte (policy) die jeweiligen Akteure vertreten undzweitens, wie sie diese Inhalte in den lokalen Aushandlungen umzusetzenversuchen (politics). Die an diese Akteure herangetragenen Fragestellungenorientieren sich an Foucaults fünf Analysefaktoren für Machtverhältnisse(siehe Unterabschnitt 3.4.3 auf Seite 98). Diese umfassen das System derDifferenzierungen, die Ziele der Akteure, die angewandten Instrumente umdiese Ziele zu verwirklichen, die Formen der Institutionalisierung und denGrad der Rationalisierung:

Wer sind diese Akteure?

Welche Vorbedingungen bringen sie mit und welche Mittel stehen ihnenzur Verfügung?

Welche Agenda setzen sie sich?

Welche Strategien verfolgen sie?

Über welche Taktiken versuchen sie ihre Ziele zu erreichen?28

Die zweite Ebene der Analyse befasst sich darauf aufbauend mit der Per-zeption dieser Akteure, ihrer inhaltlichen Ziele und Handlungen und derenAuswirkungen auf die lokale Ordnung:

Wie verschieben sich in Le Kram die Grenzen zwischen den Identitäten?

Wie verändert sich der lokale, öffentliche Diskurs im Verlauf des Forschungs-zeitraums?

Welche Themen werden dominant, welche Themen werden marginalisiert?28Unter der Agenda wird das gesetzte Themenspektrum des jeweiligen Akteurs verstanden.

Die zu dieser Agenda gehörigen Strategien beschreiben dagegen die gesetzten Ziele derAkteure. Wer sind wir und wo wollen wir hin? Taktiken sind wiederum die konkreteUmsetzung einzelner Teilschritte, die das Erreichen der strategischen Ziele ermöglichen.Mögliche Taktiken von Akteuren können die Organisation von Wohlfahrtsprojekten,das Auftreten als lokale Mediatoren, der Einsatz in der Bildungsarbeit, unter anderemunter der Verwendung verschiedener Medien oder Predigten in Moscheen sein.

48

1.3 Forschungsabschnitte

Welche Ordnungsvorstellungen werden verhandelt?

Die zweite Ebene der Analyse wird jeweils am Ende eines Kapitel zusam-mengefasst und interpretiert.

1.3 Forschungsabschnitte

Der Beobachtungszeitraum dieser Studie ist am politischen Übergang Tune-siens seit der Revolution im Jahr 2011 orientiert. Er beginnt mit dem Sturzdes Ben Ali-Regimes am 14. Januar 2011, umfasst die wechselnden Über-gangsregierungen und endet mit dem Abschluss der ersten freien Parlaments-und Präsidentschaftswahlen Tunesiens im Dezember 2014. Dieser nationaleRahmen als Forschungszeitraum knüpft bewusst an O’Donnells und Schmit-ters Definition von Transition an, welche den Übergang von einem Regimezum nächsten beschreibt (O’Donnell & Schmitter 1986). Zudem wird dervon Przeworski betonten Bedeutung von Wahlen als inhärenter Teil der tran-sitorischen Dynamik Rechnung getragen, da der Beobachtungszeitraum auchdie Wahl zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung am 23. Oktober2011, die erste freie demokratische Wahl in Tunesien überhaupt, einschließt.Während dieser Übergangsphase wurden auf der lokalen Ebene drei vonden nationalen Entwicklungen abweichende Entwicklungsphasen erkennbar.Diese Abweichungen waren auf die Aushandlungsprozesse lokaler Akteure,deren physische und symbolische Aneignung des Raums und dem damitverbundenen Wandel der lokalen Machtstrukturen zurückzuführen. JedeEntwicklungsphase wurde folglich von dem dominanten Auftreten einesbestimmten Akteurs des lokalen Spektrums definiert. Setzte sich ein kon-kurrierender Akteur durch, brach eine neue politische Entwicklungsphasean. Die drei identifizierten lokalen Phasen zeigten folglich unterschiedlicheVerschiebungen in den Machtbeziehungen und den damit verknüpften Dis-kursen. Alle genannten Aspekte werden in ihrem Zusammenspiel in Kapitel6 ab Seite 149 detailliert beschrieben und analysiert. Die drei Phasen gehenjeweils fließend ineinander über. Sie erhalten jedoch aus Gründen der bes-

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1 Einführung und Grundlagen

seren Lesbarkeit jeweils ein einzelnes Unterkapitel in dem sie prozesshaftdargestellt werden.

Lokale Bürgerwehren. In den Monaten nach dem Sturz des Ben Ali-Regimeswar in Le Kram der tunesische Staat nicht mehr in der Lage, eine effektiveKontrolle über das eigene Staatsgebiet auszuüben und die Grundbedürfnisseseiner Bürger zu erfüllen. Staatliche Institutionen legten ihre Arbeit nieder.Das staatliche Personal wurde von den Einwohnern, zum Teil unter Einsatzvon Gewalt, zum Rückzug aus dem Viertel gezwungen oder am Betretender Arbeitsplätze gehindert. In das entstandene politische Vakuum hineinformierten sich im Verlauf des Jahres 2011 autonome, lokale, nichtstaat-liche Akteure. Sie begannen, den Staat unterhalb der nationalen Ebeneherauszufordern, indem sie den Mitbürgern Schutz, Sicherheit und Unter-stützung durch materielle Versorgung boten, wo der Staat sie nicht längergewährleisten konnte (Ayoob 1995, Migdal 1988). In Le Kram und anderenStadtteilen von Tunis gruppierten sich Bürgerwehren. Sie versuchten inEigenverantwortung, die öffentliche Sicherheit aufrecht zu erhalten und dasHab und Gut der eigenen Nachbarschaften zu schützen. Diese erste Phaseder lokalen Selbstverwaltung ging mit den Wahlen zur VerfassungsgebendenNationalversammlung im Oktober 2011 langsam in die Phase des lokalenWiderstands gegen den wiedererstarkenden tunesischen Staat über.

Miliz und Salafisten. Die Wahlen zur Verfassungsgebenden Nationalver-sammlung am 23. Oktober 2011 sollten der neuen, demokratischen Herr-schaft Tunesiens eine legitime, rechtliche Grundlage geben. In den erstenfreien Wahlen der Geschichte des Landes wurden Mitglieder der Abgeord-netenkammer dazu ermächtigt, eine neue Verfassung auszuarbeiten unddie Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zu organisieren. Damit wur-de, über den Austausch des Herrschaftspersonals hinaus, das politischeSystem auf eine neue normative Grundlage gestellt. Erst diese geänderteAusgangslage ermöglichte das sukzessive Wiedererstarken des tunesischenStaates. Die staatlichen Sicherheitskräfte versuchten durch ihre Rückkehr

50

1.3 Forschungsabschnitte

und ihre Präsenz in Le Kram, die prävalente öffentliche Ordnung auch imLokalen wiederherzustellen. Sie trafen im Westen Le Krams auf organisiertenWiderstand. Der prägende Faktor und die treibende Kraft hinter diesemWiderstand war zu diesem Zeitpunkt die Organisation Männer der Revolu-tion von Le Kram, arabisch rijal al-thawra bi-l-kram. Sie war ein aus denlokalen Bürgerwehren hervorgegangener, radikaler Ableger der überregio-nalen tunesischen Revolutionsschutzliga Ligue nationale de protection dela révolution (LNPR). Ihre Agenda, Strategien und Taktiken stellten dieprävalente Ordnung in Le Kram in Frage. Neben diesem paramilitärischenAkteur versuchten zudem religiöse Extremisten aktiv, die Machtbalanceim Stadtviertel zu ihrem eigenen Gunsten zu beeinflussen. In Kooperationmit der Miliz versuchten sie schließlich, das Viertel politisch und religiös zudominieren. Durch die Anwesenheit dieser beiden Akteure im Westteil LeKrams brachen die lokalen Machtbeziehungen auf. Die Gewalt im Vierteleskalierte wiederholt, wenn unterschiedliche Ordnungsideen lokaler Akteuremiteinander und mit nationalstaatlichen Interventionsversuchen in Konflikttraten. Der Osten des Viertels blieb vergleichsweise friedlich.

Zivilgesellschaftliche Akteure. Der gewaltsame Widerstand gegen die Staats-gewalt konnte erst ab dem Jahr 2014 durch die staatlichen Sicherheitskräfteeingedämmt werden. Personenkontrollen, Verhaftungen und Razzien trugenzur Stabilisierung der Sicherheitslage bei. Der Rückhalt der Bevölkerung fürdie gewalttätigen Ausschreitungen der lokalen Miliz schwand zunehmend.Dies eröffnete bisher marginalisierten, zivilgesellschaftlichen Akteuren dieMöglichkeit, der Miliz und den religiösen Extremisten entgegenzutretenund den öffentlichen Raum für sich zu beanspruchen. Sie strebten bewusstverschiedene Kooperationen mit den örtlichen staatlichen Institutionen an,welche langsam ihre Arbeit wieder aufnehmen. Die letzte Beobachtungsphaseendete mit den ersten freien Parlaments- und Präsidentschaftswahlen seitder Unabhängigkeit Tunesiens im Jahr 1956. Das gewählte Parlament nahmam 2. Dezember 2014 die Arbeit auf und löste damit die VerfassungsgebendeNationalversammlung ab. In einem friedlichen Machtwechsel trat der neue

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1 Einführung und Grundlagen

Staatspräsident Béji Caid Essebsi [al-Bajı Qa cid al-Sabsı] am 31. Dezember2014 mit der Vereidigung sein Amt an.29

1.4 Aufbau der Arbeit

Kapitel I. Der einführende Teil der vorliegenden Arbeit beschreibt den Kon-text und die Zielsetzung dieser Studie. Er gibt einen Überblick über dieEntwicklung der Transitionsforschung und die unterschiedlichen Forschungs-schwerpunkte der Disziplin. Er gibt Auskunft über die lokalen Ereignisse derpolitischen Übergangsphase nach der tunesischen Revolution, welche denZeitraum vom Sturz des Ben Ali-Regimes 2011 bis zu den Parlaments- undPräsidentschaftswahlen im Jahr 2014 umfasst. Dargestellt werden außerdemdas Forschungsinteresse, die Quellenlage und die Definition der Schlüsselbe-griffe, Raum, Norm, Kultur und Identität.

Kapitel II. Das zweite Kapitel ist eine Besprechung der theoretischen Anleihenaus der Foucault’schen Diskursvarianz. Es verbindet Foucaults Überlegungenzu Diskursformen mit einer zweiten zentralen Position seines Denkens, derAushandlung von Machtstrukturen. Beide bilden gemeinsam die Basis fürdas Verständnis der Aushandlungsprozesse lokaler Akteure und des damitverbundenen Wandels der Identitätsdiskurse im Forschungszeitraum.

Kapitel III. Die explorativ angelegte Studie und ihr Forschungsfeld ma-chen eine Kombination verschiedener methodischer Verfahren unabdingbar.Das dritte Kapitel beschreibt deshalb die verwendete Methoden der Da-29Der Jurist Essebsi (1926–2019) war ab dem Jahr 2014 bis zu seinem Tod 2019 der

demokratisch gewählte Staatspräsident Tunesiens. Essebsi hatte bereits seit der Unab-hängigkeit Tunesiens im Jahr 1956 unter der Präsidentschaft Bourguibas verschiedeneRegierungsämter inne. Er diente unter anderen als Innen-, Außen-, und Verteidigungs-minister bis er nach dem Sturz Ben Alis der Übergangs-Ministerpräsident Tunesienswurde. Essebsi gründete im Jahr 2012 die Partei Nidaa Tounes, arabisch h. araka nida c

tunis, deutsch Ruf Tunesiens, welche aus den Parlamentswahlen im Oktober 2014 mitrelativer Mehrheit ins Parlament einzog.

52

1.4 Aufbau der Arbeit

tenerhebung in einem triangulativen Untersuchungsdesign. Dieses basiertauf der Auswertung visueller Daten der fotografischen Dokumentation, denethnografischen Interviews sowie der teilnehmenden Beobachtung aus LeKram. Es reflektiert über deren Relevanz und Repräsentativität.

Kapitel IV. Neben Hintergrunddaten zur Soziodemografie wird im vier-ten Kapitel die jüngere Entstehungsgeschichte Le Krams skizziert und diebesondere Architektur und Infrastruktur beschrieben. Das Kapitel ist derDarstellung des Beobachtungszeitraums vorgelagert und beschreit die Aus-gangssituation in Le Kram zu Beginn der Datenerhebung.

Kapitel V. Im fünften Kapitel werden die drei lokalen Entwicklungspha-sen im Osten und Westen Le Krams während des Beobachtungszeitraumsprozesshaft beschrieben. Die diskursiven Aushandlungsprozesse und Macht-verschiebungen werden sowohl chronologisch als auch thematisch geordnetdargestellt. Sie bilden die Bausteine der Geschichte, die Le Kram über sichselbst erzählt. Darin eingebettet werden die in der jeweiligen Phase prägendbeteiligten, lokalen Akteure vorgestellt.

Kapitel VI. Das sechste Kapitel beschreibt die erarbeiteten Forschungs-ergebnisse. Es greift die in der Einleitung aufgeworfene Kritik zur aktuellenTransitionsforschung und ordnet die in die Beobachtungen der lokalen Ebeneein.

53

2 Forschungsstand

Die vorliegende Studie ist in der interdisziplinären Nahostforschung und dervergleichenden Politikwissenschaft, insbesondere der Demokratieforschungverortet und erforscht den politischen und gesellschaftlichen Wandel Tunesi-ens seit 2011.Die politikwissenschaftlichen Veröffentlichungen zu Tunesien in den Jahrenvor der Revolution von 2011 beschäftigten sich intensiv mit der postkolo-nialen Politik des autoritären Ben Ali Regimes (Erdle 2009). Sie stelltendie Beziehungen Tunesiens zu Frankreich, zu den USA und zu der Euro-päischen Union dar, insbesondere im Hinblick auf die Möglichkeiten derDemokratieförderung (Powel 2009, Powel & Sadiqi 2010). Auch die Stabili-tät beziehungsweise die Resilienz des Ben Ali-Regimes und der autoritärenRegime anderer Länder der MENA Region sowie die Rolle der Eliten undder Institutionen in der nationalen politischen Gemengelage wurden breitanalysiert (Brownlee 2005, Pratt 2008). Eine der stark umstrittenen Theori-en war dabei die Unvereinbarkeit des Islam mit der Demokratie (Kedouri1992). Der Fokus der interdisziplinären Nahostforschung zu Tunesien lag vor2011 unter anderen auf den islamistischen Bewegungen des Landes und ihrenFührungspersönlichkeiten. Arbeiten zur Ennadha-Bewegung (Tamimi 2001)erweckten das Interesse ebenso, wie das Verhältnis von Islam und Politikbeziehungsweise der Rolle des Islam im tunesischen Staat (Wöhler-Kalfallah2004). Zusammenfassend lässt sich attestieren, dass in beiden Disziplinender Hauptfokus der Studien häufig auf den Themenbereichen Staatlichkeitbeziehungsweise auf dem Zentralstaat selbst lag.Mit dem Zusammenbruch der postkolonialen Herrschaftsstrukturen habensich die wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu Tunesien vervielfacht. Von

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2 Forschungsstand

besonderem Interesse scheint in den veröffentlichten Studien beider Diszipli-nen nun das vielfach erwartete Voranschreiten der demokratischen Transitiondes Landes zu sein (Alexander 2016, Boughzala & Ben Romdhane 2017,Colombo 2018). Häufig wird Tunesien dabei in seiner Einbettung in denMaghreb beziehungsweise in die sogenannte Arabische Welt betrachtet (Hin-nebusch 2016, Teti et al. 2018). Der Hauptfokus der Forschung verweiltweitgehend auf der Staatlichkeit (Hanau Santini 2018), den nationalen Eli-ten und Parteien (El-Ouazghari 2014, McCarthy 2018) sowie der Rolle derZivilgesellschaft (Adouani & Ben Sedrine 2018). Andere, mahnende Stim-men nehmen die stattfindenden Transformationsprozesse in Tunesien zwarzur Kenntnis, weißen jedoch darauf hin, dass der politische Wandel nichtallumfassend und vor allem nicht unumkehrbar ist (Rivetti & Di Peri 2016).Fundierte wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit den Aushandlungspro-zessen unterhalb der nationalstaatlichen Ebene sind im Hinblick auf Tunesienund der arabischen Welt rar. Sie finden mit der in der Politikwissenschaftaufkommenden Kritik an der zu starken Fokussierung auf Staatlichkeit aberzunehmend Beachtung (Bergh 2012, Charrad 2011, El-Meehy 2017, Huber& Kamel 2016). Akteure und Prozesse unterhalb der Staatsebene, derenHandlungen sich ebenfalls auf das staatliche Gewaltmonopol, die Umsetzungstaatlichen Rechts und die politische Stabilität auswirken, werden nun auchim Hinblick auf Tunesien in empirischen Einzelfallstudien thematisiert. Indieses Forschungsdesiderat jenseits des politischen Mainstreams tritt auchdie vorliegende Mikrostudie zur Transitionsphase Tunesiens. Sie stellt einefeinkörnige Tiefenanalyse der staatlichen Peripherie, das heißt der lokalenPolitik in Tunesien dar. Anstatt auf politische Eliten und zivilgesellschaft-liche Kräfte auf der nationalen Ebene zu blicken, wird ein Mapping dereinschlägigen lokalen Akteure und deren politische und gesellschaftlicheAushandlungsprozesse vorgenommen. Die im Folgenden kurz vorgestelltenForschungsprojekte beschäftigen sich mit dem politischen Wandel Tunesi-ens auf unterschiedlichen Ebenen. Die im Weiteren angeführte Literaturgeht über das Feld der Politikwissenschaft hinaus. Die Arbeiten wurden imHinblick auf ihre verschiedenen methodischen und theoretischen Herange-

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2.1 Forschungsprojekte

hensweisen an das Thema ausgewählt und gaben im Entwicklungsprozess derArbeit wichtige Anregungen. Die Auflistung soll keinesfalls Vollständigkeitbeanspruchen.

2.1 Forschungsprojekte

Die Forschergruppe „Tunisia in Transition“, ein Kooperationsprojekt derdeutschen Universitäten in München und Passau mit Partnern an den Uni-versitäten Tunis El-Manar, Karthago, La Manouba und Sousse blieb derklassischen Transitionsforschung auf der nationalen und internationalenEbene verschrieben. Das interdisziplinäre Forschungscluster beschäftigte sichzwischen von 2013 bis 2016 mit Fragen zu Tunesien rund um den dortigenVerfassungsbildungsprozess, die Arbeitsmarktpolitik, die Medienkontrolleoder die europäische Nachbarschaftspolitik. Das Forschungscluster „Tunisiain Transition – International Relations“ stand unter der Leitung von Prof.Bernhard Stahl.30 Das Forschungscluster „Tunisia in Transition – Ethnogra-phies of Transitions“ wurde von Prof. Andreas Kaplony geleitet.31

Das Forschungsprojekt „Socioeconomic Protests and Political Transfor-mation. Dynamics of Contentious Politics in Egypt and Tunisia Againstthe Background of South American Experiences“ (2014–2018) unter derLeitung von Dr. Irene Weipert-Fenner am Leibniz-Institut Hessische Stif-tung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main identifiziertesozioökonomische Missstände als treibende Kraft hinter der tunesischenRevolution. Die Forscher zeigten auf, wie wirtschaftliche Themen in deröffentlichen Debatte des fortschreitenden Transitionsprozesses nach demJahr 2011 vernachlässigt werden und hinter identitäre Konflikte zurücktreten.In einem vergleichenden Ansatz wurden südamerikanische Erfahrungen mit

30Projektleitung: Prof. Bernhard Stahl, Lehrprofessur für Internationale Politik, Univer-sität Passau.

31Projektleitung: Prof. Andreas Kaplony, Institut für den Nahen und Mittleren Osten,Ludwig-Maximilians-Universität München.

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2 Forschungsstand

den Entwicklungen in Tunesien und Ägypten in Beziehung gesetzt, wobei derFokus die nationale Ebene nicht verließ. Das Follow-up Projekt „Strugglesover Socioeconomic Reforms: Political Conflict and Social Contention inEgypt and Tunisia post 2011 in Interregional Comparison 2018–2021“ unter-sucht die Konsequenzen der Aushandlungen für gesellschaftlichen Friedenund politische Ordnung.

Im deutschen Sprachraum beschäftigen sich größere Forschergruppen, wiedas Projekt „Politische Partizipation, Emotion und Affekt im Kontext sozio-politischer Transformationen“ (2015–2019) (Harders 2015), intensiv mit derStaatsanalyse von unten.32 Das Erkenntnisinteresse lag hier in den zugrun-deliegenden Ursachen und der Dynamik kollektiver Massenerhebungen derAufstände seit dem Jahr 2011 im Mittleren Osten und Nordafrika. DerAnsatz der politics from below sollte dort einen Beitrag leisten, autoritäreHerrschaft und ihre Transition aus einer neue Perspektive zu betrachtenund ist damit in der Autoritarismusforschung verortet (Bouziane et al. 2013).

Die vergleichende Studie „Dezentralisierung in der Arabischen Welt“ themati-siert Strategien administrativer Dezentralisierung im Kontext von regionalenund/oder lokalen, neopatrimonialen Patronage- und Klientelstrukturen ineinem Ländersample von Nordafrika bis Jordanien.33 Im Zentrum des Interes-ses stehen hierbei der Transfer von Herrschaft weg von der Zentralregierungauf die lokale beziehungsweise regionale Ebene und die Folgen dieser subna-tionalen Prozesse auf die Regierbarkeit, englisch governability, der einzelnenLänder. Der Fokus geht dabei weg von der reinen Analyse der nationalenEbene und liegt auf personellen Netzwerken, deren Beziehungsgeflecht dielokale Ebene mit der zentralstaatlichen und regionalen Ebene verknüpft(Demmelhuber et al. 2018).

32Projektleitung: Prof. Cilja Harders, Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, FreieUniversität Berlin.

33Prof. Thomas Demmelhuber, Lehrstuhl für Politik und Gesellschaft des Nahen Osten,Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

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2.2 Literaturbesprechung

Auch das internationale Forschungsprojekt „Spaces of Participation. To-pographies of Political and Social Change in Morocco, Egypt and Palestine“griff gesellschaftliche und politische Transitionsprozesse in der arabischenWelt auf. Es beleuchtete Formen politischer Partizipation in deren räumli-chen Verortung unter der autoritärer Herrschaft in Ägypten, Marokko undPalästina.34 Die Forscher beleuchten beispielsweise die Arbeit von Jugendi-nitiativen oder Künstlergemeinschaften in ihrer Bezugnahme auf den Raum,die Varianz der Praktiken im Raum und die Transformation des Raums.Durch den Fokus auf Beziehungsgefüge zwischen lokalen, nationalen undregionalen Räumen überwand die Forschergruppe den nationalen Fokusder Transitionsforschung und zeigte auf, wie solche „intermediate spaces“funktionieren und die Demokratisierung eines Landes unterstützen oderverlangsamen können.

2.2 Literaturbesprechung

Als Basislektüre und best-practice Beispiele für die vorliegende wissenschaft-liche Untersuchung wurden verschiedene Publikationen mit Nahostbezugan der Schnittstelle von Politikwissenschaft und Ethnografie herangezogen.Ihnen gemeinsam ist ihr Fokus auf lokale soziale Praktiken, Symbole unddas politische Alltagsleben der Bevölkerung im urbanen Kontext.

Zunächst inspiriert und angestoßen wurde diese Dissertation von ChristophSchumanns Auseinandersetzung mit der räumlichen Politik der Konstruktionund Überbrückung von Identitäten in den Wochen der ägyptischen Revolteim Jahr 2011. Er beschreibt im Sammelbandbeitrag „Präsenz und Raumin der arabischen Revolte. Ägypten im Jahr 2011“ abgeschottete und iso-lierte Räume im Zusammenhang mit dem politischen Umbruch in Ägypten(Schumann & Soudias 2013). Dort entfalteten sich Aushandlungsprozesse

34Projektleitung: Prof. Ulrike Freitag, Leibniz-Zentrum Moderner Orient, Berlin.

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2 Forschungsstand

über die Definition und Durchsetzung von moralischen Normen im öffentli-chen Raum von Kairo. Ad hoc gegründete Volkskomitees übernahmen dieVerantwortung für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit durchwillkürliche Mobilitätskontrollen (vgl. Schumann & Soudias 2013, S. 304f.), als sich die Polizei im Zuge der Aufstände vorübergehend völlig aus denStadtvierteln zurückgezogen hatte. Bereits zuvor war das Vertrauen derEinwohner in die Polizei als verlässlicher Ansprechpartner massiv gestörtgewesen, weshalb Erstere sich in Konfliktfällen bevorzugt an lokale Autori-tätspersonen als Streitschlichter zwischen den betroffenen Parteien wandten.Neben der Aneignung des öffentlichen Raums in Form von Straßensperrendurch die Volkskomitees, wurden auch andere zentrale Plätze der Stadtsymbolisch und politisch aufgeladen. Schumann und Soudias beschreibenden Platz der Befreiung, arabisch maydan al-tah. rır, im Zentrum von Kairoals Ort, welcher im Jahr 2011 für Begegnungen und Massendemonstrationenumfunktioniert wurde.35 Eine heterogene Zusammensetzung von Menschenbeider Geschlechter aus verschiedenen Milieus und mit unterschiedlichenideologischen Ausrichtungen kam dort zusammen. In der Interaktion die-ser Menschen, geeint durch das Nationalbewusstsein und die gemeinsamepolitische Artikulation, wurden während der achtzehn Tage des Protestsauf dem Platz der Befreiung in Kairo die Grenzen der normativen Ordnungund Grundsätze gesellschaftlicher Normen temporär aufgehoben und neudefiniert. Die Formulierung neuer Identitäten fand dort ihren räumlichenAusdruck.

In dem im Jahr 2016 erschienenen Sammelband „Beyond the Square. Urba-nism and the Arab Uprisings“, herausgegeben von Deen Sharp und ClairePanetta, beschreiben verschiedene Autoren die Beziehung der arabischenAufstände mit den spezifischen Räumen, in welchen sie stattfanden (Sharp &

35Der bedeutende Platz und Verkehrsknotenpunkt in der Innenstadt von Kairo ist einStandort zentraler Einrichtungen. Dort befinden sich unter anderen das ÄgyptischeNationalmuseum, der historische Campus der Amerikanischen Universität Kairo,verschiedene staatliche Verwaltungsgebäude sowie das Gebäude der Arabischen Liga.

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2.2 Literaturbesprechung

Panetta 2016). Dabei gehen diese Autoren einen Schritt weiter als Schumannund Soudias und betrachten den breiteren urbanen Kontext in verschiedenenStädten, darunter Algier, Ramallah, Jerusalem, Teheran, Kairo Istanbul oderManama. Die Essays beschäftigen sich aus unterschiedlichen Perspektivenund in abweichenden Zeithorizonten mit den Fragen: Welche Rolle spielenurbane Räume abseits öffentlicher Plätze in Hauptstädten? Welches Bildzeigen die Aufstände im Hinblick auf sozioräumliche Verbindungen zwischenden verschiedenen Städten oder innerhalb des urbanen Kontexts? Wie wur-den Städte, die jenseits der Reichweite der arabischen Aufstände liegen,davon beeinflusst? Welche neuen Ideen über den öffentlichen Raum sindentstanden und wie wird dieser neu genutzt? Dabei stehen sowohl Vorläufer,wie der Aufstand im Jahr 2009 im Iran, als auch spätere Ereignisse, wie dieProteste im Gezi Park in Istanbul, im Fokus.

Unabhängig von den Ereignissen um die arabischen Aufstände und dendamit verbundenen Phänomenen ist der Sammelband „Cities Full of Sym-bols. A Theory of Urban Space and Culture“ entstanden. Er wurde imJahr 2011 von Peter Nas herausgegeben. Im Spannungsfeld von Kultur undRaum wird von verschiedenen Autoren der urbane Kontext der Stadt alskomplexe Fusion verschiedener Phänomene und einer Fülle von Interessenund Interaktion beschrieben. Dieser Kontext regt eine Vielzahl an Studienzu Demografie, Ökonomie, Morphologie, Verwaltung oder Planung an. Diekulturelle Dimension der Stadt steht im Zentrum des Interesses, welchesSymbole und Rituale einschließt, die in der Architektur, den Denkmälern,den Straßennamen, den Volksfesten, den Prozessionen und Festumzügenihren Ausdruck finden. Hinzu kommen Romane, Gedichte, Musik und dervirtuelle Raum als Symbolträger. Insgesamt werden von den Autoren diesesSammelbands vier Grundtypen von Symbolen identifiziert (vgl. Nas et al.2011, S. 9 ff.). Materielle Symbolik beschreibt im Grunde das traditionelleForschungsfeld, während sich die diskursive Symbolik eher auf Narrativeund Bilder verlegt. Personen als Repräsentanten der Stadt fallen unter dieikonische Symbolik, komplementiert durch Rituale, Feste und andere Akti-

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2 Forschungsstand

vitäten als verhaltensbezogene Dimension der urbanen Symbole. Anhandvon Praxisbeispielen stellt der Sammelband die vielfältigen symbolischenStrukturen urbaner Räume vor und wie diese mit identitätsbezogenen Vor-stellungen verknüpft werden. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dassurbane Symboliken die Gesellschaft nicht einfach widerspiegeln, sondern alsein inhärenter Teil der Gesellschaft selbst soziale Beziehungen und Iden-titäten prägen und beeinflussen. Symbole können darüber hinaus von derGesamtgesellschaft, einzelnen Gruppierungen oder Individuen für eigeneZwecke bewusst strategisch eingesetzt werden.

Asef Bayats im Jahr 2013 erschienenes Buch „Life as Politics. How Or-dinary People Change the Middle East“ beleuchtet in zusammengetragenenEssays seiner früheren empirische Fallstudien das direkte politische Handelndurchschnittlicher Bürger in Nahen Osten (Bayat 2013). Die Bürger lösendurch alltägliche soziale Dynamiken und Widerstand gesellschaftlichen undpolitischen Wandel aus. Diese Entwicklung wird erst durch die Schaffungneuer sozialer Freiräume möglich, in welchen sie ihren kritischen Forderun-gen öffentlich Ausdruck verleihen können. Dies geschieht individuell undabseits der traditionellen Organisationsstrukturen von Oppositionsbewe-gungen. Bayat grenzt sich bewusst von politikwissenschaftlichen Analysendes politischen Islam oder der social movements ab und spricht in eineminnovativen Ansatz von den social non-movements. Diese treten sowohlim physischen Raum als auch im virtuellen Raum sozialer Netzwerke auf.Social non-movements bezeichnen das kollektive Verhalten unorganisierterMassen auf der politischen Straße. „Political Street signifies the collectivesensibilities, shared feelings, and public judgement of ordinary people intheir day-to-day utterances and practices, which are expressed broadly inthe public squares – in taxis, buses, shops, sidewalks, or more audible inmass street demonstrations“ (vgl. Bayat 2013, S. 229). Ohne einen gemein-samen ideologischen Rahmen oder anerkannten Anführer berufen sich dieMassen auf Werte wie Freiheit oder Gerechtigkeit. Sie teilen miteinander dieFrustration und Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Verhältnissen. Erst

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2.2 Literaturbesprechung

in einem langsamen Prozess einer Politik der Praktiken entwickelt sich eineDynamik des Wandels, gespeist durch den Wunsch und die Motivation zurVerbesserung der eigenen Lebensumstände (Schumann 2013). Nur wenigeMonate vor den ersten Aufständen in Tunesien erschienen, bricht BayatsArbeit mit der Vorstellung eines in politischer Stagnation gefangenen NahenOstens, dessen religiöse und kulturelle Traditionen einen Wandel unmöglicherscheinen lassen. Die Annahme, dass die arabische Welt eine Ausnahmedarstellt, ist, laut Bayat, der eurozentrischen Sichtweise geschuldet, welcheden Fokus nur auf klassische politischen Institutionen wie Parteien undGewerkschaften legt und die spezifische Historizität der Gesellschaften nichtin die Analyse einfließen lässt. Auch kritisiert Bayat, die Bedeutung desIslam werde in antiorientalischer Voreingenommenheit stark überbewertet,was zu der falschen Konklusion führe, Islam und Demokratie seien nichtvereinbar.

Diane Singermans im Jahr 1997 erschienene politisch-anthropologische Ana-lyse „Avenues of Participation. Family, Politics and Networks in UrbanQuarters of Cairo“ konzentriert sich ebenfalls auf die außersystemischen poli-tischen Partizipationsmöglichkeiten in autoritären Staaten (Singerman 1997).Im Alltagsleben der Nachbarschaften und populären Viertel von Kairo unter-sucht sie kommunale Verteilungs-, Verteidigungs- und Entscheidungsmusterdes von den Eliten absichtlich aus der Politik ausgeschlossenen shacb.36 Sin-german deckt kreative und effektive Strategien und ein System informeller

36Shacb bedeutet aus dem Hocharabischen ins Deutsche übersetzt zunächst Volk, Nationoder Volksstamm. Das dazugehörige Adjektiv shacbı, dem Volk gehörend, volkstümlich,muss im ägyptischen Kontext als populär übersetzt werden. Als shacb bezeichnetSingerman eine gesellschaftliche Schicht Ägyptens, welche im Allgemeinen zwischender Arbeiter- und der Mittelklasse angesiedelt wird. Sie ist häufig gegenüber der Mittel-und Oberklasse benachteiligt, strebt nach ihrem finanziellen und gesellschaftlichenAufstieg und fürchtet das erneute Abgleiten in die Armut (vgl. Singerman 1997, S.11). Im tunesischen Kontext findet der Begriff ebenfalls Verwendung. Stadtviertel,arabisch h. ayy, auf welche die oben genannte Definition zutrifft, werden in Tunesienals h. ayy shacbı bezeichnet.

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2 Forschungsstand

Netzwerke auf, welche es den breiten Massen auf subtile und risikoarmeWeise ermöglichen, der staatlichen Herrschaft Widerstand entgegenzuset-zen. Durch organisierte Gemeinschaft, deren Normen sowie ökonomischeund kulturelle Präferenzen, schafft es das ägyptische Volk, trotz Repressiondurch den autoritären Staat, seine individuellen Interessen zu verfolgenund die Gemeinschaftsziele zu erreichen. Abweichend von der Agenda derEliten, setzt das Volk seine eigenen Prioritäten, jeweils in Abhängigkeitder individuellen Lebensumstände und der verfügbaren Ressourcen. DieseNetzwerke dienen somit der Befriedigung fundamentaler Bedürfnisse, wieder Einkommenssicherung, der finanziellen Vorsorge oder der Familienpla-nung. Durch die bewusste Inkorporierung anderer, einflussreicher Individuenund Institutionen gewinnen die Netzwerke an Stärke und Macht. Sie gehendann über ihre lokale Verankerung hinaus und bilden überregionale Struk-turen aus. Sie nehmen Einfluss auf mikro- und makropolitische Dynamiken,durchdringen alle politischen Ebenen und formen eine eigenständige Schichtkollektiver Institutionen in Ägypten. Gleichzeitig überbrücken informelleNetzwerke die kommunale und nationale Ebene und führen somit die inder Politikwissenschaft gemeinhin angenommene Trennung in verschiede-ne Ebenen ad absurdum. Genannte Strategien weichen von den typischenpolitischen Institutionen ab und wurden aus diesem Grund lange Zeit inder Politikwissenschaft übergangen. Auch wenn Singermans Studie mit an-deren gesellschaftlichen Analyseeinheiten und unter anderen politischenRahmenbedingungen operiert, so hat sie doch ein ähnliches Anliegen wiedie vorliegende Arbeit. Die Anerkennung politischen Handelns unterhalbstaatlich sanktionierter, formeller Organisationen soll die Darstellung einesrealistischeren und umfassenderen Bildes der Politik in Ägypten ermöglichen.Singerman will nicht die Frage beantworten, welchen Veränderungen dieStabilität der ägyptischen Regierung unterworfen sein wird oder wie derEinfluss der Islamisten oder die Ökonomie sich entwickeln werden. Es gehtihr darum zu zeigen, dass diese Gemeinschaften, welche die Mehrheit derGesellschaft Kairos und anderer nahöstlicher Städte stellen, Einfluss aufdie Dynamik nationaler Politik nehmen und deshalb in die politikwissen-

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2.2 Literaturbesprechung

schaftliche Analyse einbezogen werden müssen.37 Das Volk wird vom Objektpolitischer Herrschaft zum aktiven Akteur des Wandels und der politischenAushandlungsprozesse (vgl. Singerman 1997, S. 5).

Gerd Baumanns ethnografische Studie „Contesting Culture. Discoursesof Identity in Multi-Ethnic London“ aus dem Jahr 2002 basiert auf Umfrage-daten aus sechs Jahren intensiver Feldforschung (Baumann 2002). Für dieseStudie stellt sich Baumanns fundamentales Überdenken von Konzepten wieKultur, Gemeinschaft oder Identität als fruchtbar heraus. Er beschreibt dasInteragieren von Bewohnern des multiethnisch geprägten ArbeiterviertelsSouthall im Westen Londons. Eng besiedelt mit Immigrantenfamilien ver-schiedener Generationen aus Pakistan, Indien, anderen asiatischen Ländernund der Karibik, beobachtet Baumann dort Aushandlungsprozesse um Iden-titäten und das kulturelle Erbe der Herkunftsländer vor dem Hintergrundder britischen Aufnahmegesellschaft. Dabei liegt sein Fokus nicht auf einerausgewählten ethnischen Minderheit. Vielmehr untersucht er Identitäts-vorstellungen und wie sie als umstrittener und eigenständiger Faktor denAlltag der Bewohner und Bewohnerinnen bestimmen. Letztere konkretisie-ren gleichzeitig ihre eigene Kultur und wenden diese als Strategie in derpolitischen Arena an. Von zentraler Bedeutung ist dabei das Zusammen-spiel verschiedener Diskurse der fünf wesentlichen von ihm identifiziertenkulturellen Gemeinschaften, den Sikhs, den Hindus, den Muslimen, denAfro-Kariben und den Weißen. Die Charakterisierung der Gemeinschaftenwird in Southall durch Zuweisungen von außen hergestellt, darunter Vor-urteile und Stereotype der kolonialen Vergangenheit Großbritanniens. Siewird zudem durch die Selbstverortung des Einzelnen und dessen Vorstellungeiner kulturellen Gemeinschaft, welche zusätzlich durch den dominantenDiskurs gestärkt wird, bedingt. Die Grenzen der Gemeinschaften werden

37Shacbı wohnen nicht nur in der Hauptstadt Kairo, sondern in ganz Ägypten. DieProblemlagen des shacb variieren zwischen den urbanen Zentren und dem Umland, daauf dem Land noch Subsistenzwirtschaft betrieben wird und dort andere normativeOrdnungen den Alltag bestimmen.

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2 Forschungsstand

als fixiert beschrieben und binden selbige eng aneinander. Dieser Prozessbleibt unabgeschlossen und unbestritten. Identitätsdiskurse überschneidensich fortlaufend gegenseitig oder treten auch innerhalb der Gemeinschaf-ten auf. Beispielsweise stammt die Gruppe der Muslime in Southall ausunterschiedlichen Herkunftsländern mit verschiedenen Muttersprachen oderarabischen Dialekten und variiert in ihren religiösen Praktiken. Diese Hete-rogenität führt trotz Zusammengehörigkeitsgefühl als umma zu Konflikten.38

Wissenschaftlichen Input gab auch der Forschungsstand zum Wandel vonGesellschaft und Politik im Libanon. Nasser Yassins im Jahr 2012 ver-öffentlichter Aufsatz „Sects and the City. Socio-Spatial Perceptions andPractices of Youth in Beirut“ zeichnet die Grenzziehung und Polarisierungunter Jugendlichen in der Postkonfliktgesellschaft von Beirut seit dem Jahr1991 entlang von sozialen, ethnischen, religiösen Differenzen nach (Yassin2012). Im Mittelpunkt stehen alltägliche, konfessionell geprägte Konflikte imStadtraum von Beirut. Über diesen Stadtraum werden symbolische, sozialeund räumliche Grenzen wahrgenommen, konstruiert und reproduziert. DieseGrenzen führen zu abgeschotteten Formen sozialer Beziehungen, welchewiederum die Nutzungsform der (teil-)isolierten Räume bestimmen unddiesen Räumen Bedeutungen zuschreiben. Dabei versucht Yassin über tradi-tionelle Dichotomien von Segregation oder Koexistenz hinaus, die komplexeVielfalt sozioräumlicher Praktiken und ihre Widersprüchlichkeit in einemnuancierten Ansatz einzufangen und zu beschreiben (vgl. Yassin 2012, S.203 f.). Seine Daten beruhen auf fokussierten Interviews mit homogenenGruppen von insgesamt 100 libanesischen jungen Erwachsenen im Alterzwischen achtzehn und 25 Jahren. Die Interviewteilnehmer stammen ausverschiedenen konfessionellen communities im Großraum Beirut. Yassin stelltdar, wie Konfliktgruppen versuchen, über Machtausübung ihre Identitätin den urbanen Raum einzuschreiben und diesen damit zu kennzeichnen.Dabei versteht Yassin Identität im Sinne Doreen Masseys als Prozess, derArtikulation und Manifestation von Diskursen im Raum erfordert (Mas-38Die umma ist die Gemeinschaft aller Muslime.

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2.2 Literaturbesprechung

sey 2005). Über inklusive und exklusive Dynamiken wird Territorialitätkonstruiert, deren Grenzen über tatsächliche oder wahrgenommene Bedro-hungen gesichert werden. Die wahrgenommene Andersartigkeit führt zueinem Mangel an interkonfessionellen Kontakten und Kommunikation. AusAngst und dem Bedürfnis nach Selbstschutz heraus entstehen in Beiruthomogene Räume. Die Unkenntnis fremder Interessen und Bedürfnisse ver-stärkt wiederum die diffusen Ängste und Feindseligkeiten zwischen dencommunities. Sie führt gleichzeitig zu einem dichteren Netzwerk sozialerKontakte und sozialen Vertrauens nach innen, welche über symbolischeGrenzen materialisiert werden. Hierzu zählen zum Beispiel Straßenzüge oderMauern, welche Nachbarschaften separieren. Der Diskurs rekurriert auf dasnegative Fremde im Kontrast zum positiv perzipierten Selbst und wird vonmoralischen Beurteilungen kultureller oder sozialer Ansichten und Praktikengespeist. In den Interviews getroffene Werturteile über die Lebensweisedes Fremden und die verwendeten Labels bestätigen Stereotype von derUnglaubwürdigkeit und Unzuverlässigkeit fremder communities. Aus diesenDiskursen heraus ergibt sich eine Gemengelage unterschiedlicher Räumein Beirut, welche aufgrund ihres Nutzungszwecks verschiedene Formen so-zialer Durchmischung erlauben. Öffentliche Räume mit Freizeitangeboten,Arbeitsorte oder Bildungsstätten werden als neutral wahrgenommen undzeigen heterogene Bevölkerungsstrukturen. Sie tragen keine symbolischenBedeutungszuschreibungen mit politischer oder konfessioneller Konnotation.Bei der Wahl des eigenen Wohnsitzes sind solche räumlichen Bedeutungs-zuschreibungen jedoch entscheidend. Die meisten Interviewteilnehmendenbevorzugten konfessionell homogene Nachbarschaften. Das scheinbar wider-rechtliche Betreten anderer Nachbarschaften wurde im täglichen Dialog undin der medialen Rhetorik in teils absurden Geschichten und Warnungen vorGewalttaten der Anderen überzeichnet.

Intensiv setzt sich auch die Forschung zur Türkei mit dem Thema Raum undIdentität auseinander. Mardin und Çakır analysieren in „Mahalle Baskısı.Prof. Dr. Şerif Mardin’in tezlerinden hareketle Türkiye’de islam. Cumhuriyet,

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2 Forschungsstand

laiklik ve demokrasi“ die immanenten sozialen Faktoren der Aushandlung derIdentität von Staatsordnung und Gesellschaft (Mardin & Çakır 2008).39 Mitdem Begriff Nachbarschaftsdruck beschreiben sie gesellschaftliche Zwängeinnerhalb sozialer Milieus, die seit dem Wiederaufkommen eines islamischenLebensstils in der säkularen Türkei auftreten. Die Basis der Studie ausdem Jahr 2008 ist die Beobachtung, dass in religiös konservativen Gesell-schaftssegmenten der Türkei diejenigen Bürger, welche keinen religiösenLebensstil annehmen, Ausgrenzung erfahren. Gleichzeitig prognostizierenMardin und Çakır, dass Werte der dominanten Konservativen in der Tür-kei weiterhin an Gewicht zunehmen werden. Damit stoßen sie einen neuenakademischen Diskurs in der Türkei an und versuchen, das Organisationsphä-nomen Nachbarschaftsdruck als dynamischen, historischen Prozess greifbarzu machen. Die Wurzeln dieses Prozesses reichen bis in die Gesellschaft desOsmanischen Reichs zurück. Für die Autoren weißt die Republik Türkeidurch die Orientierung am Kemalismus, der als Elitenprojekt weite Teileder türkischen Bevölkerung dem türkischen Staat entfremdet hat, enormenormative Defizite auf. Diese werden im Modernisierungsprozess nicht überphilosophische Diskussionen aufgefangen. Laut Mardin und Çakır braucht eseinen Wertekonsens, um eine Gesellschaft aufzubauen, weshalb in der Türkeidieses Feld zunehmend (wieder) durch den Islam gefüllt wird. Der Islam wardurch das kemalistische Projekt, unter anderem durch die entsprechendeGesetzgebung, zurückgedrängt und unterdrückt worden. Im lokalen Kontextder Nachbarschaften manifestiert sich dieses gesellschaftliche Phänomenin der Setzung moralischer Normen im öffentlichen Raum, welche für alleBewohner der Nachbarschaft Geltung erhalten. Zuwiderhandlungen werdenüber Druck- und Kontrollmechanismen unterhalb der staatlichen Ebeneunterbunden und die Einhaltung der Normen erzwungen. Als zentrales Ele-ment der Manifestation identifizieren sie hierbei individuelle Körperpraktiken.Darunter fallen beispielsweise Kleidungsstile, welche über visuelle Kontrolle

39Ins Deutsche übersetzt lautet der Titel: „Nachbarschaftsdruck. Aus Prof. Dr. ŞerifMardins These zur islamischen Bewegung in der Türkei. Republik, Säkularismus undDemokratie“.

68

2.2 Literaturbesprechung

bewertet und mit sozialen Zwängen belegt werden. Häufig ist das Themamit Grundsatzfragen über das Verständnis von Mann und Frau verknüpft.Der Normierungsdruck zeigt sich nicht nur in den Kleidungsnormen sondernerstreckt sich auf alle Bereiche sozialer Praktiken. In einigen Gegendender Türkei ist beispielsweise die Teilnahme am Freitagsgebet obligatorisch.Diesen spezifischen Milieudruck problematisieren Mardin und Çakır weiter,indem sie die Widersprüchlichkeit des Modernisierungsprozesses der Türkeianalysieren. Wo in der Türkei eine konservative Modernisierung stattfin-det, deren Identitätsdiskurse durch den Islam geprägt sind, tragen Mardinund Çakır das Postulat einer modernen Gesellschaft voran, in der sozialerGehorsam immer der Freiwilligkeit und Zustimmung unterliegen sollte. Siefordern den Schutz persönlicher Freiheiten über die Gesetzgebung, um dieindividuelle Flucht vor sozialen Zwängen zu ermöglichen. Die Dynamikender zunehmenden Anonymität und der sozialen Isolation von der Umweltbewerten sie dabei positiv als die Gesetzgebung unterstützende Faktoren.

Zur Problematisierung einer validen Gesellschaftsbeschreibung und -analysedurch Außenseiter wurde Dale F. Eickelmans Monografie aus dem Jahr2002 „The Middle East and Central Asia. An Anthropological Approach“herangezogen (Eickelman 2002).40 Eickelmans Ausführungen gaben dieserStudie in Fragen identitätsbezogener Aushandlungsprozesse sowie des Wan-dels sozialer Beziehungen und Werte unter dem Einfluss politischer oderökonomischer Faktoren wichtige Anstöße. In ihrer gemeinsamen Publikation„Muslim Politics“ gehen Eickelman und Piscatori gegen das weit verbreiteteStereotyp des einheitlichen Phänomens von Islam und Politik im NahenOsten an (Eickelman & Piscatori 1996). Sie kritisieren den Politologen Sa-muel P. Huntington für dessen Essentialismus im Hinblick auf den Islam,der die Komplexität muslimischer Politiken auf eine singuläre Formulierungreduziert. Sie sprechen sich für die Verortung der Politik im Alltag deslokalen sozialen Kontexts aus, um ein breites und fundiertes Verständnis

40Die Außenseiter sind in diesem Kontext die westlichen Wissenschaftler im arabischenRaum.

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2 Forschungsstand

der Gesellschaft und der muslimischen Politiken zu erhalten.

Auch tunesische Wissenschaftler setzen sich mit dem subnationalen Bereichauseinander. Mohamed Hellal analysiert im Jahr 2013 in seinem Artikel„Les réactions des acteurs locaux à Monastir dans le contexte de l’après-revolution tunisienne“ die Beziehungen und Konflikte zwischen städtischenAkteuren im politischen Kontext des postrevolutionären Tunesiens (Hellal2013). Er beschreibt wie in Monastir, der Geburtsstadt des ehemaligenStaatspräsidenten Bourguiba, ein System von Akteuren von einem anderenAkteurssetting ersetzt wurde. Die Selbstverbrennung Mohamed Bouazizisin Sidi Bouzid, welche die tunesische Revolution angestoßen hatte, traf dieEinwohner Monastirs schwer. Nur neun Monate zuvor hatte sich dort am 3.März 2010 der Jugendliche Abdessalam Trimeche [cAbd al-Salam Trımish]selbst verbrannt, da die Stadtverwaltung von Monastir es abgelehnt hatte,ihn auf den Straßen der Stadt Brik verkaufen zu lassen.41 Die EinwohnerMonastirs sahen sich als Opfer des korrupten Ben Ali-Regimes, welches derStadt über die Jahre immer mehr ihrer von Bourguiba verliehenen Privi-legien entzogen hatte. Während der Revolution besetzten sie deshalb denöffentlichen Raum Monastirs symbolisch neu. Sie entfernten in einem Aktder Selbstermächtigung das Denkmal der Machtergreifung Ben Alis auf demPlace de Ribat und stellten dort einer Statue von Bourguiba auf. Auch Por-träts von Ben Ali, die in allen Geschäften und öffentlichen Einrichtungen zufinden waren, wurden entfernt und mit Postern von Bourguiba ersetzt. DasNachlassen kommunaler Kontrolle führte in Monastir zur illegalen Errichtungvon Gebäuden und der Eröffnung von Kiosken ohne Genehmigung durchdie Behörden. Zivilgesellschaftliche Vereinigungen gründeten sich. Sie tratennach der Auflösung des vorherigen Gemeinderats ohne demokratische Legiti-mierung als provisorischer Rat zusammen, um kommunale Angelegenheitenzu regeln. Diese Räte entstanden landesweit in verschiedenen Städten undgerieten schnell in Konflikt mit der Zentralregierung in Tunis, da das Gesetz

41Brik ist eine tunesische Spezialität, bei der sehr dünner Teig gefüllt und in Öl ausgeba-cken wird.

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2.2 Literaturbesprechung

Nr. 2011–6 vom 16. Dezember 2011 zur Umsetzung der Dezentralisierung inTunesien noch nicht existierte (Assemblée Nationale Constituante 2011).

Konkrete Hintergrundinformationen im Hinblick auf Tunesien und das aus-gewählte Stadtviertel Le Kram mussten auch aus nichtwissenschaftlichenQuellen, wie Artikeln lokaler, französisch- und arabischsprachiger Zeitungenergänzt werden. Eine Liste der hinzugezogenen Zeitungen und Online Nach-richtenplattformen befindet sich in alphabetischer Reihenfolge im Anhangab Seite 350 .

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3 Anleihen aus derFoucault’schen Diskursvarianz

3.1 Verortung und Perspektiven

Relevanz. Diskurstheoretische Konzepte und Ansätze bergen das Potential,feststehende Kategorien und Paradigmen der Transformationsforschung zuhinterfragen und die große Spannweite von Handlungsspielräumen sowie dieKomplexität gesellschaftlicher Auseinandersetzungen deutlich zu machen(vgl. Glasze & Mattissek 2009, S. 44). Sie erfahren deshalb in den Sozi-alwissenschaften zunehmend Aufmerksamkeit, wobei die inhaltlichen undkonzeptuellen Schwerpunkte der einzelnen Fachrichtungen differieren. In An-lehnung an humangeografische Theoriedebatten zu Grenzziehungs- und derIdentitätsbildungsprozessen im öffentlichen Raum eröffnet der diskurstheo-retisch begründete Blick auf gesellschaftliche Strukturen im Fachkontext derPolitikwissenschaft eine neue Perspektive auf politische Aushandlungsprozes-se und Machteffekte. Somit ermöglicht der politikwissenschaftliche Rückgriffauf die Diskursforschung, die Neuaushandlung und die Etablierung vonOrdnungen auf der Mikroebene zu ergründen und Grenzziehungsphänomenesowie Identifikationsbildungsprozesse zu begreifen. „In scharfem Kontrastzu Ansätzen, die das Politische auf Vorgänge des politischen Systems redu-zieren, wird es hier als andere Seite des Sozialen gedacht. [...] es erlaubt, dasAuftreten neuer Konfliktlinien in modernen Gesellschaften zu analysieren“(Stäheli & Hammer 2016, S. 64). Es bietet sich folglich an, für die Analyse derpolitischen Aushandlungsprozesse auf der lokalen Ebene des StadtviertelsLe Kram, auf diskurstheoretische Konzepte von Identität, Kultur und Raum

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3 Anleihen aus der Foucault’schen Diskursvarianz

zurückzugreifen. Dabei kommt der Wechselwirkung von Diskurs und Machteine besondere Rolle zu. Der Diskurs stellt das Instrument dar, welches esSubjekten ermöglicht, geplant und in Interaktion mit anderen, eigene Zielezu erreichen. Er ist das Mittel „worum und womit man kämpft“ (Schroer2001, S. 90). Abhängig von den jeweils vorherrschenden Akteurskonstellatio-nen und Machtstrukturen im Viertel wird sich ein anderer Diskurs und mitihm eine Ordnungsvorstellung sowie ein spezifisches Identitätsangebot imöffentlichen Diskurs durchsetzen.

Perspektive. Das vorliegende Kapitel stellt deshalb eine Fusion aus theo-retischen Anleihen der Foucault’schen Diskursvarianz dar. Es führt diefür das Verständnis der lokalen Aushandlungsprozesse in Tunis relevan-ten Begriffe Identität, Kultur und Raum ein und vereint zwei zentralePositionen Foucaults Denkens. Die erste Position ist die kritische Ausein-andersetzung mit den verschiedenen Diskursformen, welche Foucault alsArchäologie bezeichnete, die zweite Position ist die Genealogie, also dieAnalyse von Machtpraktiken.42 Die archäologische Perspektive eignet sich,um Gesetzmäßigkeiten nachzuvollziehen, welche die Sprache oder sozialePraktiken innerhalb einer Gesellschaft strukturieren (Foucault 1973a). ImZentrum stehen hierbei die Gesetzmäßigkeiten selbst, nach denen Regelnentstehen und Aussagen dominant werden, welche wiederum den Diskursstrukturieren. Die genealogische Perspektive hingegen legt den Fokus aufden Wandel des Diskurses und die mit ihm verbundene Ordnung in einembestimmten Kontext. Wie entstehen Regeln? Welche Brüche gehen mit derEntwicklung einher? Welche Vorstellungen werden dominant, welche werdenmarginalisiert (Dzudzek et al. 2007)?

42Die dritte theoretische Orientierung, welche Foucaults Denken bestimmt, ist die Ethik.Foucaults ethische Phase ist zu Beginn der 1980er Jahre anzusetzen. Sie beschäftigtsich mit dem Bereich der Subjektivität und der Auseinandersetzung des Subjektesmit Machtmechanismen. Hierzu zählen beispielsweise die Werke „Der Gebrauch derLüste“ sowie „Die Sorge um sich“ (Foucault 1989a,b).

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3.1 Verortung und Perspektiven

Synthese Diskurs und Macht. Die Synthese beider Erkenntnisstränge stellteine Herausforderung dar, welche einen Großteil der Arbeit Foucaults be-stimmt, wenn er fragt: „(...) wie ist in den abendländischen Gesellschaftendie Produktion von Diskursen, die (zumindest für eine bestimmte Zeit)mit einem Wahrheitswert geladen sind, an die unterschiedlichen Machtme-chanismen und -Institutionen [sic] gebunden?“ (Foucault 1983, S. 8). DieVerschmelzung der Analyse von Diskursen mit der Machtanalytik positio-niert Foucault in einen poststrukturalistischen Theorierahmen, in welchemsein Denken seit den 1990er Jahren eine prominente Stellung einnimmt. DerDiskurs reguliert und kontrolliert die Gesellschaft, laut Foucault, ebenso, wiezirkulär die Gesellschaft den Diskurs vorantreibt. Um die Definitionsmachtüber den Diskurs zu behalten, können die beteiligten Akteure eine Steue-rung durch den Ein- beziehungsweise Ausschluss anderer Akteure aus demAushandlungsprozess versuchen. Dies kann über eine gezielte Manipulationund Nutzung des Raums geschehen, beispielsweise über materielle Symbole,Körperpraktiken oder Sprache. Diese diskursiven Praktiken verändern dieStrukturen der Macht kontinuierlich. Sie beeinflussen die Machtbeziehungenund ihre Wirkungen, weshalb Macht immer instabil und dezentral bleibt.Jeder beteiligte Akteur muss seinen Platz in diesem Netzwerk der Machtbehaupten. Kommt es zu einer Verschiebung der Machtstrukturen durchbestimmte Diskurse, kann dies das Auftreten anderer, eventuell bisher mar-ginalisierter Akteure bewirken. Unter diesen geänderten Voraussetzungendes Netzwerks der Machtbeziehungen können wiederum neue Diskurse ent-stehen, wenn die Akteure versuchen, das Verhalten anderer zu bestimmenund Veränderung gemäß der eigenen Agenda durchzusetzen. Das einzelneIndividuum kann für das konkrete Ergebnis der Aushandlungen aber nichtallein verantwortlich sein, da die Gesellschaft überindividuell an den Resul-taten mitwirkt. Niemand kann den Ausgang der diskursiven Aushandlungenalleine und gezielt bestimmen, da zu viele Einzelhandlungen zusammenspie-len. Die Herausbildung von Diskursen ist damit ein historischer Prozess.Dieser Prozess bleibt immer abhängig vom jeweiligen Input, auch wenn ersich, beeinflusst durch unterschiedliche gesellschaftliche Akteure, mit der

75

3 Anleihen aus der Foucault’schen Diskursvarianz

Zeit verselbstständigen kann. Wie Diskurs und Macht von Foucault begriffenwerden, wird in den folgenden beiden Unterkapiteln besprochen.

3.2 Diskurs

3.2.1 Theoretische Ansätze

Grundlegende Ansätze der gegenwärtigen diskurstheoretischen Debatte sinddie strukturalistische, die wissenssoziologische sowie die poststrukturalis-tische Diskursforschung. In der Praxis ist eine scharfe Trennung der dreieinzelnen Konzepte nicht möglich. Überschneidungen und Kollisionen sindnicht zu vermeiden, da für die Rekonstruktion von Veränderung immer auchdie gegebenen Strukturen in die Analyse mit einfließen müssen. Die bewussteSeparierung und Auswahl eines Konzeptes ist daher vor allem während derMethodenauswahl von Relevanz.

Strukturalistische Diskursforschung. Im Mittelpunkt der strukturalistischenDiskursforschung steht die Annahme, dass es keine autonomen Subjektegibt, da jedes Subjekt immer ein Teil eines ganzen Systems ist. Damiterfolgt eine Abgrenzung von anderen, handlungs- oder akteursbezogeneAnsätzen, welche von von einem autonom handelnden Subjekt ausgehen.Objekte verfügen über keine essentielle Bedeutung, sondern erhalten dieseerst über ihre Position, welche sie in eine bestimmte Struktur einbindet.Begründer dieses Strömung sowie der modernen Linguistik war der SchweizerSprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure zu Beginn des zwanzigstenJahrhunderts. In seinem Werk „Cours de linguistique générale“ beschreibter die Konstruktion der Realität über die Sprache und stellt grundlegendeAnnahmen zur Sprache auf (Saussure 2005). Das Prinzip der Arbitraritätbesagt, dass die Bedeutungen von Zeichen keine immanente Eigenschaftderselben sind. Die Zeichen sind frei. Ihre Bedeutungen beruhen auf Kon-ventionen und können daher, je nach Kontext und zu verschiedenen Zeiten,variieren. Das Signifikat Baum als Konzept erhält in verschiedenen Sprachen

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3.2 Diskurs

unterschiedliche Bezeichnungen, die Signifikanten genannt werden. Im Engli-schen wäre diese Signifikante tree, im Französischen arbre. Hinzu kommt, dassbestimmte Signifikate nicht in allen Sprachen existieren, was die Überset-zung erschweren kann. Die Synthese von Signifikant, das heißt der Lautfolge,und Signifikat, dem bezeichneten Konzept, erscheint im Alltag sinnvoll undwird nicht angezweifelt, auch wenn sie nicht natürlich gegeben ist. Sie ent-steht immer erst durch die Abgrenzung nach außen von anderen Zeichenin einem Netzwerk (vgl. Saussure 2005, S. 159). Gleichzeitig besteht lautSaussure auch eine Verbindung von Sprache und Denken. Die Sprache schafftden Rahmen für die Produktion von Bedeutung, welche selbst nie objektivoder absolut ist, sondern immer über ihren spezifischen Kontext generiertwird. Dies ist eine der Kernaussagen des Strukturalismus, da sie impliziert,dass Subjekte durch die sprachlichen Strukturen ihrer Umwelt gebundensind und Bedeutung sowie Identitäten über Abgrenzungsprozesse entstehen.Strukturalistisch orientierte Methoden der Diskursforschung, wie der criticaldiscourse analysis, gehen von einer gegebenen Ebene von sozialen Praktikenund Strukturen aus (Dijk 2002, Fairclough 2002, Fairclough & Wodak 2003).Diese spiegeln sich in der zweiten Ebene des Diskurses wider und legen indessen Analyse Weltanschauungen, Wertauffassungen und Hegemonien offen.

Wissenssoziologische Diskursforschung. Die wissenssoziologische Diskursfor-schung beruht auf der Absicht, gemeinsame Kenntnisse komplexer Sachver-halte und die geteilten Wahrnehmungen von Subjekten in gesellschaftlichenDiskursen nachzuvollziehen. Dabei wird Diskurs als Struktur verstanden,„welche die symbolische Praxis von Akteuren anleitet, von diesen allerdingsauch beeinflusst wird und strategisch eingesetzt werden kann. In dieser Pra-xis wird der Diskurs reproduziert und transformiert“ (Glasze & Mattissek2009, S. 32). Aus der Kombination der Diskurstheorie Michel Foucaults(Foucault 2015) mit der Analyse gesellschaftlicher Wissensverhältnisse vonBerger und Luckmann (Berger & Luckmann 2013) heraus entstanden, er-öffnet die wissenssoziologische Diskursforschung eine breite Perspektive aufgesellschaftliche Praktiken und symbolische Ordnungen. Das Vermittlungs-

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3 Anleihen aus der Foucault’schen Diskursvarianz

potential der von dem deutschen Soziologen Reiner Keller (vgl. Keller 2011,S. 60) angeregten Synthese beider Traditionen liegt in der Möglichkeit,verschiedenen Ebenen und Positionen der Bedeutungsproduktion zu untersu-chen und eine weitgreifende Perspektive einzunehmen. Die Forschungspraxisschließt bewusst an etablierte Ansätze der qualitativen Sozialforschung derSozialwissenschaften an, wobei ein breites Spektrum an empirischen Metho-den sowie Theorien mit der Offenheit zur Modifikation zur Verfügung steht.Von Foucault selbst gibt es keine Stellungnahme, welcher Methodik derVorzug zu geben sei. In der Kritik steht der Ansatz vor allem aufgrund seinertheoretischen Widersprüchlichkeit. Obwohl eine klare Selbstzuordnung zupoststrukturalistischen Ansätzen erfolgt, werden handelnde Subjekte weiter-hin prädiskursiv als Ursprung diskursiver Strukturen verortet (Angermüller2005).

Poststrukturalistische Diskursforschung. Die poststrukturalistische Diskurs-forschung unterscheidet sich im Wesentlichen von den beiden bisher vorgestell-ten Ansätzen durch die konsequente theoretische Verortung von Subjektensowie deren individuelle oder auch kollektive Identitäten als Ergebnis, nichtals Ursprung, diskursiver Prozesse und Strukturen. Damit setzt sie sich vonmarxistischen Theorieansätzen ab, welche den Ausgangspunkt der Gesell-schaft in deren außerdiskursiven ökonomischen Konditionen sehen. Nicht diehandelnden Akteure selbst stehen hier im Analysefokus, sondern die diskur-siven Prozesse. Diese führen zu Konflikten, Brüchen und Fragmentierungenund beeinflussen permanent den Wandel von Strukturen und konstruierenBedeutungen. Zudem können sie je nach Bezugsrahmen differieren (Anger-müller 2007). Im Kontext dieser Studie bedeutet dies, dass Identitäten, dieVorstellung von Kultur, räumliche Grenzen, also zum Beispiel die lokalenPraktiken, die Architektur, die Graffitis oder die Kleidungsstile nicht objek-tiv gegeben sind, sondern durch die gesellschaftlichen Verhältnisse geprägtund ihre Interpretationen in diskursiven Aushandlungsprozessen entstandensind. Sie sind eine der unendlichen Möglichkeiten von Perspektiven undunterliegen in ihrer Wahrnehmung dem ständigen Wandel. Zwar nimmt

78

3.2 Diskurs

die Sprache eine prominente Stellung für die Sinngebungsprozesse ein, sieist jedoch nicht das einzige Medium und, wie alle anderen Medien, keinenobjektiven Gesetzmäßigkeiten unterworfen. Auch Symboliken oder über denKörper ausgetragene Praktiken können machtgeladen und ein Ausdruck vonDifferenz sein.

3.2.2 Begriffsbestimmung – Was ist Diskurs?

Foucaults Diskursbegriff entfaltet eine Vorstellung von Diskurs, welche durchpermanente politische Aushandlungsprozesse und deren temporäre Fixierungkonzeptionalisiert ist. Diese Prozesse gewähren Zugang zum Verständnissozialer Praktiken sowie der Produktion von Ordnung und ihrer Symbo-lisierung im Raum. Durch wiederholte diskursive Aushandlungen werdenspezifische Wirklichkeiten und Wahrheiten im Raum temporär durchgesetzt.Foucault definierte Diskurs aus einer konstruktivistischen Perspektive her-aus als eine spezifische Verknüpfung von „Institutionen, ökonomischen undgesellschaftlichen Prozessen, Verhaltensformen, Normensystemen, Techniken,Klassifikationstypen und Charakterisierungsweisen“ (Foucault 1973a, S. 68).Dabei werden Muster aus übereinstimmenden Äußerungen erkennbar, welcheFoucault als Diskurs bezeichnete. Diese diskursiven Formationen müssen ei-nem bestimmten Regelwerk folgen, um anerkannt zu werden.43 Institutionen,Rituale oder Praktiken strukturieren die diskursive Ordnung und dringenals alternative Deutungsmuster an die Oberfläche. Sie dekonstruieren dabeidie bisher als normal und stabil wahrgenommene Ordnung und stellen derenzugrunde liegende Diskurse in Frage. Diese wiederum führen über Brüchein den Strukturen zur Durchsetzung oder Marginalisierung der umstritte-nen Wahrheiten und tragen damit zum Wandel normativer Ordnungen bei.Ob dieser Wandel zu einem radikalen Umbruch sozialer Wirklichkeit führtoder langsam und evolutionär vonstatten geht, hängt von den jeweiligen

43Eine mögliche gesellschaftliche Regel könnte der Ausschluss einer geistig verwirrtenPerson aus dem Diskurs darstellen, wenn die Aussagen oder Verhaltensweisen dieserPerson von der Gesellschaft nicht als glaubwürdig und verlässlich eingestuft werden.

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3 Anleihen aus der Foucault’schen Diskursvarianz

Konflikten und Gegebenheiten ab und wird oft erst in der Retrospektiveerfahrbar. Ebenso können diese sozialen Prozesse im Rückblick Aufschlussüber zuvor marginalisierte Praktiken geben, wenn ein bestimmter Diskursaufgebrochen wird und neue Brücken und Konfliktlinien entstehen. GehenAushandlungsprozesse so weit, dass beispielsweise die staatliche Ordnung inFrage gestellt wird, kann der Staat dies nicht auf Dauer tolerieren und wirddurch intervenierende Aktionen Versuche unternehmen, zur alten Ordnungund Stabilität zurückzukehren. Problematisch erscheint im Hinblick auf dieBegriffsbestimmung bei Foucault, dass die Grenzen des Diskurses bei ihmtheoretisch weitgehend unbestimmt bleiben. Außerdem differenziert Foucaultin diskursive sowie nicht diskursive Praktiken. Er vertritt die Annahme, esgäbe ein objektives Feld außerhalb jeglicher diskursiver Interaktion. DieseEinschränkung greift im Hinblick auf Wittgensteins Sprachspiele zu kurz(Wittgenstein 2001). Nichtdiskursive Komplexe, wie Institutionen, Kleidungoder Architektur sind niemals vollkommen außerdiskursiv. Zwar kann esaußerdiskursive Objekte geben, diese erlangen jedoch als Formen von dis-kursiver Artikulation an Bedeutung. Selbst ein Erdbeben kann als Objekteines Diskurses konstituiert sein, je nachdem, ob es im diskursiven Feld zumBeispiel als Naturphänomen oder als Wille Gottes konstruiert wird (vgl.Laclau & Mouffe 2014, S. 93 f.).

3.3 Raum, Identität und Kultur

In der diskurstheoretischen Auseinandersetzung mit dem politischen undgesellschaftlichen Wandel im lokalen Raum von Tunis zeigen sich permanenteAushandlungsprozesse um die Definition räumlicher Grenzen sowie Vorstel-lungen von Identität und Kultur. Akteure nutzen ihre Kommunikation nachaußen und wirken mittels symbolischer Praktiken und anderer Botschaftenauf ihr Umfeld ein . Sie nutzen die flachen Hierarchien des Alltags, um sozialeKontrolle und Milieudruck auszuüben und nehmen darüber Einfluss auf dieMachtbeziehungen im Viertel. Die diskursive Ordnung wird aufgebrochen,alternative Denkmuster treten an die Oberfläche und werden neu verhandelt.

80

3.3 Raum, Identität und Kultur

Die daraus entstehenden Konfliktlinien zeigen deutlich, wie die sozialen Pro-zesse im Viertel ablaufen. Sie zeigen, wie marginalisierte Gruppen entgegender gesellschaftlichen Mehrheit versuchen, einen radikalen Umbruch sozialerWirklichkeit zu provozieren und dabei sogar die nationale Ordnung in Fragestellen. Um die Komplexität dieser Aushandlungsprozesse in der späterenAnalyse besser erfassen zu können, werden im Weiteren die Begriffe Raum,Identität und Kultur im diskurstheoretischen Konzept verortet.

3.3.1 Raum

Paradigmenwechsel. In der traditionellen Geografie wurden Räume als zeitlo-se, gegebene, beständige, statisch lokalisierte Einheiten mit festen Strukturenkonzipiert (Bergson 1959). Dieses wissenschaftliche Paradigma einer „eu-klidischen“ Vorstellung des Raums als geschlossenem Container wurde inDeutschland erst im Zuge der marxistisch geprägten Geografie der 1960erJahre aufgebrochen. Raumstrukturen werden mit dem spacial turn als sozialkonstruierte Konsequenz der Dynamik gesellschaftlicher Praktiken verstan-den. Sie werden über Normen konstruiert und enden dort, wo auch dieseNormen keine Gültigkeit mehr besitzen. Damit können sie zwar verortet,aber nicht vermessen werden. Dieser Paradigmenwechsel wird im Rahmender diskurstheoretischen Ansätze konsequent weiterentwickelt und zugespitzt.Raum und Zeit als Dimensionen der Innovation existieren fortan gemeinsam.Dabei beschreibt Massey in „For Space“ eine alternative Lesart von Raum(und Zeit) (Massey 2005). Sie stellt drei Prämissen auf: Erstens ist derRaum ein Produkt von relationalen Interaktionen, zweitens ist der Raumein Bereich der möglichen Pluralität, da diese Interrelationen Vielfältigkeitmit sich bringen und drittens ist der Raum die fragmentierte Sphäre desprozesshaften Wandels ohne kohärente Verbindungsstrukturen (vgl. Massey2005, S. 9). Aus dieser Perspektive können Räume keine Konsequenz sozialerProzesse sein, sondern sind selbst Bestandteil sozialer Produktion und stetsim Wandel begriffen: „(...) space is now rendered as a part (a necessarypart) of the generation, the production, of the new. In other words the

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3 Anleihen aus der Foucault’schen Diskursvarianz

issue here is not to stress only the production of space but space itself asintegral to the production of society“ (Massey 1999, S. 10). Im Zuge desSpatial Turn in der Kulturgeografie wandelten sich die Theoriedebatten.Die Konzeptionalisierung von Räumen beruht in den wissenschaftlichenAuseinandersetzungen zunehmend auf der Vorstellung, dass Räume diskur-siv konstituiert sind und einen geteilten Erfahrungsort der Kopräsenz undInteraktion darstellen, an dem sich vielfältige Akteure begegnen, gemeinsamexistieren, Konflikte austragen und sich gegenseitig beeinflussen. Über denRaumbezug versuchen die Akteure, eine imaginierte, homogene Gemeinschaftnach innen herzustellen und sich gleichzeitig von dem als anders und fremdwahrgenommenen Außen abzugrenzen. Die dynamischen Grenzen des Raumswerden dabei von den Akteuren als feststehend und stabil wahrgenommen,obwohl „gesellschaftliche Strukturen oder Akteure niemals feststehen, son-dern immer widersprüchlich, instabil und brüchig sind“ (Glasze & Mattissek2009, S. 42). Lokale Dynamiken befinden sich nicht nur untereinander inAustauschprozessen, sondern Lokales entsteht auch durch die Vernetzungmit Nationalem oder sogar Globalem (vgl. Bauriedl 2009, S. 224 f.), wobeisich die vorgestellten Räume wechselseitig strukturieren und beeinflussen.Im Zuge dieser Aushandlungsprozesse wird räumliche Differenz durch va-riierende Dynamiken und abweichende Entwicklungspfade erkennbar. DerRaumbezug stellt hierbei den Versuch der Akteure dar, einen Diskurs zustabilisieren und temporär zu fixieren. Die damit geschaffene, temporäreOrdnung wird als natürlich gegeben wahrgenommen.

Öffentlicher Raum. Der Begriff des öffentlichen Raums ist auf den erstenBlick vermeintlich eindeutig. Es besteht jedoch erheblicher Klärungsbedarfüber die Definition des Öffentlichen. Um diesen Begriff in seiner Ganzheitzu verstehen, ist es notwendig, verschiedene seiner Bedeutungsebenen zueinem vollständigen Bild zu überlagern. Einer der möglichen Zugänge zumVerständnis des Gegenstands beruht auf dem Eigentum und der Regulierungbestimmter Gebiete und der damit verbundenen Verwaltung, Pflege oderKontrolle durch den Staat beziehungsweise die Kommune. Parks oder Prome-

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3.3 Raum, Identität und Kultur

naden der Städte sowie Plätze fallen unter diese Kategorie. Was aber, wennsich Parks in privatem Eigentum befinden und dennoch der Öffentlichkeitzugänglich sind? Sind solche Räume noch öffentliche Räume? In diesem Fallgreift der Zugang zum Raum durch Jedermann als Bedeutungsebene, unab-hängig von Eigentumsrechten und idealerweise unabhängig von zeitlichenBeschränkungen, Eintrittsgeldern oder anderen Ordnungen. Die dritte hiervorgestellte Bedeutungsebene ist der sozial konstruierte öffentliche Raum alsOrt von Öffentlichkeit, heißt der Begegnung und Interaktion aller sozialerGruppen. Einem normativen Ideal folgend ist die Öffentlichkeit ein Ortder Aushandlung, sprich der inklusiven politischen Mitwirkungsmöglichkeitund Willensbildung. Ziel der Stadtplanung ist es deshalb beispielsweise,„physische Orte zu erhalten beziehungsweise zu schaffen, die von möglichstvielen Gruppen der Gesellschaft physisch und symbolisch angeeignet werdenkönnen und damit als Bühne der Identitätsbildung und SelbstdarstellungLernfeld für die Auseinandersetzung mit Fremden und Ort der Meinungsbil-dung dienen können“ (Glasze 2001, S. 164). Die Aneignung des öffentlichenRaumes kann zudem der Konfrontation mit dem Staat dienen. Die inoffiziellePrivatisierung des Raumes durch Zugangskontrollen oder die symbolischeAufladung durch Praktiken können dem Staat die Kontrolle über den Raumentziehen.

3.3.2 Identität

Dem Konzept der Identität fällt eine zentrale Rolle in den Sozialwissenschaf-ten zu. Mit der Abkehr von Raumkonzepten, welche diese als homogeneund statische Container begreifen, wandelte sich auch die Vorstellung vonIdentitäten. In der konsequenten Anwendung des diskursiven Ansatzes,sind Identitäten den handelnden Akteuren nicht einfach gegeben. Vielmehrwerden Identitäten erst über den Diskurs in fortlaufenden komplexen Ab-grenzungsprozessen der Bestätigung und Neudefinition ausgebildet (vgl. Hall

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3 Anleihen aus der Foucault’schen Diskursvarianz

1996, S. 2).44 Sie erscheinen den Außenstehenden zwar häufig als natürlichgegeben, kohärent und konstant, besitzen aufgrund ihrer sozialen Konstruk-tion jedoch keinen stabilen Kern, sondern sind multipel, fragmentiert undteils sogar antagonistisch. Identitäten sind als sozial hergestellte Kategoriendem andauernden Wandel unterworfen und von Widersprüchen geprägt. Da-bei gelten „(. . .) individuelle und kollektive Identitäten nicht als Ursprung,sondern als Ergebnis diskursiver Prozesse, deren Konstitution aber niemalsvollständig, homogen und in sich geschlossen sein kann, sondern immer durchBrüche, Fragmentierungen und erneute Schließungsversuche gekennzeichnetist“ (Glasze & Mattissek 2009, S. 33).45 Die ebenfalls sozial konstruiertenRäume und andere äußere Faktoren, wie normative Ordnungen, körperlicheMerkmale oder Sprache, spielen bei ihrer Ausbildung eine entscheidendeRolle. Aus einem individuellen Bedürfnis der Einheit und der Zugehörigkeitheraus finden diskursive Abgrenzungsprozesse nach außen statt. Diese Ab-grenzungsprozesse betonen beispielsweise die räumliche Distanz zwischendem Eigenen wir, hier von dem als fremd Wahrgenommenen sie, dort. DiePosition des Subjekts im Raum und seine kontextuelle Verortung ermögli-chen demnach die Ausbildung der eigenen Identität. Brechen solche als stabilwahrgenommene, räumliche Grenzen auf und werden neu verhandelt, so hatdies auch Einfluss auf die an sie gebundenen Identitäten. Auch wenn derRaumbezug in ihrer Ausbildung eine wichtige Rolle spielt, sind Identitätenjedoch niemals an einen bestimmten Raum gebunden. Die weltweiten Migra-tionsströme der vergangenen Jahre, der internationale Tourismus und dieMedien zeigen dies sehr deutlich. In der Politikwissenschaft wird der Identitätnicht nur auf der individuellen Ebene der Subjekte Bedeutung zugemessen,sondern auch auf der nationalstaatlichen Ebene, zum Beispiel im Hinblickauf identitätsorientierte Diskurse zur Erzeugung von Legitimität. KollektiveIdentitätsbildungsprozesse laufen dann parallel auf mehreren Ebenen ab.Ethnien oder Sprachgemeinschaften können im nationalen Kontext als Kno-

44Diskurs entsteht über die Sprache, Normen, Werte, Machtverhältnisse und sie konstitu-ierende Praktiken und Symboliken.

45Gleichzeitig werden die im Raum stattfindenden Diskurse durch Identitäten konstituiert.

84

3.3 Raum, Identität und Kultur

tenpunkte fungieren. Sie definieren durch ihre Abgrenzung nach außen einevorgestellte Gemeinschaft (Anderson 2005).46 Dieses diskursive Verständnisvon Identität steht der strukturalistischen Idee eines statischen, essenziellen,präsozialen Ichs entgegen, welches im Allgemeinen auf die Anerkennungeiner geteilten Herkunft, eines Ideals oder gemeinsamer Eigenschaften mitanderen Personen rekurriert und Solidarität und Treue generiert.

3.3.3 Kultur

Kultur ist eines der Schlüsselkonzepte zum Verständnis von Identität, Ge-meinschaftsbildung oder Grenzziehungsprozessen, dabei ist der Begriff Kulturjedoch alles andere als eindeutig oder klar definiert. Je nach Disziplin oderKontext wird er sehr unterschiedlich verstanden und gebraucht. In der vorlie-genden Arbeit ist insbesondere seine Verknüpfung mit den Begriffen Macht,Raum und Identität von Bedeutung. Dies legt eine Auseinandersetzungmit dem Begriff der Kultur nahe, wie er im Umfeld der deutschsprachi-gen Neuen Kulturgeografie seit den 1990er Jahren diskutiert wird. Derlateinische Begriff cultura bedeutet übersetzt zunächst Bearbeitung, Pflege,Bebauung oder Anbau, also der Bearbeitung und Veränderung der Naturdurch den Menschen. In der Kantischen Tradition ist diese Bearbeitungder Natur eine Idee von der Zivilisation und dem Fortschritt des Menschen.Die Natur als Gegenpol der Kultur wird durch den Menschen bezwungenund zur abstrakten, geistigen Entfaltung der Menschheit hin verschoben.Der kultivierte Mensch der Stadt steht im Kontrast zur Natur und derunkultivierten Feldarbeit auf dem Land (Eagleton 2001). Diese klassischeGegenposition von Kultur und Natur geht bis auf Cicero zurück, der inseinen tusculanischen Schriften die cultura animi, die Pflege des Geistes,mit der cultura agri, der Pflege der Felder, verglich. Der Kultursoziologe

46Lokale Diskurse zur kulturellen Identität der Bürger wurden in Tunesien zum Beispielauch auf der nationalen Ebene sichtbar, wenn die Verfassunggebenden National-versammlung über die zukünftige Präambel der Verfassung diskutierte oder als dieEnnahdha-Partei ihren politischen Strategiewechsel ankündigte.

85

3 Anleihen aus der Foucault’schen Diskursvarianz

Andreas Reckwitz unterscheidet insgesamt vier Ausdifferenzierungen vonKultur, den normativen, den totalitären, den differenztheoretischen und denbedeutungsoriententierten Kulturbegriff (Reckwitz 2000, 2004).

Normativer Kulturbegriff. Das normative Verständnis von Kultur als Gegen-pol zur Natur herrschte bis in das 19. Jahrhundert hinein vor. Das elitäreVerständnis von Kultur teilte die Menschen in unterschiedliche Grade vonZivilisiertheit ein. An der selbst erwählten Spitze standen die Europäer, wel-che sich selbst als gebildet und den sogenannten Naturvölkern und anderen„Rassen“ als kulturell überlegen verstanden. Das Konzept der Rasse wurdein diesem Zusammenhang kontrovers diskutiert (vgl. Lenz 2017, S. 185). DasVerständnis von high culture, also den Kulturleistungen der gebildeten Bour-geoisie, beispielsweise im Bereich der bildenden Künste, blieb aber nur aufden Status und die Abstammung der europäischen Oberklasse beschränkt.Kultur konnte deshalb niemals der Arbeiterklasse, geschweige denn Nichteu-ropäern eigen sein. Es war weit verbreiteter Konsens, dass die Mittelklassees lediglich schaffe, die Kultur der Oberklasse zu imitieren. Kultur wurde alsWeiterentwicklung der Natur durch den Menschen verstanden. Damit wurdeauch das erlernte Verhalten des Menschen dem rein von Instinkten getriebe-nen und damit dem Menschen unterlegenen Tier entgegensetzt (Moore 1974).

Differenztheoretischer Kulturbegriff. In der differenztheoretischen Bedeu-tung kommt der Begriff der Kultur auch heute noch vor (vgl. Reckwitz2008, S. 19). Er steht für die Deutung der Welt über Formen der Ästhetikbeziehungsweise über den menschlichen Intellekt, wie zum Beispiel im Fallder darstellenden Kunst, Musik oder Literatur.

Totalitätsorientierter Kulturbegriff. In der Kulturgeografie war der Begriff derKultur außerdem lange eng mit der Vorstellung von homogenen Regionenund territorial voneinander abgegrenzten Ländern verknüpft. Kultur undRaum wurden als sogenannte Kulturräume gedacht, welche die Welt in einMosaik jeweils abgeschlossener und homogener Entitäten einteilte (Banse

86

3.3 Raum, Identität und Kultur

1912). Reckwitz bezeichnet diesen Kulturbegriff als totalitätsorientiert, daer unterschiedliche Kulturen der Welt räumlich in Länder oder Kulturland-schaften einordnet und nebeneinander setzt. Die Träger der Kultur sind indieser Vorstellung von Kultur die Menschen, welche sich über die geteilteKultur als Totalität identifizieren. Kultur in diesem Sinne ist pluralistischund unterscheidet sich von einer sozialen Gruppe zur nächsten. Sie verstärktdas Gemeinschaftsgefühl der einzelnen Gruppen, geprägt durch deren unter-schiedliche historische Erfahrungen. Damit lässt sich dieses Verständnis vonKultur im Herderschen Denken verorten, das Menschen als vereint durchKultur beschreibt. Anders als normative Kulturbegriffe, welche kulturelleSysteme als geschlossene Container beschreiben, werden auch die Austausch-prozesse zwischen den einzelnen benachbarten Gruppen anerkannt, welchedie Grenzen zwischen ihnen diffus erscheinen lassen. Kulturelle Grenzen sindhier porös und durchlässig. Versuche, dieses totalitäre Verständnis aufzu-brechen und den Fokus auf den Menschen und sein Handeln und Denkenzu lenken, unternahm Mitte des 20. Jahrhunderts die Berkeley School umCarl Sauer (1889–1975).47 Anders als normative Vorstellungen von Kulturerkannten sie die Gleichwertigkeit von unterschiedlichen Kulturen an, wennauch die Vorstellung von unterschiedlichen Kulturlandschaften, Ländernund Kulturräumen bestehen blieb.

Bedeutungsorientierter Kulturbegriff. In den 1960er Jahren brach die es-sentialisierte Rastervorstellung einer von Kulturräumen geprägten Welt inden wissenschaftlichen Auseinandersetzungen der Kulturgeografie endgül-tig auf. Traditionelle Ansätze verloren an Relevanz zugunsten von sozial-theoretischen Ansätzen und quantitativ-messenden Methoden. Neue Konzep-te, wie die Erforschung von Transregionalität und ökonomischen Prozessen,marginalisierten die Erforschung der Kultur in der Geografie bis zum Ende

47Carl Ortwin Sauer war ein amerikanischer Geograph und Professor an der Universityof California in Berkeley. Mit seinem wohl einflussreichsten Artikel „The Morphologyof Landscapes“ etablierte er sich als einer der Vordenker der amerikanischen culturallandscapes studies (Sauer 1969).

87

3 Anleihen aus der Foucault’schen Diskursvarianz

der 1970er Jahre. Der Bruch, mit Konzepten von Kultur zu arbeiten, fielim deutschsprachigen Raum jedoch sehr viel stärker aus als in der angel-sächsischen Geografie. Dort ermöglichte die kontinuierliche wissenschaftlicheAuseinandersetzung mit Kultur und Raum, unter anderen vorangetriebendurch die Berkley School, eine Weiterentwicklung des Kulturbegriffs. DerAnstoß einer Neuen Kulturgeografie fand im deutschen Sprachraum erst mitden 1990er Jahren statt. Der grundlegende Unterschied in der Auseinander-setzung mit definierten Weltregionen, wie Nordamerika oder Südostasien,ist seit dem Cultural Turn der 1990er Jahre jedoch das Bewusstsein für dieinnere Diversität und Widersprüchlichkeit dieser Regionen. Im Gegensatzzu früheren, essentialisierten Vorstellungen eines Mosaiks von homogenenKulturräumen steht nun die Erkenntnis an erster Stelle, dass jede Vor-stellung von Raum oder Kulturräumen eine von Menschen gemachte unddamit konstruierte Vorstellung und Zuschreibung ist. Die Einteilung derWelt in Regionen wurde demnach beibehalten und das erneut gesteigerteForschungsinteresse an ihnen lässt sich beispielsweise in der Neugründungvon universitären Lehrstühlen und Arbeitskreisen mit dem SchwerpunktArea Studies beobachten. Diese Neue Kulturgeografie ist offen für kultur-theoretische Debatten aus unterschiedlichen Perspektiven. Sie versteht allegesellschaftlichen Prozesse und die sich damit verändernden Strukturen alskulturell. Kultur ist immer konstruiert, symbolisch und veränderlich. Sieist, wie der Raum in der sie verhandelt wird, eng mit dem Gefüge vonMacht verbunden, welches andauernd neue Machtstrukturen produziert.Akteursgruppen, ihre Vorstellungen von Kultur und die damit verbundenenRäume sind nicht stabil und haben keine natürlich gegebenen Grenzen. Siesind ständig veränderbar. Stabilisierungen und Fixierungen der erlebtenWirklichkeit sind stets nur temporär. Diese bedeutet jedoch nicht, dassRäume für die Neue Kulturgeografie nicht mehr von Relevanz sind. Sie sindgleichzeitig Ursprung, Ausdruck und Spiegel von gesellschaftlichen Differen-zierungsprozessen und als solche Teil des Prozesses der Bedeutungsgebungund Identifikation und Herstellung sozialer Wirklichkeit. In diesem Zusam-menhang argumentiert der Kulturtheoretiker Don Mitchell, dass es keine

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3.4 Macht

Kultur per se gäbe, sondern nur die machtvolle Idee von Kultur existiert(Mitchell 1995).

Ähnliche Auseinandersetzungen mit dem Begriff der Kultur findet manauch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen, wie der Ethnologie. CliffordGeertz’ symbolisches Kulturverständnis führte zu einer Wende innerhalbder Ethnologie, dem sogenannten interpretive turn. Für ihn stellt die Kulturein die Menschen umgebendes Netzwerk aus Ideologie, Wissenschaft, Kunst,Religion und Ethik dar, welches die Orientierung und Positionierung in derLebenswelt bietet und erleichtert, Handlungen verursacht und ihnen einenSinn verleiht (vgl. Geertz 1973, S. 250). Geertz ist jedoch der Kritik ausge-setzt, die systematische Soziologie zu vernachlässigen. Soziale Beziehungen,Strukturen und Institutionen kämen in seiner ethnologischen Forschung zukurz. Diese seien aber essentiell: „[they] mediate both the ways in whichpeople think („culture“) and the ways in which people experience and actupon their environment“ (Ortner 1984, S. 134). Einen Versuch, das Konzeptder Kultur abseits des klassischen Containermodells als Schlüsselbegriff neuzu formulieren, stellt der Ansatz Wimmers dar. Wimmer begreift Kulturals offenen und instabilen Prozess der Sinnaushandlung unterschiedlicherAkteure mit abweichenden Interessen (Wimmer 1996). Er weicht damitebenfalls von der klassischen Vorstellung ab, Kulturen seien, aus historischerPerspektive gesehen, stabil, homogen und kohärent. Anstatt den Fokus aus-schließlich auf (inter-)kulturelle Differenzen zu legen, eröffnet sein Ansatz dieMöglichkeit, Kultur als diskursives Feld zu begreifen. Er gibt den Blick für(intra-)kulturelle Auseinandersetzungen, die Pluralität von Kultur, kulturel-len Wandel, Gruppendynamiken und die damit verbundenen Auswirkungenvon Machtbeziehungen frei (Wimmer 2005).

3.4 Macht

In den 1970er Jahren begann Foucault, sich mit der Analytik der Machtauseinanderzusetzen. Sie stellt seither einen der Kernbegriffe seiner Arbei-

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3 Anleihen aus der Foucault’schen Diskursvarianz

ten dar. Das Verständnis von Macht bleibt im Verlauf seiner ForschungVeränderungen unterworfen. Sein Begriff der Macht basiert nicht auf einerausgearbeiteten Theorie, er ist kein geschlossenes System allgemeingültigerBefunde. Das heißt, Foucault ordnete sein Denken nicht dem Anspruch seinerDisziplin an das systematische Denken unter. Er versuchte nicht, verschiede-ne kohärente Ansätze zu einem Gesamtwerk zu entwickeln, sondern fordertesich wiederholt selbst heraus, um Neues zu schaffen. „Jedes Buch stand fürsich selbst, hatte seine eigene Existenz, war sein eigener Test“ (Caillat 2017,S. 42). Sein Begriff von Macht ist deshalb als Idee zu verstehen, welche vonihm immer wieder neu gedacht und äußerst kontrovers diskutiert wurde. Diewissenschaftliche Rezeption des Machtbegriffs bei Foucault ist heute kaumnoch zu überblicken.

3.4.1 Begriffsbestimmung – Was ist Macht?

Negative Macht. Zu Beginn seiner Auseinandersetzungen mit Diskurs undMacht entwarf Foucault ein juridisch-diskursives Machtmodell (vgl. Lindner2006, S. 17). In seinem Buch „Ordnung des Diskurses“ vertrat Foucaultdie Annahme, dass Diskurse als soziale Praktiken zu verstehen und damitpermanent den Einwirkungen der Macht ausgesetzt sind (Foucault 2012). DieWirkung der Macht ist diesem Diskurs vorgelagert. Die ausgeübte Kontrolleführt zur Marginalisierung der betroffenen Diskurse. Macht ist in diesenfrühen Überlegungen Foucaults, wie in „Wahnsinn und Gesellschaft“, nochaußerhalb des Diskurses angesiedelt und repressiv (Foucault 1973b). Sie isteine Instanz im Zentrum der Gesellschaft, die Grenzen schafft, Zwang ausübtund andere unterdrückt. Das Subjekt wird von dieser negativen Macht vonaußen durch Verbote und Bestimmungen begrenzt. Die Sprache des Subjektswird durch die Machthaber verboten bis das Subjekt verstummt, da sie einMittel zum Widerstand darstellt. Foucault beruft sich hierbei auf AdornosIdee der Repression, deren asymmetrische Verteilung von Macht sich in derBeziehung des Herrschers und des ohnmächtigen und gehorsamen Unter-drückten manifestiert. Auch Max Weber begreift Macht als „jede Chance,

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3.4 Macht

innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Wider-stand durchzusetzen“ und beschreibt damit ein asymmetrisches Verhältniszwischen dem Machtausübenden und dem Unterlegenen (Weber 1972, S. 28).Mit dieser Vorstellung von Macht steht Weber nicht alleine da. Der auf ihmberuhende Machtbegriff des Neomarxisten Antonio Gramsci stellt die Machtals Hegemonie einer herrschenden Gruppe innerhalb der Gesamtgesellschaftin den Fokus der Analyse. Die Macht selbst ist für Gramsci in den hierarchi-schen Strukturen des Staates klar zu lokalisieren. Sie besitzt sowohl Richtungals auch einen bestimmten Zweck und befindet sich im Besitz bestimmterSubjekte, die als moralische Führer auftreten. Die Einwilligung in derenMachtausübung findet einerseits über Zwang, andererseits über kulturelleund staatliche Institutionen statt, welche die Gesellschaft in den Interessender herrschenden Gruppe erziehen und darüber hinaus eine soziale Realitätherstellen. Widerstand gegen diese Art von Staatsmacht sollte, laut Gramsci,koordiniert durch demokratische Parteien erfolgen. Hier zeigt sich deutlichdie unterschiedliche politiktheoretische Ausrichtung zwischen Gramsci unddem Poststrukturalisten Foucault, der sich den Machtstrukturen im lokalenKontext der Mikroebene zuwendet.

Positive Macht. In seinen späteren Arbeiten, wie in „Der Wille zum Wissen“,kritisierte Foucault die Idee einer asymmetrischen Verteilung von Macht undstellte das Konzept eines strategischen Machtbegriffs vor (vgl. Foucault 1983,S. 94). Foucault stellt zunächst in Einklang mit klassischen Definitionen vonMacht fest, dass Machtbeziehungen immer von Gegenseitigkeit geprägt sind.Herrschaft kann nur legitim sein, wenn die Beherrschten im Konsens mitden Herrschenden in deren Machtausübung einwilligen und diese von untenstützen. Anders als klassische Konzepte zu Legitimierung oder Institutio-nalisierung von Macht auf der Makroebene, steht bei Foucault nicht mehrder Souverän und die Manifestation diffuser oder konzentrierter Macht imMittelpunkt. Er interessiert sich vielmehr für die Analyse der Machtbezie-hungen, die Auswirkungen der Ausübung von Macht auf die Gesellschaftund die Strategien, welche dahinter stehen (vgl. Foucault 2005, S. 251 ff.).

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3 Anleihen aus der Foucault’schen Diskursvarianz

Für ihn lautet die Frage nicht mehr „wie Macht sich manifestiert, sondernwie sie ausgeübt wird [...]“ (Foucault 2005, S. 251). Foucault konzentriertsich auf die empirische Analyse der „Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen,die ein Gebiet bevölkern und organisieren“ (Foucault 1983, S. 93). „DieMacht ist nicht etwas, was man erwirbt, wegnimmt, teilt, was man bewahrtoder verliert; die Macht ist etwas, was sich von unzähligen Punkten ausund im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht“ (Foucault1983, S. 94). Macht ist für Foucault nicht mit Reichtum als zur Verfügungstehende Ressource zu assoziieren. Sie ist kein Privileg einer bestimmtenKlasse oder Gruppe, sondern sie ist in allen sozialen Beziehungen verortetund damit lokal, zerstreut und heterogen. Es gibt keinen Ort der Machtoder ein Zentrum der Gesellschaft, da nicht nur die herrschende Elite Machthaben kann. Macht kann auch vom Volk ausgehen und ist überall dort, woMenschen interagieren. „Machtverhältnisse wurzeln in der Gesamtheit desgesellschaftlichen Netzes“ und sind aus diesem Grund allgegenwärtig (Fou-cault & Seitter ca. 1996, S. 43). Das Subjekt wird also nicht durch die Machtbestimmt, sondern durch sie begründet. Das Kräfteverhältnis wird durch dieInteraktion einzelner Subjekte und deren soziale Beziehungen untereinanderimmer wieder neu geschaffen. Gleichzeitig besteht ein enger Zusammenhangzwischen Räumlichkeit und Macht. Räume sind nicht objektiv gegeben,sondern werden durch die Hegemonialisierung und Marginalisierung vonDiskursen und durch die Verschiebung von Machtbeziehungen immer wiederneu konstituiert. Durch diskursive Aushandlungen werden Identitäten ver-räumlicht und die Grenzen dieser Räume bestimmt. Der Raum selbst stelltsoziale Wirklichkeit her. Foucault führte damit einen dynamischen Begriffder Macht in actu ein, da diese keinen Status oder Besitz mehr darstelltoder Gesellschaftsstrukturen beschreibt, sondern in der Gesellschaft selbstverwurzelt ist. Macht ist eine ständige politische Aufgabe und wohnt allenAkteuren eines sozialen Netzwerkes inne, da das Verhalten jedes einzelnenAkteurs unmittelbare Auswirkungen auf das Aktionsfeld des nächsten zurFolge hat und dessen Handlungsweisen strukturiert (Foucault & Seitterca. 1996, S. 40). Die beteiligten Akteure vertreten oft widersprüchliche,

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3.4 Macht

politische Positionen und artikulieren spezifische Forderungen, welche sichaus machtgeladenen Aushandlungsprozessen im Raum herauskristallisierenund stets dem Wandel unterworfen bleiben. Dabei gibt es, laut Foucault,weder die Macht noch ein Außerhalb der Macht mehr, da jede politischeAktion, auch der Widerstand, sowie jeder soziale Aushandlungsprozess Be-wegung in das vielfältige Kräfteverhältnis bringt. „Wo es Macht gibt, gibt esWiderstand. Und doch oder vielmehr deswegen liegt der Widerstand niemalsaußerhalb der Macht“ (vgl. Foucault 1983, S. 96). Der Widerstand kannebenso variabel und vielfältig wie das umfassende System der Machtbezie-hungen selbst sein (Foucault & Seitter ca. 1996, S. 16). Der Widerstandstellt sich im Rahmen des negativen Machtbegriffs als ein Handeln gegen dieUnterdrückung dar. Wenn die Macht das Subjekt verstummen lässt, dannist Sprache per se ein Ausdruck des Widerstands. In Bezug auf den positivenMachtbegriff muss der Widerstand anders gedacht werden. Die Sprache wirdhier nicht unterdrückt. Der Sprechakt an sich kann deshalb kein Widerstandsein, weshalb nur eine neue Form der Sprache als Widerstand genutzt werdenkann. Unkonventionelle Themen anzureißen, neue Diskurse zu entwickelnund auf bisher nicht gegangenen Wegen politisch produktiv zu sein, istnotwendig, um die Macht des anderen mit der eigenen Macht zu begegnen.Welche dieser Positionen sich durchsetzen kann, bleibt unabsehbar. Wirdjedoch ein Diskurs mit der Hegemonialisierung einer dominanten Positi-on tatsächlich temporär geschlossen, wird die damit geschaffene Ordnungals natürlich gegeben wahrgenommen. Hier beginnt Foucault eine analyti-sche Trennung zwischen den Begriffen Macht und Herrschaft. Herrschaftdurchdringt, wie die Macht selbst, alle gesellschaftlichen Segmente. Sie trittein, wenn historisch entstandene Machtbeziehungen langfristig stabil blei-ben, schließlich erstarren und asymmetrischen Strukturen verfestigen. Diebeschriebene Spannung zwischen Gramsci und Foucault werden in der poli-tikwissenschaftlichen Literatur unterschiedlich bewertet. Weit verbreitet istdie Annahme, beide Konzepte seien aufgrund ihrer gegensätzlichen Ansätzenicht zu vereinbaren (Day 2005, Geras 1990). Andere Autoren sehen in derselektiven Kombination beider Ansätze eine Chance, die jeweiligen Lücken

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3 Anleihen aus der Foucault’schen Diskursvarianz

zu füllen und die einerseits zu starke Betonung subjektiver Wirkungskraftdurch die andererseits zu starke objektive Bestimmung der Argumentationauszugleichen (Cocks 1989). Beide Ansätze seien komplementär und könntenvon ihrer gemeinsamen Betrachtung profitieren (Kenway 1990). Bisher liegenjedoch keine konkreten Ausarbeitungen der Fusion beider Positionen vor,welche nicht eine der beiden Standpunkte in den Mittelpunkt stellt, wie esbeispielsweise bei Laclau und Mouffe der Fall ist (Laclau & Mouffe 2014).

3.4.2 Opposition und die Aufrechterhaltung von Macht

Im Hinblick auf Macht unterscheidet sich Foucaults Verständnis von Diskursvon der Definition Habermas’. Habermas Diskursbegriff ist am machtfreienRaum orientiert, der eine ideale und ausgeglichene Ausgangslage für alle amGespräch Beteiligten ermöglicht. Das bedeutet, dass eine formale Gleich-verteilung der Chancen für alle potentiellen Teilnehmer eines Diskursesgegeben sein muss (vgl. Horster 2006, S. 55). Diese beruht auf folgendenvier Bedingungen (Habermas 1984, S. 177 f.):48

1. Alle potentiellen Teilnehmer eines Diskurses müssen die gleiche Chancehaben, kommunikative Sprechakte zu verwenden, so da [sic] sie jederzeitDiskurse eröffnen sowie durch Rede und Gegenrede, Frage und Antwortperpetuieren können.

2. Alle Diskursteilnehmer müssen die gleiche Chance haben, Deutungen,Behauptungen, Empfehlungen, Erklärungen und Rechtfertigungenaufzustellen und deren Geltungsanspruch zu problematisieren, zu be-gründen oder zu widerlegen, so daß [sic] keine Vormeinung auf Dauerder Thematisierung und der Kritik entzogen bleibt (...).

48Punkt 1 und Punkt 4 stellen dabei die Voraussetzungen der idealen Sprechsituation dar.Punkt 2 beschreibt die notwendigen Eigenschaften der Diskurse, wenn sie durchset-zungsfähig sein sollen. Punkt 3 ist das bekannte Wahrhaftigkeitspostulat Habermas’für kommunikatives Handeln.

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3.4 Macht

3. Zum Diskurs sind nur Sprecher zugelassen, die als Handelnde gleicheChancen haben, repräsentative Sprechakte zu verwenden, d.h. ihreEinstellungen, Gefühle und Wünsche zum Ausdruck zu bringen. Dennnur das reziproke Zusammenstimmen der Spielräume individuellerÄußerungen und das komplementäre Einpendeln von Nähe und Di-stanz in Handlungszusammenhängen bieten die Garantie dafür, da[sic] die Handelnden auch als Diskursteilnehmer sich selbst gegenüberwahrhaftig sind und ihre innere Natur transparent machen.

4. Zum Diskurs sind nur Sprecher zugelassen, die als Handelnde die gleicheChance haben, regulative Sprechakte zu verwenden, d. h. zu befehlenund sich zu widersetzen, zu erlauben und zu verbieten, Versprechen zugeben und abzunehmen, Rechenschaft abzulegen und zu verlangen usf.Denn nur die vollständige Reziprozität der Verhaltenserwartungen, diePrivilegierungen im Sinne einseitig verpflichtender Handlungs- undBewertungsnormen ausschließen, bieten die Gewähr dafür, da [sic]die formale Gleichverteilung der Chancen, eine Rede zu eröffnen undfortzusetzen, auch faktisch dazu genutzt werden kann, Realitätszwängezu suspendieren und in den erfahrungsfreien und handlungsentlastetenKommunikationsbereich des Diskurses überzutreten.

Diskurs ist laut Habermas eine „durch Argumentation gekennzeichnete Formder Kommunikation (...), in der problematisch gewordene Geltungsansprü-che zum Thema gemacht und auf ihre Berechtigung hin überprüft werden“(Habermas 1984, S. 130 f.). Da Macht nicht immer auf der Zustimmungdurch andere beruht und auch nicht zwingend Ausdruck von Konsens ist,bedarf es, laut Foucault, für die langfristige Aufrechterhaltung von Machtbestimmter diskursiver Disziplinierungsmaßnahmen. Praktiken, Rituale oderandere Instrumente sollen die ständige Reproduktion der Machtbeziehungensicherstellen. Während im mittelalterlichen Europa die Praktik der Kör-perstrafen vorrangig war, spielen für die Ausübung von Macht und in derVerhandlung von Machtbeziehungen heute andere Verfahren die entschei-dende Rolle. Hierarchien werden mittels Überwachung des individuellen

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3 Anleihen aus der Foucault’schen Diskursvarianz

Verhaltens im öffentlichen sowie im privaten Raum, über die Belohnungoder die Bestrafung unerwünschten Verhaltens, wie Gefängnisaufenthalteoder finanzielle Sanktionen, sowie das bewusste räumliche Abschließen vonGebäudekomplexen, Straßenzügen oder Parkanlagen hergestellt. Oft reichtdie Androhung von Konsequenzen, um eine Disziplinierung zu erreichen (Fou-cault 2010). Grundlage für die Androhung von Konsequenzen oder sogar derDurchsetzung von Disziplinarmaßnahmen sind die vorherrschende Normen.Der Begriff der Norm leitet sich vom Lateinischen norma, deutsch Winkel-maß, Maßstab, Regel, Vorschrift, ab. Normen können entweder proaktivhandlungsleitend oder reaktiv handlungsdeutend sein. Normen in ihrer hand-lungsleitenden Funktion sind zunächst orientierungsgebende Erwartungenund Verhaltensregeln, welche eine Gesellschaft aufstellt, um das Handeln unddas Verhalten der Menschen untereinander vorhersehbar zu machen. Sie legendas angemessene Verhalten in sozialen Situationen fest. Normen stellen dar-über soziale Sicherheit her und helfen bei der Konfliktbewältigung. Für einebegrenzte Zeitspanne entsteht auf der Grundlage dieser handlungsleitendenNormen ein spezifischer Milieudruck der innerhalb des vorgestellten Raumdes Eigenen aufrechterhalten wird. Er ist für die Vorstellung der eigenenund mit anderen geteilten Kultur und Identität oder sogar nur für die eigenesoziale Gruppe dispositiv und weißt einen reinen Angebotscharakter auf oderer wird zwingend und mit individuellen Sanktionssystemen verknüpft. DerGeltungsgrad variiert also zwischen Kann-, Soll- und Musserwartungen, dievon sozialen Gewohnheiten über Ansprüche bis zu juristischen Vorschriftenreichen. Akteure, welche auf die Durchsetzung dieser konkreten Normendrängen, agieren somit handlungsdeutend als moral entrepreneurs. In dieserFunktion legen sie Verhaltensabweichungen anderer Personen als sozialesProblem aus und stigmatisieren die betreffenden Personen als Außenseiter(vgl. Becker 1973, S. 147 ff.). Wird eine Verhaltensweise als normenwidriggedeutet, kann sie sogar bestraft werden. Interpretieren moral entrepreneursdas Handeln anderer in Bezug auf die gegebene Normenordnung hingegenerwartungskonform, zieht das Handeln keine Konsequenzen nach sich oderwird sogar belohnt. Moral entrepreneurs können auch miteinander in Kon-

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3.4 Macht

flikt treten. Sie drängen dann auf die Festsetzung, Aufrechterhaltung undPropagierung ihrer eigenen Interpretation normativer Ordnung. Fügen sichSubjekte in gesellschaftlich hegemoniale Vorstellungen und Normen ein undakzeptieren diese, so werden diese als Ordnung stabilisiert und erscheinennormal und richtig. Äußerer Zwang anstatt freiwilliger Überzeugung kannmaximal die Duldung von Normen erreichen, weshalb der Begründung derInhalte einer Norm, neben deren Form, essentielle Bedeutung zukommt.49

In Anpassung an geänderte Kontextbedingungen können temporär als stabilwahrgenommene normative Ordnungen wieder aufbrechen. Normenwandelist damit immer auch an formelle und informelle Prozesse der Aushandlungäußerer Verhältnisse geknüpft. Auch Kommunikationssysteme nehmen Ein-fluss auf die Machtbeziehungen, wenn die Produktion und der Austausch vonZeichen, Symbolen oder anderen Botschaften auf andere Akteure einwirkt(vgl. Foucault & Seitter ca. 1996, S. 31).50 Die Ausübung der Macht bleibt beiFoucault nicht auf die Regierung oder den Verwaltungsapparat beschränkt,sondern zeigt sich in flachen Hierarchien des Alltagslebens (vgl. Foucault &Seitter ca. 1996, S. 19 f.). Die Manipulation von Präferenzen und Sichtweisenkann über die Instrumentalisierung von Räumen geschehen. Beispielsweisekönnen Symbole im Raum mehr oder weniger offene beziehungsweise subtileBotschaften transportieren. Soziale Kontrolle und Milieudruck stellen eineForm der Überwachung dar, welche über machtgeladene Diskurse im unmit-telbaren Lebensumfeld das Handeln der Akteure einschränkt und beeinflusst.Über die Verbreitung von Narrativen kann Zustimmung und Mitarbeiterzeugt werden. Je nach Organisationsgrad und Ressourcen des Akteurs,kann diese Überzeugungsarbeit mittels Personaleinsatz oder give aways nochintensiver und effektiver gestaltet werden. Für die Diskurskontrolle und die

49Riten als erlernte und immer wiederkehrende Handlungsabläufe weisen, im Gegensatzzu Normen, keine Notwendigkeit der inhaltlichen Begründung auf.

50In früheren Jahrzehnten waren die Ausschlusskriterien im Bezug auf die Verbreitungvon Texten strikter begrenzt. Veröffentlichungen waren hauptsächlich über Verlagemöglich. Die Digitalisierung und die Vernetzung über das Internet mit vielfältigenMöglichkeiten, eigene Botschaften zu verbreiten, hat dieses Feld deutlich geöffnet.

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3 Anleihen aus der Foucault’schen Diskursvarianz

Generierung von Macht stellen Regeln und Beschränkungen eine unabding-bare Voraussetzung dar. Ähnlich wie bei staatlicher Propaganda muss dieeigene Glaubwürdigkeit bewahrt werden. Erfolgreiche Propaganda formtpolitische und soziale Realitäten, muss diesen in gewissem Maß aber auchentsprechen, um glaubwürdig zu bleiben. Die Strategie besteht darin, Visio-nen aufzubauen. Diese Visionen können Wohlstand durch wirtschaftlichenAufschwung, politische Stabilität und Frieden versprechen, müssen dannaber durch konkrete ökologische, kulturelle und Infrastruktur entwickelndeProjekte erreicht werden (vgl. Jessop 2008, S. 240).

3.4.3 Analyse der Macht

Eine Gesellschaft ohne Machtverhältnisse ist nicht existent. Laut Foucaultsind die Machtverhältnisse in der Gesellschaft selbst verwurzelt und manifes-tieren sich im Handeln jedes einzelnen Akteurs und den daraus entstehendenNetzwerken. Machtstrukturen überlagern sich, beschränken oder bestärkensich gegenseitig. Es genügt deshalb nicht, sich in ihrer Analyse auf politischeInstitutionen und deren Mechanismen zu beschränken. Dieses Vorgehenwürde ausschließlich Mechanismen analysieren, welche interne Funktionenpolitischer Institutionen erhalten und deren Reproduktion sicherstellen (vgl.Foucault & Seitter ca. 1996, S. 39 f.). Foucault setzt in seinen eigenenArbeiten folglich auf der Mikroebene bei Aushandlungen jenseits forma-ler (nationaler) Politik an. Er versucht davon ausgehend, seine Kenntnisseüber die sozialen Mechanismen der untersuchten konkreten Fälle auf dieMakroebene zu übertragen und allgemeiner zu analysieren. „Der Fall einesEinzelnen war für ihn kein Einzelfall. Es war ein Fall, der bereits etwasüber Machtdispositive aussagte (...)“ (Caillat 2017, S. 64 f.). Foucault plä-diert deshalb dafür, Institutionen von den herrschenden Machtverhältnissenausgehend zu erklären, nicht umgekehrt. Um die gesellschaftliche Aushand-lungsprozesse adäquat zu erfassen, muss der Fokus auf die maßgeblichenAkteure selbst gelegt werden. Methodisch schlägt Foucault vor, für dieAnalyse der Akteure in einem konkreten Kontext und einem festgelegten

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3.4 Macht

Beobachtungszeitraum folgende Aspekte zu berücksichtigen, welche er Sys-tem der Differenzierungen nennt (vgl. Foucault & Seitter ca. 1996, S. 39 ff.).Zunächst zu beachten sind die Vorbedingungen einzelner Akteure, welcheihr spezifisches Handeln prägen und ihre Reichweite und ihren Einfluss inder Gesellschaft bedingen. Finanzielle Kapazitäten, Qualifikationen undKompetenzen, sozialer Status sowie weitere Kriterien, wie die Sozialisierung,die kulturelle Verortung oder die religiösen Orientierungen, differenzieren dasMächteverhältnis eines Milieus aus. Das Wissen um diese Kontextfaktorender Akteure ist existenziell für das umfassende und tiefgreifende Verständ-nis der Machtstrukturen. Auf der Basis dieser Vorbedingungen verfolgengesellschaftliche Akteure eigene Zielsetzungen, welche konträr zueinanderliegen können und deren Verfolgung das Verhalten anderer beeinflussenkann. Hierzu zählen, laut Foucault, unter anderen die Aufrechterhaltungvon Vorrechten, die Akkumulation von Profiten, die Einrichtung einer sta-tusbedingten Autorität oder die Ausübung einer Funktion oder eines Fachs.Die Erreichung eines Ziels wird von Foucault mit der Akkumulation vonMacht assoziiert. Instrumentelle Modalitäten beschreiben die Mittel undMedien, welche dem einzelnen Akteur zur Verfügung stehen, um seine Posi-tion zu verbessern und die eigenen Ziele zu erreichen. Ihr Einsatz beruhtauf strategischen Entscheidungen, welche auf der Prämisse beruhen, dasHandeln der Anderen für die eigenen Zwecke gezielt zu steuern. Instrumenteund Strategien stehen in einem engen Zusammenhang mit den individuellenRessourcen, über welche die Akteure verfügen, wobei die Instrumente derMachtausübung unterschiedliche Gestalten annehmen können. Neben deroffensichtlichen Anwendung von Waffengewalt oder ihrer Androhung, könnenauch subtilere Mittel, wie Überwachungssysteme, Archive und das mit ihnenverbundene Wissen, die öffentliche Verbreitung von Symbolen und andereKommunikationswege sowie implizite und explizite Regeln, Wirkung zeigen.Mächteverhältnisse können sich je nach eingesetzten Instrumenten, derenWirkungspotenzial und den darauf folgenden Reaktionen wandeln. Dabeinehmen ihre unterschiedlichen Grade der Rationalisierung entscheidendenEinfluss auf die erzielten Ergebnisse im Feld der Möglichkeiten. Je nach

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3 Anleihen aus der Foucault’schen Diskursvarianz

Kosten-Nutzen-Kalkül der Akteure wird der Einsatz von Machtverhältnissenunterschiedlich ausfallen. Als Kosten zu werten sind neben finanziellen Auf-wendungen auch die einzukalkulierenden Widerstände und Reaktionen imFeld. Zudem ist der Einsatz von Macht immer auch von den jeweiligen Kon-textfaktoren des Akteurs abhängig, also von den beschriebenen Instrumenten.Die Formen der Institutionalisierung können stark variieren. Wo ein Akteurin sich geschlossene Dispositive mit Hierarchien ausbildet, können an andererStelle komplexe Systeme entstehen oder reine Gewohnheitserscheinungenvorherrschen.51 Die Erfassung der einzelnen Akteure und ihrer individuellenVoraussetzungen muss dann um die Kenntnis ihrer Interaktionen im Raummiteinander ergänzt werden. Gemeinsam ergibt diese Menge von Akteuren,die untereinander durch institutionalisierte oder nicht institutionalisierte Be-ziehungen verbunden sind, ein Netzwerk (Schweizer 1996). Dieses Netzwerkist niemals statisch und besteht aus vielen Beziehungen auf verschiedenenEbenen, die miteinander verknüpft sind. Die Qualität, Intensität und Dauerdieser Beziehungen kann unterschiedlich hoch, stark oder lang sein. Sieverändert sich im Verlauf der Zeit und mit der Verschiebung von Machtund Diskurs im Raum. Dazwischen können auch zentrale Figuren eine Rollespielen, welche in eine Art Brückenfunktion einnehmen. Sie repräsentiereneinen aus einer Gruppe von Personen bestehenden Akteur in der Öffentlich-keit, agieren als Sprecher und stellen Beziehungen zu anderen Akteuren her.(Auch) Über sie werden Ideen im öffentlichen Raum zugänglich gemachtoder Kooperationen mit Akteuren mit ähnlichen Strategien angeworben.Andere einzelne Mitglieder der Akteursgruppe können verschiedene Funktio-nen einnehmen. Diese Funktionen reichen von anonymen Spendern bis zuTrainern, Politikern oder ähnlichen Positionen.

51Dispositive sind räumlich und zeitlich begrenzte, heterogene Anordnungen von Insti-tutionen, Gesetzen, Gefühlen oder beispielsweise Praktiken, die bei den beteiligtenAkteuren Wissen erzeugen. Das erzeugte Wissen dient den Akteuren als Entschei-dungsraster und verursacht und steuert die Diskurse (Foucault 2008).

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3.5 Ausblick – Diskurs und Macht in Le Kram

3.5 Ausblick – Diskurs und Macht in Le Kram

Während des politischen Wandels, welcher auf die Erschütterungen der Re-volution 2011 in Tunesien folgte, wurden jenseits der formalen Politik aufder lokalen Ebene komplexe, gesellschaftliche Aushandlungsprozesse undKonfliktlinien sichtbar. Nicht nur auf nationaler Ebene, sondern insbesondereauch in der Interaktion von lokalen Akteuren im öffentlichen Raum konntenpolitische Aushandlungen beobachtet werden, welche die überkommenen,postkolonialen Herrschaftsstrukturen aufbrachen und neu verhandelten. Siezeigten, dass Macht auch im Alltagsleben auf der Mikroebene, jenseits desVerwaltungsapparats und der Regierung, eine entscheidende Rolle spielt und,dass es „eine unendliche Anzahl von ständig stattfindenden Kämpfen gibt,die man nicht sieht, die unbewusst sind und von denen jeder einzigartigund auf seine Weise besonders ist“ (Caillat 2017, S. 40). Die als normalwahrgenommene Ordnung wurde auf der lokalen Ebene dekonstruiert undneu verhandelt. Machtstrukturen der Marginalisierung und Dominanz wan-delten sich. In einem evolutionären Prozess wurden die Diskurse im Viertelverändert und Identitäten neu bestimmt. Diese Neuaushandlung von Ord-nung fand auf zwei gegenläufige Weisen statt. Akteure, welche die staatlicheOrdnung und Einflussnahme aufrecht erhalten wollten und sich für einedemokratische Transition einsetzten, versuchten unter anderen über die(Re-)Produktion von Wissen die lokale Gesellschaft zu steuern. Insbesonderezivilgesellschaftliche Akteure setzten sich als lokale Stellvertreter des Staatsfür die Regulierung des Zusammenlebens ein. Sie bemühten sich, jenseits derZentralgewalt, den tunesischen Staat aufrecht zu erhalten (vgl. Wagenaar2011, S. 125). Um der Krise mangelnder staatlicher Souveränität zu begegnen,stärkte der Staat dieses eigenmächtige Handeln und die Versuche individu-eller Partizipation sogar und stützte sich lokal und auch national auf dietunesische Zivilgesellschaft. Foucault bezeichnet diese Form gesellschaftlicherSteuerung als gouvernmentalité. Dieser Versuch zivilgesellschaftlicher Kräfte,auf lokaler Ebene die Führung zu übernehmen, fand jedoch auch politischeGegner. Mittels der gleichen Methoden gesellschaftlicher Führung wurde von

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3 Anleihen aus der Foucault’schen Diskursvarianz

einer zweiten Akteursgruppe die nationale politische Souveränität in Fragegestellt und aktiv unterlaufen, um eine eigene Form der Regierung im Loka-len zu etablieren. Insbesondere die neugegründete lokale Miliz versuchte, aufeine solche lokale Selbstverwaltung hinzuwirken. Ähnlich der von Foucaultals Pastoralmacht bezeichneten Machttechnik, forderten die Milizionäre bei-spielsweise Individuen auf, ihren Glauben zu leben und diesen Glauben lautzu äußern. Sie plädierten dafür, die Lösung für Tunesiens wirtschaftliche,politische und soziale Krise in der Gemeinschaft der Muslime zu suchen,während sie sich gleichzeitig selbst als die einzige um die Bürger besorgte undbemühte Führungsinstanz darstellten. Um die Einwohner des Viertels fürsich zu gewinnen, nutzten sie unter anderem kulturelle Praktiken und stelltenetablierte lokale Identitäten in Frage, nur um die eigenen Identitätsangebotewieder an die Bürger heranzutragen (vgl. Foucault 1987, S. 248). Dies zeigtdeutlich, dass Auseinandersetzungen nicht um demokratische Werte, wieGerechtigkeit oder Freiheit, geführt werden müssen (vgl. Caillat 2017, S. 49).Im Gegenteil können Auseinandersetzungen die Stabilität und Sicherheit desLandes sowie die erwartete, demokratische Transition sogar gefährden. Wiedieser Prozess im Einzelnen während des Beobachtungszeitraums ablief undwelche Diskurs- und Machtverschiebungen zu beobachten waren, wird abKapitel 6 ab Seite 149 beschrieben. Zunächst wird im nachfolgenden Kapitel4 ab Seite 103 noch die methodische Herangehensweise der Datengewinnungzum diskursiven Wandel und der Aushandlung von Macht in Le Kram kurzdargestellt.

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4 Methoden und Datengrundlage

4.1 Forschungsdesign

Die vorliegende Studie soll ein differenziertes Bild der politischen Aushand-lungsprozesse auf der lokalen Ebene des Stadtviertels Le Kram liefern. Daein Herantreten an den Untersuchungsgegenstand aus unterschiedlichenPerspektiven den Erkenntnisgewinn maximiert, wird die Methode der teil-nehmenden Beobachtung vor Ort mit qualitativen ethnografischen Interviewskombiniert. Die so gewonnenen Daten werden zusätzlich mit visuellen Da-ten aus Fotografien des öffentlichen Raums ergänzt und im Kontext vonzusätzlichen Informationsquellen, wie der Sekundärliteratur, miteinander inBeziehung gesetzt. Die Interviews mit Bewohnern beider Teile des Stadtvier-tels Le Kram, darunter Mitglieder oder Mitarbeitende von dort ansässigenVereinen und Organisationen, dienen der Erfassung von Machtstrukturen,Einstellungen, Diskursen und individuellen Erfahrungen mit den Aushand-lungsprozessen der lokalen Ebene. Die teilnehmende Beobachtung und diefotografische Dokumentation stellen über den Körper ausgetragene Prak-tiken und Gegenstände im öffentlichen Raum in den Fokus. Von Interesseist in beiden Fällen nicht die statistische Auswertung dieser Phänomene,sondern ihr grundsätzliches in Erscheinung treten sowie die Erfassung vonOrdnungen und wiederkehrenden Mustern. Der Studie liegt folglich ein trian-gulatives Untersuchungsdesign zugrunde, welches verschiedene Datenartenauf mehreren Analyseebenen produziert. Durch diese Kombination wirddie differenzierte Betrachtung unterschiedlicher Aspekte des Forschungs-gegenstands ermöglicht (vgl. Flick 2004, S. 309), wodurch ein komplexesBild entsteht (Lamnek 2005). Die Wahl dieses mixed methods design bie-

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4 Methoden und Datengrundlage

tet den Vorteil der Datenvalidierung und -begründung, da die gewonnenenErkenntnisse mit weiteren Daten abgesichert werden. Ziel ist dabei nichtdie Darstellung einer objektiven Wahrheit. Der Analyse soll mehr Breiteund Tiefgang ermöglicht werden. Der aktuelle Trend in der empirischenSozialforschung tendiert zu Methodentriangulationen aus einer Verbindungvon qualitativen mit quantitativen Methoden. Üblich sind auch Triangulatio-nen innerhalb eines der beiden Zugänge, zum Beispiel die Kombination vonausschließlich qualitativen Ansätzen. Weitere Formen und Kombinationensind die Daten-, Investigator- oder Theorientriangulation (vgl. Denzin 2009,S. 301 ff.). Zu beachten ist, dass alle kombinierten Verfahren gleichwertiggewichtet sind. Die drei in dieser Studie gewählten Datenzugriffe sollen imFolgenden dargestellt werden.

4.2 Qualitative Interviews

Eine grundlegende Datenquelle der vorliegenden Arbeit stellen verbale Datenaus qualitativen Interviews dar. Zunächst war es geplant, über halbstandar-disierte Leitfadeninterviews subjektive Sichtweisen und persönliche Erfah-rungen der Interviewpartner zu erfassen. Von diesem Vorgehen musste nachersten Felderfahrungen Abstand genommen werden. Problematisch könnenInterviewsituationen aus verschiedenen Gründen werden, unter anderen dann,wenn die befragte Person nicht mit der Form und dem Ablauf von Interviewsvertraut ist. Der hauptsächliche Hinderungsgrund lag in dieser Studie in denkünstlichen und arrangierten Gesprächssituationen, in welchen die Fragenund Antworten asymmetrisch zwischen dem Interviewer und den Befragtenverteilt sind. Sie erfordern besonderes Vertrauen und Offenheit auf Seiten derBefragten. Diese Basis war nicht gegeben, da nach Jahrzehnten autoritärerHerrschaft und zum Teil gewaltsamer Unterdrückung der Presse- und Mei-nungsfreiheit ein berechtigtes Misstrauen bestand, (bei konfrontativen oderprovokativen Fragen zu politischen Themen) eigene Ansichten kundzutun.Hinzu kam, dass Befragungssituationen negative Assoziationen mit gerichtli-chen oder polizeilichen Verhören hervorrufen konnten oder Vorbehalte der

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4.2 Qualitative Interviews

Probanden bestanden, ob hinter der Interviewanfrage, ein Informant derSicherheitsbehörden stand. Während manche Interviewpartner direkt, lautund rückhaltlos ihre Meinung äußerten, verfielen andere Gesprächspartnerin bedeutsames Schweigen, wenn ungewollte Zeugen das Gespräch mitver-folgten oder ihre Abwesenheit nicht ausgeschlossen werden konnte. Dazukamen störende Einflüsse von außen, wie Versuche, stattfindende Gesprächeaktiv zu unterbinden. Diese wurden sowohl von Seiten der Behörden un-ternommen, als auch durch die Interviews missbilligende Mitbürger. Nebendiesen Faktoren können Angst, Desinteresse oder Zeitmangel die Teilnahmean einem Interview verhindern oder zum Abbruch eines Gesprächs führen(vgl. Knoblauch 2003, S. 111). Inhaltliche Verzerrungen entstehen außerdem,wenn die Fragen vom Interviewpartner als eine Art Leistungstest verstandenwerden, bei denen eine bestimmte Antwort als erwünscht vorausgesetzt wird.Mehrere dieser Hindernisfaktoren haben im Fall der vorliegenden Arbeitdazu geführt, dass die ursprüngliche Strategie, halbstandardisierte Leitfa-deninterviews zu führen, aufgegeben werden musste. Die massiven Problemein der Anwendung der Fragestellungen und die dabei aufgetretenen Irrita-tionen der Interviewpartner haben die Datengewinnung deutlich erschwertoder ganz verhindert. Sie ließen keine validen Ergebnisse der Interviewsmehr erwarten. Um dem im ersten Kapitel geschilderten Erkenntnisinteressegerecht werden, wurde die Methode schließlich zugunsten der geeigneterenethnografischen Interviews aufgegeben. Im Untersuchungsrahmen von 2011bis 2014 wurden insgesamt 86 ethnografische Interviews mit Vertretern vonacht lokalen Vereinen und Organisationen sowie anderen Einzelpersonengeführt. Die Methode ethnografischer Interviews soll auf den nächsten Sei-ten kurz dargestellt werden. Der Interviewleitfaden mit Beispielfragen derethnografischen Interviews befindet sich im Anhang ab Seite 347.

4.2.1 Ethnografische Interviews

Interviewstruktur. Während arrangierte Gesprächstermine wenig erfolgver-sprechend verliefen, ergaben sich spontane Gelegenheiten zu kurzen, intensi-

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4 Methoden und Datengrundlage

ven Gesprächen im lokalen Umfeld. Diese kamen während der teilnehmendenBeobachtung oder während der Erfassung visueller Daten durch die foto-grafische Dokumentation zustande (vgl. Flick 2002, S. 141). Die Motive derinterviewten Personen, ein Gespräch zu suchen, konnten in einigen Fällenerfragt werden. Häufig bestand Neugierde über die Anwesenheit als Forscherim Viertel oder Missbilligung über die fotografische Dokumentation vonSymbolen und Praktiken. Außerdem zeigten sich viele Passanten stolz aufdie Revolution und die eigenen Errungenschaften seit dem Jahr 2011 undsuchten aktiv das Gespräch, um über ihre persönlichen Erfahrungen sprechenzu können. Die Herausforderung bestand darin, diese beiläufigen Gesprächeabzugrenzen und als Interviews zu gestalten. Spradley beschreibt diese Formder Interviewführung als freundliche Unterhaltungen, in die nach und nachneue Themen einführt werden. Er nennt dieses Vorgehen kontrollierte Elizi-tierung. Ethnografische Interviews sollten folgende Bestandteile aufweisen(vgl. Spradley 1979, S. 59). Zunächst wird dem Interviewten ein aus derFragestellung resultierender Zweck des Gesprächs vermittelt. Damit wirdeine Richtung angegeben, in welche sich die Unterhaltung entwickeln soll.Damit übt der Interviewende eine gewisse Kontrolle über den Verlauf aus,um das Wissen des Interviewpartners gezielt offenzulegen. Sollten mehrereGespräche mit einer Person stattfinden, wird dieses Vorgehen bei jedemTreffen wiederholt. Auf die Eingangsphase folgen, gemäß Spradley, die Dar-legung und Erläuterung des Forschungsprojektes, welche allen Beteiligtenihre Rolle im Interview vermitteln. Zunächst werden den Interviewten inverständlicher Sprache und ohne wissenschaftliche Fachbegriffe allgemeineErklärungen zum Forschungsprojekt nahegebracht. Daraufhin folgt die Frage,ob der Interviewte Aufnahmen oder schriftliche Notizen erlaubt. Der nächsteSchritt bezieht sich auf die sprachlichen und kulturellen Kompetenzen desInterviewpartners. Dieser soll aus seiner eigenen Perspektive heraus berich-ten, um seine Lebenswelt für den Interviewer von innen heraus erfahrbarzu machen. Bei wiederholten Gesprächen mit denselben Interviewten übereinen längeren Zeitraum hinweg werden diese durch die gesammelte Erfah-rung zu Experten. Die Interviewpartner können dann mit weiterführenden

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4.2 Qualitative Interviews

Aufgaben, wie dem Zeichnen von Karten, betraut werden. Diese wieder-holten Interviews werden im Verlauf der Zeit immer formeller abgehaltenund erfordern dann häufig auch eine spezifischere Heranführung des Inter-viewpartners an das Thema. Die von Spradley beschriebene Interviewformist halbstandardisiert mit drei verschiedenen Strukturierungsgraden. Zuerstwerden die von vornherein festgelegten Fragen, eventuell mit vorgegebenenAntwortmöglichkeiten, gestellt. Zweitens werden Fragen mit offenem Aus-gang und drittens die spontanen Fragen besprochen. Die drei Haupttypenvon über 30 Fragearten, welche Spradley herausarbeitet, sind die deskripti-ven, strukturellen und kontrastiven Fragen. Auf deren Basis schlägt er einAblaufschema für die einzelnen Gespräche vor. Zu Beginn der Gesprächesollen zunächst deskriptive Fragen in großen Runden zum gesamten Themagestellt werden. Deskriptive Fragen verlangen einfache Beschreibungen undsollten in allen Interviews vorkommen. In dieser Arbeit lautete eine dieserFragen: Wie hat sich die Revolution in Le Kram zugetragen? Anschließendzielen deskriptive Fragen in kleinen Runden auf verschiedene Aspekte derLebenswelt des Interviewten ab: Was bedeutet das Symbol XY für Sie? Auchdeiktische Fragen zu sozialen Handlungen, Gegenständen oder Symbolenbieten sich hierbei an (vgl. Ehrhardt & Heringer 2011, S. 147).52 Der zweiteSchritt der strukturellen Fragen besteht darin, grundsätzliche Aussagenüber die grundlegende Wissensordnung des Informanten zu erfassen: WelcheThemen beschäftigen die Bewohner seit dem Umsturz 2011? StrukturelleFragen gehen über die reine Beschreibung hinaus und sollen klären, wound wie Grenzen gezogen werden. Abgeschlossen wird das Gespräch mitKontrastfragen: Wie unterscheidet sich Le Kram Est von Le Kram Ouest?(vgl. Knoblauch 2003, S. 117 f.). Sie geben Aufschluss über die Bedeutungvon Objekten oder Ereignissen aus der Lebenswelt der Informanten (vgl.Spradley 1979, S. 59 f.). Suggestivfragen müssen unterlassen werden, um die

52Die Deixis ist ein Fachbegriff der Semantik. Sie bezeichnet die Bezugnahme auf Subjekte,Orte oder Gegenstände, unter anderem in einem temporalen Kontext. Die Verwendungvon Ausdrücken wie ich und du, hier und dort, gestern, heute und morgen dient hierbeider Verortung und Orientierung des Sprechers im Verweisraum.

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4 Methoden und Datengrundlage

Validität der Daten nicht zu gefährden.

Interviewregeln. Wie bei anderen Interviewformen gelten für ethnografi-sche Interviews Regeln. Dem Interviewpartner muss Anonymität zugesichertund die Möglichkeit zum Nachfragen, Unterbrechen, Erläutern oder Rich-tigstellen eingeräumt werden. Auch eine Erlaubnis, die gesammelten Datenzu transkribieren und für die wissenschaftliche Arbeit zu verwenden, istnotwendig. Das „Statement on Ethics“ der American Anthropological As-sociation (AAA) fordert, dass der Forschende den Zweck seiner Forschungoder mögliche Implikationen offenlegt. Ebenso besteht die AAA auf eineEinverständniserklärung des Interviewpartners: „Minimally, informed con-sent includes sharing with potential participants the research goals, methods,funding sources or sponsors, expected outcomes, anticipated impacts ofthe research, and the rights and responsibilities of research participants.It must also include establishing expectations regarding anonymity andcredit“ (American Anthropological Association 2012, S. 7). Die Einverständ-niserklärung sollte im Voraus eingeholt werden. In Fällen, in denen derspezifische Forschungskontext es erfordert, zum Beispiel in Hinblick aufsicherheitsrelevante Fragen, kann sie auch im Nachhinein eingeholt werden.Ein verschriftlichtes Einverständnis ist nicht notwendig. Das Format ist nichtentscheidend.

Interviewrahmen. Die Vorteile ethnografischer Interviews liegen in der offengestalteten Gesprächsführung und der starken Orientierung der Gesprächean den situativen Anforderungen im Forschungsfeld. Die Interviews findenunmittelbar im Lebensbereich der Befragten statt und nicht in sogenanntenweißen Räumen. „Um wirklich gute Gespräche zu bekommen, muß [sic.]man also in die Lebenswelt dieser betreffenden Menschen gehen und darf sienicht in Situationen interviewen, die ihnen unangenehm oder fremd sind“(Girtler 2001, S. 154). Durch die Einführung der ethnografischen Interviewskamen in dieser Studie Gespräche leichter zu Stande, wobei gleichzeitigden Gesprächsinhalten mit weniger Skepsis begegnet wurde. Diese Gras-

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4.2 Qualitative Interviews

hütteninterviews geben Aufschluss über die soziale Ordnung, in welcherdie Interviewten sich bewegen oder mit der sie in Verbindung stehen. Siezwingen den Probanden nicht die Wirklichkeit und Vorstellungswelt desWissenschaftlers, welcher die Fragen formuliert hat, auf (vgl. Girtler 2001,S. 155). Ziel dieser Form der Interviewführung ist es, den Sinn von Prak-tiken zu verstehen. Deshalb wurden zusätzlich zu den verbalen und denpersonenbezogenen Daten, wie Geschlecht, Alter, Sprache, Kleidungsstiloder Wohnort, auch die Merkmale des Orts und der jeweiligen Situationnotiert. Eigene Bezeichnungen der Interviewpartner für Gegenstände, Aus-hänge, Ereignisse oder Symbole, wurden als Begleitdaten in die Analyseeinbezogen. Dieser offene Interviewrahmen stellte sich als recht anspruchs-voll heraus. Spontane Gespräche im tunesischen Dialekt zu führen, war diegrößte Herausforderung. Zu diesem Zweck und aus Sicherheitsgründen, warwährend der Feldforschung meist ein Dolmetscher anwesend, der bei Bedarfeinzelne Wörter oder Phrasen übersetzen konnte. Die Aufrechterhaltung derGespräche stellte eine weitere Herausforderung dar. Passanten, mit denenGespräche geführt wurden, standen durch Termine unter Zeitdruck. DieAtmosphäre im Forschungsfeld war angespannt. Interviewpartner wollten indieser Situation nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen und verabschiedetensich hastig, wenn weitere Personen das Gespräch, wenn auch nur von weitem,verfolgten. Dieses Phänomen heißt in der Fachliteratur counter-surveillance(vgl. Sökefeld & Strasser 2016, S. 168). In anderen Fällen konnten sich sichlängere und intensivere Diskussionen entfalteten. Zur Rolle des Forschen-den während dieser Diskussionen gibt es in der Literatur unterschiedlicheAnsätze. Während Merton und Kendall nachdrücklich empfehlen, die eige-ne Meinung zurückzuhalten und eine reine Zuhörerrolle einzunehmen, umkeine Unwahrheiten seitens der Interviewten zu provozieren (vgl. Merton& Kendall 1979, S.182), zweifelt Girtler diese Schlussfolgerung an. Für ihnstehen die Vorteile einer echten Kommunikationssituation im Vordergrund,welche die Dynamik des Gesprächs erhalten und dieses intensivieren kann(vgl. Girtler 2001, S. 159).

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4 Methoden und Datengrundlage

Selektionskriterien. Hinsichtlich der Selektionskriterien der Interviewtenwurde versucht, Personen aus beiden Teilen des Viertels zu erreichen. DerSchwerpunkt lag auf der Befragung aktiver Mitglieder sowie der passivenUnterstützer der identifizierten Akteursgruppen. Dabei wurden deren Agen-den und Strategien erfasst. Abhängig von der personellen Zusammensetzungeinzelner Akteursgruppen, schwankt die Zahl der befragten Personen nachGeschlechtszugehörigkeit. Während in den Jugendeinrichtungen vermehrtFrauen aktiv waren, blieb die Miliz von jungen Männern dominiert. Zusätz-lich zu diesen Interviews wurden Einzelpersonen aus dem gesamten Viertelzu den beobachteten Symboliken und Praktiken und ihren Einstellungenbezüglich der Akteursgruppen befragt. Hierbei wurde versucht, verschiedeneAltersgruppen, Geschlechter und Einkommensschichten einzubeziehen.

4.2.2 Aufzeichnung und Auswertung der Interviews

Inhaltliche Dokumentation und Auswertung. Zu Beginn der Forschungsar-beit war geplant, alle geführten halbstandardisierten Leitfadeninterviewsauf Tonband oder Video aufzuzeichnen und anschließend zu transkribieren.Nach ersten Versuchen, Gespräche zu arrangieren und Interviews zu führen,musste davon Abstand genommen werden. Die Entscheidung wurde ausmehreren Gründen getroffen. Die gewählte Methode der halbstandardisiertenLeitfadeninterviews stellte sich, wie bereits beschrieben, als nicht zielführendheraus. Die Tonband- oder Videoaufnahmen waren von den Interviewpart-nern nicht erwünscht. Die Nachfrage führte aus unterschiedlichen Motivenzur Absage oder zum Abbruch der Gespräche. Dazu kamen persönlicheSicherheitsbedenken. Im Zuge einer Personenkontrolle der tunesischen Poli-zei während einer Demonstration von Sicherheitskräften auf dem Place dela Kasbah im Zentrum der Hauptstadt Tunis wurde das gesamte an die-sem Tag gesammelte Material konfisziert und die Aufnahmen von verbalenund visuellen Daten von den Datenträgern gelöscht. Da der Fokus auf derinhaltlichen Auswertung der Gespräche lag, stellte die Problematik einergenauen linguistischen Aufzeichnung und Transkription der Interviews kein

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4.2 Qualitative Interviews

großes Hindernis dar. Die als Ersatz gewählte Form der Niederschrift erfolg-te als kondensierte Darstellungen des Gesprächsverlaufs in Stichpunkten,Sätzen sowie Zitaten. Wo möglich erfolgte die Verschriftlichung unmittelbarwährend der Gespräche oder häufiger zeitnah danach. Zudem enthaltendie Niederschriften der Interviews eigene Kommentare und Überlegungensowie kurze Interpretationsansätze, die deutlich gekennzeichnet wurden. Dieerhobenen Daten wurden folglich keiner systematischen Textanalyse unter-zogen. Vielmehr wurde ein offener und explorativer Zugang gewählt, umdie Gespräche im Hinblick auf das zu untersuchende Phänomen in ihrerGanzheit zu erfassen. Forschungshypothesen wurden im Verlauf der Arbeitbewusst nicht angepasst, um die Forschungsergebnisse nicht zu verfälschen(vgl. Spradley 1979, S. 92).

Sprachliche Dokumentation und Auswertung. Da nicht die sprachlichenDetails Gegenstand der Untersuchung waren, sondern die Einstellungen, dieErläuterungen von Symbolen, die Erforschung von Praktiken und andererAspekte der Lebenswelt, war es, wie oben beschrieben, nicht zwingend not-wendig, den detaillierten Wortlaut aller Interviews auf Tonband festzuhalten.Um den Erfordernissen der Ausgangslage im Forschungsfeld gerecht zu wer-den und gleichzeitig den jeweiligen Erkenntnisgewinn zu dokumentieren,wurden als Kompensation Dokumentationsbögen mit Gedächtnisprotokollenerstellt. Sie geben das Ablaufschema des Gesprächs wieder und halten dieGesprächsinhalte und Kernaussagen der Interviewpartner fest. Sie werdenergänzt mit den wichtigsten personenbezogenen Daten, dem Kontext der In-terviewsituation sowie situationsbedingten Ortsmerkmalen (vgl. Abbildung4.1 auf Seite 112).Bei der schriftlichen Fixierung der Interviews in diesen Gedächtnisprotokol-len und Dokumentationsbögen wurde der tunesische Dialekt ins Deutscheübersetzt und der Standardsprache angenähert. Zentrale arabische oder fran-zösische Kernbegriffe wurden in der Dokumentation im Original beibehalten,um diese später einer genaueren Analyse unterziehen zu können. Linguisti-sche Besonderheiten der Sprecher wurden knapp notiert, sprich, ob eher die

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4 Methoden und Datengrundlage

Abbildung 4.1: Dokumentationsbogen

arabische Hochsprache oder der tunesische Dialekt verwendet wurde undinwieweit französische oder englische Einflüsse hörbar waren. Diese können

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4.2 Qualitative Interviews

als Indikatoren einen Hinweis auf die Herkunft, das Selbstverständnis unddie Selbstverortung des Sprechenden geben. Da die Interviews mehrheitlichim tunesischen Dialekt stattfanden, kann es zu Missverständnissen undUnklarheiten bei der Übersetzung kommen. Insbesondere bei der Überset-zung der Begriffe Raum, Macht, Norm, Laizität und Säkularität in dasArabische und aus dem Arabischen musste der Kontext und die Verwendungsorgfältig in Betracht gezogen werden. In einigen Interviews wurden dieseund weitere Schlüsselbegriffe im Arabischen von den Interviewpartnern inunterschiedlichen Variationen beziehungsweise ohne klare inhaltliche Ab-grenzung voneinander verwendet.Raum. Die korrekte arabische Übersetzung von Raum müsste im Rahmendieser Studie al-fad. a clauten, um den Begriff Raum klar von dem Begriff desOrtes, arabisch al-makan, abzugrenzen. Eine überwiegende Anzahl der Inter-viewpartner hat während der Gespräche über den öffentlichen Raum, arabischal-fad. a c al-cam, jedoch die Wendung öffentlicher Ort, arabisch al-makanal-cam, verwendet. Inhaltliche Klarheit brachte in diesen Gesprächssituationdie in Tunesien übliche Verwendung des Französischen, hier espace publicfür den öffentlichen Raum in Abgrenzung von lieu für den Ort.Macht. Im Hinblick auf den Begriff der Macht vermittelten die von denInterviewpartnern im Arabischen verwendeten, scheinbaren Synonyme zu-sätzlich tiefere Einsichten über ihre spezifische Interpretation von Macht. Sieverwendeten für Macht beispielsweise den arabischen Begriff quwa im Sinnvon Stärke, den arabischen Begriff qudra im Sinn von Leistungsfähigkeitoder Vermögen, den Begriff sult.a im Sinn von Herrschaft, Gewalt, Obrigkeit,den Begriff dawla als Staatsmacht oder al-nufudh im Sinn von Ansehen undEinfluss.Norm. Die arabischen Begriffe al-ikhlaq für Moral oder al-micyar für Normwurden von den Interviewpartnern nicht verwendet. Sie wurden von ihnen,auch in Gesprächen, die im tunesischen Dialekt geführt wurden, immer mitdem französischen Begriffen morale und norme ersetzt.Laizität und Säkularität. Begriffliche Unklarheiten abseits der Kernbegriffedieser Studie fielen außerdem in Bezug auf die Verwendung der Begriffe

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4 Methoden und Datengrundlage

Laizismus beziehungsweise Laizität53 und Säkularismus beziehungsweiseSäkularität54 durch die Gesprächspartner auf. Im Arabischen wurde derBegriff calmaniyya gebraucht, auch wenn über unterschiedliche Konzeptegesprochen wurde. Diese Verwendung war insofern korrekt, als im Arabi-schen keine Differenzierung üblich ist. Häufig war es der Fall, dass beideBegriffe durch die Interviewteilnehmer auch im Französischen inhaltlichsynonym verwendet wurden und ihnen der Unterschied der Konzepte nichtbekannt war. In allen diesen Fällen musste, um Eindeutigkeit zu generieren,über die persönliche Interpretation und Definition der Gesprächspartner voncalmaniyya gesprochen werden.

53Der Begriff des Laizismus, französisch laïcisme, wurde durch den französischen Päd-agogen und Politiker Ferdinand Édouard Buisson (1841–1932) als Gegenbegriff zumKlerikalismus geprägt. Laizismus beschreibt eine im 19. Jahrhundert entstandeneHaltung, welche eine institutionelle Trennung zwischen Staat und Religion fordertund in ihrer radikalen Interpretation auch jede religiöse Einflussnahme auf staatlicheInteressen ablehnt und die religiöse Betätigung in den privaten Bereich verbannt. Dermoderne Begriff Laizität, französisch laïcité, grenzt sich von dem ideologisch aufgela-denem Charakter des Laizismus ab. Er beschreibt den Zustand eines weltanschaulichneutralen Staats, der nicht kirchenfeindlich eingestellt ist.

54Unter Säkularismus, französisch sécularisme, wird in der Politikwissenschaft der histo-risch fortschreitende Bedeutungsverlust der Religion in der Gesellschaft verstanden.Der Begriff beinhaltet eine negative Konnotation, da dieser Prozess in kirchlichenKreisen als gesellschaftlicher Verfall betrachtet wird. Die Säkularität, französischsécularité, im Sinn einer formalrechtlichen Trennung von Staat und Religion, wie sie inder Demokratieforschung als Voraussetzung für Demokratie postuliert wird, existiertde facto nicht. Verschiedene säkulare Rechtsstaaten in Europa erheben beispielsweiseKirchensteuern, verfügen über eine Staatskirche oder erkennen die kirchliche Eherechtlich an. In der Praxis erfordert Demokratie somit nicht unbedingt eine strikteTrennung von Religion und Staat, sondern die Weltanschauungsneutralität des Staates.Diese steht einem Zusammenwirken von Politik und Religion nicht entgegen (Künkler& Leininger 2010).

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4.3 Fotografische Dokumentation

4.3 Fotografische Dokumentation

Die Erhebung visueller Daten als Ergänzung der verbalen oder akustischenDaten setzt sich in der Sozialwissenschaft immer mehr durch, da sie „sehrviel mehr und präzisere Kontextinformation über das raumzeitliche Umfeld“beitragen kann (Knoblauch 2003, S. 147). Fotografien als Datenträger sindvon Vorteil, wenn es darum geht, ein Setting darzustellen oder Gegenständezu dokumentieren. In dieser Studie wurden architektonische Besonderheiten,Graffitis, Kleidungsstile, Symbole und Denkmäler festgehalten. Über dieseobjektbezogene Aufzeichnung konnte der Wandel in der Strukturierung desRaumes während des Beobachtungszeitraums nachvollzogen werden. Foto-grafien boten die Möglichkeit, das Forschungsinteresse in mehreren Schrittenselektiv und gezielt auf ausgewählte Aushandlungsprozesse einzugrenzen.Die Auswahl der fotografierten Objekte wurde mit der Konkretisierungdes Forschungsinteresse verfeinert. Diese Selektivität muss immer kritischhinterfragt werden. Die subjektive Voreingenommenheit des Forschenden beider Erfassung eines Gegenstandes und das Risiko, Fotografien als Abbildungder Wirklichkeit wahrzunehmen, dürfen nicht außer Acht gelassen werden(vgl. Harper 2004, S. 406 ff.). Wenn das Wissen über die Konstruktion derFotografien jedoch bewusst in die Erhebung und Analyse einfließt, stellenFotografien eine sinnvolle Ergänzung des Datenmaterials dar (Clifford &Marcus 1986). Eine weitere Besonderheit, welche bei der Erhebung visuellerDaten in Erwägung gezogen werden muss, ist die soziale und technischeKonstruktion der Bilder. Unter sozialer Konstruktion ist die besondere Selbs-termächtigung in der Position des Forschenden zu verstehen, der das Rechtin Anspruch nimmt, untersuchte Menschen zu fotografieren und als Gegen-stand der Forschung zu repräsentieren. Da in dieser Studie Fotografien imöffentlichen Raum an zum Teil großen Plätzen aufgenommen wurden, wares im Einzelfall nicht möglich und sinnvoll, die Zustimmung aller beteiligtenPersonen einzuholen. Bei der Auswahl der Abbildungen für die Veröffent-lichung wurde deshalb und aus Gründen der Sicherheit bewusst auf dieVerwendung von Fotografien verzichtet, welche Personen zeigen. Die techni-

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4 Methoden und Datengrundlage

sche Konstruktion der Bilder bezieht sich auf die Wahl des Bildausschnittesoder die Belichtung. In jede Aufnahme fließt über deren Einstellung eineHypothese über den Gegenstand ein. Um Verzerrungen entgegenzuwirken,wurde darauf geachtet, zunächst einen möglichst großen Bildausschnitt zuwählen, um den räumlichen Kontext des Gegenstands abzubilden. Erst ineinem zweiten Schritt wurde danach der zu dokumentierende Gegenstand imDetail fotografiert. Datum, Ort und eine Beschreibung der Gesamtsituationwurden zu den Fotografien ebenfalls notiert. Konkret bedeutet dies, dasseine Aufnahme der gesamten Mauer der Aufnahme des konkreten Graffitisauf dieser Mauer vorausging. Da die Stimmung für die Interpretation derBilder keine Rolle spielte, sondern der Inhalt der Texte oder Tags im Fo-kus stand, konnte auf Feinheiten in der Belichtung verzichtet werden (vgl.Harper 2004, S. 406 ff.). Während der fotografischen Dokumentation trateneinige Hindernisse auf. Das Aufstellen einer stationären Fotokamera warim Feld, trotz offizieller Forschungserlaubnis, nicht möglich. Zu langes Ver-weilen an einem Ort und zu offensichtliches Fotografieren erregte mitunterMisstrauen und offene Ablehnung in der Bevölkerung. Passanten versuchten,das Abfotografieren bestimmter Gegenstände zu verhindern, die Kamera zukonfiszieren oder die vorhandenen Daten zu löschen. In einigen dieser Fällekonnte die Handlungsmotivation der beteiligten Passanten und Polizisten inanschließenden Gesprächen mit allen Beteiligten geklärt werden. Vorgebrachtwurde das Missfallen, die Fotografien könnten zur Diskreditierung des Stadt-viertels auf Facebook veröffentlicht werden. Die Polizeibeamten lehnten esab, Kritik an ihrer Arbeit an die breite Öffentlichkeit gelangen zu lassen odersie äußerten persönliche Sicherheitsbedenken durch das Bekanntwerden ihrerIdentität in den Medien. Um die fotografischen Daten dauerhaft zu sichern,musste der Erfassungsprozess mehrfach unterbrochen und die Datenträgergewechselt werden. In einigen Situationen war es im Forschungsfeld nur ausdem geöffneten Autofenster heraus möglich zu fotografieren, um tätlicheÜbergriffe auszuschließen und den Ort zügig verlassen zu können.

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4.4 Weitere Methoden der Datenerhebung

4.4 Weitere Methoden der Datenerhebung

4.4.1 Teilnehmende Beobachtung

Eine weitere Methode der Datenerhebung stellte die teilnehmende Beob-achtung im öffentlichen Raum beider Teile des Stadtviertels Le Kram dar.Dabei wurde bewusst ein Prozess der Konkretisierung und Konzentrationauf wesentliche Aspekte des Forschungsinteresses durchlaufen (vgl. Flick2002, S. 202). Nach der Auswahl des Settings galt es zunächst, Orientierungim Feld zu finden und es in seiner Komplexität zu erfassen. Dies geschahmittels deskriptiver Beobachtung und unspezifischer Beschreibungen desRaums. Diese Offenheit spiegelt sich auch in den Feldnotizen wider. Eswurde bewusst auf vorstrukturierte Beobachtungsbogen verzichtet, um dieSensibilität für Neues zu erhalten, die Wahrnehmung nicht einzuschränkenoder Unerwartetes zu übergehen. Als zweiter Schritt folgte in weiteren For-schungsaufenthalten eine fokussierte Beobachtung, um die Perspektive aufausgewählte Prozesse und Problematiken weiter zu verengen. Abschließendwurde die Datenerhebung in einem dritten Schritt durch die selektive Be-obachtung vervollständigt, indem weitere Belege für zuvor erhobene Datengesucht wurden, bis eine theoretische Sättigung erreicht war. Als problema-tisch stellten sich mehrere Aspekte heraus, darunter der Feldzugang und dieZeitpunkte des Zugangs, die fremde Kultur und Sprache, das Misstrauen unddie Ablehnung der Bevölkerung gegenüber der Anwesenheit von Ortsfremdenim Viertel, die teilweise Erforschung in der Retrospektive und die gezielteBeobachtung von selten auftretenden Handlungsweisen. In vielen Fällen kames zur Kontaktaufnahme mit Einheimischen in Cafés oder auf öffentlichenPlätzen. Die bewusste Gestaltung dieser zufälligen Gespräche als ethno-grafische Interviews und die damit einher gehende partielle Verwicklungin das Geschehen, entspricht der Rolle eines teilnehmenden Beobachters.Der Methodenauswahl lag die Annahme zu Grunde, dass Praktiken besseraus der Innenperspektive beobachtet, als erfragt werden können, zumalsie häufig unbewusst geschehen. Die teilnehmende Beobachtung erlaubt es

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4 Methoden und Datengrundlage

den Forschenden, Kontextinformationen zu sammeln, welche nicht durchInterviews erfasst werden können. Sie ermöglichte es in dieser Studie zumBeispiel, wichtige Akteure des Forschungsfeldes zu identifizieren oder denDiskurswandel im öffentlichen Raum nachzuvollziehen. Die gesammeltenDaten wurden in Feldnotizen dokumentiert. Während die Außenperspektiveeiner reinen Beobachterrolle ein weit höheres Erkenntnispotenzial in derReflexion von Routinen bietet, war es durch die schrittweise Einnahme derInnenperspektive einer teilnehmenden Beobachtung oder auch während derInterviews möglich, tiefer greifende Einsichten in die Erfahrungswelten derAkteure zu gewinnen.

4.4.2 Andere Datenquellen

Die bereits vorgestellten Datenquellen waren für die Erfassung von Aushand-lungsprozessen auf der lokalen Ebene relevant. Um den weiteren politischenKontext der lokalen Ereignisse zu erfassen, bedurfte es weiterer Datenquellen.Zu diesem Zweck wurden Zeitungsartikel, Werbematerial, wie Flyer oderPoster und Webseiten von Organisationen, zurate gezogen. Die vorhandeneForschungsliteratur zu Tunesien ist die Grundlage für die historische undpolitische Einordnung der lokalen Aushandlungen.

4.5 Zu den erhobenen Daten

Voraussetzung für die Datenerhebung in Tunesien und den Zugang zumForschungsfeld war die Erteilung einer Forschungserlaubnis durch das tunesi-sche Ministerium für Höhere Bildung. Sie wurde über die Universität Soussebeantragt. In mehreren Feldaufenthalten wurden über eine Zeitspanne vonfünf Jahren empirische Daten aus Interviews, fotografischer Dokumentationund teilnehmender Beobachtung erhoben und vor Ort einer ersten Sichtungunterzogen. Zurück in Deutschland wurde das gesammelte Material ausge-wertet und reflektiert. Die so gewonnenen Erkenntnisse flossen wiederum indie Forschungsarbeit während weiterer Aufenthalte in Tunesien ein und wur-

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4.5 Zu den erhobenen Daten

den einer immer genaueren Analyse unterzogen. Während der Auswertungin Deutschland wurden zudem andere Datenquellen, wie Zeitungsartikeloder Webseiten von Organisationen, herangezogen.

Counter-Surveillance. Während des gesamten Beobachtungszeitraums mussteinnerhalb des Forschungsfeldes mit der Beobachtung oder der Kontrolle durchstaatliche Behörden und andere Akteure gerechnet werden (vgl. Sökefeld& Strasser 2016, S. 168). Diese vom Forschenden ungewollte Überwachunghat unweigerlich Auswirkungen auf die bewusste oder unbewusste Adaptionder eigenen Vorgehensweisen. Ethische Fragen zur Sicherheit der Interview-partner als auch persönliche Risiken müssen im Vorfeld und im Verlaufder Feldforschung identifiziert und abgewogen werden. Die Möglichkeit derÜberwachung durch Fremde oder Unbekannte kann zu Selbstdisziplinierung,Selbstkontrolle, Selbstzensur oder zu Paranoia führen und die Vorbereitungs-arbeiten sowie die Ausführung des Forschungsvorhabens beeinflussen (vgl.Zadrożna 2016, S. 225 ff.). Was und wo wird fotografiert? Welche Personenmüssten angesprochen werden, traut man sich aber nicht (mehr) zu konfron-tieren? Welche Fragen zu sensiblen Themen sind relevant, aber zu gefährlich?Kann der Proband gleich zu Beginn oder erst im Verlauf des Gesprächs überdas Forschungsprojekt informiert werden? Um ungewollte Verzerrungen desDatenmaterials während der Erhebung zu vermeiden, muss die eigene Rolleals Forschender in einem problematischen Feld der andauernden Reflexionunterzogen werden. Strategieanpassungen, zum Beispiel im Hinblick aufdie Datenaufzeichnung, die eigene Mobilität, die Auswahl der Begleitper-sonen im Feld, die Kleidungswahl oder das Zeitfenster der Beobachtung,bedürfen eines klaren Blicks. Auch während der Datenauswertung spieltdie erlebte Situation im Feld eine wichtige Rolle. Der persönliche Kontaktzu den Probanden während der qualitativen Interviews und der teilneh-menden Beobachtung in einem schwierigen Umfeld macht es unabdingbar,sich als Wissenschaftler die eigene Position im Forschungsfeld bewusst zumachen. Während der ersten Forschungsaufenthalte herrschte ein Klimades Misstrauens in Le Kram. Dieses ging zunächst nicht von staatlicher

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4 Methoden und Datengrundlage

Seite aus, da keine Polizeipräsenz im Viertel mehr gegeben war, sondernvon anderen Akteure, wie den Bürgerwehren und später der Miliz, welchedie Aktivitäten im Viertel verfolgten und überwachten. Das unbehaglicheSchweigen der Interviewpartner oder bewusst Unausgesprochenes bargenwichtige Informationen und mussten als Irregularitäten notiert sowie imKontext des Forschungsfeldes interpretiert werden. In einigen Fällen wurdenGespräche durch die Interviewpartner abgelehnt, andere Gespräche wurdenerst in ihrem Verlauf abrupt beendet. In solchen Fällen wurde die Antwortmeist unkommentiert verweigert oder das Gesprächsende durch Gestik oderMimik signalisiert.

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5 Forschungskontext Le Kram

Vor dem Einstieg in die Analyse der drei beobachten Aushandlungspha-sen im nächsten Kapitel sollen kurz die äußeren Rahmenbedingungen imStadtviertel Le Kram vorgestellt werden. Die Darstellung tunesischer Verwal-tungsstrukturen, die geografischen Verortung Le Krams in der HauptstadtTunis, die Infrastruktur des Stadtviertels und die soziodemografischen Datenumreißen im Folgenden die Ausgangslage zu Beginn des Beobachtungszeit-raums. Hinzu kommen historische Angaben zur Entwicklung des Viertels seitdem 19. Jahrhundert. Dieser historische Kontext: „(...) ist deshalb relevant,weil er die regulierenden Praktiken vorgibt und somit den Diskurs mitge-staltet. Erst in Verbindung mit dem historischen Kontext bekommen Ideeneine konkrete Bedeutung, erhalten Relevanz, Brisanz oder werden überholt“(Agai 2004, S. 54). Die zu Beginn der Beobachtungsphase verbreiteten Dis-kurse über die eigene Identität beziehungsweise die kollektive Identität alsEinwohner Le Kram Est oder Ouests bezogen sich direkt auf das Verständnisdieser Stadtteilgeschichte und der Gegebenheiten der unmittelbaren Umwelt.Im Verlauf des Beobachtungszeitraums zeigte sich, dass sich die an den Aus-handlungsprozessen beteiligten Akteure wiederholt auf diese weit verbreitenNarrative über Le Kram und seine Einwohner bezogen. Sie wurden aber auchangepasst und verändert, je nachdem, welche Interpretation von Identitätund politische Vision die jeweils dominanten Akteure im öffentlichen Raumförderten.Soweit nicht anders gekennzeichnet, beruhen alle Angaben zu statistischenDaten auf der allgemeinen tunesischen Volkszählung aus dem Jahr 2014,herausgegeben vom Institut national de la statistique (INS) in Tunis.

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5 Forschungskontext Le Kram

5.1 Verwaltungsstrukturen und geografischeLage Le Krams

Tunesien ist in 24 administrative Gouvernorate unterteilt, welche sich ausinsgesamt 262 Delegationen zusammensetzen. Die Delegationen sind aufeiner weiteren Verwaltungsebene wiederum in 2066 Sektoren untergliedert.55

Die Delegation Le Kram befindet sich im Osten des Gouvernorats Tunis circazehn Kilometer vom Stadtzentrum von Tunis und der historischen Medinaentfernt. Sie ist verwaltungstechnisch in die sieben Sektoren Bir El Helou, ElBouhaira, Erriadh, Le Kram Est, Le Kram Ouest, Sidi Amor und Sidi Fredjgegliedert. Um die Verwaltung der Kontrolle durch das Innenministerium zuunterstellen, schuf das Ben Ali-Regime seit Ende der 1980er Jahre Doppel-strukturen. Parallel zu den Delegationen beziehungsweise Sektoren existierendie Gebiete der einzelnen Gemeinden, deren Grenzen nicht zwingend mitden jeweiligen Sektorengrenzen übereinstimmen.56 Die Gemeinde Le Kramsetzt sich aus den teils gleichnamigen, aber sektorübergreifenden BezirkenAin Zaghouan, Le Kram Ouest und Le Kram Est zusammen, wobei dieAushandlungsprozesse in den Bezirken Le Kram Ouest und Le Kram Est imZentrum des Interesses dieser Studie stehen. Ain Zaghouan liegt geografischund politisch weit abseits dieser beiden Gemeindebezirke und wird deshalb,unter Berücksichtigung der politischen Realitäten des Viertels, nicht in dasForschungsfeld integriert. Die geschilderten Doppelstrukturen wirkten sichim Beobachtungszeitraum fast ausschließlich auf die räumliche Begrenzungdes beobachteten Gebiets aus, da die kommunalpolitischen Infrastrukturennach 2011 weitgehend zerfielen. Die Amtsträger, wie die Bürgermeister, wur-55Durch Dezentralisierungsmaßnahmen sind es im Jahr 2019 264 Delegationen und

insgesamt 2073 Sektoren.56Gouverneure, Delegierte und Sektorenleiter wurden unter dem Ben Ali-Regime durch

das tunesische Innenministerium ernannt. Die Bevölkerung wählte in ihrer Gemein-de den Stadtrat, welcher aus seiner Mitte den Bürgermeister bestimmte. Über dieNotwendigkeit der Reform dieser Verwaltungsstrukturen herrscht breiter politischerwissenschaftlicher Konsens. Die Kommunalwahlen im Frühjahr 2018 waren daher einwichtiger Schritt im Dezentralisierungsprozess des Lands.

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5.2 Soziodemografie

den auf eine zentrale Entscheidung hin abgesetzt und durch Sonderdelegierteauf Zeit ersetzt. Zentral im Banlieu Nord verortet stößt die nördliche Grenzeder Gemeinde Le Kram an die Gemeinden Carthage und La Marsa. Südlichist die Gemeinde La Goulette gelegen, im Westen befinden sich Les Bergesdu Lac und La Soukra. Die geographische Lage im Stadtgefüge von Tunis,umgeben von wohlhabenden Vierteln und mit einem circa 1,5 km langenSandstrand am Golf von Tunis, weist auf die privilegierten Verhältnisse LeKrams hin. Das Klima ist warm und gemäßigt mit den typisch heißen Som-mern und den verregneten Wintern des tunesischen Nordens. Im gesamtenViertel wachsen Dattelpalmen, Feigenbäume, Zitronen- und Orangenpflanzenund Jasminpflanzen. Charakteristisch stellt sich die Teilung der Gemeindein einen West- und einen Ostteil dar, getrennt durch die im Jahr 1872 inBetrieb genommene und heute 19 km lange TGM der Société des transportsde Tunis (Transtu). Die Zentren der beiden Gemeindeteile liegen im WestenLe Krams rund um die Hauptverkehrsstraßen Avenue Ferhat Hached und imOsten an der Route de La Goulette, arabisch t.arıq h. alq al-wadı, die beideauf der Abbildung 1.2 auf Seite 47 zu sehen sind.

5.2 Soziodemografie

Geschlechts- und Altersstruktur. Auf einer Gesamtfläche von 1.030 Hektarlebten in der Delegation Le Kram im Jahr 2014 insgesamt 74.132 Men-schen, davon waren 37.127 Personen männlich und 37.005 weiblich (Institutnational de la statistique 2014, S. 3). Die Einwohnerzahl in Le Kram Estbetrug 13.739 Personen und 34.271 Personen im flächenmäßig größeren LeKram Ouest (Internetauftritt der Gemeinde Le Kram 2014). Der Alters-durchschnitt lag in Le Kram bei 33,1 Jahren. Die Mehrzahl der Einwohnerwar zwischen neunzehn und 40 Jahren alt. Knapp 11 % der Erwachsenenwaren 60 Jahre und älter (Institut national de la statistique 2014, S. 2).

Bildung und Arbeit. Die Statistik des INS erfasste im Stadtviertel Le Kramdas Bildungsniveau der insgesamt 62.551 Personen beider Geschlechter im

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5 Forschungskontext Le Kram

Alter von zehn Jahren und älter. 9,1 % aller erfassten Personen verfügte überkeinen Bildungsabschluss, 65,6 % besuchte die Primar- oder Sekundarstufe(Institut national de la statistique 2014, S. 11). Eine höhere Bildung genosscirca ein Viertel der Einwohner. Werden die Daten nach Geschlechtern ge-trennt betrachtet fällt auf, dass die Anzahl der weiblichen Personen ohneBildungsabschluss mit 12,6 % deutlich über der Anzahl der Männer von 5,5% lag (Institut national de la statistique 2014, S. 12 f.). Im Jahr 1956 warin Tunesien die Schulpflicht unter den sechs- bis sechzehnjährigen Mädchenund Jungen eingeführt und bis in das Jahr 1967 sukzessive durchgesetztworden (vgl. Omri 2009, S. 68). Die Analphabetenrate lag im Jahr 2014 beiden fünfzehn- bis 29-Jährigen bei 1,57 % (Institut national de la statistique2014, S. 15). Somit lässt sich die Differenz zwischen den Bildungsabschlüssewie auch die Analphabetenrate von 9,01 % in erster Linie auf die älterenGenerationen zurückführen. Die Arbeitslosigkeit lag bei 11,58 % und betrafFrauen stärker als Männer. Die Generation der 20- bis 39-Jährigen warhauptsächlich von der Arbeitslosigkeit betroffen (Institut national de lastatistique 2014, S. 33). In der Anzahl der 27.392 nicht arbeitenden undnicht als arbeitslos eingestuften Personen war die Frauenquote ebenfallsdeutlich höher (Institut national de la statistique 2014, S. 20 ff.).57 Dievergangenen Jahrzehnte zeigen, dass Frauen in Tunesien den Arbeitsmarkttendenziell in einem jüngeren Alter und mit einem geringeren Bildungsgradbetreten als Männer und ihn ab einem Alter von circa 40 Jahren wiederverlassen. Männer sind in Tunesien hingegen eher in jungen Jahren von Ar-beitslosigkeit betroffen und im höheren Alter zunehmend seltener arbeitslosund darüber hinaus länger beruflich aktiv als Frauen (vgl. Omri 2009, S.116). Die Perspektivlosigkeit vieler junger Männer und die Aussichtslosigkeitauf ein geregeltes Einkommen manifestierte sich zum Teil in Wut gegendas herrschende Regime, in Kriminalität und in politischem Aufbegehren(Mersch 2017). Über Jahrzehnte waren Frauen hauptsächlich als Famili-enhelferinnen in der Landwirtschaft oder als Saisonarbeiterinnen gefragtund hatten mit ihrem Verdienst das Familieneinkommen aufgestockt. Seit57Erfasst wurden alle Einwohner im Alter von fünfzehn Jahren und älter.

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5.2 Soziodemografie

den 1980er Jahren drängen Frauen in Tunesien verstärkt in unabhängigeBeschäftigungsverhältnisse. Ihre Arbeitskraft wurde in den 1990er Jahrenim industriellen Sektor, wie in der Textilindustrie und bei den Automobil-zulieferern, benötigt. Annähernd die Hälfte der dort tätigen Frauen warjünger als 25 Jahre alt (vgl. Omri 2009, S. 113 ff). Heute sind Frauen inTunesien überwiegend im Bildungssektor, im öffentlichen Sektor sowie immedizinischen und pflegerischen Bereich beschäftigt.

Haushalte. Die Anzahl der Haushalte lag im Jahr 2014 in Le Kram beiinsgesamt 26.980 (Institut national de la statistique 2014, S. 47) bei einerFamilienzahl von 19.952 (Institut national de la statistique 2014, S. 45). Vonden insgesamt 58.041 Einwohnern Le Krams im Alter von fünfzehn Jahrenoder älter, lebten 58,61 % in einer ehelichen Gemeinschaft. 34,12 % derEinwohner lebte in einem Singlehaushalt (Institut national de la statistique2014, S. 6). Wie erwartet, war die Anzahl der unverheirateten Männer mit38,49 % deutlich höher als die Anzahl der Singlefrauen mit 29,80 % (Institutnational de la statistique 2014, S. 7 f.). Dies mag auf kulturelle und sozialeFaktoren zurückzuführen sein. Trotz ansteigender Tendenz ist es in manchengesellschaftlichen Kreisen in Tunesien immer noch unüblich, als unverheira-tete beziehungsweise nicht verwitwete Frau alleine einen Haushalt zu führen.Alleine wohnende Singlefrauen bleiben gesellschaftlicher Stigmatisierungausgesetzt. „The ‚normal‘ or socially accepted thing to do is to live withyour parents until marriage unless you move away from your hometown foreducational or professional purposes. In this case, you have a valid excuseto live by yourself – in student dorms, in co-location, or in a studio or flat– until you get married and move in with your spouse“ (Kolman 2018, S.386). Nicht verheiratet zu sein, wird mit dem Warten auf die Eheschließungoder die Unfähigkeit diese einzugehen gleichgesetzt. Unverheiratete Paare,die gemeinsam einen Haushalt führen, bewegen sich außerhalb des durchdie Gesellschaft gesetzten, normativen Rahmens (vgl. Kolman 2018, S.381).Junge Männer ziehen eher aus dem Elternhaus fort als Frauen, wenn ersterein die Arbeitswelt eintreten. In ländlichen Gegenden kann als zusätzlicher

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5 Forschungskontext Le Kram

Einflussfaktor die dort noch verbreitete Praxis, als Frau bereits kurz voroder nach dem Eintritt der Volljährigkeit zu heiraten, eine Rolle spielen.Im Allgemeinen ist das durchschnittliche Heiratsalter unter Frauen seit den1960er Jahren auf 25 Jahre gestiegen. Bildung und Karriere stehen an ersterStelle. Auch Männer heiraten in Tunesien tendenziell später also noch voreinigen Jahrzehnten. Sie sind aufgrund gesellschaftlicher Erwartungen undden damit einhergehenden finanziellen Herausforderungen oft gezwungen,erst einige Jahre zu arbeiten und Geld anzusparen, ehe sie heiraten und eineeigene Familie gründen können (vgl. Omri 2009, S. 126 f). Diese Traditionspiegelt sich im Wohneigentum wider, das Voraussetzung einer Eheschlie-ßung sein kann. Die überwiegende Anzahl der Einwohner Le Krams besaßim Jahr 2014 ein Eigenheim oder eine Eigentumswohnung mit zwei bisvier Zimmern und wohnte auf einer Fläche von 50 m2 bis 149 m2 (Institutnational de la statistique 2014, S. 48). Das Eigenheim wurde entweder inEigenregie gebaut oder seltener gekauft (Institut national de la statistique2014, S. 42). Mietwohnungen werden in vielen sozialen Kreisen Tunesiens,unabhängig vom Haushaltseinkommen, als weniger erstrebenswert angese-hen. Die Lebensqualität in Le Krams war im Jahr 2014 erwartungsgemäßhoch. Die Versorgung der Haushalte mit Wasser, Elektrizität und Gas lagbei über 99 % der Haushalte und damit im landesweiten Standard (Institutnational de la statistique 2014, S. 40). Die Ausstattung mit einer gasbe-triebenen Heizung war mit 74,48 % der Haushalte überdurchschnittlichhoch. Ein Drittel der Haushalte war mit einer Zentralheizung ausgestattet,die Hälfte mit einer Klimaanlage (Institut national de la statistique 2014,S. 44). Ein Kühlschrank, eine Waschmaschine und ein Herd zählten zurStandardausstattung einer Küche (Institut national de la statistique 2014,S. 44)). Circa 40 % der Haushalte besaßen einen PKW. Über 90 % derHaushalte hatten Satellitenfernsehen. Jeder vierte Haushalt verfügte übereinen an das Internet angeschlossenen Computer (Institut national de lastatistique 2014, S. 43). Knapp 5 % des Baubestandes von Le Kram bestandnoch aus Gebäuden in traditioneller tunesischer Bauweise mit den für sietypischen Innenhöfen (Institut national de la statistique 2014, S. 47).

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5.3 Geschichtlicher Hintergrund und Infrastruktur

5.3 Geschichtlicher Hintergrund undInfrastruktur

Geschichte. Die Zweiteilung und heutige Infrastruktur Le Krams ist dasErgebnis verschiedener Zuwanderungsperioden in der Geschichte der Haupt-stadt Tunis. Bis ins 19. Jahrhunderte lag das kleine Fischerdorf außerhalb derGrenzen von Tunis. Der Aufstieg begann um die Mitte des 19. Jahrhundertsherum, als Ahmad I. al-Husain [Ah.mad I. al-H. usayn], alias Ahmad I. Bey,der damalige Bey von Tunis, das Land seinem Schwager und Kriegsminis-ter, Mustapha Agha [Mus.t.afa Agha], überließ.58 Agha ließ im Gebiet desheutigen Le Kram seinen Privatpalast erbauen.59 Dieser lag in geografischerNähe zu den sich parallel entwickelnden Siedlungsgebieten um Carthageund Salambô (Abidi 2011) und dem Palais der Bey-Familie in La Marsa.Da sich die Gegend durch einen Bestand an Feigenbäumen auszeichnete,etablierte sich für das Gebiet bald die Bezeichnung Kram al-Agha, alsoFeigen des Agha (El-Aziz Ben Achour 1989) (siehe Abbildung 5.1 auf Seite129).60 Während des französischen Protektorats (1881–1956) siedelte dieeuropäische Elite, allen voran Franzosen und Italiener, in Neubauvierteln

58Der türkische Herrschertitel Bey wurde von den huseinidischen Regenten der osmani-schen Provinz Tunis seit dem 17. Jahrhundert verwendet. Ahmad I. al-Husain regiertevon 1837 bis in das Jahr 1855 als Bey von Tunis. Seine Regentschaft stellte einenWendepunkt der tunesischen Geschichte dar. Er unternahm weitreichende ökono-mische und militärische Modernisierungsmaßnahmen sowie Staatsreformen, erließBildungsprogramme und gab Anstoß zu ersten Sozialreformen. Dabei ging die Re-strukturierung über den osmanischen Tanzimats-Erlass hinaus, bewegte sich Tunesiendoch als semiautonome Entität im Spannungsfeld zwischen Großbritannien, Italienund Frankreich (Clancy-Smith 2007).

59Der Mamluke Mustapha Agha wurde in Georgien geboren und starb am 18. Februar1867 in Le Kram, Tunis. Agha machte in Tunesien Karriere als Soldat und tunesischerDiplomat mit Missionen in Algier, Tripolis und Istanbul, bis er von 1837 bis in dasJahr 1862, mit zweijähriger Unterbrechung, als Kriegsminister unter Ahmad I. Beydiente (vgl. Brown 2015, S. 219).

60Arabische Dialekte in Nordafrika kennen neben dem hocharabischen Begriff tın (koll.)auch das Wort karmus für Feige.

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am Stadtrand und an der Küste. Zunächst für die Europäer und die tune-sische Elite konzipiert, wurde Le Kram damit zum verlängerten Arm desDualismus zwischen der arabischen Altstadt, der Medina von Tunis, und derVille Nouvelle der französischen Protektoratsverwaltung. Die Avenue HabibBourguiba bildete die Hauptachse zwischen dem Porte de France, arabischbab al-bah. r, und der Lagune Lac de Tunis, arabisch al-buh. ayra.61 Die Lagunediente während des französischen Protektorats als Hafen der Hauptstadt.Aufgrund der fortschreitenden Versandung wurde der Stadthafen zum Endedes 19. Jahrhunderts durch einen Kanal mit dem Mittelmeer verbunden.Parallel zum Kanal wurde ein Damm für die Straßenbahn TGM errichtet.Diese neue Verkehrsanbindung zur Innenstadt von Tunis machte die Küs-tenregion für Siedlungen interessanter und wird bis heute von Pendlern ausLe Kram und den angrenzenden Stadtvierteln genutzt (siehe Abbildung 5.1auf Seite 129).Le Kram beherbergte damals Angehörige des Militärapparates und derProtektoratsverwaltung und war als Standort durch den nahen Kriegs- undHandelshafen, das Militärkrankenhaus sowie die im Jahr 1872 eröffneteTGM Bahnlinie attraktiv (siehe Lazaret, Abbildung 5.1 auf Seite 129). Dieeuropäisch-christliche Bevölkerung wuchs neben der tunesisch-muslimischenBevölkerung in Le Kram stetig an und trieb dort den Ausbau der kulturellenInfrastruktur voran. Infolge entstand dort, neben einer öffentlichen Biblio-thek, ein Theater, das Kino CinéVog der italienischen Familie Lombardo,eine Musikschule und andere Bildungseinrichtungen (vgl. Dornier 2000, S.220). In der Mitte des 20. Jahrhunderts setzte schließlich der Wandel desStadtviertels ein. Mit der Ausführung interner Autonomievereinbarungenim Jahr 1954 und der nationalen Unabhängigkeit Tunesiens im Jahr 1956

61In Le Kram lebten zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch ärmere Familien. Die politischeAktivistin Monjia Monjia Bent Abderrahman Ben Ezzedine engagierte sich in LeKram im sozialen Bereich und öffnete ihr Privathaus für alle Hilfesuchenden. IhreBiografie wurde nach der Revolution von 2011 von zivilgesellschaftlichen Akteuren inLe Kram Est im Rahmen der politischen Bildungsarbeit im Viertel aufgegriffen (sieheUnterkapitel 6.3.2.1 auf Seite 283).

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5.3 Geschichtlicher Hintergrund und Infrastruktur

Abbildung 5.1: Stadtplan von Tunis des Service géographique de l’Armée1903; Quelle: Hachette et Cie, Paris

verließ ein Großteil der französischen Militärangehörigen mit ihren Familiendas Land. Spätestens nach der Enteignung ausländischer Grundbesitzerdurch die tunesische Nationalversammlung im Jahr 1964, waren auch vieleihrer bereits in Tunesien geborenen Nachkommen gezwungen, das Land unddamit ihre Heimat zu verlassen. Die tunesische Mittel- und Oberschicht derÄra Habib Bourguibas drängte in den folgenden Jahren zunehmend in dasGebiet des heutigen Ostteils und behauptete ihre Stellung gegenüber der

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ehemaligen Protektoratsmacht Frankreich und anderen dort noch ansässigenEuropäern. Aus dem früheren Fischerdorf war im Verlauf von circa 150Jahren erst ein Siedlungsgebiet der kolonialen Elite und nach der Unabhän-gigkeit ein Wohnort der tunesischen Mittelschicht entstanden. Schließlichentwickelte sich entlang der Hauptverkehrsroute Route de La Goulette einMischgebiet mit Gewerbebetrieben und Einzelhändlern. Dieses Gebiet bildetbis heute das Stadtzentrum im Osten des Viertels. Cafés und Restaurants alssoziale Treffpunkte und Orte des Sehens und Gesehenwerdens ergänzen dasBild. Mit der einsetzenden Urbanisierung in den 1960er und 1970er Jahrenund der Zuwanderungswelle aus ländlicheren Gebieten nach Tunis wurdenviele noch unbewohnte Flächen am Stadtrand von Tunis, auf Kosten land-wirtschaftlicher Flächen, für die Bebauung freigegeben und der Baugrundneu erschlossen. Während die Einwohnerzahl im Großraum Tunis nach dertunesischen Unabhängigkeit bei circa 561.000 Personen lag, verzeichnete dasINS im Jahr 1984 einen Anstieg der Einwohnerzahl auf 1.283.500 Personen.Wachstumsstark zeigte sich hauptsächlich der Norden des Großraums Tunis,weshalb der nationale Entwicklungsplan von Tunis ab dem Jahr 1977 einenAusgleich der Wohnverteilung östlich des Stadtkerns schaffen sollte (Dlala2007). Westlich der Eisenbahnlinie von Le Kram begann sich in Le Kram dasehemalige Kernviertel immer weiter in den Westen auszudehnen. Es entstandeine Erweiterung des Stadtviertels, welche jedoch nicht an den früheren GlanzLe Kram Ests anknüpfen konnte. Le Kram Ouest wurde ab den 1970ernzum Wohnort der tunesischen Arbeiter, viele unter ihnen Pendler, welcheTag für Tag mit der TGM in die Stadtmitte zu ihren Arbeitsplätzen fuhren.62

Architektur. Als zeitgeschichtliches Zeugnis der jüngeren Geschichte Tu-

62Einige Aspekte der Stadtgeschichte lassen sich auf der offiziellen Homepage der StadtLe Kram nachlesen. Dort wird mit berühmten Einwohnern des Stadtviertels geworben,darunter der Sänger Ali Riahi [cAlı al-Riyah. ı] (1912–1979) und die Sängerin undSchauspielerin Beya Bent Bechir Ben Hedi Rahal [Baya Bint al-Bashır Bin al-HadıRah. al] (1936–1990), alias Oulaya [cUlaya], (Internetauftritt der Gemeinde Le Kram2014).

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5.3 Geschichtlicher Hintergrund und Infrastruktur

nesiens zeichnete sich Le Kram durch eine Vielfalt an architektonischenUmbrüchen im Baustil aus. In der Betrachtung der Villen am Küstenstreifendes östlichen Ortsteils fanden sich viele Spuren der Kolonialzeit. Zumeistim römischen Stil errichtet und von Gärten umgeben, war ein großer Teilder alten Villen noch bewohnt. Renovierungsstaus und nicht erfolgte Sanie-rungsarbeiten an den Fassaden betrafen viele dieser alten Gebäude. Einigeder Strandvillen waren unbewohnt und dem Verfall preisgegeben. EineNachbarschaft mit offener Bebauung durch freistehende Einfamilien- oderMehrgenerationenhäuser ergänzte das Villenviertel. Sie entstand im Zugeder der tunesischen Unabhängigkeit seit dem Jahr 1956, als die wohlhabendeMittelschicht begann, die Küstenorte als Baugebiet für sich zu beanspru-chen. Weiße oder beige Fassaden, bunte Fenster, mediterrane Säulen sowieschmiedeeiserne Fenstergitter prägten das Bild. Die Türen und Tore aus mitNägeln beschlagenem Holz sollten traditionell den Reichtum der Bewohnerspiegeln. Dargestellt wurden auf den modernen Adaptionen der Haustürenbeispielsweise Schutzsymbole gegen den „bösen Blick“, wie der Fisch, dasAuge, arabisch cayn, oder die Hand der Fatima, arabisch khumaysa (sieheAbbildung 5.3 auf Seite 132). Andere beliebte Motive waren Sterne, Mondsi-cheln, Minarette, Palmblätter, Blumen oder verzierte Fibeln. Letztere sindTeil der traditionelle Kleidung der Frauen, der Meliya, arabisch maliyya.63

Einige Laufminuten vom Strand entfernt standen moderne Vorstadtvillenvon Terrassen und Gärten umgeben. Die verbauten Gebäudeelemente dieserWohnhäuser erinnerten in einigen Fällen fern an die Architekturelementedes Klassizismus oder des Historismus (siehe Abbildung 5.2 auf Seite 132).Auf Grundstücksmauern in Le Kram Est setzten Darstellungen römischeKelche gestalterische Akzente. Andere Hausfassaden zeigten symbolischeReferenzen an die Berberkultur (siehe Abbildung 5.3 auf Seite 132). Es warendie gleichen schematisierten Motive, die sich, eingewebt in Teppiche oder

63Die Meliya besteht aus einem bis zu vier Meter langen Stück Stoff. Der Stoff wirddrapiert und mit Metallfibeln, tunesisch-arabisch khilal, unterhalb der Schulternsowie einem Gürtel aus dicken Wollfäden, tunesisch-arabisch h. izam, zu einem Kleidzusammengehalten.

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Abbildung 5.2: Vorstadtvilla in Le Kram Est; Quelle: Nowar

tätowiert auf die Haut der Großmütter und Urgroßmütter, in ganz Nordafrikafinden. Diese Tätowierungen sollen die Trägerin mit der kosmischen Naturin Verbindung bringen und sie beschützen (Adda 2006, Makilam 2001). Esschien, als hätten die Erbauer über Jahrzehnte hinweg verschiedene Aspekteder tunesischen Kultur und Geschichte aufgegriffen und neu interpretiert.

Abbildung 5.3: Hausfassade in Le Kram Est mit symbolischen Referenzenan die Berberkultur; Quelle: Nowar

Die Grundstücke im Westen Le Krams waren flächenmäßig kleiner angelegt.Ressourcenschonend wurde während der Zuwanderungswelle von vielen aus

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5.3 Geschichtlicher Hintergrund und Infrastruktur

dem tunesischen Binnenland stammenden Eigentümern eine geschlosseneBebauung umgesetzt. Gleichzeitig stieg, im Vergleich zu Le Kram Est, dieGeschossflächenzahl, um mehreren Generationen günstigen Wohnraum zugegeben (siehe 5.4 auf Seite 133). Daneben entstanden in beiden Teilen desViertels größere Wohnkomplexe mit Mietwohnungen. Der Westteil Le Kramswar ein typisches Wohnviertel in Tunis. Funktionalität, Pragmatismus, einekostengünstige Bauweise und unasphaltierte Gassen prägten das Stadtbild.

Abbildung 5.4: Straßenzug eines Wohngebiets in Le Kram Ouest; Quelle:Nowar

Gewerbebetriebe und Einzelhandel siedelten sich auch im Westen entlangder Hauptverkehrsadern an. Der Stadtkern des Westteils wurde von Handel,Konsum und Verkehr dominiert. Fußgängerzonen, Parkhäuser oder großeEinkaufszentren gab in Le Kram nicht. Im Süden Le Kram Ouests ging dasWohngebiet schließlich in ein Gewerbegebiet über. Hier gaben vereinzelteHochhäuser mit Spiegelglasfassaden der Stadt ein modernes Gesicht.

Wahrzeichen. Das Hauptgebäude des Messegeländes in Le Kram Ouestwar eines der architektonischen Wahrzeichen des Stadtviertels. Die Fassadewar im arabischen Stil gehalten und mit einer grünen Mosaikkuppel sowiegeometrischen und ornamentalen Schmuckelementen verziert. Ein weiteresbekanntes Gebäude im Ostteil Le Krams war die während des französischen

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Protektorats im Jahr 1903 erbaute katholische Kirche L’Église du Kram St.Joseph. Sie erinnerte an die wachsende christliche Gemeinde von Europäernin Le Kram zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Nach Abzug der Protekto-ratsmacht Frankreich und der Militärfamilien wurde am 27. Juli 1964 derModus Vivendi, ein Abkommen zwischen dem Vatikan und der tunesischeRegierung, ratifiziert (Kardinal Cicognani & Slim 1964). Es stellte das Ver-schwinden der katholischen Gemeinde von Le Kram fest und stellte dieKirche dem tunesischen Staat kostenlos zur Nutzung für öffentliche Zweckezur Verfügung. Die tunesische Regierung wies das Gebäude schließlich demKulturzentrum von Le Kram Est zu. Die frühere Synagoge von Le Kram Estwar nicht mehr als solche erkennbar.64 Von staatlicher Seite wurden keineMonumente oder Statuen als Wahrzeichen in das Stadtbild integriert.

Parkanlagen. Seit den 1990er Jahren setzte die tunesische Politik auf einenachhaltige Stadtentwicklung und förderte den Bau öffentlicher Parkan-lagen. In beiden Teilen des Viertels gab es Parks, deren Zugang für dieÖffentlichkeit im Beobachtungszeitraum stark eingeschränkt oder gar nichtmöglich war. Der im Jahr 2005 eröffnete und circa zwei Hektar große JardinPublique, auch Parc de Salambô genannt, war im Beobachtungszeitraum einbeliebter Freizeit- und Erholungsort der Einwohner Le Krams. Südöstlichder archäologischen Ausgrabungsstätte Tophet de Salambô gelegen, blieber infolge der politischen Umwälzungen nach der Revolution für mehrere

64Bis in die 1960er Jahre lebten in Tunesien mehr als 100.000 Juden. Nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 kam es zu massiven Auswanderungsbewegungen, weshalb vieleehemaligen Einrichtungen früherer jüdischer Gemeinden heute leer stehen und verfallen.Das gleiche gilt für viele Häuser jüdischer Emigranten, zum Beispiel in der VilleNouvelle oder im ehemaligen jüdischen Viertel El Hafsia in Tunis, da häufig dieEigentumsrechte nicht geklärt sind. Auch nach der Revolution von 2011 wandertendutzende jüdische Familien aus. Die meisten der circa 1500 tunesischen Juden lebenheute auf der Insel Djerba und in den Großstädten entlang der Küste. Die im ArtDeco-Stil erbaute, große Synagoge von Tunis sowie die al-Ghriba Synagoge auf Djerbawerden zum Schutz der Gemeinden vor antisemitischen Übergriffen und terroristischenAnschlägen durch Polizeieinheiten beschützt.

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5.3 Geschichtlicher Hintergrund und Infrastruktur

Monate geschlossen.65 Die archäologische Ausgrabungsstätte blieb der Öf-fentlichkeit längere Zeit unzugänglich, um die drohenden Zerstörung durchreligiöse Extremisten nicht zusätzlich zu provozieren (Interview 1/2014).Dieses Vorgehen fand sich, auch in Bezug auf bekannte Heiligenschreine,sogenannte Zaouias, in ganz Tunesien wieder. „In many ways the blendingof religions, ethnicities, ages, genders, and classes is part of the nature oftomb shrines (...)“ (Bigelow 2010). Diese Aspekte einer pluralen Kulturmit einer Vielzahl von unterschiedlichen Praktiken im geteilten religiösenRaum widersprechen dem Kern der salafistischen Ideologie. Während es vorder Revolution üblich gewesen war, dass (internationale) Pilger und andereGläubige dort die Särge küssten, ihre Gebete verrichteten und den HeiligenGaben brachten, wurden diese Praktiken nach der Revolution in vielen Mau-soleen verboten. Im Gespräch mit dem Aufseher des Mausoleums Sidi BenArous, erklärte dieser, das Verbot sei vorbeugend als Schutz vor möglichenÜbergriffen und der Zerstörung durch religiöse Extremisten ausgesprochenworden (Interview 2/2014). Der ebenfalls im Jahr 2005 in Le Kram Ouesteröffnete Parc Urbain du Kram, auch Aéroport Parc genannt, erstreckte sichauf insgesamt neun Hektar, inklusive einer eigenen Parkzone. Als überre-gional beliebter Freizeitpark für Familien verfügte er über drei verschiedeneBereiche mit unterschiedlichen Angeboten an Freizeitaktivitäten, die ent-sprechend der verschiedene Altersgruppen gestaltet sind. Erholungsräumemit Fontänenbrunnen, wie der Rosengarten oder der Andalusische Garten,wurden ergänzt durch einen Vergnügungspark mit Fahrgeschäften, Hüpfbur-

65Salambô ist eine Erscheinungsform der Himmels- und Liebesgöttin Astarte. Sie wurdein der Antike von verschiedenen westsemitischen Völkern verehrt und ist die Namens-geberin des nördlichen Stadtteils von Le Kram. Deshalb erweckt die Bezeichnung desTophets zunächst den Anschein, es handele sich um einen antiken Kultort der GöttinAstarte. Tatsächlich war die heutige Ausgrabungsstätte in der Antike als Kultstätteder punischen Fruchtbarkeitsgöttin Tanit gewidmet. Tanit ersetzte ab dem fünftenJahrhundert vor Christus die Göttin Salambô in ihrer Rolle als Hauptgottheit descirca vier Kilometer weiter nördlich gelegenen Karthago. Als Teil der tunesischenErinnerungskultur wurde im Jahr 2012 die größte Autofähre der tunesischen ReedereiCompagnie tunisienne de navigation (CTN) nach der Göttin Tanit getauft.

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gen, Sportanlagen, einen Minizoo und Gastronomie. Regelmäßig fanden dortKonzertveranstaltungen statt. Infolge der politischen Umbrüche blieb dasGelände vorübergehend geschlossen. Hip-Hop Shows für die Jugendlichendes Banlieu Nord und andere zugkräftige Publikumsmagnete stellten abdem Jahresende 2011 den Versuch der Veranstalter dar, an frühere Besu-cherzahlen anzuknüpfen. Die Instandhaltung und Pflege solcher Anlagenstellt die öffentliche Verwaltung in Tunesien vor große finanzielle Herausfor-derungen. Viele öffentliche Parkanlagen in Tunesien sind schlecht gewartet.Unsoziales Verhalten und das sozioökonomische Umfeld der Stadtvierteltragen zu einem Gefühl der Unsicherheit unter den Besuchern bei und lassendie Nutzungszahlen sinken. Infolgedessen werden öffentliche Parkanlagenimmer häufiger von privaten Investoren übernommen und der Zugang zuden nun halböffentlichen Räumen exklusiver gehandhabt. Der Park in LeKram Ouest wurde bereits im Jahr 2010 privatisiert (vgl. Bettaieb et al.2012, S. 2 und S. 13).

Technische und soziale Infrastruktur. Nicht nur das Schienennetz der TGMverband Le Kram mit den Nachbarregionen.66 Die Anbindung an Hauptver-kehrsrouten, wie die Regionalstraßen Nummer 2, 23 und 33 sowie an dienationalen Autobahnen Nummer 9 und 10 und die jüngst erbaute AutobahnGammarth-La Goulette, bot einen nicht zu unterschätzenden Standortvorteil.Verschiedene Buslinien, Taxis und Sammeltaxis sicherten den Bewohnernals zusätzliche Beförderungsmittel regionale und überregionale Mobilität.Tankstellen waren in Tunesien omnipräsent. Der Sektor des Individualver-kehrs, wie Radwege, war dagegen völlig unterentwickelt.67 Der tunesischeEnergieversorger Société tunisienne de l’electricité et du gaz (STEG) brachte66Im Untersuchungszeitraum waren ab März 2012 immer wieder Teilabschnitte der Strecke

wegen Gleisarbeiten gesperrt, weshalb es zu Fahrplanänderungen kam.67Die sogenannte Vélorution war in Tunesien zum Zeitpunkt der Studie noch nicht

angekommen. Das Fahrrad galt allgemein als Transportmittel der Armen, wohingegendas Auto den sozialen Aufstieg symbolisierte. Langsam wandelt sich der Trend inTunesien zu Outdoorsportarten, darunter Mountainbiking und Rennradfahren. DasFahrradfahren als Pendler kann im Stadtverkehr gefährlich und herausfordernd sein.

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5.3 Geschichtlicher Hintergrund und Infrastruktur

Propangasflaschen auf den Markt und stellte die zuverlässige Einspeisungelektrischer Energie in das Stromnetz sicher.68 In beiden Stadtteilen fandensich Büros der La Poste Tunisienne. Die Kommunikation über das Festnetzwar im Jahr 2014 in Le Kram im privaten Bereich mit Anschlüssen in 39,94% der Haushalte, im Vergleich zum tunesischen Gesamtdurchschnitt von27,21 % der Haushalte, weiter verbreitet. In anderen Vierteln der HauptstadtTunis, wie El Menzah, lag der Durchschnitt der Haushalte mit Festnetz-anschluss bei 68,46 % (Institut national de la statistique 2014, S. 45). DerZugang zu Internetcafés und unterschiedlichsten Mobilfunkanbietern undInternetprovidern, wie Tunisiana, Tunisie Telecom oder Orange, war inLe Kram ebenfalls unproblematisch. 98,57 % der Haushalte in Le Kramverfügten zum Zeitpunkt der Erhebung der Statistik über mindestens einMobiltelefon (Institut national de la statistique 2014, S. 45). Im Jahr 2014nutzten 57,31 % der Bewohner von Le Kram das Internet (Institut nationalde la statistique 2014, S. 15).69 In Abhängigkeit vom Wohnort konnte inanderen Landesteilen Tunesiens die Verfügbarkeit des Netzzugangs variie-ren. Die Zuverlässigkeit der stofflichen Ver- und Entsorgung war ebenfallsin Abhängigkeit vom Wohnort zu betrachten. Während der Zugang zurTrinkwasserversorgung in privaten Haushalten in Le Kram zu 99,96 % gege-ben war (Institut national de la statistique 2014, S. 38), funktionierte dieMüllentsorgung nur leidlich. Banken und andere Finanzinstitutionen fandensich in beiden Stadtteilen, darunter eine breite Anzahl von Unternehmen,welche islamkonforme Bankgeschäfte betrieben.70 Aufgrund dieser äußerenGegebenheiten, wie der Verkehrsinfrastruktur, war das Viertel nicht nur fürdie private Binnenwanderung in Tunesien attraktiv. Das Messegelände Parc

Einer der wenigen ausgewiesenen Radwege in Tunis verläuft entlang der Uferpromenadedes Stadtteils Les Berges du Lac in Tunis.

68Die Mehrzahl der tunesischen Haushalte ist für die Gasversorgung des Herdes und desBackofens sowie für die Warmwasserbereitung mit Durchlauferhitzer auf die Nutzungvon Propangasflaschen angewiesen.

69Die Statistik erfasst alle Personen ab einem Alter von zehn Jahren und älter.70Genannt seien hier die al-Baraka Bank Tunisia, die Banque Zitouna und die Amen

Bank.

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5 Forschungskontext Le Kram

des Expositions et Centre de Commerce International bot Platz für Vertreterunterschiedlichster Branchen. Unter den im Jahr 2017 stattfindenden 24Messen fanden sich beispielsweise viele Expositionen im ThemenspektrumDesign, Kunst und Kultur, wie die ComicCon Tunisia mit einer Ausstellungfür Comics, Videospiele und digitale Kunst. Auch industrielle Anbieter undFachmessen, wie die Ausstellung Salon international des énergies durableset maîtrise de l’énergie (SIED) für nachhaltige Energien sowie Dienstleister,wie der seit dem Jahr 1995 jährlich stattfindende Internationale Touris-musmarkt Marché méditerranéen international du tourisme (MIT), warenjährlich vertreten.71 Le Kram war außerdem Standort privater Hochschulen.Im Südwesten des Viertels fand sich der Zusammenschluss der UniversitéEuropéenne de Tunis mit einem Studienangebot im Bereich Politikwissen-schaft und internationale Beziehungen, Kommunikation, Marketing undMedien sowie Internationales Hotel- und Tourismusmanagement.72 Die Eco-le Centrale Polytechnique Privée de Tunis bot in Le Kram ein Studium desIngenieurwesens an. Neben Allgemeinmedizinern und fachärztlichen Praxenverfügte Le Kram über ein Labor für medizinische Analysen und verschiede-ne medizinische Versorgungszentren wie das Medical Center La Palmeraie.Im Ostteil des Viertel stand Patienten ein öffentliches Krankenhaus, dasHôpital Kheireddine, zu Verfügung. Im Westen Le Krams konnten sie sich inder privaten Hannibal International Clinic behandeln lassen. Laut INS lagen63,61 % der Haushalte in Le Kram in einer Distanz von ein bis zwei Kilome-tern zum nächsten öffentlichen Krankenhaus, also in unmittelbarer Nähe(Institut national de la statistique 2014, S. 57). Die öffentliche Sicherheitsollten bis zur Revolution 2011 zwei Polizeistationen in der Avenue FerhatHached in Le Kram Ouest und in der Avenue Habib Bourguiba in Le KramEst sicherstellen. Die Tatsache, dass beide Teile des Viertels über eigenePolizeistationen verfügten, lässt sich auf die geografische Ausdehnung des

71URL: http://www.expodatabase.de/messegelaende/societe-des-foires-internationales-de-tunis-le-kram-1004.html. Zugriff 23.03.2020.

72Weitere Informationen unter: http://universiteeuropeenne.tn/, zuletzt aufgerufen am19.07.2017

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5.3 Geschichtlicher Hintergrund und Infrastruktur

Stadtviertels zurückführen. Die Strategie des Ben Ali-Regimes, politischeOpposition zu unterbinden, führte zu einer flächendeckenden, bürokratischenVersorgung der Bevölkerung im administrativen Bereich und einer tiefenDurchdringung im Hinblick auf öffentliche Sicherheit und Überwachung: „Lecorps de la sûreté nationale et de la police constitue une force publiquecivile armée, préventive et répressive, responsable au premier degré, sur toutle territoire de la république, du maintien de l’ordre public, de la sûretéde l’état, du contrôle des frontières, de la condition des étrangers, de lacirculation et de la sécurité des routes. Elle enquête et informe sur tout cequi touche aux domaines de la vie politique, économique, sociale et culturelle,elle est aussi chargée de veiller d’une manière générale à la sûreté des per-sonnes et des bien, de constater les infractions, d’en rechercher les auteurs etde procéder aux enquêtes judiciaires conformément aux procédures légales,et de concourir à l’exécution des décisions judiciaires et des règlementsadministratifs“ (Ministère de l’intérieur et du développement local 2006,Dekret 2006–1160, Art. 2). Für die soziale Sicherung in der Rente engagiertesich der Club des retraités in der Rue Houcine Bouzaine in Le Kram Est.Das lokale Büro des tunesischen Verbraucherschutzes Organisation de défen-se du consommateur (ODC) befand sich in der Rue l’Agha im Ostteil LeKrams. Ebenfalls sozial engagiert zeigte sich die am 16. Mai 2013 gegründeteWohltätigkeitsorganisation Association caritative al-Takaful. Als Teil desCentre culturel Mustapha Agha du Kram de l’est war sie ebenfalls in derehemaligen Kirche St. Joseph in der Rue Taieb Mehiri untergebracht. Sieleistete humanitäre und soziale Arbeit im Stadtviertel. Solidarität zu zeigenund die Not muslimischer Bedürftiger zu lindern, war das übergeordnete Zielder Organisation. Das Klientel waren, neben Obdachlosen, Witwen, ältereMenschen und Kinder. In Tunesien existiert kein Äquivalent zum deutschenEhrenamt. Der Verein finanzierte sich hauptsächlich aus Spenden und staatli-chen Fördergeldern (Interview 3/2014). Weitere kulturelle Einrichtungen LeKrams waren das Espace d’Arts Plastiques Aïn in Salambô oder das CinéVogin der Rue Said Aboubaker 10 sowie das Jugendzentrum Maison des Jeunesund das Kulturzentrum Hammouda Maali im Westen Le Krams. Abgesehen

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5 Forschungskontext Le Kram

von der bis in die Anfänge des Stadtviertels zurückreichenden Kontinuitätkultureller Veranstaltungen, bot Le Kram eine Infrastruktur für Sportlerund Sportinteressierte. Neben zahlreichen Fitnessclubs war der Fußballsportpopulär. Das Stade municipal du Kram konnte gegen geringe Gebühren vonAmateursportlern genutzt werden und war abends ein beliebter Freizeit-treffpunkt junger Erwachsener. Im Fußballverein Club Olympique du Kramkonnten Kinder, Jugendliche und Erwachsene trainieren. Ein Tennisklubund ein Kampfsportverein waren ebenfalls im Viertel aktiv.

5.4 Zwischenfazit – Historische Narrative

Die Logik und Ideologie kolonialer Stadtentwicklung prägt bis heute dasStadtbild von Tunis. Die Abgrenzung der gesellschaftlichen Klassen, diestaatliche Kontrolle und die Sicherheit standen bei der Straßenplanung derHauptstadt im Vordergrund und werden dort noch heute über den physischenRaum sichtbar: „The „modern“ plan of Tunis was divided along main axisbetween Christians and Muslims (with a few „neutral“ places in between)and along the axis between bourgeoisie and workers, thus using class forspatial ordering of society. In the name of security and hygiene, colonialurban planning, like its postcolonial successors, often provides a physicalprojection of the control and discipline of state authority“ (Eickelman 2002,S. 97).73 Der Ostteil Le Krams entstand zunächst, ebenso wie die währendder Kolonialzeit angelegte Neustadt von Tunis, als Wohnort der europäischenElite und eher abseits der Wohnviertel der tunesischen Bevölkerung. DasStadtbild von Le Kram Est mit seinen klaren Achsen und Parallelstraßenhebt sich deshalb deutlich von „orientalischen“ Städten mit ihren Sackgassenund schmalen Durchgängen ab. Zu Beginn des Beobachtungszeitraums dieser

73Das Gitternetz und die dadurch entstehenden Bauparzellen prägten bereits im altenÄgypten und in Babylonien das Stadtbild. „Im Allgemeinen bezeichnet man Hippoda-mos von Milet als den ersten Stadtplaner, der diese Gitter als kulturelle Ausdrucksformbegriffen hat; für ihn kam im Gitternetz die Rationalität zivilisierten Verhaltens zumAusdruck“ (Sennett 2009).

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5.4 Zwischenfazit – Historische Narrative

Studie war der lokale Diskurs in Le Kram Est durch die bewusste Erinnerungan die Stadtteilgesellschaft Le Krams im frühen 20. Jahrhundert bestimmt.In diesem Bereich setzten die Mitglieder des in der umgewidmeten KircheL’Église du Kram St. Joseph untergebrachten Kulturzentrums MustaphaAgha ihren Arbeitsschwerpunkt. Die von ihnen verbreitete Interpretation derVergangenheit muss, entsprechend dem von Maurice Halbwachs entwickeltenVerständnis von Gedächtnis und Vergangenheit, als sozial konstruiert und anden Bedürfnissen der Gegenwart orientiert verstanden werden (Halbwachs1985, 1991). Die Vergangenheit wurde in Le Kram nicht einfach vor demVergessen bewahrt. Der gewählte Sinn- und Zeithorizont der tunesischenProtektoratszeit wurde darüber hinaus bewusst reproduziert, um den Ein-wohnern des Viertels als kulturelles Vorbild zu dienen. Über ihn sollte dieZukunft des Viertels geplant, gestaltet, erschlossen und produziert werden.Diese Praktik nennt Assmann „kulturelle Kontinuierung“ oder auch „Tra-ditionsbildung“. Die daraus entstehende „konnektive Struktur“ der Kulturverbindet Menschen miteinander über eine soziale und eine zeitliche Dimen-sion (vgl. Assmann 2000, S. 16). Dies ist möglich, da sie: „als ‚symbolischeSinnwelt‘ (Berger/Luckmann) einen gemeinsamen Erfahrungs-, Erwartungs-und Handlungsraum bildet, der (...) Vertrauen und Orientierung stiftet“(Assmann 2000, S. 16 ). Erzählungen und Bilder aus der Vergangenheitwerden immer wieder wiederholt und als gleichbleibende und verlässlicheMuster mit dem Heute verknüpft und vergegenwärtigt. Diese Erzählungenwerden zur Basis von Identität und Gemeinschaft, die sich nach innen inte-griert („Wir“) und nach außen abgrenzt („Sie“). Identität und Gemeinschaftwerden hergestellt über einen geteilten Wissenshorizont, Sinnbilder und eingemeinsames Selbstbild. Die zentralen Fragen von Erinnerungskultur lau-ten: Was muss erinnert werden? Beziehungsweise: Was darf nicht vergessenwerden? (vgl. Assmann 2000, S. 31). Die Erinnerung an die VergangenheitLe Krams wurde an konkrete Personen, Ereignisse und Orte innerhalb desStadtviertels als Bezugsrahmen geknüpft und in ein Ideensystem eingebettet.Orte wurden zu Symbolen der Identität und der verräumlichten Erinnerun-gen. Rituale, Tänze, Mythen, Muster, Kleidung, Schmuck, Tätowierungen

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5 Forschungskontext Le Kram

oder das Malen sollen den Ursprung der Erinnerung reproduzieren und einenBezug zur erinnerten Geschichte herstellen (vgl. Assmann 2000, S. 52 ff.).Es sind spezielle Personen, welche als Träger die Geschichte bewahren undvermitteln, zum Beispiel Lehrer, Künstler oder Priester. Sie inszenieren dieGeschichte zu besonderen Anlässen, wie Festen oder Riten, und machen inder kollektiven Teilnahme das Außeralltägliche erfahrbar (vgl. Assmann 2000,S. 54). Eine andere Möglichkeit ist die biografische Erinnerung. Zeitzeugenund andere Träger der Erinnerung informierten die Einwohner Le Kramsüber die jüngere Vergangenheit des Viertels. In Ausstellungen oder Vorträ-gen wurden individuelle Biografien bekannter Persönlichkeiten vorgestellt.Diese Erinnerungskultur entsteht durch Kommunikation und Interaktioninnerhalb einer gesellschaftlichen Gruppe. Die Orientierung an der Ver-gangenheit stiftet Gemeinschaft und trägt zur Herausbildung gemeinsamerIdentitätskonzepte der gesellschaftlichen Gruppe bei. Sie kann auch aufAußenstehende ausgeweitet werden. Erinnerungsfiguren treten dann auf,wenn ein politischer oder gesellschaftlicher Bruch erfahren wird, nach demein Neuanfang versucht werden muss (vgl. Assmann 2000, S. 32). Die Be-wohner Le Kram Ests beschrieben sich zu Beginn der Beobachtung zunächstals authentische und lang eingesessene Bewohner Le Krams und zähltensich, in Erinnerung an die rekonstruierte Geschichte des Viertels, selbst zurprivilegierten tunesischen Mittel- oder Oberklasse. Später nach Le KramEst zugezogene Einwohner wurden in diese Selbstwahrnehmung wohlwol-lend inbegriffen. In diese Selbstbestimmung wurden nicht nur ökonomischeFaktoren einbezogen, sondern auch besonderer Wert auf Status, Lebens-führung und Prestige gelegt. Die Interviewpartner rekurrierten wiederholtauf die romantisierte Vorstellung einer geistig anregenden Vergangenheitdes Viertels im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert mit einem reichenkulturellen Leben und einem inspirierenden Freizeitangebot. Mit Stolz be-richteten sie von der früheren kulturellen Infrastruktur des Viertels, wobeidas lokale Kino, das Theater, das Museum sowie die katholische Kircheund die jüdische Synagoge ihren Platz in der Erzählung fanden (Interviews3/2014 und 4/2014). Durch Migrationsbewegungen aus dem tunesischen

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5.4 Zwischenfazit – Historische Narrative

Hinterland in die neu erbaute Erweiterung der Wohngebiete im Westendes Viertels und durch die wachsende gesellschaftliche Mobilität entstandenHerausforderungen an die perzipierten Grenzen des Kernviertels. Anstatteiner Integration „als“ Stadtteilgesellschaft, forderten die scheinbar Etablier-ten eine Einglieder der Fremden „in“ die Gesellschaft (Treibel 2015). DieAnpassungserwartungen betrafen nicht mehrdimensional alle Teile der Ge-sellschaft oder basierten auf Wechselseitigkeit und dem offenen Zugang zumGanzen, sondern ordneten die Einwohner des Westteils den Einwohnern imOsten strukturell unter. Die Westbewohner wurden durch die Ostbewohnerin einer Generalzuschreibung als Arbeiter aus dem tunesischen Hinterlandund Fremde in der Stadt dargestellt. Stereotype vom ungebildeten Arbeiter,der keine Weitsicht oder tieferes Verständnis für die tunesische Geschichteund Kultur aufbringt, prägten zu Beginn der Forschung die Äußerungen derOstbewohner über ihre westlichen Nachbarn. Sie ließen das klischeehafteBild von schlichten Menschen ohne gesellschaftliche und wirtschaftliche Per-spektive entstehen. Weniger wohlwollende Stimmen im Osten sprachen vonden desinteressierten, faulen Kriminellen und Drogensüchtigen im Westenund warnten eindringlich vor dem Betreten des westlichen Le Krams. EinigeInterviewpartner sprachen von der „Generation ohne Geschichte“. Damitwaren die Jugendlichen im Westen des Viertels gemeint, welche ausschließlichunter dem Ben Ali-Regime aufgewachsen waren und, ohne Input durch dieälteren Generationen, aus sich heraus keine Verbindung zur tunesischenVergangenheit aufbauen konnten (Interviews 3/2014 und 6/2014). Im Wes-ten des Viertels berichteten die Befragten ebenfalls von den beschriebenenKlassenzuschreibungen. Die Bewertung der eigenen Position unterschied sichjedoch fundamental von der östlichen Perspektive. Der Westteil Le Kramsentstand nach der tunesischen Unabhängigkeit. Als postkoloniale Erweite-rung des Viertels war er, wie der Ostteil, vom französischen Erbe und den anEuropa orientierten Modernisierungsbestrebungen Bourguibas geprägt. Diestaatliche Präsenz und Durchdringung der Gesellschaft sowie die mangelndePartizipationsmöglichkeit in der politischen Sphäre hinterließen in Le KramOuest ihre Spuren. Dort zeigte sich in den Interviews eine vehemente Kritik

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5 Forschungskontext Le Kram

an der politischen Performanzkrise der tunesischen Regierung, der sozialenUngerechtigkeit und dem ökonomischen Ungleichgewicht, welches den All-tag der Menschen erschwerte.74 Den kulturellen Errungenschaften aus derVergangenheit des Stadtviertels Le Kram maßen die Bewohner im Westentatsächlich wenig Bedeutung bei. Das Kulturzentrum Hammouda Maaliim Westen Le Krams setzte sich eher mit gesamttunesischer Wissenschaft,Kultur und Philosophie auseinander. Auch die eigene Herkunft aus Tunisoder dem Hinterland erschien ihnen wenig ausschlaggebend. Ganz klar sahensich aber als ökonomische Verlierer und erhoben Anklage gegen das BenAli-Regime und seine Unterstützer, welche die tunesische Gesellschaft aufallen Ebenen durchdrangen. Zu den Mitschuldigen zählten sie dezidiert auchdie Einwohner Le Kram Ests, welche sie als Angehörige der Mittelschichtunter Generalverdacht stellten, korrupt zu sein. Sie seien arrogante Verräter,die sich auf Kosten der Unterprivilegierten Tunesiens finanziell und materi-ell bereichert hätten. Sie seien eine Schande für jeden ehrlichen und hartarbeitenden Tunesier (Interview 2/2011). Diese Narrative entstanden durchdie Bemühungen des autoritären Regimes und der wirtschaftlichen undpolitischen Eliten, bestimmte Teile der Gesellschaft über neopatrimonialeNetzwerke und Klientelismus an sich zu binden. Die tunesische Mittelschichtstand auch deshalb im Zentrum staatlicher Entwicklungspolitik. Die Bürgerim Osten Le Krams wurden dementsprechend auch nach 2011 weiterhinals regimenah und elitär rezipiert und mit der neuen, ebenfalls als illegitimwahrgenommenen Regierung als Verräter in Verbindung gebracht. In den

74Laut artikulierte, politische Meinungen waren vor der Revolution 2011 gefährlich undkonnten zu willkürlicher Verhaftung und Folter führen. Auch nach der Revolutionblieben einige Gesprächspartner vorsichtig in ihren Äußerungen. Andeutungen, Au-genzwinkern oder bedeutungsvolles Schweigen flossen hier in die Interpretation derGespräche mit ein. Andere Gesprächspartner betonten, sie hätten keine Angst mehr vorden „Männern mit schwarzen Lederjacken und Sonnenbrillen“, den Erkennungszeichender tunesischen Geheimpolizei unter Ben Ali (Interview 1/2011). Die reine Angst vorihrer Anwesenheit reichte vor dem Jahr 2011 schon aus, alle politischen Diskussionenzu unterlassen. Gespräche in Cafés kreisten deshalb eher um unverfängliche Themen,wie den Fußballsport, Musik, den Arbeitsplatz oder soziale Ereignisse, wie Hochzeiten.

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5.4 Zwischenfazit – Historische Narrative

Interviews wurden zur Abgrenzung von der politischen Realität des auto-ritären Staats und den mutmaßlich darin involvierten Nachbarn im Ostenvor allem Werte, wie Freiheit, Gleichheit oder Gerechtigkeit, verwendet(Interview 1/2011). Den Nachbarn im Osten Le Krams wurde insbesondereihr scheinbarer Wohlstand und ihre geringe Gewaltbereitschaft während derDemonstrationen wiederholt als Regimetreue ausgelegt, obwohl sie sich mitden Forderungen der Revolution solidarisierten und ebenfalls einen Regime-wechsel forderten. Für die Bezichtigung der Bürger im Westen, im Vergleichzu ihren unmittelbaren Nachbarn im Osten wirtschaftlich benachteiligt zusein, war nicht die reale (wirtschaftliche) Situation von Bedeutung sonderndie eigene Wahrnehmung ausschlaggebend: „They need not be materiallydeprived to feel discontent, but the perception of deprivation-relative to othergroups in the society (...) is what matters“ (Eickelman & Piscatori 1996, S.109 f.). Im späteren Verlauf stellte sich heraus, dass im Westen Le Kramsnicht das Überdauern alter Seilschaften per se als Problem wahrgenommenwurde, sondern das Unvermögen, darauf zurückgreifen zu können oder dieseim gleichen Maße für sich nutzen zu können, wie die Einwohner es scheinbarim Osten taten. Es kam sogar zu Versuchen, eigene, neue Netzwerke undKontakte zu etablieren, wie beispielsweise die Zusammenarbeit von Vertre-ter der Miliz mit Vertretern der Kommune, der Ministerien oder anderenInstitutionen. Die diametral entgegengesetzte identitäre Selbstverortung derBewohner des Ost- und des Westteils des Viertels fand ihren räumlichenAusdruck in der charakteristischen Zweiteilung des Viertels in Ost undWest. Die sichtbare Grenze durch die Bahnlinie der TGM am Übergangzwischen Ost und West separierte die beiden vermeintlichen Gesellschafts-klassen räumlich voneinander, wie es die Franzosen im Zentrum von Tunisbereits über hundert Jahre zuvor angelegt hatten. Die Interviewpartnerversuchten in den Interviews, diesen räumlichen Dualismus anhand vonunterschiedlichen Architekturen in Ost und West symbolisch zu belegen.Die Villen im Osten seien Beweise für die Korruption der Ostbewohner,meinte eine junger Mann im Westen. Ein ehrlicher Arbeiter könne sich wederein so großes Grundstück, noch die aufwendige Bauweise leisten (Interview

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5 Forschungskontext Le Kram

2/2011). Kleidungsstile wurden klischeehaft stark überzeichnet. Der Anzugund die Krawatte des örtlichen Autoverleihers, der seinem Tagesgeschäftnachging, wurden in der Erzählung zu Symbolen der staatstragenden Eliteüberspitzt (Interview 2/2011). Das praktische Hauskleid der Hausfrau vonnebenan wurde hingegen zum Erkennungsmerkmal der armen Hinterwäld-lerin, französisch plouc beziehungsweise arabisch mutakhalifa, erklärt, diekeine Schulbildung erhalten habe und deshalb keiner angesehenen Bürotätig-keit nachgehen könne. Sie bleibe deshalb, anders als die moderne Städterin,von ihrem Ehemann (finanziell) abhängig (Interview 6/2014). Im Laufe desForschungszeitraums stellte sich heraus, dass Kleidungsstile in Le Kramtatsächlich an Bedeutung für die entsprechende Gruppenzugehörigkeit zu-nahmen. Die lokale Miliz setze beispielsweise die Sportswear der Jugend alsErkennungszeichen für, laut eigenen Aussagen vom Staat unabhängige undsozial engagierte, Revolutionäre ein. Diese Erzählungen führten dazu, dasswährend des ersten Forschungsaufenthalts, der Eindruck von zwei getrenntenVierteln entstand, obwohl äußerlich betrachtet das Viertel in weiten Tei-len zusammengewachsen und beide Teile komplex miteinander verschränktwaren. Die Erinnerung der Ostbewohner, die sich als Nachkommenschaftder Gründerfamilien stilisierten, täuschte über die historischen Realitätenhinweg. Ein Großteil dieser Familien kann erst an die Küste gezogen sein, alsviele europäische Familien sich im Zuge der Dekolonialisierung aus Tunesienzurückziehen mussten. Damit lebten die selbsternannten Alteingesessenennur wenige Jahre in Le Kram Est, bevor der Zuzug ins westliche Neubau-gebiet begann. Die überspitzte Abgrenzung durch Klassenzuschreibungenhält einer kritischen Reflexion des Alltags ebenfalls nicht stand. Auch inLe Kram Ouest lebten im Beobachtungszeitraum wohlsituierte Familien,die der tunesischen Mittelklasse zugerechnet werden können. Tatsächlichbeschrieben ältere Bewohner, dass die Konkurrenzsituation zwischen denbeiden Teilen des Viertels über die Jahrzehnte hinweg unterschiedlich aus-gefallen war. Sie sei nach ersten Konflikten in den 1970er Jahren immerweiter in den Hintergrund getreten, bis sie in den 1990er Jahren kaum nochthematisiert wurde. Erst gegen Ende des Ben Ali-Regimes und im Vorspiel

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5.4 Zwischenfazit – Historische Narrative

der Revolution seien lang verschüttete Animositäten wieder aufgebrochen.Seither repräsentierte die TGM Bahnlinie wieder eine vorgestellte Grenzeder Identitäten zwischen Ost und West, die an einigen Bahnübergängen denWeg über die Gleise und zu den jeweils anderen ermöglichte. Zu Beginndes Forschungszeitraumes zeigte sich, dass sich die Identitätsaushandlungder Einwohner klar auf Klassenzuschreibungen, die ungleiche Verteilungmaterieller Güter und die damit verbundene Erinnerungskultur bezog. DieKlassenzuschreibungen basierten auf binnentunesischen Migrationsbewegun-gen sowie der Erinnerung an die Stadtgeschichte. Gleichzeitig wurden imLauf der neueren Geschichte Tunesiens erlittene Unrechtserfahrungen indie Konstruktion eingebunden. Gemeinsam bildeten sie in Le Kram dieAusgangslage für den diskursiven Austausch und die Verlagerung von Macht-verhältnissen im weiteren Verlauf der Transition. „Erzählte Geschichtenüber Geschichte sind Herrschaftsinstrumente, da soziale, ökonomische undpolitische Strukturen legitimiert werden. Das Verfügen über Geschichte(n)(...) ist eine Machtfrage ersten Ranges“(Fuchs 2013, S. 45). Eine öffentlicheAuseinandersetzung mit den Ideen alternativer Ordnungsvorstellungen zogzu diesem Zeitpunkt noch keine weiten Kreise. Sie wurde jedoch im Ver-lauf der politischen Transition zum bestimmenden Thema. Im folgendenKapitel wird sich zeigen, dass nach der Revolution von 2011 ein Wandeldieser konnektiven Strukturen einsetzte. Die Erinnerungskultur löste sichnicht vollständig auf, wurde jedoch vorübergehend durch neue Narrative vonReligion und Staatlichkeit überlagert, bis sie gegen Ende des Beobachtungs-zeitraums mit der Aushandlung tunesischer Kultur wieder aufgegriffen undneu interpretiert wurde. Neben die starke Betonung der Stadtteilgeschichtetraten dann übergreifende Selbstbilder einer tunesischen Gesellschaft, dieneben den ausländischen kulturellen Einflüssen der kolonialen Vergangenheitauch genuin eigene Traditionen aufwertete und wiederbelebte. Diese erinner-ten an und vergegenwärtigten Elemente der Berberkultur sowie Elementevon „Volksreligion“ in Kombination mit den überdauernden Vorstellungenvon „Hochkultur“ aus Le Kram Est. Die integrierende Wirkung dieser neuausgehandelten, konnektiven Strukturen umspannte schließlich das gesamte

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5 Forschungskontext Le Kram

Viertel und wurde ausgedehnt auf alle Tunesier. Die Abgrenzung erfolgtedann dezidiert gegen ausländische Einflüsse aus der arabischen Golfregion –nicht gegen Europa – welche als Bedrohung der eigenen Identität und Kultursowie des tunesischen Islams begriffen wurden. Eine mögliche Erklärung fürdas erneute Ausbrechen der gesellschaftlichen Konflikte in Le Kram nachder Revolution, könnte darin liegen, dass der Anspruch auf Teilhabe undMitgestaltung der zugezogenen Bewohner im Westen im Zeitverlauf anstieg(El-Mafaalani, Aladin 2018).75 Während die Möglichkeiten des Aufbegeh-rens unter dem Ben Ali-Regime stark beschränkt blieben, taten sich nach2011 Räume auf, die mit Forderungen nach Gerechtigkeit gefüllt wurden.Die unmittelbare Folge waren das Ansteigen von Konflikten und Differen-zen, eine identitäre Mobilisierung und eine weitere Ausdifferenzierung dessozialen Milieus, welche durch die Unzufriedenheit der Jugend zusätzlichverstärkt wurden (Treibel 2015). Zu Ende des Beobachtungszeitraums lässtsich schließlich beobachten, dass diese Konflikte einen positiven Effekt aufdie identitären Narrative und damit den gesellschaftlichen Zusammenhaltbeider Stadtteile, Ost und West, hatten (El-Mafaalani, Aladin 2018). Überdie Kulturförderung wurden alte Identitätskonzepte neu verhandelt undGrenzen überschreitend implementiert. Aus dem Verständnis von Kultur imengen Sinn als Hochkultur wurde eine Übertragung auf alle Lebensweltenbis hin zu einem holistischen Verständnis von Kultur verhandelt, welchesalle Lebensbereiche umfasst.

75El-Mafaalani beschreibt anhand einer Tisch-Metapher, wie in der Generationenfolgevon (Binnen-)Migrantenfamilien zunehmend das Konfliktpotenzial mit der Mehrheits-gesellschaft steigt. Diese Entwicklung wertet er als positives Zeichen einer gelingendenIntegration, da das Recht auf Mitbestimmung der Ordnung von den jüngeren Genera-tion selbstverständlich eingefordert wird.

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6 Die lokale Aushandlung vonPolitik, Kultur und Identität,Le Kram 2011–2014

Im Blick auf den Forschungszeitraum 2011 bis in das Jahr 2014 im Stadtvier-tel Le Kram konnten retrospektiv drei lokale Entwicklungsphasen identifiziertwerden, welche jeweils fließend ineinander übergingen. Die erste Phase desForschungszeitraums war geprägt durch die politischen, gesellschaftlichenund wirtschaftlichen Erschütterungen der tunesischen Revolution im Januar2011. Die staatliche Ordnung brach zusammen, die öffentliche Sicherheit imViertel wurde vorübergehend durch privat initiierte Bürgerwehren vertei-digt. Die in der Entstehungsgeschichte Le Krams verwurzelten, historischenNarrative traten in dieser ersten Entwicklungsphase nach der Revolutionzu Gunsten religiöser Diskurse in den Hintergrund. Dieser religiöse Diskursbegann als eine beinahe wertungsfreie Akzeptanz der Heterogenität islami-scher Praktiken im öffentlichen Raum. Erst am Ende der Entwicklungsphasekam die Frage auf: Wer ist der wahre Muslim? Der Beginn der zweitenEntwicklungsphase lässt sich spätestens zum Jahresanfang 2012 ansetzen.Gewaltbereite Akteure traten in Le Kram an die Öffentlichkeit. Sie bean-spruchten den städtischen Raum für sich und leisteten aktiven Widerstandgegen den tunesischen Staat. Unter ihrem Einfluss wurde der Diskurs zu-nehmend politischer. Die Frage nach dem wahren Tunesier wurde gestelltund mit historischen Narrativen über die Stadtteilgesellschaft verknüpft.Der politisch besetzte Diskurs verdeckte vorübergehend die mit Konfliktenbehafteten Narrative über religiöse Praktiken. Der Widerstand verschie-

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6 Die lokale Aushandlung von Politik, Kultur und Identität, Le Kram 2011–2014

dener zivilgesellschaftlicher Akteure gegen diesen politischen Aktionismuskennzeichnete schließlich den Beginn der dritten Phase im Jahr 2014. Diesezivilgesellschaftlich aktiven Akteure beriefen sich auf das kulturelle Erbesdes Landes als Anker tunesischer Identität. Sie traten entschieden für einedemokratische Republik Tunesien ein. Zu ihnen zählten im Stadtviertelsowohl die sogenannten Säkularen, als auch deren scheinbaren Widersacher,die Islamisten. Der diskursive Rückgriff auf die tunesische Kultur und Ge-schichte ermöglichte ihnen eine gemeinsame Arbeitsbasis, ohne den Islamnäher bestimmen oder ablehnen zu müssen. Dieser Ordnungsidee stand einan der Entstehungszeit des Islams orientierter Identitätsdiskurs diametralentgegen, dessen Befürworter die Einführung eines Kalifats innerhalb derbestehenden Staatsgrenzen Tunesiens forderten.Jede dieser Entwicklungsphasen wird im Folgenden in einem eigenen Kapiteldargestellt. Zur besseren Orientierung des Lesers erfolgt zu Beginn jedesdieser Kapitel ein kurzer Überblick über die parallel auf der nationalenEbene aufgetretenen Politiken. Dieser Überblick stellt keine umfassendeRekapitulation der nationalen Ereignisse dar. Er fokussiert auf nationaleEreignisse und Diskurse, die in den lokalen Diskursen aufgegriffen wurdenoder diese beeinflussten. Es ist zu beachten, dass die politischen Entwick-lungen auf nationaler Ebene nicht notwendigerweise parallel zu den lokalenEntwicklungsphasen verliefen. Jede einzelne Entwicklungsphase zeigte einespezifische Akteurskonstellation. Die unter den wechselnden Akteuren auftre-tenden Aushandlungsprozesse im öffentlichen Raum werden in jedem Kapitelherausgearbeitet und prozesshaft dargestellt. Ebenso werden die Strategien,Taktiken und individuellen Ausgangsvoraussetzungen der Akteure beschrie-ben. Diese Akteure waren mit ihren spezifischen Versuchen der Aneignungund Instrumentalisierung des öffentlichen Raums die treibenden Kräfte hin-ter den Verschiebungen der lokalen Machtstrukturen und der diskursivenNarrative in Le Kram. Die in jeder Phase auftretenden Diskursvariationenwerden am Ende jedes Kapitels in der Reflexion zusammengezogen und ihreRückwirkungen auf das gegebene Akteursspektrum bestimmt. Alle genann-

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6.1 Phase Eins: Das Revolutionsjahr 2011

ten Ereignisse finden sich in einer tabellarischen Chronologie im Anhang 7.2ab Seite 352.

6.1 Phase Eins: Das Revolutionsjahr 2011

6.1.1 Nationaler Aufriss: Staat der Freiheit

Politischer Prozess. Das Jahr der Revolution 2011 war sowohl auf nationalerals auch auf lokaler Ebene von einer wütenden Aufbruchstimmung gegenden Status quo geprägt. Der französische Kraftausdruck dégage, deutsch hauab, war allgegenwärtig und zeigte, dass die Ordnung in einem Gesellschafts-vertrag gegründete war, der auch gekündigt werden kann. Demonstrantenforderten damit das Verschwinden des Staatsoberhaupts Ben Ali und dar-über den radikalen Bruch mit dem ancien régime. Sie protestierten gegendie noch aktiven Mitglieder der korrupten Herrschaftsclique und die Willkürdes repressiven Polizeiapparates. Nach der überraschenden Flucht Ben Alisam 14. Januar 2011 nach Saudi Arabien wurde landesweit der Ausnahme-zustand verhängt. In den folgenden Monaten unterstützte das tunesischeMilitär die Polizeikräfte in dem Versuch, die durch politische Instabilitätgefährdete, öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten beziehungsweise sie wie-derherzustellen.76 Einen Tag nach der Flucht Ben Alis wurde am 15. Januar2011 der vorherige Präsident des tunesischen Abgeordnetenhauses, FouadMebazaa [Fu cad al-Mubazzac], auf Beschluss des Verfassungsgerichts, zumkommissarischen Staatsoberhaupt Tunesiens vereidigt.77 Er löste damit denMinisterpräsident, Mohamed Ghannouchi [Muh. ammad al-Ghannushı], nach

76Das tunesische Militär hatte seine seit der Staatsgründung im Jahre 1956 gewachsene,unpolitische Rolle nach der Revolution bewahrt und sich aus dem öffentlichen Raumzurückgezogen. In den tunesischen Medien wurde die Armee fast ausschließlich inihrer Rolle der Bekämpfung terroristischer Aktionen in den algerischen und libyschenGrenzregionen präsentiert.

77Der tunesische Politiker Mebazaa (geb. 1933) diente unter Bourguiba und Ben Aliin verschiedenen öffentlichen Ämtern, darunter als Minister für Sport und Jugend,als Gesundheitsminister und als Kultur- und Informationsminister. Zudem war er

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6 Die lokale Aushandlung von Politik, Kultur und Identität, Le Kram 2011–2014

einem Tag im Amt als geschäftsführender Präsident ab.78 Mohamed Ghan-nouchi selbst blieb zunächst Ministerpräsident und öffnete in dieser Funktiondie Regierungsposten für Mitglieder der Oppositionsparteien. Zudem trater am 18. Januar 2011 aus der verhassten, ehemaligen Einheitspartei RCDdes Ben Ali-Regimes aus. Diese beiden Schritte konnten das Vertrauen dertunesischen Bevölkerung jedoch nicht zurück gewinnen. Letztere forderteeinen radikalen Bruch mit dem bisherigen System und wollte keine Spit-zenfunktionäre der RCD in der neuen Regierung dulden. Nach erneutenStraßenkämpfen und Demonstrationen vor den Regierungsgebäuden auf demPlace de la Kasbah (Kasbah I und Kasbah II) wurde wenige Wochen späterdeshalb die Interimsregierung der nationalen Einheit um den Ministerpräsi-denten Mohamed Ghannouchi vom Kabinett Essebsi abgelöst. Das vordersteAnliegen Beji Caid Essebsis stellte, in Zusammenarbeit mit dem Staatspräsi-denten Fouad Mebazaa, die Stabilisierung der politischen Verhältnisse sowiedie damit verbundene Organisation der ersten freien Wahlen der Geschichtedes Landes dar. Ihre Vorbereitung prägte das gesamte politische Geschehendes Jahres 2011. Obwohl die Wahlen, gemäß der noch geltenden Verfassungvon 1959, innerhalb der ersten 60 Tage nach Rücktritt des Staatsoberhaup-tes und damit bereits im April 2011 stattfinden hätten müssen, wurdensie in einer Fernsehansprache Mebazaas am 3. März 2011 auf den 24. Juli2011 festgelegt.79 Die Wahlen wurden danach erneut auf den 23. Oktober2011 verschoben, um den neu entstandenen Parteien Zeit zu geben, sich zuorganisieren und ihr Programm auszuarbeiten. Zudem hatte es in der Vor-bereitungsphase Probleme mit der der inhaltlichen Aufklärung der Bürger

Mitglied der RCD und fungierte in den 1980er Jahren als tunesischer Botschafter beiden Vereinten Nationen.

78Der Wirtschaftswissenschaftler Ghannouchi (geb. 1941) bekleidete unter den Vorgän-gerregimen verschiedene Ministerposten, darunter das Amt des Planungsministers,des Wirtschafts- und Finanzministers und des Ministers für Internationale Zusam-menarbeit.

79Die Verfassung der Tunesischen Republik wurde am 1. Juni 1959 durch den damaligenStaatspräsidenten Bourguiba verkündet und blieb, mehrfach überarbeitet, bis in dasJahr 2011 in Kraft.

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6.1 Phase Eins: Das Revolutionsjahr 2011

und der Registrierung der Wahlberechtigten gegeben.80 Am 30. Januar 2011kehrte der tunesische Intellektuelle und Mitbegründer der Ennahdha-Partei,Rachid al-Ghannouchi [Rashid al-Ghannushı], aus seinem Londoner Exilnach Tunesien zurück.81 Als Anführer belebte er die Ennahdha-Partei inTunesien wieder und führte sie in den Wahlkampf, aus dem sie, wie weithinerwartet, als deutlich stärkste Kraft hervorging. Die Ennahdha-Partei erhielt90 der insgesamt 217 Sitze in der Verfassungsgebenden Nationalversamm-lung. Da sie dennoch keine Mehrheit stellen konnte, wurde eine Koalition mitder linksliberalen Partei Congrès pour la république (CPR) (30 Mandate)und der sozialdemokratischen Partei Forum démocratique pour le travailet les libertés (FDTL) (24 Mandate), genannt Ettakatol, gebildet. DieseRegierung der nationalen Einheit rang, gehemmt durch Misstrauen undohne geteilten politischen Willen, um eine gemeinsame Reformstrategie. Ha-madi Jebali [H. ammadı al-Jibalı] fasste in seiner Eröffnungsrede zum erstenZusammentreten der Verfassungsgebenden Nationalversammlung am 22.November 2011 die Hoffnung auf die zweite tunesische Republik zusammen:„In diesem historischen Augenblick legen wir den Grundstein der zweitenRepublik für einen Staat der Freiheit, Gerechtigkeit und Würde, der dieZiele der Revolution verwirklichen soll“.82 Nach einer Gedenkminute mitRezitation der Koransure al-fatih. a, deutsch die Eröffnende, für die Märtyrer

80Bis Juni 2011 hatten sich weniger als 20 % der Wahlberechtigten für die Wahl re-gistrieren lassen. Diese geringe Quote hätte die Wahlbeteiligung, welche unter BenAli bei circa 30 % lag, unterschritten und die Legitimität der VerfassungsgebendenNationalversammlung infrage gestellt.

81Der islamische Intellektuelle al-Ghannouchi (geb. 1941) musste im Jahr 1989 insbritische Exil fliehen, nachdem islamische Kräfte unter dem autoritären Regime BenAlis verfolgt worden waren. Als Vorsitzender der Ennahdha ließ er die Bewegung imMärz 2011 als Partei in Tunesien zulassen und betont seither die nationale Einheitund Konsenspolitik als notwendige Basis der Regierungsfähigkeit Tunesiens.

82Der Journalist und Politiker Jebali schloss sich bereits im Jahr 1981 der MTI, welchesich wenige Jahre später in Ennahdha umbenannte, an. Aufgrund seiner politisch-religiösen Agitation wurde er unter dem Ben Ali-Regime zu fünfzehn Jahren Haftverurteilt. Nach der Revolution wurde er zum Generalsekretär und Sprecher derEnnahdha-Partei ernannt.

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6 Die lokale Aushandlung von Politik, Kultur und Identität, Le Kram 2011–2014

der Revolution 2011 wurden schließlich die wichtigsten Personalentscheidun-gen der künftigen Regierung getroffen. Die Versammlung einigte sich aufHamadi Jebali der Ennahdha-Partei als Ministerpräsident und MoustafaBen Jaafer [Mus.t.afa Bin Jacfar] der Ettakatol als Präsident der Verfassungs-gebenden Nationalversammlung.83 Moncef Marzouki [al-Muns.if al-Marzuqı]von der CPR wurde zum nächsten Übergangspräsident gewählt und trat am12.Dezember 2011 sein Amt an.84 Am 11. Dezember 2011 wurde schließlichdie neue Übergangsverfassung beschlossen.

Nationale Sicherheit. Die Auseinandersetzung mit den Symbolen des altenRegimes und das Ringen um Macht machten, neben symbolischen Gesten,die Auflösung des Parteiapparats der RCD und der Geheimpolizei am 9. und27. März 2011 unumgänglich, um einen weiteren politischen Coup zu ver-hindern. Während andere staatliche Institutionen, wie Ministerien oder dieSicherheitsarchitektur, im Bereich des Militärs nur Teilmodifikationen erfuh-ren, hätte ein weiteres Bestehen der Direktion für Staatssicherheit und allerbestehenden Organisationsformen der politischen Polizei die Legitimität derneuen Ordnung massiv infrage gestellt.85 Tunesische und internationale Me-83Der Mediziner Ben Jaafer gründete 1994 die FDTL und wurde deren Generalsekretär.

Bereits im Jahr 2009 bewarb er sich für die Zulassung als Kandidat der Präsident-schaftswahlen, wurde jedoch aus formalen Gründen ausgeschlossen.

84Marzouki (geb. 1945) engagiert sich in Tunesien seit den 1980er Jahren als Aktivist fürMenschenrechte. Nachdem er für seine Präsidentschaftskandidatur gegen Ben Ali imJahr 1994 inhaftiert worden war, floh der Oppositionspolitiker nach Frankreich. ImExil gründete er die linksgerichtete Partei CPR, welche bis zum Jahr 2011 in Tunesienverboten blieb.

85In Aufarbeitung der Archive der Diktatur und des rechtlichen Rahmens der Repu-blik Tunesien im internationalen Vergleich, gab die Nichtregierungsorganisation LeLabo’ Démocratique im Jahr 2014 die unter der Leitung von Farah Hached [Farah.H. ashad] und Wahid Ferchichi [Wah. ıd Farshıshı] entstandene, dreibändige Analyse undHandlungsempfehlung „Révolution tunisienne et défis sécuritaires“ heraus (Hached &Ferchichi 2014).Die Juristin Farah Hached ist die Enkelin des tunesischen Gewerkschaftsführers Fer-hat Hached und Mahmoud al-Materi [Mah.mud al-Matarı], dem Mitbegründer derNeo-Destour Partei.

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6.1 Phase Eins: Das Revolutionsjahr 2011

dien lobten den Schritt des Innenministeriums als unausweichliche politischeZäsur auf dem Weg zur Demokratie.86 Dennoch sind weitere, tiefgreifendeReformen innerhalb des Innenministeriums notwendig, um Transparenz undKohärenz zu schaffen und das Ministerium unter die Aufsicht des Parlamentszu stellen. Auch die Unabhängigkeit der Judikative ist in Tunesien nichtgegeben. Bis ein Verfassungsgericht existiert und alle zwölf Richter vomParlament bestätigt worden sind, wird die verfassungsgemäße Legitimitätverabschiedeter Gesetze umstritten bleiben. Die Ennahdha-Partei selbstnahm mit ihrem Regierungsantritt bewusst Abstand von hegemonialenPolitiken und verlegte sich auf die Strategie, der tunesischen Gesellschafts-ordnung eine islamische Legitimität zu verleihen (vgl. Schulze 2016, S. 537).Das Ringen um die politische und gesellschaftliche Neuordnung war dasbestimmende Motiv der ersten Phase des politischen Umbruchs nach demSturz des Regimes. Der Druck, welcher auf der Regierung lastete, wurde inder Gründung der Ligue nationale de protection de la révolution (LNPR)durch Mohamed Maalej [Muh. ammad Macalij] im Mai 2011 deutlich. Um denBruch mit dem früheren System zu besiegeln, setzte sich die Organisation fürdie arabisch-muslimische Identität der Tunesier ein. Dabei schreckten vieleMitglieder der LNPR zur Durchsetzung der revolutionären Ziele gegen reak-tionäre Kräfte vor Gewalt nicht zurück und gefährdeten im weiteren Verlaufdie öffentliche Ordnung und Sicherheit immens. Zum Zeitpunkt der Grün-dung genossen sie jedoch noch den Zuspruch weiter Teile der Öffentlichkeitund wurden als außerparlamentarische bürgerliche Kraft zur Überwachungder Aktivitäten der Regierung wahrgenommen. In einer Zeit des Misstrauensund der Politisierung, in der alte Kräfte sich als Vorreiter der Zukunft einneues politisches Standing zu verschaffen suchten, beanspruchten sie für sich,

Wahid Ferchichi ist ebenfalls Jurist und Professor für Recht an der Universität Cartha-ge in Tunis. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf den persönlichen Freiheitsrechten.Ferchichi gründete unmittelbar nach dem Sturz Ben Alis im Frühjahr 2011 die Asso-ciation de la défense des libertés individuelles (ADLI).

86Die Entscheidung wurde der tunesischen Öffentlichkeit am 7. März 2011 in einemKommuniqué auf der Facebookseite des tunesischen Innenministeriums mitgeteilt.

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eine bedeutende politische Kontrollfunktion innezuhaben. Sie wollten denRegierungsmitglieder vor Augen führen, wie wichtig es sei, sich des eigenenAmts, im Sinne der Revolution, als würdig zu erweisen. In dieser Situationkonnte jede Assoziation mit dem alten Regime delegitimierend wirken. Indie Kritik geriet die tunesische Regierung im Jahr 2011 unter anderem fürdie Entlassung tausender Gefängnisinsassen im Zuge der Revolution sowiefür die Massenflucht von über 800 Insassen aus zwei Gefängnissen in Gafsaund Kasserine am 29. April 2011. Beide Ereignisse wurden in den tunesi-schen Median als akute Bedrohung der Sicherheitslage und als Versagender Regierung angeprangert. Die Handlungs- und Durchsetzungskraft derRegierung zum Schutz der Bürger wurde massiv in Zweifel gezogen (Bouagga2018). Auch die Verhaftung des whistle-blowers Samir Feriani [Samır Faryanı]wurde in der tunesischen Öffentlichkeit als überzogene Maßnahme eines infrüheren, autoritären Strukturen gefangenen Systems gewertet. Feriani, eintunesischer Polizeibeamter, erhob im Mai 2011 Vorwürfe gegen verschiedeneAmtsträger des Innenministeriums wegen Korruption, Menschenrechtsver-stößen gegen Demonstranten und der Zerstörung sensibler Archive. HumanRights Watch forderte nach seiner Verhaftung und Anklage wegen Hoch-verrats die Überstellung Ferianis an ein Zivilgericht (Human Rights Watch2011). Erst im März 2012 wurde er von einem Militärgericht von der An-klage freigesprochen, musste sich jedoch für seine Anschuldigungen gegenverschiedene Angestellten des öffentlichen Dienstes verantworten, da dasGericht keine Beweisgrundlage für diese Anschuldigungen sah. Die Affäresowie das wiederholte Vorgehen tunesischer Sicherheitskräfte gegen friedlicheDemonstranten mit Schlagstöcken und Tränengas lösten eine landesweiteMediendebatte über Meinungsfreiheit und bürgerliche Freiheiten nach demSturz des Ben Ali-Regimes aus.

Religion und die Grenzen der Freiheit. In Verbindung mit divergierendenVorstellungen über soziale Werte und die Rolle der Religion verschärftesich die Diskussion schnell auch im Hinblick auf die Grenzen künstlerischerFreiheit. Die Sensibilität des Themas führte zur Eskalation, als extremisti-

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sche religiöse Gruppen das Kino Afric’art in Tunis angriffen, um gegen diePremiere des Films „Ni allah, ni maître“ zu protestieren.87 Die tunesischeAktivistin und Filmemacherin Nadia El Fani [Nadya al-Fanı] versichertedaraufhin in einem Fernsehinterview, mit ihrem Film keinesfalls antireligiöseEinstellungen verbreiten zu wollen. Der Film sei lediglich ein Plädoyer fürdie Trennung von Religion und Staat.88 Gewalttätige Reaktionen provozierteim Jahr 2011 auch der auf dem autobiografischen Comicroman von MarjaneSatrapi [Marjan Satrapı] basierende Film Persepolis, der die Kindheit undJugend der Autorin rund um die Iranische Revolution erzählt. NachdemPersepolis bereits mehrmals in Französisch in Tunesien ausgestrahlt wordenwar, ohne eine öffentliche Reaktion auszulösen, wurde der Film im Oktober2011 vom privaten Fernsehsender Nessma TV im tunesischen Dialekt ge-sendet. Anstoß erregte daraufhin die personifizierte Darstellung Gottes alsComicfigur, welche in weiten Teilen der Bevölkerung als Häresie verstandenwurde und Unverständnis hervorrief. Vor dem Hintergrund der schwelenden,öffentlichen Debatte über das Verhältnis von Staat, Politik und Religionsowie den darauf beruhenden Identitätskonflikten, versuchten schließlichhunderte religiöse Extremisten, das Bürogebäude des Fernsehsenders zustürmen und es in Brand zu stecken. Andere griffen den Privatwohnsitz desNessma TV Direktors, Nabil Karaoui [Nabıl al-Qarwı], mit Molotowcocktailsan. Vereinzelte Stimmen mahnten an, dass der Film eine liberale Revolutionzeige, welche in Unterdrückung endet, nachdem religiöse Kräfte sich dieMacht aneignen. Der Film sei kurz vor den Wahlen im Oktober 2011 eineMahnung, der Ennahdha-Partei nicht zu vertrauen. Die spätere Gerichtsver-

87Der Titel des Films ist eine Anspielung auf die Zeitung „Ni dieu, ni maître“ desfranzösischen Soziologen und politischen Aktivisten Louis-Auguste Blanqui (1805–1881). Er wurde seit dem 19. Jahrhundert das Motto verschiedener anarchistischerBewegungen weltweit. In Frankreich wurde der Film unter dem abweichenden Titel„Laïcité, Inch’Allah!“ vorgeführt.

88Nachdem El Fani mehrfach Morddrohungen erhielt, sich massiver Diffamierung aus-gesetzt sah und wegen Blasphemie vor Gericht gestellt werden sollte, verließ sieTunesien in Richtung Frankreich. Sie kehrte erst im Jahr 2017 zu den Journéescinématographiques de Carthage zurück.

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handlung Karaouis, der sich für die Ausstrahlung des Films verantwortenmusste, konnte als Testlauf für die junge tunesische Demokratie im Bereichgewertet werden. Karaoui wurde im Jahr 2012 von einem Gericht ersterInstanz in Tunis zu einer Geldbuße von 2.400,– Tunesischen Dinar verurteilt,da die Verbreitung des Films die öffentliche Ordnung gestört und die guteMoral untergraben habe. Ein Umstand der, laut Gericht, nicht von derPressefreiheit gedeckt sei (Provost 2012). Dass islamische Rhetorik und Agi-tation gegen Ende des Jahres 2011 zunehmend salonfähig wurde, belegt dieAnsprache Hamadi Jebalis als Generalsekretär der Ennahdha-Partei am 13.November 2011. Während einer Veranstaltung in seiner Heimatstadt Sousse,wenige Wochen nach den Wahlen, proklamierte er die Ankunft des sechstenKalifats in Tunesien und heizte mit dem kontroversen Begriff die kontroversgeführte Debatte über die Stellung des Islam in politischen Fragen zusätzlichan. Unmut rief zudem das von Radio Monte Carlo am 9. November 2011 ge-führte Interview mit der Abgeordneten der Ennahdha-Partei für den BezirkTunis II, Souad Abderrahim [Sucad cAbd al-Rah. ım], hervor.89 Abderrahimforderte darin, dass Freiheiten von Sitten, Traditionen und dem Respektvor der Moral geprägt sein müssten und sprach sich im gleichen Zug für dieAbschaffung von staatlicher Unterstützung für ledige Mütter aus.90 Mit ihrenAussagen zwang sie ihre Parteikollegen, die demokratische Grundhaltung derEnnahdha in Statements vor der tunesischen Presse hervorzuheben. Obwohlsie wiederholt betonte, sie sei politisch unabhängig und die Entscheidung fürdie Ennahdha-Partei sei aus rein strategischen Gründen gefallen, verteidigtesie deren Programm doch überzeugt und vehement. In ihrem öffentlichenAuftreten als islamische Feministin und modernes Aushängeschild der Parteizog sie im Ausgang der Kommunalwahlen vom 6. Mai 2018 als Spitzenkandi-89Der Sender ist, wie France 24, Teil der France Media Monde Gruppe.90Die Pharmazeutin begann ihre politische Karriere als Aktivistin der Union générale

tunisienne des étudiants (UGET), einer unter Ben Ali aufgelösten Studentenvereini-gung der Ennahdha. Nach der Revolution trat sie der Ennahdha-Partei bei und wurdeals Abgeordnete der Verfassungsgebenden Nationalversammlung die Vorsitzende derKommission für Menschenrechte und Freiheiten. In dieser Funktion geriet sie mehrfachals moralisatrice in die Schlagzeilen (Dahmani 2011, Le Monde Afrique 2018).

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6.1 Phase Eins: Das Revolutionsjahr 2011

datin der Ennahdha-Partei und als erste Frau im Amt als Bürgermeisterin insRathaus von Tunis ein. Eine doppelte Premiere, da bis dato der tunesischeStaatspräsident über die Ämterbesetzung entschieden hatte.

6.1.2 Lokales Machtvakuum

Staatliche (Un-)Ordnung und Gewalt. Obwohl der tunesische Sicherheits-sektor als repressives Instrument zur Sicherung des Ben Ali-Regimes sowieaufgrund aktueller, nationaler Krisen diskreditiert war, fanden im Jahr2011 keine tiefgehenden Umstrukturierungen statt.91 Es wurden lediglichkompromittierte Einzelpersonen in hohen Führungspositionen entlassen. Inden ersten Monaten nach der Revolution bis zu den Wahlen im Oktober2011 wurden die Direktoren von insgesamt elf Sicherheitsbehörden ihrerÄmter enthoben und die Stellen neu besetzt. Aus Mangel an Koordinationund Kooperation zwischen dem Innen- und dem Verteidigungsministeriumblieb die tunesische Armee weiterhin marginalisiert und unterfinanziert (vgl.Ben Mahfoudh 2014, S. 10 ff.). Die Verunsicherung und die vorsichtigeZurückhaltung der Sicherheitseinheiten in der Ausübung ihrer Aufgaben,aus Angst vor rechtlichen Konsequenzen, lähmte die Strukturen zusätzlich(vgl. Ben Mahfoudh 2014, S. 3). Während auf der nationalen Ebene dieVerwaltung und das politische Geschäft in der Krise trotzdem weitergeführtwurden, wobei um die Neuordnung und das fragiles Gleichgewicht gerungenwurde, zeigte sich auf der lokalen Ebene ein widersprüchliches Bild. Wo überJahrzehnte das autoritäre Regime die Steuerung und die Durchdringungder Gesellschaft immer weiter vertieft hatte und die sozialen Strukturenund die Kommunikation der Bevölkerung bewusst unterwandert wordenwaren, brachen die Polizei und der Geheimdienst im lokalen Umfeld von LeKram und in anderen Stadtvierteln von Tunis plötzlich weg. Die politische91Als operationales, normatives Konzept entstand die Sicherheitssektorreformen im

Zusammenhang mit den politischen Umbrüchen in Osteuropa der 1990er Jahre. EineReform des Sicherheitssektors ist notwendig, wenn der Sicherheitssektor selbst keinendemokratischen Prinzipien untersteht, er die weitere Demokratisierung und den Friedenverhindert und damit zur Bedrohung der Bevölkerung wird.

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Polizei verlor infolge der Revolution ihren Schrecken und wurde wenigeWochen später offiziell aufgelöst. Laut geäußerte Kritik an den politischenUmständen stellte kein mit Risiken behaftetes Tabu mehr dar, welches zurVerhaftung politische aktiver Bürger führen würde. In den Cafés am Stra-ßenrand wurden hitzige Debatten über Politik und Wirtschaft geführt, wovor der Revolution unverfängliche Themen, wie Gespräche über Sportver-anstaltungen und familiären Großveranstaltungen, dominiert hatten. DieSchranken der Zensur fielen auch in den Medien und bis hinein in denBildungs- und Gesundheitssektor. Zentrale Entscheidungen der Regierungwaren in Le Kram nicht mehr durchsetzbar, was vor allem auf Defizite in denstaatlichen Institutionen vor Ort zurückzuführen war. Sie konnten gegenüberder Wut der aufgebrachten Bürger das Recht und die Ordnung nicht mehraufrechterhalten. Jedem Vordringen oder auch nur Auftreten des Staateswurde Widerstand entgegengebracht. Das staatliche Gewaltmonopol undRegierungsfähigkeit waren dementsprechend eingeschränkt und öffneten denRaum für kriminelle Aktivitäten. „A state’s most basic task is to providesecurity by maintaining a monopoly on the use of force, protecting againstinternal and external threats, and preserving sovereignty over territory. Ifa government cannot ensure security, rebellious armed groups or criminalnonstate actors may use violence to exploit this ‚security gap‘“(Eizenstatet al. 2005, S. 136). In dieser Situation war deutlich zu erleben, dass fürdie Gewährleistung von Freiheit das Ziehen von Grenzen und die staatlicheKontrolle eine politische Notwendigkeit darstellt. Am Abend des 13. Januar2011 wurde in Le Kram Ouest die örtliche Polizeistation von mehrerenGruppen junger Männer angegriffen und zerstört, um acht jungen Männeraus Le Kram, die sogenannten Märtyrer des Viertels, welche kurz zuvor beiStraßenkämpfen mit den Sicherheitsbehörden ums Leben gekommen waren,zu rächen. Fünf weiter junge Männer wurden während der folgenden Aus-schreitungen getötet, viele andere verletzt.92 Im Zuge der Ereignisse entlud

92Der amtierende Innenminister, Ahmed Friaa [Ah. mad Frıca], teilte am 17. Januar 2011mit, dass im Verlauf der Revolution bereits 85 Polizeiwachen, dreizehn Rathäuser, 43Banken, elf Fabriken und 66 Geschäfte und Einkaufszentren beschädigt wurden. Die

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sich die Aggression und die Frustration gegen die diskreditierte Polizei undzwang die noch im Dienst befindlichen Polizisten zum Rückzug aus demWestteil des Viertels.93 Andere Sicherheitskräfte hatten bereits zuvor denDienst im Viertel quittiert. Das Mobiliar, die obligatorischen, lebensgroßenPlakate Ben Alis und viele der Unterlagen wurden vom wütenden Mob aufder Straße vor der Polizeistation zertrümmert, auf große Stöße geworfenund verbrannt. Viele der Anwohner standen in Gruppen auf der Straßeund beobachteten das Geschehen, die Nase und den Mund mit Tüchernoder Schals verbunden, um sich gegen den Brandrauch zu schützen (Inter-view 1/2011). Die gewohnte Polizeipräsenz kam daraufhin vorübergehendkomplett zum Erliegen und das politische Geschäft stand still. Die Polizei-wache im benachbarten Stadtteil Byrsa übernahm wenige Tage später dasGebiet von Le Kram Ouest in seinen Aufgabenbereich. Faktisch war diegleichzeitige Sicherung beider Gebiete durch nur eine Polizeistation jedochnicht möglich. Hinzu kam die weit verbreitete, gesellschaftliche Praxis, inKonfliktfällen ohne Hinzuziehen der Polizei die Auseinandersetzung zunächstüber interne Strukturen zu lösen. Wenn der unverbindliche Ratschlag derÄlteren, tunesisch-arabisch al-kibarat, zu keiner Lösung führte, wurde einKonflikt oft über den Einsatz von Gewalt geregelt. Prügeleien aufgrund vonDiebstahl stellten, zumeist unter Jugendlichen, eine der Lösungsstrategiendar (Interview 3/2011). Die Wut der jungen Erwachsenen entlud sich gegen

Zahl der Todesopfer unter Zivilisten lag bei 78 Personen (dapd Nachrichtenagentur2011).

93Der erste Präsident der Republik Tunesien, Habib Bourguiba, wurde im Nachgangder Revolution von den Einwohnern Le Krams hingegen als Vater der Nation undVorreiter eines modernen Tunesiens verklärt. Unter seiner Regierung – die viele vonden gewaltbereiten jungen Männern nicht bewusst erlebten – habe es die gleichenAufstiegschancen für alle gegeben (Interview 3/2011). Dass bereits im Jahr 1984die Polizeistation von Le Kram von desillusionierten jugendlichen Demonstrantenangegriffen und angezündet worden war, daran erinnerte sich keiner unter ihnen.Massive Verteuerungen der Brotpreise hatten damals die Plünderungen und Krawallenausgelöst (Weck 1984). Erst mit der islamischen Agenda der seit dem Jahr 2012populär werdenden Miliz in Le Kram Ouest ging die Popularität Bourguibas unterden Jugendlichen zurück (Interview 2/2011 und 3/2011).

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alle Statussymbole der politischen Eliten des Ben Ali-Systems. Sie war insbe-sondere gegen Ben Alis Ehefrau, Leila Trabelsi, und deren Familie gerichtet,die das Staatsvermögen veruntreute hatte. Gewalt und Überfälle prägten imFrühjahr 2011 das Straßenbild. Wie in anderen wohlhabenden Vororten vonTunis, wie Gammarth, La Marsa oder La Sokra, wurde auch in Le Kram Estder Besitz des Ben Ali und Trabelsi-Clans gezielt geplündert. Die Gruppenfanden sich kurzfristig und ohne erkennbare Führung zusammen, um dieStaatsmacht zu zerschlagen. Die Gefahren durch nachwirkende autoritäreStrukturen und Vertreter des alten Regimes waren den Einwohnern LeKrams vor allem durch Personen wie Imed Trabelsi, den ehemaligen Bürger-meister von La Goulette und Neffen Leila Trabelsis, präsent.94 Mit seinemAmtsantritt im Jahr 2010 als Bürgermeister in La Goulette veranlasste er imZuge seiner Klientelpolitik, dass das Industriegebiet im Südwesten Le Kramsund alle damit verbundenen finanziellen Einnahmen der benachbarten Kom-mune La Goulette und damit in seinen Verantwortungsbereich übertragenwurden (Interview 1/2013). Die strukturelle Veränderung verschärfte dieangespannte finanzielle Lage der Kommune Le Kram zusätzlich. Die unterdem autoritären Regime geschaffenen Strukturen und Mechanismen wir-ken damit auch nach der Revolution 2011 fort, wobei die Einwohner derKommune, abgesehen vom gewalttätigen Aufbegehren, kaum Möglichkei-ten des Widerspruchs oder des Widerstands gegen Unterdrückung hatten.Nabil Trabelsi [Nabıl T. rabilsı], ein weiterer Angehöriger des sogenanntenTrabelsi-Clans, residierte bis zur Revolution in der Rue Taieb Mehiri 12 inLe Kram Est. Er verließ in den Nachwehen der Revolution das Viertel. Seinehemaliges Wohnhaus wurde verwüstet. Betroffen von der Durchsetzunginternationaler Sanktionen wurde seine Person Gegenstand strafrechtlicher

94Imed Trabelsi (geb. 1974) hatte bis in das Jahr 2011 seinen Wohnsitz in der Nach-bargemeinde La Marsa. Sein Haus wurde nach der Revolution geplündert (Interview1/2011 und 2/2011). Unter dem Ben Ali-Regime kontrollierte Trabelsi die gesamteBaubranche in Tunesien bis er im Januar 2011 an der Flucht aus dem Land gehindertund vor Gericht gestellt wurde. Nationale und internationale Zeitungen berichtetenvorübergehend, dass er von Unbekannten erstochen worden sei.

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Ermittlungen der tunesischen Behörden. Die gegen ihn erhobenen Vorwürfestanden im Zusammenhang mit der Unterschlagung von beweglichem undunbeweglichem Vermögen, der Eröffnung von Bankkonten und dem Besitzvon Vermögen in verschiedenen Ländern sowie Vorgängen der Geldwäsche.Die ergriffenen Zwangsmaßnahmen umfassten die Sperrung von Geldern undwirtschaftlichen Ressourcen, die sich in seinem Eigentum oder seiner direktenund indirekten Kontrolle befanden (vgl. Martonyi 2011, S. 43). Nicht nurPrivathäuser der ehemaligen Staatselite und deren Netzwerke waren derWut der Bürger ausgesetzt. Gruppen junger Männer zogen vor die Stadtver-waltung von Le Kram Ouest und zerstörten diese aus Wut und Ohnmachtgegen den Staat. Achselzuckend blickte ein junger Mann aus Le Kram Ouestwenige Monate später auf das zerstörte Gebäude der Stadtverwaltung. „Wassollen wir tun?“, fragte er nebenbei. „Le Kram hat schon lange Problememit Drogen, Gewalt und Arbeitslosigkeit. Vor allem die Jugend ist betroffenund die Regierung ist schuld daran. Wir müssen allen Tunesiern zeigen,dass wir uns die Ungerechtigkeit nicht mehr gefallen lassen. Wir lassensie [die Regierung und ihre Netzwerke] nicht zurückkommen“ (Interview4/2011). Er fotografierte das Gebäude und zeigte triumphierend, wie er dasBild auf seine Facebookseite hochlud, bevor er weiter ging. Ein Jahr späterwurde er Mitglied der neugegründeten Miliz von Le Kram Ouest. DunkleRauchschwaden aus verschiedenen Brandherden zogen nach dem Überfallauf die kommunalen Einrichtungen über die Dächer. Die Hauptstraße warübersät mit Scherben zerbrochener Schaufensterscheiben. Zeitungsfetzen undleere Großpackungen von Zigaretten eines zerstörten Kiosks lagen überallauf der Straße verteilt und wurden vom Wind weitergetragen. UmgekippteFarbeimer, herausgerissene und verbogene Metallregale der Einzelhändlerversperrten den Bürgersteig. Passanten blieben stehen, betrachteten die Zer-störung oder trugen ihre Beute – mehr oder weniger – diskret nach Hause,während erste Ladenbesitzer begannen, die Überreste aus ihren geplünder-ten Geschäften zu kehren und verzogene, klemmende Rolltore provisorischherunterzulassen. In den ersten Tagen nach der Flucht Ben Alis bliebendie meisten Geschäfte geschlossen oder waren verwüstet. Tags übersäten

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die Hauswände entlang der Hauptstraße. Die Einwohner des Viertels ver-ließen ihre Häuser nur im Notfall. Viele der Einwohner warten vor demFernseher und im Internet gespannt auf die neuesten Nachrichten (Interview1/2011 und 3/2011 und 20/2013). Öffentliche Institutionen, wie Schulenoder Verwaltungsgebäude, blieben geschlossen. Es herrschte Stillstand undSchreckstarre. Unter den Jubel und die Euphorie mischte sich auch Unsicher-heit, wie es nach den Jahrzehnten der Unterdrückung weitergehen würde.Unmut regte sich, als Gerüchte von Schergen des Regimes herumgingen, dieim Auftrag der Geheimpolizei Schrecken verbreiten sollten. Andere gabenzu Bedenken, er seien unabhängige Banden und lokale Mobs, die durch dieViertel zögen und sich bereicherten, während die Polizei und das Militär aufDemonstrationen vor Regierungsgebäuden zusammengezogen seien (Inter-view 2/2011). Die Plünderungen machten in den folgenden Wochen nichtbei den Einzelhändlern halt. Bankagenturen wurden überfallen und privatesEigentum der Einwohner gestohlen oder demoliert.

Lokale Bürgerwehr. „Die Verflüssigung der Normen am Ende autokratischerHerrschaft und die noch nicht vollzogene Konstituierung demokratischerVerfahren hinterlässt ein institutionelles Vakuum, das den Transformations-akteuren einen extrem weiten Handlungsspielraum eröffnet“(Merkel et al.1996, S. 11 f.). In diesen entstandenen Handlungsspielraum hinein began-nen nach und nach neue Akteure ihre Präsenz im öffentlichen Raum vonLe Kram einzufordern, und diesen für sich zu besetzen. Der überwiegendeBeweggrund für die Zusammenschlüsse war zunächst die allgemeine Sorgeum die Sicherung des privaten Eigentums (Interview 5/2011 und 2/2013).Die Selbstermächtigung durch die Gemeinschaftsbildung bot, jenseits desstaatlichen Gewaltmonopols, Schutz und Rückhalt gegen fremde Übergriffe.Privatpersonen griffen in die öffentliche Ordnung ein, indem sie nicht strafba-re Handlungen, wie beispielsweise den Alkoholkonsum am Strand, verboten.Die Rolle der Polizei in ihrer Funktion als Ordnungs- und Sicherheitskraftwurde zunehmend unklarer. Tagsüber zeigten die Polizisten sich auf denStraßen Le Krams, wenn überhaupt, äußerst zurückhaltend. In den Nächten

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fuhren Polizeieinheiten mit eingeschalteten Sirenen durch die Straßen undversuchten, Menschenansammlungen zu unterbinden (Interview 3/2011). Inganz Le Kram und anderen Stadtteilen von Tunis formierten sich in dieserSituation – als erste dezentrale Maßnahme – Nachbarn zu Bürgerwehrenfür einzelne Straßenzüge.95 Andere schlossen sich zu informellen, lokalenSelbstverwaltungsorganen mit Polizeiaufgaben zusammen.96 Diese durcheinen Aufruf der Union générale tunisienne du travail (UGTT) am 15. Januar2011 legitimierten, lokalen Bürgerwehren und Stadtteilkomitees setzten sich– in Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Gruppen und mit der beratendenUnterstützung der UGTT – nach dem Sturz Ben Alis für die Aufrechter-haltung eines Minimums an öffentlicher Sicherheit ein.97 Unter dem Aufrufzur freiwilligen Mitarbeit aller Bürger bewaffneten sich junge Männer mitStöcken, Steinen und Messern und sorgten mittels Straßenbarrikaden aus95Diese Form der kollektiven Selbstorganisation in Nachbarschaftskommitees mit infor-

mellen Strukturen entstand im Frühjahr 2011 auch in den Wohnvierteln Kairos inÄgypten (Bremer 2011, Klaus 2012).

96Chojnacki und Branovićne sehen noch weitere mögliche Formen der Herstellung vonSicherheit unter den Bedingungen zerfallender Staatlichkeit, wie sie nach der Revoluti-on territorial begrenzt in Le Kram Ouest und weiteren Vierteln von Tunis, wie HayyEttadhamen, auftrat (Chojnacki & Branovićne 2007). Neben den beschriebenen, indi-viduellen Arrangements der Bürgerwehren können auch Milizen entstehen. Tatsächlichetablierte sich im weiteren Verlauf in Le Kram eine Ortsgruppe der nationalen MilizLNPR als dominanter Akteur. Das Einbindung externer Schutztruppen spielte in LeKram hingegen keine Rolle. Lediglich größere Supermärkte, wie Carrefour, CarrefourExpress, Monoprix oder Aziza sowie die Haushaltswarenkette Elektro Nabli griffen abdem Frühjahr 2011 in Le Kram und an verschiedenen anderen tunesischen Städten aufSicherheits- und Wachdienste zurück. Diese führten an den Ein- und Ausgängen derGeschäften bei den Kunden Taschenkontrollen auf Waffen durch, um Plünderungenzu verhindern.

97Der tunesische Gewerkschaftsdachverband UGTT wurde im Jahr 1946 aus mehrerenkleineren Gewerkschaften gegründet. Als zivilgesellschaftliche Kraft spielte sie sowohlim Kampf um die Unabhängigkeit Tunesiens von der französischen Protektoratsmachtals auch nach der Revolution 2011 eine entscheidende Rolle. Im Ringen um die Demo-kratisierung des Landes trug die Gewerkschaftsunion zur Konsensfindung zwischenden politischen Kräfte bei. Sie wurde im Jahr 2015 für ihre Beteiligung im Quartetdu dialogue national mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

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ausgebrannten Fahrzeugen, herausgerissenen Türen oder Bettgestellen, Per-sonenkontrollen und Nachtwachen für die vorübergehende Sicherung derStadtteile, Kleinstädte und Dörfer.98 Damit leisteten sie präventiv einenBeitrag gegen Plünderungen und Überfälle. Sie verwehrten aber auch ei-genmächtig der Polizei die Zufahrt zu bestimmten Straßenzügen. AndereBürger engagierten sich in Elterninitiativen und organisierten privaten Haus-unterricht, da die staatlichen Schulen vorübergehend geschlossen bliebenoder das Lehrpersonal nicht zum Unterricht erschien. Später engagiertensich freiwillige Schulwegbegleiter, um den Kindern und Jugendlichen einensicheren Schulweg zu gewährleisten. Nach den ersten Tagen der Unsicherheitkam in Le Kram das öffentliche Leben langsam in Gang. Lebensmittelvorrätemussten aufgestockt werden und zwangen die Einwohner (unter dem Schutzder Bürgerwehren) auf die Straße. Frei von der Bevormundung des Staatesentstanden schließlich Möglichkeitsräume, welche eine umfassende Neuord-nung des Viertels nach sich zogen. Die Einwohner Le Krams verfügten überbisher ungekannte Freiheiten und eigneten sich den öffentlichen Raum an,wie es unter der Bevormundung im Polizeistaat Ben Alis völlig unmöglichgewesen war. Privatpersonen okkupierten öffentliche Freiflächen und wan-delten diese in bewachte Parkplätze gegen Entgelt um. Marktstände ohneLizenzen entstanden auf Bürgersteigen, in Kreuzungen oder Kreisverkehrenund behinderten Passanten und andere Verkehrsteilnehmer. Ebenfalls ohneLizenz agierten PKW-Besitzer als private Taxiunternehmen. Die Machtsym-bole kommunaler Steuerung – Stempel und Gebührenmarken, französischtimbre – wurden in Auflehnung gegen die „willkürlichen Entscheidungender Kommune“ bedeutungslos (Interview 1/2013 und 2/2013). ÖffentlicheGüter wie Wasser-, Gas- und Stromlieferungen, wurden in ganz Tunesien

98Die Anzahl von Schusswaffen im Privatbesitz ist in Tunesien im internationalen Vergleicheher gering. Die dortige Situation ist nicht zu vergleichen mit der Mobilisierung undBewaffnung im Nachbarland Libyen. Der Besitz von Waffen ist durch das Gesetz Nr.69–33 vom 12. Juni 1969 in Tunesien streng reglementiert. Es ist jedoch zu erwarten,dass sich durch die grenzüberschreitende Waffenproliferation nordafrikanischer Staatendie Dunkelziffer mittlerweile auch dort erhöht hat.

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von Privathaushalten und Wirtschaftsunternehmen konsumiert, häufig ohnedie anfallenden Kosten zu bestreiten. Bis Ende 2012 meldete die tunesischeElektrizitäts- und Gasgesellschaft STEG, dass rund 50 % der Einzelverbrau-cher ihre Stromrechnungen seit der Revolution nicht mehr beglichen hätten.Die Verschuldung habe im Jahr 2010 bei 172 Millionen Dinar gelegen und seiim Folgejahr um das Zweieinhalbfache auf 436 Millionen Dinar angestiegen(H. 2012a). Die im Jahr 2013 von der STEG initiierte Kampagne: „Payer,aujourd’hui, pour bénéficier de l’éclairage aujourd’hui et demain“ brachtenicht den erhofften Erfolg (G. 2016).

Bürger im Staat. Im Osten Le Krams zeigte sich die gleiche Euphorie überden Sturz des Ben Ali-Regimes, wie im Westteil des Viertels. Auch wenn dieStraßen in den ersten Tagen verlassen wirkten, so blieben die Plünderungenauf die Ausläufer der Hauptstraße an den Übergangen zum Westteil desViertels beschränkt. Die Apotheke Pharmacie du Jour an der StraßeneckeRoute de la Goulette und Avenue du Parc, welche über die Bahngleise nachLe Kram Ouest führt, sowie die umliegenden Geschäfte waren betroffen.Die Eingangstür der Apotheke wurde mit dem arabischen Schriftzug allahuakbar besprüht. Darunter stand in lateinischen Buchstaben, welche mit derfür die onlinebasierte Kommunikation verwendeten Zahlenumschrift kombi-niert wurden, die Forderung: „No 7kouma“, arabisch h. ukuma, deutsch keineRegierung. Der wenige Quadratmeter große Kiosk an der nördlichen Haus-wand des Gebäudes wurde von Unbekannten zerstört. Die Fensterscheibenwurden eingeschlagen. Zeitungen und leere Zigarettengroßpackungen ausdem Kiosk lagen auf der Straße verteilt. Der Bürgersteig und die Straßewaren mit weißer Wandfarbe aus dem ausgeraubten Baumarkt verdreckt.Zertretene und ausgeleerte Eimer lagen zwischen Kartonagen, Plastikfla-schen und Dosen. Auch im Ostteil des Viertels wurden die Rolltore derHanouts, der kleinen Einzelhandelsgeschäfte, eingetreten und verbogen. Diemit den Wänden verschraubten Metallregale wurden aus den Geschäftenherausgerissen und auf die Straße geworfen. Die Verantwortlichen für dieZerstörung konnten nicht ermittelt werden. Die Einwohner von Le Kram Est

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waren jedoch davon überzeugt, dass entweder randalierende Jugendliche oderFremde dahinter standen (Interview 2/2013 und 3/2013). Trotz der zunächstunregulierten Freiheiten vor der Bevormundung des Staates und den aus derpolitischen Sinnkrise resultierenden Randalen wurde die öffentliche Ordnungin Le Kram Est weitgehend aufrechterhalten. Die interviewten Einwohnerdes Ostteils Le Krams fühlten sich als städtische Mittelschicht Tunesiensin besonderer Weise mit dem Staat verbunden (Interview 3/2013). DieseVerbundenheit „resultierte nicht zuletzt aus dem Stolz auf die fortschrittli-chen Errungenschaften nach der Unabhängigkeit, darunter der relativ gutentwickelte Bildungssektor oder die in der arabischen Welt einmaligen Frau-enrechte. Angesichts des relativ kleinen und rohstoffarmen Tunesiens wurdeauf die ‚Kontinuität der Nation‘ und die Stabilität als Voraussetzung natio-naler Souveränität besonderer Wert gelegt. Nicht zufällig avancierte 2014die Rückkehr der haybat ad-dawla (‚Prestige und Autorität des Staates‘)zu einem der populärsten Wahlkampfversprechen des späteren PräsidentenBeji Caid Essebsi“ (Ratka 2017, S. 46). Das wiederholte Erzählen von derVergangenheit ließ die Geschichte zum essenziellen Bestandteil der gesell-schaftlichen Selbstwahrnehmung werden. Der interpretative Rahmen derVorstellung einer friedlichen Vergangenheit bewahrte somit in Le KramEst die Ordnung und ließ sie die Unsicherheiten des politischen Umbruchsunbeschadet überwinden. Freude und Aufbruchstimmung bestimmten imJahr 2011 dort die Interviews. Hoffnung und Selbstbewusstsein trugen dazubei, dass die Nachbarschaften gemeinsam die kommunalen Güter schützten,in dem Bewusstsein, dass die politischen und wirtschaftlichen Umstrukturie-rungen und damit der Neubeginn Zeit bedürften und die Zerstörungswutunnötigen finanziellen Schaden anrichten würde (Interview 3/2013). Wäh-rend im Westen die Demonstrationen oft in Gewalt umschlugen, verliefensie im Osten daher tendenziell eher friedlich. Öffentliche Gebäude blieben,abgesehen von vereinzelten All Cops are Bastards (ACAB) Tags.99, intaktund unangetastet. Später stellte sich heraus, dass hierfür auch das Einwirken

99Das englischsprachige Akronym wird in verschiedenen Jugendsubkulturen weltweitverwendet.

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zivilgesellschaftlicher Kräfte auf die Einwohner im Osten verantwortlich war.Erstere waren abhängig von der Persistenz ihrer Netzwerke, um arbeitsfä-hig zu bleiben und setzten sich deshalb aus pragmatischen Gründen fürden Erhalt dieser Strukturen ein. Die Stadtverwaltung in der Rue TaiebMehiri 19 in Le Kram Est nahm die aus dem Westteil vertriebenen Kolle-gen vorläufig auf. Die technische Leitung und einige Beamte der zerstörtenPolizeistation kamen ebenfalls in Le Kram Est unter. Aus Raummangelwurden die für Empfänge und Hochzeitsfeiern vorgesehenen Säle des Rat-hauses als notdürftige Büros ausgestattet. Bearbeitet wurden deshalb überMonate hinweg nur die dringendsten Angelegenheiten, wie die Ausstellungvon Baugenehmigungen, Akten zur Legalisierung von Unterschriften unddie Sicherstellung ziviler Dokumente. Problematisch erwiesen sich unter dengegebenen Umständen die Bareinzahlungen der Bürger sowie der sichereTransport von Bargeld, da diese Vorgänge ständig der Gefahr von Überfal-len ausgesetzt blieben (Interview 1/2013). Im Osten positionierten sich dieEinwohner gegen den im gesamten Viertel um sich greifenden Vandalismusund plädierten für einen friedlichen politischen Übergang zur Demokratie(Interview 3/2013). Einige Einwohner von Le Kram Ouest schlossen sichspontan zusammen und boten der Stadtverwaltung an, die Kosten für dieSanierung des zerstörten Gebäudes in Le Kram Ouest gemeinsam zu tra-gen. Sie wollten ein Zeichen gegen die Ausschreitungen setzen. Ihr Protestgegen die Wut der Jugend im Westen, das ehemalige Regime und seineweiterhin aktiven, korrupten Vertreter fand kein Gehör. Schließlich schei-terte das Angebot der finanziellen Beteiligung an den Sanierungskosten anbürokratischen Hürden. Der tunesische Staat kam alleine für die Sanierungdes Gebäudes auf. Die für die Betroffenen unverständliche Zurückweisunglöste Desillusionierung und Resignation über ihre Stellung als Bürger undihre Partizipationsmöglichkeiten in der Umsetzung einer neuen Vision vonStaat und Gesellschaft aus. Hatten sie doch in ihrem Tatendrang und ihrempolitischen Reformwillen erwartet, durch ihre finanzielle Beteiligung, einZeichen für ein neues, integratives Tunesien setzen und aktive Förderungder politischen Transition leisten zu können (Interview 23/2013). Die aktive

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Beteiligung, durch Kommunalwahlen, blieb ihn noch bis 2018 verwehrt,unter anderem da die Regierungskoalition von Ennahdha und Nidaa Touneseine Schwächung der Zentralregierung durch gewählte lokale Kräfte fürch-tete (vgl. International Crisis Group 2018, S. 6). Le Kram war eine derinsgesamt 22 Gemeinden in vierzehn Gouvernoraten Tunesiens, welche mitdem Dekret Nummer 384 vom 8. April 2011 von der Regierung zentral ab-bestellte Sonderdelegierte, arabisch al-niyabat al-khususıya, zugeteilt bekam.Diese sollten bis zur Durchführung von Kommunalwahlen die Aufgaben vonGemeinderäte übernehmen, da die Gemeinderäte und Bürgermeister nachder Revolution aufgelöst und entlassen worden waren. Die Sonderdelegiertensollten in den ihn zugewiesenen Gebieten als übergreifende Ansprechpartnerauf Zeit die anfallenden, administrative Angelegenheiten bearbeiten. Vonihnen wurde erwarten, dass sie in die Kommunikation mit den Bürgerntraten und die Kommunalwahlen vorbereiteten. Der neue Bürgermeister derGemeinde wurde im Zuge dessen Hichem Rezgui [Hisham Rizqwı] (Décretdu 8 avril 2011 portant nomination de délégations spéciales dans certainescommunes du territoire tunisien 2011). Obwohl seine Amtszeit zunächst aufdie Dauer von einem Jahr angekündigt worden war, wurde erst im Frühjahr2013 die nächste Abordnung von Sonderdelegierten entsandt. Alia El May[cAlıya al-Maı] wurde daraufhin im Februar 2013 zur Bürgermeisterin vonLe Kram abgeordnet. Im Verlauf der Zeit zeichnete sich in ganz Tunesienab, dass die Sonderdelegierten aus verschiedenen Gründen einen schwierigenStand in der Kommunalpolitik hatten. Sie besaßen keine demokratischeLegitimität oder Autorität unter den Einwohnern, welche darauf pochten,die kommunalen Vertreter selbst wählen zu wollen (Interviews 5/2013 und23/2013 und 24/2013). Zudem zeigten sie in vielen Fällen kaum Engagement,die Initiative im Interesse der Gemeinde, die sie vertraten, zu ergreifen. Diefehlende politische Vision der Delegierten wirkte sich negativ auch auf dieArbeit des Gemeinderats aus, der im Interesse der Gemeindeverwaltung undder Bürger agieren sollte. Die Kommunalpolitik blieb gehemmt und konntesich nicht im notwendigen Ausmaß entfalten.

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Lokale Sicherheitslage. In den Sommermonaten 2011 bis zu den Wahlen am23. Oktober 2011 begannen mehr und mehr der ursprünglichen, freiwilligenBürgerwehren, sich langsam aus der Öffentlichkeit Le Krams zurückzuziehen.Die Bedrohungslage durch Plünderer schien nicht mehr akut zu sein undeine vorsichtige Version von Alltag kehrte im Viertel ein. Die unzähligenNachbarschaftsinitiativen gaben im Verlauf des Jahres 2011 den urbanenRaum sukzessiv frei. Im Osten Le Krams zeigte sich zögerliche Polizeiprä-senz, wobei die Polizeikräfte noch nicht zuverlässig in der Lage waren, dasstaatliche Gewaltmonopol umfassend durchzusetzen und bei Bedarf regulativeinzugreifen. Einzig die Bereitschaft der Einwohner Le Kram Ests, ihnenkooperativ entgegen zu treten, beruhigte die Lage (Interview 4/2013). DieInterviewpartner berichteten selten von Überfällen. Fanden diese statt, blie-ben sie in ihrer Ausführung jedoch weiterhin dreist und sorglos, als wären siein dem Bewusstsein verübt worden, dass eine Ahndung der Täter durch diePolizei nicht zu erwarten sei (Interview 4/2013). Ein Gefühl von Sicherheitboten in der Öffentlichkeit hauptsächlich das Tageslicht, der Aufenthalt inGruppen von mehreren Personen in einer vertrauten Umgebung sowie die An-wesenheit aufmerksamer Nachbarn. Letztere sollten potenzielle Täter aus dereigenen Nachbarschaft identifizieren und abschrecken. Der Aufenthalt vonFremden in den kleineren Gassen wurde weiterhin mit Misstrauen verfolgt,aber nicht mehr verhindert. Die Präsenz von privaten Sicherheitskräften inden Supermärkten blieb bestehen. Die sinkende Bedeutung der Nachbar-schaftswachen für das Sicherheitsempfinden in der jeweiligen Nachbarschaftzeigt eine landesweite Studie des International Republican Institute (IRI)zur öffentlichen Meinung in Tunesien. Auf die Frage hin, wie viel Vertrauender Polizei, dem Militär und den zivilen Sicherheitsgruppen zum Schutz dereigenen Nachbarschaft entgegen gebracht wurde, zeigten sich im März desJahres 2011 wenig überraschende Ergebnisse. Das Militär und die zivilen Si-cherheitsgruppen bekamen mit 80 % beziehungsweise 72 % in der KategorieA great deal [of trust] deutlichen Zuspruch. Nur fünf beziehungsweise achtProzent der Befragten brachten ihnen überhaupt kein Vertrauen entgegen.Die Polizei hingegen erhielt 32 % der Stimmen im Bereich [Trust] Not at all.

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Nur 30 % der Befragen sprachen sich für A great deal [of trust] gegenüber denPolizeikräften aus (International Republican Institute 2011, S. 16). In denFolgemonaten zeichnete sich in den Ergebnissen der Umfrage ein Trend ab,der auch in Le Kram beobachtbar war. Mit der Auflösung der Geheimpolizeiund unter der Begleitung durch Angehörige des Militärs, nahm die tunesi-sche Polizei ihre Arbeit schrittweise wieder auf und löste die Notwendigkeitder Anwesenheit ziviler Sicherheitskräfte auf. Gleichzeitig sank, laut Studie,landesweit das Vertrauen in die Kompetenz der nichtstaatlichen Akteure zuGunsten der Polizeikräfte. Im September 2011 fielen die Umfragewerte derzivilen Sicherheitskräfte um rund 20 Prozentpunkte im Bereich A great deal[of trust] ab (International Republican Institute 2012, S. 26). Die Zuversichtin die Polizeikräfte wuchs dagegen bis August 2012 auf 43 % im Bereich Agreat deal [of trust] an (International Republican Institute 2012, S. 26). DerAnteil derer, die der Polizei überhaupt nicht zutrauten, für Sicherheit zusorgen, sank bis August 2012, im Vergleich zu den Ergebnissen vom März2011, auf circa die Hälfte ab (International Republican Institute 2012, S. 26).Gegenüber diesen proportional deutlich abweichenden Werten blieben dieUmfragewerte des Militärs über den gesamten Befragungszeitraum relativstabil (International Republican Institute 2012, S. 26). Die Tatsache, dassdie an der Umfrage teilnehmenden Tunesier überhaupt bereit waren, wie-der Vertrauen in die Polizei zu setzen, war beachtlich. Anknüpfend an denvorrevolutionären Alltag im Viertel, nahmen im Vorfeld der Wahlen verschie-dene Einrichtungen im Stadtviertel ihre Arbeit wieder auf. Der aufgrundvon administrativen Problemen und Sicherheitsbedenken monatelang ge-schlossene Parc Urbain du Kram öffnete im Spätsommer 2011 seine Pforten.Die angebotenen Hip-Hop Konzerte auf dem wiedereröffneten Parkgeländespiegelten das Lebensgefühl der Jugend im Banlieu wider. Künstler wie dieDJs Wajdi Mascott, MC t.Gang oder DJ Big Money rappten am frühenAbend des 24. September 2011 von Arbeitslosigkeit, finanziellen Problemenund Perspektivlosigkeit.100 Gleichzeitig sprachen sie den Wunsch der Jugendnach Reichtum und Einfluss an. Die Hip-Hop Kultur war ein essentieller

100URL: https://mascottrap.wordpress.com/.

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6.1 Phase Eins: Das Revolutionsjahr 2011

Teil der politischen Mobilisierung und symbolisierte für eine ganze Generati-on tunesischer Jugendlicher und junger Erwachsener die Freiheit von derUnterdrückung und die Sehnsucht nach besseren Lebensumständen.

Religiöse Aktivisten. Mit dem Rückzug der zivilen Sicherheitskräfte wurdenim öffentlichen Raum von Le Kram auch andere Symbole bisher unter-drückter, da religiös begründeter, Ordnungsvorstellungen sichtbar. UnterBen Ali marginalisierte islamische Diskurse drangen an die Öffentlichkeit.Neben der tunesischen Flagge schwenkten Demonstranten in Le Kram undganz Tunesien auch verschiedene Varianten des schwarzen Banners mitdem islamischen Glaubensbekenntnis, wie sie von vielen islamischen Ter-rororganisationen benutzt werden. Sie standen für Forderungen nach derAnwendung der Scharia in der tunesischen Verfassung, die Errichtung einesKalifatsstaates oder die Einschränkung des gesellschaftlichen Pluralismus(Interview 6/2013 und 7/2013). In dieses Umfeld hinein gruppierten sichungehindert junge Männer, die sich, geleitet von ähnlichen Problemen, Ide-en und Vorstellungen, Zukunftschancen jenseits ihrer Realitäten erhofften.Sie trafen sich zunächst lose und informell, um Probleme des Viertels undpolitische Themen zu diskutieren. Einige unter ihnen waren zuvor bereits inden Nachbarschaftsinitiativen aktiv gewesen und hatten an Demonstratio-nen gegen das Ben Ali-Regime teilgenommen (Interview 4/2013). Nachdemam 22. November 2011 die Mandate der Bürgerwehren endgültig ausliefen,suchten sie eine neue, „sinnvolle“ Aufgabe (Interview 8/2013). Im tiefenMisstrauen gegen den tunesischen Staat wandte sich ein Teil von ihnender Ennahdha-Partei oder den im Viertel präsenten salafistischen Organi-sationen zu, auf die sie ihre Hoffnungen auf einen politischen Neuanfangprojizierten.101 Waren religiöse Akteure unter der Herrschaft Ben Alis durch

101Wer Salafist ist, darüber herrscht in der wissenschaftlichen Literatur Uneinigkeit. Diehistorisch begründete Definition von Haykel beschreibt Salafisten als an der islamischenUrgemeinde orientierte Muslime, welche alle Erneuerungen im Islam als verwerflich,arabisch bidca, ablehnen und sich gegen die sinnbildliche Interpretation von Koranund Sunna stellen. Sie verfolgen eine wörtliche Auslegung der religiösen Quellen. Diese

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die Verfolgung und die Unterdrückung in der Öffentlichkeit bis in das Jahr2011 eher marginal präsent, drängten sie seit der Revolution auf ihren Platzin der Gesellschaft. Die vor der Revolution verbotene Ennahdha-Bewegungverkörperte als neu gegründete Partei den Bruch mit dem postsäkularen BenAli-Regime, da ihre Anhänger verfolgt und der Islam über Jahrzehnte vomRegime instrumentalisiert worden waren (Interview 6/2013 und 8/2013).Die auf nationaler Ebene diskutierten, säkularen Eliten waren hingegenparteilich stark zersplittert oder durch den Vorwurf der Korruption unddes Machtmissbrauchs diskreditiert. In den Folgejahren zeigten sich zweiAkteure aus Le Kram Ouest als umstritten, die in Hinsicht auf die religiöseAusrichtung der Mitglieder äußerst heterogene Miliz Männer der Revolutionvon Le Kram [rijal al-thawra bi-l-Kram] sowie die Salafisten rund um dieSayyida Khadija Moschee [Sayyida Khadıja]. Gemeinsam besetzten sie denöffentlichen Raum im Westteil des Viertels. Eine Einwohnerin Le Kramsschilderte als Indiz für das Wirken religiöser Kräfte im Viertel das Eingreifendurch die religiösen Aktivisten in den Wahlprozess im Oktober 2011. Akti-visten sollen vor einem der Wahllokale in Le Kram die Geschlechtertrennung,eine in Tunesien gesellschaftlich eher zwanglos und fakultativ gehandhabteKonvention, in der Warteschlange durchgesetzt haben. Zum Erstaunen derAnwohnerin soll die Anweisung auf wenig aktive oder passive Gegenwehrgestoßen sein und eine gewisse Eigendynamik der Befolgung durch die An-wesenden entwickelt haben. Von einem Einschreiten der Wahlbeauftragtenwar ihr ebenfalls nichts bekannt (Interview 9/2013). Der gesellschaftliche

reine Theologie und religiöse Praxis führt zu ihrem Überlegenheitsgefühl, das bis zu derAnklage anderer Muslime wegen Unglaubens, arabisch takfır, führen kann. Salafistengehören keiner bestimmten politischen Ideologie an. Häufig werden drei verschiedeneStrömungen innerhalb der salafistischen Szene unterschieden, zwischen denen auchMischformen bestehen. Die erste Strömung sind die gewaltbereiten Dschihadisten,welche proaktiv versuchen, ihre Ordnungsvorstellung eines Kalifats nach historischemVorbild durchzusetzen. Zweitens gibt es politische Aktivisten, welche ihre politischenZiele ohne Gewaltanwendung durchsetzen wollen. Drittens sind die Quietisten zunennen, welche politisches Engagement ablehnen, um das Auseinanderbrechen derreligiösen Gemeinschaft zu verhindern (vgl. Haykel 2013, S. 483 f.).

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6.1 Phase Eins: Das Revolutionsjahr 2011

Druck, islamkonform zu handeln, wuchs. Die Sicht der Einwohner Le Kramsauf dieses erste Auftreten von Akteuren als Wahrer islamischer Normenfiel widersprüchlich aus. Indifferenz, stille oder offene Unterstützung undAblehnung begegneten sich. Während sich die sich aus den losen Gruppenformierenden Milizionäre von ihren Befürwortern als Helden und Bewahrerder Revolution verehren ließen, welche Tunesien zu Sicherheit und Wohlstandführen würden (Interview 8/2013 und 23/2013), sahen andere, wie sich dieprekäre Sicherheitssituation im Viertel durch das gewaltbereite Agieren derMiliz und die Wut der Jugend weiter verschärfte (Interview 4/2013 und5/2013 und 9/2013). Anlass für erste Diskussionen gab in Le Kram dieeigenmächtige Vertreibung des Imams der Sayyida Khadija Moschee, welchein direkter Nachbarschaft des Aeroport Parc in Le Kram Ouest lag. Alseine von über 900 Moscheen und zahlreichen, privaten (illegal operieren-den) Koranschulen in Tunesien wurde sie im Oktober 2011 von Salafistengewaltsam übernommen und der staatlichen Kontrolle des Ministerium fürReligiöse Angelegenheiten entzogen. Begründet wurde die Tat von den Be-teiligten mit der unprofessionellen Arbeit des vorherigen Imams und demdadurch gefährdeten Wohl der Gläubigen (Interview 11/2013). Der vomMinisterium für religiöse Angelegenheiten langjährig bestellte Imam, ZouhairJouini [Zuhayr al-Junı], soll im Oktober 2011, nach eigenen Angaben, vonSalafisten bedroht, der Moschee verwiesen und durch einen anderen Imamersetzt worden sein (Melki 2011). Auch wenn die genauen Details der Über-nahme im Unklaren blieben, ließen sich die unmittelbaren Auswirkungendeutlich erkennen. Fortan wurden die Gläubigen durch eine neues Klientelverdrängt. Es hatte entweder vor der Revolution 2011 im öffentlichen Raumaufgrund staatlicher Restriktionen nicht ungehindert präsent sein könnenoder radikalisierte sich erst um Zuge des Umbruchs. Die Freitagspredigtfolgte nicht mehr den Weisungen des Ministeriums. Der neue, ohne staatlicheQualifikationsprüfung oder Berufungsverfahren eingesetzte Imam rief am14. Oktober 2011 zur Etablierung eines islamischen Staates in Tunesien aufund predigte im Viertel die Zurückweisung der unislamischen tunesischenRegierung, der Demokratie und des Säkularismus (Interview 11/2013). Nach

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dem Gebet demonstrierten seine Anhänger vor der örtlichen Polizeistation.Die Moschee fungierte im weiteren Verlauf als zentraler Treffpunkt der hete-rogenen Salafistenszene in Le Kram (Interview 19/2013). Damit erfuhr sieeinen für Tunesien bisher ungewöhnlichen Nutzungswandel, wie er eher imeuropäischen und nordamerikanischen Kontext zu finden ist. Die Moscheediente nicht mehr dem in Tunesien üblichen, reinen Zweck einer Gebetsstätte,sondern wurde als eine Art soziales Zentrum genutzt. Lese- und Studienzir-kel wurden etabliert und die Moschee stand rund um die Uhr für Besucheroffen. Es ließen sich Gruppen junger Frauen oder Männer beim Betretender Moschee beobachten, welche dort beteten oder an den Veranstaltungenteilnahmen.102 Einige Personen sollen im Gebetsraum übernachtet haben(Melki 2011).

Warenangebot. Der Handel in Le Kram reagierte ebenfalls auf die aufkom-menden religiösen Diskurse. Religiöse Kleidungsstücke, wie der Nikab, derHijab oder lange Handschuhe, waren unter dem Ben Ali-Regime, welchessich als Bollwerk gegen den Islamismus erklärte, verboten oder verpöntgewesen. Sie fanden sich nur bedingt im Warenangebot tunesischer Beklei-dungsgeschäfte. Mit den fallenden Reglementierungen und Beschränkungennach der Revolution und der zunehmenden Diversifizierung der religiösenPraktiken öffnete sich der Markt den religiösen Bedürfnissen der Kunden.Verschiedene Formen religiöser Kleidung wurden stärker nachgefragt. Dasbreitere Warenangebot ermöglichte den Konsum, ohne auf komplizierte undteure Privatimporte aus dem Ausland, wie der Türkei oder den arabischenGolfstaaten, angewiesen zu sein (Interview 25/2013). Islamic Fashion imAlltag stellte eine rasch wachsende Branche dar. Die in Tunesien weit verbrei-teten Geschäfte zum Verleih von Hochzeitskleidern erweiterten ihr Sortimentebenfalls, um mehr verschiedene Kleider für verschleierte Bräute und Gästeanbieten zu können. Gleiches galt für Kleidungsstücke, welche nach demVorbild der großen Modehäuser weltweit freizügiger als zuvor geschnitten

102Das Gebet in der Moschee ist für Frauen in Tunesien eher ungewöhnlich. Die Moscheeist dort ein ausschließlich von Männern besetzter, religiöser Raum.

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waren und die Schultern, die Oberschenkel oder den Bauch der Trägerinunbedeckt ließen. Um sie zu erwerben, mussten vor dem Jahr 2011 Geschäftein urbanen Zentren oder Tourismusgebieten aufgesucht werden. KleinereHanouts in Wohngebieten führten sie eher nicht. Das Tragen freizügigerKleidung im öffentlichen Raum, welches bisher in weiten gesellschaftlichenKreisen zu sozialer Stigmatisierung geführt hatte, wurde zunehmend akzep-tiert. In Le Kram Est eröffnete auf der Route de La Goulette ein kleiner, aufreligiöse Kleidung spezialisierter Textilwareneinzelhandel, der lange Hand-schuhe, Krangeneinsätze, Armstulpen, Nikabs, Bonnets, Bushiyas, arabischbushiyya, Abayas, und Kopfbedeckungen aller Art, vorwiegend in gedecktenFarben im Sortiment führte (Interview 25/2013).103 Einige Geschäfte weiterdie Straße hinunter wurde in einem Dessous-Geschäft Damenunterwäscheangeboten. Junge Bräute, die dort ihre Aussteuer für die Ehe erwarben,machten einen Großteil der Kundschaft aus (Interview 26/2013). Die Modellewaren freizügiger und extravaganter geschnitten als die schlichten und eherprüden Spitzenhemden aus Seidenimitat der Jahre zuvor. Sie wurden zudemvon der Straße aus für alle Passanten einsehbar ausgestellt. Mit der größerenBandbreite an Bekleidungsformen ging auch der freiere Umgang in der Artder Schaufenstergestaltung einher. Die Nacktheit von Schaufensterpuppenmusste während der Umgestaltung nicht mehr zwingen mit Packpapierbah-nen bedeckt werden (Interview 26/2013). Die tägliche Konfrontation derPassanten und Konsumenten im Spannungsfeld von Religion und Sexua-lität war sowohl Abbild als auch Einflussfaktor des Wandels der lokalennormativen Ordnung.

103Bushiyas, auch Ghatwas, arabisch ghat.wa, genannt, sind dünne Tücher in gedecktenFarben, welche in Kombination mit dem Nikab, auch die Augen der Trägerin verdecken.Kopftücher wurden hauptsächlich in den Stilen Amira, Khimar und Hijab angeboten.Die in Tunesien schon vor der Revolution weit verbreiteten Kopfbedeckungen Mharma,tunesisch-arabisch mah. rama und Chan, tunesisch-arabisch shan, waren flächendeckendim Einzelhandel erhältlich.

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6.1.3 Zwischenfazit – Religiöse Narrative

Der „wahre“ Islam. Die Abschottung einzelner Straßenzüge durch die loka-len Bürgerwehren nach der Revolution bewirkte innerhalb Le Krams eineVerengung räumlicher Grenzen. Der Dualismus zwischen Ost und West tratvorübergehend in den Hintergrund. Die eigene Nachbarschaft als Verbundweniger Straßenzüge bot Schutz vor den Übergriffen Fremder und trat inihrer Bedeutung in den Vordergrund. Sie stand im Kontrast zur risikoreichwahrgenommenen Außenwelt. Gleichzeitig überlagerte der Nationalstolz unddie Euphorie über den Sturz Ben Alis kurzzeitig die ansonsten prominenteIdentifikation mit dem eigenen Viertel. Die Slogans: „Wir sind alle Tune-sier“ und „Wir sind alle Muslime“ proklamierten eine diffuse, nicht weiterkonkretisierte Idee der nationalen Identität (Interview 2/2011 und 3/2011).Nationale Symbole, wie der Kasbah-Platz, die tunesische Flagge oder dieNationalhymne wurden sowohl im Osten als auch im Westen Le Kramsgefeiert. Ein Akt, der deutlich vor Augen führt, wie wenig diese Symbolemit dem Ben Ali-Regime identifiziert worden waren. Sie standen schon vorder Revolution für die ursprüngliche Idee einer Nation und den politischenWiderstand gegen Frankreich. Diese Idee konnte das Ben Ali-Regime zwarbedienen, aber nicht glaubhaft füllen. Die Aussage „Wir sind alle Muslime!“drückte die Wahrnehmung der Einwohner von Le Kram aus, eine gemeinsa-me Front, die tunesische umma, gegen Vertreter des früheren Regimes zubilden. Der Begriff tunesische umma fiel in dieser politischen Phase in denGesprächen auffällig häufig. Er wurde in einer religiösen Konnotation ver-wendet, die gleichzeitig eine politische Abgrenzung zum autoritären Regimedarstellte. Muslim zu sein, stand konträr zu der negativen Wahrnehmung desrepressiven Vorgängerregimes und bildete in Le Kram ein geeintes Funda-ment für den gesellschaftlichen und politischen Neuanfang. Toleranz und diewertungsfreie Offenheit gegenüber individuellen Glaubensauffassungen oder-praktiken des Islam bestimmten nach der Revolution für mehrere Monateden öffentlichen Diskurs. Das Recht, als Muslim den Nikab oder Schmuckmit vorislamischen Schutzsymbolen zu tragen, wurde öffentlich kaum infra-

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ge gestellt (Interview 18/2013). Religiöse Begrüßungsformen und Floskelnnahmen im Sprachgebrauch zu. Die bewusste Verwendung der formellerenLangform al-salamu calaykum wa-rah. matu llahi wa-barakatuhu, deutsch Frie-de sei mit euch und Gottes Barmherzigkeit und Gnade, löste den bisher eherzu al-salamu calaykum, deutsch der Friede sei mit euch, oder einem einfa-chen salam, deutsch Friede, abgekürzten, islamischen Friedensgruß ab. Derin Tunesien eher unübliche Ausdruck von Dankbarkeit jazak allahu khayr,deutsch möge Gott dich mit Gutem belohnen, wurde ebenfalls zunehmendverwendet und trat neben die eher alltägliche und aus dem religiösen Kontextherausgelöste Dankesformel barak allahu fık, deutsch Gott segne dich.104

Obwohl alle Grußformen einen islamischen Ursprung haben, so trugen dienicht abgekürzten beziehungsweise neu hinzugekommenen Begrüßungen undDankesformeln eine tiefere religiöse Konnotation in Tunesien. Sie wurdenverwendet, wenn die eigene Religiosität bewusst zum Ausdruck gebracht wer-den sollte. Häufiger als vor der Revolution wurde der körperliche Kontakt beider Begrüßung durch einen Handschlag und den in Tunesien obligatorischenWangenkuss beim anderen Geschlecht vermieden und stattdessen die rechteHand zur Begrüßung auf das eigene Herz gelegt. Das öffentliche Ausleben dereigenen Religiosität galt als Ausdruck von Freiheit und Fortschritt (Interview2/2011). Das Hochgefühl der Selbstermächtigung und der Befreiung aus denautoritären Zwängen und der Überwachung verdichtete sich außerdem zuder Überzeugung, Teil des neuen tunesischen Staates zu sein und Verant-wortung für die Zukunft zu tragen (Interview 3/2011 und 12/2013). DieInterviewpartner berichteten von der Empfindung, gleichberechtigte Bürgerzu sein. „Wir sind der Staat“ erklärten sie voller Stolz (Interview 1/2011)und erzählten von ihren, teils unrealistisch einzuschätzenden, Erwartungenan die Zukunft: Die sofortige Verbesserung des individuellen Lebensstan-dards nach dem Ende der Diktatur würde es ihnen binnen einen Jahres zumBeispiel erlauben, ein Auto zu kaufen oder ein eigenes Geschäft zu eröffnen

104Die Verwendung kann mit den Deutschen Begrüßungen und Abschiedsformeln „Ade“,„Grüß Gott“ oder „Servus“ verglichen werden, deren religiöser Ursprung im Alltagzweitrangig bleibt.

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(Interview 5/2013). Dem im Verlauf des Jahres 2011 eintretenden Abebbender revolutionären Euphorie folgte unweigerlich die Ernüchterung (Interview17/2013 und 20/2013). Unter den Einwohnern Le Kram Ouests verdichtetesich daraufhin das durch Erfahrungen der vergangenen Jahre oder Jahrzehn-te geprägte Misstrauen gegenüber staatlichen Vertretern und deren Politikimmer häufiger zu Schuldzuweisungen: „Schuld ist immer die Regierung.Das ist bequem.“ (Interview 21/2013). Sie klagten über die alten Eliten,welche den Wandel bewusst verhindern würden, um ihre eigenen Privilegiennicht zu verlieren. Außerdem forderten sie, die konsequente Verdrängungder Eliten aus ihren einflussreichen Positionen in der Politik und Wirtschaftdes Landes. Anstatt sie in die politische Transition zu integrieren, sollten siekonsequent ausgeschaltet werden (Interview 5/2013 und 20/2013). Andersals wenige Monate zuvor, wurde der tunesische Staat gegen Ende des Jahres2011 als fremde und exklusive Entität geschildert, an der eine Teilhabe nurfür privilegierte Einzelpersonen möglich sei. Einzig die Wahlen im Oktober2011 konnten vorübergehend die Möglichkeit zu politischen Partizipationvermitteln. Die revolutionäre Vorstellung einer geeinten tunesischen Schick-salsgemeinschaft löste sich vor den Wahlen langsam zu Gunsten exklusivererreligiöser Identitätsvorstellungen auf. Die Interviewten versprachen sich inder Fokussierung auf die eigene Religion eine Zuflucht in unsicheren Zeitenund eine Chance auf Modernisierung, Wohlstand und Freiheit (Interview13/2013 und 14/2013 und 15/2013 und 16/2013). In den erfassten Diskursenund im Auftreten der Salafisten selbst wurde deutlich, dass die über Monatehinweg wertungsfreie Akzeptanz der Gleichberechtigung anderer existieren-der Religionspraktiken und Interpretationen von Islam im öffentliche Raumgegen Ende der ersten Beobachtungsphase schwand. Die Unterschiede unddas Konkurrenzdenken innerhalb des islamischen Spektrums traten umsodeutlicher hervor. Der Stellenwert des Islam als Ausweg aus den Strukturender Diktatur erhielt Gewicht, woraus die Notwendigkeit der Definition deswahren Islam entstand. Die Frage „Wer ist der wahre Muslim?“ löste nachdem Wahlkampf 2011 ein erneutes Zerwürfnis im beginnenden Konflikt umdie Gestaltung einer religionsbasierten Staats- und Gesellschaftsordnung aus.

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6.2 Phase Zwei: Lokaler Widerstand gegen den Staat 2012–2013

Mit der Zunahme und Vielfalt der persönlichen Religiosität im öffentlichenRaum begann sich ein Machtkampf um die Definitionshoheit im Diskursabzuzeichnen. Die Missionsarbeit an der gesellschaftlichen Basis ging überreine Fragen des up- oder downveiling hinaus. Islamistische und salafistischeStrömungen begannen, sich zu organisieren und in Le Kram Ouest undEst um Gleichgesinnte zu werben. „In fact, evidence suggests that thoseattracted to Islamist projects are often, but certainly not always, in whatmight be called the ‚lumpen middle classes‘ – the lower to mid-middle classes(...) but also professionals who feel that their upward mobility has beenthwarted by economic and political policies and conditions“ (Eickelman &Piscatori 1996, S. 110). Selbst Vertreter einer säkularen Ordnung Tunesiensbetonten im Interview wiederholt, sie seien gläubige Muslime und keinesfallsgegen den Islam eingestellt.

6.2 Phase Zwei: Lokaler Widerstand gegen denStaat 2012–2013

6.2.1 Nationaler Aufriss: Die politische Krise

Mit den Wahlen zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung am 23.Oktober 2011 und dem in Kraft treten der Übergangsverfassung am 11.Dezember 2011 standen in Tunesien erstmals weitreichende Instrumentefür den politischen Neuanfang und den Umbau des Staatsapparats zur Ver-fügung. Fortan übernahm die Verfassungsgebende Nationalversammlungin der Funktion eines provisorischen Parlaments die Legislative. Die durchdie Verfassungsgebende Nationalversammlung gewählte Regierungskoaliti-on stellte die Exekutive dar. Die Verfassung der Republik Tunesien sahzur Gründung der Republik noch ein präsidentielles System vor, welchesdurch mehrmalige Anpassungen über die Jahrzehnte jedoch zunehmendparlamentarische Züge aufwies. In einem symbolischen Akt der massivenEingrenzung der Befugnisse des Amtes des tunesischen Staatspräsidenten

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wollte die Verfassungsgebende Nationalversammlung den Bruch mit dembisherigen Regime verdeutlichen. Das Machtungleichgewicht zwischen demPräsidentenamt und dem Parlament sollte ausgeglichen werden, um einemerneuten Machtmissbrauch vorzubeugen. In den folgenden, monatelangenAuseinandersetzung über das künftige politische System entwickelte sichfaktisch ein Hybrid eines parlamentarischen und präsidentiellen Systems,welches ein weiteres latentes Ungleichgewicht der Mächte verursachte. Dielähmenden Konflikte des Konsensfindungsprozesses verzögerten gleicher-maßen die Reform des politischen Systems sowie die Reorganisation unddie Neubildung von Institutionen (Hanlon 2012, Lutterbeck 2012). In dernationalen und internationalen Presse entstand das stark vereinfachte Nar-rativ der Dichotomie zwischen Islamisten und Säkularen beziehungsweiseModernisten und vermittelte das undifferenzierte Bild einer vermeintlichenSpaltung des Landes in zwei politische Fronten. Die islamistische Ennahdha-Partei als Sammelbecken religiöser Kräfte und vermeintlicher Wegbereitervon extremistischen Organisationen wurde zum Gegenspieler der säkularenund modernen Tunesier stilisiert. Die erste Krise, welche um die Jahreswen-de 2012 die schwelenden Konflikte um das Verhältnis von Religion, Staatund Politik in Tunesien offenlegte, ereignete sich an der PhilosophischenFakultät der Universität La Manouba in Tunis (Mellakh 2013). Religiösmotivierte Studierende traten dort mit der Forderung an den Dekan derFakultät, Habib Kazdaghli [H. abıb al-Qazdarghlı], heran, das Tragen desNikabs während des Unterrichts und bei Prüfungen nicht zu untersagenund das zuvor erlassene Verbot aufzuheben (Grira 2012).105 Parallel zu denHungerstreiks, den gewaltsamen Auseinandersetzungen, der Besetzung desVerwaltungsgebäudes und der zeitweisen Schließung der Universität fandenGegendemonstrationen vor dem Gebäude des Ministeriums für Hochschulbil-dung in Tunis statt. Die Demonstranten wollten dort eine schnelle Lösung

105Der Professor für französische Literatur an der Universität La Manouba, Habib Mellakh,beschreibt den Konflikt ausführlich in seinem Buch „Chroniques du Manoubistan“,welches im Jahr 2013 im tunesischen Wissenschaftsverlag Cérès erschien (Mellakh2013).

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6.2 Phase Zwei: Lokaler Widerstand gegen den Staat 2012–2013

der monatelangen Blockade erreichen. Der von 2011 bis in das Jahr 2014amtierende, tunesische Minister für Hochschulbildung und wissenschaftlicheForschung, Moncef Ben Salem [al-Muns.if Bin Salam] (1953–2015), unter-stützte jedoch als Parteimitglied der Ennahdha die Forderungen nach einerZulassung des Nikabs im Rahmen der Hochschule.106 Diese Einstellungteilten scheinbar auch einige seiner Angestellten. Diese sollen ihre Postenwährend der Ennahdha-Regierung aus strategischen Gründen zugeteilt be-kommen haben: „That was how Ennahdha had filled the admin vacancies inmost of the ministries. Their agenda was to implement Ghannouchi’s mainrecommendation, that of Islamization of the population from within andfrom the bottom. (...) The field they wanted to monopolize was education,from the pre-school stage to the university“.107 Die Angestellten platziertenwährend der Gegendemonstrationen zwei pro-Nikab Slogans auf braunemPappkarton mit dem Verweis auf Identität und Freiheit am Fenster desMinisteriums: „Die Universität war vor dem Nikab in verfallenem Zustand“und „Die Freiheit ist eine Verantwortung, der Nikab ist Teil der Identität“(Grira 2012).108 Als im Zuge der Ereignisse die tunesische Nationalflagge aufdem Universitätsgelände von den Salafisten durch deren schwarze Flaggeausgetauscht wurde, mündete dieser lokale Akt in einer landesweiten Debatteüber Nationalismus und die arabisch-islamische Identität Tunesiens. DerDiskurs um die ideologisch korrekte Bekleidung der Frau als Zeichen dernationalen Identität und kulturellen Solidarität war in Tunesien kein Novum.Es wurde bereits in den 1920er Jahren zum Politikum erhoben. Mit demZiel, Einheit und Stärke gegenüber der französischen Protektoratsmacht zu

106Wie andere Mitglieder der Ennahdha-Bewegung wurde auch der Mathematiker undPhysiker Ben Salem aufgrund seines politischen Aktivismus in den 1980er und 1990erJahren vom Ben Ali-Regime inhaftiert. Nach seiner Freilassung wurde ihm vom Regimedie Lehrbefugnis an tunesischen Universitäten entzogen und ihm und seiner Familiedie Ausreise aus Tunesien untersagt.

107Emailaustausch vom 13.10.2016 mit einem ehemaligen Kabinettsmitglied des Ministeri-ums für Höhere Bildung in Tunesien.

108Arabisch al-jamica fı al-kharab qabla al-niqab und al-h. urriya mas culiyya al-niqab minal-hawiyya.

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demonstrieren, propagierten damals tunesische Nationalisten verschiedenerLager althergebrachte Praktiken im Wechselspiel zwischen Tradition undModerne (vgl. Rivlin 1952, S. 168). Der spätere Präsident Bourguiba empfahlin seiner Rolle als Führer der Neo-Destour Partei den tunesischen Frauendamals das Tragen des Safsaris, tunesisch-arabisch safsarı, zum Schutz derweithin als gefährdet wahrgenommenen nationalen Identität Tunesiens (vgl.Charrad 1997, S. 292).109 Nach der tunesischen Unabhängigkeit im Jahr 1956wurde das Kopftuch während Bourguibas Staatspräsidentschaft dagegenzum Symbol der arabisch-muslimischen Rückständigkeit gegenüber demmodernen Europa popularisiert.110 In einer Ansprache beschrieb Bourguibadas Kopftuch als abscheulichen Fetzen (vgl. Moore 1965, S. 55). Der Hijabwurde in Tunesien durch das Dekret 108 von 1981 in Regierungsgebäudenund weiterführenden Schulen und durch das Dekret 102 von 1986 in dentunesischen Hochschulen verboten. Auch unter Ben Ali wurde in den 1990erJahren das Kopftuch in den Medien als rückständig und unmodern propa-giert. Als sich ab den 2000er Jahren ein gesellschaftlicher Trend zurück zumKopftuch abzeichnete, veranlasste Ben Ali im Jahr 2006 eine Kampagnegegen die „sektiererische Kleidung“. Das Tragen des Hijabs setzte sich inder Gesellschaft dennoch immer weiter durch und wurde fortan als Zeichender Reife wahrgenommen. Frauen, die bereit waren zu heiraten und eineFamilie zu gründen, entschieden sich bewusst dazu, den Hijab zu tragen undwurden daraufhin von der Öffentlichkeit als potenzielle Ehefrauen wahrge-nommen (vgl. Hawkins 2008, S. 1). Seit dem Umsturz im Jahr 2011 wurden

109Der Safsari ist die tunesische und ostalgerische Variante des in ganz Nordafrika verbrei-teten Hayek, arabisch hayik. Das circa 2,2 x 6 m lange Tuch aus weißer, zart gelber oderbeiger Baumwolle oder Seide wurde dort traditionell von Frauen in der Öffentlichkeitüber der normalen Alltagskleidung gebunden getragen. Optional zur Verhüllung vonKopf und Körper durch den Safsari konnte ein besticktes Tuch, arabisch al-cajar, alsGesichtsschleier getragen werden.

110Bourguiba setzte sich mit seiner politischen Position gegen seinen Widersacher, SalahBen Youssef [S. alah. Bin Yusuf], durch. Bourguiba implementierte, entgegen Youssefsan den islamischen Traditionen des Landes angelehnter Politik, seine eigene Visioneiner mediterranen tunesischen Identität.

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jedoch nicht nur der Hijab, sondern auch der Nikab beziehungsweise dieVollverschleierung per se eine Form der vielfältigen Ausdrucksformen reli-giöser Identität. Sie gaben Anstoß zu hitzigen und polarisierten Debatten(al-Suwisy 2010). Der Safsari hingegen wurde, von seiner religiösen Funk-tionalität befreit, zum Kulturträger und damit zum Symbol tunesischerIdentität. Bei Festumzügen oder politischen Demonstrationen trugen ihntunesische Frauen, nicht nur in Le Kram, stolz, in manchen Fällen mit einerkleinen tunesischen Flagge als Gesichtsschleier.

Sommer der Demonstrationen. Im Frühjahr und Sommer 2012 drohtenin Tunis Massendemonstrationen und gewaltsame Zusammenstöße mit denSicherheitskräften, die politische Lage eskalieren zu lassen. Versammlun-gen und Demonstrationen wurden daraufhin im Stadtzentrum entlang derAvenue Habib Bourguiba und auf dem Kasbah Platz verboten. Am 16.März 2012 kamen religiöse Aktivisten zusammen, um für die Umsetzungislamischer Normen in der Verfassung zu protestieren, woraufhin eine Ge-gendemonstration am 20. März 2012 die Segmentierung in religiöse undsäkulare Kräfte als konstruierte Gegenpole anprangerte. Dennoch verfestigtesich der polarisierte Diskurs weiter. Während einer Versammlung am 24.März 2012 kritisierte Beji Caid Essebsi die Ennahdha-Regierung scharf undsprach sich für eine säkulare Opposition als politische Gegenspielerin aus.Einen Tag später demonstrierten rund 8.000 Menschen im Stadtzentrumvon Tunis erneut für die Aufnahme der Scharia in die tunesischen Verfas-sung. Die Ennahdha-Regierung lehnte diese Forderung am 26. März ab. Am9. April 2012 wurde in Tunis eine weitere Demonstration von der Polizeiaufgelöst. Infolge der Auseinandersetzungen starben fünfzehn Zivilisten undneun Polizisten. Nachdem knapp einen Monat später am 1. Mai 2012 eineGroßdemonstration mit 20.000 Teilnehmern die nationale Einheit forderte,zeigte der Parteitag der Ansar al-Scharia in Kairouan, wie gefährlich weit derEinfluss nicht staatlicher, religiöser Akteure bereits reichte. Am 20. Mai 2012versammelten sich dort tausende Anhänger der Ansar al-Scharia Tunesien(gegr. 2011), gekleidet in afghanische Militäruniformen und mit Schwertern

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bewaffnet, um für die Einführung der Scharia zu kämpfen. Das Schwertsymbolisierte die gewaltsame Durchsetzung einer islamischen Ordnung basie-rend auf den Normen der Scharia. Sie verteilten Flyer mit Schaubildern zurkonkreten Organisationsstruktur des in Tunesien angestrebten Kalifatsstaats(vgl. Abbildung 6.6 auf Seite 224 beziehungsweise die deutsche Übersetzungauf Abbildung 7.9 im Anhang auf Seite 360). Am 10. Juni 2012 rief derAl Kaida Führer und Nachfolger Osama Bin Ladens [Usama Bin Ladin],Ayman al-Zawahiri [Ayman al-Z. awahirı], dazu auf, das islamischen Rechtin Tunesien durchzusetzen. Zahlreiche Mausoleen in Tunesien wurden ange-griffen und zerstört. Mit der Brandstiftung durch religiöse Extremisten imMausoleum Sidi El Kacem in El Kef im April 2012 wurden bis Januar 2013insgesamt elf religiöse Denkmale durch religiöse Extremisten geschändet. Diebekanntesten darunter waren die Zerstörung des Mausoleums Sayyida AichaManoubia in La Manouba am 16. Oktober 2012, ein Akt den die UNESCOverurteilte, sowie das Mausoleum Sidi Bou Saïd El Beji im touristisch starkfrequentierten Künstlerdorf Sidi Bou Saïd am Golf von Tunis. Konkurrieren-de Vorstellungen von Religion und religiösem Aktivismus wurden zunehmendzur Bedrohung der öffentlichen Ordnung. Die Zersplitterung reichte bis in diepolitischen Institutionen hinein. Am 30. Mai 2012 versprach der tunesischeMinisterpräsident Hamadi Jebali in einer Rede das harte Vorgehen gegenalle diejenigen, „welche die Gesellschaft reinigen wollen“. Der Minister fürreligiöse Angelegenheiten, Noureddine al-Khademi [Nuur al-Dın al-Khadimı],hatte zuvor am 31. März 2012 Razzien in den besetzten Moscheen im ganzenLand angekündigt, allein vierzehn Moscheen darunter in der HauptstadtTunis. Die allgemeine Nutzungsmöglichkeit aller Moscheen in Tunesien solltesich außerdem wieder an den vor der Revolution üblichen Öffnungszeitenorientieren, um nicht autorisierte Aktivitäten in den Räumen nach demGebet zu unterbinden.111 Er begründete die Maßnahmen damit, die religiöse

111Konkret hieß dies, dass die Imame, entsprechend dem Gesetz Nr. 88–34 vom März 1988„Über die Nutzung der Moscheen in Tunesien“, die Türen jeweils eine halbe Stundevor den Gebeten für die Gläubigen öffneten und eine halbe Stunde danach wiederschlossen.

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Indoktrination stoppen zu wollen und die Einrichtungen wieder unter dieKontrolle des Ministeriums zu stellen. Die Rückkehr zur Kontrolle überreligiöse Einrichtungen, wie zur Zeit des Ben Ali-Regimes, rief Unmut undMisstrauen in der Bevölkerung hervor. Der Minister selbst stand in der Kri-tik, da er sich, entgegen der Fatwa des Großmuftis Othman Batikh [cUthmanBat.ıkh] (geb. 1941), als Befürworter des Dschihads von Tunesiern in Syrienaussprach.112 Eben jene Moscheen, welche er unter die staatliche Kontrollezurückholen sollte, waren aber für die von ihm unterstützte Rekrutierung vonJugendlichen und jungen Erwachsenen für den Dschihad bekannt (Krüger2014). Der Konflikt entlud sich schließlich mit aufgebrachten Demonstratio-nen als Reaktion auf die Veröffentlichung des ersten Verfassungsentwurfsim August 2012. Die seit dem Jahr 1956 durch die tunesische Verfassunggarantierte Gleichberechtigung beider Geschlechter sollte darin durch die aufreligiösen Normen basierende Formulierung der gegenseitigen Ergänzung vonMann und Frau abgelöst werden. Die Ennahdha-Regierung als Initiatoringeriet daraufhin unter immensen Druck der aufgebrachten Öffentlichkeit. Dasvon ihr propagierte, islamische Recht beschneide die Rechte der Frauen undkomme den salafistischen Kräften im Land weit entgegen. Die anhaltendeUnruhe und Gewaltbereitschaft führte am 27. August 2012 schließlich zurbisher achten Verlängerung des Ausnahmezustands in Tunesien.

Regierungsmonopoly in der politischen Krise. Im Jahr 2013 steckte Tunesienin einer tiefen politischen Krise. Der weithin erwartete Transitionsprozess inRichtung Demokratisierung drohte zu scheitern. Auslöser war der landesweiteZorn über die politischen Morde an den beiden linken Oppositionspolitikernder Volksfront, Chokri Belaid [Shukrı Bilcıd], am 6. Februar 2013 und Mo-

112Der Großmufti ist der oberste Rechtsgelehrte und die höchste muslimische Autoritätin Tunesien. Er wird vom Ministerium für religiöse Angelegenheiten berufen und istberechtigt, Fatwas zu verkünden.

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hamed Brahmi [Muh.ammad Brahmı] am 25. Juni 2013.113 Die empörtenMassen warfen der Ennahdha-Regierung vor, diese Morde in Auftrag gege-ben zu haben. Sie wurde außerdem beschuldigt, sich nicht scharf genug vonihrem eigenen, extremistischen Flügeln und damit den mutmaßlichen Täterndistanziert zu haben. Die Demonstranten forderten eine Verschiebung despolitischen Fokus, weg von der demokratischen Reform und hin zu mehrEffizienz im Sicherheitssektor (Kartas 2014). Büros der Regierungsparteiwurden gestürmt und verwüstet. Ein Generalstreik setzte im Sommer dieRegierung unter Druck und forderte ihre Auflösung. Die Sicherheitssituationblieb prekär und wurde zur Priorität der Regierung erklärt. NächtlicheAusgangssperren sollten die Lage beruhigen. Die der Morde an Belaid undBrahmi verdächtigte Ansar al-Scharia wurde am 27. August 2013 schließlichals terroristische Organisation eingestuft. Sie wurde gleichzeitig von dertunesischen Regierung wegen der Anstiftung zu Gewalt gegen staatlicheInstitutionen und der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit verboten. Be-reits zu Beginn des Jahres 2013 waren Versuche unternommen worden, dasLand aus der Krise zu führen. Es war ein nationaler Dialog initiiert worden.Die von Hamadi Jebali geforderte Expertenregierung konnte aufgrund vonWiderständen aus den eigenen Parteireihen jedoch nicht realisiert werden.Nach seinem Rücktritt und der Bildung einer Übergangsregierung unter AliLarayedh [cAlı al-cArayyid. ] (geb. 1955) brachte ein erneuter Vermittlungs-versuch der UGTT im September 2013 schließlich den erhofften Erfolg.114

Das von der UGTT initiierte Quartett für den nationalen Dialog setzte sichaus der UGTT, der Union tunisienne de l’industrie, du commerce et del’artisanat (UTICA), der Ligue tunisienne des droits de l’homme (LTDH)und der Ordre national des avocats de Tunisie (ONAT) zusammen. Ge-

113Im Verlauf der Ermittlungen stellte sich heraus, dass beide mit der selben Waffeerschossen wurden. Tatverdächtig waren zwei jungen Männer aus dem salafistischenMilieu.

114Larayedh war seit dem Jahr 1981 Sprecher der Ennahdha. Wie viele andere seinerParteikollegen wurde er unter Ben Ali verhaftet und zu fünfzehn Jahren Gefängnisstrafeverurteilt.

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meinsam agierten sie als Mediatoren zwischen den drei RegierungsparteienEnnahdha, CPR und Ettakatol, der parlamentarischen Opposition und denhöchsten Staatsämtern – dem Staatspräsident, dem Ministerpräsident unddem Parlamentspräsident. Das Quartett erhielt für seine Arbeit im Jahr 2015den Friedensnobelpreis. Es ebnete den Weg für die Bildung einer unabhängi-gen Technokratenregierung unter Mehdi Jomaa [Mahdı Jumca] (geb. 1962),trieb Abstimmungen über Gesetze sowie Artikel der Verfassung und dieEntscheidung über das Wahlgesetz voran und stellte damit die erschütterteStabilität der Ordnung wieder her.115 Im Jahr 2013 verhandelte die tunesi-sche Regierung zudem mit der Europäischen Union beziehungsweise den G7+Staaten, über die Kooperation in der Reorganisation, der materiellen undtechnischen Aufrüstung und dem Training der Sicherheitskräfte sowie beiInfrastrukturprojekten. Die Zusammenarbeit verzögerte sich durch Konflikteüber die Tragweite europäischer Einbindung in die Sicherheitsinitiativennoch bis in das Jahr 2015 hinein.

6.2.2 Awlad al-Houma

Lost in Transition. Der Sturz des Ben Ali-Regimes legte weite soziale Räumefrei: „in denen die Gesellschaftsordnung nicht mehr funktionierte und indenen ultrareligiöse Gruppen einen gewissen Rückhalt fanden“ (Schulze2016, S. 539). Letztere traten in der Öffentlichkeit mit einer Selbstverständ-lichkeit auf, welche unter der Verfolgung und Zensur der Diktatur bisherunmöglich gewesen war. Auf der im Jahr 1982 gegründeten Internationa-len Buchmesse Tunesien im Parc des Expositions et Centre de CommerceInternational Le Kram präsentierte beispielsweise die Inhaberin des Buch-vertriebs Nous-mêmes, Sabra Khammassi [S. abra Khamması], im November2012 einen Stand mit circa 400 politischen und religiösen Titeln aus dem

115Der Ingenieur Jomaa war parteipolitisch unabhängig und bis zu seinem Amtsantrittals Industrieminister im Jahr 2013 in der Privatwirtschaft tätig gewesen. Bei derAbstimmung zu seiner Wahl als Ministerpräsident nahmen nur elf der insgesamt 21Parteien teil. Sie boykottierten die Wahl, da sie in Jomaa einen Unterstützter derEnnahdha-Partei sahen.

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salafistischen Milieu (Rosenfeld 2012). In Le Kram ging der politische undreligiöse Aktivismus hauptsächlich von den jüngeren Generationen aus, diein den Interviews von polizeilicher Willkür, Ungerechtigkeit, Mord und Miss-brauch berichteten. „Wir haben genug von den nächtlichen Razzien und demTerror in unseren Häusern. Wir haben genug von den Razzien und Verhaf-tungen in den Häusern Gottes. Wir hassen die Polizei, die in den spätenNachtstunden ihre Sirenen einschaltet, um die Schlafenden zu terrorisieren“,erklärte ein Verkäufer des Einzelhandels, welcher der einzige unter seinenvier Brüdern war, der Arbeit hatte (Interview 27/2013). Sein Freund fuhrtagsüber Taxi und servierte abends arabischen Kaffee und Shishapfeifen amStrand von Le Kram Est. Er unterbrach das Interview und fragte: „Kenntihr den Film Lost in Translation? Wir hier im Viertel sind Lost in Tran-sition. Wir sind verloren in Wut und Chaos. Demokratie und Fortschrittsehen wir nur im Fernsehen. Keiner erklärt uns, wie es weiter geht und waswir tun können“ (Interview 27/2013). Die Position der beiden fand sichin weiteren Gesprächen mit den Einwohnern Le Kram Ouests wieder undverdeutlichte das gestörte Verhältnis zwischen Bürger und Staat (Interview28/2013 und 32/2013). Die schwachen und im Prozess der Reform oderdes Aufbaus befindlichen, staatlichen Institutionen spiegelten die Werte derGesellschaft nicht oder nur eingeschränkt wider. Die mit der Revolution 2011einsetzende Liberalisierung der Öffentlichkeit öffnete im Lokalen den Raumfür gewaltsam ausgetragene Konflikte, da kein intaktes Gewaltmonopol desStaates gegeben war. Letztere brachen spätestens im Jahr 2012 mit demVerschwinden der Bürgerwehren aus. Die öffentliche Verwaltung stand vordem Problem, ihren administrativen Aufgaben nicht (mehr) effizient undumfassend nachkommen zu können. Mit dem Dekret Nr. 518 vom 2. Juni2012 wurde die kommunale Polizei dem Innenministerium unterstellt. Sieunterlag damit nicht mehr der direkten Aufsicht der Gemeinden, welcheihren dadurch beschränkten Handlungsspielraum bemängelten. Die Rück-kehr der Polizei nach Le Kram, um dort gegen die Privatisierung der Gewaltvorzugehen und die öffentliche Ordnung durch die staatliche Präsenz wieder-herzustellen, erfolgte zunächst mit militärischer Unterstützung. Polizisten

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patrouillierten in Begleitung von Soldaten, deren Anwesenheit die aggressiveGrundstimmung der Bevölkerung gegenüber der Polizei entschärfen sollte.Während im Osten Le Krams allgemeine Erleichterung und Hoffnung aufErneuerung zum Ausdruck gebracht wurde und die Bürger geduldig aufdie Reorganisation der Verwaltung und der öffentlichen Sicherheit warteten(Interview 29/2013), trafen die Sicherheitskräfte im Westen des Viertelsauf bewaffneten und gewaltsamen Widerstand der Jugendlichen und jungenErwachsenen. Diese bezeichneten sich im tunesischen Dialekt selbst als Aw-lad al-Houma, arabisch awlad al-h. awma, als Söhne des Stadtviertels, undversuchten gegen alle Repräsentanten des wiedererstarkenden Staates vorzu-gehen.116 Den Interviews gemein waren Ohnmachtserfahrungen gegenüberdem Staat, Krisen in der Lebensplanung, Zukunftsängste und das Gefühlvon Sinnlosigkeit. Politische Entscheidungsträger galten ihnen als Lügner,Heuchler, korrupt und unmoralisch (Interview 27/2013 und 28/2013). Dielose organisierten Aktionen in den Monaten nach der Wahl zur Verfassungs-gebenden Nationalversammlung im Oktober 2011 reichten von brennendenStraßensperren an den Zufahrtsstraßen von Le Kram bis zu auf Polizistengeworfenen Steinen und Brandsätzen. Der stille Widerstand im Alltag, wasJames Scott die „politics of silence“ nennt, wurde mit der Revolution 2011aufgebrochen (Scott 1985). Aktiver und gewaltsamer Widerstand gegen denStaat und seine Vertreter wurde möglich. Die Erfahrung der Machtlosigkeitmündete in Self-Empowerment durch Gewalt- und Rachefantasien gegenüberallen staatlichen Vertretern. Unter den Jugendlichen war die Ansicht weitverbreitet, die Revolution sei noch nicht beendet, so lange die „alte Garde“noch Einfluss auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nehmen könne (In-

116Houma bezeichnet im tunesischen Dialekt zunächst das Stadtviertel. Unter den Ju-gendlichen und in der Rap- und Hip-Hop Szene wird der Begriff mit unterschiedlichenAssoziationen verknüpft. Zum einen steht er für ein Aufwachsen und Leben in armen,unterprivilegierten Verhältnissen, zum anderen für die dortige Konfrontation mitKriminalität und Drogen ohne Aussicht auf eine bessere Zukunft. Gleichzeitig trans-portiert der Begriff Houma Stolz, Gemeinschaftsgefühl und Kampfgeist. Der Begriffh. awma in seiner hocharabischen Bedeutung bedeutet Kampfgetümmel beziehungsweiseHauptteil.

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terview 27/2013). Das eigene Überlegenheitsgefühl und das Bedürfnis nachProvokation und Protest wurde durch die sozialen Interaktionen der Gruppeverstärkt, deren Mitglieder sich auf der Grundlage ähnlicher Demütigungendurch den Staat nach außen abgrenzten.

6.2.2.1 Männer der Revolution von Le Kram

Nationale Dachorganisation LNPR. Die nationalstaatliche Steuerung Tu-nesiens konnte nach der Revolution wesentliche Kernelemente modernerStaatlichkeit, wie beispielsweise die effektive Gebietsherrschaft, nicht mehrerbringen und wies kaum beziehungsweise keine autoritative Entscheidungs-kompetenz mehr auf (vgl. Chojnacki & Branovićne 2007, S. 183 f.). Sie brachjedoch nicht im gesamten Staatsgebiet zusammen, sondern ließ sich nur ter-ritorial in bestimmten Gebieten, wie den Stadtvierteln Le Kram und HayyEttadhamen und Douar Hichar in Tunis oder in Cité Ezzouhour in Kasserine,beobachten. Dort war sie sektoral eingeschränkt, da nach der Revolution diestaatlichen Sicherheitsorgane abwesend blieben und ihre Ordnungsfunktionvorübergehend nicht erfüllten. Im Rückblick wurde zudem deutlich, dassder Zusammenbruch der nationalstaatlichen Steuerung nur temporal auftrat.Er betraf außerdem nur bestimmte soziale Gruppen, wie die polarisiertetunesische Jugend, welche angesichts der wirtschaftlichen Hoffnungslosigkeitin eine soziale Sinnkrise verfiel. In einem Interview auf dem Internetportalwww.qantara.de der Deutschen Welle bezeichnete der Politikwissenschaft-ler Hamza Meddeb die tunesische Jugend als „Generation no future“. DerIslam erscheine den Jugendlichen als Vehikel aus der Perspektivlosigkeit,wobei die Frustration gleichzeitig die Gewalt gegen Staat und Gesellschaftbegünstige (Mersch 2017). Junge Männer, die zum Teil aus den früherenNachbarschaftswachen ausgeschieden waren, fanden sich in der Folge zulokalen Milizen zusammen, welche aktiv in die politische Steuerung eingriffen.In der Gemeinschaft fanden sie eine als gesellschaftlich sinnvoll und wertvollwahrgenommene Aufgabe, welche es ihnen ermöglichte, als Kämpfer für dieNation die eigene Würde, arabisch karama, zu wahren beziehungsweise sie

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zu verteidigen. In Le Kram Ouest entstand eine nicht weisungsgebundeneOrtsgruppe der LNPR. Die Dachorganisation LNPR wurde im Mai 2012 vonMohamed Maalej formell gegründet und war bis zu ihrem Verbot im Jahr2014 eine paramilitärische Organisation in Tunesien.117 Landesweit über losevernetzte lokale Zweigstellen und örtliche Büros operierend, konzentriertesich der Schwerpunkt der Aktivitäten der LNPR auf die Küstenregion imNorden und Osten des Landes. Mit der Verkündung des Ablaufs der Mandatenach der Wahl der Verfassungsgebenden Nationalversammlung akquiriertedie LNPR immer weitere Mitstreiter unter Anhängern der Ennahdha-Partei,der CPR und den unabhängige Islamisten. Die so entstandene Miliz galtin der tunesischen und der internationalen Presse als verlängerter Armder Ennahdha-Partei.118 Erklärtes Ziel der LNPR war die Stärkung der„arabisch-muslimischen Identität“, die „Bewahrung der Errungenschaftender Revolution“ sowie die „die Bekämpfung von Korruption“ (Dahmani2013). Die Korruption gefährde, laut LNPR, auch nach der tunesischenRevolution weiterhin die Zukunft Tunesiens. Ehemalige Anhänger des BenAli-Regimes, wie Parteimitglieder der RCD und Beamte im öffentlichenDienst, seien schuldig und müssten aus ihren Ämtern entlassen werden.119

Weitere erklärte Gegner der LNPR waren zudem die säkulare Eliten desLandes, allen voran die UGTT, sowie die tunesische Medienlandschaft. WoAggression gegen staatliche Vertreter auftrat, war sie gespeist von der Wahr-nehmung, die Revolution sei nicht abgeschlossen oder durch das Streben

117Nach Maalejs Rücktritt übernahm im Januar 2013 Mounir Ajroud [Munır Ajrud]die Nachfolge als Präsident der LNPR. Maalej kündigte an, gemeinsam mit seinerebenfalls zurückgetretenen Ehefrau Halima Maalej [H. alıma Macalij], einem Mitglied desExekutivbüros, sowie dem ehemaligen Sekretär Mohamed Hdiya [Muh. ammad Hadiyya]und dem zurückgetretenen Strategic Relations Manager, Salem Samoud [Salim S. amud],eine eigene politische Partei zu gründen, welche den Zielen der Revolution folge.

118Über die Finanzierung der lokalen Miliz konnten keine Informationen gefunden werden.Die allgemeine, aber nicht belegte Auffassung der tunesischen Medien war es, dassdie Parteien CPR, Ennahdha und Ettakatol die Zweigstellen der LNPR finanziellunterstützten.

119Welchen Verbrechen sie sich konkret schuldig gemacht haben sollen, wurde nicht imDetail erläutert.

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reaktionärer Kräfte nach Machterhalt in Gefahr. Zunächst engagierten sichdie Zweigstellen der LNPR im ganzen Land in der Lokalpolitik. Sie küm-merten sich um die Wahlorganisation oder darum, geflohene oder abgesetzteAmtsträger zu ersetzen. Sie wickelten die lokale Abfallwirtschaft ab, agiertenals Mediatoren mit der städtischen Verwaltung oder boten Serviceleistungenfür Großveranstaltungen an. Landesweite Aufmerksamkeit erlangten poli-tisch motivierte Anschläge und Attentate auf tunesische Politiker durch dieLNPR, unter anderen in der südtunesischen Stadt Tataouine und auf derInsel Djerba. Die tunesischen Medien verdächtigten die Ennahdha-Parteials Auftraggeber der Morde. Die Ermordung der Oppositionellen erschütter-te die politische Landschaft Tunesiens schwer, welcher Gewaltakte diesenAusmaßes seit vielen Jahrzehnten fremd geworden war. In Reaktion auf diescharfen medialen Vorwürfe gegenüber der nationalen Revolutionsschutzligaverteidigte Rachid al-Ghannouchi die LNPR auf einer Pressekonferenz am 5.Dezember 2012 und bezeichnete sie als „lebendiges Gewissen der Revolution“.Gleichzeitig stellte al-Ghannouchi klar, dass die Mitglieder der Miliz keineParteizugehörigkeit besäßen und unabhängig agierten (Dahmani 2013). Mitdieser Stellungnahme distanzierte sich al-Ghannouchi von dem Vorwurf, dieLNPR sei die Miliz der Ennahdha, werde von Letzterer finanziell gefördertund handle in deren Auftrag. Offizielle Angaben der LNPR bekräftigtendas Bild der unabhängig von Parteizugehörigkeiten agierenden Mitgliederbewusst und erklärten, dass sich die LNPR ausschließlich über Spendenfinanziere. Das undurchsichtige Vorgehen, Berichte über Menschenhandelund Waffenschmuggel sowie die Verbreitung von Hass und Gewalt durch ge-zielte Einschüchterungen ließen daran Zweifel aufkommen. Hinzu kam, dassdie LNPR der Kritik nicht mit intellektueller Reflexion begegnete, sondernmit physischer Gewalt (auch gegen Vertreter der Zivilgesellschaft) reagierte.Das rhetorische Repertoire der LNPR blieb auf populistische Brandredenbeschränkt. Sie griff wiederholt die Palästinafrage und die damit verknüpfteHetze gegen die tunesischen Juden auf.

Die Lokale Miliz in Le Kram Ouest. Eine der bekanntesten Zweigorganisa-

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tionen der LNPR in Tunesien war die lokale Miliz, Männer der Revolutionvon Le Kram Ouest. Ihre Anhänger verfolgten das übergeordnete Ziel, dasalte System Ben Alis vollständig abzulösen. Ehemalige RCD Regierungsmit-glieder sollten ihrer Ämter enthoben, politisch neutralisiert und am weiterenMitwirken am politischen und wirtschaftlichen Geschehen gehindert werden.Auch wenn die mit der Dachorganisation geteilte Ideologie auf einen Erneue-rung Tunesiens abzielte, so galt die vorrangige Loyalität der Miliz zunächstder eigenen Houma. Die vorgestellte Gemeinschaft der Einwohner von LeKram Ouest genoss einen Schutzstatus durch die Miliz. Die Einwohner solltenvor polizeilicher Willkür und Übergriffen sowie vor kriminellen Aktivitätendurch Dritte bewahrt werden. Feindbilder stellten alle mit dem alten Systemverbundenen Eliten dar, welche der Umsetzung der neuen Ordnung im Wegstanden oder sie gefährden könnten. Eine Führungsrolle nahm Imed BenAjmi Ben Mohamed Dghij [cImad Bin al-cAjmı Bin Muh. ammad Dghıj] (geb.1968) in der Miliz ein, welcher die zuvor unkoordinierten Aktionen jungerMänner im Viertel erstmals bündelte. Unter seiner Führung richtete die Milizein eigenes Hauptquartier ein, traf sich regelmäßig zum Ideenaustausch undgemeinsamen Planungsgesprächen. Neben den spontanen Demonstrationenwurden Aktionen im Stadtviertel und darüber hinaus nun zunehmend auchvorausgeplant und die interessierte Öffentlichkeit darüber informiert undzur Teilnahme eingeladen beziehungsweise aufgefordert. Auf die Nachfragevon Medienvertretern, wie die Mitgliedschaft der Miliz intern organisiert sei,antwortete Dghij jedoch immer ausweichend. Alle Einwohner Le Krams, diewährend der Revolution gegen das Regime vorgegangen sind, seien Teil derMänner der Revolution (Interview 49/2013). Dghij galt in den tunesischenMedien als Anstifter der gewalttätigen Ausschreitungen in Le Kram Ouest.Er selbst widersprach dieser Rolle. Es gäbe in Le Kram keine Gewalt, die vonden Bürgern ausgehe. Gewalttätig sei das alte Regime und seine Vertreter.120

Imed Dghijs Familie stammte aus der kleinen Stadt Melloulèche, südlichvon El Djem gelegen. Einige kritische Stimmen aus Le Kram erzählten, dass

120Al-Mutawassat TV, Salah Atiya im Kamingespräch mit Imed Dghij, ausgestrahlt am26.03.2013, URL: https://youtu.be/lUX0ydp7g_8, Zugriff am 05.04.2019.

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Dghij im Viertel lange Zeit als Alkoholschmuggler bekannt gewesen war. Alsjunger Mann soll er im illegalen Weinlager Imed Trabelsis, des bis in dasJahr 2011 in Le Kram Est ansässigen Neffen Leila Trabelsis, in Bhar Lazreqgearbeitet haben. Dghij studierte Mathematik an den Universitäten Mo-nastir und Tunis und soll bereits dort Kontakt zu extremistischen Gruppenaufgenommen haben. Er wurde unter dem Ben Ali-Regime mehrfach verhaf-tet und inhaftiert, unter anderem nach seiner Rückkehr aus dem Irak. Nachder Revolution inszenierte sich Dghij als Verteidiger der demokratischenRechte und als Retter des Viertels und seiner Bewohner. Als primus interpares trat er als Stimme der Benachteiligten und der Vergessenen gegenüberden Repräsentanten des Staates auf. Er kämpfte er gegen alles, was ThomasMore unter der conspiracy of the rich verstand (Logan et al. 1995). In einemInterview mit Imed Dghij bezeichnete ihn der Moderator der TalkshowLabes des tunesischen Senders Ettounsiya TV, Naoufel Ouertani [Nawfilal-Wartanı], als Politiker.121 Dghij reagierte ungehalten darauf und betonte,zwar Anführer, aber in keiner Weise Politiker, zu sein. Er bezeichnete sichals Rebell, tunesisch-arabisch mutamarrud. Von den Einwohnern Le KramOuests wurde er mit der Ehrenbezeichnung cumda, angesprochen. cUmdabezeichnet im tunesischen Dialekt einen Gemeindevorsteher oder allgemeineine angesehene und respektierte Führungsperson, welche als Streitschlichteroder Berater auftritt.

Das Hauptquartier der Miliz. Als Signal an alle Einwohner des Viertelsund den tunesischen Staat besetzten die Männer der Revolution von LeKram als eigenen, zentralen Treffpunkt in Le Kram die am 14. Januar 2011überfallene und geplünderte Polizeistation von Le Kram Ouest. Das erste Zu-sammentreten der Milizionäre in ihrem Hauptquartier auf der Avenue FerhatHached ereignete sich bereits am 20. November 2011, über ein halbes Jahrvor der offiziellen Gründung der LNPR (Interviews 1/2013 und 33/2013).Mit einfachen Mitteln gestaltet und ohne größeren finanziellen Aufwandeingerichtet, diente das einstöckige Gebäude, ausgestattet mit weißen Plas-

121Ettounsiya TV, Labes, Folge 29, ausgestrahlt am 31. Mai 2014.

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tikstühlen und alten, stapelbaren Stühlen aus Holz und Metall, als Planungs-und Koordinierungszentrum sowie für Versammlungen und Feiern.122 Nebendem rein praktischen Aspekt, kostenlos ein leerstehendes Gebäude im Zen-trum des Viertels an der für alle Einwohner gut erreichbaren HauptstraßeLe Kram Ouests zu übernehmen, entzog sich die Miliz mit der Besetzungder Gebäude auch symbolisch der staatlichen Autorität. Zudem sandte siemit der Besetzung der Polizeistation die klare Botschaft an alle EinwohnerLe Krams, der neue und fortan entscheidende Machtfaktor im Westen desViertels zu sein. Diesen Schritt unterstrichen die Milizionäre noch zusätzlich,indem sie Stencils der Märtyrer des Viertels auf die Straßenseite der Au-ßenmauer des Gebäudes sprayten und den Innenraum damit verzierten.123

Darunter skizzierten die Milizionäre einen Stacheldrahtzaun und schrieben„Die Märtyrer sind die Festung des Verteidigungskampfs von Le Kram“,arabisch shuhada cqalca al-nid. al al-kram. Das schmiedeeiserne Zugangstorzum Vorhof der ehemaligen Polizeistation ersetzten sie wenig später durcheine einfache Metalltür. Diese erhielt, ebenfalls mit der Sprühflasche, dieAufschrift „Tür von Le Kram 1“, arabisch bab al-kram 1. Als „erste Tür desViertels“ sollte sie allen Einwohnern bei Fragen und Problemen offen stehenund stand in symbolischer Konkurrenz zum Rathaus, welches bei Fragenund Problemen nur als nachgeordneter Ansprechpartner präsentiert wurde.Praktisch sah die Situation im Viertel tatsächlich so aus, dass das Rathausvon Le Kram Ouest als Kommunalverwaltung nicht mehr existierte und dieAufgaben teilweise durch das Rathaus im Osten übernommen wurden. Durch

122Der Boden im Vorhof der ehemaligen Polizeistation war bei jedem Besuch mit herabge-fallenen Zweigen und achtlos weggeworfenen Pappbechern, Zigarettenstummeln undGlasflaschen bedeckt. Die jungen Männer der Miliz setzten sich zu diesem Zeitpunktnoch nicht mit Themen wie dem Umweltschutz oder der Sauberkeit des Viertelsauseinander. Diese Ansätze wurden erst später mit dem Taktikwechsel der Milizrelevant, als Imed Dghij begann, sich in Reaktion auf die sich formierende, lokaleZivilgesellschaft kommunalpolitisch zu engagieren (siehe Kapitel 6.3.2 ab Seite 267).

123Es handelte sich um die in Auseinandersetzungen mit der Polizei getöteten acht jungenMänner aus Le Kram Ouest. Ihr Tod 2011 war der Auslöser für den Angriff derEinwohner auf die Polizeistation in Le Kram Ouest gewesen.

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die überdauernden Strukturen einer zentralisierten Verwaltung in Tunesien,wie beispielsweise die zentral abbestellten Sonderdelegierten als vorüber-gehender Ersatz der Bürgermeister, das Ausbleiben von Kommunalwahlenund die zusätzlichen Anfeindungen durch nicht staatliche Akteure, wie dieMiliz, waren die Entscheidungsbefugnisse und das Durchsetzungsvermögender dort verbleibenden Verwaltungsangestellten und Kommunalpolitikerstark eingeschränkt.124 Wie die Beschriftung des Hauptquartiers der Milizim Außenbereich, so verdeutlichte die Innenraumgestaltung der ehemaligenPolizeistation eindrücklich die Haltung der Miliz gegenüber dem Staat undseinen Vertretern. Die Wände des kleinen Vorhofs zeigten ACAB Tags. Dane-ben war der Spruch „Der Säkularismus erzieht Schafe, der Islam erzieht dieMasse [des Volks]“, arabisch al-calmaniyya turabbi nicajan; al-islam yurabbiaswidan, zu lesen. Er verdeutlichte kurz und prägnant allen Besuchern dievon der Mehrheit der Miliz getragene Vorstellung einer islamischen Ordnungfür das zukünftige Tunesien. Im Eingangsbereich stand neben der Tür dieSelbstbezeichnung „Männer der Revolution von Le Kram“, arabisch rijalal-thawra bi-l-kram, daneben in roter Farbe auf Arabisch allahu akbar an dieWand geschrieben. Der Hauptraum war in den tunesischen LandesfarbenRot und Weiß gestrichen, die Zimmerdecke war mit schwarzen Tüchernabgehängt. Das Erkennungszeichen der Gruppe war eine zum Kampfgrußerhobene, geballten Faust mit der tunesischen Flagge als Armband am

124Die Konfrontation der lokalen Akteure mit dem tunesischen Staat nach 2011 scheint imNachhinein durch das jahrelange Ausbleiben wichtiger Dezentralisierungsmaßnahmendurch die tunesische Regierung begünstigt worden zu sein. Die unter dem Ben Ali-Regime stattgefundenen Dezentralisierungsmaßnahmen dienten hauptsächlich demZweck, die Peripherie tiefer zu durchdringen und die Output-Legitimation des Regimesdurch eine gesteigerte Effektivität und Effizienz in der Performanz zu erhöhen (vgl.Demmelhuber & Sturm 2016, S. 168). Neopatrimoniale Netzwerke verstärkten in diesenProzessen die sozialräumliche Abhängigkeit der Peripherie vom Zentrum. Nach demSturz des Regimes blieben die Kommunalwahlen bis 2018 aus, wodurch der Vollzugder demokratischen Willensbildung nicht im erforderlichen Maß gewährleistet war.Wichtige Gesetze zur Regelung der Gebietskörperschaft wurden nicht verabschiedetund kommunale Verwaltungsstrukturen der Ben Ali-Ära blieben erhalten.

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6.2 Phase Zwei: Lokaler Widerstand gegen den Staat 2012–2013

Handgelenk. Ein Plakat dieser Faust dekorierte die Wand im hinteren Teildes Versammlungsraums und wies diesen formlos als Standort für die Red-ner bei internen Veranstaltungen aus. Das Logo selbst war der serbischenGruppe OTPOR!, deutsch Widerstand, welche gegen die Diktatur Slobo-dan Miloševićs (1941–2006) aktiven Widerstand geleistet hatte, entlehnt.125

Nicht nur die lokale Miliz von Le Kram bediente sich dieses Symbols. Eswurde von verschiedenen und voneinander unabhängigen Jugendbewegun-gen einiger arabischer Länder aufgegriffen, darunter die Jugendbewegung 6.April in Ägypten und die Freiheitsbewegung in Bahrein (vgl. Belkhodja &Cheikhrouhou 2013, 19). In Tunesien hatte die oppositionelle MailinglisteTakriz, tunesisch-arabisch takrız, die Faust bereits in den 1990er Jahrenadaptiert wie die Abbildung 6.1 auf Seite 200 zeigt.126

Neben Referenzen auf die osteuropäischen Revolutionen griff die lokale Milizin ihrer Selbstdarstellung auch genuin arabische und islamische Motive auf.Die weiteren Wände waren mit verschiedenen Bannern dekoriert, daruntereine schwarze Flagge mit dem islamischen Glaubensbekenntnis, der shahada,zum Teil in Kombination mit dem Siegel des Propheten.127 Diese Flaggen

125Miloševićs hatte im Jahr 1987 in der Sozialistischen Republik Serbien, einer Teilrepublikder ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien, die Macht ergriffen.Er blieb von 1991 bis in das Jahr 1997 der Präsident der Republik Serbien und wurdevon 1997 bis 2000 Präsident der Republik Jugoslawien. Im Zusammenhang mit demKosovokrieg (1998–1999) wurde er im Jahr 2011 an das UN-Kriegsverbrechertribunalin Den Haag ausgeliefert und verstarb im Jahr 2006 noch vor der Beendigung desVerfahrens.

126Takrıiz bedeutet im Hocharabischen Weihe, Ordinat oder Benediktion. Im tunesi-schen Dialekt hingegen bedeutet takrız „Nerven haben„ oder „Wut“. Die Mailinglistewurde im Jahr 1998 von zwei bis heute anonym gebliebenen Studenten aus Wutgegen das Ben Ali-Regime initiiert. Sie war als geheimes Untergrundmedium zumAustausch über die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Missstände inTunesien unter der Diktatur angelegt worden. Um die Anstrengungen der Agencetunisienne d’internet (ATI) zu umgehen, welche wiederholt versuchte, die Mailinglistezu blockieren, verbreiteten die Redakteure Tipps zur Umgehung der Internetzensur.

127Die Schahada lautet: „Es gibt keinen Gott außer Gott und Mohammed ist sein Gesand-ter“, arabisch la ilaha illa llah(u) wa-muh. ammadun rasulu llah

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Abbildung 6.1: Die Faust als Symbol arabischer Jugendbewegungen; vonlinks nach rechts: OTPOR! Serbien, 6. April Ägypten, Frei-heitsbewegung Bahrein, Takriz Tunesien; Quelle: GoogleBilder

werden von verschiedenen islamistischen Terrororganisationen als Symbolfür das Glaubensbekenntnis an die Einheit Gottes, arabisch tawh. ıd, undden Dschihad verwendet. Das Siegel ersetzt als moderne Version die eben-falls übliche Darstellung des berittenen Kämpfers der Eroberungsfeldzügewährend der Frühzeit des Islam. Zusätzlich im Hauptraum verteilt hingenweitere Bilder der acht Märtyrer Le Krams. Eine martialische Darstellungeines Panzers im Rauch der Kämpfe während der Revolution rundete dasBild ab und sollte eine heroische Atmosphäre schaffen.

Selbstinszenierung der Milizionäre. Das strategische Handeln der Miliz warauf die Zustimmung der Einwohner des Viertels angewiesen. Das eigeneAnsehen und der gute Ruf in der lokalen Gesellschaft stellten für die Mi-lizionäre deshalb einen nicht unerheblichen Faktor für die Durchsetzungihrer Anliegen dar. Sie transportierten ihr Selbstbild als sozial engagierteRebellen öffentlichkeitswirksam an die Einwohner, zum Beispiel indem sieden menschlichen Körper als Mittel identitätsorientierter Kommunikationnutzten (vgl. Bette 2005, S. 111). Er wurde von ihnen als Kommunikati-onsangebot an die Öffentlichkeit inszeniert, wobei ihnen die Verdichtunggesellschaftlicher Kommunikation im urbanen Raum entgegen kam. „Indivi-duelle und kollektive Identitätsentwürfe und Selbststilisierungen können hierumweglos vorgeführt und den Augen der anderen für eine Dechiffrierungfreigegeben werden“ (Bette 2005, S. 121). Ein gemeinsamer Kleidungsstil

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kann beispielsweise die Gruppenzusammengehörigkeit über die Visualisie-rung geteilter Identitätsvorstellungen regulieren. Dem Ethnologen TerenceTurner zufolge ist der Körper eine Bühne. Also solche repräsentiert er dieeigene Sozialisierung durch Kleidung und Schmuck. Diese müssen immer imjeweiligen Kontext von Zeit und Ort interpretiert werden, um ihre Bedeutungaufzudecken (Turner 2012). Zum Erkennungszeichen des Milizführers ImedDghij gehörten, auch bei offiziellen Anlässen, die obligatorische Sonnenbrille,seine Baseballcap und eine Lederjacke. Der allgemeine Kleidungsstil derMilizionäre bestand aus Jogginghosen, Sneakers, T-Shirts und Sweatshirts.Obwohl die individuelle Motivation, Sportswear zu tragen, vielschichtig gewe-sen sein mag, war der Kleidungsstil trotzdem Träger einer Botschaft an dieAußenwelt. Die Mode der Gegenwart ist insgesamt legerer und sportlichergeworden. „Sportschuhe, -hemden und -pullover in der Öffentlichkeit zutragen und für eine allgemeine Freizeitgestaltung umzufunktionieren, heißt,die Symbolkraft des Sportkörpers und der ihm zugeschriebenen Kleidungfür ein sportliches Auftreten in außersportlichen Situationen zu nutzen. Indi-viduelle Leistungsfähigkeit, Vitalität, ein unkompliziertes Unbekümmertsein,Einfachheit und ein leichter Zugang für zwischenmenschliche Kontakte ausder Du-Kultur des Sports lassen sich so symbolisch andeuten“ (Bette 2005, S.112). Diese Eigenschaften versuchten die Milizionäre für ihr Image im Viertelauszustrahlen. Aus rein pragmatischer Sicht war der Kleidungsstil zudemgünstig und für viele Milizionäre finanziell erschwinglich. Damit repräsentier-te das legere Auftreten auch die Sozialisierung weitab der finanziell bessergestellten und verhassten Eliten in Politik und Wirtschaft. Sportswear zutragen, stellte für die Milizionäre einen visuellen politischen Protest gegendie weiterhin herrschenden Eliten der Ben Ali-Ära und deren teure Maßan-züge dar. Die Milizionäre verstanden sich als Jugend- beziehungsweise alsSubkultur, deren Mode sich abgrenzen sollte. Das Auftreten in Anzug, Hemdund Krawatte wäre für sie mit einer symbolischen Positionierung an der Seiteder „korrupten Staatsbeamten und gewissenlosen Wirtschaftsunternehmer“gleichbedeutend gewesen (Interview 33/2013). Diese Haltung setzten dieMilizionäre bewusst bei ihren Pressekonferenzen ein. Fernsehübertragungen

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von offiziellen Pressekonferenzen der Regierung in weit entfernten Konferenz-sälen verkörperten für sie die Distanz und Fremdheit der Politiker gegenüberden Bürgern. Die Milizionäre wollten vor der Kamera aber vertraut, un-kompliziert und für jeden Bürger unmittelbar ansprechbar wirken. EineHaltung, welche die ehemalige Polizei des Viertels und andere Staatsbeamtedes Ben Ali-Regimes den Bürgern nicht glaubhaft hatten vermitteln kön-nen. Sie entschieden sich deshalb, provokativ in ihrer Alltagskleidung undvor Graffitiwänden im zentralen Hauptquartier in Le Kram Ouest an dieÖffentlichkeit zu treten. In wenigen Fällen beugten sie sich den sozialenKonventionen und trugen Businesskleidung. Am 28. August 2012 warenImed Dghij und einige seiner Unterstützer zu einem Treffen der Ministerin Carthage eingeladen, um dort die andauernden Unruhen in der Regionund in Le Kram Ouest zu besprechen. Sie wollten durch die persönliche undverbindliche Atmosphäre mögliche Lösungsansätze finden. Am 26. Oktober2013 fand ebenfalls eine Besprechung von Vertretern der Miliz, darunterImed Dghij, mit fünf Vertretern der Regierung statt, um Lösungswege zufinden, wie in Le Kram Ouest Gesetze umgesetzt, Arbeitsplätze geschaffen,der Verkehr besser geregelt oder neue Wohnungen gebaut werden können.Zu diesen Anlässen trugen sie als Zeichen des guten Willens weiße, kurzärm-lige Hemden, jedoch ohne Jackett oder Krawatte oder weiße Polohemden.Während dieser Treffen traten die Milizionäre als Vertreter des Viertelsund Ansprechpartner der Regierung auf. Sonderdelegierte oder Mitarbeiterder kommunalen Verwaltung waren hingegen nicht zu der Gesprächsrundeeingeladen. Darüber hinaus zeigte sich in Gesprächen mit den Einwohnern LeKrams, dass die Milizionäre ihre identitäre Selbstverortung über sprachlicheAusdrucksformen vermittelten und über sie Gemeinschaft erzeugten. Diesprachlichen Ausdrucksformen waren der eigenen Agenda und der Zielgrup-pe angepasst. Während in Tunesien sowohl das moderne Hocharabisch alsauch das Französische als Amtssprache gelten, wurde im Alltag in Le KramOuest und von Vertretern der Miliz der tunesische Dialekt als Muttersprachefavorisiert. Das tunesische Arabisch als maghrebinischer Dialekt, schien inLe Kram Ouest tendenziell eher als genuin tunesisch und bürgernah wahrge-

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nommen worden zu sein, während das Französische mit bürgerfernen undkorrupten Amtsträgern und der Regierung assoziiert wurde.128 BesondereAutorität sollte bei öffentlichen Auftritten die Verwendung kurzer religiöserPhrasen erzeugen. Imed Dghij verwendete diese während in seinen Anspra-chen und bei Interviews, um seine Religiosität zu demonstrieren und daseigene Handeln in den Auftrag Gottes zu stellen. Längere Koranzitate oderÜberlieferungen des Propheten Muhammad, arabisch ahadıth, reproduzierteer hingegen nicht. In einem Versuch, seinen Interviews und Anspracheneinen offiziellen und autoritären Charakter zu verleihen, begann er diese,wenn Presse vor Ort anwesend war, dennoch gerne auf Hocharabisch. Nachwenigen Sätzen fiel er zurück in den tunesischen Dialekt. In vielen Anspra-chen kombinierte Dghij die legitimierende Wirkung religiöser Sprache mitrevolutionärer Rhetorik. Sich reimende Slogans brachten während internerVersammlungen und öffentlichen Demonstrationen geteilte politische Posi-tionen der Miliz zum Ausdruck. Die Biografie Umar al-Mukhtars [cUmaral-Mukhtar], des libyschen Nationalhelden, Guerillakämpfers und Märtyrers,fügte sich passend in die Propaganda der Gruppe ein.129 Sein berühmtesZitat: „Wir geben nicht auf, wir siegen oder wir sterben“, arabisch nah. nu lanastaslimu, nantas. iru aw-namutu, wurde von der Miliz wiederholt in Tagsund auf Plakaten aufgegriffen. Imed Dghij erhob das Zitat zum Motto derMiliz und ließ es auf Flyern abdrucken, wie die Abbildung 6.8 auf Seite235 zeigt. Er verkündete es außerdem öffentlich während eines TV-Auftrittsund löste damit bei den Zuschauern hörbar sowohl Begeisterung als auchBefremdung aus.130

128Dghij selbst spricht französisch, nutzt es jedoch hauptsächlich, wenn er über Mathe-matik sprich. Auf seinem Youtubekanal Imed Omda veröffentlichte er im Jahr 2015verschiedene Videos, in denen er den Abiturienten des Jahrgangs die Lösungswege derabgelegten Prüfung vorrechnete und erklärte.

129Umar al-Mukhtar (1962–1931) war einer der Anführer des libyschen Widerstands inder Kyrenaika gegen die Kolonialherrschaft Italiens. Er wurde im Jahr 1931 währendeines Gefechts verhaftet und im Konzentrationslager Soluch bei Bengasi hingerichtet.

130Ettounsiya TV, Labes, Folge 29, ausgestrahlt am 31. Mai 2014.

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Orte der Erinnerung. „Selbst wenn Orten kein immanentes Gedächtnisinnewohnt, so sind sie doch für die Konstruktion kultureller Erinnerungsräu-me von hervorragender Bedeutung. Nicht nur, daß [sic.] sie die Erinnerungfestigen und beglaubigen, indem sie sie lokal im Boden verankern, sie verkör-pern auch eine Kontinuität der Dauer (...)“ (Assmann 1999, S. 299). Nach derRevolution wurden die mit dem Ben Ali-Regime in Verbindung stehendenNamen öffentlicher Orte durch die Regierung in einem symbolpolitischenAkt umbenannt. Der zentrale Kreisverkehr in der Innenstadt von Tunis amEnde der Avenue Habib Bourguiba heißt seit der Revolution Place du 14Janvier 2011. Der in Tunesien als Big Ben von Tunis verspottete Uhrturmim Zentrum des Kreisverkehrs wurde hingegen nicht entfernt, obwohl er vonBen Ali nach seiner Machtübernahme im Jahr 1987 als Symbol des Anbruchseiner neuen Zeit in Auftrag gegebene worden war. Dafür wurde die Reiter-statue Bourguibas, welche aufgrund der Errichtung des Uhrturms im Jahr1988 symbolpolitisch an den Stadtrand nach La Goulette versetzt wordenwar, vom Staatspräsidenten Essebsi im Jahr 2016 öffentlichkeitswirksam insStadtzentrum von Tunis zurückgeholt. Die Tatsache, dass Bourguiba undsein Pferd so platziert wurden, dass sie dem Uhrturm fortan den Rücken zu-weisen, wurde in der Bevölkerung mit Genugtuung aufgenommen, auch wenndie finanziellen Ausgaben für den Umzug mit Blick auf die leere Staatskassezuvor für politische Diskussionen gesorgt hatten.131 Hinter diesen Eingriffenin das Stadtbild stand der politische Wille, den Wandel symbolisch greifbarzu machen. „Der Mensch bewegt sich in diesen gestalteten Räumen und

131Die wenige hundert Meter weiter vor der katholischen Kathedrale des Erzbistums Tunis,Saint Vincent de Paul et Sainte Olive, stehende Statue Ibn Khaldouns [Ibn Khaldun](1332–1406) hingegen blieb, abgesehen von der Zerstörungswut religiöser Extremistenbedroht, unumstrittenes Wahrzeichen der Stadt. Ibn Khaldoun war ein arabischerHistoriker und Politiker im Nordafrika des 14. Jahrhunderts. Handschriften seinesWerks „al-Muqaddima“, arabisch al-muqaddima, werden in der Nationalbibliothek vonTunis aufbewahrt. Er prägte darin den arabischen Begriff cas.abiyya, der eine Solidaritätoder ein Gemeinschaftsgefühl ausdrückt, welches über die reine Blutsverwandtschafteiner Sippe hinausgeht. cAs.abiyya ist im Denken Ibn Khaldouns die Grundlage fürden Erhalt weltlicher Macht und der zivilisatorischen Ordnung.

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eignet sich so – meist unbewusst – die dort vergegenständlichten Ideen undSichtweisen an“ (Fuchs 2013, S. 39). Die Botschaft lautete: Der Wille derBevölkerung hat das Ben Ali-Regime endgültig gestürzt. Die Zukunft desLandes liegt in den Händen der neuen Regierung, die sich bewusst von derautoritären Vergangenheit abgrenzt und ihre neugewonnene Kontrolle überden öffentlichen Raum demonstriert. Auch im Lokalen kam deshalb dergezielten Modifizierung des Stadtbilds über architektonische Statementsoder Urban Art eine tragende Rolle im Denken und Handeln der Akteurezu. Neben der Besetzung der Polizeistation als strategisch günstig gelege-nes Hauptquartier schaffte es die Miliz als einflussreiche Kraft im Viertel,über die Besetzung und Umgestaltung des öffentlichen Raums, ihre ganzeigene Version von Erinnerung und der Interpretation von Vergangenheitzu verbreiten. Laut Foucault wird die Erinnerung an die Vergangenheit vonden mächtigen Akteuren produziert, welche darüber entscheiden, wie dieseVergangenheit gegenwärtig repräsentiert wird (Foucault 1980). So konntedie Wut der Bewohner Le Krams zu eigenen Zwecken kanalisieren und gegendie staatlichen Akteure gelenkt werden. Diese Strategie entstand aus derNotwendigkeit heraus, dass Macht und Machterhalt immer Narrative derHerkunft und des Gedächtnisses an die eigene Vergangenheit benötigen. DieErinnerungskultur selbst wurde zum wesentlichen Element der Legitimationdes bisherigen und zukünftigen Handelns der Miliz. Sie sollte nicht nur dieZustimmung der Einwohner zu einzelnen Aktionen der Miliz sichern, sonderneinen permanenten und grundsätzlichen Konsens über die Richtigkeit undNotwendigkeit dieser Aktionen der Miliz herstellen. Dabei bezog sich Dghijals führender Kopf der Miliz nicht wie die Akteure im Osten des Viertelsauf Bilder und Erzählungen der verklärten Hochkultur während der Protek-toratszeit, sondern bezog sich auf die Zeit der eigenen Lebensgeschichte. Erforcierte revolutionäre Bilder sowie ein Verschmelzen von politischen und re-ligiösen Narrativen, die er dann über gezielte Aktionen mit dem öffentlichenRaum von Le Kram verknüpfte und vergegenwärtigte. Dabei spielte die Er-innerung an tunesische Freiheitskämpfer vor der tunesischen Unabhängigkeitvon Frankreich die entscheidende Rolle. In einem linearen Geschichtsdenken

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stellte er die Miliz in eine Reihe mit Revolutionären früherer Zeiten, welchegemeinsam gegen Unterdrückung und für Gerechtigkeit kämpften. „Unterden Bedingungen von Unterdrückung kann Erinnerung zu einer Form desWiderstands werden“ (Assmann 2000, S. 73). Die Miliz sah die tunesischenBürger auch noch nach der Revolution von 2011 als unterdrückt durch ökono-mische Ungerechtigkeit, Korruption und alte Eliten an, welche die politischePartizipation marginalisierter Schichten zu verhindern suchten (Interview33/2013). Die Erinnerung an tunesische Widerstandskämpfer und die eigeneInterpretation als solche wurde zum durchgehenden Thema des Widerstandsder Miliz gegen den Staat. Gleichzeitig wurde diese Interpretation bewusst inden öffentlichen Raum des Viertels getragen, um diesen gegenüber anderenInterpretationen der Vergangenheit und Zukunft zu verteidigen. Eine dieserkonkurrierenden Versionen können im Auftrag des Staates errichtete Mo-numente, Architektur, Urban Art, Straßen und Ortsnamen sein, welche imurbanen Raum grundsätzlich als politische Symbolträger fungieren (vgl. Naset al. 2011, S. 19). In vielen tunesischen Städten gibt es Straßenzüge, welchenach dem ermordeten Gewerkschaftsführers Ferhat Hached [Farh. at H. ashad](1914–1952) benannt wurden, die an den Forschungsreisenden Abu AbdallahMuhammad Ibn Battouta [Abu cAbd Allah Ibn Bat.t.ut.a] (1304–1368/69)erinnern oder den Freiheitskämpfern gegen das französische Protektorat inTunesien, wie Mohamed Daghbaji [Muh.ammad al-Daghbajı] (1885–1924),gewidmet sind. Straßennamen sind in vielen Fällen eine Reminiszenz an die(post-)koloniale Geschichte Tunesiens. Neben dem Namensgeber des Viertelsund der ihm gewidmeten Rue l’Agha, fanden sich in Le Kram zahlreicheReferenzen an berühmte Politiker der Neo-Destour Partei oder der UGTT.Die Kontrolle und die Sinngebung der Geschichte wird in Le Kram zu die-sem Zeitpunkt hauptsächlich von der Miliz und ihren Kooperationspartnernbestimmt, da unter dem Zerfall der staatlichen Rahmenbedingungen imViertel auch der staatliche Einfluss auf die Erinnerungskultur wegbrach. DieMilizionäre eigneten sich die vorhandene staatliche Symbolpolitik bei derBenennung von Straßenzügen bewusst an, indem sie letztere beispielsweiseals symbolische Versammlungsorte in die eigene Propaganda inkorporierten.

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In anderen Fällen deuteten sie diese Symbole um, zum Beispiel indem sieeigenmächtig Veränderungen vornahmen und damit in direkte Konkurrenzzur staatlichen Interpretation traten. Anders als die im staatlichen Auftragdurchgeführten Veränderungen besaßen ihre Aktionen zur Erinnerung andie Herkunft und die Geschichte in Le Kram Ouest keinen offiziellen Cha-rakter. Im Gegenteil stellten sie eine gezielte Provokation gegen den Staatund seine Vertreter dar. Um dem Narrativ der Rebellion und der eigenenBedeutung und Rolle während der Ereignisse Rechnung zu tragen, wurdenim alltäglichen Sprachgebrauch nach der Revolution mehrere Straßenzügein Le Kram Ouest durch die Miliz inoffiziell umbenannt. Die Milizionäresetzten darauf, selbst erinnert zu werden und ihren Taten Denkmale zusetzen. Damit usurpierten sie nicht nur die Vergangenheit, sondern auch dieGegenwart und Zukunft, um sich retrospektiv zu legitimieren und prospektivzu verewigen (vgl. Assmann 2000, S. 71). Die Avenue Ferhat Hached alssymbolischer Austragungsort der Demonstrationen wurde zur Avenue dela Révolution oder Rue des Martyrs umbenannt (Interview 34/2013). DieErinnerung an den Freiheitskämpfer und Gewerkschaftsführer Hached wurdedamit bereits während der Ausschreitungen 2011 vergegenwärtigt und erselbst im weiteren Verlauf als Geistesvater der heutigen Freiheitskämpfergegen das Ben Ali-Regime dargestellt. Die Nachbarschaft, in welcher derStraßenzug liegt, hieß zudem offiziell Le Kram 5 Decembre, womit an denMord am tunesischen Gewerkschaftsführer Ferhat Hached am 5. Dezember1952 erinnert werden sollte.132 Im täglichen Sprachgebrauch des Viertelswurde dieser soziale Brennpunkt stolz auch khamsa cnider genannt. DieserName ist eine in den tunesischen Dialekt übertragene Anspielung auf dasfranzösische Wort für Asche, cendre; Asche die entsteht, wenn Bürger gegenUngerechtigkeiten aufbegehren (Interview 34/2013). Der Kreisverkehr ander südlichen Zufahrt der Avenue Ferhat Hached hieß nach der Platzierungeines Gedenksteines für die während der Revolution getöteten EinwohnerLe Krams im täglichen Sprachgebrauch nur noch Platz der Märtyrer. Solche

132Die Zahl Fünf wurde im täglichen Sprachgebrauch ausschließlich arabisch ausgesprochen,also Le Kram khamsa Decembre.

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Denkmale, wie der Gedenkstein für die Märtyrer des Viertels, sind immerIdentitätsstiftungen der Überlebenden (Koselleck 1979). Der Gedenksteinwurde von der Miliz offiziell als Besitz aller tapferen Einwohner Le Kramsausgerufen. Für die Errichtung dieses Gedenksteins in Le Kram Ouest or-ganisierten die Einwohner Le Krams am ersten Jahrestag der Revolutionöffentlichkeitswirksam eine mehrtägige Gedenkfeier vom 12. bis zum 14.Januar 2012 für die am 13. Januar 2011 getöteten acht Demonstranten. DasDenkmal steht seitdem an einer Hauptzufahrtsstraße des Viertels und weißtjeden, der das Viertel betritt, auf die Opfer Le Krams im Kampf um Arbeit,Freiheit, Würde und Nation hin, wie die Abbildung 6.2 (unten rechts) aufSeite 208 zeigt.

Abbildung 6.2: Märtyrerverehrung in Le Kram Ouest; Quelle: Nowar

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Der Ruhm der Verstorbenen sollte ein Ansporn für alle Tunesier sein, weiter-hin entsprechende Leistungen zu vollbringen.133 Zum Anlass der Gedenkfeierwurde das Stadtviertel, insbesondere die Avenue Mohammed V., mit Ban-nern dekoriert. Am Kreisverkehr der Avenue Mohamed V. fand ein großesPlakat mit der Forderung „Respect pour une nouvelle generation“ seinenPlatz. Das Programm (siehe Abbildung 6.3 auf Seite 210 beziehungsweise diedeutsche Übersetzung auf Abbildung 7.8 im Anhang auf Seite 359) sah amersten Tag der Feierlichkeiten ab 17.30 Uhr von der Primärschule 5 décembreausgehend einen Marsch durch Le Kram Ouest vor. Am zweiten Tag war ab11 Uhr morgens eine Versammlung vor der Polizeistation mit anschließendemMarsch durch das Viertel angesetzt und um 17 Uhr eine von den „Söhnen des13. August“ organisierte Feier am sogenannten Ettahouna Platz geplant.134

Der Name Ettahouna für den Platz vor dem Rathausgebäude des Viertelswar keine offizielle Bezeichnung. Die Ortsangabe entsprach ebenfalls demlokalen Narrativ der Revolution. Es war der Ort des Widerstreits und derAuseinandersetzungen der Einwohner mit den tunesischen Polizeikräftenwährend der Revolution. Ihren Abschluss fand die Feier mit einer Einladungzur Avenue Habib Bourguiba im Stadtzentrum von Tunis ab 18 Uhr.Die Organisatoren riefen mit ihrer Planung bewusst alle zentralen Demons-trationsorte in Le Kram ins kollektive Gedächtnis der Bevölkerung zurück.Im Zentrum der symbolischen Aufladung des öffentlichen Raums stand die

133Die auf dem Gedenkstein abgebildeten Namen der Verstorbenen lauten: Sofien May-mouni [Sufyan Maymunı], Taher Marghani [al-T. ahir Marghanı], Chokri Essifi [Shukrıal-Sıfı], Montaser Bellah Ben Mahmoud [al-Muntas.ir bi-Allah Bin Mah. mud], Elyes Na-der Ben Mohammad [Ilyas Nadir Bin Muh. ammad], Nouri Chkala [al-Nurı al-Shakala],Atef Elbaoui [cAt.if al-Labawı], Mohamed Salah Chebbi [Muh. ammad S. alah. al-Shabı].Oberhalb der Namen war das tunesische Wappen abgebildet und symbolisiert ihrenVerdienst um das Land. Neben dem Namen von Taher Marghani war eine algerischeFlagge ergänzt, die auf seine binationale Herkunft verwies.

134Nachbarschaften in tunesischen Städten erhalten häufig halboffizielle Bezeichnungen. InLe Kram Ouest hieß einer dieser Straßenzüge, in Anlehnung an den Nationalfeiertagder Verkündung des Code du Statut Personnel 1956, 13. August. Die Söhne des 13.August waren also junge Männer dieser Nachbarschaft, welche die Verantwortung fürdie Organisation der Feier übernommen hatten.

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Abbildung 6.3: Einladung zur Gedenkfeier; Quelle: Facebookseite Regel Tha-wra Kram

Inszenierung der getöteten Demonstranten als Märtyrer. Die beschriebe-ne Gedenkfeier war eine spezielle Form der biografischen Erinnerung, dasTotengedenken. In der Rückbindung an die Toten vergewisserten sich dieEinwohner von Le Kram ihrer Identität und eigneten sich die Revolutionsymbolisch als persönliche Errungenschaft an. Die ehrenvolle Erinnerung andie Leistungen der Märtyrer während der Revolution war ein „Gedächtnis,das Gemeinschaft stiftet“ (Schmidt 1985). Die Miliz machte sich diesenProzess später für ihre eigene, gezielte Rekonstruktion der Vergangenheitzunutze. Sie vereinnahmte den Gedenkstein ihn ihre Festrituale, instru-mentalisierte das Gedenken an die Toten und entwickelte einen von ihnenvorangetriebenen Märtyrerkult im Viertel. Stencils von Gesichtern der Mär-tyrer auf der Avenue Mohamed V. sollten den Prozess weiter vertiefen undgleichzeitig vor der Gewalt der Polizei warnen, wie die Abbildung 6.2 (oben)auf Seite 208 zeigt. Neben den Stencils steht im tunesisch-arabischen Dialektashkun qatalhum, deutsch „Wer tötete sie?“. Zudem wurde im Stadtzentrumeine Bühne mit aneinandergereihten Konferenztischen aufgebaut, die alsPodium für Ansprachen von Dghij und seinen Mitstreitern diente. Die Bühnewurde in der Mitte mit einem großen Plakat der geballten Faust als Symbol

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der Miliz dekoriert. Die Tische waren mit einer langen weißen Tischdeckegeschmückt, an der für das Publikum sichtbar ein großes Plakat mit denGesichtern und Namen der Märtyrer befestigt wurde. Davor waren verschie-dene Bilderrahmen mit Porträts einiger der Verstorbenen gelehnt. Sie seiendiejenigen, welche stellvertretend für die Einwohner Le Krams die Konfliktemit dem Staat und seinen Vertretern austrugen. Es fiel auf, dass vor allemjunge Erwachsene und Männer im mittleren Alter aktiv an den verschiedenenAktionen der Miliz beteiligt waren. Frauen und ältere Einwohner fandensich eher unter den passiven Befürwortern der Miliz. Sie wurden vor allemdurch öffentlichkeitswirksame Besuche bei den Familien der Verstorbenenund die Vermittlung persönlicher Anteilnahme eingebunden oder liefen beiDemonstrationen mit. Das Narrativ der Märtyrer also ebenfalls im direk-ten Zusammenhang mit dem Bild der Freiheitskämpfer, wobei eine zweite,religiöse Komponente hinzugefügt wurde. Obwohl die jungen Männer fürihre politischen oder ökonomischen Forderungen gestorben waren, wurdensie im islamischen Sinn zu Märtyrern erklärt und als solche geehrt. Da diejungen Männer außerdem als Mitglieder der Miliz dargestellt wurden – diezum Zeitpunkt ihres Tods noch nicht existierte – konnte die Milizionäre fürsich auch eine gewisse religiöse Legitimierung beanspruchen. Das bewussteAnknüpfen an die Märtyrer ermöglichte es den Milizionären, sich als derenMitstreiter und potenzielle Märtyrer im Kampf gegen den tunesischen Staatzu präsentieren. Hier zeigte sich die Nähe vieler Milizionäre zur Ennahdha-Partei, welche die politische Agitation der Verstorbenen ebenfalls geschicktmit religiösen Motiven verknüpfte. Deren Wahlprogramm sprach schon imJahr 2011 von der Dankbarkeit an die tunesischen Märtyrer, die mit ihremreinen Blut und Gottes Hilfe Tunesien in die Unabhängigkeit geführt undvon der Tyrannei befreit hatten (vgl. Ennahdha 2011, S. 6). Am Übergangzu Le Kram Est war ein weiteres Plakat mit den Portraits und NamenMärtyrer an einem Eckhaus aufgehängt, wie die Abbildung 6.2 (unten links)auf Seite 208 zeigt. Über den Portraits steht shuhada cal-thawra al-shacbıya,deutsch die Märtyrer der Volksrevolution. Darunter steht shurafa cal-kramal-gharbı, deutsch die Ehrenhaften von Le Kram Ouest. Die Wahl der Orte

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des Gedenkens sagt einiges über die Agenda der Miliz aus. Stünden dieTrauer und die Ehrung der Toten sowie die emotionale Unterstützung derAngehörigen im Vordergrund, wären der Friedhof von Le Kram Ouest odereine der örtlichen Moscheen die naheliegenden Versammlungsorte gewesen.Der Friedhof liegt jedoch etwas abseits des Stadtzentrums und bietet, ebensowie die Moscheen, nicht das geeignete Umfeld für die Taktik der Miliz: lautsein, wütend sein, präsent sein. Anstatt stiller Andacht in Randgebietengenerieren Politik und Polemik an zentralen und gut erreichbaren Orten, wo„Vorbildliches geleistet und exemplarisch gelitten wurde“ (Assmann 1999, S.328), die gewünschte Aufmerksamkeit, Empörung und Unterstützung. Diestrategische Wahl des Orts trug zudem zu der Abgrenzung und Polarisierunginnerhalb des Viertels zwischen Ost und West, in „Wir“ und „Sie“ bei. Siesollte die provokative Botschaft an die Bewohner des Ostteils senden, sieseien, anders als die Einwohner im Westen, nicht aktiv an der BefreiungTunesiens beteiligt gewesen und hätten keine Märtyrer aus ihren Reihen zuverzeichnen. Das mangelnde Engagement sei beschämend und verdächtig(Interview 33/2013). Damit verfestigte auch diese Form der Erinnerungs-kultur die Vorstellungen von Identität und Klassenzugehörigkeit im Viertel,wie es in den Jahren zuvor über die Zuschreibungen von Kultiviertheit undUnkultiviertheit geschehen war.

Symbolische Aneignung des öffentlichen Raums. Vor der Revolution kamden Graffitis in Tunesien keine größere Bedeutung zu. Im öffentlichen Raumwurden bis dahin hauptsächlich weniger riskante, kleine Tags oder Scrat-chings an den Fenstern öffentlicher Verkehrsmittel hinterlassen. Thematischam weitesten verbreitet waren Fußball-Tags. Diese wurden häufig von nochnicht strafmündigen Jungen im Alter von zwölf bis dreizehn Jahren imAuftrag älterer Fußballfans, wie den fanatischen Ultras, ausgeführt. Kinderzu bezahlen, schützte die Auftraggeber vor der Bestrafung durch das BenAli-Regime (vgl. Korody 2011, S. 20). Letzteres entfernte die Graffitis, umdas Stadtbild für die ausländischen Touristen ansprechender zu gestalten(vgl. Korody 2011, S. 14). Erst mit dem Sturz des Ben Ali-Regimes konnten

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Graffitis zur Aktivierung der Massen beitragen und zum öffentlichen Aus-druck der Wut der Jugend gegen politische Machtverhältnisse werden. Alsneues Phänomen in Tunesien war ihre Schockwirkung zunächst bemerkens-wert. In den ersten Monaten nach dem Sturz des Ben Ali-Regimes und demWegbrechen des Überwachungsstaates, wurden großflächige Style Writings,Concept Walls oder Stencils im urbanen Umfeld präsent. Sie polarisiertendie öffentliche Meinung in Tunesien und erfuhren entweder starke Ablehnungoder Zustimmung in den Medien. Das Phänomen Graffiti ist weltweit seitMitte der 1960er Jahre aus Großstädten bekannt. „Vornehmlich die ohneArbeit und Aufstiegschancen lebende Jugendpopulation sozialer Minoritätenantwortete so nicht nur auf ihre notorisch schlechten Lebensbedingungen,sondern versuchte aktiv, fremde und bisher unerschlossene urbane Räumemit ihren Botschaften zu markieren und eigene Territorialansprüche anzu-melden bzw. mit Identitätssignalen abzustecken“ (Bette 2005, S. 108 f.).In Le Kram Ouest prägten während und nach der Revolution vor allempolitische Graffitis das Stadtbild. Künstlerisch wenig anspruchsvoll gestaltetzeigten sie provokative Parolen gegen die tunesische Obrigkeit. Die lokaleMiliz beanspruchte für sich, die Graffitis an den Wänden Le Kram Ouestsveranlasst zu haben. Hierzu zählten sie zudem anonyme Graffitis, derentatsächlicher Writer nicht mehr zweifelsfrei zu ermitteln waren. Graffitistrugen als Kommunikationsmittel zur Verbreitung politischer Standpunkteder Miliz bei. Sie sollten spezifische Inhalte einprägen und ins Gedächt-nis zurückrufen sowie bestimmte Begriffsfelder abstecken (vgl. Assmann1999, S. 150 f.). Sie warnten beispielsweise die lokale Öffentlichkeit vor derUGTT oder der ehemaligen Partei Ben Alis, der RCD. Die Verurteilungvon Zensur, Korruption oder gewalttätiger Übergriffe durch Polizeibeamtewaren ebenfalls häufig dargestellte Motive sowie Inhalte von Comments. DieComments waren komplementär zum jeweiligen Bild oder anderen, verwen-deten Symbolen ein sprachlicher Stabilisator von Erinnerung: „An das, waswir einmal versprachlicht haben, können wir uns viel leichter erinnern (...)“(Assmann 1999, S. 250). In den Interviews bemängelten die Bewohner LeKrams zwar die Qualität der Bilder und sahen Graffitis als Schandflecken

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im Stadtbild an, die Botschaften hinter den einzelnen Graffitis wurden inden Interviews jedoch befürwortet (Interviews 35/2013 und 36/2013 und37/2013). Die Graffitis befanden sich überwiegend an leicht zugänglichenMauern entlang der Hauptstraße Le Kram Ouests, um ein möglichst breitesPublikum zu erreichen. Selbst an diesem zentralen und belebten Ort imViertel waren, aufgrund der Abwesenheit von Polizei und Militär, für dieWriter keine zivil- oder strafrechtlichen Folgen für ihren Vandalismus zuerwarten. Die alte Faustregel der weltweiten Graffitiszene – je schwieriger einObjekt zu erreichen und zu bemalen ist, desto größer ist die Anerkennung inder Szene – griff deshalb nicht. Dennoch oder gerade aus diesem Grund warder Respekt für die Graffitis innerhalb der Miliz und unter den Stadtteilbe-wohnern hoch. Die Möglichkeit per se, Wände zu gestalten, ohne staatlicheEingriffe befürchten zu müssen, galt im Westen Le Krams als Symbol fürden Erfolg der Revolution. Viele der dargestellten Themen warnten vor denweiterhin bestehenden Gefahren des alten Regimes, welche durch die im Juni2012 gegründete Partei Nidaa Tounes verkörpert wurden. Beji Caid Essebsipersonifizierte in den Graffitis häufig die weiterhin aktiven, alten Eliten. Alsdie Verfassungsgebende Nationalversammlung am 27. und 28. Juni 2013 denumstrittenen Entwurf des politischen Immunisierungsgesetzes diskutierte,protestierte die Miliz, gemeinsam mit anderen Ortsverbänden der LNPR,vehement. Imed Dghij forderte in einer Videobotschaft, den Gesetzesentwurffallen zu lassen, da er bei der Durchsetzung der politischen Immunität fürehemalige RCD Mitglieder keine Möglichkeit mehr sah, Beji Caid Essebsials Präsidentschaftskandidat aus den anstehenden Wahlen ausschließen zulassen. Gleichzeitig tauchten in Le Kram Ouest verstärkt Graffitis auf, welchedie Notwendigkeit der Anwesenheit der Miliz im Viertel anmahnten, um derandauernden Gefahr der RCD für Tunesien zu begegnen, wie die Abbildung6.4 auf Seite 216 zeigt. Die Milizionäre versuchten durch die Graffitis, ihreselbsternannte Mission, die unvollständige Revolution zum Abschluss zubringen, zu legitimieren. Essebsi wurde als Teil der RCD dargestellt (obenrechts). Er sitzt auf einem Stuhl aus zwei Händen. Der obere Arm ist mital-tajammac beschriftet, dem arabischen Kürzel für die RCD, der untere

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Arm mit al-ah. lam, deutsch Unwirklichkeit. Die Mitglieder der RCD werdenals Hunde beschimpft (oben links), die nicht bestehen werden, arabischlan tamarru ya kilab al-tajammac, deutsch Ihr werdet nicht bestehen, ihrHunde der RCD. Es wird auf Gott geschworen, dass ihre Rückkehr verhin-dert werden wird, arabisch qasaman bi-rabb al-wujud al-tajammaclan yacud,deutsch Ich schwöre beim Herrn, die Existenz der RCD wird sich nichtwiederholen (unten links). In diesem Graffiti wird ein Mann im Anzug aneinem Rednerpult dargestellt, der zum Schwur den Zeigefinger in die Luftstreckt. Diese Geste und die Anrufung Gottes, machen die Forderungen derMiliz an die salafistischen Strömungen im Viertel anschlussfähig, welche imnächsten Kapitel dargestellt werden. Außerdem wird auf der Vorderseitedes Pults das tunesische Staatswappen angedeutet und darunter eine Mond-sichel gezeigt. Auf dem Pult befinden sich verschiedene Mikrophone. DieDarstellung erinnert an die Rednerpulte mit dem goldenen Staatswappen,welche Regierungsvertreter Tunesiens regelmäßig für Pressekonferenzen nut-zen. Der skizzierte Mann hinter dem Pult wiederholt die Forderungen derMilizionäre, den alten Eliten keinen Platz mehr einzuräumen. Eine möglicheInterpretation wäre, dass die Milizionäre sich selbst als eine Art Volksvertre-ter begreifen mit dem Anliegen, die korrupten politischen Eliten landesweitabzulösen. Über die Graffitis wird deutlich, dass den alten Eliten des Ben Ali-Regimes, insbesondere der ehemaligen Partei RCD, Hass entgegengebrachtwird. Sie haben den Tunesiern die Existenzgrundlage genommen und dürfenam zukünftigen Tunesien keinen Anteil mehr haben. Gleichzeitig wird denPassanten die Bedrohung durch ihre mögliche Rückkehr vor Augen geführt.Dieser Bedrohung wird mit Kampflust und dem Willen, dagegen anzugehen,begegnet. Aufgrund der amateurhaften Ausführung und der unbeholfenenSchriftführung wurde bei der Betrachtung der Graffitis nicht immer klar,ob es sich bei Einzelheiten der Darstellung um bewusste Stilmittel oderum einfache Anfängerfehler des Sprayers handelte. Im Schriftzug „Tod derTajamma“, arabisch al-mawt li-al-tajammac beziehungsweise französischMort RCD, fielen beispielsweise Drips auf, welche passend zur Botschaft,wie herablaufende Blutstropfen wirkten (unten rechts). Sie könnten auch

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Farbverläufe gewesen sein, die ungewollt passieren, wenn ungeübte Writerden Strahl der Sprühflasche zu lange auf einen Punkt halten (vgl. Van Treeck2001, S. 96).

Abbildung 6.4: Graffiti Einheitspartei RCD; Quelle: Nowar

Die Gewaltanwendung der tunesischen Polizei gegenüber den tunesischenBürgern und die Notwendigkeit des Widerstandes dagegen wurden ebenfallsthematisiert. Eines der Graffiti an der Hauptstraße von Le Kram bildete ab,wie sich ein Mann gegen einen Polizisten mit Schlagstock zur Wehr setzt,wie die Abbildung 6.5 auf Seite 217 zeigt.Obwohl die Graffitis auch im Westen Le Krams nicht bei allen Rezipientenauf uneingeschränktes Wohlwollen und Anerkennung trafen, so verhindertedoch die starke Präsenz der Miliz im Westteil des Viertel ein Vorgehen gegenden Vandalismus (Interview 37/2013). Die fotografische Beobachtung imVerlauf des Forschungszeitraums stellte heraus, dass die Graffitis während

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Abbildung 6.5: Graffiti Polizeigewalt; Quelle: Nowar

der Dominanz der Miliz im Viertel unangetastet blieben. Es war beachtlich,dass die Motive von anderen nicht weiß überstrichen wurden. Es konntendarüber hinaus keine Destroylines, kein Covern oder Crossen festgestellt wer-den. Diese hätten als Zeichen provokativer Respektlosigkeit gegenüber derMiliz gewertet werden müssen.135 Im Osten Le Krams hingegen, in welchemdie Miliz nicht Fuß fassen konnte, fiel der Zuspruch der Einwohner für dieMiliz gering aus. Die Bewohner reagierten mit Abweisung und Herablassungauf die Aktivitäten der Miliz und beflügelten damit ungewollt den von derMiliz forcierten Antagonismus zwischen Ost und West, beziehungsweisezwischen den vermeintlich Reichen und Armen im Stadtviertel (Interview29/2013). Graffitis wurden in Le Kram Est, mit Ausnahme einiger religiöserTags, selten geduldet und häufig von Privatpersonen überstrichen. Viele

135Covern bezeichnet das vollständige Übermalen eines Graffiti mit einem anderen Motiv.Crossen steht für das Durchstreichen oder teilweise Übermalen eines Graffitis. Hierzuzählen die Destroylines, welche auch Damagelines oder Hatelines genannt werden. Siesind absichtlich durch das fremde Graffiti gezogene Linien, um das Motiv des anderenSprayers zu zerstören.

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der befragten Bewohner sahen sich selbst tatsächlich als Bildungsbürger,welche den „gewaltbereiten Krawallmachern“ im Westen den friedlichen undgeordneten Übergang zur Demokratie vorleben mussten (Interview 29/2013).

Gemeinschaft. Den Widerständen und der Kritik setzte die Miliz nachinnen integrierende Faktoren entgegen. Ebenso wie das Totengedenken unddie Graffitis, verstärkten die gemeinsamen Demonstrationen das Gefühl derGruppenzugehörigkeit. „Demonstrations, whose original purpose in labourmovements was utilitarian – to demonstrate the massed strength of the wor-kers to their adversaries, and to encourage their supporters by demonstratingit, become ceremonies of solidarity whose value, for many participants, liesas much in the experience of ‚one-ness‘ as in practical object they may seekto achieve“ (Hobsbawm 1959, S. 150). Demonstrationen verfestigten denDiskurs der Miliz als revolutionäre Gemeinschaft und ihr Selbstverständnisals einfache Arbeiter im Kampf gegen die auch nach der Revolution nochvorherrschende Ungerechtigkeit der sozialen und politischen Eliten. Regelmä-ßige Treffen mit zeremoniellem Charakter, welche die Einheit bestätigen undverstärken, wirken integrierend auf das Gemeinschaftsgefühl einer Gruppe:„human beings like to ritualize and formalize their relationships with oneanother“ (Hobsbawm 1959, S. 150). Hinzu kamen praktische Rituale, wiedas gemeinsame Singen bei Treffen im Hauptquartier. Im späteren Verlauftraten über die Kooperation mit den Salafisten der örtlichen Moschee auchdas gemeinsame Gebet und religiöse Begrüßungsformeln hinzu. Das Gefühlder Zugehörigkeit zur Miliz selbst wurde nicht durch einen ritualisiertenBeitritt ausgelöst oder bewusst generiert. Imed Dghij versicherte in einemKamingespräch des TV-Senders al-Mutawassat, dass er jeden EinwohnerLe Krams, der sich an der Revolution beteiligt hatte, zu den Mitgliedernder Miliz zählte.136 Seine Mitstreiter hingegen betonten, dass das Gefühlder Zusammengehörigkeit über die regelmäßige und aktive Teilnahme angemeinsamen Aktionen innerhalb und außerhalb des Viertels entstand (In-

136Al-Mutawassat TV, Salah Atiya im Kamingespräch mit Imed Dghij, ausgestrahlt am26.03.2013, URL: https://youtu.be/lUX0ydp7g_8, Zugriff am 05.04.2019.

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terview 27/2013). Das wiederholte gemeinsame Brechen von Tabus kann zueiner engeren Bindung an eine Gruppe führen. „The initiation may, by theterms of its ritual, serve to bind the member closely to the organization, e.g.by causing him or her to break normal taboos (...)“ (Hobsbawm 1959, S.152 ). Die Führung der Miliz verbot religiös motivierte oder andere subver-sive Handlungen, wie Angriffe auf öffentliche Einrichtungen bewusst nicht.Gesellschaftliche Tabubrüche, ähnlich den Initiationsriten anderer Gruppen,wurden befürwortet, solange die Einheit der Gruppe und die Kooperationmit den Salafisten nicht gefährdet wurde. Symbole, wie verschiedene Flaggen,Kleidungsstile, Slogans oder die Person Imed Dghijs selbst trugen dazu bei,die äußere Form der Miliz mit dem Inhalt ihrer Botschaft zu vereinen. Jedeseinzelne Symbol steht als vereinfachte Version des Ganzen, in ihm ist diegesamte Ideologie inhärent (vgl. Hobsbawm 1959, S. 152).

6.2.2.2 Salafisten der Sayyida Khadija Moschee

Salafistische Szene. Die während dieser Phase des Beobachtungszeitraumsgleichzeitig auftretende, zweite zentrale Akteursgruppe war die lose salafisti-sche Gemeinde von Le Kram Ouest. Die Miliz und die salafistische Gemeindetraten mit- und nebeneinander als tonangebende Akteure im Viertel auf.Der Islam als vereinender Faktor am symbolischen Austragungsort der Re-volution in Le Kram Ouest generierte für die Miliz einen gewissen Gradan Reputation und religiöser Legitimität. Sie konnte über die Kooperationund personelle Überschneidungen mit der salafistischen Szene ihre Visioneiner politischen Ordnung in Tunesien in einen islamischen Begründungs-zusammenhang stellen. Die Salafisten hingegen profitierten von der Nähezu den Botschaften über politische und wirtschaftliche Missstände. Dieseverdeutlichten den Einwohnern die dringende Notwendigkeit der Neuori-entierung und bewarben gleichzeitig den Islam als möglichen Ausweg ausder Krise. Allgemein zeigte sich, dass es sich bei der salafistischen Szenein Le Kram ebenfalls eher um ein Phänomen der jüngeren Generationenhandelte. Wie die Milizionäre begann sich auch die salafistische Szene im

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Viertel erst nachhaltig zu gruppieren, als ihnen ein gemeinsamer Treffpunktzur Verfügung stand. Wie bereits in Phase Eins beschrieben, wurde imOktober 2011 die Sayyida Khadija Moschee in Le Kram Ouest von ihnengewaltsam besetzt, der staatlich eingesetzte Imam vertrieben und gegeneinen Imam aus den eigenen Reihen ersetzt. Im Umfeld der Sayyida KhadijaMoschee in Le Kram Ouest fanden sich seither auch Anhänger der Hizbal-Tahrir, der Ansar al-Scharia und ihrer Tochtergruppe Shabab al-Tawhidzusammen. Die Aktivisten der Sayyida Khadija Moschee wohnten oder ar-beiteten nicht zwingend in der unmittelbaren Umgebung der Moschee inLe Kram Ouest. Sie besuchten die Moschee bewusst, auch wenn sie auseinem anderen Teil des Viertels stammten. Der Zutritt zur Sayyida KhadijaMoschee wurde über die Nutzung durch die Salafisten exklusiver. Zudemschreckten andere Gläubige von der Teilnahme am Freitagsgebet zurück, dain der Moschee die Salafisten auf eigene Verhaltensanpassungen beharrtenund bei deren Nichteinhaltung vor Handgreiflichkeiten nicht haltmachten.Kinder aus der Nachbarschaft der Moschee wurden von ihren Eltern aus derKoranschule der Moschee abgemeldet und in anderen Moscheen der Umge-bung unterrichtet. Die unmittelbare Umgebung der Moschee wirkte trotzder verkehrsgünstigen Lage und der Nähe zum Freizeitpark ruhig, abweisendund unnahbar. Passanten und Autofahrer wahrten (respektvollen) Abstand.Das Abstellen von Fahrzeugen unmittelbar am Gebäude und das Aufstellenvon Marktständen vor dem Eingang war zu Jahresbeginn 2011 noch möglichgewesen, wurde mit der Übernahme durch die Salafisten ab dem Herbstjedoch unterbunden. Wie die Miliz durchdrangen auch die Salafisten denstädtischen Raum, um ihn nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten. DieUmsetzung ihres übergeordneten Ziels, der Etablierung eines tunesischenKalifats beruhend auf der Scharia, nahm dort konkrete Formen an.

Gruppendynamik. Die eher lose miteinander verbundene Gruppe jungerMänner und einiger junger Frauen, welche sich in der Moschee zusammen-fand, stand zwar miteinander in einem Solidaritätsverhältnis, wies jedochkeine formalen Strukturen auf. In Interviews berichteten ihre Mitglieder

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stolz, dass sie besonders durch die authentische Form des Islam angezogenwurden. Wie die Milizionäre berichteten sie von persönlichen Krisen undDemütigungen, welche sie unter dem Ben Ali-Regime erfahren mussten undvon der Hoffnungslosigkeit mit der sie ihre eigene Zukunft betrachteten.Nach der Revolution schien ihnen insbesondere der salafistische Islam mitseinen klaren Belegen, Regeln und Praktiken attraktiv, welche sie in deneigenen Elternhäusern vermissten (Interview 30/2013). Die Gruppendynamikwurde hauptsächlich durch das gemeinsame Gebet, regelmäßige Treffen inwechselnder Beteiligung und die Verwendung von Symbolen generiert, welchedie geteilte antipluralistische Haltung transportierten. Im Nachklang dertunesischen Revolution brachen die vorherrschenden Körpernormen auf undöffneten neue Möglichkeiten der Darstellung der eigenen Identität. Kleidungwurde zum Ventil der Religiosität und transportierte konkrete Ideenwelten.Sie wurde bewusst getragen und durfte im postrevolutionären Tunesien imöffentlichen Raum als religiöses Statement erkennbar sein. Aus religiöserMotivation heraus getragene Kleidung war in Le Kram äußerst heterogenund unterschied sich im Hinblick auf die Farbgebung, die Schnittführungund den Stil voneinander. Es war nicht möglich, eine Person anhand ihresKleidungsstils oder andere Körperpraktiken, wie dem Tragen eines Kinn-oder Vollbarts, immer eindeutig als Salafist zu identifizieren. BestimmteKleidernormen, wie knöchelfreie Hosen wurden dennoch von den Einwohnernder salafistischen Szene zugeordnet (Interview 22/2013). Dieses Phänomenließ die salafistische Gemeinschaft im Zweifelsfall zahlenmäßig größer erschei-nen, als sie es in der Realität war. Die salafistische Szene in Le Kram trugihre Interpretation von Islam über ihre Kleidung tatsächlich bewusst in denöffentlichen Raum hinein, um sie dort zu verhandeln. Sie nutzten Kleidung,um sich der Stadtteilgesellschaft und Gegenüber den Gleichgesinnten alsVertreter des einzig wahren Islam zu erklären. Die Gruppenzugehörigkeitwar nur möglich, wenn bestimmte Kleidungsnormen eingehalten wurden.Bei Frauen zählten hierzu, neben anderen Voraussetzungen, der Nikab. Dasritualisierte Rufen der takbır- oder der tawh. ıd-Bekundung formalisiertendie Beziehungen untereinander (und zu den Milizionären) zusätzlich (vgl.

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Hobsbawm 1959, S. 150).137 Ein Interviewpartner aus der Sayyida Kha-dija Moschee wies laute takbır-Rufe und tawh. ıd-Bekundungen jedoch alsunerlaubte Neuerung, arabisch bidca, zurück, zu der es keinen Befehl desPropheten Muhammad gegeben habe (Interview 30/2013). Der Sprachususstellte eine weitere zentrale Säule der Integration dar. Die bewusste Anspra-che als Bruder beziehungsweise als Schwester im Glauben als abstraktesKonzept der Gruppenzugehörigkeit überlagerte die in Le Kram Ouest weitverbreitete, konkrete räumliche Selbstidentifikation als Awlad al-Houma. Ihrreligiöses Selbstverständnis zeichnete sie als beste aller Gemeinschaften aus.Diese Exklusivität grenzte weite Teile der tunesischen Gesellschaft aus undwürdigte sie in ihrer Stellung als Muslime herab. Die tunesischen Muslimewurden von den Salafisten als Ungläubige, arabisch kuffar, bezeichnet (Inter-views 22/2013 und 30/2013 und 50/2013). Bei Personen, welche gleichzeitigin der Miliz aktiv oder an die Sayyida Khadija Moschee angebunden waren,traten religiöse sowie geografische Identifikationsmerkmale nebeneinanderauf (Interview 30/2013). Anders als innerhalb der Miliz wurde das Hochara-bische dabei nicht als ein Symbol für Bürgerferne und Korruption perzipiert,sondern seine Beherrschung als Ausdruck von (religiöser) Bildung anerkanntund respektiert. Die Demonstration der eigenen, als überlegen betrachtetenReligiosität und Bildung sollte den Einwohnern Le Krams die Salafistenals Vorbilder und Autoritäten aufzeigen und die Gruppe selbst weiter zu-sammenrücken lassen. Ähnlich wie im Fall der Miliz in Le Kram zeigtensich in Interviews mit Aktivisten der Moschee sprachliche Auffälligkeiten.Französismen wurden von ihnen bewusst unterlassen. Die Ausnahme stellteein junger Tunesier aus Frankreich dar, welcher mit seiner Ehefrau und

137Takbır ist das Verbalnomen des arabischen Verbs kabbara. Takbır bedeutet übersetztallahu akbar rufen, also Gott ist groß rufen. Der Ausdruck ist Teil des Gebetsrufs unddes täglichen Gebets. Er wird zudem in verschiedenen anderen Situation ausgesprochen,zum Beispiel bei der Nachricht vom Tod eines Muslims, verschiedenen Zeremoniender Pilgerfahrt oder bei der Sichtung des Neumonds zu Beginn des FastenmonatsRamadan. In den Medien hat der Ausruf durch islamische Extremisten während derAusübung von Terroranschlägen Bekanntheit erlangt. Der Ausruf wird mit der Gestedes erhobenen Zeigefingers der rechten Hand unterstrichen.

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seiner Schwiegermutter nach der Revolution nach Tunesien zurückgezogenwar (Interview 38/2013). Die Auseinandersetzung der Interviewpartner mitdem klassischen Arabisch des Koran, ihre Orientierung am Arabischen Golfweckten zunächst die Erwartung, dass modernes Hocharabisch die Kom-munikation in der Szene dominiert. Entgegen dieser Antizipation, dass dieSalafisten die lokalen Sprachausformungen zu überkommen versuchen wür-den, war auch unter ihnen das Tunesisch-Arabische dominant vertreten.Interviewpartner versuchten zwar regelmäßig, das Gespräch auf Hochara-bisch zu führen, fielen in seinem Verlauf jedoch schnell in den Dialekt zurück.Die Verwendung des tunesischen Dialekts deckt sich auch mit dem geäu-ßerten Anspruch, das Kalifat auf dem tunesischen Territorium zu gründen,anstatt die Deterritorialisierung des Islam anzustreben (Interview 38/2013).

Staats- und Gesellschaftsordnung. Die Salafisten bekannten sich, andersals die Mehrheit der Anhänger der Miliz, offen zu ihrer Forderung nachder Einführung der Scharia und dem Ruf nach einem Kalifat in Tunesien.Die geltende demokratischen Ordnung in Tunesien lehnten sie als unisla-misch ab. Die beteiligten Personen aus dem salafistischen Milieu beriefensich nicht wie die Miliz auf Werte, wie Freiheit oder Gerechtigkeit, sondernauf die koranische Norm al-amr bi-l-macruf wa-n-nahı can al-munkar, dasGebieten des Gerechten und das Verbieten des Verwerflichen (Koran Sure3, Vers 104) (Interview 30/2013). Als gesellschaftliche Utopie war diesereligiös-moralische Verpflichtung für sie die Aufgabe eines jeden Gläubigen.Dieses koranische Gebot für das Individuum wollten einige Gesprächspartnerinstitutionell verwirklicht sehen und sprachen sich für die Einführung desAmts eines Muhtasib, arabisch muh. tasib, in Tunesien aus, der die Einhaltungder Scharia wahren sollte.138 Die Scharia selbst beschrieben sie als göttlichoffenbarte, normative Ordnung, die sie in einem Kalifat auf tunesischem

138Das Amt des Muhtasib existiert seit dem achten Jahrhundert n. Chr., ist in der Modernejedoch weitgehend verschwunden. Ein Muhtasib überwachte zunächst die Einhaltungder religiösen Vorschriften des Islam und legte das Strafmaß fest. In der frühen Neuzeiterweiterte sich seine Aufsichtsfunktion auf nicht-religiöse Bereiche.

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Staatsgebiet umgesetzt sehen wollten. Insgesamt ließ sich ihr Standpunkt aufdie Rückbesinnung auf die al-salaf al-s. alih. , die frommen, rechtschaffendenAltvorderen, zusammenfassen. Sie strebten eine Gesellschaft nach dem idea-len Vorbild der frühen Gemeinde um den Propheten Muhammad an, nachderen reinen Prinzipien sie die moderne Gesellschaft zu gestalten versuchten.Über ihre verstärkte Präsenz im öffentlichen Raum von Le Kram leistetensie Aufklärungsarbeit unter den tunesischen Muslimen. Sie betrachtetensich selbst gegenüber konkurrierenden Ordnungsvorstellungen als moralischeVorbilder und wollten die „Brüder und Schwestern im Glauben“ für dasKalifat als Staats- und Gesellschaftsordnung gewinnen. Aktivisten verteiltenzu diesem Zweck in Le Kram Flugblätter, die den von ihnen vorgestellteninstitutionellen Aufbau eines Kalifatsstaats verbildlichten, wie Abbildung6.6 auf Seite 224 beziehungsweise die deutsche Übersetzung auf Abbildung7.9 im Anhang auf Seite 360 zeigen.139

Abbildung 6.6: Struktur der Staatsorgane im Kalifat; Quelle:www.khilafah.net

An der Spitze des Staates steht der Kalif selbst, direkt unter ihm seinebevollmächtigten Stellvertreter und das Parlament, arabisch majlis al-umma.Die nachgeordneten staatlichen Strukturen sind in unterschiedliche Bereiche

139Die Grafik wurde bereits am 25. Dezember 2011 von der Hizb al-Tahrir im Stadtzentrumvon Tunis an Passanten ausgegeben.

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gegliedert, die jeweils direkt dem Kalifen unterstehen. Die Regierungsämter,wie beispielsweise die Gouverneure, arabisch wulat, sind in Rot dargestellt.Die Verwaltungsämter, darunter Emire, Kadis, Direktoren und Präsidentenunterschiedlicher Behörden, erscheinen in Grün, mittig beispielsweise dasExekutivministerium. Die Justizbeamten sind Blau hinterlegt während dasParlament und die Parlamente der Gouvernorate in Gelb abgebildet werden.

Graffiti als Botschaftsträger. Die salafistische Gemeinschaft von Le KramOuest nutzte verschiedene Diskursformen, um der lokalen Bevölkerung ihreSinn- und Deutungsangebote zu vermitteln. Neben aktiver Missionierungs-arbeit, Kleiderformen, Predigten, der Besetzung der Moschee oder auchStudienkreisen spielen physische Orte in Le Kram als Kommunikationsträgerfür kurze und unpersönliche Erinnerungen an den Islam eine wichtige Rolle.Diesen begegneten die Passanten mit der gleichen Ehrfurcht und Zurückhal-tung, wie der Moschee und deren direkten Umfeld selbst. Die Sicht auf dieseGraffiti wurde beispielsweise nicht durch große Mülltonnen oder Verkaufs-stände verstellt, obwohl an dieser Stelle vor der Revolution regelmäßig Obstund Gemüse verkauft worden war. Großflächige Graffitis entstanden mitAufrufen zum regelmäßigen und pünktlichen Gebet. Sie erinnerten daran,Gott anzurufen, arabisch dhikr, oder das islamische Glaubensbekenntnis zusprechen. Wie die Abbildung 6.7 auf Seite 226 zeigt, stand direkt neben denpolitischen Graffitis der Miliz entlang der Hauptstraße von Le Kram Ouestgeschrieben: „Vergiss nicht, Gott anzurufen; verrichte dein Gebet; genießedein Leben“, arabisch la tansa dhikr allah aqim s.alataka tancam bi-h. ayatika.Andere kurze und prägnante Nachrichten mahnten alle Passanten, sich aufdie eigene Religiosität zu besinnen und die religiösen Pflichten im Alltag ernstzu nehmen. Sie wurden an verschiedene Wände entlang der Hauptverkehrs-adern in Le Kram Ouest und vereinzelt auch in Le Kram Est gesprüht. DieStandorte wurden strategisch bewusst gewählt. Zum einen gewährleistete diezentrale und stark frequentierte Lage die notwendige Sichtbarkeit im Viertel,um eine möglichst große Zahl von Rezipienten zu erreichen. Zum anderenstanden die Botschaften dort in direkter Relation zu den Graffitis der Miliz

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Abbildung 6.7: Graffiti Dhikr Allah; Quelle: Nowar

und den Ereignissen der Revolution in Le Kram. Gemeinsam entfaltetensie eine mächtige Botschaft von den gegenwärtigen wirtschaftlichen undpolitischen Problemlagen und der Dringlichkeit und individuellen Pflicht derReligionsausübung, da der Islam der Ausweg aus der Krise sei. Gleichzeitigübermittelten sie das Bild der gegenseitigen Anerkennung. Die Salafistenwaren im Viertel, wie die Miliz, unter den Einwohnern dennoch nicht unum-stritten. Den religiösen Botschaften an den Wänden wurde zwar Respektentgegengebracht, den Initiatoren aber nicht mit Wohlwollen, sondern mitMisstrauen begegnet: „Die munaqqabas [sic.] und bulah. yas [sic.] denken, sieseien besser als wir, dabei zerstören sie unsere Viertel mit ihrer Gewalt.Aber das Glaubensbekenntnis auf dem Weg zur Arbeit zu lesen, respektiereich. Ich bin schließlich Muslim, oder?“140 Wie für die Miliz bestand für die

140Bulah. ya ist ein in Tunesien weit verbreiteter, abwertender Begriff, der allgemein fürSalafisten gebraucht wird. Er bedeutet übersetzt „Vater des Barts“ und ist eine Referenzan die äußere Erscheinungsform, die mit den männlichen Salafisten verbunden wird –ein langer Bart und Sunnabekleidung. Eine munaqqaba ist dementsprechend eine mitdem Nikab verschleierte Frau.

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salafistischen Writer kein Grund zur Heimlichkeit in der Ausführung ihrerGraffitis, da keine staatlichen Autoritäten, welche den Vandalismus ahndenkönnten, präsent waren. Die Stadtverwaltung von Le Kram war noch nichtin der Lage, korrigierend in das Stadtbild einzugreifen. Abweichend von derGraffiti-Szene weltweit, bestand deshalb die Intention hinter den Graffitiin Le Kram nicht im Ruhm, englisch fame, für das illegale Sprayen undder Anerkennung in der Szene. Vielmehr stand die Missionierung unter dentunesischen Muslimen und die Kontrolle der öffentlichen Ordnung durchdie Erinnerung an islamische Normen an erster Stelle. Überraschenderweisebefanden sich an den Außenwänden der Moscheen im Viertel keine Graffiti.Botschaften wurden dort und an der Sayyida Khadija Moschee über großePlakate und Banner verbreitet, da die Graffiti der Würde des Ortes nichtgerecht wurden (Interview 30/2013). Im Osten Le Krams gab es kleinereligiöse Tags an Mauern in den Seitengassen und am Stadtrand. Trotzder Abneigung gegen die salafistische Szene, wurden religiöse Botschaften,anders als als gewöhnliche Graffiti, wie ACAB-Tags, dort toleriert und nichtentfernt. Größere, nicht religiöse Graffiti blieben in Le Kram Est dagegennur abseits der viel frequentierten Straßen des Innenstadtbereichs und amRand des Viertels erhalten. Die nächste große Graffiti-Fläche bot erst eineMauer im südlich angrenzenden Stadtteil Kheireddine an dem der Rue Faridal-Atrach gegenüberliegenden Ufer des Kanals.

Dawaharbeit. Die Herstellung von Aufmerksamkeit für nicht islamkonformesVerhalten durch die persönliche Ansprache der Passanten auf der Straßestellte einen wichtigen Aspekt in der täglichen Missionierung, der Dawah,arabisch dacwa, dar. Zumeist ließen sich Gruppen von zwei oder mehrerenPersonen beobachten, die an stark frequentierten Orten postiert gezieltEinzelpersonen oder Kleingruppen Jugendlicher und junger Männer anspra-chen. In der Anwerbung weiterer Gläubiger für den offenen Aktivismus imViertel wurden eher einfache und schematische Glaubenssätze vermittelt.Theologische Diskussionen fanden auf der Straße nicht statt. Der Fokuslag auf dem Einschwören der Passanten auf die Angst vor dem drohenden

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Höllenfeuer und dem Islam als Lösung für die aktuellen Probleme. Passantenauf der Straße wurden durch persönliche Kontaktaufnahme zu Gesprächenermuntert, erhielten (ungefragt) mit Koranzitaten belegte Nasihas, welchedas jeweilige Fehlverhalten aufzeigten und zur Besserung aufriefen. Darauffolgte häufig die Einladung in die Sayyida Khadija Moschee für weitere Ge-spräche. War die Anbindung der missionierten Person an die eigene Gruppeerfolgreich, wurde auf eine neue Verortung des Selbst hin gedrängt. Missionund Aufklärung wurde über soziale Kontrolle verstärkt. Im ersten Schrittsollte durch Dawaharbeit, das Verteilen von Broschüren und Flugblätternund das Geben von Nasihas an die vom rechten Glauben abgekommenentunesischen Muslime eine Rückführung der Betroffenen zur vermeintlichreinen Lehre des Islam erreicht werden. Der Ansatz beruhte auf dem Prinzipdes al-wala cwa-l-bara c, der Loyalität und Lossagung von allen Muslimen, dienicht den wahren Glauben lebten. Die Loyalität der Salafisten galt demnachGott und den wahren Gläubigen. Alle anderen, auch Muslime, welche nichtdem salafistischen Spektrum angehörten, waren für sie zu den kuffar zuzählen. Diese mussten zum wahren Glauben zurückgeführt werden. War dasnicht möglich, mussten sie unter allen Umständen gemieden werden. Damitgrenzten sich die Salafisten bewusst von der Mehrheitsgesellschaft im Viertelab. Stieß ihre Form der Mission bei den vermeintlichen kuffar auf Ablehnungoder Verweigerung, drängten sie mittels Einschüchterungsversuchen undDruckausübung auf die Umsetzung ihrer eigenen normativen Ordnung. IhreÜberwachung der Einhaltung moralischer Normen im öffentlichen Raumübte Einfluss auf die sozialen Verhaltensweisen der Einwohner Le Kramsaus. Die gezielte öffentliche Zurechtweisung des individuellen Fehlverhaltensund die damit verbundene Demütigung der Betroffenen sollte allen Umste-henden ein Exempel statuieren. Die öffentliche Ordnung wurde genutzt, umLegitimität für eigenes Handeln zu erlangen. Die Taktik, den vermeintlichenVerstoß gegen die guten Sitten und die Moral öffentlich anzuprangern oderzu unterbinden, verhalf den Salafisten zu der Position, sich selbst als Hüter

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der Ordnung darstellen zu können.141 Im Sommer 2012 kam es wiederholtzu Vorfällen am Strand von Le Kram. Ein junger Mann wirkte gezielt aufdie Badegäste ein. Die anwesenden Männer sollten ihre weiblichen Beglei-terinnen, seien es Schwestern, Ehefrauen, Freundinnen oder Mütter, zuislamkonformer Strandbekleidung anhalten. Es sei ihre Pflicht als mah. ram,als männlicher Begleiter aus dem engsten Familienkreis der Muslimin, fürderen sittliches Benehmen in der Öffentlichkeit zu sorgen und weiblicheMitglieder der Familie vor den Blicken fremder Männer zu schützen. Ananderen Orten in Tunesien gingen Aktivisten so weit, Schilder mit neuenStrandordnungen zu installieren. Andere Aktivisten sprachen Frauen mitStrandtaschen und Flechtkörben an, welche mit Schutzsymbolen, wie derFatima-Hand verziert waren oder mahnten die Badegäste, keine aufblasbarenSchwimmtiere zu benutzen. Das Wasserspielzeug sei eine Darstellung vonLebewesen und damit verboten. Diese und weitere Gegenstände bezeich-neten sie als t.aghut, als Götzen, die zum Schirk, arabisch shirk, also demGötzendienst beziehungsweise dem Polytheismus, verführen können. AndereWertesysteme als das eigene, wie zum Beispiel die Demokratie, wurdenals Götzendienst bezeichnet und zurückgewiesen. Im Stadtzentrum von LeKram Ouest konnte ein lauter Streit zwischen einem Ladeninhaber undzwei jungen Frauen beobachtet werden. Beide Frauen trugen eine Abayakombiniert mit einem Nikab und langen Handschuhen. Sie waren auf demHeimweg, um dort das Freitagsgebet zu verrichten, zum dem der Muezzinrief. Der Ladenbesitzer hingegen saß auf einem weißen Plastikstuhl vor seinerTür und rauchte. Offensichtlich verärgert über sein Benehmen forderte eineder Frauen ihn auf, die Musik in seinem Laden während des Gebetsrufes

141Laut Foucault ist das spezifische Verständnis von Moral als Set aus Werten undRegeln unter fortwährender Ersetzung und Verschiebung der Deutungen historischgewachsen. Es reguliert das zwischenmenschliche Verhalten einer Gesellschaft undwird entweder diffus vermittelt oder von der Familie, von Bildungsinstitutionen, vonreligiösen Einrichtungen oder anderen Akteuren festgesetzt. Es ist deshalb immermit den jeweiligen Machtverhältnissen im Raum verknüpft. Akzeptanz, Widerstand,Kompromisse und Schlupflöcher lassen ein fluides System von Moralitäten und derenUmsetzung entstehen (vgl. Foucault 2000, S. 365 ff.).

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abzustellen. Sie stellte ihn zur Rede, weshalb er nicht bereits abgeschlossenhabe und auf dem Weg zur nächsten Moschee sei. Nach einem lautstarkenWortgefecht, mischte sich schließlich ein junger Mann aus dem benachbar-ten Café ein. Er bat die beiden Frauen, weiterzugehen und empfahl demLadenbesitzer, aufgrund der negativen Aufmerksamkeit vorübergehend dochzu schließen. Der Ladenbesitzer schloss sein Geschäft tatsächlich vorüber-gehend ab, jedoch ohne sich danach auf den Weg zum Freitagsgebet zubegeben. In diesem Setting erschienen ausreichende, finanzielle Mittel fürdie Dawaharbeit zwar als förderlich, jedoch nicht als zwingend notwendigeVoraussetzung für das Missionieren auf der Straße und in der Moschee. Wiedie Miliz versicherten die Aktivisten rund um die Sayyida Khadija Moschee,sich rein aus Spenden zu finanzieren (Interview 30/2013). Im öffentlichenDiskurs wurden Zuwendungen über Netzwerke in reiche Golfstaaten, allenvoran Katar, angeprangert (Interview 22/2013).

6.2.2.3 Joining Forces – Kooperationen von Miliz und Salafisten imöffentlichen Raum

Aktionen im Stadtgebiet von Le Kram. Die Präsenz der Miliz und ihrerVerbündeten im öffentlichen Raum marginalisierte andere lokale Akteure inLe Kram und verdrängte diese aus der öffentlichen Debatte vorübergehendnahezu vollständig. Moscheegemeinden, wie die Hamza Moschee in Le KramOuest, offiziell Ibn Abd Al-Muttalib Moschee genannt, distanzierten sichvom politischen Geschehen. Sie öffneten als reine Gebetsstätten weiterhinausschließlich zu den vorgesehenen Gebetszeiten. Viele der staatlich einge-setzten Imame waren im fortgeschrittenen Alter und darüber hinaus für dieBegegnung mit dieser Art von Radikalisierung unzureichend ausgebildet.142

142Hilfreich wären für die Imame in dieser Situation, über das theologische Fachwissenhinaus, beispielsweise praxisrelevante Fortbildungen im Bereich der Prävention religiösbegründeter Radikalisierung oder auch Medienkompetenztrainings. Hier zeigt sich,dass im Ministerium für religiöse Angelegenheiten von Tunesien ein Umdenken überdie traditionellen Rolle und damit die Ausbildung der Imame stattfinden muss, umder Gefahr durch religiösen Extremismus begegnen zu können.

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Sie konnten dem radikalen Diskurs theologisch-argumentativ nicht entgegentreten und versuchten politisch-religiöse Debatten aus ihrem Einflussbereichfernzuhalten. Mit der Miliz und den Salafisten konkurrierende Aktionenanderer Akteure wurden von ersteren gezielt verhindert. Plakate der UGTTwurden in Le Kram Ouest entfernt. Das lokale Büro der UGTT wurdewiederholt angegriffen, da sie unter dem Ben Ali-Regime im Spannungsfeldzwischen dem Regime und der Vertretung der Arbeitnehmer chargiert hat-te und damit als nicht vertrauenswürdig galt. Sie wurde zudem nicht alsunabhängiger, zivilgesellschaftlicher Akteur, sondern als Elitenorganisationbetrachtet. Selbst die kommunale Verwaltung wurde übergangen oder anihrer Arbeit gehindert. Die beiden Verbündeten hingegen gewährten sich ge-genseitig Freiräume. Sie beteiligten sich an den Aktionen des jeweils anderen,ohne miteinander in Konkurrenz zu treten. Sie waren sich in den entschei-denden Aspekten einig, wie darin, die Legitimität der tunesischen Regierungnicht anzuerkennen oder dem politischen Willen, eine islamische Ordnungin Tunesien durchzusetzen. Im gesamten Beobachtungszeitraum wurde keinZwischenfall bekannt, in welchem sich einer der beiden Partner in die Internades anderen einmischte. Die Salafisten hielten sich zurück, wenn es um dieÜbernahme staatlicher Ordnungsfunktionen im Viertel ging und überließendiese Aufgabe der Miliz. Gleichzeitig unterstützten sie den Märtyrerdiskursder Milizionäre. Sie erkannten die acht jungen Männer als Märtyrer an undbezeichneten sie als Dschihadisten, welche im Kampf gegen die Ungläubigen,hier die Repräsentanten des alten Regimes, gestorben waren. Wiederholtsprachen die Salafisten von den Märtyrern als t.uyur al-janna, als den Vögelndes Paradieses. Sie seien für ihre Glaubensüberzeugungen gestorben unddürften deshalb als Vögel im Paradies auf den jüngsten Tag warten. AndereSalafisten verwendeten für die Märtyrer eher die Bezeichnung t.a

cirun al-khadra, also die grünen Vögeln.143 Über die Kooperation mit den Salafistenerreichten die Milizionäre im öffentlichen Raum Le Krams den legitimenStatus als religiöse Vorbilder. Waren sie zu Beginn eher als Verteidiger der

143Gemäß der Überlieferungen des Propheten nehmen Märtyrer im Islam bis zum jüngstenTag in der höchsten Stufe des Paradieses einen Ehrenplatz als grüne Vögel ein.

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Demokratie aufgetreten, bespielten sie nun zunehmend die Rolle des an isla-mischen Normen orientierten Hoffnungsträgers eines neuen Tunesiens. Dabeiüberließen sie die konkrete inhaltliche Auseinandersetzung mit politisch-religiösen Ordnungsvorstellungen den Salafisten. Selbst beschränkten sichdie Milizionäre auf die allgemeine Proklamation, sich für eine islamischeOrdnung zu engagieren, ohne diese genauer zu umreißen. Religiöse Phrasen,wie Segenssprüche auf Propheten oder die islamische Begrüßungsformel, wa-ren dabei, neben dem Gebrauch von Kraftausdrücken, inhärenter Teil ihrerRhetorik. Über die Kooperation mit den Salafisten wurden die Aktionenund Handlungen der Miliz der lokalen Öffentlichkeit bewusst als religiösinspiriert präsentiert. Die Miliz schien als vorgeblich religiöse Kraft, dasgesellschaftliche Milieu in Le Kram Ouest eher zu erreichen, als es säkularenpolitischen Kräften möglich gewesen wäre. Zum Erfolg der Miliz trug indiesem Umfeld zusätzlich bei, dass die Einwohner Le Krams ihren religiöskonnotierten Argumentationslinien wenig bis keinen Widerstand entgegen-brachten (Interview 32/2013). Gemeinsam organisierten die beiden Partnerin Le Kram Ouest Großveranstaltungen, um den geteilten Einflussbereichauszuweiten. Auch wenn weder die Miliz noch die Salafisten Register überdie Zugehörigkeit führten, zeigten ihre Veranstaltungen, dass ein bestimmterPersonenkreis sich in beiden Gruppen engagierte. In einem Fernsehinterviewmit Said al-Ayadi [Sacıd al-cAyadı], einem der Moderatoren der Sendung La-bes, sprach die rechte Hand Imed Dghijs in der Miliz, Mohamad-Amin AkidAl-Agrebi [Muh. ammad-Amın Akıd al-cAqrabı], genannt Recoba, von seinenAnsichten über den Islam in Tunesien: „Wir sagen nur ein Wort: Der Koranist unsere Verfassung. Wir sagen nur ein Wort: Der Prophet ist unser Führer.Wir sagen nur ein Wort: Der Salafismus ist unsere Lehre. Wir sagen nur einWort: Das Kalifat ist ein Versprechen Gottes“. Er sprach außerdem über dasVerhältnis der tunesischen Muslime untereinander und berichtete von seinenBeziehungen zu den Salafisten in Le Kram. Auf die Frage hin, ob er sichselbst als Salafist bezeichnen würde, antwortete er mit einem klaren Nein.Er stellte jedoch klar, dass dieser Unterscheidung in Salafisten, Islamistenoder normaler Muslim in Le Kram allgemein und in der lokalen Miliz im

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Besonderen keine bedeutende Rolle zukäme. Es sei nur wichtig, als Tunesierauf dem Weg des Islam zu sein. Seine Sympathien hätten die Salafisten, daer sich ebenfalls einen islamischen Staat herbeisehne. Die Verfassung dertunesischen Republik hingegen interessiere ihn nicht. Auf die Nachfrage,weshalb Salafisten in Tunesien andere Muslime als Ungläubige verurteiltenund eine Dichotomie konstruieren wollten, wich er aus. In Le Kram seienalle Einwohner Muslime und somit unbesehen zur gemeinsamen Sache einge-laden.144 Die Nähe der Milizionäre zum salafistischen Islam wurde währendder gemeinsamen Demonstrationen sichtbar. Am 16. August 2012 gingenbeide unter dem Slogan „Gott ruft“ gegen die tunesische Regierung auf dieStraße, wobei takbır-Rufe das politische Skandieren der Miliz begleiteten.Die Demonstration war Teil der Krawalle, welche im August 2012 nachdem Bekanntwerden des Verfassungsentwurfs auftraten. Die Vertreter derEnnahdha-Partei in der Verfassungsgebenden Nationalversammlung hattendarin versucht, Änderungen in den Grundlagen des Familienrechts einzufüh-ren und damit eine Welle von Gegendemonstrationen ausgelöst. Die seit demJahr 1956 in der Verfassung der Tunesischen Republik verankerte Gleichheitder Geschlechter sollte in dem am 1. August 2012 vorgelegten Verfassungs-entwurf durch ein komplementäres Geschlechterverhältnis ersetzt werden,welches auf islamischen Normen basiert. Diese Änderung der Verfassunghätte dazu geführt, dass die Rechten und Pflichten von Frauen und Männernin Tunesien nicht mehr austauschbar wären (vgl. Axtmann 2012, S. 139)und (Bejaoui 2012, Cavaillès 2012, Souissi 2019). Das Einladungsschreibender Miliz forderte die Einwohner Le Krams dazu auf, gegen die Rückkehrder ehemaligen Staatspartei Ben Alis RCD, al-tajammuc genannt, in dietunesische Politik auf die Straße zu gehen. Die Rückkehr der alten Elitensei, laut Miliz, durch die Feigheit der Regierung klar mit ihr zu brechen,möglich geworden sein. Der Einladungstext sprach von der Notwendigkeitder Reinigung des Landes von den alten Eliten und von der Korruption.Die Regierung solle außerdem die Akten der ehemaligen politischen Polizeides Ben Ali-Regimes offenlegen und finanzielle Wiedergutmachung für die

144Elhiwar Ettounsi, Sendung Labes, Folge 23, 12.12.2012.

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Familien der Märtyrer leisten. Die Demonstranten versammelten sich um 22Uhr vor dem Hauptquartier der Miliz und zogen vor das örtliche Rathaus-gebäude. Einige Männer hielten dort die Flagge der Republik Syrien hoch,während andere die tunesischen Muslime zum Dschihad aufriefen. Neben deninternationalen Reizthemen zeigten große Banner die Aufschriften „Niedermit der Destour-Partei; Nieder mit den Scharfrichtern des Volkes“ und „Wirhaben sie [die RCDisten] vertrieben und ihr bringt sie zurück. Bruder, bistdu für uns oder gegen uns?“. Einige der Demonstranten, darunter ImedDghij, sein Sohn Chouaieb Dridi [Shucayb Drıdı] und Recoba, trugen die glei-chen weißen T-Shirts mit der geballten Faust der Miliz und dem hellblauenAufdruck „Rebels of Le Kram“ und ließen sich damit für die Facebookseiteder Miliz fotografieren. Während der Demonstration schwenkte ein Mannein schwarzes Banner mit Goldrand, welches die Schahada in weißer Schriftzeigte. Später positionierte sich ein weiterer Teilnehmer der Demonstration,der ebenfalls ein weiß-blaues T-Shirt der Miliz trug, mit dem selben Ban-ner gut sichtbar über den Köpfen der Demonstranten auf dem Flachdachdes Hauptquartiers der Miliz. An den Hauswänden unter ihm war großund plakativ das Faustsymbol der Miliz aufgemalt und verdeutlichte allenPassanten sofort, dass sich hier der Hauptsitz der lokalen Miliz befand. Dietunesische Polizei war während der gesamten Veranstaltung zwar vor Ort,bleibt jedoch auffällig zurückhalten und griff nicht in das Geschehen ein. Eswaren lediglich die Bereitschaftseinheiten anwesend, welche das Geschehenvom Ende der Straße aus beobachten. Eine Einsatzhundertschaft wurde trotzwiederholter gewaltsamer Zusammenstöße in der Vergangenheit in Le Kramnicht hinzugerufen. Die Beamten trugen keine komplette Schutzausrüstung,wie Einsatzanzüge, Körperschutzausstattung, Schutzwesten, Ober- und Un-terarmprotektoren, Schienbeinschutze oder Helme. Zwei Tage später, am 18.August 2012, organisierte die Miliz am Platz vor dem Eingang des Messezen-trums ein Gebet zum Fest des Fastenbrechen am Ende des Ramadans, cıdal-fit.r, zu dem auch die Salafisten der Sayyida Khadija Moschee erschienen.Unter den geladenen Ehrengästen befand sich Rachid al-Ghannouchi, dereine Ansprache hielt und das Gebet anleitete. Seine Anwesenheit war ein

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deutliches Signal, dass die Miliz sich im politischen Spektrum der Ennahdha-Partei positionierte, trotz scharfer öffentlicher Kritik an deren religiösenStandpunkten. Bereits wenige Tage später rief die Miliz zu Demonstrationenam 31. August 2012 am Kasbah-Platz in Tunis und weiteren tunesischenStädte, wie Kairouan und Sfax, auf. Die Teilnehmer forderten die Säube-rung der politischen Landschaft, um den Zielen der Revolution näher zukommen. Bei dieser Veranstaltung wurde der Zeitpunkt des Beginns der Ver-anstaltung durch dem Verweis auf das gemeinsame Dhuhr-Gebet zum erstenMal in einen islamischen Referenzrahmen gesetzt. Das gemeinsame Gebetvor der Demonstration erfüllte den praktischen Aspekt der terminlichenAbstimmung mit den teilnahmewilligen Gläubigen. Es sollte moralisieren,Gemeinschaftssinn herstellen und religiöse Legitimation für beide Akteureerzeugen. Zu den bisher genannten islamischen Referenzen traten bei inter-nen und öffentlichen Veranstaltungen schließlich noch tawh. ıd-Bekundungenhinzu, symbolisiert durch die mit ausgestrecktem Zeigefinger erhobene Faust.Auffallend zeigte sich im Jahr 2013 der mit der Kooperation einhergehendeWandel des Gruppensymbols der Miliz.

Abbildung 6.8: Das Logo der Miliz im Wandel; Quelle: Facebookseite RegelThawra Kram

Neben der bisher verwendeten, den osteuropäischen Revolutionen entlehntenFaust der linken Hand wurde auch der zum tawh. ıd erhobene Zeigefinger derrechten Hand auf Flyern und Plakaten abgedruckt, wie die Abbildung 6.8

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auf Seite 235 zeigt.145 Die Miliz verknüpfte damit symbolisch den angestreb-te Wandel des politischen Systems mit dem Glauben an die Einheit undEinzigartigkeit Gottes, der als alleiniger Souverän herrscht. Als Reaktionauf die umsichgreifenden Ausschreitungen wurden Imed Dghij und einigeseiner Mitstreiter überraschend als Botschafter aus dem Viertel zu einerVersammlung der Minister nach Carthage eingeladen. Sie wurden dort alsgleichberechtigte Partner und als wären sie offizielle Amtsinhaber behandeltund erhielten die Möglichkeit, über die Forderungen der Demonstranten unddie Bedürfnisse der Bevölkerung zu sprechen.

Aktionen außerhalb der Grenzen Le Krams. Auch über die Grenzen LeKrams hinweg kam es wiederholt zu Ausschreitungen. Diese hatten zwarkeine unmittelbaren Auswirkungen auf den öffentlichen Raum im Viertel,zeigten aber dennoch die enge Verflechtung beider Akteure in ihren Strategi-en und Taktiken. Sie demonstrierten mit den Aktionen allen Außenstehendenihre Einsatzbereitschaft und förderten ihren Bekanntheitsgrad in den tunesi-schen Medien. Die tunesische Öffentlichkeit sollte die Ernsthaftigkeit ihrerAnliegen begreifen und verstehen, wie weit sie bereit waren, für ihre Zielezu gehen (Interview 27/2013). Für den 14. September 2014 rief die Miliz dieÖffentlichkeit zu einem Demonstrationszug von der verbrannten Dienststel-le146 in Le Kram bis zu der circa vier Kilometer entfernten US-Botschaft inLes Berges du Lac auf (siehe Abbildung 6.9 auf Seite 237):

„Im Namen des barmherzigen und gnädigen GottesFriedliche DemonstrationUnser Stelldichein ist, so Gott will, am Freitag unmittelbar nach demFreitagsgebet (um 14 Uhr); Die Einladung richtet sich an alle, die

145Ankündigungen von Veranstaltungen wurden bevorzugt als Flyer auf der Facebookseiteder Gruppe mit der Bezeichnung Regel Thawra Kram veröffentlicht.

146Mit der Ortsangabe war die ehemalige Polizeistation von Le Kram Ouest gemeint.Die Umschreibung sollte den Rezipienten gezielt das (erfolgreiche) Vorgehen derMiliz gegen den tunesischen Staat und seine Vertreter in Erinnerung rufen und dievorhandene Wut auf den Staat auf andere Gegner übertragen.

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Muhammad s. a. s. lieben; Gemeinschaft des Friedens! Macht euch aufzur Verteidigung eures Propheten und lasst ihn nicht im Stich.Männer der Revolution von Le Kram(Demonstration von der verbrannten Dienststelle um 14 Uhr zu deramerikanischen Botschaft)“

Sie wollten dort gegen die Ausstrahlung des islamkritischen Films „Die Un-schuld der Muslime“ protestieren. Bei den folgenden massiven Krawallen ka-men 29 Menschen ums Leben.147 Der von der Miliz verteilte Einladungsflyerwies erneut auffällig viele religiöse Referenzen auf, darunter einleitend dieislamische Invokationsformel, arabisch basmala, sowie Datums- und Zeitan-gaben in Relation zum Freitagsgebet. Darüber hinaus generierte die religiöseKonnotation der Einladung sozialen Druck. Aufgerufen zur Teilnahme warenalle Muslime, welche den Propheten Muhammad lieben. Demonstrierten sienicht, ließen sie ihn im Stich.

Abbildung 6.9: Einladung zur Demonstration vor der US-Botschaft in Tunis;Quelle: Facebookseite Regel Thawra Kram

Von einem anderen Vorfall berichteten Amina Hamrouni [Amına H. amrunı]und Lotfi al-Hafi [Lut.fı al-H. afı], die Besitzer des Buchladens und der Kunst-galerie Mille Feuilles in La Marsa.148 Am 23. Januar 2012 suchte ein „Mathe-

147Die zwanzig Angeklagten wurden am 28. Mai 2013 zu zwei Jahren Gefängnis aufBewährung verurteilt.

148Librairie – Espace d’art Mille Feuilles, Avenue Habib Bourguiba 99, La Marsa-Plage,Tunis.URL: http://www.librairiemillefeuilles.com/.

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matikprofessor“, der sich als Botschafter der Miliz aus Le Kram vorstellte,ihr Geschäft auf.149 Er drängte wiederholt auf das Entfernen des Buches„Femmes au bain“ (Bonnet 2006) aus der Auslage im Schaufenster unddrohte Vergeltungsmaßnahmen an. Die Nacktheit der Frauen auf dem Buch-cover widerspräche dem öffentlichen Empfinden von Moral und Anstand.150

Hamrouni und al-Hafi nahmen das Buch daraufhin über Nacht aus demSchaufenster, entschlossen sich aber, es am nächsten Morgen erneut auszu-stellen. Am 25. Januar 2012 erhielten sie erneut Besuch von einem Aktivistenaus Le Kram, der sich als Beauftragter des Gerichts ausgab, um seiner An-weisung mehr Gewicht zu verleihen. Er forderte aggressiv das Entfernendes Buchs. Die Besitzer des Geschäftes erstatteten daraufhin Anzeige beider Polizei (H. 2012b). Vorfälle dieser Art erwiesen sich im weiteren Verlaufals typisch für die Vorgehensweise der Anhänger der Ortsgruppe Le Kram.Am 11. Juni 2012 formierten sich circa 200 Salafisten und Milizionäre undüberfielen mit Messern, Stöcken, Steinen und Molotowcocktails bewaffnet dieörtliche Polizeistation von Le Kram Est. Sie verwüsteten diese und zerstörtendie Akten, die Schreibtische, die Stühle, den Stromzähler, die Wasserhäh-ne, die Toiletten, die Türen, die Fenster und technische Geräte, wie denFingerabdruckscanner. Schüsse fielen während die anwesenden Polizistenversuchten, die Angreifer mit Tränengas außer Gefecht zu setzen. Sie konntensich gegen die in der Überzahl befindliche Menschenmenge nicht durchsetzen.Gleichzeitig wurden die Polizisten zahlenmäßig geschwächt, als einige vonihnen als Verstärkung in den Westteil des Viertels gerufen wurden, um dortgegen parallel stattfindende Überfälle auf Kioske mit Wettangeboten vorzuge-hen.151 Danach fuhren die Milizionäre mit den gestohlenen Polizeifahrzeugen

149Es ist anzunehmen, dass es sich um Imed Dghij handelte, der wiederholt betonte,Mathematik studiert zu haben und in Le Kram als Mathematiklehrer arbeitete. Inden tunesischen Medien wurde er spöttisch als „Mathematikprofessor“ bezeichnet.

150Interessanterweise beschäftigt sich der Autor des Buches, Jacques Bonnet, mit demkünstlerischen Umgang mit Nacktheit gegenüber gesellschaftlicher Moralvorstellungenund Konventionen in über zwei Jahrtausenden westlicher Geschichte.

151In Le Kram Ouest existierten keine im Forschungszeitraum keine Bars, keine Clubs oderandere Lokale mit Lizenz zum Alkoholausschank oder Verkauf von Spirituosen. An

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weiter in das nördliche Nachbarviertel La Marsa. Dort versammelten sie sichmit drei weiteren radikalen Gruppen aus dem Stadtgebiet von Tunis, welchezuvor die Nationalgarde in Sidi Hassine und das Gerichtsgebäude von Sijou-mi im Südwesten von Tunis überfallen hatten. Gemeinsam griffen sie in LaMarsa die in islamischen Kreisen umstrittene Kunstausstellung „Printempsdes Arts“ im Palais al-Abdalia an, wobei einige Kunstwerke zerstört oderbeschädigt wurden.152 Die tunesischen Behörden verhängten gebietsweisenächtliche Ausgangssperren, um weitere gewaltsame Ausschreitungen zu ver-hindern. Ein weiteres Beispiel für die Normen regulierenden Aktivitäten derMiliz war der gemeinsame Überfall der LNPR Le Kram und der OrtsgruppeLa Goulette am 8. Januar 2013 auf die Association tunisienne de soutiendes minorités (ATSM) im benachbarten Stadtteil La Goulette in Tunis,wobei das Büro des Vereins verwüstet und ausgeraubt wurde. Für den 29.Dezember 2012 hatte die Organisation einen Gedenktag für die Deportationder tunesischen Juden im zweiten Weltkrieg geplant und war daraufhin vonden beiden Ortsgruppen als Zionisten beschimpft und bedroht worden. Zuvorhatte der Verein bereits Beschwerde gegen einen Imam aus Tunis einge-reicht, der in einer Liveübertragung im Fernsehen am 30. November 2012 zueinen weiteren Völkermord an den Juden aufgerufen hatte. Die ATSM setztesich für die Rechte religiöser, kultureller, ethnischer, sexueller und sozialerMinderheiten in Tunesien ein und leistete politische Lobbyarbeit, um derenrechtliche Gleichstellung und Schutz in Tunesien zu erstreiten. Demokratie,Partizipation, Respekt vor gesellschaftlicher Pluralität zählten zu den in derBildungsarbeit des Vereins vermittelten Werten. Die Vorsitzende des Vereins,Yamina Thabet [Yamına Thabit], verurteilte den Überfall im Interview mitdem Radiosender Mosaïque FM am 9. Januar 2013 scharf.153 Die nationale

anderen Orten in Tunesien wurden diese von den jeweiligen lokalen Milizen zerstört,welche zur selben Zeit koordinierte Aktionen durchführten.

152Erst einen Tag zuvor hatte der Al Kaida Anführer Ayman al-Zawahiri zur Durchsetzungdes islamischen Rechts in Tunesien aufgerufen. Vorausgegangen war eine landesweitgeführte, hitzige Debatte über die Grenzen künstlerischer Freiheit in religiösen Themenund Motiven.

153URL: https://www.mosaiquefm.net/ar/.

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Liga und ihre Ortsgruppen wurden zu diesem Zeitpunkt in den tunesischenMedien immer häufig als Miliz der Ennahdha-Partei dargestellt. Angriffe aufpolitische Konkurrenten der Ennahdha-Partei erhärteten den Verdacht. Am22. August 2013 griffen Milizionäre aus Le Kram Ouest eine Bäckerei imStadtviertel El Manar in Tunis an, dessen Besitzer aktiver Unterstützer derPartei Nidaa Tounes war. Ein Mitschnitt der Überwachungskamera zeigte,wie junge Männer den Inhaber und einen seiner Mitarbeiter bedrohten, siemit einem Besen und großen Metalltrichtern schlugen und die Backstubeverwüsteten. In einigen Fällen setzte sich dagegen der salafistische Flügelder Miliz durch, zum Beispiel als die Ortsgruppe Le Kram am 19. April 2013um 14 Uhr einen Sit-in vor dem Ennahdha Hauptquartier in Montplaisirorganisierte. Anlass war der Vorwurf an die Partei, mit Mitgliedern desalten Regimes an einem Tisch zu sitzen. Zudem stehe die Ennahdha-Parteider Adaption der Scharia im Wege und befürworte die Ermordung vonSalafisten. Da der Sit-in ohne offizielle Genehmigung durchgeführt wordenwar, wurden am 25. Mai 2013 die verantwortlichen Organisatoren und einigeder Teilnehmer verhaftet, darunter Imed Dghij, Recoba und der Milizio-när Taher Kahla [al-T. ahir Kah. la]. Alle Milizionäre wurden kurz darauffrei gelassen. Imed Dghijs Mitstreiter Recoba trat im Jahr 2013 mit Kri-tik am alten Regime wiederholt an die Öffentlichkeit. Er bezeichnete ineiner Ansprache in Sfax am 15. Juni 2013 die ehemaligen Mitglieder derRCD als Hunde, welche die von Muslimen erkämpfte Revolution bedrohten.Ausländische Interessen und Provokationen, allen voran die Regierung derUSA, seien Schuld an der Destabilisierung der politischen Lage und derökonomischen Krise in Tunesien. Sie hätten sich mit den Mitgliedern derRCD verschworen. Die Einsicht, dass das eigene Agieren eine potenzielldestabilisierende Wirkung auf den politischen Wandel und dringend not-wendige wirtschaftliche Reformen entfaltete, wurde seinerseits nicht erlangtund auch im späteren Verlauf nicht von Mitgliedern der Miliz geäußert.Die eigene Anwendung von Gewalt wurden nicht als solche wahrgenommen.Die Milizionäre sollen, laut Dghij, nicht im Besitz von Molotowcocktailsoder ähnlichen Waffen gewesen sein. Gewalttätig seien nur die Repräsen-

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tanten des alten Regimes, wie die Partei Nidaa Tunis (Interview 49/2013).154

Milieudruck Ost und West. Die geschilderten Begebenheiten verdeutlich-ten die großen Spannungen, welche im Stadtviertel herrschten und wiegering der Widerstand der Bevölkerung aus Angst vor Sanktionen oder ausScham vor Stigmatisierung oft blieb. Sozialer Druck und forcierte Einschüch-terungsversuche führten zu regelkonformen Verhaltensweisen, selbst wenndiese diametral zur eigenen Einstellung standen. Dabei verhielten sich dieSalafisten Le Krams, unterstützt von der Miliz, als moral entrepreneurs(Becker 1973). Sie legten ihre Deutung von angemessenem Verhalten alsallgemeingültige Regel fest und stellten über diese handlungsleitenden Nor-men einen gewissen Milieudruck her. Dabei entstanden bei den BetroffenenBefürchtungen, man könne im sozialen Umfeld als schlechter Muslim geltenoder die Salafisten könnten bei der Nichtbeachtung ihrer Forderungen Ge-walt die eigene Person anwenden oder ihr Eigentum bedrohen. Tatsächlichschien es so, als würden, zumindest in Le Kram Ouest, viele der Bürger dieseNormsetzung dulden, ohne dezidiert dagegen vorzugehen. Dies ermöglichtees der Miliz und den Salafisten, sich dort kurzfristig als dominante Akteurezu platzieren. Die fehlende Freiwilligkeit und mangelnde Überzeugung fürdie Begründung dieser Normen verhinderte jedoch eine langfristige Stabili-sierung der Ordnung, so dass es gegen Ende der zweiten Entwicklungsphasezu einem Aufbegehren der Einwohner kam, wie es im weiteren Verlauf diesesKapitels noch geschildert werden wird. Dazu kam die offene Ablehnung derPropagierung salafistischer Normsetzung, welche sich unter den Einwohnernvon Le Kram Est herauskristallisierte. Allgemein blieb die politische Lagewährend dieser Phase in Le Kram Est eher ruhig. Es ließ sich keine aktiveUnterstützung der Vorgänge im Westen, aber auch noch kein gebündeltesEngagement zivilgesellschaftlicher Kräfte aus dem eigenen Stadtteil beob-achten. Polizeikräfte waren in Le Kram Est gegenwärtig, wenn auch nochauffällig zurückhalten und betont unkonfrontativ in ihrem Auftreten. Ihre

154Al-Mutawassat TV, Salah Atiya im Kamingespräch mit Imed Dghij, ausgestrahlt am26.03.2013, URL: https://youtu.be/lUX0ydp7g_8, Zugriff am 05.04.2019.

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6 Die lokale Aushandlung von Politik, Kultur und Identität, Le Kram 2011–2014

Anwesenheit als Ordnungshüter im öffentlichen Raum wurde, anders als inLe Kram Ouest, akzeptiert und begrüßt (Interview 29/2013). Der allgemeineTenor lautete, dass man sich gegen die Einflussnahme gewaltbereiter Akteureaus dem Westteil des Viertels verwehrte. Bereits vorhandene Einrichtungen,wie die Kultur- und Jugendeinrichtungen führten ihre jahrelang etabliertenKulturförderprogramme fort, ohne jedoch mit neuen Botschaften an dieÖffentlichkeit zu treten. Erst während der dritten Beobachtungsphase wurdeein Umschwung in ihrer Arbeit erkennbar. Er wurde in neuen Koopera-tionen und der Verknüpfung von Religion, Kultur und Identität sichtbar,die sich bewusst gegen die Bedrohung extremistischer Ideologie richteten.Diese Kooperationen waren sowohl der Anstoß als auch eine Folge der Zu-rückdrängung von Miliz und Salafisten aus dem öffentlichen Raum von LeKram.

6.2.3 Info Islam Tunisia

Nicht alle dem salafistischen Spektrum zuzuordnenden Personen im Viertelfrequentierten die Sayyida Khadija Moschee oder wurden von den Einwoh-nern Le Krams Ests als direkte Bedrohung der Gesellschaft aufgefasst. DerSalafismus war kein Phänomen, welches ausschließlich dem Westen Le Kramszuzuordnen war. Zu den salafistischen Aktivitäten in den tunesischen Mo-scheen kamen nach der Revolution in ganz Tunesien religiöse Einrichtungen,wie das Dawahzentrum Info Islam Tunisia in Le Kram Est, hinzu. Sie stelltenein neues Phänomen islamischer Artikulation in Tunesien dar. Während sichdie Sayyida Khadija Moschee im Westen Le Krams offen gegen den tunesi-schen Staat positionierte, stand das Zentrum Info Islam Tunisia in Le KramEst zunächst allgemein für Konversion von Nichtmuslimen aller Altersklassenin Tunesien. Es war das erklärte Ziel der Einrichtung, Nichtmuslime „für denIslam zu entzünden“ und sie zum Übertritt zum Islam zu bekehren. Nicht-muslime sollten mit der „Weisheit und den guten Lehren“ vertraut gemachtwerden. Dieses Vorgehen sollte gleichzeitig die eventuell vorhandenen Zweifelpotentieller Konvertiten zum Islam ausräumen und das falsche Verständnisüber Islam und Muslime berichtigen (Interview 41/2013 und 28/2014). Ent-schied sich eine Person zum Islam zu konvertieren, bot das Zentrum Terminean und vergab im Anschluss daran Zertifikate an die Konvertiten. Bereitskonvertierte Muslime sollten dort außerdem die Möglichkeit erhalten, sichin ihrem Verständnis von Islam weiterzubilden und den Glauben zu festigen(El-Dameer 2014). Gleichzeitig leistete Info Islam Tunisia diskrete Aufklä-

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6.2 Phase Zwei: Lokaler Widerstand gegen den Staat 2012–2013

rungsarbeit unter den tunesischen Muslimen, welche zum richtigen Glaubenzurückgeführt werden sollten. Dahinter stand die Überzeugung, ein tiefgrei-fender Wandel der Gesellschaft könne nur bottom-up durch die individuelleAufklärung über den Islam erfolgen. Diese Agitation erfolgte jedoch sehrsubtil und eher außerhalb der Grenzen des Viertels, weshalb sie nicht als Ein-flussnahme auf die eigene Religiosität oder die normative Ordnung erkanntbeziehungsweise gewertet wurde. Das Zentrum nahm für sich in Anspruch,bereits vor der Revolution Nichtarabern oder allgemein Fremden inoffiziellden Islam näher gebracht zu haben (Interview 41/2013).155 Die Salafisten LeKrams erhielten über die Missionsarbeit des Islamischen Zentrums diskreteRückendeckung für ihre eigene Missionstätigkeit, da Info Islam Tunisia alsgeachtete und respektierte Einrichtung des Viertels eine positive Grundhal-tung gegenüber den Anliegen der Salafisten erzeugte. Am 17. Juli 2012 alsrechtsgültig eingetragene Organisation gegründet, befand sich das Zentrumin der Rue Jibran Khalil Jibran 21 in Le Kram Salambô und wurde durchSpenden finanziert.156 Für die erste Kontaktaufnahme bot das Zentrumunterschiedliche Wege an, um den möglichst barrierearmen Zugang für alleInteressierten zu ermöglichen. Neben Informationsständen auf der Straßeorientierte sich die Marketingstrategie deshalb an der Mediennutzung dergewünschten Zielgruppe, den Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Onlinebestand die Möglichkeit, über soziale Medien wie Twitter (@InfoIslamTN),

Facebook (info.islam.tn) und ÐC��C K.�

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Ì'@ , ara-bisch al-jamciyya al-tunisiyya li-l-tacrif bi-l-islam, oder den YouTube KanalInfo Islam Tunisia mit dem Dawahzentrum in Kontakt zu treten. Über dieOnline Musik und Podcast Streaming Plattform Soundcloud verbreitetedas Zentrum unter dem Namen info-islam.tn seine Botschaften zusätzlich.

155Sie verwenden im Arabischen das Wort cajam. Der Begriff muss mit Nichtaraberübersetzt werden und bezeichnet eine nationalstaatliche, kulturelle oder religiöseAbgrenzung, wie sie beispielsweise die Hellenen von den Barbaren vorgenommenhaben.

156Das Spendenkonto mit der Nummer Tn59 25.000.000.0000120541.96 bei der BanqueZitouna wurde auf allen Flyern sowie auf der Homepage beworben (siehe Abbildung6.11 auf Seite 248).

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6 Die lokale Aushandlung von Politik, Kultur und Identität, Le Kram 2011–2014

Persönlich erreichten Interessierte die Mitarbeitenden über die Emailadressedes Dawahzentrums157 oder telefonisch.158 Die Homepage war bis in dasJahr 2016 aufrufbar.159 Zusätzlich verwies das Zentrum auf andere An-laufstellen bei Fragen und Themen rund um den Islam, welche schnell,anonym und unkompliziert zur Verfügung standen, darunter die Chatplatt-form eDialogue.160 Während der Öffnungszeiten empfingen Ansprechpartnerdes Zentrums die Besucher persönlich vor Ort. Die Infrastruktur und derZugang zu den öffentlichen Verkehrsmitteln in Le Kram Est erleichtertenden Zugang und die Anreise. Im Eingangsbereich des Gebäudes hingenInformationstafeln und Plakate zu aktuellen Veranstaltungen, Seminarenund Kongressen. Als offenes Haus konzipiert fanden Besucher dort eine all-gemein zugängliche Bibliothek mit kostenlosen Flyern und Broschüren sowieBüchern zum käuflichen Erwerb vor. Ansonsten standen Informationsständeund weitere Räumlichkeiten für Gespräche, Seminare oder das Gebet zurVerfügung. Die Organisation war, anders als die lose Gruppe rund um dieSayyida Khadija Moschee, in verschiedene Verwaltungseinheiten und Abtei-lungen gegliedert und in ihrer Struktur an die Erfordernisse der religiösenArbeit angepasst, wie die Abbildungen 6.10 auf Seite 245 beziehungsweisedie deutsche Übersetzung auf Abbildung 7.10 im Anhang auf Seite 361zeigen. Neben dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten und dem Schriftfüh-rer setzte sich der Vorstand aus folgenden sieben Abteilungen zusammen:Abteilung der Schwestern, Abteilung zur Gestaltung und Förderung derDawah, Abteilung für Redaktion und Übersetzung, Abteilung für Bildung,Abteilung für Verwaltung, Abteilung für Finanzen und Recht, Abteilung fürÖffentlichkeitsarbeit und Beglaubigungen.In den insgesamt sechs Zweigstellen in Nabeul, Sfax, Kairouan, Sousse, aufDjerba und in Tunis erfolgte die Informationsvermittlung an Touristen überden Islam, laut eigenen Angaben, in über 60 verschiedenen Sprachen, darun-

157Emailadresse: [email protected] +216 29 15 81 00.159URL: http://info-islam.tn beziehungsweise http://discoverislamtn.com.160URL: www.edialogue.org.

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6.2 Phase Zwei: Lokaler Widerstand gegen den Staat 2012–2013

Abbildung 6.10: Struktur Info Islam Tunisia; Quelle: http://info-islam.tn

ter Arabisch, Französisch, Englisch, Deutsch, Russisch, Polnisch, Italienischoder Spanisch (El-Dameer 2014). Im Interview mit Radio Zaytouna am12. November 2013 erklärten der damalige Präsident des Zentrums, SofienBakkai [Sufyan Bakkaı], und der Vorstand der Dawahabteilung, MohamedSabri [Muh. ammad S. abrı], der tunesischen Öffentlichkeit die Agenda und dieVorgehensweise von Info Islam Tunisia.161 Zur Taktik zählte beispielsweisedie Verwendung der von ihnen genannten zehn Sprachen für die Mission, umeinen Großteil der Touristen in Tunesien in ihrer Muttersprache erreichen zukönnen. Die wichtigste Sprache darunter war, entsprechend der Entwicklun-gen im Tourismussektor, Russisch (El-Dameer 2014). Um die Missionsarbeitflächenmäßig noch weiter auszudehnen, engagierten sich die Mitglieder in

161Interview mit Radio Zaytouna vom 12.11.2013, URL: https://soundcloud.com/info-islam-tn/interview-zaitouna, Zugriff am 20.03.2019.

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6 Die lokale Aushandlung von Politik, Kultur und Identität, Le Kram 2011–2014

der Erwachsenenbildung. Sie trainierten überwiegend junge Männer undFrauen, welche ein sinnvolles Ventil für ihren religiösen Tatendrang suchten,für die Missionstätigkeit auf der Straße. In nach Geschlechtern getrenntenSeminaren wurde ihr theologisches Verständnis geschult und ihr Wissenüber den Koran und die Sunna aufgefrischt. Die Teilnehmenden erlerntengeeignete Strategien im Umgang mit Klienten, wobei die Seminarleiter sieauf die am häufigsten gestellten Fragen vorbereiteten und mögliche Ant-worten mit Verweisen auf die entsprechenden Koranstellen vorstellten. Inder Seminarreihe im Mai 2014 von Farhat al-Kindy [Farh. at al-Kindı] undRafid al-Taiy [Rafid al-T. a cı] „How to make Da’wah to Christians“, stelltenbeide Dozenten vor, wie ein Gespräch mit Touristen initiiert werden soll-te. Zunächst empfahlen sie den Teilnehmern, einzelnen Personen auf derStraße in den Weg zu treten und das Informationsmaterial zu übergeben.Verschiedene offene Fragen eigneten sich, laut al-Kindy und al-Taiy, um dasInteresse zu wecken und den Dialog herzustellen: Entschuldigen Sie, wasdenken Sie ist der Sinn des Lebens? Folgen Sie einem bestimmten Glauben?Glauben Sie an einen Schöpfer des Universums? Auch Taktiken für schwie-rige oder unbequeme Gegenfragen der Nichtmuslime wurden vorgestellt,darunter zum Beispiel: Ich glaube schon an Gott, weshalb sollte ich dannnoch zum Islam konvertieren? Oder: Warum hat ihr Prophet Muhammadeine Sechsjährige geheiratet? Nachdem die Frage als wichtig und bedeutendangenommen wurde, sollte die GORAP-Methode angewendet werden.162

Sie sei ein geeigneter Konversationsrahmen, um das weitere Gespräch zustrukturieren und für die Mission fruchtlose Diskussionen zu vermeiden. DieMissionsarbeit wurde, zusätzlich zu den Workshops, auch in den öffentli-chen Raum getragen. Aktivisten betreuten Informationsstände an belebtenPlätzen, plakatieren Aushänge in den ortsansässigen Moscheen oder ver-teilten bedruckte Dawahtaschen, gefüllt mit Büchern und einer CD, an diePassanten. Diese Taschen wurden auf Anfrage kostenlos versandt, ebenso wiedie Plakate und Flyer. Es musste lediglich ein Unkostenbeitrag von einem

162Das Akronym GORAP steht für die schrittweise Einführung der islamischen Grundlagen,Gods existance, Oneness, Revelation, And Prophecy.

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6.2 Phase Zwei: Lokaler Widerstand gegen den Staat 2012–2013

Dinar für das Informationsmaterial in der Tasche bezahlt werden. FinanzielleUnterstützung und inhaltliche Expertise sowie Infomaterial über den Islamerhielt Info Islam Tunisia von ihrer Partnerorganisation Discover Islam Bah-rain.163 Die Aktivisten bevorzugten Orte und Einrichtungen, welche beliebteReiseziele von Touristen darstellten oder die tunesische Gesellschaft, abseitspolitischer Eliten, erreichten. Eine weitere Aufklärungskampagne bestanddarin, die Touristen zu Moscheeführungen einzuladen.164 Le Kram Est warmit seinen archäologischen Ausgrabungsstätten und Hotels mit direktemZugang zum Badestrand touristisch frequentiert. In der Selbstverortung undSelbstdarstellung orientierte sich das Dawahzentrum unter dem Motto „TheWay to Paradise – Let’s go together“ an der Arbeit weltweit agierenderMissionare. Präsent auf der Startseite der Homepage empfing Besuchereine Kollage der vier international bekannten Prediger Pierre Vogel (hintenrechts), Khalid Yasin [Khalid Yasın] (hinten links), Abdurraheem Green[cAbd al-Rah. ım] (vorne links) und Ahmed Deedat [Ah.mad Dıdat] (vornerechts) (siehe Abbildung 6.11 auf Seite 248).165

Große Aufsteller und Plakate der „Lies! Im Namen deines Herrn, der dicherschaffen hat“-Kampagne machten deutlich, in welchem ideologischen Um-

163URL: https://www.discoverislam.net/.164Moscheen sind durch das tunesische Ministerium für religiöse Angelegenheiten als reine

Gebetsstätte vorgesehen. Führungen und das Betreten durch Nichtmuslime sind vonstaatlicher Seite nicht gestattet.

165Der Konvertit Pierre Vogel (geb. 1978) ist ein einflussreicher Prediger der deutschspra-chigen Salafistenszene und steht als solcher unter der Beobachtung des deutschenVerfassungsschutzes. Seine joviale Art zu predigen und seine Präsenz in den sozialenMedien spricht vornehmlich die jüngeren Generationen von Muslimen an. Khalid Yasin(geb. 1946) wurde in Harlem, New York City, geboren. Yasin ist, wie Pierre Vogel,vom Christentum zum Islam konvertiert und weltweit als missionarischer Prediger derSalafistenszene aktiv. Abdurraheem Green (geb. 1963 in Tansania) ist ein britischerKonvertit und in der salafistischen Szene für seine Missionstätigkeit bekannt. AhmedDeedats (1918–2005) Biografie als Schriftsteller und Missionar diente der OrganisationInfo Islam Tunisia als Vorbild und Inspiration für alle angehenden Missionare. Sie lagfrei zugänglich im Zentrum aus und wurde auf der Homepage veröffentlicht.

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6 Die lokale Aushandlung von Politik, Kultur und Identität, Le Kram 2011–2014

Abbildung 6.11: Startseite Webauftritt Info Islam Tunisia; Quelle:http://info-islam.tn

feld sich das Zentrum bewegte.166 Offiziell nahm die Organisation nicht anden Aktivitäten der Miliz oder der Salafisten der Sayyida Khadija Moscheeim Viertel teil. Dennoch vermittelte Info Islam Tunisia eine islamische Ord-nungsidee, welche sich an den Normen der Scharia orientierte. Damit trugensie den von den Salafisten der Sayyida Khadija Moschee angestoßenen Dis-kurs über eine islamische Ordnung Tunesiens mit. Diese Position wurde vonden Einwohnern in Le Kram Est deshalb toleriert, da offiziell keine Dawahunter Muslimen stattfand und die staatliche Gewaltausübung im Viertelnicht infrage gestellt wurde (Interview 42/2013 und 43/2013). Dass den anden Seminaren teilnehmenden Muslimen dennoch ein salafistisches Weltbildvermittelt wurde, fiel dabei nicht ins Gewicht. Gleiches traf auf vereinzelteFamilien in Le Kram Est zu, die von ihren Nachbarn der salafistischen Szenezugerechnet wurden. Sie wurden in den Interviews wiederholt als respektierte

166Der Verein Die wahre Religion (DWR) wurde im Jahr 2005 von Ibrahim Abu-Nagie[Ibrahım Abu Najı] in Deutschland gegründet. Er verteilte in Bayern ab dem Jahr2012 massenhaft kostenlose Koranexemplare und unterhielt dort Informationsständean belebten öffentlichen Plätzen. Die salafistischen Aktivisten sprachen gezielt Nicht-muslime an, propagierten die salafistische Ideologie und warben um Spenden für ihreArbeit. Seit dem Jahr 2016 agiert die Organisation weltweit und bietet Koranüber-setzungen in über fünfzehn Ländern an. Am 15. September 2016 wurde der Vereindurch den Bundesminister des Inneren mit der Begründung aufgelöst, sie richte sichgegen die verfassungsmäßige Ordnung Deutschlands und sei ein Rekrutierungs- undSammelbecken für den Dschihad.

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6.2 Phase Zwei: Lokaler Widerstand gegen den Staat 2012–2013

Mitglieder der Gesellschaft genannt, da sie sich nicht politisch engagierten(Interview 42/2013 und 3/2014).

6.2.4 Compassion-Fatigue

Die prekäre politische Lage, die ökonomische Krise und die damit verbun-dene Arbeitslosigkeit, die Gewalt und die Korruption zählten, laut IRI,im Sommer 2012 zu den wichtigsten Problemen Tunesiens (InternationalRepublican Institute 2012, S. 25). Die religiöse Radikalisierung in Moscheenund Koranschulen, politische Morde, der Kampf gegen Terrorzellen rundum den Djebel Chaambi in der Grenzregion zu Algerien, die Zerstörungdes Kulturerbes, tunesische Dschihadisten in Syrien und die Gefahr durchRückkehrer aus IS-Gebieten warfen in der Regierung zunehmend dringendeSicherheitsfragen auf. Unter dem Eindruck wiederholter, religiös motivierterMorde und Terroranschläge, wie der Anschlag am Djebel Chaambi am 16.Juli 2014, brach der Tourismus, der wichtigste Wirtschaftszweig Tunesiens,ein und verschärfte die Krisensituation zusätzlich. Die tunesische Regierungwurde durch den religiösen Extremismus herausgefordert. Sie nutzte deshalbdie Sicherheitspolitik als Grundlage ihrer Legitimation, um ihre geschwächteStellung über die aktive und präventive Risikobekämpfung zu verfestigen.Religiöse Extremisten wurden im Rahmen der nationalen Sicherheitspolitikals potenzielle Bedrohung des Staates definiert. Salafistische Radiosender,wie NourFM, al-InsanFM oder MonastirFM, welche zum bewaffneten Kampfgegen alles Unislamische aufriefen, wurden am 21. Juli 2014 verboten undgeschlossen.167 Die tunesische Regierung reagierte mit diesem Schritt auf denbeginnenden nationalen Diskurs der kritischen Auseinandersetzung mit denbejubelten, neuen (religiösen) Freiheiten der Bürger nach der Revolution.Erste Stimmen aus den Medien forderten das entschiedene Vorgehen gegenextremistische Gruppen und die Auflösung der Revolutionschutzligen. Diebeiden Milizführer aus Le Kram Ouest, Imed Dghij und Recoba, standen indieser Situation vorübergehend unter dem Verdacht des Innenministeriums,

167„Sicherheitspolitik betreibt, wer die Bedrohung definiert“ (vgl. Daase 1993, S. 43).

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6 Die lokale Aushandlung von Politik, Kultur und Identität, Le Kram 2011–2014

an der Planung und Ausführung des Mordes des Oppositionspolitikers Cho-kri Belaid beteiligt gewesen zu sein und gerieten während der polizeilichenErmittlungen unter den wachsenden Druck der tunesischen Öffentlichkeit.In einer am 3. März 2012 auf al-Jazeera Mubasher live übertragenen Presse-konferenz im Hauptquartier in Le Kram Ouest beschuldigte Dghij schließlichden nur weniger Tage darauf zum tunesischen Innenminister ernanntenRichter Lotfi Ben Jeddou [Lut.fı Bin Jaddu] der Verschwörung gegen ihn undbeteuerte seine eigene Unschuld in der Sache (Business News 2013).168 Dienationalen Forderungen nach der Auflösung der LNPR seien haltlos. DieRevolutionsschutzligen seien aus der tunesischen Revolution heraus entstan-den und allein dadurch legitim. Deshalb sei eine staatliche Genehmigungder Organisation nicht notwendig. Vielmehr plane er, auch im Ausland,zuerst in Katar, Büros der LNPR zu eröffnen.169 Gleichzeitig nutzte Dg-hij die Liveübertragung als Podium, um die zeitgleich in Ksar Helal imGouvernorat Monastir stattfindende Versammlung der Partei Nidaa Tounesverbal anzugreifen. Dghij stellte die Integrität Beji Caid Essebsis infrage undbeschuldigte die Partei Nidaa Tounes der Medienpropaganda. Es nähmen,anders als von Essebsi verbreitet, keine 7.000 Personen an der Veranstaltungteil, sondern maximal 1.500. Danach rief Dghij öffentlich dazu auf, die StadtKsar Helal niederzubrennen. Wenige Tage später erhob eine Gruppe vonAnwälten Anklage gegen Dghij wegen des Aufrufs zur Gewalt, woraufhin derUntersuchungsrichter ein Reiseverbot für Imed Dghij verhängte. Der AnwaltHichem Ben Mami erhob zudem Anklage gegen den katarischen Fernsehsen-der al-Jazeera Mubasher, da dieser die Rede Dghijs unzensiert ausgestrahlthatte. Als Reaktion auf diesen nationalen Eklat begannen einzelne EinwohnerLe Krams, allen voran Personen der älteren Generationen, Kritik an der Miliz

168Der Richter Ben Jeddou wurde nach dem Rücktritt des Ministerpräsidenten HamadiJebali, unter dessen Nachfolger Ali Larayedh zum tunesischen Innenministers ernannt.Diese Amt bekleidete er vom 14. März 2013 bis zum 6. Februar 2015.

169Im bereits genannten Interview mit dem al-Mutawassat TV nannte Dghij bestehendeAuslandsgruppen der LNPR in Deutschland, Frankreich, Holland und Kanada. Diesetraten jedoch medial nicht in Erscheinung.

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6.2 Phase Zwei: Lokaler Widerstand gegen den Staat 2012–2013

und den verschiedenen salafistischen Strömungen in Le Kram zu äußern. Siehießen deren religiöses Engagement zwar prinzipiell gut, mahnten jedoch einbedachteres Herangehen an dringlichere, wirtschaftliche Problem an und ver-urteilten den Einsatz von Gewalt und die Ignoranz gegenüber der geltendenGesetzgebung. Sie betonten im Interview, die Frustration und Hilflosigkeitder Jugend gegenüber den schwierigen Berufsaussichten verstehen zu können,welche als Hauptgrund für politische und religiöse Radikalisierung angeführtwurden. Die enge Kooperation der Miliz mit den Aktivisten der SayyidaKhadija Moschee und das sich entfaltende Aggressionspotenzial sei bedenk-lich und gefährlich und mehr als ein Jahr nach der Revolution nicht mehrangebracht (Interviews 44/2013 und 45/2013 und 46/2013 und 48/2013 und8/2014). In diesen Interviews zeigte sich zum ersten Mal auch in Le KramOuest ein Überdruss gegenüber den gewalttätigen Auseinandersetzungenmit staatlichen Vertretern. In den Gesprächen räumten die Einwohner LeKram Ouests ein, dass der Handlungsbedarf nichtstaatlicher Akteure gegenstaatliche Übergriffe nicht mehr gegeben sei. Das graduelle Erstarken derVerfassungsinstitutionen bot über „verbindliche Normen und formalisierteEntscheidungsarenen erstmals wieder ein Mindestmaß an reziproker Erwar-tungssicherheit. [...] Die Gewinne der Regelbeachtung beginnen nun wiederdie Prämien der Regelverletzungen zu überschreiten“ (Merkel et al. 1996).170

Die Miliz war bis dato für ihre Erwartungsverlässlichkeit, die öffentlicheSicherheit im Viertel herzustellen, unter den Befragten geschätzt gewesen.Da die Gewalt der Miliz gegen die Vertreter des Staates und nicht gegendie Einwohner des Viertels selbst gerichtet blieb, wurde die Gewaltsituationin Le Kram Ouest von den Einwohnern seit der Revolution als eher sicherempfunden (Interview 48/2013 und 8/2014). Die Legitimität der Anwendungphysischer Gewalt gegen staatliche Vertreter zur Durchsetzung der Sicherheitim Viertel wurde gegen Ende des Jahres 2013 immer häufiger hinterfragt.Der sich neu organisierende, tunesische Staat wurde mit dem Fortschrei-ten des Transitionsprozesses als deutlich verlässlicher empfunden und die

170Sekundärzitat zu dem unveröffentlichten Manuskript von Douglass North (North 1992,S. 2).

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staatliche Ordnung als legitim beschrieben.171 Dies bedeutet, dass sich imbeschriebenen Zeitverlauf der Ordnungswert der Ordnung erhöht hat unddamit die Penetranz der Legitimation erweitert wurde. Die Fragwürdigkeitder neuen staatlichen Ordnung wandelte sich im allgemeinen Bewusstsein derEinwohner zur Selbstverständlichkeit (vgl. Ingold & Paul 2014, S. 252 f.).172

Die Aktionen der Miliz im Lokalen schien den Einwohnern dagegen mehrUnsicherheit als Sicherheit zu generieren, wenn sie die akzeptierte Ordnunginfrage stellten. Der Zuspruch und die Unterstützung für die wiederholtenZusammenstöße der Miliz mit der Polizei ließ folglich nach. Die andauerndeUnruhe im Viertel löste Gefühle der Erschöpfung aus. Die Hoffnung aufRuhe und Frieden und das Sehnen nach „Normalität“, wie sie subjektiv fürdie Wohngebiete jenseits von Le Kram Ouest wahrgenommen wurde, ließ dievorbehaltlose Unterstützung und Zustimmung weiter Teile der Bevölkerungfür das Agieren der Miliz langsam zurückgehen (Interview 44/2013 und45/2013 und 7/2014).173 Die Regierung wurde als legitim betrachtet. Die

171Ein Beispiel der staatlichen Neuorganisation und der Durchdringung der tunesischenGesellschaft kann in der Durchführung der Volkszählung im Jahr 2014 gesehen werden.Diese Erhebung bot dem Staat eine aktuelle Datengrundlage für anstehende politischeEntscheidungen. Ein Aspekt des staatlichen Eingreifens in das bestehende Systemwar beispielsweise die Änderung des Schulsystems, unter anderem in der Regelungunterrichtsfreier Zeiten. Auch der Prozess der Transitional Justice zur Aufarbeitungder Verbrechen während der 50 Jahre autokratischer Herrschaft schritt langsam voran.

172Die Erkenntnisse zur basal-pragmatischen Legitimität von Ingold und Paul stammenaus der Forschung im Bereich Legitimität und politische Herrschaft in Autokratien.

173Diese Art der abnehmenden Motivation und des sinkenden Engagements für einegemeinsame Sache beschreibt die Ethnologin Kim Gutschow in ihrer Studie „Beinga Buddhist Nun. The Struggle for Enlightenment in the Himalayas“ mit dem derPsychoanalyse entnommenen Begriff compassion-fatigue (Gutschow 2004). Der Begriffsteht für das überwiegend in medizinischen Berufen problematische Mitgefühlserschöp-fungssyndrom der Ärzte und des Pflegepersonals. Compassion-fatigue beschreibt einenZustand, in welchem der andauernde Kontakt zu Personen mit traumatischen Erfah-rungen zu einem schrittweisen Nachlassen des Mitgefühls für das Leid des anderenbei gleichzeitiger eigener Unruhe oder Hoffnungslosigkeit führte. Gutschow verwendetden Begriff in Anlehnung daran für die nachlassende Hilfs- und Spendenbereitschaftder Dorfbewohner für die rituelle Ausgaben des lokalen Klosters. Dieses stellte immer

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Miliz sei lediglich dafür zuständig, einzelne korrupte Politiker zu bekämp-fen. Sich gegen das gesamte System zu richten, sei kontraproduktiv undnicht mehr notwendig. Der Widerstand gegen die Regierung und andereVertreter des Staates wurde nicht mehr als zwingende Voraussetzung für dieVervollständigung der Revolution wahrgenommen. Die Einwohner Le Kramswaren nicht mehr uneingeschränkt bereit, die Sicherheit und die Ordnungim Viertel für die gewalttätigen Aktionen der Miliz zu riskieren. Dies wurdeauch in der Nutzung des öffentlichen Raums deutlich. Auf der Hauptstraßevon Le Kram Ouest waren unter der Präsenz der Miliz und den Salafistendie Graffitiwände nicht durch die üblichen Marktstände der Händler verstelltworden. Diese Händler kehrten mit Nachdruck zurück und verkauften dortihre Waren. Im späteren Verlauf gingen sie sogar so weit, vor dem GraffitiDhikr Allah, welches auf der Abbildung 6.7 auf Seite 226 zu sehen ist, einenkleinen Kiosk zu errichten. Die anderen Botschaften der Salafisten wurdenzwar nicht überstrichen, der Umgang mit Ihnen änderte sich aber deutlich.Auf der Abbildung 6.12 auf Seite 254 ist zu sehen, dass neben dem beschrie-benen Kiosk eine alte Matratze und Metallgestell der Warentischen gelagertwurde. Die Matratze im Schatten wurde von einem der Händler als Ruheortwährend der Arbeitszeit genutzt. Daneben liegt ein gefalteter Karton, der alsUnterlage für das Gebet vor Ort diente. Vor dem noch erhaltenen Graffiti mitdem in der Hadithsammlung Sahih al-Bukhari überlieferten Dhikr: „ZweiWörter sind leicht auf der Zunge, schwerwiegend auf der Waage [und] geliebtvom Erbarmer [Gott]; Gepriesen sei Gott und Lob gebührt ihm, gepriesen seiGott, der Allmächtige“, arabisch kalimatan khafıfatan cala al-lisan thaqılatancala al-mizan h. abıbatan li-l-rah. man; subh. an allah wa bi-h. amdihi subh. an allahal-cz. ım, hängt an einer nachträglich angebrachten Kette ein Plastikbeutelmit Abfall.Während die Einwohner dem Einsatz der Milizionäre für ihre Bedürfnisseweiterhin Respekt entgegenbrachten, fand gleichzeitig unter ihnen das En-

größere Anforderungen und verlangte nach und nach höhere Ausgaben, als es dieTradition verlangte bis sich die Bevölkerung immer weniger solidarisch gegenüber denNonnen zeigte.

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Abbildung 6.12: Verfall salafistischer Graffitis in Le Kram Ouest; Quelle:Nowar

gagement kommunaler Politiker mehr Anerkennung, was zu Spannungenin der Bevölkerung führte. Auch das Personal der Kommune selbst war zudiesem Zeitpunkt in sich gespalten in Unterstützer der SonderdelegiertenEl Mays auf der einen Seite und solche, welche ihr Parteilichkeit vorwarfen.Die Hochschullehrerin und Sonderdelegierte Alia El May musste sich derAufgabe stellen, in der politischen Komplexität und Unsicherheit des sozialschwachen Viertels erste Schritte in Richtung Instandsetzung und Wieder-belebung zu unternehmen. Im September 2013 begann die Stadtverwaltungden Kreisverkehr in der Avenue Ferhat Hached zu sanieren, der währendgewalttätiger Auseinandersetzungen beschädigt worden war. Auch arbeitetedie Gemeinde an Entwicklungsplänen im Bereich Wohnungswesen und ander Rückgabe von enteignetem Land an die rechtmäßigen Besitzer. Die tech-nische Direktorin der Gemeinde Le Kram, Thouraya Bouassida [ThurayyaBucas.s.ıda], bemängelte in einem Zeitungsinterview, dass Machtmissbrauchund Klientelismus das ordnungsgemäße Funktionieren der Gemeindeverwal-tung und die Arbeit El Mays weiterhin behinderten. Als Beispiel nannte sieden Präsidenten des Bezirks Ain Zaghouan, Mouaia Ben Moustapha [Muca.yaIbn Mus.t.afa], ein Parteimitglied der Ennahdha und enger Freund Imed Dg-hijs. Er solle wiederholt den illegalen Bau auf ausgewiesenen Grünflächen

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erlaubt haben und der Sonderdelegierten Alia El May zu verstehen gegebenhaben, dass diese seine Erlaubnis vor dem Betreten seines Bezirks einholenmüsse. Er behindere die Arbeit der Gemeindeverwaltung darüber hinaus,da er seine Zustimmung zu notwendigen Abriss- und Baugenehmigungenverweigere. Auch der Vorsitzende der Arbeitskommission, Nabil Mokhtar[Nabıl Mukhtar], verlangsame das Funktionieren der Verwaltung durch seineregelmäßige Abwesenheit in den eigentlich von ihm zu leitenden, monatlichenSitzungen. Auch fertige er gesetzlich vorgeschriebene Protokolle nicht an(Lakdar 2013).174 Während die Sonderdelegation von Le Kram sich um dieNeuordnung der politischen Verwaltung bemühte, wurden Demonstrationenin Le Kram von der Polizei nachdrücklich aufgelöst. Die vom Minister fürReligiöse Angelegenheiten im Mai 2013 angekündigten Razzien in den Mo-scheen wurden umgesetzt. Die Sayyida Khadija Moschee blieb dabei hartumkämpft. Nach kurzzeitigem Triumphieren der Sicherheitskräfte wurde sieam 25. Oktober 2013 erneut von salafistischen Kräften überfallen. Der neueingesetzte und staatlich berufene Imam der Sayyida Khadija Moschee hattewenige Tage zuvor, am 22. Oktober 2013, das Totengebet am Grab einesTerroristen in Le Kram verweigert, woraufhin es zu in den folgenden Tagenzu Übergriffen auf das Gebäude kam. Die religiösen Extremisten drohtendarüber hinaus, alle anderen Imame der Moscheen im Stadtgebiet anzugrei-fen. Die tunesische Polizei schritt in die lautstarken Auseinandersetzung derSalafisten mit dem Imam während des Gebets ein und konnte die erneuteÜbernahme der Moschee verhindern. Am 1. November 2013 verhafteten dieSicherheitskräfte zudem den in Le Kram unter Verdacht eines Selbstmordat-tentates stehenden, islamischen Aktivisten, Islam Ben Trad [Islam Bin Trad].

Ali Ibn Abu Talib Moschee. Der schwindende Rückhalt der Miliz und der

174Überdauernde Netzwerke der Ben Ali-Ära sind insbesondere in ländlichen GegendenTunesiens noch stark vertreten. Sie bieten dort beispielsweise sozialen Wohnungsbauan, verpachten Gemeindeland an ihre Unterstützer oder genehmigen Stadtplanungs-projekte, welche ihnen einen finanziellen Vorteil verschaffen (vgl. International CrisisGroup 2018, S. 6)

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6 Die lokale Aushandlung von Politik, Kultur und Identität, Le Kram 2011–2014

Salafisten in der Bevölkerung veränderte das Machtgefüge Le Krams grund-legend. Unter der Dominanz der Miliz und der Salafisten bisher marginali-sierte Akteure fanden gegen Ende des Jahres 2013 unter der verändertenSicherheitslage ihre Stimme und stießen einen kritischen Diskurs über diepolitischen Entwicklungen im Viertel an. In zunächst unverbindlichen Ab-sprachen mit der Stadtverwaltung begannen verschiedene Einrichtungen,aktiven Widerstand gegen die Dominanz der Miliz und der Salafisten zuleisten. Die im täglichen Sprachgebrauch Ramallah Moschee genannte AliIbn Abu Talib Moschee, trat in Le Kram Est und Ouest für die Pluralitätreligiöser Traditionen ein. Zentral im Ostteil des Viertels gelegen zählte siezu den wenigen Moscheen Le Krams, welche sich offen gegen die salafisti-schen Tendenzen stellten und Aufklärung gegen Extremismus leisteten. DieMoschee stand für einen eher gemäßigten Islam, der Freiraum für Einflüsseder tunesischen Kultur ließ, ohne diese als im Islam unerlaubte Neuerung zuverurteilen. Sie kristallisierte sich als Anlaufstelle für Besucher der Freitags-gebete heraus, welche mit den in der Sayyida Khadija Moschee verbreitetenLehren nicht einverstanden waren. Für die Besucher der Ali Ibn Abu TalibMoschee stand die theologische Auseinandersetzung mit der tunesischenKultur im Vordergrund (Interview 3/2014 und 7/2014). Religiöse Einflüs-se aus der Golfregion wurden bestenfalls als hinderlich, im schlimmstenFall als gefährlich für die Einheit der tunesischen umma eingestuft undsollen deshalb zurückgedrängt werden. Nach diesem Prinzip wurden auchdie Kinder im angegliederten kuttab unterrichtet.175 Die religiöse Aufklä-rung und Bildung sollte die Kinder frühzeitig vor dem Abgleiten in den

175Im kuttab erhalten Kinder ab dem Kindergartenalter gegen ein geringes Entgelt, zwi-schen 25 bis 30 Tunesische Dinar pro Monat und Kind, islamischen Religionsunterricht.Sie lernen dort, wie in einer Vorschule, die arabische Schrift und erste kurze Surenauswendig zu rezitieren. Nach der Revolution eröffneten in Tunesien viele privateKoranschulen, die sich der Kontrolle durch das Ministerium für Religiöse Angele-genheiten entzogen. Sie waren räumlich nicht mehr ausschließlich in die staatlichgeführten Moscheen integriert. Erst mit der erneuten Durchsetzung der staatlichenKontrollen wurden die privaten Koranschulen entweder zwangsweise geschlossen oderdem Ministerium unterstellt.

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6.2 Phase Zwei: Lokaler Widerstand gegen den Staat 2012–2013

religiösen Extremismus schützen. Die Moscheebesucher beschrieben ihreHaltung selbst eher konservativ oder traditionell. Kinder, Jugendliche undjunge Erwachsene trugen in der Moschee zwar legere Alltags- oder Sportbe-kleidung, dominiert wurde das Bild jedoch durch Männer in Anzughosenund hellen Hemden. Häufig wurden diese mit einer darüber getragenenJebba in klassisch hellen Beigetönen kombiniert. Die Chechia, arabischshashiyya, war als traditionelle Kopfbedeckungen ebenfalls vertreten, wurdeaber zumeist von geladenen Rednern als Symbol ihrer Stellung und religiösenAutorität getragen.176 Unter diese breite Basis der Gläubigen mischten sichvereinzelt junge Männer, welche durch ihre Außendarstellung scheinbar demsalafistischen Spektrum zugehörig erschienen. Kinn- und Vollbärte, knöchel-freie Hosen oder Gebetskappen waren als Kleidungscodes und salafistischesSzenemerkmale (nicht nur) in Le Kram etabliert.177 Tatsächlich wurdensie auch von einem davon unabhängigen Personenkreis getragen. In derErwachsenenbildung arbeiteten die Verantwortlichen der Moschee mit klas-sischen Veranstaltungsformaten. Die anfängliche, demokratische Euphorieder Revolution und der damit verbundene Wille zum Aufbau eines neuenTunesiens sollte langfristig durch die religiöse Erziehung stabilisiert undproaktiv in gesellschaftlichem Engagement umgesetzt werden. Anders als imFall der Sayyida Khadija Moschee ließ sich in der Ramallah Moschee keinNutzungswandel zum sozialen Zentrum erkennen. Das Angebot umfassteVorträge und Predigten mit anschließenden Fragerunden für Erwachsene.In der Praxis setzte sich das Publikum hauptsächlich aus Männern allerAltersstufen zusammen. Gut besucht war im Jahr 2011 die VortragsreiheSchaich Fawzi Alcharkis [Fawzı al-Sharqı] über die Lehren des Korans an

176Eine Jebba ist eine bodenlange und oft aufwendig bestickte Tunika aus Seide, Wolleoder Baumwolle. Zur Jebba kann eine Weste getragen werden. Im Winter schütztdarüber ein Umhang aus Wolle, arabisch barnus, vor der Kälte. Die Chechia ist eine auszinoberroter Kammgarnwolle im traditionellen Handwerk gestrickte Kopfbedeckungtunesischer Männer.

177Der Schnitt der knöchelfreien Hosen oder der von Männern getragenen Hüfttücherwird Izar, arabisch izar, genannt und steht im Kontrast zum Isbal, arabisch isbal, derFrauen, welcher die Knöchel bewusst verdeckt.

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6 Die lokale Aushandlung von Politik, Kultur und Identität, Le Kram 2011–2014

jedem Dienstag und Mittwoch nach dem Abendgebet. Später fand sichein h. ifz-Seminar zum Auswendiglernen des Koran zusammen. Nach demJahr 2011 wurde die Ennahdha-Partei zum Kooperationspartner im sozialenNetzwerk der Moschee. Gemeinsam mit der Ennahdha-Ortsgruppe Carthagelud der Imam am 24. Dezember 2011 zu einem Wettbewerb über islami-sche Kultur ein, woraufhin circa 30 junge Männer an der Veranstaltungteilnahmen. Das islamische Jahr wurde außerdem in der Moschee durch dieEinladung zum gemeinsamen tarawıh. -Gebet in den Nächten des Ramadanoder durch die Veranstaltung von Festumzügen im Stadtviertel begleitet.178

Diese Festumzüge stellten ein Novum in der religiösen Praxis dar. Prozessio-nen und Gebete im öffentlichen Raum hatte das Ben Ali-Regime im Zugeseines staatlich verordneten (Post-)Säkularismus bisher untersagt und durchpolizeiliche Interventionen verhindert. Die Gruppe um die Sayyida KhadijaMoschee lehnte diese Festumzüge ebenfalls ab, jedoch aus dem Grund, dasssie diese als unerlaubte Neuerung im Islam beurteilte. Anders als die SayyidaKhadija Moschee, feierten die Besucher der Ali Ibn Abu Talib Moschee denGeburtstag des Propheten, arabisch mawlid al-nabı. Zu diesem Anlass hieltDr. Ahmed Alabyadh [Ah.mad al-Abyad. ] am 23. Januar 2013 einen Vor-trag über den Geburtstag des Propheten. Im Anschluss an das Abendgebetfolgte eine Koranrezitation in der Moschee. Die Einladung erfolgte überAushänge in der Moschee und soziale Medien. Anlässlich des cıd al-fit.r undauf Initiative der Ali Ibn Abu Talib Moschee hin versammelte sich am 8.August 2013 eine Gruppe von Gläubigen und zog unter Führung des ImamsCharif Alqalanza [Sharıf al-Qalanza] erneut durch die Straßen im Osten undWesten des Stadtviertels. Das islamische Glaubensbekenntnis rezitierendwar ihre Prozession eine unausgesprochene Aufforderung an die männlichenEinwohner, sich ihnen anzuschließen. Anschließend versammelten sich dieTeilnehmer zum Festgebet nicht in der eigenen Moschee, sondern im ParcUrbain von Le Kram Ouest, in der unmittelbaren Nachbarschaft zur SayyidaKhadija Moschee. Die Aktion demonstrierte den sukzessiven Wandel der

178Das tarawıh. -Gebet ist ein freiwilliges Gebet, welches in den Nächten des FastenmonatsRamadan zusätzlich zu den fünf verpflichtenden Gebeten gebetet wird.

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6.2 Phase Zwei: Lokaler Widerstand gegen den Staat 2012–2013

Machtstrukturen des Viertels. Die Gläubigen nutzten ihre Körper als Medi-um der performativen Selbstdarstellung. Die Prozession durch die Straßenund das Gebet wurden: „selbstbewusst vorgeführt und theatralisch als Kom-munikationsthema installiert“ (Bette 2005). Das Eindringen in den durch dieSalafisten dominierten Raum und die demonstrative Ausübung unorthodoxerRituale sandte ein deutliches Signal an Letztere, sich zurückzuziehen. DieMoschee platzierte sich damit sichtbar als ernstzunehmende Gegnerin, ohneauf Gewalt und Zwang zurückzugreifen. Landesweit bekannte Redner, wieSheikh Arabi, wurden zu Vortragsveranstaltungen gebeten, um über Themenwie den Salafismus zu informieren und mit den anwesenden Gläubigen zudiskutieren. Sein Vortrag fand im Juni 2013 statt, zu einer Zeit, als diereligiösen Extremisten des Viertels und im ganzen Land zunehmend alsproblematisch wahrgenommen wurden. Zu Zwecken der Prävention und derAufklärung erläuterte Schaich Arabi [cArabı] dem Publikum die wichtigeVorbildfunktion der al-salaf al-s. alih. für die heutigen Gläubigen. Gleichzeitigversuchte er diese jedoch von der Auslegung durch die heutigen extremisti-schen Gruppen abzugrenzen, vor deren Religionspraxis er die Zuhörer warnte.Arabi versuchten unter ihnen das Bewusstsein zu wecken, ein Teil des Staatesund der tunesischen Gesellschaft zu sein und diese nicht kategorisch alsunislamisch abzulehnen. Dabei versuchte die Moschee auch diejenigen ausdem salafistischen Milieu für sich zu gewinnen, welche sich selbst eher alsunpolitisch begriffen und kein Interesse für extremistische Agitation zeigten.Im Gespräch mit den Besuchern der Moschee und anderen Einwohnern LeKrams wurde die Varianz innerhalb des salafistischen Milieus deutlich. Wäh-rend die Fremdbezeichnung meistens „Salafisten“ oder „Terroristen“ lautete,sprachen die Interviewpartner aus der salafistischen Szene von sich selbstspezifischer als Muwahhidun, arabisch muwah. h. idun.179 Anderen nanntensich selbst Wahhabiten, arabisch wahhabiyyun, oder Takfiristen, arabisch

179Der Name Muwahhidun betont als Selbstbezeichnung, selbst die Bekennenden destawh. ıd und damit die Monotheisten par excellence zu sein.

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6 Die lokale Aushandlung von Politik, Kultur und Identität, Le Kram 2011–2014

takfırun.180 Manche unter ihnen bezogen eine klare Stellung für Pluralismusund Demokratie, die meisten befürworteten ein Kalifat und eine auf derScharia beruhende Rechtsprechung als Zukunft für Tunesien. Klar wurde,dass Gewalt und politisches Engagement eher in den Kreisen rund um dieSayyida Khadija Moschee als gerechtfertigt angesehen wurde.

6.2.5 Zwischenfazit – Politische Narrative

Der „wahre“ Muslim. In Le Kram Ouest brach nach der tunesischen Revo-lution die Grenzziehung durch den tunesischen Staat weg und legte bisherdarunter verborgene Strukturen offen. Es folgte eine Ausdifferenzierung vonauf religiösen Normen basierenden Ordnungsvorstellungen. Die jeweiligenIdeen ihrer konkreten Umsetzung wurden zunehmend vielfältiger in derÖffentlichkeit verhandelt. In die neu entstandenen und teils unkontrolliertenFreiheiten hinein organisierten sich lokale Akteure, wie die Männer der Revo-lution von Le Kram. Gemeinsam mit gleichgesinnten Verbündeten aus demsalafistischen Spektrum begannen sie, symbolische Politik zu artikulierenund die Grenzen der öffentlichen Ordnung mit der Stadtteilgesellschaft neuzu verhandeln. Salafisten und Islamisten verbreiteten ihre Forderungen nacheinem auf religiösen Normen basierenden Kalifatsstaat oder nach dem Auf-bau eines säkularen Staates auf der Grundlage einer gerechten islamischenOrdnung, arabisch niz. am al-s. alih. . Im Zuge dessen beschränkten sie durchihre Präsenz den Zugang zu verschiedenen Orten im Viertel auf ausgewähltePersonengruppen. Sie standen nur Personen offen, welche sich den von ihnengeforderten Verhaltensregeln beugten. Profane öffentliche Räume, wie dieStrandpromenade, wurden von ihnen religiös aufgeladen und mit normativenZwängen belegt. Unter dem Eindruck der fortschreitenden Transitionsprozes-se auf der nationalen Ebene verlor die Miliz schließlich wichtige Eckpfeiler

180Wahhabiten berufen sich darauf, Anhänger der Lehren Muhammad Ibn Abd al-Wahhabs[Muh. ammad Ibn cAbd al-Wahhab] (1702/03–1792) zu sein, auf welchen die hanbaliti-sche Rechtsschule des sunnitischen Islam basiert. Takfiristen grenzen sich von anderenMuslimen und Nichtmuslimen ab, indem sie diese als Ungläubige bezeichnen.

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6.2 Phase Zwei: Lokaler Widerstand gegen den Staat 2012–2013

ihrer Daseinsbegründung und büßte an Legitimität unter den BewohnernLe Kram Ouests ein. Der Ordnungswert der Ordnung wurde von Letzterennicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt und die Prinzipien der Verfassungauch im Westen Le Krams als höchste Norm befürwortet. Mit den Umstruk-turierungsmaßnahmen der Regierung verlor sich schrittweise das subjektiveGefühl der Einwohner Le Krams, dass der Ausgang der Revolution durch dieweiterhin aktiven Eliten der Ben Ali-Ära bedroht sei, auch wenn die man-gelnde Sicherstellung der materiellen Versorgung der Bürger ein andauernderFaktor der Unzufriedenheit und Unruhe blieb. Die lokale Miliz war nichtmehr als Schutzmacht der Nachbarschaft gegen die Bedrohung durch staatli-che Übergriffe gefragt. Das Schwinden des gemeinsamen Feindbilds der RCDstörte zudem die interne Gruppendynamik der Miliz. Aufkeimende interneKontroversen und Konflikte bedrohten das Gemeinschaftsgefühl ihrer hete-rogen zusammengesetzten Mitglieder. Die einzelnen Milizionäre vertratenunterschiedlichste islamische Denkrichtungen, welche drohten, miteinanderin Konkurrenz zu treten. Die exklusive Festlegung auf eine konkrete religiöseund politische Ordnungsvorstellung hätte aber das Wegbrechen wichtigerUnterstützer und Mitstreiter, wie beispielsweise der Salafisten, bedeutet unddie gemeinsame Front im Viertel gefährdet. Die unbequeme Frage: „Wer istder wahre Muslim?“ drohte die innere Kohärenz der Gruppe zu untergra-ben und musste dringend in die ungefährliche Indifferenz verdrängt werden.Um das drohende Auseinanderbrechen der Gruppe abzuwenden und dieGemeinschaft trotz ihrer Heterogenität zu erhalten, musste die politischeOrdnungsvision der Miliz als Ganzes konturlos und unbestimmt bleiben. Diekonkrete Ausgestaltung des Verhältnisses von Religion, Staat und Politikwurde bei Versammlungen von Imed Dghij und seinen Mitstreitern nichtthematisiert und weiterhin der privaten Interpretation einzelner Mitgliederüberlassen (Interview 32/2013).

Der „wahre“ Tunesier. Anstatt eine geteilte politische Ordnungsidee festzule-gen und aktiv Prozesse der religiösen Neuordnung anzustoßen, verlegte sichdie Führung der Miliz schließlich darauf, den gemeinsamen politischen Feind

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6 Die lokale Aushandlung von Politik, Kultur und Identität, Le Kram 2011–2014

wieder als konkrete Bedrohung erscheinen zu lassen. Dieses Ziel erreichten sie,indem durch gezielte Propaganda, die Bedrohung von der eher abstrakten na-tionalen Ebene auf die konkret erfahrbare, lokale Ebene transportiert wurde.Die alten Eliten der Ben Ali-Ära mussten den Milizionären und allen ande-ren Einwohnern Le Krams in ihrem Alltag als Gefahr begegnen (Interview49/2013). Die Milizführung knüpfte dabei an bereits in der Stadtteilgesell-schaft vorhandene Deutungsmuster an. Seit der Revolution immer weiterverblassende historische Narrative der Rivalitäten zwischen den Bewohnernin Ost und West wurden politisch bewusst neu aufgeladen. Die BewohnerLe Krams Est verkörperten fortan einen in der unmittelbaren Nachbarschaftsichtbaren Gegner, welcher den politischen Errungenschaften der Revolutiondiametral entgegenstand. Hierbei kam der Milizführung wiederum der Mär-tyrerkult zu Gute, da alle Märtyrer aus dem Westteil des Viertels stammten.Der interne religiöse Diskurs der Milizionäre über die konkrete Ausgestaltungder islamischen Ordnung für Tunesien konnte so zur politischen Leitfrage:„Wer ist der wahre Tunesier?“ verschoben werden. Der wahre Tunesier lebte,in der Propaganda der Miliz, selbstverständlich im Westen Le Krams undkämpfte aktiv als Revolutionär. Nur der wahre Tunesier habe mit demEinsatz des eigenen Lebens sein Verantwortungsbewusstsein für das Landbewiesen und sei nicht in neopatrimoniale Strukturen verwickelt. Aus diesemGrund stehe es nur den wahren Tunesiern zu, politische Entscheidungenzu treffen. Als selbsternannte „einzige Träger der Revolution“ und „Ret-ter Tunesiens“ erhoben sich die Milizionäre damit, stellvertretend für alleWestbewohner, über die Nachbarn im Osten. Letztere wurden als Vertreteroder Unterstützer des alten Systems stigmatisiert (Interview 49/2013). DieMilizionäre beanspruchten für sich, die einzige Kraft in Le Kram zu sein, dieselbstlos gegen das alte Regime gekämpft hatte und weiterhin kämpfte. Dieim Osten Le Krams stattgefundenen, zumeist friedlichen Demonstrationenwurden von ihnen heruntergespielt und abgewertet: „Sie haben nicht mituns gekämpft. Sie sind zuhause gesessen und haben abgewartet“. Oder:„Sie haben nicht wie wir mutig und unter Lebensgefahr gegen die Polizeigekämpft. Wir haben für Tunesien gesiegt“. Und: „Es ist unsere Revolution.

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6.2 Phase Zwei: Lokaler Widerstand gegen den Staat 2012–2013

Wir sind die wahren Tunesier“ (Interviews 49/2013). Die beanspruchte Rolleals Opfer des Systems und als „selbstlose Revolutionäre“ verkannte aber die„nachhaltige Entfremdung zwischen Mittelschicht und Staatsführung“ unddie Solidarisierung der Mittelschichten mit den marginalisierten Schichtenwährend der Proteste im Vorfeld der Revolution 2011 (Ouaissa & Sold 2017,S. 75). Die Aktivierung der örtlichen Jugendlichen mittels demagogischerAnsprachen sowie die gezielte Schwächung des Staates durch das Stiften vonUnruhe und das Schüren von Konflikten verschärfte diese Frontstellung. DieBewohner des Ostens seien dem alten Regime zu sehr verbunden, als dasssie mit dem Aufbau der neuen staatlichen Ordnung betraut werden könnten(Interview 49/2013). Dieser Eindruck verstärkte sich zusätzlich, da die alsungerecht empfundene Staatsgewalt in Gestalt der lokalen Polizei von derPolizeiwache im Ostteil des Viertels oder von Byrsa aus zu Einsätzen inLe Kram Ouest ausrückte. Diese Taktik der Milizführung griff jedoch nurkurzfristig und erreichte nicht alle Bürger in Le Kram Ouest. Die Miliz geriettrotz der neu ausgerichteten Propaganda immer weiter in die Defensive.Hinzu kam, dass der Erhalt der Ordnung eine der Rahmenbedingungenfür die Erinnerung ist. Wo die Ordnung zerfällt, ist auch die Erinnerunggefährdet. Wenn die Miliz die prävalente Ordnung gefährdete, untergrub siefolglich auch die eigene Machtbasis im Viertel. Gleichzeitig begannen andere,unter der Präsenz der Miliz bisher marginalisierte Akteure, gemeinsam dieDiskurse über den wahren Muslim, den wahren Islam, den wahren Tunesierund die richtige Ordnung für Tunesien aufzubrechen. Diese Akteure undder mit ihrem Auftreten verbundene Wandel der Machtstrukturen und derDiskurse im Viertel, soll im folgenden Kapitel beschrieben werden.

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6 Die lokale Aushandlung von Politik, Kultur und Identität, Le Kram 2011–2014

6.3 Phase Drei: Die Rekonstruktion derVergangenheit 2014

6.3.1 Nationaler Aufriss: Blaue Finger –Verfassungsgebung und Wahlen

Spätestens mit dem Beginn der Arbeit an der Verfassungspräambel am21. Februar 2012 setzte unter den beteiligten Parteien in Tunesien eineDiskussion über die Definition der nationalen Identität ein. Konflikte überdie Festschreibung der Normengebung in der Präambel wurden ausgetragen,da diese die tonangebenden Prinzipien darstellen, welche der späteren In-terpretation der Artikel der Verfassung dienen. Andere drängende Fragen,wie die wirtschaftliche Entwicklung oder die hohe Arbeitslosigkeit, tratenvor der Diskussion über die rechtspolitischen Standpunkte zum Verhältnisvon Staat und Religion zunächst in den Hintergrund. Neben Diskussionenüber die Schaffung eines Mächtegleichgewichts und über das Verhältnisstaatlicher Institutionen zur Zivilgesellschaft, dominierte die Frage zu derPosition des Islam im staatlichen Rechtsgefüge Tunesiens die Debatte (vgl.Rohe 2014, S. 131). Der überarbeitete Verfassungstext bewahrte schließlichdie gesellschaftlichen Errungenschaften der tunesischen Unabhängigkeit seitdem 20. März 1956. In ihr war Tunesien als ziviler Staat mit einer breitenBasis für Menschenrechte, wie die Glaubens- und Gewissensfreiheit, festge-schrieben.181 Es ist beachtlich, dass der ausgehandelte Kompromiss, trotzder Interventionen religiöser Kräfte, schariarechtliche Normen außen vorlässt. Nur in der Präambel der Verfassung findet sich die Formulierung tac lımal-islam, die Lehren des Islam (Dustur al-Jumhuriyya al-Tunisiyya 2014, S.7). Am 27. Januar 2014 trat die neue Verfassung der Tunesischen Republikin Kraft und löste die seit dem 11. Dezember 2011 geltende Übergangsver-

181In der täglichen Praxis sind diese Rechte noch nicht angekommen. Weite religiöseKreise in Tunesien widersprechen der unbeschränkten Glaubens- und Gewissensfreiheit,arabisch h. urriyyat al-d. amır und lehnen den Atheismus oder die Konversion einesMuslims ab.

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6.3 Phase Drei: Die Rekonstruktion der Vergangenheit 2014

fassung ab. Mit dem Fahrplan der neuen Verfassung im Gepäck bereitetesich Tunesien im Jahr 2014 auf die ersten demokratischen Parlaments- undPräsidentschaftswahlen seiner Geschichte vor. Am 5. März 2014 hob derStaatspräsident Marzouki den Ausnahmezustand auf, da die tunesischeRegierung die Erfüllung staatlicher Grundfunktionen nicht mehr als akutbedroht einstufte. Mit dem Wiedererstarken der Staatsgewalt, der Sicherungder öffentlichen Ordnung und dem aktiven Durchgreifen tunesischer Sicher-heitskräften gegenüber militanten Bewegungen setzten verstärkt Razzienin den besetzten Moscheen im ganzen Land ein. Der Kampf gegen die AlKaida Zelle Okba Ibn Nafi und die Terrororganisation Ansar al-Scharia rundum das Bergmassiv Djebel Chaambi im westlichen Zentraltunesien in derGrenzregion zu Algerien verschärfte sich weiter. Das Gebiet wurde im Aprilzu einer militärischen Sperrzone erklärt. Die LNPR geriet in das Visier staat-licher Sicherheitskräfte und verlor landesweit an Boden. Am 26. Mai 2014beschloss die Chambre civile 21 du tribunale de première instance de Tunisdie Auflösung der nationalen Revolutionsschutzliga und aller ihrer lokalenSektionen sowie die Liquidation ihres Vermögens. Der anschließende Versucheiner Parteigründung durch die LNPR scheiterte. Einige lokale Ableger derLNPR, wie die Männer der Revolution von Le Kram, bestanden jedochinoffiziell fort und blieben weiterhin Ansprechpartner für die Einwohner inihrer Umgebung. Wirtschaft, Sicherheit und Stabilität wurden erst mit demWahlkampf im Jahr 2014 dominante Themen der nationalen Debatte. Ausden Parlamentswahlen am 26. Oktober 2014 ging die Partei Nidaa Tounesschließlich als stärkste Kraft hervor. Mit den Wahlen ging außerdem dieRegierungsgewalt von der Technokratenregierung auf eine demokratischgewählte Regierung über. Stolz präsentierten viele Tunesier beim Verlas-sen der Wahllokale ihre mit wasserfester Tinte markierten Zeigefinger dennoch wartenden Schlangen und ließen sich damit fotografieren. Die blaueFarbe sollte möglichen Wahlbetrug durch mehrfachen Wahlgang verhindernund wurde 2014 zum Symbol politischer Freiheit in Tunesien. Ein Berichtdes Pew Research Centers basierend auf der Studie „Spring 2014 GlobalAttitudes Survey“ (Pew Research Center 2014a) zeigte, dass die tunesische

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6 Die lokale Aushandlung von Politik, Kultur und Identität, Le Kram 2011–2014

Bevölkerung im Vorfeld der Wahlen eine starke und durchsetzungsfähigeFührung anstatt einer demokratischen Regierung vorgezogen hätte (vgl.Pew Research Center 2014b, S. 2). Im Jahr 2012 hatten sich noch 61 %der befragten Tunesier für eine demokratische Form der Regierung ausge-sprochen, 2014 waren es nur noch 38 % (vgl. Pew Research Center 2014a,Frage ET1). Zudem stellte sich dar, dass eher die älteren als die jüngerenTunesier eine Demokratie bevorzugten (vgl. Pew Research Center 2014a,Frage 19). Weiter wurde eine starke Wirtschaft einer guten Demokratievorgezogen (vgl. Pew Research Center 2014a, Frage ET2). Die Wirtschaft-seliten blieben tatsächlich unangetastet und spiegelten in ihren Strukturendas alte Regime wider. Nach den Präsidentschaftswahlen am 23. November2014 nahm am 6. Februar 2015 schließlich das neue Kabinett unter dem par-teilosen früheren Innenminister Tunesiens, Habib Essid [al-H. abıb al-S. ayd],seine Arbeit auf. Die internationalen Reaktionen darauf fielen äußerst diversaus. Während der damalige US-Präsident, Barak Obama, die Wahlen alseine Inspiration für die arabische Welt lobte (Obama 2014), kritisierten diebritische Wochenzeitung The Economist und die britische Tageszeitung TheGuardian den Sieg der alten Eliten und autoritären Strukturen durch diePartei Nidaa Tounes (Marks 2014, The Economist 2014). Sie stelle eineGefahr für die weitere Regierungsfähigkeit Tunesiens dar. Der FreedomHouse Länderbericht „Freedom in the World 2015“ stufte Tunesien aufgrundseiner unter der konsensbasierten Übergangsregierung verabschiedeten, pro-gressiven Verfassung und der freien und fairen Wahlen von 2014 mit einemhohen Grad an Transparenz auf Platz 79 als „frei“ ein (Freedom House 2015).Die Korruption blieb jedoch ein schwerwiegendes Problem. Die Polizei undstaatliche Zulassungsstellen zeigten sich anfällig für Bestechungsversuche.Der Corruption Perceptions Index 2015 von Transparency Internationalstufte Tunesien deshalb nur auf Platz 76 der 167 ausgewerteten Länderund Territorien ein. Das Land erreichte nur einen Score von 38 Punkten,der zudem im Vergleich zu den Vorjahren, um drei Punkte gefallen war(Transparency International 2015).182

182Die Scale reicht von 0 Punkte für highly corrupt bis 100 Punkte für very clean.

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6.3 Phase Drei: Die Rekonstruktion der Vergangenheit 2014

6.3.2 Neue Geografien der Macht

Kräftemessen mit dem Staat. Mit der Verabschiedung der Verfassung, denanstehenden Wahlen, der zunehmenden staatlichen Präsenz in Le Kram unddem Verbot der LNPR gerieten die Männer der Revolution immer weiterin Bedrängnis. Tunesische Sicherheitskräfte, welche die Miliz als zentralesRisiko für die öffentliche Sicherheit identifizierten, versuchten, das staatlicheGewaltmonopol auch im Westen des Viertels durchzusetzen. Polizisten führ-ten Razzien im Stadtviertel durch, um die lokale Miliz zu schwächen undein sicheres Umfeld zum Schutz der Bürger zu schaffen. Personenkontrollen,Razzien und Verhaftungen trugen zur Stabilisierung der Lage bei. IllegaleMarkt- und Taxistände wurden von den zuständigen Behörden aufgelöstund Kontrollen der Lizenzen durchgeführt. Die Rückkehr staatlicher Behör-den, die verstärkte Polizeipräsenz und deren Durchgreifen gegen potentielleGefährder der öffentlichen Sicherheit führten schließlich dazu, dass die Milizund die Salafisten die von ihnen besetzten Räume schrittweise freigebenmussten (Interview 1/2015). Das weitere Bestehen beider Akteure im Viertelwurde fortan nur noch bei ungewöhnlichen Ereignissen, wie Verhaftungenoder Beerdigungen von Einwohnern Le Krams, sichtbar. Beispielsweise fandam 2. März 2014 eine organisierte Großveranstaltung der Miliz statt. Beglei-tet von Unterstützern aus dem Viertel versammelten sich die Milizionäre inLe Kram Ouest und zogen gemeinsam zum sogenannten Platz der Märtyrer,dem Kreisverkehr, welcher die Hauptstraße Avenue Ferhat Hached mit derAvenue Mohamed V verbindet. Sie setzten damit eine Tradition fort, diemit dem Marsch und der Setzung des Gedenksteins am ersten Jahrestagder Revolution begonnen worden war. Skandierend gegen die UGTT, diePolizeiunion des Bezirks Tunis und das Innenministerium versammeltensie sich am Gedenkstein, um dort gemeinsam für die Märtyrer des Viertelszu beten.183 Dorthin trugen sie auf einer zwischen ihnen ausgespannten

183Plakate mit Slogans gegen die UGTT waren nicht ungewöhnlich für politische Veran-staltungen der Miliz. Die UGTT wurde von den Milizionären als verlängerter Armder Regierung betrachtet und damit als korrupt verachtet. Lediglich ihr Mitbegründerund erster Generalsekretär, Ferhat Hached, wurde jährlich an seinem Todestag am 5.

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6 Die lokale Aushandlung von Politik, Kultur und Identität, Le Kram 2011–2014

tunesischen Flagge einen großen Blumenkranz, welchen sie feierlich auf demGedenkstein ablegten. In pathetischer Stimmung hielten sie ein Schild (inder Form eines Franzosenschilds des 13. und 14. Jahrhunderts mit roterTingierung vor einem schwarzen Rand) über den Stein. Darauf war unterder weißen Beschriftung „Schild der Revolution von Le Kram Ouest Februar2014“ das tunesische Wappen abgebildet. Ein Plakat der gleichen Form undFarbgebung wurde zusätzlich auf einer Aussparung auf dem Baumstumpfangebracht, welcher den Gedenkstein trug. Symbolträchtig wurde das Schildwährend der Prozession von einem stolzen Träger an den nächsten weiterge-geben und am Ende der Veranstaltung der bettlägrigen Mutter Imed Dghijsüberreicht. Ein Foto der Zeremonie wurde kurz darauf auf der Facebookseiteder Miliz veröffentlicht. Diese ritualisierte Versammlung diente mehrerenZwecken. Es wurde erneut den Märtyrern des Viertels gedacht, welche als„Schild der Verteidigung der Revolution“ in der Nachbarschaft gestorbenwaren. Gleichzeitig wurden die Märtyrer als Teil der zu ihrem Todeszeit-punkt noch nicht existenten Miliz dargestellt. Diese Vorstellung wurde vonImed Dghijs Stimmungsmache und seinem Legitimationsversuch getragen,wenn er verkündete, dass alle an der Revolution beteiligten Einwohner LeKrams Mitglieder der Miliz seien. Die Mitstreiter der Miliz seien, wie dieersten Märtyrer des Viertels, weiterhin bereit, sich schützend zwischen dieEinwohner und die Bedrohung durch den Staat zu stellen. Sie hätten alstapfere Freiheitskämpfer, die Gründung der Republik Tunesien ermöglichtund würden sie auch weiterhin verteidigen (Interview 49/2013). Mitgliederund Unterstützer sollten motiviert werden, weiter für die Ziele der Milizio-näre zu kämpfen.

Dezember von den Milizionären als Märtyrer geehrt. Er war im Jahr 1952 von derTerrororganisation La Main Rouge ermordet worden, welche unter dem Kommando desfranzösischen Service de documentation extérieure et de contre-espionnage (SDECE)operierte. Sein Andenken sollte die heutige UGTT aber nicht positiv dastehen lassen,weshalb Verknüpfungen zwischen der religiös inszenierten Märtyrerverehrung und derUGTT als Organisation von der Miliz eher vermieden wurden.

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Hintergrund. Was hatte dieses erneute Zurschaustellen der eigenen Kraft undStärke für die Miliz notwendig gemacht, obwohl der eigentliche Jahrestagder Revolution samt Prozession bereits einen Monat zuvor gefeiert wordenwar? Weshalb trat ihr Anführer, Imed Dghij, nicht in Erscheinung? Derbeschriebene Marsch zum Gedenkstein hatte einen politischen Hintergrund.Am 13. Dezember 2013 war Hichem Kennou [Hisham Kannu], der Leiter desExekutivbüros der LNPR und Mitglied der LNPR Ortsgruppe El Ouardia imSüden von Tunis, nach seinem verbalen Angriff auf Polizeibeamte währendeiner Straßenkontrolle, verhaftet worden. Wenige Tage vor der Prozession inLe Kram Ouest hatte die tunesische Polizei außerdem das Hauptquartier derLNPR Ortsgruppe El Ouardia geräumt, welches die dortige lokale Miliz imbesetzten Rathaus der Gemeinde eingerichtet hatte. Laut Zeitungsberichtensoll die LNPR El Ouardia Räume des besetzten Rathauses für private Ver-anstaltungen, wie Hochzeitsfeiern, vermietet haben. Bei der Razzia wurdenzudem alkoholische Getränke gefunden. Dieser Fund bestätigt das ambiva-lente Bild der Revolutionsschutzgarden. Zum einen kreierten letztere vonsich in der Öffentlichkeit das Bild frommer Muslime, zum anderen warenviele der jungen Männer für ihren Alkoholkonsum, den illegalen Handel mitSpirituosen und in der Drogenszene der Nachbarschaften bekannt. Auf dieseRäumungsaktion der Polizei in El Ouardia hin rief der Milizführer ImedDghij als Zeichen der Solidarität mit El Ouardia in den sozialen Medienzum Angriff auf alle Polizeistationen in der Region auf und legitimierte dasBlutvergießen unter den Polizisten: „à se venger, attaquer les postes de policeet faire couler le sang des agents de l’ordre“ [sic].184 Als er die Aufrufe balddarauf dementierte, verkündete er in einem Statement an die Behörden, dasser ihnen danke, mit ihrer Razzia den eingeschlafenen Geist der Revolutionin den Milizionären erneut geweckt zu haben. Da trotz seines Aufrufs zu Ge-walt und Mord kein Haftbefehl gegen ihn erlassen wurde, drohte schließlichdie Polizeiunion des Bezirks Tunis der Regierung unter Mehdi Jomaa undseinem Innenminister Lotfi Ben Jeddou mit einem zehntägigen Ultimatum

184Zunächst veröffentlichte er das Statement auf seiner privaten Facebookseite und danacheine Videobotschaft auf der Facebookseite der örtlichen Miliz.

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zur Verfolgung Imed Dghijs.185 Tatsächlich wurde Dghij anschließend am26. März 2014 in einem Straßencafé in der Nähe seines Wohnhauses in derNachbarschaft Quartier du 5 decembre in Le Kram Ouest verhaftet. DasVorgehen der Sicherheitskräfte löste massiven Widerstand der Bevölkerungvon Le Kram Ouest aus. Seine Unterstützer bezeichneten sich selbst alspolitische Widerstandskämpfer, arabisch al-muqawimun. Sie setzten sich inLe Kram Ouest mit brennenden Autoreifen als Straßenblockade gegen diePolizei zur Wehr und erklärten den Stadtteil 5 Decembre in Le Kram Ouestfür staatliche Sicherheitsorgane zum verbotenen Bezirk, französisch secteurinterdit, wie die Abbildung 6.13 auf Seite 271 zeigt.Danach protestierten sie auf dem Kasbah Platz in Tunis für die FreilassungDghijs. Den Sicherheitskräften gelang es, das Ziel des Einsatzes gegen denWiderstand der Einwohner zu erreichen. Laut Sprecher des Ministeriumsdes Inneren, Mohamed Ali Aroui, wurden während der Krawalle insgesamt22 Personen verhaftet. Schließlich organisierten Dghijs Mitstreiter als Loya-litätsbekundung der Einwohner Le Krams an ihn, den oben beschriebenenMarsch durch das Viertel. Sie demonstrierten gegen das als illegal und un-verhältnismäßig empfundene staatliche Vorgehen (Interview 9/2014). ImedDghij wurde im März 2014 zu vierzehn Monaten Haft ohne Bewährung

185Die Polizeigewerkschaft ist eines unter vielen Netzwerken, welche sich unter der autori-tären Herrschaft Ben Alis herausgebildet haben. Sie stellte, wie die weiterhin präsenten,korrupten wirtschaftlichen Seilschaften des alten Systems, einen erheblichen Störfaktorfür die erwartete Demokratisierung Tunesiens dar. Ab dem Jahr 2015 untergrub diePolizeigewerkschaft gezielt die Legislative, wenn diese beispielsweise Gesetze für mehrTransparenz erlassen oder sich für die Rechenschaftspflicht einzelner Institutioneneinsetzte. Sie drohte wiederholt, die Sicherheit im Land nicht mehr zu gewährleisten,um ihre eigenen Privilegien zu verteidigen und die inhaltliche Ausarbeitung neuerGesetze entsprechend ihrer Partikularinteressen zu erzwingen. In ihrem Ultimatumforderte sie neben der Verhaftung Dghijs die Bereitstellung von kugelsicheren Westen,zusätzlichen Fahrzeugen und anderer Ausrüstung. Zudem wollten die Polizisten, inÜbereinstimmung mit den Regelungen des landesweiten Ausnahmezustandes, ihreDienstwaffen auch außerhalb der Arbeitszeiten mit sich führen dürfen. Neben diesenForderungen waren in ihrem Ultimatum Änderungen der Arbeitszeitregelungen undder Verpflegung im Dienst betroffen.

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Abbildung 6.13: Secteur Interdit Le Kram 5 Decembre; Quelle: Facebook-seite Regel Thawra Kram

verurteilt. Als Dghij nach einer drastischen Reduktion der Haftstrafe durchdas Berufungsgericht im Mai 2014 nach bereits zwei Monaten entlassen wur-de, empfingen ihn die Einwohner Le Kram Ouests überschwänglich. EinenTag nach dem offiziellen Verbot der LNPR hängten sie am 27. Mai 2014großformatige Willkommensplakate quer über der Straße vor seinem Wohn-haus in der Nähe der Avenue Ferhat Hached auf. Ein hupender Autokorsobegleitete seinen Wagen. Alle Begleitfahrzeuge hatten Dghijs Passbild aufDIN A4 Format vergrößert an die Windschutzscheiben geklemmt. Männersaßen in den heruntergelassenen Autofenstern und schwenkten tunesischeFlaggen. Auf der Hauptstraße staute sich der Verkehr, während Dghij mitWangenkuss und Handschlag begrüßt wurde. Frauen trillerten aus Freude.Das bereits erwähnte Schild der Revolution wurde über die Köpfe der Anwe-senden geschwenkt. In einer kurzen Ansprache rief Dghij alle Anwesendenzum Aufbau Le Krams Ouests auf und erinnerte sie an die gemeinsamenZiele und Gegner. Er beendete seine Rede, wie üblich, mit dem Motto derMiliz: „Wir geben nicht auf, wir siegen oder sterben“ und ergänzte dasZitat mit: „Und wir werden siegen, mit Gottes Beistand“. Eine Gruppevon circa zehn Frauen begann anschließend gegen die Partei Nidaa Touneszu skandieren und führte eine kleine spontane Demonstration durch diebenachbarten Straßen, der sich auch einige der Männer anschlossen.

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Machtverlust. Dieses Muskelspielen der Miliz zeigte in seiner vehementenIgnoranz politischer Realitäten das tief sitzende Misstrauen gegen den Staatund seine Vertreter. Es verdeutlichte aber auch die wachsende Ohnmachtder Miliz gegenüber der staatlichen Gewaltausübung. Der Druck, den dieOrtsgruppe bisher auf die Bevölkerung ausgeübt hatte, richtete sich nungegen die Milizionäre selbst. Dghijs kurzes Statement zur Notwendigkeitder Wiedererweckung des revolutionären Geists innerhalb der Miliz deutetzudem darauf hin, dass nicht nur äußere Kräfte auf die Miliz einwirkten. DieMotivation und das Selbstbewusstsein der Milizionäre litten scheinbar unterder Kritik der tunesischen und internationalen Medien und schwächten denTatendrang innerhalb der Gruppe. In einer persönlichen Begegnung mit zweiMilizionären am 31. März 2014 auf der Avenue Ferhat Hached, nur circa 200Meter vom Hauptquartiers der Miliz entfernt, wurde deutlich, dass die proak-tiven Mitglieder der Miliz durch den Staat von der Offensive in die Defensivegedrängt wurden. Beide gehörten zu den vielen jungen Männer von Le KramOuest, die von diesem zentralen Ort im Viertel aus beiläufig das Geschehenauf der Hauptstraße beobachteten, um bei Bedarf regulierend einzugreifen.Erstmals während der fotografischen Dokumentation für diese Studie sahensich die Milizionäre zur Verteidigung ihrer Graffitiwände und damit ihrerEhre gezwungen. Zuvor hatten sie die Graffitis im Bewusstsein der eigenenPosition unkommentiert stehen lassen. Nachdem das Fotografieren der Graf-fiti in den Jahren 2012 und 2013 nur durch die allgemeine Sicherheitslagein Le Kram Ouest erschwert wurde, rief es im April 2014 Misstrauen undAblehnung unter den der Miliz gegenüber loyal eingestellten Einwohnernhervor. Nach nur wenigen Minuten des Aufenthalts auf der Avenue FerhatHached, unterbrachen zwei junge Männer die Dokumentationsarbeiten. Siekamen aus dem Café gegenüber über die Straße geschlendert, forderteneine Erklärung für das Fotografieren und betonten, die Graffiti und dasViertel seien Eigentum der Miliz. Sie wollten außerdem den angedachtenVerwendungszweck der Bilder erfahren. Es war beachtlich, dass sie die Be-denken äußerten, die Fotografien würden auf Facebook oder Twitter zurVerunglimpfung der Miliz genutzt werden. Bisher hatte die Miliz ihre Akti-

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vitäten in den sozialen Medien unkommentiert im Internet verbreitet, ohneInteresse an möglichen Negativreaktionen erkennen zu geben. Sie beschwer-ten sich, die tunesische und internationale Öffentlichkeit wolle die Milizöffentlich herabwürdigen und ihr Engagement für das Viertel in ein falschesLicht stellen. Die tunesischen Medien seien seit kurzem verstärkt im Viertelanzutreffen und die Einwohner Le Kram Ouests könnten ihren Absichtennicht trauen, erklärte der Erste. Sein Cousin neben ihm, versuchte in seinerKörperhaltung autoritativ und einschüchternd zu wirken. Ihre verstohlenen,nervösen Seitenblicke verrieten, dass ihre Position nicht mehr unbedingtenRückhalt bei allen Passanten genoss. Sie sprachen ruhig und darauf bedacht,keine weitere Aufmerksamkeit zu erregen. Ungerührt dessen rief ein ältererHerr, der die Szene verfolgt hatte, ehe er in sein wartendes Taxi einstiegherüber, dass der Schmutz – gemeint waren die Graffitis – überstrichengehöre. Die Darstellung des Forschungsprojekts schien die beiden jungenMänner schließlich zufrieden zu stellen. Die fotografische Dokumentationkonnte ohne weitere Unterbrechung fortgesetzt werden. Sie sprachen zumEnde des Gesprächs die Bitte aus, den Europäern und der Welt die Wahrheitüber die Helden der LNPR zu berichten, welche die Revolution in Tunesiengerettet hätten (Interview 10/2014). Neben dem Vorgehen der Staatsgewaltgegen die Miliz wurde im Frühjahr 2014 auch die Schwächung der Salafistenin Le Kram augenscheinlich. Sie verloren ihren zentralen Treffpunkt, alsdie Sayyida Khadija Moschee in Le Kram Ouest am 7. März 2013 durchtunesische Polizeieinheiten befreit wurde. Das hinderte die Anhänger desreligiös extremistischen Flügels der Ortsgruppe Le Kram jedoch nicht daran,den Jahrestag des 11. September 2014 zum Anlass zu nehmen, den Anschlagauf das World Trade Center in New York zu verherrlichen. Die Milizionärerühmten Osama Bin Laden und lobten die „Helden der Islamischen Nation“für ihren Einsatz. Nur wenige Wochen später, am 17. Oktober 2014, über-fielen Mitglieder der Miliz, gemeinsam mit den Salafisten, die abgelegeneFerchichi Moschee im Nordteil des Viertels und versuchten letztere in ihreGewalt zu bringen. Während des Freitaggebets stürmten sie die Kanzelder Ferchichi Moschee, griffen den Imam an und versuchten diesen unter

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Beleidigungen aus der Moschee zu vertreiben. Als der Imam sich widersetzte,kam es zu körperlichen Auseinandersetzungen zwischen den Angreifern undden Besuchern des Freitagsgebets wobei mehrere Personen leicht verletztwurden. Erst das Eingreifen der Polizeikräfte setzte der Szene ein Ende undklärte die Lage. Die Miliz und die Salafisten, welche über mehr als zweiJahre hinweg das Geschehen im Viertel entscheidend beeinflussen konnten,standen mit dem Rücken zur Wand und hatten deutlich an Aktionsradiuseingebüßt.

Kulturpolitik. Unter ihrer Präsenz zuvor marginalisierte und eher im Hinter-grund aktive zivilgesellschaftliche Akteure drängten nun vehement in denfrei werdenden öffentlichen Raum Le Krams und ließen dort neue Geografiender Macht entstehen. Sie betrachteten gewalttätige Aktionen äußerst kritischund forderten die Miliz heraus, sich mit dem Umschwung der öffentlichenMeinung zu arrangieren. Nach und nach (re-)etablierten sie zunächst in-formelle, stadtteilübergreifende Strukturen, welche dem Einfluss der Milizim Westteil Viertel entgegentraten. Es fiel auf, dass die sichtbarsten unterihnen versuchten, einen Beitrag zur Ausbildung eines neuen kulturellenBewusstseins unter den Einwohnern zu leisten. Sie zielten darauf ab, eingeschichtliches Bewusstsein als Grundlage einer kulturellen Gemeinschaft zuschaffen.186 Sie betrieben aktiv Kulturpolitik im Viertel in dem Verständnis,dass unter anderem die Kunst eine soziale Funktion einnimmt und in der Ge-sellschaft wirkt (vgl. Bahr 2012, S. 189).187 Diese Entwicklungen entsprechendem Beginn der zum Teil parallel verlaufenden, vier Entwicklungsphasen

186Staatliche Kulturpolitik zielt dagegen eher auf abstrakte Prinzipien ab. Den Kernstaatlicher Kulturpolitik bilden unter anderen die Setzung von Rahmenrichtlinien,die Denkmalpflege, die repressive Regulierung, die Selbstdarstellung des Systems,beispielsweise durch Dekoration bei Staatsakten oder Ankäufe von Kunstwerken oderdie Förderung von Institutionen, wie Kunstakademien (vgl. Beyme 1998, S. 36).

187Dieser Ansatz, Kunst zu denken, war lange umstritten. L’art pour l’art, die Autonomieder Kunst vor an sie herangetragenen Zweckbestimmungen, dominierte die allgemeineMeinung der Kunstphilosophie. Der Soziologe und Kulturwissenschaftler Max Fuchshingegen will zeigen, dass Künste nationale Identität als kollektive Identität einer

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demokratischer Konsolidierung, wie Linz und Stepan sie für die Periodenach der Verabschiedung der Verfassung beschreiben (Merkel et al. 1996,S. 12).188 Zunächst werden die zentralen Verfassungsorgane und politischenInstitutionen konsolidiert (structural consolidation). Die sich entwickelndenormative Ordnung lässt der strukturellen Konsolidierung die repräsentativeKonsolidierung (representational consolidation) von Parteien und andererInteressenverbände folgen. Zuvor oder gleichzeitig kommt es zu der ebenbeschriebenen, verhaltensmäßigen Konsolidierung (behavioural consolidati-on). Während dieser Phase beginnen die Akteure, sich nicht mehr gegendie demokratische Transition zu stellen oder gegen sie aktiv zu sein. AmEnde dieser Phase bildet sich eine Kultur der Staatsbürgerschaft heraus,die sogenannte Konsolidierung der Einstellungen (attitutional consolidati-on), welche über mehrere Generationen andauern kann. Die beschriebenenAnalysesequenzen beginnen nicht zwingend erst mit dem Abschluss desVerfassungsfindungsprozesses, sondern können bereits parallel zu diesem ver-laufen. Die zivilgesellschaftlichen Akteure in Le Kram, welche als Teil dieserattitutional consolidation gesehen werden können, stellten sich mit ihrempädagogischen Ansatz – der Bildung von Individuen zur Durchsetzung ge-sellschaftlichen Fortschritts – in die lange Tradition des Bildungsbürgertums.Dieses hatte in Le Kram bereits Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Ausbauder kulturellen Infrastruktur der Stadt begonnen. Unter der Zensur derautoritären Regime von Bourguiba und Ben Ali hatten Repressalien gegenkritische Künstler und Intellektuelle die Entfaltung der tunesischen Kul-turszene unterdrückt. Im Staatsfernsehen und über Zeitungen vermitteltenBourguiba und Ben Ali eigene Sinndeutungsangebote in Themenfeldern wiedem Patriotismus, dem Nationalismus oder der Modernisierung. Erst nachder Revolution 2011 konnten die Kulturschaffenden mit ihrem Engagementfreier an die Öffentlichkeit treten. Mehdi Jomaa, kündigte in seiner Rolle als

vorgestellten Gemeinschaft schaffen können. Sie formen das Bewusstsein der Menschenund geben Orientierung und Halt (Fuchs 2013, S. 3 f.).

188Sekundärzitat zu dem unveröffentlichten Manuskript von Linz und Stepan (Linz &Stepan 1991).

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Regierungschef bei einem Besuch des 31. Salon national de l’artisanat am 25.April 2014 im Messezentrum von Le Kram an, private Initiativen in diesemBereich fördern zu wollen. Er wurde bei diesem Besuch vom tunesischenKultusminister, Mourad Sakli [Murad al-S. aqlı], begleitet.189 Sakli stelltein seiner Rede die Schaffung von kommunalen Zentren zur Bewahrung desimmateriellen Erbes Tunesiens in Aussicht, um das traditionelle Wissen fürzukünftige Generationen zu bewahren. Die Kulturförderung des Staates bliebin Le Kram jedoch marginal, da die Kommune zu diesem Zeitpunkt keineFinanzhoheit besaß und die Haushaltslage des tunesischen Staates äußerstangespannt war.190 Der Schwerpunkt der kulturellen Initiativen ließ sich imOsten des Viertels verorten. Dennoch schlossen sich auch Einrichtungen ausdem Westen Le Krams an, welche mit ähnlichen Strategien operierten. ImJahr 2014 erstreckte sich schließlich ein loses Netzwerk zivilgesellschaftlicherAkteure, wie Jugendeinrichtungen, Sportvereine oder Kulturzentren, überdas gesamte Viertel. Ihr Schulterschluss durch gegenseitige Einladungenzu Veranstaltungen und gemeinsame Feste betonte die Wertschätzung fürdie Arbeit des jeweils anderen und machte die geleistete Arbeit für dieEinwohner des Viertels öffentlich sichtbar. Aus allen Teilen der Stadtteil-gesellschaft beteiligten sich Einzelpersonen und besetzten unterschiedlicheFunktionen in den Organisationen, darunter Eltern, Schüler, Künstler, fi-

189Der Musikwissenschaftler und Komponist Mourad Sakli (geb. 1965) bekleidete vonJanuar 2014 bis Februar 2015 das Amt des Kultusministers. Sakli war außerdemvon 2010 bis in das Jahr 2013 Direktor des jährlich stattfindenden und internationalbekannten Festival international de Carthage. Darüber hinaus ist Sakli seit dem Jahr2013 der Präsident der im Jahr 1934 gegründeten, kulturellen Vereinigung Associationde l’institut al-Rachidia de musique in Tunis.

190Die tunesische Verfassung aus dem Jahr 2014 schreibt in Kapitel VII, Absatz 131 dieDezentralisierung der Verwaltung durch die Verlagerung von Kompetenzen auf dielokale Ebene vor (Dustur al-Jumhuriyya al-Tunisiyya 2014, S. 51). Das Gesetz überdie Gebietskörperschaft, welches diese Kompetenzen der Kommune regelt, wurde erstim Frühjahr 2018 verabschiedet. Mit den ersten demokratischen Kommunalwahlen am6. Mai 2018, welche bereits viermal verschoben worden waren, nahm Tunesien einenwichtigen und lange überfälligen Schritt im Dezentralisierungsprozess und stärktegleichzeitig die politische Partizipationsmöglichkeit der Bürger.

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nanzielle Unterstützer oder Lehrkräfte. Das Kulturzentrum von Le KramEst wurde beispielsweise von der bekannten tunesischen Comedien undSchauspielerin, Wahida Dridi [Wah. ıda al-Drıdı], geleitet, welche auch demprestigeträchtigen Maison de La Culture de Bab Laassal in Tunis und demMaison de La Culture de Dahmani im Gouvernorat Le Kef als Direktorinvorstand. Im März 2018 übernahm sie außerdem die Direktion des CentreCulturel du Palais al-Abdalia in La Marsa, welches während des Kunstfes-tivals Printemps des Arts im Juni 2012 von Salafisten und der Miliz ausLe Kram überfallen worden war. Als Direktorin war sie führend beteiligtam Ausbau des Kooperationsnetzwerks in Le Kram, zum Beispiel indem siedie Arbeit des Kampfsportvereins Kram Team unterstützte. Sie initiierteauch die Zusammenarbeit des Kulturzentrums mit dem am 25. Juni 2014wiedereröffneten Kino und Theater CinéVog in der Rue Said Aboubaker 10.Letzteres erhielt finanzielle Unterstützung durch die Kamel Lazaar Stiftungund fungierte als Veranstaltungsort für darstellende Künste in der Haupt-stadt Tunis.191 Die verschiedenen zivilgesellschaftlichen Akteure suchtengezielt die Anbindung an die Kommunalpolitik und die Ministerien. Bedeu-tende Ansprechpartnerin war dabei die seit dem 26. Februar 2013 amtierendeSonderdelegierte und damit Bürgermeisterin Le Krams, Alia El May. Siewar in dieser Zeit unter anderem Vorsitzende des Organisationskomitees desbekannten Festivals Layali El Ons in Le Kram.192 Das Festival sollte vom 3.bis zum 13. August 2014 zum elften Mal stattfinden, wobei der Eintritt, trotzbegrenzter finanzieller Ressourcen frei war. Möglich wurde dies durch privateSponsoren, welche der Region zu einem besseren Image verhelfen wolltenund der Jugend Räume jenseits der allgegenwärtigen Cafés geben wollten(Interview 2/2015). Geplant war ein gemischtes Programm mit bekanntenKünstlern, darunter der tunesische Rapper Kafon [Kafun], eine „Orient“-Show unter der Leitung von Chedi Garfi [Shadı al-Qarfı], liturgischer Gesang

191URL: https://www.kamellazaarfoundation.org.192Zu ihren Unterstützern gehörte beispielsweise die Architektin und Direktorin der

technischen Verwaltung Le Krams, Thouraya Bouassida oder Nader Berber [Nadiral-Burbur], ebenfalls Architekt und Künstler aus Le Kram Salambô.

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der Gruppe Adel Amine [cAdil Amın] sowie Sufi-Gesang der Gruppe HadhretRjel Tounes [H. ad. ara Rijal Tunis] unter dem Scheich Taoufik Doghmane[Tawfıq Dughman]. Das Festival wurde allerdings auf eine gemeinsame Ent-scheidung von El May, dem Gouverneur von Tunis und dem Vorsitzendendes Nachbardistrikts Carthage hin aus Sicherheitsbedenken nur 48 Stundenvor dem geplanten Beginn kurzfristig abgesagt. Sie befürchteten öffentlicheAusschreitungen im Viertel. Ein geschlossener Raum als Veranstaltungsort,anstatt die Veranstaltung im Park von Le Kram auszurichten, konnte nichtgefunden werden. Unzufrieden mit dieser Entscheidung setzten die Komi-teemitglieder El May unter Druck. Diese trat daraufhin sichtlich betroffennicht nur als Vorsitzende des Organisationskomitees sondern auch von ihremAmt als Sonderdelegierte Le Krams zurück. Diese Episode zeigte, dass trotzder Durchsetzung des staatlichen Machtanspruchs, die Sicherheitsproblemein Le Kram nicht vollständig unter Kontrolle waren. Kommunale Vertreterstanden zudem unter dem ständigen Druck der Öffentlichkeit und waren inihrer politischen Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Gleichzeitig verdeutlichtdas Festival, dass das persönliche Engagement für kulturelle Veranstaltungenin Le Kram eine lange Tradition hat, die bereits vor der Revolution begann.Nach 2011 kam der Kulturförderung jedoch eine besondere Bedeutung inder Aushandlung gesellschaftlicher Vorstellungen von Identität zu. Diesewurde nicht nur von zivilgesellschaftlichem Engagement getragen, sondernin den engen Spielräumen, welche die Kommune und ihre Vertreter besaßen,auch von der Kommune gefördert. Neben der im Forschungszeitraum nochinformellen Zusammenarbeit und gegenseitigen Anerkennung der Vereine,schloss Wahida Dridi am 13. Oktober 2017 stellvertretend für das Kultur-zentrum einen Partnerschaftsvertrag mit der Association baie du Kram pourle développement culturel und dem für die Leitung der Organisation zu-ständigen Ministeriums für kulturelle Angelegenheiten ab. Die Vereinigungwollte kulturelle Veranstaltungen in den nördlichen Vororten von Tunisorganisieren. Im Forschungszeitraum wurde sie außerdem Vorsitzende derCommission de la propreté, de santé, et de la protection de l’environementder Bezirksregierung. Weitere Unterstützer oder im Kulturzentrum enga-

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gierte Mitglieder waren zudem Mitglieder der Bezirksregierung, darunterHichem Abassi [Hisham al-cAbbası], Parteimitglied der Nidaa Tounes undPrésident de l’arrondissement Kram Ouest, der am 12. Oktober 2015 zumSonderdelegierten ernannte, spätere Minister für Jugend und Sport, TarekFarjaoui [Tariq Farjawı], sowie seine Nachfolgerin, die am 20. Mai 2016 zurSonderdelegierten ernannte Chaima Nafti [Shayma cal-Naft.ı]. Zwischen derMiliz und den kulturpolitisch aktiven Akteuren herrschte ein ambivalentesVerhältnis. Die Jugendeinrichtungen positionierten sich gegen Gewalt undSelbstjustiz der Miliz und versuchten, den Jugendlichen eine neue Perspekti-ve zu vermitteln. Sie untergruben damit die Position der Miliz im Viertel.Dennoch lobte Dghij die Kulturprogramme. Sie hätten einen positiven Effektauf die Lebensqualität der Einwohner im Viertel und sollten von allen SeitenUnterstützung erfahren. Andere Mitglieder der Miliz sahen hingegen dievon den Kulturakteuren geförderte Volkskultur und Volksreligion aus islami-scher Sicht äußerst kritisch und standen ihr ablehnend gegenüber (Interview11/2014). Die Miliz beteiligte sich an keinem der Kulturprojekte aktiv.

Taktikwechsel der Miliz. Vor dieser neu konfigurierten Zusammensetzung vonAkteuren und der sich verändernden Ausgangslage verlegte sich Imed Dghij,stellvertretend für die Miliz, auf eine neue Taktik. Neben gewalttätigen Aus-schreitungen begann er, sich ebenfalls kommunalpolitisch zu engagieren undnutzte in einem taktischen Kalkül die demokratischen Strukturen, um dieeigene Strategie im veränderten politischen Setting doch noch durchsetzenzu können (Interview 11/2014).193 Nach den Parlamentswahlen setzte am30. Oktober 2014 der Präsidentschaftswahlkampf ein. Dghij bezog darin klarStellung für Moncef Marzouki, den Präsidentschaftskandidaten der CPR.Er rief die Milizionäre zu einer selbst organisierten und inoffiziellen, dreiwö-

193Nicht nur die Ortsgruppe Le Kram begann, sich aktiv in der Kommunalpolitik zuengagieren. Hichem Kennou, der Leiter der Ortsgruppe El Ouardia, gab im August2018 bekannt, dass die LNPR, trotz des offiziellen Verbots der Organisation durchein Gericht in Tunis, plane, mit 30 Listen bei den Parlamentswahlen anzutreten. DieLNPR habe bereits Einspruch gegen den Gerichtsbeschluss eingelegt (A. 2014).

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chigen Wahlkampagne in Le Kram Ouest auf. Für die erste Woche planteer, den Namen Marzouki allgegenwärtig im gesamten öffentlichen Raum desViertels präsent zu machen. Jede verfügbare Wand an Marktständen, Primär-und Sekundärschulen, an Haltestellen von Bussen und der Bahn wurde inseinem Auftrag mit Tags besprüht. Im gesamten Viertel tauchten Schriftzügemit Marzoukis Namen oder dem Aufruf „Wählt Marzouki“ auf. Unter undneben den offiziellen Wahlplakaten auf den von der Kommune ausgewiesenenFlächen, erinnerten sie mit Tags an die Märtyrer des Viertels. In der zweitenWoche ließ Dghij Flugblätter an Passanten auf der Straße und in den lokalenCafés verteilen. Diese informierten die Einwohner, Marzouki sei als einzigerPräsidentschaftskandidat gewillt und in der Lage, den Armen zu helfen, dieDiktatur und Unterdrückung zu beenden, die RCD an ihrer Rückkehr in diePolitik zu hindern und die Freiheit aller Bürger zu garantieren. In der drittenWoche seiner Kampagne intensivierte Dghij die Kontaktaufnahme zu denEinwohnern noch weiter. Mitglieder der Miliz zogen in Le Kram Ouest vonHaustür zu Haustür, informierten die Einwohner über Marzoukis Agendaund setzten die Nachbarschaft unter Druck, ihn zu wählen. Dghij ging dabeiso weit, dass er nach der ersten Runde der Wahl von der Partei NidaaTounes wegen Wahlpropaganda und unzulässiger Beeinflussung der Wählerangezeigt wurde und am 23. November 2014 kurzzeitig verhaftet wurde.In der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl beantragte Dghij bei derunabhängigen tunesischen Wahlbehörde Instance supérieure indépendantepour les élections (ISIE) einen Akkreditierungsausweis als offizieller Wahl-beobachter für den Kandidaten Marzouki. Der Präsident der ISIE, ChafikSarsar [Shafıq S. ars.ar], bestätigte auf Nachfrage der tunesischen Medien,Dghij habe legal einen Antrag eingereicht und sei dementsprechend demWahllokal in der Ècole primaire 5 décembre in Le Kram Ouest zugewiesenworden (Lahmidi 2014). Als Marzouki bei der Stichwahl am 21. Dezember2014 die Präsidentschaftswahl verlor und Essebsi als Sieger hervorging, kames erneut zu Ausschreitungen der offiziell nicht mehr existenten Miliz in LeKram Ouest. Demonstranten versammelten sich an Straßenkreuzungen undwarfen Steine nach der Polizei, welche unter Einsatz von Tränengas versuchte,

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die Situation unter Kontrolle zu bekommen. Imed Dghij und fünf seinerMitstreiter, darunter Recoba, wurden verhaftet und nach der Anordnungvon Untersuchungen durch die Staatsanwaltschaft frei gelassen. Dass dasGewaltpotenzial im Viertel, trotz des politischen Engagements, auch nachdem Jahr 2014 weiterhin durch Frustration und Perspektivlosigkeit gespeistwurde, zeigten auch die Ausschreitungen im Januar 2017, in welchen die De-monstranten in Le Kram die wirtschaftliche Situation in Tunesien anklagten.Imed Dghij konzentrierte in den Folgejahren sein politisches Engagement aufdie lokale Wirtschaft, Sauberkeit und Ordnung im Viertel. Er blieb dadurchweiterhin eine wichtiger Ansprechpartner der Einwohner, dem Respekt undAnerkennung entgegen gebracht wurde. Er begann, Mitstreiter in der Kom-munalpolitik zu suchen und die Karriere einiger Mitglieder der Miliz alsKommunalpolitiker zu fördern. Die schrittweise Hinwendung Imed Dghijszur Lokalpolitik überraschte, hatte die Miliz unter seiner Leitung doch zuvorMisstrauen gegen alle staatlichen Institutionen und politischen Mechanismenin Tunesien gezeigt. Die einzige friedliche Interaktion mit den Behördenhatten verschiedene Gespräche und Vorträge im Ministerium im Jahr 2012dargestellt. Diese Kooperation staatlicher Einrichtungen mit seiner Personverwundert. In einem pragmatischen Versuch, die öffentliche Ordnung in LeKram umfassend zu sichern, gestanden ihm einige staatliche Vertreter dieAnerkennung seiner inoffiziellen Autorität im Viertel zu und kontaktiertenihn als Mediator in lokalpolitischen Konflikten. Am 28. Oktober 2017 statte-te beispielsweise der damalige Gouverneur von Tunis, Omar Mansour [cUmarMans.ur], dem Viertel Le Kram einen Besuch ab.194 Mansour versuchte imdirekten Gespräch mit den Bürgern, konkrete Lösungen für lokale Probleme,wie die Müllentsorgung, zu erarbeiten. Prominent vertreten war bei diesemBesuch Imed Dghij, der den Gouverneur beratend durch das Viertel beglei-tete. Während der von Dghij geführten Tour durch Le Kram wurden die

194Omar Mansour (geb. 1965) war von 2008 bis ins Jahr 2014 Staatsanwalt am Tribunalde première instance de Tunis 1 und bis in das Jahr 2015 Kammerpräsident amKassationsgericht in Tunis. Im Januar 2016 wurde er zum Justizminister im KabinettHabib Essids und ein halbes Jahr darauf zum Gouverneur von Tunis ernannt.

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illegalen Marktstände und deren Eindämmung an unerwünschten Plätzendiskutiert und das Problem der Müllentsorgung im Viertel angesprochen.Offizielle Vertreter der Stadtverwaltung, wie beispielsweise die amtierendeDelegationsleitung, waren bei dem Termin nicht anwesend, obwohl derenausgewiesene Agenda der Sanierung und Säuberung des Viertels galt. Nur 24Stunden nach dieser Begegnung verkündete das tunesische Innenministeriumdie Neubesetzung der Gouverneursposten und löste damit mediale Spekula-tionen über mögliche kausale Zusammenhänge seiner Entlassung mit seinemTreffen mit Imed Dghij aus. Diese Begegnung zeigt, dass die Erforschungvon Dezentralisierungsprozesse immer auch die Einbindung lokaler Akteurebedarf, insbesondere dann, wenn sie formelle Institutionen ergänzen oderersetzen. Dghijs neue kommunalpolitische Taktik, welche sich im Jahr 2014abzuzeichnen begann, zahlte sich vier Jahre später bei den Kommunalwahlen2018 aus. Der kontroverse Anwalt Fathi Laayouni [Fath. ı al-cAyunı] gewanndie Wahl und wurde neuer Bürgermeister Le Krams. Der Ennahdha Politikerwar den Einwohnern als aktiver Unterstützer der Milizionäre von Le KramOuest bekannt. Nach Ende des Beobachtungszeitraums zeigte sich, dass ersich, wie die Miliz zuvor, über die staatliche Gesetzgebung hinwegsetzte,wenn es seiner Agenda entsprach. Im August 2018 verkündete er beispielswei-se der tunesischen Presse, dass er die Angestellten der Kommune Le Kramangewiesen habe, keine Anträge auf Eheschließungen zwischen muslimischenTunesierinnen und Nichtmuslimen anzuerkennen. Darüber hinaus verbot erin Le Kram die Eintragung von nicht arabischen Ehenamen. Das Rundschrei-ben, auf welches er sich dabei bezog verbot seit dem Jahr 1973 die Ehenzwischen tunesischen Musliminnen und Nichtmuslimen. Allerdings war einJahr zuvor offiziell als verfassungswidrig annulliert worden (Bellamine 2018).Diese Entwicklungen lassen vermuten, dass Dezentralisierungsprozesse in derRealität nicht der an sie herangetragenen, normativen Erwartungshaltungals Demokratisierungsmotor entsprechen müssen (DeVries 2000, Treisman2007). Kommunalwahlen zu einem Zeitpunkt, zu dem die Miliz auf demHöhepunkt ihrer Einflussmöglichkeiten im Stadtviertel war, hätten die Au-tonomiebestrebungen lokaler Akteure zusätzlich beflügeln können und die

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„governability“ des Staates weiter schwächen können. Selbst zu einem Zeit-punkt, zu dem die öffentlichen Aktionen der Miliz im Viertel rar und ihreMachtstellung rückläufig war, konnte die Wahl ihres Befürworters Laayounials Bürgermeister ihren Netzwerken erneut Gewicht verschaffen.

6.3.2.1 Maison de la culture Mustapha Agha

Erinnerungskultur und Identität. Das Maison de la culture Mustapha Agha,früher Centre culturel du Kram, war im Jahr 2014 eine bereits über Jahr-zehnte hinweg etablierte Kultur- und Bildungseinrichtung im Ostteil desViertels und dementsprechend angesehen unter den Einwohnern. In der RueAli Benhaouane gelegen, befanden sich die Räume in der ehemaligen KircheL’Église du Kram St. Joseph, welche im Jahr 1964 vom Vatikan an dietunesische Regierung übergeben worden waren. Die Einrichtung arbeiteteseit den 1970er Jahren stadtteilbezogen mit Kindern, Jugendlichen undjungen Erwachsenen. Sie bot Projekte, Workshops und Gruppenangebote fürprivate Interessenten oder in Kooperation mit den lokalen Schulen an. DasKulturzentrum realisierte beispielsweise eine lokalhistorische Ausstellungzur Schulgeschichte der Bouchoucha Primärschule seit den 1950er Jahren.Der Schwerpunkt der Wissensvermittlung lag auf der tunesischen Hoch-und Alltagskultur sowie der Stadtteilgeschichte. Das kulturelle Erbe einerverklärten Vergangenheit des Viertels hielten die Mitarbeiter als Beispieleiner idealen tunesischen Gesellschaft, die durch das ancien régime überJahrzehnte hinweg untergraben wurde, hoch. Die Bewahrung und Pflege deskulturellen Erbes sollte dem Viertel in Zukunft zu seiner alten Bedeutungzurück verhelfen. Die Erinnerung an die Vergangenheit der eigenen Nach-barschaft sollte den Einwohnern Orientierung geben und Ordnung stiften.Dabei richteten sie ihre Arbeit am (verklärten) Vorbild der Gesellschaft LeKrams früherer Jahrzehnte aus, deren Erinnerung sie unter den Einwohnernwachzuhalten versuchten (Interview 3/2014). Die Leitfrage war: „Was dürfenwir nicht vergessen?“. Sie wollten bei ihren Besuchern ein Bewusstsein fürdie reiche Kultur und Geschichte Tunesiens schaffen. Die Rückbesinnung

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6 Die lokale Aushandlung von Politik, Kultur und Identität, Le Kram 2011–2014

auf eigene Traditionen stiftete für sie die Basis der Gemeinschaft und stell-ten die Grundlage für ein Leben in Freiheit, Würde und Gerechtigkeit impostrevolutionären Tunesien dar (Interview 2/2015). Den Schlüssel zur Er-reichung dieses Ziels sahen sie in der tunesischen Kultur als Orientierungs-und Bezugsrahmen für die Ausbildung der individuellen Identität. Künstler,wie die Malerin Ibtissam Bey Dhouib [Ibtisam al-Baı D. awıb] oder die beidenMusiker Rachid Rafaoui [Rashıd al-Rafawı] und Hedi Ben Hassen [al-HadıBin al-H. asan] sowie andere aktive Mitglieder aus dem Stadtviertel undder näheren Umgebung engagierten sich, um in Le Kram eine bürgernaheKulturszene aufzubauen.195

Kulturelle Angebote und Kunstprojekte. Konkret umgesetzt wurde dieseStrategie unter anderem im Rahmen von Ausstellungen zur Geschichte desStadtviertels. Im Eingangsbereich des Kulturzentrums befand sich der Nach-bau eines traditionellen tunesischen Hauses, in dem Besucher empfangenund auf Pinnwänden über wechselnde Themen informiert wurden. Im Früh-jahr 2014 wurden dort Fotografien und Biografien tunesischer Politiker undKünstler aus Le Kram und angrenzenden Stadtvierteln, darunter ChahidHusain Bouzayan [al-Shahid H. usayn Buzayan], Taieb Mehiri [al-T. ayyibal-Mahırı], Ali Belhaouan [cAlı al-Bilhawan] oder (Monadhla) Monjia BentAbderrahman Ben Ezzedine [Munad. ala Munjiyya Bint cAbd al-Rah.manBin cIzz al-Dın], ausgestellt.196 Die Biografien und Bilder der Vergangenheit

195In Interviews wurde Ibtissam Bay Dhouib wiederholt als munashshit.a des Kulturzen-trums bezeichnet. Im tunesischen Arabisch bedeutet dieser Begriff Organisatorin fürkulturelle Veranstaltungen (Wehr & Kropfitsch 1998, S. 1275).

196Der islamische Gelehrte Chahid Husain Bouzayan (1925–1956) war Mitglied der na-tionalen Bewegung Tunesiens und engagierte sich politisch in der Destour-Partei. Erwar Mitreisender der Delegation, welche Salah Ben Youssef, den späteren GegnerBourguibas, aus Kairo nach Tunesien zurückholen sollte. Bouzayan wurde nach derUnabhängigkeit in die Verfassungsgebende Nationalversammlung gewählt und kurzdarauf von einem Anhänger der Youssefisten ermordet.Taieb Mehiri (1924–1965) war der erste Innenminister der Republik Tunesien. Wäh-rend seiner Amtszeit (1956–1965) überwachte er die Zerstörung des Sommerpalasts

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6.3 Phase Drei: Die Rekonstruktion der Vergangenheit 2014

stellten für die Besucher die Bedeutung der Persönlichkeiten für das heutigeund zukünftige Tunesien heraus. „Auch die photographischen [sic.] Bildersymbolisieren unsere Wahrnehmung der Welt und unsere Erinnerung andie Welt“ (Belting 2011, S. 214). Die Mitarbeiter riefen dazu auf, dass dieErinnerung an die Geschichte wach gehalten werden muss und formtenüber die Biografien Le Krams symbolische Identität als Ort der kulturellenPluralität und des Friedens. Dabei fiel auf, dass schwerpunktmäßig der Zeit-horizont des späten 19. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre hinein durchdas Kulturzentrum aufgearbeitet wurde. Fotografien historischer Gebäude,wie des ehemaligen Casinos an der Strandpromenade, des Palasts des Kriegs-ministers Mustapha Agha und der von ihm im Jahr 1858 gestifteten Moscheein Dawar al-Chatt, wurden gezeigt (siehe Daouar el-Chatt, Abbildung 5.1auf Seite 129). In der kleinen Ausstellung fand sich auch eine Abbildung derkatholischen Kirche Saint Augustin et Saint Fidèle du Kram, die südlich vonLe Kram in der Rue Scipion 1 in La Goulette steht.197 Der Bau der Kirchewurde im Jahr 1848 von sizilianischen Kapuzinermönchen im damaligenitalienischen Siedlungsgebiet La Petite Sicile initiiert. Sie wurde im Jahr

der Husainidendynastie in La Marsa sowie weiterer Baudenkmäler.Ali Belhaouani (1909–1958) war Widerstandskämpfer der nationalistischen BewegungTunesiens und als Jugendführer der Neo-Destour Partei führend beteiligt an derOrganisation der Straßenproteste am 9. April 1938.Monjia Bent Abderrahman Ben Ezzedine (1905–1990) trat im Jahr 1934 der tunesi-schen Destour-Partei bei, in der sie über die Jahre unterschiedliche Ämter besetzte. Siekämpfte im Umfeld des Gewerkschaftsführers Ferhat Hached für die UnabhängigkeitTunesiens und setzte sich für die Umsetzung der Frauenrechte in der tunesischenVerfassung ein.

197Die Postkarten mit den Abbildungen stammten zu großen Teilen aus der Privatsamm-lung Mohamed Hamdanes, Professor für Informations- und Kommunikationswissen-schaften am Institut für Presse und Informationswissenschaften der Universität La Ma-nouba. Er forschte privat zur Geschichte Le Krams und stand dem Kulturzentrum bera-tend zur Seite. Einen Teil seiner Sammlung veröffentlicht Hamdane auf seinem privatenBlog, URL: https://cultpatr.blogspot.com/2016/02/le-kram-la-ville-et-la-plage-jadis.html?m=1, Zugriff am 04.04.2019.

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1872 fertiggestellt.198 Bis 1962 fand dort jährlich zu Mariä Himmelfahrt eineWallfahrt mit Messe und anschließender, von Juden und Muslimen begleite-ter, Prozession zur Ehre der Jungfrau von Trapani statt. Ihre Statue wurdegemeinsam zum Hafen getragen, wo die festlich geschmückten Fischerbotegesegnet wurden. Beendet wurde die Zeremonie mit einem Feuerwerk undeinem öffentlichen Konzert. Die Bilder ließen einen Raum entstehen, deres den Besuchern ermöglichen sollte, sich mit den Traditionen des Vier-tels zu identifizieren. Eine der Initiatorinnen der Ausstellung betonte imInterview, sie wünsche sich für die Zukunft Tunesiens den gleichen unge-zwungenen und respektvollen Umgang der Religionen miteinander, wie erin der Geschichte des Viertels und angrenzenden Nachbarschaften bereitsgelebt wurde. Der öffentliche Raum könne so religiös neu besetzt werden.Die Kirche selbst sollte in den 1990er Jahren abgerissen werden, als dietunesische Regierung beschloss, das Stadtviertel La Goulette zu modernisie-ren. Der damalige italienische Präsident, Oscar Luigi Scalfaro, setzte sichwährend seines Staatsbesuchs in Tunesien jedoch für die Restaurierung derKirche ein, die daraufhin der Diözese Tunis anvertraut wurde.199 Im Jahr2018 wurde die alte Tradition der Prozession an Mariä Himmelfahrt in derKirche in La Goulette tatsächlich wiederbelebt. Es folgte eine aufgebrachteDiskussion unter den Befürwortern und Gegnern aus den angrenzendenStadtteilen, die hinterfragten, ob ein islamisches Land religiöse Feste andererReligionen zulassen sollte. Eine wichtige Rolle der Bildungsarbeit des Kul-turzentrums nahmen, neben wechselnden Ausstellungen, die verschiedenenFreizeitangebote zur Auseinandersetzung mit dem immateriellen KulturerbeTunesiens für Kinder und Erwachsene ein. Besucher lernten in Workshops,traditionelle Töpferwaren aus Keramik selbst herzustellen und diese mitMustern zu bemalen. Lamia Jendoubi [Lamya cal-Jandubı] bot für Kinderund Jugendliche einen Medienclub an, der beispielsweise am 16. März 2014

198URL: http://www.eglisecatholiquetunisie.com/les-paroisses/eglise-saint-augustin-et-saint-fidele. Zugriff am 23.03.2020.

199Der Richter und Politiker Scalfaro (1918–2012) war von 1992 bis in das Jahr 1999Präsident der italienischen Republik.

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zu einer 3-D-Filmvorführung einlud. Sabrine Ben Nacef [S. abrın Bin Nas.if]leitete im Kulturzentrum einen eigenen Tanzclub; der Literaturclub wirdvon Mounira Zakrawi [Munıra Zakrawı] geleitet, der Theaterclub von Dr.Zouheir Rais [Zuhayr Ra cıs]. Zum dritten Jahrestag der Revolution führtendie Kinder ein gemeinsam einstudiertes Theaterstück auf. Zum Anlass desTags der Arbeit am 1. Mai 2014 zeigten sie ein Theaterstück über den Wertder Arbeit. Das Programm für Kinder wurde ergänzt durch Betreuungs-angebote für Schulkinder während der Schulferien. So stand den Kindernvom 9. bis 30. März 2014 täglich am Vormittag oder späten Nachmittagein Workshop eine Veranstaltung aus den Bereichen Töpfern, musikalischeErziehung, Theater, Puppentheater oder Kino zur Auswahl. Sie sollten dieKommunikation und Interaktion der Schüler untereinander aktiv fördern.Neben Veranstaltungsformaten zu bestimmten Ereignissen, wie dem Welt-Aids-Tag am 29. November 2013 mit einem Vortrag zur Aufklärung über dasHIV-Virus oder in bestimmten Nächten der islamischen Monate Ramadanund Schaaban im Jahr 2014, organisierte das Kulturzentrum gemeinsammit dem Jugendzentrum vom 17. bis zum 22. August 2014 ein mehrtägigesBeachfestival. Solche Großveranstaltungen wurden mit Umweltschutzak-tionen verbunden, in diesem Fall einer gemeinsamen Strandreinigung undwurden bewusst über die perzipierte Grenze zwischen Ost und West hinweggemeinsam organisiert. Dieser Umweltaktivismus konnte insbesondere inden privilegierten Vierteln von Tunis beobachtet werden. Das Müllproblem,insbesondere die Umweltverschmutzung durch Plastikflaschen und -tütensowie die Müllabfuhr, war eines der Hauptgesprächsthemen in gepflegtenNachbarschaften der tunesischen Mittelschicht beziehungsweise der Ober-schicht und wurde in den sozialen Netzwerken unter dem Hashtags #zeblaoder #poubella, tunesisch-arabisch beziehungsweise tunesisch-französischfür Abfall, verbreitet. Der liberal-paternalistische Grundtenor bei dieserAktion und vielen anderen Angeboten des Zentrums lautete, dass das ge-bildete Individuum, hier jeder Einwohner Le Kram Ests, erzieherisch aufdie ungebildeten Massen, in diesem Fall auf die Einwohner Le Kram Ou-ests, einwirken müsse (vgl. Rousselin 2018, S. 24). Zu diesem Zweck gab

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es wiederholt Kooperationen mit dem Jugendzentrum in Le Kram Ouest,welches auch eine Umweltarbeitsgruppe für Jugendliche einrichtete. DieAktion richtete sich aber auch gegen die Besetzung des öffentlichen Raumsdurch die Salafisten, welche am Strand von Le Kram versucht hatten, eineeigene Strandordnung durchzusetzen (Interview 3/2014). Ein besondererProgrammpunkt des Kulturzentrums war jedes Jahr der Monat des Erbes,der am 18. April 2014 mit einem Eröffnungskonzert eingeleitet wurde. Inden folgenden vier Wochen vermittelte das Kulturzentrum seinen Besucherndie eigene Auffassung von tunesischer Kultur. Kinder zeigten auf der BühneTanzeinlagen in der traditionellen Kleidung unterschiedlicher Regionen desLandes. Ein kostümierter Umzug mit Musik und Gesang, der Stolz auf dasLand und seine Geschichte wecken sollte, fand durch das Viertel statt. Zudiesem extra geschaffenen Anlass wurden Tänze, Kostüme, Kleidung undSchmuck in Szene gesetzt. Sie übernahmen die symbolische Funktion, an dieVergangenheit zu erinnern und diese in der Gegenwart erfahrbar zu machen.Das Malen und Zeichnen kann diese gemeinsame Rekonstruktion der Vergan-genheit unterstützen. In einem Kunstprojekt mit Kindern des Stadtviertelsgestaltete das Haus der Kultur auf den Straßen Le Krams Wandbilder,wie die Abbildung 6.14 auf Seite 289 zeigt. Diese wurden gut sichtbar anHauptverkehrsadern des gesamten östlichen Stadtviertels, an Schulmauern,Kindergärten und anderen Gebäuden angebracht. Das Themenspektrumreichte von romantisierenden, ländlichen Bildern des historischen Tunesiens,über politische Themen mit nationalen Symbolen bis hin zu religiösen Moti-ven. Dargestellt wurden beispielsweise Personen in traditioneller Kleidungin Alltagssituationen der Vergangenheit. Eines der Bilder zeigte eine inden Safsari gehüllte Frau, die auf einem mit Körben bepackten Esel durcheinen Olivenhain ritt (unten rechts). In einem anderen Fall integrierten dieKinder das Nationalsymbol der tunesischen Flagge als Segel in die Darstel-lung eines kleinen Fischerboots aus Holz, wie es entlang der tunesischenKüste allgegenwärtig anzutreffen ist (oben). Das Motiv war eingebunden ineine Meeresszene, die im Hintergrund eine Sonne am Horizont zeigte. ImZusammenhang mit dem politisch aufgeladenen Motiv fiel die Überschrift

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„Wissen ist Licht“ auf, die auf den islamischen Theologen und Philosophenal-Ghazzali [Abu H. amid Muh.ammad Bin Muh.ammad al-Ghazzalı] (1058–1111), zurückgeht (vgl. al-Ghazzali 1988, S. 10). Al-Ghazzali wandte sich ineiner spirituellen Krise der islamischen Mystik zu. Diese in Tunesien undganz Nordafrika seit dem 12. Jahrhundert verbreitete Glaubensrichtunghat sich dort über die Jahrhunderte mit lokalen Traditionen vermischt undwurde so zum lokalen „Volksislam“ der Gegenwart.

Abbildung 6.14: Kunstprojekt mit Kindern in Le Kram Est; Quelle: Nowar

Demokratieförderung und Extremismusprävention als pädagogischer Auftrag.Das Verständnis des tunesischen Volksislam wurde vom KulturzentrumMustapha Agha intensiv als Gegengewicht zum religiösen Extremismusbeworben und deshalb bewusst in den Bildern der Kinder thematisiert.Die Auseinandersetzung mit dem Islam sei nach dem Säkularismus Ben

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Alis und unter dem Druck religiöser Extremisten dringen erforderlich. Dieheutigen salafistischen Tendenzen innerhalb der Gesellschaft würden dieIdentitätskrise der Tunesier zusätzlich verstärken und unnötige Konflikteschüren, welche im Alltag der Menschen und in der Nachbarschaft keineRolle spielen sollten. Die salafistische Ausrichtung des Islam böte keinespezifisch tunesischen Anhaltspunkte, keine Verwurzelung und Loyalitätzur Heimat. Sie bezöge sich auf eine entfernte Vergangenheit, die im Alltagnicht greifbar sei und keine in den Staat integrierenden Wirkung entfalte(Interview 3/2014). Häufig anzutreffen waren deshalb, nicht nur im Rahmendieses Kinderkunstprojekts, Bilder von Moscheen und Minaretten in fröh-lichen bunten Farben. Die Mondsicheln auf den Kuppeln wurden von denKindern mit dem Fisch als Schutzsymbol kombiniert dargestellt, welches imVolksglauben den bösen Blick oder Dschinne bannen soll (siehe Abbildung6.14 auf Seite 289 (unten links)). Diese Art von Abwehrzaubern, zu denenauch die Hand der Fatima oder die Hennatätowierungen der Frauen gehören,wurden von den religiösen Extremisten im Viertel als verbotener Aberglaubeabgelehnt. Anders als die politischen und religiösen Graffiti, welche in LeKram Est regelmäßig entweder durch die Kommune oder von Privatpersonenüberstrichen wurden, erhielten die Bilder der Kinder positive Resonanz vonden Passanten auf der Straße. Die Botschaft, dass es bedeutend ist, Kinderschon früh positiv und mit Freude an den Islam heranzuführen, kam an.Neben dem Koranunterricht im kuttab sei Kunstpädagogik ein geeignetesInstrument religiöser Erziehung. Die kulturelle Verwurzelung und das Ver-ständnis der eigenen Geschichte seien inhärenter Bestandteil individuellerReligiosität. Das Bewusstsein dafür könne die jüngeren Generationen unterden Einwohnern Le Krams stark und widerstandsfähig gegen extremistischeEinflüsse in Politik und Religion machen (Interview 3/2014). Eine ältereDame betrachtete die Bilder der Kinder auf der Straße und meinte dann, dieTunesier seien froh, die Diktatur hinter sich gelassen zu haben. Jetzt wärees an der Zeit, die während der Diktatur verloren gegangene Identität undReligiosität im Alltag wiederzuentdecken. Die Herausforderung sei groß, daSalafisten ihnen einzureden versuchten, ihre tunesischen Traditionen seien

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unerlaubte Neuerungen und damit verboten, arabisch h. aram. Das würdeUneinigkeit und Unsicherheit in der Gesellschaft provozieren (Interview12/2014). Das Motiv bunter Moscheen in Kombination mit Schutzsymbolenließ den Willen zu einem ungezwungenen Umgang von Religion und Kulturin Tunesien erkennen. Die Mitarbeiter des Kulturzentrums in Le Kram Estsuchten nach einem Weg, extremistischen Tendenzen in der Gesellschaft denBoden zu entziehen, ohne sich gegen den Islam als Religion zu stellen. Ihrwichtigster Kooperationspartner unter den religiösen Einrichtungen des Vier-tels war auf diesem Weg die Ali Ibn Abu Talib Moschee, genannt RamallahMoschee. Sie steht nur wenige Meter vom Kulturzentrum entfernt. Im kuttabder Ramallah Moschee wurden Kinder ab dem Vorschulalter unterwiesenund begannen, Abschnitte des Korans auswendig zu lernen. Die Unterstüt-zung des angesehenen Imams verlieh dem Kulturzentrum die notwendigeLegitimation, als Kulturträger religiöse Themen aufzugreifen und präven-tive Maßnahme gegen religiösen Extremismus und Gewalt zu etablieren.Gemeinsam mit ihm entwarf das Kulturzentrum ein Ramadanprogrammmit einem Festumzug am cıd al-fit.r am 28. Juli 2014 durch das Viertel. Erendete mit einem Gebet im Parc Urbain du Kram, in unmittelbarer Näheder Stadtverwaltung und Sayyida Khadija Moschee. Die Mitarbeiter erhobenfür sich den Anspruch, in ihrer Arbeit freiheitlich demokratische Grundwertezu vermitteln und einen Beitrag zur Erziehung mündiger Staatsbürger zuleisten. Einem Mitarbeiter unter ihnen war es jedoch ein Anliegen, die gesell-schaftlichen und politischen Vorbehalte gegen den Salafismus im Interviewzu relativieren: Es gäbe in Le Kram Familien, in denen die Frauen den Nikabtrügen und die von der Nachbarschaft als Salafisten bezeichnet würden. Sieseien unpolitisch. Diese Familien trügen ihre Religiosität nicht an andereweiter und seien in die Nachbarschaft gut integriert und angesehen. EineGefahr für die Demokratie gehe vom ihnen nicht aus (Interview 3/2014).200

200Diese Kategorisierung erinnert stark daran, wie die salafistischen Szene in der Politik-beziehungsweise Islamwissenschaft häufig untergliedert wird. Die hier beschriebenenFamilien würden dementsprechend als puristische, moderate oder auch als quietis-tische Salafisten gelten. Diese orientieren sich ausschließlich in ihrer persönlichen

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Im sich daraus entwickelnden Gespräch wurde deutlich, dass sich innerhalbdes Kulturzentrums Mitarbeiter verschiedener politischer Ausrichtungengemeinsam engagierten. Ennahdha Wähler, Nidaa Tounes Mitglieder oderAnhänger der Tunesischen Volksfront arbeiteten Seite an Seite. Anders alsauf der nationalen Ebene, wo die säkular-religiöse Spaltung weitreichendeKonsequenzen für die politische Landschaft trug, verliefen die Abgrenzungs-prozesse im Kontext lokaler Akteure nicht entlang parteipolitischer Konflikte.Laut Mitarbeitern des Kulturzentrums spielten politische Einstellungen oderreligiöse Ausrichtungen für die kulturelle Arbeit in Le Kram keine Rolle.Jeder der an Kultur und Geschichte interessiert sei, sei willkommen. Dieeinzige Bedingung sei das Bekenntnis zu den demokratischen Grundwerten(Interview 3/2014). Diese Einstellung war unter anderen kulturpolitischaktiven Akteuren, wie den Mitarbeitern des Maison des Jeunes Le Kram,ebenfalls anzutreffen. Sie wollten gemeinsam und unabhängig von der Partei-zugehörigkeit eine „front culturel contre le terrorisme“ schaffen, welche derJugend von Le Kram eine Perspektive abseits von Kriminalität und Gewaltaufzeigte und den „discours de l’intolérance“ der Miliz und ihrer Verbünde-ten zurückdrängte. Sie waren davon überzeugt, dass der Rückgriff auf diekulturelle Bildung den Menschen zu einem verantwortungsvollen Staatsbür-ger erzieht. Kultur stellte für sie eine Ressource dar, die tunesische Politikethisch zu beeinflussen. Sie schaffe eine gemeinsame Geisteshaltung, welcheIndividuen vereine, ihnen Orientierung biete und die Basis für eine neueGesellschaft hervorbringe (Interview 13/2014). Kunst genügte sich damit indiesem Umfeld nicht selbst, sondern erfüllte einen pädagogischen Auftrag,der in die Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen in Ost und West hin-eingetragen werden musste. Die Bedrohung der öffentlichen Ordnung durchdie Miliz und ihre Partner veranlasste die zivilgesellschaftlichen Akteure LeKrams unabhängig voneinander, der Gewalt mit Kultur- und Bildungsarbeit

Lebensführung an den Idealen der frühen islamischen Gemeinde. Darüber hinausbleiben sie unpolitisch und setzen sich, anders als sogenannte politische, missionari-sche oder sogar dschihadistische Salafisten, nicht für einen Wandel der Staats- undGesellschaftsordnung ein.

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zu begegnen und in einigen Fällen untereinander (informelle) Kontakteherzustellen. Das Kulturzentrum Le Kram Est verlor damit nach und nachseine jahrzehntelange Vorreiterrolle über die künstlerischen Aktivitäten undVeranstaltungen im Viertel. Zu Beginn des Forschungszeitraums vermitteltees der lokalen Öffentlichkeit eine von Ideen des 19. Jahrhunderts in Europageprägte Vorstellung von Kultur als high culture, in welcher der Islam keineoder eine nur untergeordnete Rolle spielte. Die Bewohner der Gründungs-jahre des Viertels wurden in diesem Sinn als Idealbild einer gebildeten undkultivierten Gesellschaft stilisiert, an der sich die heutigen Einwohner LeKram Ests orientieren sollten. Einfache Arbeiter seien hingegen ungebildetund unkultiviert. Die spätere Instrumentalisierung dieser über die Jahrzehnteweitergetragenen Animositäten zwischen Ost und West Le Kram durch dieMiliz ließ zunächst eine Intensivierung der Konflikte von beiden Seiten auserwarten. Die parallel verlaufende Ausdifferenzierung der Kulturschaffendenin Le Kram, trug jedoch zu einem Umdenken der Einwohner im Bezug aufhistorische Konflikte in Le Kram bei. Die grenzüberschreitende Kooperationzwischen im Osten und im Westen sitzenden Kulturakteuren überlagerte diewahrgenommene Grenze zwischen Ost und West. Kultur als zentraler Aspektder Bildungsarbeit war damit keine rein elitäre Errungenschaft mehr. Siewurde vielmehr als gemeinschaftsstiftende, identitätsbildende Superstrukturkommuniziert, die nicht durch Abstammung, sondern über die gemeinsameReligion, Kunst, Wissenschaft oder Ethik entstehen konnte. Die Akteurekreierten ein Bild der tunesischen Geschichte und Vergangenheit, welchesüber die nostalgische Verklärung der Zeit des französischen Protektoratsund das Denken in gesellschaftlichen Schichten hinausging. Die von ihnenpropagierte tunesische Kultur basierte nicht mehr nur auf der Stadtteilge-schichte, sondern vermittelte eine Weltanschauung. Sie wurde die Visioneiner politischen Ordnung Tunesiens, die dem salafistischen Diskurs dia-metral entgegentrat und vehement Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeitforderte.

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6.3.2.2 Othman Ben Affan al-Jaziri Moschee

Nicht nur die Ramallah Moschee setzte als lokale Einrichtung auf Erwach-senenbildung sowie religiöse Bildung für Kinder. Die Othman Ben Affanal-Jaziri Moschee, im lokalen Sprachgebrauch abgekürzt als al-Jaziri Mo-schee bezeichnet, liegt einige Straßen nördlicher als die Ramallah Moscheein der Rue du 18 Janvier 1952, unweit des Dawahzentrums Info Islam Tu-nisia. Neben den für tunesische Moscheen üblichen Veranstaltungen, wiedem tarawıh. -Gebet im Ramadan und verschiedenen Vorträgen zum Koran,der Koranexegese, den Überlieferungen oder der Biografie des ProphetenMuhammad, bot die al-Jaziri Moschee auch Studien- und Lesezirkel zuausgewählten Büchern und Themen. Wie in den vom Ministerium für Reli-giöse Angelegenheiten bespielten Moscheen üblich, wurde in der al-JaziriMoschee der Geburtstag des Propheten oder das Fest zur laylat al-bara ca,der Nacht der Vergebung, mit geladenen Festrednern gefeiert. Die auch laylamuntas.af al-shacban beziehungsweise im tunesischen Dialekt laylat al-nus. fgenannte Nacht vor dem 15. Tag des islamischen Monats shacban wurde mitspezieller Koranrezitation und Gebeten in der Moschee begangen.201 Dieserin Tunesien weit verbreitete Brauch wird von vielen islamischen Gelehrtenund insbesondere in salafistischen Kreisen nicht als mustah. abb, als eineempfohlene Handlung, anerkannt, sondern wird als unerlaubte Neuerung ein-gestuft.202 Dazu kamen in der al-Jaziri Moschee weitere religiöse Aktivitäten,wie der seit der Revolution 2011 eingeführte und immer beliebter werdendeFestumzug am cıd al-fit.r. Der islamische Festkalender als „kollektiv erlebteZeit“ (Assmann 2000, S. 38) wurde durch diesen im öffentlichen Raum desViertels gemeinsam begangenen, neuen Brauch ergänzt. Der Festumzug

201Im türkischen Sprachraum ist sie ebenfalls als Nacht der Vergebung, türkisch BeratKandili, bekannt.

202Vgl. Fatwa des ständigen Komitees für wissenschaftliche Forschung undRechtsfragen, Schaaban Fatwa, Teil Nr. 9, Seite 114, Fatwa Nr. 7929.URL: https://islamfatwa.de/manhaj/113-religioese-erneuerungen-bida/1449-in-15-scha-ban-nacht-spezielle-ibadah-zu-verrichten-ist-bida. Zugriff am23.03.2020.

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sollte die Bindung der Gläubigen an die Moschee sichern und die von derMoschee befürwortete Auslegung des Islam unter den Gläubigen stärken.Die Besetzung des öffentlichen Stadtraums und sein temporärer Wandelin einen religiösen Raum sollte bisher nicht an den Veranstaltungen derMoschee teilnehmende Zuschauer auf der Straße zur spontanen Beteiligungeinladen (Interview 14/2014). Die religiöse Praxis zeigte deutlich die Absageder Moscheebesucher an das salafistische Spektrum Le Krams. Bedachtauf die Sozialisierung der Gläubigen, versuchte die Moschee, den Stolz aufdie arabisch-islamisch-tunesische Identität zu wecken (Interview 14/2014).Während der Veranstaltungen fiel in diesem Zusammenhang der gediegeneKleidungsstil vieler Anwesender auf. Die Besucher der Moschee schienen aufihr Auftreten in traditionellen Kleidungsstücken zu achten. Diese standensymbolisch für den besonderen Stellenwert, welche die tunesische Traditionder Religionsausübung für sie einnahm (Interview 14/2014). Noch deutlicherals in der Ramallah Moschee beriefen sich die Gläubigen auf die Autoritätder Zaytouna Moschee in Tunis und folgten mit dem Tragen von Jebbas undChechias in weiß und oder rot dem klassischen Dresscode ihrer Gelehrten.„Als Trägerinstanz für Zeichen, Botschaften und Gebärden ist die Körperhül-le in der Tat universell einsetzbar. Anpassungs- und Oppositionsbereitschaftlassen sich hier in gleicher Weise sichtbar machen. (...) Ohne, daß [sic.]Sprache direkt involviert ist, können Informationen ausgestrahlt werden,die andere Menschen wahrnehmen und über die später (...) kommuniziertwerden kann“ (Bette 2005, S. 67 f.). Während das Tragen der traditionellenKleidung im öffentlichen Raum der Moschee das gemeinsame Einstehender Moscheegemeinde für einen genuin tunesischen Islam vermittelte, standdiese Kleidung gleichzeitig in direkter Opposition zu den im salafistischenSpektrum weit verbreiteten Stil der arabischen Golfstaaten. Dahinter standdie Botschaft, dass die Gemeinde eine gemeinsame Front gegen die als Be-drohung empfundene Auslegung des Islam durch lokale Salafisten bildete.Besucher, welche typisch salafistische Szenemerkmale aufwiesen, konntenwährend der teilnehmenden Beobachtung in der al-Jaziri Moschee nichtausgemacht werden. Im Ringen um die politische Neuordnung stand die

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Moschee klar auf der Seite der zivilgesellschaftlichen Akteure, welche den de-mokratischen Wandel Tunesiens gegen abweichende Ordnungsvorstellungenlokale Kräfte unterstützten.

6.3.2.3 Maison de la culture Hammouda Maali

Parallel zum Kulturzentrum in Le Kram Est verfügte auch der Westteilvon Le Kram seit dem 26. Oktober 1986 über eine eigene Kultur- und Bil-dungseinrichtung. Zentral an der Hauptstraße Avenue Ferhat Hached gelegenstand das Kulturzentrum Hammouda Maali im Beobachtungszeitraum allenBürgern offen und setzte den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die BereicheKultur, Philosophie und Naturwissenschaften.203 Das Kulturzentrum ver-fügte zu diesem Zweck, neben verschiedenen Themenräumen, über einenSaal mit fester Bestuhlung und eine Bühne, welche für Podiumsdiskussionen,Konferenzen, Filmvorführungen, Vorträge und verschiedene Aufführungengenutzt wurde. Neben der Erwachsenenbildung, stand die Tagesbetreuungder Kinder und Jugendlichen unter dem Motto „Unsere Kinder sind unsereZukunft“, arabisch at.falna mustaqbalna, im Fokus (Interview 15/2014). Ange-boten wurden verschiedene Clubs für alle Altersgruppen, darunter Theater,Malen und Zeichnen, Informatik, Umwelt und Forschung sowie Musik oderalte Handwerksarten, wie das Weben. Während der Öffnungszeiten standenaußerdem verschiedene Brettspiele zur freien Verfügung. Informationen überdie Freizeitangebote der Einrichtung erhielt die Öffentlichkeit hauptsächlichüber Aushänge im Eingangsbereich. Die offizielle Facebookseite Maison de laculture hamouda maali wurde erst im März 2019 eingerichtet. Wie das Kul-turzentrum in Le Kram Est, vermittelte das Maison de la culture HammoudaMaali seinen Mitgliedern und der interessierten Öffentlichkeit ein Bild vonden tunesischen Traditionen, während sie gleichzeitig auf die ErneuerungTunesiens nach der Revolution hinwirkte. Der Informatikkurs entwarf Flyerzu tunesischen Nationalfeiertagen und Plakate mit Informationen zu ihren

203Hammouda Maali [H. ammuda Macalı] (1909–1980) war ein tunesischer Sänger undSchauspieler.

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geschichtlichen Hintergründen. Der Tanz- und Musikclub führten tunesischeTänze in traditioneller und moderner Kleidung auf. Zu diesem Zweck ko-operierten sie außerdem mit anderen Organisationen aus dem Viertel undöffneten das Haus für öffentliche Veranstaltungen der Kommune. Über dieseAngebote eroberte das Kulturzentrum die öffentlichen Räume von Le KramOuest, welche die Miliz und die Salafisten okkupiert hatten, ein Stück weitzurück. Ebenso wie in Le Kram Est durften die Kinder Wände entlangder Hauptstraße und in unmittelbarer Nähe zum Hauptquartier der Milizmit bunten Farben bemalen. Die Kinder überstrichen dabei die Graffiti derMiliz und ließen nur die religiöse Botschaften aus Respekt vor ihrem Inhaltunangetastet. Die Motive ähnelten dem Kunstprojekt der Kinder des Kul-turzentrums im Ostteil des Viertels. Die Kinder kombinierten politische undreligiöse Motive wo zuvor die Miliz gegen die RCD gehetzt hatte. Gezeigtwurde ebenfalls die tunesische Flagge als Nationalsymbol. Anders als imOsten war sie im Westen von kurzen Bittgebeten und Hochrufen auf dentunesischen Staat umgeben, wie die Abbildung 6.15 auf Seite 297 zeigt.

Abbildung 6.15: Tunesische Flagge; Quelle: Nowar

Auf allen vier Seiten der Flagge stand mehrmals im Hocharabischen und imtunesischen Dialekt „Es lebe Tunesien“, arabisch tah. iyya tunis beziehungs-weise tunesisch-arabisch ta cısh tunis, geschrieben. Links der Flagge standdas Bittgebet „Oh Herr, rette uns Tunesien“, arabisch ya rabbı ah. mıluna

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tunis. Rechts der Flagge unterhalb des Herzes stand „Oh Herr, rette uns“,arabisch ya rabbı najına. Wiederum rechts von diesem Bittgebet stand„Oh Herr, beschütze uns Tunesien“, arabisch ya rabbı ah. mına tunis. Auchdas Motiv der Moschee tauchte in Le Kram Ouest wiederholt auf, wie dieAbbildung 6.16 auf Seite 298 zeigt.

Abbildung 6.16: Wandbild Moscheen; Quelle: Nowar

Auffällig war, dass im Westteil des Viertels die Moscheen nicht mit Elemen-ten des Volksislams, wie Fischen als Schutzsymbole im Viertelmond auf derMoscheekuppel, in Verbindung gebracht wurden (vgl. Abbildung 6.14 aufSeite 289). Der Islam wurde ohne weitere Referenzen als inhärenter TeilTunesiens eingebracht. Das Kulturzentrum Hammouda Maali beschränktesich in der Vermittlung immaterieller tunesischer Kultur eher auf Musik,Gesang, Tanz und Kleidung und Ideengeschichte. Mit dem Wandel der Wand-gestaltung änderte sich spürbar die Stimmung im Umkreis des Straßenzugs.Die Umgebung der ehemaligen Graffitiwand wirkte weniger bedrohlich undzugänglicher für die lokale Öffentlichkeit. Der rückwärtsgewandte und inder autoritären Vergangenheit des Landes verhaftete Blick der Miliz wichder positiven Grundhaltung der Kinder und deren Hoffnung auf ein neuesTunesien. Die Wand selbst als Gegenstand im Raum wurde entsakralisiert.Die Passanten standen den Kinderbildern wohlwollend gegenüber (Interview16/2014), sahen die Wandbilder jedoch nicht als besonders schützenswert

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6.3 Phase Drei: Die Rekonstruktion der Vergangenheit 2014

an: Die nach und nach mit ihren Marktständen zurückkehrenden Händlerstapelten an der Wand Gemüsekisten, ihre Outdoorteppiche oder zusätzlicheTische. Unterstützung bei dieser Arbeit erhielt das Kulturzentrum durchdie Gemeinde Le Kram, unter anderem durch die spätere SonderdelegierteLe Krams, Chaima Nafti. Sie halfen bei der Umsetzung und Bewilligungvon Projekten im öffentlichen Raum.

6.3.2.4 Kram Team Fight Club

Straßenkultur. Straßencafés, der Aufenthalt in Internetcafés (Publinet) oderdas Zusammenkommen an der Straßenecke bestimmten den Alltag vielerKinder und Jugendlicher in Le Kram Ouest und Est, welche nicht an denAbgeboten der Jugend- oder Kultureinrichtungen teilnahmen. Unter denJungen waren gefährliche Mutproben populär, die das selbst gesetzte Imagedes furchtlosen Kämpfers, welches die Miliz bestärkte, unterstreichen sollten.Sie sprangen an den Bahngleisen der TGM Haltestellen L’Aéroport undLe Kram auf die Zugkupplungen zwischen den einzelnen Waggons auf undfuhren einige Stationen oder bis in die Innenstadt von Tunis mit. Mut zubeweisen und dadurch die eigene Stärke zu zeigen, war entscheidend, um diePosition in der Clique und gegenüber anderen Gruppen der Nachbarschaftzu sichern.204 Zwischen den Jugendlichen verschiedener Nachbarschaftenim Viertel herrschte Konkurrenz. Konflikte wurden häufig in gewalttätigenKonfrontationen auf der Straße gelöst. Hinter dem auch unter den Mädchenin Le Kram verbreiteten und unkalkulierbaren Risiko, als Mutprobe in denKanal, der den Lac de Tunis mit dem Golf von Tunis verbindet, zu springen,

204Le Kram Ouest wurde von den Interviewpartner aus dem Viertel mit Stolz als Houmabezeichnet. Auf diese Ebene bezog sich in den Gesprächen die identitäre Selbstver-ordnung. In einigen Fällen wurden darüber hinaus die weiteren Untereinheiten desStadtviertels, arabisch h. ayy, genannt. Ein h. ayy umfasst kleinere Nachbarschaftendes Stadtviertels. In Le Kram Ouest wurden zum Beispiel die Nachbarschaften Hayyal-Yasmin oder Hayy Ibn al-Fourat in genannt. Die kleinste Einheit dieser Nachbar-schaften in einem Stadtviertel wird als h. ara bezeichnet. Sie umfasst nur eine Straßeoder wenige miteinander verbundene Straßen (vgl. Behnstedt & Woidich 2011, S. 44).Die Einheit h. ara wurde in den Interviews nicht genannt.

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6 Die lokale Aushandlung von Politik, Kultur und Identität, Le Kram 2011–2014

stand der Gruppenzwang (Interview 17/2014 und 18/2014). Kopfsprüngeim Ufer- und Flachwasserbereich konnten aufgrund der Steinschüttungenim Kanal lebensgefährlich sein. Hinzu kamen unkalkulierbare Strömungenund Sogwirkungen an den Brückenpfeilern. Illegale Tätigkeiten waren un-ter den Jugendlichen und jungen Erwachsenen von Le Kram Ouest keineSeltenheit. Taschendiebstahl als Schwarzfahrer der TGM war eine belieb-te Einnahmequelle. Einige dealten als Zwischenhändler mit Drogen. EineEcstasy-Tablette auf dem Schwarzmarkt von Le Kram kostete im Jahr 2014circa 45 bis 50 Tunesische Dinar (Interview 19/2014). Auch Spirituosenwurden auf dem Schwarzmarkt teuer gehandelt und waren legal nur inbestimmten Märkten mit Verkaufslizenz erhältlich (Interview 19/2014). Derimmense soziale und finanzielle Druck, der auf den Kindern und Jugendlichenlastete, deutete sich auffällig häufig in den zu beobachtenden Schnittnarbenan den Unterarmen an. Ein Arzt des kommunalen Krankenhaus Kheireddinebestätigte, dass seit einigen Jahren zunehmend junge Mädchen und Jungenin der Notaufnahme gebracht würden, die sich beim Ritzen zu stark selbstverletzt hätten und die Blutung durch die Ärzte gestoppt werden musste.Die Selbstmordversuche seien unter den Jugendlichen des Viertels gestiegen.Betroffenen Familien versuchten, diese vor der Umwelt zu verheimlichen,da Selbstmord und psychische Erkrankungen in Tunesien gesellschaftlichstark stigmatisiert sind (Interview 21/2014). Die Kommune Le Kram, sowie viele andere Kommunen in Tunesien, stand in der gegebenen Situationvor der Notwendigkeit, die sozialen Probleme des Viertels in den Griff zubekommen. Interviewpartner forderten von der Gemeinde Le Kram, stärkerin Sport- und Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche zu investieren,um ihnen eine sichere und gewaltfreie Umgebung zu ermöglichen (Interview18/2014 und 19/2014). Sport zu treiben, ist unter tunesischen Jugendlicheneine beliebte Freizeitaktivität, vor allem Fußball, Volleyball und Basket-ball sind weit verbreitet. Sportplätze sind in Tunesien nicht flächendeckendvorhanden. Die wenigen vom tunesischen Staat zur Verfügung gestellten,öffentlichen Sportplätze sind oft in schlechtem baulichen Zustand. Verfügtein Stadtviertel nicht über unbebaute Brachflächen, die sogenannten Ter-

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6.3 Phase Drei: Die Rekonstruktion der Vergangenheit 2014

rains, stehen den Sportlern nur private Anbieter zur Verfügung. Um diese zuerreichen, müssen oft weite Anfahrtswege mit den öffentlichen Verkehrsmittelin Kauf genommen werden. Zu den Transportkosten kommen dann noch dieNutzungsgebühren hinzu. Diese sind für viele Jugendliche nicht regelmäßigerschwinglich. Die Möglichkeit die Sportplätze der örtlichen Schulen zu nut-zen, muss häufig ebenfalls bezahlt werden. Eine Stunde kostete im Jahr 2014in Tunis ortsabhängig circa ein bis zwei Tunesische Dinar. Mädchen werdenin dieser Situation zusätzlich benachteiligt, da weite Wege in Bussen oder infremden Vierteln, zum Beispiel am Samstagabend in der Dunkelheit, für sieals zu gefährlich eingestuft werden (Interview 18/2014). Le Kram verfügt, imVergleich zu benachbarten Vierteln, wie La Marsa oder Sidi Bou Saïd, überwenige Sportangebote.205 Neben dem Training im Stadion Étoile olympiqueLa Goulette Kram war im Jahr 2014 das Kram Team der Hauptanbieterfür Freizeitsport in Le Kram. Der Kampfsport sollte eine sinnvolle Freizeit-beschäftigung bieten, die dem Selbstbild der Jugendlichen entgegenkam,ohne sie in Gefahr zu bringen. Im Gegensatz zu den leichtsinnigen Aktionensolle dort Risikobewusstsein und Verantwortungsgefühl für sich und anderegelernt werden. Das Bewusstsein, zu einer Gruppe von Kämpfern zu gehören,die viel Anerkennung im Viertel erfahren, sollte den notwendigen Rückhaltgeben, sich dem Gruppenzwang der Straße zu entziehen und sich von derGewalt im Viertel zu distanzieren (Interview 19/2014).

Kampfsport und Persönlichkeitsbildung. Die Kampfsportschule Kram TeamFight Club wurde am 26. Oktober 2012 von Mehdi Hammami [Mah. dıH. ammamı] aus London gegründet und war eine der 137 zwischen 2011 und2014 neu gegründeten Sporteinrichtungen in Tunesien (Institut nationalde la statistique 2019a). Die private Kampfsportschule befand sich in derRue de la Gare 19, in der Nähe der TGM Haltestelle Kheireddine Le Kram.Als Mitglied der Fédération Tunisienne de Kick, Thai Boxing, Savate etDisciplines associées bot sie im Forschungszeitraum Kurse in Karate, Thai-

205In La Marsa ist der nationale Sportverband Avenir sportif de La Marsa (ASM) ansässig,in Sidi Bou Saïd bietet die Saïidia Volleyballtraining an.

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6 Die lokale Aushandlung von Politik, Kultur und Identität, Le Kram 2011–2014

boxen und Kickboxen sowie Vorbereitungsstunden auf die Sportprüfung vonAbiturienten an, ohne jedoch eine staatliche Förderung zu erhalten. DerSchwerpunkt des Trainingsangebots lag auf dem Kickboxen. Trainiert wurdebewusst in geschlechterübergreifenden Gruppen und in allen Altersklassen,sprich Kinder, Junioren und Senioren.206 Da sich der Verein an die Ziel-gruppe der Heranwachsenden und der jungen Erwachsenen richtete, wurdenInformationen nicht nur vor Ort per Aushänge weitergeben, sondern auchonline kommuniziert, vorwiegend auf Tunesisch-Arabisch, Französisch undEnglisch. Auf Facebook hostete Mehdi Hammami die Seite Kram Team undeine Gruppe unter dem gleichen Namen. Die Homepage der Kampfsportschu-le wurde nach kurzer Zeit nicht mehr weitergeführt.207 Das Kursprogrammbot außerdem die Möglichkeit zum vergleichsweise teuren Einzelunterricht.Die Gebühr lag hier bei 30 Tunesischen Dinar pro Stunde beziehungsweisebei 250 Tunesischen Dinar für eine Zehnerkarte.208 Das Motto der Schulelautete “La force est en toi„. Es spiegelte sich in verschiedenen Kursenzum Erreichen physischer und mentaler Stärke wider. Diese wurden, lautAngaben des Vereins auf der eigenen Facebook-Seite, aus der Überzeugungheraus angeboten, dass Sport nicht nur zur körperlichen Fitness führe, son-dern zur Persönlichkeitsbildung beitrüge und damit eine Investition in dieeigene Zukunft darstelle. Sport, Erziehung und Bildung stellten eine Einheitdar. Neben den für Kampfsportvereinen typischen Angeboten wie Wett-kämpfen, Gürtelprüfungen und anderen sportlichen Veranstaltungen leisteteHammami, gemeinsam mit den Trainern und komplementär zu den Jugend-einrichtungen im Viertel, sozialpädagogische Arbeit. Er war rund um die Uhrunter der Mobiltelefonnummer des Vereins als Vertrauensperson für die Ju-

206Weite gesellschaftliche Kreise Tunesiens werten Kampfsportarten heute noch als un-angemessen für Mädchen. Klassische mit Weiblichkeit assoziierte Eigenschaften, wieSanftmut oder Diskretion, stehen in einem scheinbaren Widerspruch zum Kampfsport(vgl. Lachenal 2013, S. 215).

207URL: www.kramteam.com.208Das Bruttonationaleinkommen lag in Tunesien im Jahr 2014 pro Kopf bei 4.160,–

US-Dollar. Dies entspricht umgerechnet circa 7.000,– Tunesischen Dinar im Jahrbeziehungsweise 583,- TND monatlich (World Bank 2018).

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6.3 Phase Drei: Die Rekonstruktion der Vergangenheit 2014

gendlichen ansprechbar, wenn das eigene Elternhaus keine Option darstellte.Er begleitete sie auf Nachfrage in die Schule zu Gesprächen mit den Lehrern,vermittelte bei Konflikten oder half bei Bedarf auch bei der Suche nach einemAusbildungs- oder Arbeitsplatz. Er stand als zentrale Figur und Impulsgeberim Mittelpunkt der Aktivitäten der Kampfsportschule. Die Jugendlichenbeschrieben ihn mit Respekt als großen Bruder, auf den sie sich verlassenkonnten. Die Mutter eines jungen Mädchens erzählte, ihre Tochter sei imAlltag in der Nachbarschaft viel hilfsbereiter geworden, seit sie im KramTeam trainiere. Die familiäre Atmosphäre und der freundliche und höflicheUmgangston untereinander hätten sie positiv beeinflusst (Interview 18/2014).Werte, wie Freundschaft, Mut, Aufrichtigkeit, Ehre, Bescheidenheit, Respekt,Selbstkontrolle, Höflichkeit, Treue und Güte, seien entscheidend im Kampfs-port und würden sich in den Alltag übertragen. Darüber hinaus wurden dasDurchhaltevermögen und die Selbstmotivation, Schwieriges immer wieder zuversuchen, als wichtige Eigenschaften angesehen, die den Mitgliedern für denSport und den Alltag vermittelt werden sollten (Interview 19/2014). Mit derfortschreitenden Etablierung im Viertel wurde das Angebot des Vereins nochumfassender. Im April 2017 bot ein Coach für Persönlichkeitsbildung, einenKurs über den Abbau von Ängsten und mentalen Blockaden an. Die gesundeErnährung und allgemeine Ernährungstipps für Leistungssportler wurden inSeminaren angesprochen. Obwohl es sich nicht um eine religiöse Einrichtunghandelte, wurden vereinzelte Aspekte der Religionspraxis thematisiert, wenndiese die sportliche Aktivität betrafen. Beispielsweise wurden Empfehlungenfür den Sport während des Fastens im Ramadan vermittelt. Mehdi Hammamiund seine Trainer verlegten zudem im Ramadan die Erwachsenenkurse aufden späten Abend ab 22 Uhr. So umgingen sie die mögliche Dehydrierungder Fastenden durch zu hohe Anstrengung und Temperaturen am Tag undermöglichten ihnen die Teilnahme nach dem Fastenbrechen am Abend. ImJahr 2017 begann eine junge Frau, welche als eine der beiden ersten Frauenim Kram Team den schwarzen Gürtel abgelegt hatte, Sonntags um 16 Uhreine Trainingseinheit nur für junge Mädchen und Frauen anzubieten, da dasFreizeitangebot für sie, wie bereits beschrieben, zusätzlich eingeschränkt war.

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6 Die lokale Aushandlung von Politik, Kultur und Identität, Le Kram 2011–2014

Sozialpädagogische Arbeit. Die Kinder und Jugendlichen nahmen, nebendem Sportangebot und den Workshops, auf freiwilliger Basis an verschie-denen sozialen Aktivitäten teil, wie sie auch von den Jugendzentren in LeKram angeboten wurden. Ahmad (Name geändert), einer der Mitgliederaus dem angrenzenden Stadtteil Kheireddine und selbst früherer Box- undJudochampion, organisierte Ausflüge für die Vereinsjugend, zu der sein Sohngehörte.209 Als gläubiger Muslim betonte Ahmad, sei es wichtig, die Jugend-lichen darin zu unterstützen, ihren eigenen Weg im Islam zu finden, umihre religiöse Radikalisierung, aufgrund von Beeinflussung durch radikalePrediger, zu verhindern. Er kenne kein wissenschaftlich erprobtes Konzept,aber das Training im Sportverein und andere soziale Aktivitäten (mit derFamilie) trügen seines Erachtens dazu bei, zu verhindern, dass Kinder undJugendliche sich ins salafistische Milieu zurückzögen. Diese Auffassung begeg-nete einem in allen Jugendeinrichtungen des Viertels. Sie wollten die Kinder,Jugendlichen und die jungen Erwachsenen in der aktiven Auseinanderset-zung mit der eigenen Identität unterstützen (Interview 22/2014). An bereitsvorhandene sportliche Interessen anknüpfend, versuchte Ahmad, in ihnendas Interesse für tunesische Geschichte und Kultur zu wecken. Im Oktober2015 organisierte er für sie eine durch den Verein gesponserte Exkursionzu den Ruinen von Karthago. Unter dem Thema Gladiatoren vermittelteer bei dem Besuch der Ausgrabungsstätte den Teilnehmenden des Kram

209Die Ausgrabungsstätte liegt im Osten der Hauptstadt Tunis und wurde im Jahr 1979 vonder United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) zumWeltkulturerbe erhoben. Die einstige punische Metropole wurde im 8. Jahrhundertv. Chr. gegründet und war ein bedeutender Seehandelshafen im Mittelmeerraum.Karthago wurde gegen Ende des dritten punischen Kriegs im Jahr 146 v. Chr. von denRömern zerstört und circa 100 Jahre später auf den Befehl von Gaius Julius Caesar(100–44 v. Chr.) und unter dem römischen Kaiser Augustus (43 v. Chr. – 14 n. Chr.)erneut aufgebaut. Sie entwickelte sich zu einer der vier größten Städte des RömischenReichs. Karthago und der karthagische Feldherr Hannibal (247–183 v. Chr.), der imzweiten punischen Krieg (218–201 v. Chr.) mit seinen Streitkräften bis vor die ToreRoms vordrang, werden in der tunesischen Erinnerungskultur wiederholt aufgegriffen.

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6.3 Phase Drei: Die Rekonstruktion der Vergangenheit 2014

Teams Einblicke in die römische und punische Geschichte des Kampfsports.Als Ramadangruß an alle Mitglieder postete er zwei Jahre später außerdemzum cıd al-fit.r auf der Facebookseite des Kram Teams das Mosaiks einesFaustkampfs aus Thuburbo Majus, welches die Abbildung 6.17 auf Seite 305zeigt.210

Abbildung 6.17: Glückwunsch zum Eid al-Fitr illustriert mit einem Mosaikeines Faustkampfs aus Thuburbo Majus; Quelle: Facebook-seite Kram Team

Eine Gelegenheit für die Vereinsjugend, mit ihrem Umfeld der Nachbarschaftin Kontakt zu treten und sich sportlich miteinander zu messen, organisierteMehdi Hammami in Kooperation mit dem Maison des Jeunes Le Kram.Gemeinsam veranstalteten sie einen Wettkampftag auf dem Sportgelände der

210Thuburbo Majus ist eine archäologische Ausgrabungsstätte der Römerzeit nahe derStadt El Fahs, circa 60 km südwestlich von Tunis. Das Mosaik des Faustkampfs istheute im Musée National Du Bardo in Tunis zu sehen.

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Jugendeinrichtung in Le Kram Ouest. Sie wollten erreichen, dass Sport undFitness zum selbstverständlichen Alltag der Kinder wird. Außerdem sollteder gegenseitige Besuch Hemmungen abbauen, die jeweils andere Freizeitein-richtung ebenfalls zu besuchen. Der Vater eines der Teilnehmer lobte dieVeranstalter, welche die Vermittlung von Fairness, Disziplin und Selbstver-trauen in den Vordergrund stellten (Interview 20/2014). Die Gemeinschaftwährend des Trainings und der respektvolle Umgang miteinander seien dasbeste Vorbild, das er seinem Kind mitgeben könne. Eine Mutter meinte, dassdie eigene Körperwahrnehmung und die Wertschätzung der eigenen Gesund-heit die Heranwachsenden bestärke und den islamischen Extremisten undder Miliz den Nährboden entziehe. Sie war davon überzeugt, dass religiöseExtremisten den Kindern vermittelten, dass das eigene Leben nichts wertsei, um leicht beeinflussbare Personen zu Selbstmordattentaten oder demDschihad in Syrien zu überzeugen (Interview 18/2014 und 20/2014). Die vonder Kampfsportschule und anderen Jugendeinrichtungen Le Krams bezogenePosition ist dementsprechend als zivilgesellschaftliche Initiative in der Prä-ventionsarbeit gegen religiös begründete Radikalisierung zu verstehen. Sierichtet sich primärpräventiv an Jugendliche und junge Erwachsene, welcheauf der Suche nach Orientierung und Halt sind. Im Zentrum steht dabeiihre Sensibilisierung für demokratische Grundwerte, möglichst bereits bevordie Jugendlichen durch ihr soziales Umfeld einer Ideologisierung ausgesetztsind. Dabei sollen sie sich nicht zwischen dem Islam und der Demokratieentscheiden, sondern deren Werte miteinander verknüpfen lernen.

Nationalstolz. Das Prestige des Kampfsports und die damit verbundeneVorstellung von Männlichkeit, arabisch rujuliyya, wurde auch von Mitglie-dern der Miliz wahrgenommen. Sie versuchten, den Verein und die Erfolgeder jungen Sportler des Kram Teams für ihre Propaganda zu instrumen-talisieren. Das Image des Kämpfers, der sich gegen seine Herausfordererdurchsetzt und dafür den Stolz und die Hochachtung in der Houma erhält,fügte sich gut in das Bild von Le Kram Ouest ein, welches sie nach innenund außen zu kreieren versuchten. Hierzu passte auch das Vereinslogo des

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6.3 Phase Drei: Die Rekonstruktion der Vergangenheit 2014

Kram Teams, welches, wie im Kampfsport üblich, eine Faust zeigte, dieentweder mit oder ohne Schlagring dargestellt wurde (siehe Abbildung 6.18auf Seite 307).

Abbildung 6.18: Vereinslogo des Kram Team Fight Club; Quelle: Facebook-seite Kram Team

Es war in den Farben Weiß, Schwarz und Rot gehalten und sollte Kraft undStärke symbolisieren. Die Flügel standen für die Dynamik und den eigenensportlichen Fortschritt (Interview 19/2014). Erfolge der Jugendlichen aufnationalen und internationalen Wettkämpfen wurden von Mitgliedern derMiliz als Erfolg des gesamten Viertels gelobt. Dabei waren es Gruppenwie die Miliz, dessen negativer Einfluss auf die Kinder und Jugendlichendurch das Angebot von Freizeitsport unterbunden werden sollte. Andersals die Miliz forderten die Trainer des Kampfsportverein die Mitglieder auf,niemanden tätlich anzugreifen und vermittelten den Sportlern eine positiveGrundstimmung gegenüber dem tunesischen Staat und den demokratischenGrundwerten der Gemeinschaft. Jährlich am Nationalfeiertag zum Tag derUnabhängigkeit am 20. März versammelte sich der Kampfsportclub deshalbam Kreisverkehr La Goulette, um dort die Nationalflagge zu hissen. DieAnwesenheit war für die Mitglieder obligatorisch. Sie trugen einheitlich das

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6 Die lokale Aushandlung von Politik, Kultur und Identität, Le Kram 2011–2014

Trainingsoutfit mit dem Schriftzug und Symbol des Kram Teams. Mit derTeilnahme an der Gedenkfeier zum Tag der Märtyrer am 9. April setzten sieein Zeichen der Zusammenarbeit zivilgesellschaftlicher Akteure mit und inder Kommune. Gemeinsam mit anderen Vereinen des Viertels wurde offiziellim Saal des Rathauses in Erinnerung an die blutigen Straßenproteste am9. April 1938 gefeiert. Seit dem Jahr 2011 wird an diesem Nationalfeier-tag zusätzlich der Märtyrer der tunesischen Revolution gedacht.211 NachBeendigung des Forschungszeitraums scheint sich die Zusammenarbeit mitder Kommune noch weiter vertieft zu haben. In der Saison 2015 erhielt derKampfsportclub finanzielle Zuwendungen aus dem Rathaus, welche in dieAnschaffung eines professionellen Kampfrings und weiterer Trainingsgeräteflossen. Durch solche Zuwendungen sollte der Rückhalt und die Unterstüt-zung der Kommune für die wichtige soziale Arbeit des Kampfsportvereinsim Viertel ausgedrückt werden (Interview 19/2014). Grundsätzlich stelltedie Umverteilung der ohnehin schon begrenzten finanzieller Ressourcen derKommune an einen nichtstaatlichen Akteur eine nicht zu unterschätzendeVorgehensweise dar. Lokale Akteure, wie der Kampfsportverein, welche dieeigenen Ziele und Politiken der kommunalen Politiker ergänzten, erhieltenfinanzielle Unterstützung für ihre Arbeit und halfen damit indirekt, dieAgenda der Kommune umzusetzen. Gleichzeitig wurden sie in der Hoffnungauf weitere Spenden nicht nur kurzfristig, sondern mittel- bis langfristig andie Kommune gebunden. Die Sportler hofften für die kommenden Jahre aufweitere staatliche Finanzhilfen, um auf dem Außengelände die Trainings-bedingungen weiter verbessern zu können und sprachen sehr positiv überdie Kommune (Interview 19/2014). Dieser Zuspruch kann die Legitimitätder Sonderdelegierten und deren Mitarbeiter unter den Einwohnern erhö-hen und die eigene Verhandlungsposition gegenüber kritischen Stimmen,wie den Milizionären, stärken. Die Sonderdelegierten waren außerdem aus

211Im Jahr 1938 forderten die Demonstranten politische Reformen, wie ein tunesischesParlament und wurden von der damaligen Protektoratsmacht Frankreich niederge-schlagen. Das Datum stellt ein wichtiges Ereignis der tunesischen Nationalbewegungdar.

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6.3 Phase Drei: Die Rekonstruktion der Vergangenheit 2014

Personal- und Finanzmangel auf die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaft-lichen Akteuren angewiesen, um wichtige Agendapunkte des Rathauses,wie Sauberkeit im Viertel, umzusetzen. Am 30. August 2015 organisiertedas Kram Team deshalb als Dienst an der Gemeinschaft und zum Schutzder Natur eine Müllsammelaktion in Le Kram Est und am Stadtstrand.Öffentlichkeitswirksam wurden hierfür von den Behörden die betroffenenStraßenzüge für den Verkehr gesperrt. Ein großes, über die Straße gespanntesBanner am Startpunkt informierte über die Veranstaltung. Am 16. Janu-ar 2016 war Mehdi Hammami außerdem als Referent in das Rathaus vonLe Kram eingeladen, um die Teilnehmer über die soziale Bedeutung desKickboxsports zu informieren und stand in der anschließenden Diskussionfür Fragen bereit. Der Blick auf die lokale Ebene zeigt, wie stabilisierendsich zivilgesellschaftliches Engagement und das Vorantragen demokratischerIdeale auf die öffentliche Ordnung und den gesellschaftlicher Zusammenhaltauswirken kann.

6.3.2.5 Maison des Jeunes Le Kram

Pädagogischer Ansatz. Mit finanzieller Unterstützung des tunesischen Staateswurden bis in das Jahr 2014 insgesamt 321 Jugendzentren gegründet, indenen im Jahr 2014 insgesamt 64.494 Jugendliche registriert waren. DieJugendzentren selbst können als mehr oder weniger unabhängige Koope-rationspartner des Staates in der Umsetzung staatlicher Erziehungspolitikgesehen werden. Sie waren meist Freitags, Samstags und Sonntags für dieKinder und Jugendlichen eines Stadtteils geöffnet, wobei weniger als einDrittel der Besucher weiblich war. Auf das größte Interesse unter den Ju-gendlichen in Tunesien stießen dort statistisch gesehen die Sportangebote,dicht gefolgt von den angebotenen Computerkursen (Institut national de lastatistique 2019b). Oft fehlt jedoch nach der Errichtung eines Gebäude durchden Staat zunächst die für die Arbeit notwendige Grundausstattung, die erstdurch private Spenden und Engagement von Fördermitgliedern erworbenwerden kann. Eines dieser sozialpädagogischen Programme war in Le Kram

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im Jugendzentrum Maison des Jeunes Le Kram Ouest angesiedelt. Nebendem Sport bot es zahlreiche Freizeitaktivitäten an, an denen die Mädchenund Jungen gemeinsam teilnehmen konnten. Die Kurse und Veranstaltungenfanden überwiegend im tunesisch-arabischen Dialekt statt und wurden durchdas Commissariat Régionale de Tunis des Ministère de la Jeunesse et duSport gefördert. Darüber hinaus verfügte das Jugendzentrum über Kontaktezum Innenministerium. Vertreter der Bezirksregierung waren regelmäßigeingeladen, um die Basisarbeit mit Kindern und Jugendlichen in Le Kramkennenzulernen. Diese Einladungen gaben den Politikern auf der einen Seiteeine Plattform, für sich und ihre Politik zu werben und ihr Image als so-ziale und bodenständige Ansprechpartner der Bevölkerung zu pflegen. Wersich die Unterstützung der respektierten und geachteten Einrichtungen imViertel sichern konnte, der erhoffte sich auch eine Erweiterung des eigenenVerhandlungsspielraums und eine Stärkung der eigenen Machtposition inner-halb der kommunalen Strukturen (Interview 2/2015). Die lokalen Akteurewaren außerdem geeignete Partner, demokratische Werte flächendeckendin die Bevölkerung zu tragen, welche als systemstabilisierende Einfluss-faktoren gegenüber gewaltbereiten Tendenzen innerhalb der Bevölkerungangesehen wurden (Interview 23/2014). Gut erreichbar in der Rue de l’Irangelegen, hatte das Jugendzentrum das Ziel, Kinder und Jugendliche zumündigen Mitgliedern der Gesellschaft zu erziehen. Sie sollten lernen undüben, selbstständig zu denken und zu handeln und ihre Rechte und Pflichtenals Staatsbürger erfahren. Das postrevolutionäre Tunesien bedürfe, laut Mit-arbeitern des Zentrums, eines neuen, gemeinsam aufgebauten Gemeinwesens.Die Jugendlichen sollen sich bewusst sein, dass passiver Widerstands gegenextremistische Tendenzen wichtig, aber nicht ausreichend sei. KonstruktiveKritik und aktive Partizipation in der Gesellschaft müssten gelebt werden(Interview 13/2014). Die hohe Arbeitslosenrate zwang jedoch vor allemjüngere Bevölkerungsgruppen zu prekären Entscheidungen. Die Hoffnungder jüngeren Generationen Le Krams auf ein gesichertes Einkommen undgeregelte Lebensumstände war groß, die Chancen dagegen gering. In dieserPerspektivlosigkeit erschien ihnen das Abgleiten in Kleinkriminalität oft als

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6.3 Phase Drei: Die Rekonstruktion der Vergangenheit 2014

einziger Ausweg (Interview 13/2014). Das Jugendzentrum auf der anderenSeite profitierte von den Kontakten in das Ministerium oder die kommunaleVerwaltung durch deren finanzielle Unterstützung lokaler Projekte sowie beider Anschaffung von Ausstattungsgegenständen. Die bisher stattgefundeneDezentralisierung in der rein administrativen Form zentral abbestellter Son-derdelegierter führte demnach zur Neuaushandlung lokaler Netzwerke undBeziehungsgefüge. Der Erhalt von finanziellen Ressourcen und das Signalvon Rückhalt aus den Reihen der Kommunalpolitiker konnte einen einzel-nen Akteur im lokalen Machtgefüge stärken. Der Abbruch der Kontakteoder das Zerfallen der Netzwerke konnten aber auch zu Unsicherheiten undEngpässen führen. Gleichzeitig waren insbesondere die zentral abbestell-ten Sonderdelegierten auf den Rückhalt durch lokale Akteure angewiesen,um mit ihrer Arbeit, vor allem in Le Kram Ouest, durchsetzungsfähig zu sein.

Freizeitangebote und Schulungen. Das Jugendzentrum sprach deshalb Kinderund Jugendliche verschiedener Altersgruppen an und bot ihnen sinnvolleFreizeitgestaltungsmöglichkeiten abseits der Straßen und unter adäquater Be-treuung durch Erwachsene. An der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichenorientiert, wurden die Informationen zu den anstehenden Veranstaltungennicht nur auf Aushängen im Eingangsbereich des Gebäudes veröffentlicht,sondern auch auf der Facebookseite Maison des Jeunes Le Kram gepostet.Telefonisch war der Direktor des Zentrums über seine Handynummer zuerreichen, da das Büro der Einrichtung tagsüber nicht durchgehend besetztwar.212 Das Maison des Jeunes Le Kram organisierte gezielt Berufsinforma-tionstage für Schulabgänger und -absolventen. Im Oktober 2015 erhieltenpotentielle Berufseinsteiger Bewerbungstrainings für Vorstellungsgesprächeund Informationen über Praktika oder Ausbildungsverträge. Damit ver-suchte das Jugendzentrum, die Kinder dem unkontrollierten Einfluss derlokalen Miliz und anderen religiöse Extremisten zu entziehen. Diese richtetenihre Dawaharbeit auf den Straßen des Stadtviertels von Le Kram Ouestgezielt auf einen leicht beeinflussbaren Personenkreis aus. Insbesondere die

212Telefonnummer des Jugendzentrums: +216 22 59 53 07.

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Anwerbung junger Männer und Frauen für den Kampf in Syrien stellte dieStadtteilgesellschaft vor Herausforderungen.213 Mit der Unterstützung undFinanzierung durch nationalen Behörden, wie der Behörde zum Schutz desOzeans, wurden immer neue Projekte initiiert und umgesetzt. Der hauseige-ne Club d’Environnement et Découverte du Kram engagierte sich aktiv imüberregionalen Umweltschutz. Mit einem Informationsstand am 17. Februar2013 in Le Kram machten die Teilnehmer der Arbeitsgruppe die Passantenauf die starke Umweltverschmutzung durch Plastiktüten aufmerksam undforderten sie zur Mülltrennung und zum Recycling auf, um die Kommunebei der Säuberung des Viertels zu unterstützen. Am 23. März 2013 orga-nisierten die Jugendlichen zur weltweit stattfindenden Earth Hour einenUmzug mit Kerzen durch Le Kram Ouest. Im Anschluss daran versam-melten sich die Teilnehmer auf der Straße. Musiker mit Trommel spieltenafrikanische Rhythmen zu denen die Anwesenden tanzten. Der Tanz als Teilder immateriellen Kultur Tunesiens sollte als selbstverständlicher Teil desAlltags vermittelt werden. Als Zeichen gegen die salafistische Normsetzungwurde er vom Jugendzentrum bei jeder sich bietenden Gelegenheit bewusstin den öffentlichen Raum des Viertels hineingetragen (Interview 12/2014).Wenige Wochen später, am 24. April 2013, fuhr der Club gemeinsam in dentunesischen Nationalpark Ichkeul. Höhlenklettern mit dem Team sollte denZusammenhalt der Gruppe stärken und gleichzeitig das Bewusstsein für dieBewahrung der Natur schaffen. Am 9. Mai 2014 machten sie einen Ausflugnach Touzeur, um dort das Lehmziegeldekor in der Architektur der Altstadtzu besichtigen und das Berbermuseum zu besuchen. Eine Woche später am17. Mai 2014 wurde das Sportfest „Spiele ohne Grenzen“ für die Kinder undJugendlichen des Viertels organisiert, um ihnen die Möglichkeit, Leistungund Erfolg zu erfahren, zu geben. Ein Erste Hilfe Training sollte Zivilcou-rage und soziale Werte, wie Hilfsbereitschaft, vermitteln. Die Kinder undJugendlichen der Einrichtung sollten Gefahren frühzeitig erkennen und ver-

213Die Gefahr durch eventuelle Rückkehrer aus den umkämpften Gebieten wurde, nebenden persönlichen Schicksalen, landesweit als ein nicht zu unterschätzendes Sicherheits-risiko für das Land diskutiert.

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6.3 Phase Drei: Die Rekonstruktion der Vergangenheit 2014

meiden lernen, auch wenn der Gruppenzwang sie zu potenziell gefährlichemVerhalten drängte. Am 4. Juni 2014 erhielten Frauen im Jugendzentrum einspezielles Training zu Techniken der Kommunikation und der Teamarbeit.Ein Kommunikationsmittel des Jugendzentrums mit den Einwohnern desViertels stellte neben öffentlichen Veranstaltungen und der Bildsymbolikdie unverkäufliche Zeitung Jaridat EL KRAM dar. Sie wurde ab Anfangdes Jahres 2014 vierzehntägig von im Jugendzentrum aktiven Jugendli-chen herausgegeben und setzte sich mit politischen und kulturellen Themenaus dem Stadtviertel Le Kram auseinander. Berichtet wurde beispielsweiseüber das Angebot des Maison de la culture Hammouda Maali, über denöffentlichen Nahverkehr, das Problem mit verwilderten Hundemeuten imStadtviertel, Bauarbeiten im Stadion, Überschwemmungen nach Regenfällenoder die Finanzierung des lokalen medizinischen Versorgungszentrums. DieZeitung sprach Probleme im Stadtviertel an und rief zu bürgerschaftlichemEngagement auf, diese Probleme gemeinsam anzugehen. An diesen Aufrufhielt sich das Jugendzentrum auch selbst und veranstaltete gemeinsam mitdem Kulturzentrum von Le Kram Est im August 2014 ein Beachfestival mitMusik, einer Magiershow, der Vorführung eines 3-D-Films, einer Strandreini-gungsaktion und Spielen für die Jugendlichen und ihre Familien. Kunst undKultur spielten eine entscheidende Rolle im pädagogischen Konzept. Einedieser Arbeitsgruppen war der Theaterclub Der Dialog. Seine Mitgliedergriffen gesellschaftlich sensible Themen und Probleme auf, mit welchen sichdie Kinder und Jugendlichen in ihrem Alltag konfrontiert sahen. Im Rahmender Teilnahme am nationalen Programm für Kreativität rief der Club dasProjekt Jugend gegen Terrorismus ins Leben. Unter der Leitung von FatimaZahra [Fat.ima Zahra] und Afaf Alaoui [cAfaf al-cAwı] führten die Jugendli-chen am 24. Dezember 2015 ein Theaterstück zur Sensibilisierung vor denGefahren von Terror und dem Umgang mit Gewalt auf. Seither wuchs dasNetzwerk des Vereins zunehmend. Seine Reichweite ging über die Grenzendes Viertels Le Kram heraus. Mit Ausflügen ins tunesische Inland und Ak-tionen im größeren Stadtgebiet von Tunis versuchten die Jugendlichen, ihreAnliegen einem noch breiteren Publikum zu vermitteln. Im Mai 2017 fanden

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sich die Teilnehmer des Projekts für soziale Inklusion und Maßnahmengegen Gewalt vor dem Nationaltheater auf der Avenue Habib Bourguibaein. Öffentlichkeitswirksam berichteten die Jugendlichen in per Lautsprecherübertragenen Interviews über ihre Erfahrungen mit Rassismus im Alltag.Passanten wurden aktiv in Gespräche verwickelt und die regionalen Unter-schiede diskutiert, wobei sich herausstellte, dass im Norden der Republikund der Hauptstadt Tunis die Diskriminierung und der Rassismus ein großesgesellschaftliches Problem darstellte. Unterstützt wurde die Aktion durch dasProgramme des Nations Unies pour le développement en Tunisie (PNUD).214

Weitere bekannte Kooperationspartner, wie Amnesty International, unter-stützten die Agenda des Hauses der Jugend organisatorisch oder finanziell.215

Identitätsangebote. Die Taktik des Jugendzentrums unterschied sich nurunwesentlich von der des Kulturzentrums in Le Kram Est. Nur das Selbst-verständnis der Einrichtung wurde weniger an der Stadtgeschichte Le Kramsausgerichtet und konzentrierte sich stärker an übergreifenden und nationalenIdentitätsnarrativen. Die Ausbildung und Auseinandersetzung mit der eige-nen Identität wurde eher allgemein, zum Beispiel anhand der Berberkultur,vermittelt. Zu diesem Zweck kooperierte das Haus der Jugend mit dem Clubde la culture amazighe im nördlich von Le Kram gelegenen StadtviertelLa Marsa. Ziel der regelmäßigen gemeinsamen Veranstaltungen war dieFörderung und Inwertsetzung des zivilisatorischen Erbes des Amazighkulturin Tunesien. Die Jugendlichen sollten authentische Bräuche als Teil dertunesischen Volkskultur kennenlernen. Gleichzeitig sollten über die Informa-tionsvermittlung vorhandene Klischees und Vorurteile bekämpft werden. Inder aktiven Auseinandersetzung mit dem Thema sollten sie lernen, anderenund der eigenen Kultur mit Respekt zu begegnen und sich für Vielfalt undgegen die Marginalisierung in ihrem Land einzusetzen (Interview 13/2014).Zuletzt fand eine Kooperation beider Vereine im Februar 2016 anlässlich desinternationalen Tages der Muttersprache statt. Sie luden gemeinsam in die

214URL: http://www.tn.undp.org/. Zugriff am 23.03.2020.215URL: http://www.amnesty-tunisie.org.

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Räume des Hauses der Jugend ein. Das Einladungsschreiben kombiniertebewusst die arabische mit der Tifinagh-Schrift, um letztere in Wert zu setzenund die schriftliche und sprachliche Ausdrucksfähigkeit der Adressaten inbeiden Sprachen zu fördern. Neben den Tanzvorführungen durften die Kin-der und Jugendlichen zu diesem Anlass die Wände mit Graffiti besprühen.Sie entschieden sich dafür, die tunesische Flagge mit der Amazigh Flaggezu kombinieren. Die Inwertsetzung der Amazighkultur, der Berberspracheund der Tifinagh-Schrift stand im Kontrast zu der Betonung des Arabischenals Sprache des Korans und der Ablehnung unislamischer Einflüsse auf dieReligionsausübung. Besonders kritisch positionierte sich die salafistischeGemeinschaft im Viertel gegen die Förderung dieser Identitätsangebote. IhreMitglieder beriefen sich in Interviews wiederholt auf die arabisch-islamischeIdentität Tunesiens. Sie wiesen die wechselhafte Geschichte des Landes unddie Erinnerung an seine Kultur als melting pot unterschiedlichster Besied-lungsepochen entschieden zurück. Auch die tunesische Flagge und anderenationale Symbole, wie die Nationalhymne lehnten sie ab. Während derGesang grundsätzlich als unislamisch galt, wurde die tunesische Flagge durchFlaggen ersetzt, welche symbolisch die demokratische Transition Tunesi-ens verneinte und das Kalifat als Ordnungsvorstellung bewarb (Interview50/2013). Das Jugendzentrum hingegen bewarb diese nationalen Symbolebewusst. Bereits im Jahr 2013 waren die Wände der Einrichtung künstlerischgestaltet worden, wie die Abbildung 6.19 auf Seite 316 zeigt. Neben demNamen der Einrichtung (oben) war die tunesische Flagge schon damals starkpräsent auf. Rücken an Rücken aufrecht und stolz stehend, verbunden durchdie um die muskulösen Körper gewickelte tunesische Flagge, standen aufeinem der Bilder fünf lebensgroße Personen vor einem gelben Hintergrund.Ihr gemeinsamer Schatten in der Form eines Schlüssellochs fiel neben ihnenauf die Wand (unten links). Die Jugendlichen erklärten, dass dieses Schlüssel-loch den Weg in die Zukunft verspricht. Dieser Weg öffne sich nur durch diegemeinsame Arbeit an der geteilten Zukunftsvision für ein demokratischesTunesien (Interview 13/2014).

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Abbildung 6.19: Wandgestaltung Maison des Jeunes Le Kram; Quelle: Face-bookseite Maison des Jeunes Le Kram

Neben den politischen Symbolen wurden weitere Motive mit Identitätsan-geboten verwendet. Eines der Wandbilder im Eingangsbereich zeigte sechsJugendliche beim Tanzen vor einem skizzierten Haus, welches das Jugend-zentrum darstellte (unten rechts). Neben dem abgebildeten Haus warenverschiedenen Musikinstrumente zu sehen, darunter die arabische Laute undeine Tonleiter mit Noten, welche das musikalische Angebot verbildlichten.Die Bewahrung der Natur, ein wichtiger Arbeitsschwerpunkt der Einrichtung,fand ebenfalls symbolisch ihren Platz auf dem Bild. Auf dem Schornsteindes abgebildeten Hausdachs nistete ein Weißstorch.216 Die abgebildetenJugendlichen selbst unterschieden sich nur durch ihre Kleidung und ihre teils

216Weißstörche transportieren keine überlieferte Bedeutung in den tunesischen Volkser-zählungen. Sie sind dennoch bei den Einheimischen und den Touristen ein beliebtes

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6.3 Phase Drei: Die Rekonstruktion der Vergangenheit 2014

religiösen Attribute. Vier von ihnen tanzten in Hosen und Sneakers, bezie-hungsweise in einem kurzen Rock und mit hohen Schuhe oder einer Basecap.Unter der dargestellten Gruppe befand sich außerdem eine verschleierteFrau mit Abaya und Nikab sowie ein bärtiger Mann mit Jebba und Gebets-kette in der zur Faust ballten Hand. Die Attribute dieser beiden Personenstellten verbreitete Symbole der salafistischen Szene dar, welche den Tanzund Musik eigentlich ablehnt. Als erlaubt angesehen sind lediglich nashıds.Dabei handelt es sich um religiöse Botschaften, welche ohne instrumentelleBegleitung melodisch vorgetragen werden. Besonders fiel bei diesem Motivauf, dass alle dargestellten Personen gemeinsam mit in die Luft gestrecktenArmen tanzten. Das Bild symbolisierte den Grundtenor des Jugendzentrums.Ausgrenzung ist unerwünscht. Die Religion ist ein selbstverständlicher Teildes Alltags im Viertel und hat in allen ihren Facetten und Strömungen ihrenPlatz, auch der Salafismus. Keiner wird für sein Aussehen oder Handelnverurteilt (Interview 13/2014). Damit nahm das Jugendzentrums eine weitweniger polarisierte Haltung in der Frage nach der wahren Religion undIdentität der Tunesier ein, als seine Kooperationspartner im Viertel. Letzterebewegten sich im Dualismus zwischen dem tunesischem Islam und dem alsfremd wahrgenommenen Golfislam, der mit dem Salafismus gleichgesetztwurde. Im Jugendzentrum hingegen wurde auch der sogenannte Salafismusals Spielart des Islam akzeptiert und respektiert. Das Bild zeigte allerdingsauch, dass diese Akzeptanz religiöser Vielfalt an Bedingungen geknüpft war.Auch die Salafisten mussten andere Lebensweisen und islamische Praktikenrespektieren und sich für ein gleichberechtigtes Miteinander in der Gemeindeund in ganz Tunesien einsetzen. Sie mussten im übertragenen Sinn mittan-zen. Der Tanz war hier also als expressives Ausdrucksmittel ein „Produzent,Instrument und Resultat gesellschaftlicher Veränderungen“ (Klein 1992,S. 280). Er repräsentierte die intra-religiösen Spannungen der tunesischenGesellschaft, welche mit dem politischen Umbruch neue Bedeutung erfuhren.Tanzveranstaltungen fanden tatsächlich im Jugendzentrum statt. Abseits

Spektakel, wenn sie auf ihrer Route zwischen Afrika und Europa in Tunesien über-wintern.

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der Konzertbühnen des Park Urbain du Kram erhielten die Jugendlichenbeispielsweise am 9. Mai 2014 in den Räumen der Jugendeinrichtung undunter ihrem Alter angemessenen Bedingungen, die Möglichkeit, ein Hip-HopKonzert zu besuchen.

6.3.3 Zwischenfazit – Kulturelle Narrative

Diskurspolarisierung. Am 22. April 2015 trat der tunesische Dichter AnisChouchène [Anıs Shushan] im Programm Het Nehkiou!, tunesisch-arabischhat nah. kiu, deutsch Lass uns reden!, des Senders Hannibal TV ans Mi-krofon und rezitierte sein Gedicht „Frieden sei mit euch“, arabisch salamcalaykum. Das Gedicht ging nach der Fernsehausstrahlung in den sozialenMedien viral und wurde innerhalb von zwei Tagen über 50.000-mal aufYouTube angeklickt. Chouchène kritisiert in seinem Gedicht harsch denRassismus und den religiösen Extremismus in der tunesischen Gesellschaft,die den von ihm ersehnten Pluralismus, den Frieden und die Gerechtigkeitunmöglich machen. Er fordert darin: „Lasst uns Kunst schaffen. Lasst unsin den Traum eintauchen, eine Kultur ohne Dummheit zu gründen, so dassdie Kultiviertheit in uns ist. Das ist das höchste Kalifat“, arabisch dacunanakhlaq fann; dacuna naghus.u fı al-h. ulm; li-nursı thaqafa bi-la sakhafa; li-yakun al-ruqiyyu fına huwa asma khilafa. Es war eines von vielen medialenEreignissen, welche im Jahr 2015 die Spannung zwischen Politik, Kulturund Religion verdeutlichten. Dieses Spannungsverhältnis wurde auf lokalerEbene in Le Kram bereits im Jahr 2014 sichtbar. Durch die zahlreichenAktivitäten der zivilgesellschaftlichen Akteure angestoßen, fand dort eineeinschneidende Wende diskursiver Aushandlung statt. Der von salafistischenKreisen angestoßene Konflikt über den „wahren Islam“ war bis Ende desJahres 2013 noch durch den von der Miliz propagierten, politischen Diskursüber den „wahren Tunesier“ verdrängt worden. Die Aushandlung über denwahren Islam brach erst endgültig aus, als einige der zivilgesellschaftlichenAkteure in Le Kram begannen, einen religiösen Gegenentwurf zum sala-fistischen Islam zu vertreten. Die beiden Diskurse über den wahren Islam

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und den wahren Tunesier standen ab sofort gleichberechtigt nebeneinanderund wurden immer weiter miteinander verstrickt. Nur der wahre Tunesiererschien berechtigt, eine politische Ordnung für das zukünftige Tunesiendurchzusetzen. Der wahre Tunesier konnte nur als solcher gelten, wenn ereine bestimmte Auslegung des Islams vertrat. Die religiöse Positionierungund Definition des einzig wahren Islam wurde infolge zum zentralen Bestim-mungskriterium der verschiedenen Akteure in Le Kram. Das Ergebnis derFusion waren zwei sich diametral entgegen stehende Positionen zu Religion,Staat und Gesellschaft mit zwei gegensätzlichen Versionen der Erinnerung andie Vergangenheit. Beide beriefen sich dabei auf einen bestimmten Zeitpunktder tunesischen Geschichte, beziehungsweise der Geschichte des Islam. Diesebeiden unterschiedlichen, geschichtlichen Perioden erschienen im jeweiligenDiskurs als idealisierte Momente der Vergangenheit. Auf der einen Seitestand der salafistische Wille nach einer Gesellschaftsordnung, welche sich ander frühen Entstehungszeit des Islam, sprich die ersten drei Generationender Muslime, den al-salaf al-s. alih. , orientierte. Die salafistischen Akteuresahen den wahren Tunesier als einen an den Maximen der al-salaf al-s. alih.orientiert handelnden Muslim, der sich für die Umsetzung eines Kalifats-staats in Tunesien einsetzte. Dieser Einsatz konnte sowohl durch aktivespolitisches Engagement als auch durch die passive Befürwortung und Um-setzung salafistischer Normen im Alltag geschehen. Auf der anderen Seitestanden säkulare und islamistische Verfechter eines Islam, der mit Demo-kratie, Freiheit und gesellschaftlichem Pluralismus vereinbar sein sollte. Fürsie war die Identifikation mit der genuin tunesischen Geschichte und Kulturentscheidend, wie sie im beginnenden 20. Jahrhundert ausgesehen habensoll. Sie sprachen ehrfürchtig vom Tunesien, wie es – in ihrer Vorstellung– früher war, tunesisch-arabisch tunis kıfash kanat. Der Diskurs über dieKultur und Geschichte Tunesiens berief sich auf alltägliche Praktiken desIslam. Diese wurden innerhalb des salafistischen Spektrums als unerlaubteNeuerungen abgelehnt und damit als unislamisch angesehen. Der Volksis-lam gefährde mit seinen Praktiken die Umsetzung der Gesellschaftsordnungder al-salaf al-s. alih. . Eine gerechte Ordnung, arabisch niz. am al-s. alih. , wie

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sie von einigen islamischen Demokraten aus dem Kulturdiskurs gefordertwurde, wurde von den Salafisten aus dem gleichen Grund abgelehnt. Der„Islam ist keine Cola Light!“, erregte sich eine junge Frau, die im Laden fürreligiöse Kleidung in Le Kram Est Handschuhe kaufte. „Der wahre Islamist nicht zu ersetzen“, ergänzte ihre Begleiterin (Interview 25/2013). DerSalafismus galt den Befürwortern eines pragmatischen Umgangs mit denTraditionen des Volksislam wiederum als fremd. Er sei aus dem Ausland,den arabischen Golfstaaten, importiert worden und damit als Basis füreinen tunesischen Islam illegitim. Salafistische Praktiken und die mit ihneneinhergehende Vision einer auf dem Islam beruhenden politischen OrdnungTunesiens bedrohten, ihrer Meinung nach, den gesellschaftlichen Zusammen-halt in Tunesien (Interview 25/2013). Der gesellschaftliche Zusammenhaltsei unweigerlich an die gemeinsame geschichtliche und kulturelle Identitätder Tunesier geknüpfte und müsse über dieselbe gefestigt werden (Interview22/2014 und 26/2014). Die im Kulturbereich aktiven, zivilgesellschaftlichenAkteure präsentierten sich somit als Bewahrer einer spezifisch tunesischenAusprägung des Islam. Sie sahen sich in der Verantwortung für Weitergabeder immateriellen Kultur Tunesiens, also die angemessene Erinnerung undRückbesinnung auf volkstümliche Bräuche und Traditionen, abseits europä-isch inspirierter Musik, Literatur oder Malerei. Dazu zählten sie ausdrücklichdie Berberkultur, welche den Kindern und Jugendlichen im Viertel näher-gebracht werden sollte. Die Rückbesinnung auf die Vergangenheit sprachgleichzeitig den Nationalstolz der Einwohner an und wurde zum Sinnbildund Identitätsträger der demokratischen Idee. „Longing for a golden ageof Tunisian history and culture sustains a hope for emancipation from anera defined by postcolonial politics, authoritarian secularism, and stateislam“ (Marzouki 2012). Während die heterogene Gruppe der Salafisten imViertel den Islam als gemeinsame Basis in den Mittelpunkt stellten, bedurftedie Kooperation von Islamisten und Säkularen der Rückbesinnung auf diegeteilte Kultur als weniger kontroverse Grundlage für die Zusammenarbeit.Der Islam wurde dabei weder negiert, noch eine bestimmte Ausprägungdes Islam in den Mittelpunkt gestellt. Die propagierte Version von Kultur

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trat nicht in Konkurrenz zum Islam. Ihr Einfluss auf den Islam wurde,abseits salafistischer Kreise, in Le Kram deshalb nicht problematisiert. Zwarverschmolzen Kultur und religiösen Praktiken in der Vergangenheit häufigmiteinander und ließen eine Art Volksislam entstehen, dieser wurde aberals inhärenter Bestandteil der tunesischen Identität wahrgenommen. DieseInwertsetzung der (islamischen) Volksbräuche stellte keine Bedrohung für diegemeinsam angestrebte politische Ordnung Tunesiens dar. Das Besondeream kulturellen Islam in Le Kram war im Gegenteil die Verknüpfung der alsgenuin tunesisch wahrgenommenen Kultur mit dem gemeinsam getragenenWertesystem und den geteilten politischen Ordnungsvorstellungen. Konsensschien hierbei über die Werte Frieden, Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit,Solidarität und Sicherheit zu herrschen. Sie bildeten die Basis für die an-gestrebte demokratische Republik Tunesien. Der Volksislam wurde zumverbindenden Element vermeintlicher, politischer Opponenten. Nicht dietatsächliche Tragweite der Religion in der politischen Ordnung, sondern diekonkrete Bedrohung dieser Ordnung durch den religiösen Extremismus, wiedurch die salafistischen Strömungen in Le Kram, stand im Vordergrund.Auf den angesprochenen Wertekanon hatte sich die infolge der Revolutionentstandene Miliz bereits Ende des Jahres 2011 berufen, als sie sich inOpposition zum verhassten Ben Ali-Regime positionierte. Im polarisiertenDiskurs zu Ende des Forschungszeitraums stand die Gruppe der ehemaligenMilizionäre von Le Kram Ouest gespalten dar. Der am Parteiprogramm derEnnahdha orientierte Teil der Miliz wandte sich dem kulturellen Diskurszu. Sie beschrieben ein Verhältnis von Staat und Religion auf der Basiseiner einer gerechten Ordnung. Diese sei genuin islamisch und als solche mitDemokratie und gesellschaftlichem Pluralismus vereinbar. Der Staat solle alsHüter der Religion auftreten, nicht nur gegenüber säkularen Forderungenim Rahmen der Religions-, Meinungs-, oder künstlerischer Freiheit, sondernauch gegen Angriffe religiöser Extremisten. Die den Lehren der Salafistenverbundenen Milizionäre standen hingegen eher der Kalifatsstaatsidee nah.Diese gemeinsam Zukunftsvision wurde nun zusätzlich öffentlich von eherapolitisch eingestellten Salafisten im Viertel unterstützt, da sie nach dem

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Wegbrechen der extremistischen Vereinigung um die Sayyida Khadija Mo-schee nicht mehr befürchten mussten, mit diesem gewaltbereiten Akteuridentifiziert zu werden (Interview 24/2014 und 50/2013). Wie in dieser Situa-tion klar zu erkennen war, kam Symbolen eine bedeutende politische Rolle zuin der Art, wie Akteure sich zueinander positionierten. Über ihre Interaktionund die Manipulation der Machtstrukturen regulierten sie darüber hinausden dynamischen Prozess der Konstruktion von Identitäten. Dabei ordne-ten sie die Lebenswelt in zwei Kategorien, das Eigen und das Fremde. Siestellten Opposition nach außen her und unterfütterten die geteilte Ideologienach innen. Der polnische Ethnologe Zdzislaw Mach schreibt: „The moreantagonistic a social situation, the more active role symbolic actions play,integrating a group, canalizing conflicts or, often, generating open actionsagainst opponents or enemies“ (Mach 1993, S. 265). Mit dem zunehmendenAntagonismus zwischen der Miliz beziehungsweise den Salafisten und denzivilgesellschaftlichen Organisationen im Viertel, nahm auch das Ringen umdie symbolische Besetzung des öffentlichen Raums zu.

Diskursmanifestationen. Der Diskurs über die „tunisianité“ wurde, nebenden bereits beschriebenen Eingriffen in den lokalen Raum, über den Wan-del der bisher vorherrschenden Körpernormen öffentlich sichtbar. Es zeigtesich, dass in der Krise des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs,die lokale Erinnerungskultur darauf abzielte, die lokale Gemeinschaft aufder Basis einer geteilten nationalen Identität zu gründen. Das Bewusstseinfür diese Identität manifestierte sich symbolisch an geschichtsträchtigenOrten, den lieux de mémoire (Nora 1998). Diese symbolischen Orte sindnicht nur als Orte im geografischen Sinn zu verstehen, sondern wurdenimmer weiter ins Immaterielle verschoben. Sie können auch Ereignisse inder gemeinsam erinnerten Geschichte, Institutionen, Kunstwerke, Musikoder der menschliche Körper selbst sein. Diese Erinnerungsorte stiften alsgemeinsamer Bezugspunkt der sozialen Gruppe eine geteilte Identität. Siekönnen aber nicht von einem einzelnen Akteur bestimmt und getragen wer-den, sondern befinden sich immer in einem Spannungsfeld unterschiedlicher

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Akteure, welche diese für sich nutzten. Neben den bereits beschriebenenOrten im Stadtbild des Viertels selbst, den Straßenzügen und Plätzen, ist dieErinnerung an die tunesische Revolution von 2011 selbst ein Erinnerungsort.Einige Akteure im Viertel gehen noch weiter zurück in der Geschichte undknüpfen darüber hinaus an der tunesischen Unabhängigkeit oder sogar ander Protektoratszeit an. Denkmäler, wie die Reiterstatue Bourguibas imZentrum von Tunis oder die Graffitis in Le Kram sind ebenfalls Erinne-rungsorte. Diese symbolischen Erinnerungsorte wurden in Le Kram vonallen beobachteten Akteuren genutzt, um die jeweils eigenen Vorstellung vonIdentität und Ordnung allgemeingültig durchzusetzen. Auffällig war in die-sem Rahmen und vor dem Hintergrund der sich wandelnden Körpernormender neue Trend zur dauerhaften Tätowierung.217 Bisher war die Verletzungder Integrität des Körpers als unislamisch abgelehnt und gesellschaftlichgeächtet worden. Die tunesische Jugend traute sich nun aber, sich sogaran sichtbaren Körperstellen mit potenziell provokativen Motiven dauerhafttätowieren zu lassen. Sie ergriffen Besitz über ihre Körper und forderten dieFreiheit, diese entgegen der vorherrschenden Normen und Zwängen nacheigenen Vorstellungen zu gestalten und diese Sichtbar in die Öffentlichkeitzu tragen. In einigen Interviews stellte sich heraus, dass sie als visueller Pro-test gegen religiöse Normen der Gesellschaft ausgesucht wurden (Interview27/2014). Der Körper selbst wurde über die Symbolik der Motive zur Pro-jektionsfläche für Identitätsvorstellungen und zum Erinnerungsort. Mit demAufkommen des Kulturdiskurses, wurden beispielsweise alte Berbersymbolein der tunesischen Tattooszene wiederbelebt. Skorpione, Schlangen, Fischeund andere Motive, deren Bedeutungen regional unterschiedlich oder nichtmehr bekannt waren, wurden an verschiedenen Körperstellen verwendet.Es fiel dabei auf, dass überlieferte Körperstellen, wie das Gesicht oder dieFußsohlen ausgelassen wurden. Der magische Charakter der Darstellungen,

217Tätowiert wurde zunächst in Privathäusern und Hinterzimmern. Das erste von tunesi-schen Behörden offiziell genehmigte Tattoo-Studio wurde im Jahr 2016 von FawezZahmoul [Fawaz Zahmul], alias Wachem [Washim] le Tatoueur, im wenige Kilometernördlich von Le Kram gelegenen Vorort La Marsa eröffnet.

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der vor dem Eindringen unerwünschter Einflüsse aus der Umwelt, zum Bei-spiel beim Kontakt der Füße mit dem Boden, schützten sollte, trat in denHintergrund. Auch Männer ließen sich Berbersymbole tätowieren, obwohldiese Tätowierungen in der Geschichte Tunesiens in die Sphäre der Frauengehört hatten. Dieser Trend hatte gleichzeitig in ganz Tunesien eine religiösbeziehungsweise ästhetisch inspirierte Gegenbewegung in der Generation derGroßmütter und Urgroßmütter. Sie ließen sich im hohen Alter aufwendig undteuer ihre tätowierten Schutzsymbole im Gesicht, an den Händen, Beinenund anderen Körperstellen mit dem Laser entfernen. Es war in ihrer Jugendweit verbreitet gewesen, dass Bräute vor der Hochzeit Schutzsymbole täto-wiert bekamen. Der Bräutigam übernahm die Kosten und suchte die Themender Schutzsymbole für seine Braut aus. Diese (ungewollte) Manipulationdes eigenen Körpers sollte rückgängig gemacht werden.218 Weiter verbreitetals der Tattootrend war es, traditionelle Kleidungsstücke in den Modeall-tag zu integrieren. Über sie wurden vorherrschende Geschlechteridentitätengesellschaftlich neu ausgehandelt. Die Chechia beispielsweise war vor 2011eher von Herren der älteren Generationen in Kombination mit einer Jebbazu religiösen Veranstaltungen getragen worden und hauptsächlich unterausländischen Touristen als Urlaubssouvenir beliebt. Als Kopfbedeckungwurde sie aber mit der Revolution als Symbol der tunesischen Identitätund des Geschichtsbewusstseins innerhalb und außerhalb religiöser Kreiseimmer populärer (Interview 26/2014 und 28/2014). Zudem wurde die fürMänner bestimmte Chechia nun auch von jungen Frauen getragen. Sie be-gehrten für die Wahrung der Gleichberechtigung von Männern und Frauenauf. Als Fashion Statement oder als Zeichen der Kultiviertheit und desNationalstolzes hatte auch das bisher als altmütterlich und provinziell ver-rufene Frauenhemd Meryoul Fadhila, tunesisch-arabisch maryul fad. ıla, sein

218360°-GEO-Reportage „Tunesien, die Kunst der Berbertattoos“, Staffel 15, Folge 8,Regie: Myriam Bou-Saha, ©Medienkontor FFP GmbH, Vertrieb: Studio HamburgDistribution and Marketing GmbH.

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(zweites) Comeback.219 Anstatt es klassisch unter der tunesischen Meliya zutragen, wurde das Meryoul Fadhila nun von den jungen Frauen sogar provo-kativ bauchfrei geknotet und mit Hosen oder kurzen Röcken kombiniert. AlsFrau in der Öffentlichkeit den eigenen Bauch zu zeigen, war ein Tabubruchmit den bisherigen tunesischen Kleidungskonventionen und entsprach derneu gewonnenen Freizügigkeit in der Mode und dem Pochen auf persönlicheEntfaltung im öffentlichen Raum nach der Revolution 2011. Beliebt wurdees auch, das geblümte Kopftuch der Mütter- und Großmüttergeneration,als Haarschleife im Stil der 1950er Jahre zu binden. Auch Jumpsuits imStil der Meliya trafen rund um das Jahr 2014 den Modegeschmack jungerFrauen in Le Kram (und ganz Tunesien). Selbst für Männer war das MeryoulFadhila der Frauen als kurzärmliges Hemd geschnitten im Handel erhältlichund symbolisierte, wie die Chechia, das Aufbrechen der vorherrschendenGeschlechterrollen. Bräute trugen den Safsari stolz, wenn sie an ihrem Hoch-zeitstag vom Friseur abgeholt wurden. Die breite Sichtbarkeit traditionellerKleidung, arabisch labisa taqlidıya, im öffentlichen Raum unterstrich diePosition der zivilgesellschaftlichen Akteure. Die Salafisten in Le Kram lehn-ten diese Entwicklungen hingegen entschieden ab. Dennoch nutzten auchsie ihre Kleidung als Erinnerungsort und Spiegel ihrer Agenda. Vorbild inder Vergangenheit konnte für sie nur die Zeit der al-salaf al-s. alih. sein, anwelcher sich auch ihre Kleidernormen orientierten. Ein verbindendes Elementbeider Standpunkte hätte der Safsari darstellen können. Der Safsari wurdevon den Salafisten befürwortet, weil er die Trägerin gemäß den islamischenNormen bedeckt. Da der Safsari aber, anders als noch zu Beginn des 20.Jahrhunderts, hauptsächlich als als modernes Lifestyle-Produkt und roman-tische Interpretation der Vergangenheit getragen wurde, relativierte sich aus

219Den ersten Trend hatte die tunesische Schauspielerin Fadhila Khetmi [Fad. ıla Khadmı](1905–1992) nach dem zweiten Weltkrieg ausgelöst. Sie machte das traditionelle Klei-dungsstück der tunesischen Juden, arabisch maryul h. uriyya, bis in die US-MetropoleNew York hinein zum Trend und gab ihm seinen heutigen Namen. In Rosa mit schwar-zen und weißen Streifen trug es daraufhin zum Beispiel Brigitte Bardot im Jahr 1963im Film Le Mépris unkonventionell in Kombination zum grauen Faltenrock.

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salafistischer Sicht der religiöse Sinn des Safsaris wieder. Er wurde aufgrundseiner modernen Verwendung vehement abgelehnt (Interview 50/2013).

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7 Forschungsergebnisse und-perspektiven

7.1 Forschungsergebnisse

7.1.1 Die demokratische Transition Tunesiens

Verschiedene Indices zur Demokratiequalität Tunesiens zeigen seit 2011,dass das Land sich aus einer überregionalen beziehungsweise nationalenPerspektive heraus betrachtet tatsächlich in Richtung einer schrittweisenDemokratisierung bewegt. Grundlegende Indikatoren der Messung von De-mokratie sind dabei zum Beispiel die Beteiligung der Bürger an politischenWillensbildungs- und Entscheidungsprozessen, wie die Durchführung freierund fairer Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in den Jahren 2014 und2019, oder verschiedene Aspekte der Rechtsstaatlichkeit, wie die Gewalten-teilung, die Gewährung von Bürgerrechten, die Stabilität der Institutionensowie die gesellschaftliche Integration. Der BTI ordnet Tunesien bis in dasJahr 2014 als eine sich konsolidierende Demokratie ein (Bertelsmann Stif-tung 2014). Der Polity Score Tunesiens im Global Report des Center forSystemic Peace zeigt zwischen 2014 und 2017 ebenfalls eine Verschiebung desRegimetyps von einer offenen Anokratie mit unklaren Machtverhältnissen(vgl. Marshall & Cole 2014, S. 23) hin zu einer Demokratie (vgl. Marshall &Elzinga-Marshall 2017, S. 32). Auch der Freedom House Report konstatiertfür Tunesien über die ersten Jahre nach der Revolution 2011 einen demo-kratischen Transitionsprozess. Die politischen Ereignisse der letzten Jahrezeigen jedoch, dass die demokratische Transition wiederholt Stressfaktoren

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7 Forschungsergebnisse und -perspektiven

ausgesetzt war und die erhoffte demokratische Konsolidierung des Landesweiterhin herausgefordert wird. Zu nennen sind hierbei die politischen Mor-de an zwei tunesischen Politikern, die politische Polarisierung des Landes,welche erst durch Konsenspolitik stabilisiert werden konnten, das geringeVertrauen der Bevölkerung in die Politik und die demokratischen Institu-tionen, die sinkende Wahlbeteiligung, regionale Disparitäten und sozialeUngleichheit bei gleichzeitigem Mangel an sozialpolitischen Fortschrittenund wirtschaftlicher Prosperität, Machtkämpfe innerhalb der politischenEliten sowie autoritäre Regierungspraktiken. Ein Freedom House Artikelaus dem Jahr 2018 erklärt dementsprechend, dass die politische Partizipa-tion in Tunesien nicht gewährleistet sei, die demokratischen Rechte undFreiheiten nicht voll umgesetzt würden und die Institutionen nicht legitimseien. In der Amtszeit Essebsis (2014–2019) seien Vetternwirtschaft nichtunüblich gewesen und der Kreis der politischen Eliten distanziere sich weitervon der restlichen Bevölkerung, was zu einer graduellen Rückkehr zu denautoritären Strukturen vor der Revolution führe (Fassihian & Wilson 2018).Die International Crisis Group beschreibt die politische Lage in Tunesienseit 2018 ebenfalls kritisch und sieht „autoritäre Reflexe“ (InternationalCrisis Group 2018) während der BTI Bericht ab 2016 Tunesien mit einemIndex von 6,5 als defekte Demokratie eingestuft (Bertelsmann Stiftung 2016).Einzelaspekte dieser politischen Entwicklungen ließen sich in den lokalenAushandlungsprozessen bereits zwischen 2011 und 2014 beobachten. Diesgibt einen Hinweis darauf, wie wertvoll feinkörnige Analysen der politischenMikrodynamiken für das Verständnis dieser Stressfaktoren sein können. Siezeigen frühzeitig mögliche Hindernisfaktoren der Demokratisierung bezie-hungsweise Konsolidierung auf und ergänzen das Gesamtbild des politischenWandels. Insbesondere, wenn bottom-up aus der Mikroperspektive und ohneeine teleologische Brille auf die politischen Entwicklungen geblickt wird,eröffnet sich die Möglichkeit, offene und scheinbar unerklärliche Fragenunvoreingenommen anzugehen.

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7.1 Forschungsergebnisse

7.1.2 Die demokratische Transition auf der Mikroebenebetrachtet

7.1.2.1 Normative Prämissen auf dem Prüfstand

Rechtsfreie Räume. Während auf der nationalen Ebene die revolutionäreKrise bereits als überwunden galt und ein demokratischer Transitionsprozesserwartet wurde, zeigten sich im Lokalen politische Entwicklungen, die einesolche Prognose nicht stützten. Am eindrücklichsten erschien diese Diskre-panz im Hinblick auf das Auftreten eines politischen Vakuums in TeilenLe Krams. Während Tunesien international als Musterland und Hoffnungs-träger der Demokratisierung im arabischen Raum galt, existierte mittenin der Hauptstadt Tunis ein rechtsfreier Raum, in dem die Staatlichkeitstark eingeschränkt war und das Gewaltmonopol erodierte. Dort verfestigtesich die Protestdynamik, deren Konfrontationen zwischen dem tunesischenStaat und den Bürgern im öffentlichen Raum eine Legitimitätskrise der Herr-schaftsordnung offenbarten. Darüber hinaus entstanden über Selbstverwal-tungsbestrebungen Parallelstrukturen und offene Räume für die organisierteKriminalität und Terrorzellen, welche zur Herausforderung der Stabilitätder politischen Ordnung und der Kontinuität der demokratischen Transitionwurden. Zudem zeigten die Stimmungsbilder aus der lokalen Gesellschaft,dass eine Konzentration auf die normative Vorannahme einer demokratischenTransition Tunesiens als Zukunftsprognose die gesellschaftlichen Realitätenaußer Acht lässt beziehungsweise die Zustimmung der Gesellschaft hierzunicht grundsätzlich vorausgesetzt werden kann. Die lokalen Ordnungsideenin Le Kram wiesen eine Vielfalt von Vorstellungen über das zukünftigepolitische System Tunesiens auf (vgl. Carothers 2002, S. 3). Neben die tat-sächlich vorhandenen Forderungen nach einer demokratischen Ordnung unddemokratischen Werten, wie Gerechtigkeit oder Freiheit, traten Ordnungs-vorstellungen lokaler Akteure, welche keinen demokratischen Wandel odersogar Wechsel als Perspektive für Tunesien anstrebten. Um diese durchzuset-zen, verursachten und nutzten die Akteure gezielt rechtsfreie Räume jenseitsstaatlicher Kontrolle. Auch wenn der letztendlich eingeschlagene Weg am

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7 Forschungsergebnisse und -perspektiven

Ende des Beobachtungszeitraums tatsächlich auf eine weitere Konsolidierungder Demokratie hinweist, konnten (und können auch weiterhin) abweichendeOrdnungsideen, wie sie beispielsweise in lokalpolitischen Prozessen verhan-delt werden, diese demokratische Konsolidierung des Landes nachhaltigbeeinflussen, wenn nicht sogar verhindern. Die gesellschaftlichen Realitätensollten deshalb wertungsfrei in die Statusanalyse eines Lands einfließen undnicht hinter Zukunftsprognosen auf Grundlage der von außen an das Landherangetragenen Ansprüche zurückgestellt werden. Von diesen normativenErwartungen abweichende Ordnungsvorstellungen waren beispielsweise in-spiriert vom politischen System Irans. Einige Befragte wünschten sich, dassScharianormen als Auslegungshorizont über allen anderen Rechten stehenund die Trennung von Staat und Religion aufgehoben werden sollte. Dastunesische Staatsoberhaupt könne nur eine von Gott berufene Person sein.Gleichzeitig wurden pseudodemokratische Elemente überlegt: Das islami-sche Staatsoberhaupt Tunesiens müsse auch wieder abwählbar sein, ummöglichen Amtsmissbrauch zu verhindern. Eine zahlenmäßig vergleichsweisegrößere Gegenbewegung zur Demokratie forderte die Errichtung eines tu-nesischen Kalifats in Tunesien. Das Vorbild war für die Interviewten derStaatsaufbau nach dem im Viertel zirkulierende Vorschlag der Hizb al-Tahrir(siehe Abbildung 6.6 auf Seite 224 beziehungsweise die deutsche Übersetzungauf Abbildung 7.9 im Anhang auf Seite 360). In anderen Fällen war dasMisstrauen gegen die eigenen Mitbürger so groß, dass sogar eine Art BenAli-Nostalgie verfolgt wurde, welche eine erneute Zentralisierung der Machtund eine einheitliche Ideologie unter einem starken autoritären Anführer fürdas Volk beinhaltete (International Crisis Group 2018). Befürworter blende-ten die Erfahrungen der Diktatur aus und wandten sich den alten Eliten zu:„Daily hardship, inflation and the relative degradation of public infrastruc-ture (transport, health care, education) which are hitting the working-classareas are giving rise to nostalgia for the 1990s-2000s, ie when Ben Ali wasin power, making the citizens more receptive to the nationalistic discour-se of some representatives of the old regime“ (International Crisis Group2018, S. 13). Neben der Perspektivlosigkeit über die eigenen wirtschaftlichen

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7.1 Forschungsergebnisse

Zukunftsperspektiven wurde als einer der Begründungen angegeben, dasses unter dem Ben Ali-Regime keine Terroranschläge gegeben habe, da dieSicherheitspolitik diese zuverlässig verhinderte (Interview 4/2013).220 Anderebegründeten ihre Haltung damit, dass unter dem Ben Ali-Regime die Ver-waltungsstrukturen im Alltag besser kalkulierbar gewesen seien (Interview29/2013). Die nach dem Jahr 2011 geschaffenen, staatlichen Institutionenwaren eher schwach und griffen nicht (vgl. International Crisis Group 2018,S.13). Auch die Erwartungsunsicherheit, welche unter dem Ben Ali-Regimeaus der Spannung zwischen formalisierten Gesetzen und ihrer informellenUmsetzung bestand, wurde nach 2011 als noch problematischer beschrieben.Nach 2011 waren zwar formalisierte Gesetze vorhanden, diese wurden abernur unzureichend umgesetzt. Wo frühere Strukturen die Möglichkeit boten,auf Bestechung und Vetternwirtschaft zurückzugreifen, war auch dieser Zu-gang nicht mehr flächendeckend gegeben oder risikobehaftet. Eine Rückkehrzu den Ausmaßen des Überwachungsstaats unter Ben Ali erscheint nachder Auflösung der RCD, der Auflösung der politischen Polizei und vor demHintergrund der internen Konflikte des Innenministeriums derzeit jedocheher unwahrscheinlich (vgl. International Crisis Group 2018, S. 15). Selbstunter den Demokratiebefürwortern wichen die Präferenzen, wie das demokra-tische System gestaltet werden sollte, voneinander ab. Einige befürworteteneine direkte Demokratie mit einer starken Stellung des Volks, welches die

220Dieses Narrativ blendete aber entscheidende Ereignisse aus, wie den terroristischenAnschlag auf die al-Ghriba Synagoge auf der Insel Djerba am 11. April 2002. Da-mals steuerte Nizar Naouar [Nizar Nawar] (1978–2002), ein Attentäter der GroupeCombattant Tunisien, einen Kleinlaster mit Flüssiggas in das Gebäude und tötete 21Menschen. Die Group Combattant Tunisien war ein im Jahr 2000 gegründetes, losesNetzwerk mit Verbindungen zu der Terrororganisation Al Kaida. Es hatte zum Ziel,in Tunesien eine islamische Regierung einzusetzen. Die Bewegung wuchs um mehrereAbleger in Europa bis ihre Gründer, Tarek Maaroufi [T. ariq al-Macrufı] (geb. 1965) undSeifallah Ben Hassine [Sayf Allah Bin H. assın] (geb. 1965), in den 2000ern verhaftet undverurteilt wurden. Ben Hassine wurde nach der tunesischen Revolution im Rahmeneiner Generalamnestie aus dem Gefängnis entlassen und gründete kurz darauf unterdem Namen Abu Iyadh al-Tunisi [Abu cAyad. al-Tunisı] die radikalislamische GruppeAnsar al-Scharia in Tunesien.

331

7 Forschungsergebnisse und -perspektiven

Möglichkeit haben sollte, über Gesetzesreferenden oder Volksinitiativen inSachfragen mitzuentscheiden. Hinter ihrem Beharren auf das Recht der direk-ten Partizipation an politischen Prozessen stand ein tiefsitzendes Misstrauengegenüber den Intentionen des Staatsoberhauptes, der Regierung allgemeinoder dem Parlament. Mehrheitlich beschrieben wurde die Hoffnung auf eineparlamentarische Demokratie. Bei dieser Variante wurde die starke Stellungder Parteien und die rein repräsentativen Aufgaben des Staatsoberhaupteswertgeschätzt, um ein erneutes Abgleiten Tunesiens in die Diktatur zu ver-hindern. Daneben gab es aber auch Stimmen, die Zweifel an der Vernunftder eigenen Mitbürger äußerten und befürchteten, dass Demokratie ersterlernt werden müsse. Ein zu großes Mitbestimmungsrecht durch Wahlenoder Volksinitiativen sei in der fragilen Lage, in der sich Tunesien befand,zu gefährlich. In diesem Fall ging die Tendenz eher zu einer tunesischenPräsidialdemokratie, da ein „starker Mann“ an der Spitze nötig sei, umdie „protestwütigen“ und „religionsversessenen“ Tunesier zu kontrollieren(Interview 14/2013 und 27/2014). Das Problem an dieser Variante ist in derPraxis meist, dass es zu politischen Blockaden kommen kann, wenn die Par-lamentsmehrheit eine andere Partei vertritt als der Präsident. Auch könnenwirtschaftliche Lobbyisten weiterhin großen Einfluss auf die Politik ausüben.Religiöse Stimmen in Le Kram befürworteten ebenfalls ein demokratischesSystem, dessen Verfassung und Gesetzgebung aber in unterschiedlicher Ge-wichtung auf islamischen Normen beruhen sollte. Einigen genügte es, wenndie neue Verfassung auf die islamisch-arabische Identität verwies. Anderewollten darüber hinaus festgelegt sehen, dass der gewählte Präsident Muslimsein müsse. Paradoxerweise forderten Einwohner, welche sich selbst nichtdem religiösen Spektrum im Viertel zuordnen wollten, dass der Staat und dieReligion nicht getrennt werden sollten. Der Staat sollte vielmehr als Hüterder Religion auftreten, um die Einflussnahme religiöser Extremisten besserkontrollieren zu können (Interview 25/2014). Andere Stimmen von Inter-viewten, welche sich als religiös einstuften, sahen darin eher eine Bedrohungfür die Neutralität der Moscheen gegenüber staatlicher Instrumentalisierungund plädierten für eine strikte Trennung beider Sphären (Interview 26/2014).

332

7.1 Forschungsergebnisse

Islam als Bedrohung des demokratischen Wandels. Säkularismus wird inder liberalen Demokratietheorie als zentrale Voraussetzung einer demokra-tischen Staatsordnung verstanden. Im Hinblick auf die Umsetzung diesesnormativen Programms in islamischen Gesellschaften ergibt sich in denletzten Jahren sowohl in der westlichen wissenschaftlichen Literatur alsauch im arabischsprachigen Raum eine kritische Debatte. Sie entspanntsich zwischen einer wachsenden Skepsis gegenüber islamischen Akteuren,welche als potenzielle Gefahr demokratischer Ordnungen beschrieben werden(vgl. Hudson 2012, S. 234 ff.) und der Frage, ob islamische Prinzipien demSäkularismus tatsächlich grundsätzlich entgegenstehen (vgl. Ciftci 2013, S.782). Letztere Vertreter widersprechen der unter anderen in kulturtheoreti-schen Ansätzen der Transitionsforschung verbreiteten These, dass religiösorientierte Gesellschaften grundsätzlich die Verbreitung demokratischer Nor-men behindern (vgl. Merkel & Puhle 1999, S. 49). In Tunesien zeigte sichdiese Bruchlinie beispielsweise entlang parteipolitischer Grenzen. Der spä-tere Staatspräsident Essebsi gründete die Partei Nidaa Tounes im Jahr2012, nach eigener Aussage, als notwendiges, säkulares Gegengewicht zurislamistischen Ennahdha-Partei.221 Diese im weiteren Verlauf stark polari-sierte Akteurskonstellation der nationalen Ebene konnte im Hinblick auf dieAushandlungsprozesse der lokalen Akteure empirisch jedoch nicht bestätigtwerden. Die beschriebene Dichotomie spiegelte sich zwar auch im Sprachususder Interviewpartner wider, konnte aber die Komplexität und den Facetten-reichtum des gesellschaftlich verhandelten Islamverständnisses nicht erfassen.Religiöse Prinzipien des Islam waren für die Mehrheit der Befragten, auchfür diejenigen, welche sich selbst als säkular beschrieben, keineswegs bedroh-lich, sondern ein selbstverständlicher Bestandteil ihres Weltbildes und ihrerLebensrealität.222 Weder standen religiöse Prinzipien zwingend im Konflikt

221Die Bezeichnung als „islamistisch“ geht nicht auf die parteiinterne Selbstbeschreibungenzurück, sondern beruht auf der sozialwissenschaftlichen Forschungsliteratur.

222Einen möglichen Hinweis darauf kann auch die religiöse Symbolik geben, welche sowohldie Nidaa Tounes, als auch die Ennahdha-Partei verwenden. Die Wahlpamphlete der

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7 Forschungsergebnisse und -perspektiven

mit demokratischen Erwartungen und Hoffnungen, noch führten sie zu einerlokalpolitischen Spaltung in Säkulare und Islamisten. Vielmehr engagier-ten sich Mitglieder der Ennahdha-Partei in kommunalpolitischen Projektenganz selbstverständlich an der Seite von Nidaa Tounes-Anhängern. Für dieAnalyse der politischen Lage Tunesiens folgt daraus, dass der Dualismuszwischen säkularen Kräften und den religiösen Kräften das politische Han-deln lokaler Akteure nicht so grundlegend prägt, wie es in der Forschung zurnationalen Ebene häufig vorausgesetzt wird. Anders als im internationalenwissenschaftlichen Diskurs gemeinhin angenommen, wurde der Islam oderislamische Prinzipien nicht grundsätzlich als Bedrohung der demokratischenOrdnung gewertet. Vielmehr entwickeln unterschiedliche islamische Akteurebereits Modelle, welche islamische Prinzipien mit der Demokratie verbin-den (al-Ghannouchi 2011). Auch sollten säkulare Argumente nicht mehrgrundsätzlich als rationaler oder neutraler gewertet werden, als religiöseGründe. Dieses Konzept ist ein überdauerndes Produkt aus der Zeit derEntstehung des modernen Nationalstaats. Es stellte zu seiner Entstehungden Schrecken und die Gewalt der Religionskriege der Friedfertigkeit undlegitimen Gewalt des säkularen Staats gegenüber (vgl. Cavanaugh 2009,S. 3 f.). Die binäre Opposition von Säkularismus und Religion themati-sieren unter anderen auch Talal Asad, Charles Taylor und José Casanova.Asad sieht in der Definition von Religion einen diskursiven Prozess, der vonhistorischen Entwicklungen geprägt wird. Casanova argumentiert dement-sprechend, dass auch der Säkularismus nie universalisiert, sondern immergesellschaftsspezifisch zu verstehen sei und immer in seinem zeit-räumlichenKontext betrachtet werden müsse (vgl. Casanova 2012, S. 25 f.). Taylorfordert deshalb einen von überzeitlichen normativen Vorannahmen befreiten,neuen Säkularismus, um den wachsenden gesellschaftlichen Herausforderun-gen zu begegnen (vgl. Taylor 2010, S.6). Ein solches von (westlich geprägten)normativen Vorannahmen befreites Verständnis von Säkularismus kann im

zwei politischen Gegner begannen beispielsweise beide mit der islamischen Invokations-formel, arabisch basmala, und endeten jeweils mit einem Koranzitat (vgl. McCarthy2018, S. 139).

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7.1 Forschungsergebnisse

Bereich der demokratischen Transitionsforschung zur arabischen Welt zueiner verbesserte Lesart der politischen Lage beitragen: „In Europe, politicalactors still need to understand this reality. They must also abandon the old,over-simplified dichotomy between ‚Islamists‘ and ‚secular‘ or, even worse,‚Islamists versus modernists‘, to improve their reading of the political scenein the Arab world“ (Burgat 2018). Insbesondere ist dies in Tunesien vonBedeutung, da im Zuge der demokratischen Transition und Konsolidierungdie Linie zwischen Religion und Politik gesellschaftlich permanent verhandeltwird. Dort werden machtgeladene, universelle Zuschreibungen von außenan den Islam herangetragen, welche nicht dem internen Verständnis vonReligion entsprechen (vgl. Taylor 2010, S. 22). Konkret bedeutet dies zumBeispiel, dass die Annahme, die islamische Moral sei eine Gefahr für diedemokratischen Prozesse, Strukturen und Institutionen, zu relativieren ist.In der unvoreingenommenen Beobachtung der Mikroebene von Le Kramentspannten sich islamisch-moralische Positionen zudem nicht immer zueiner eigenständigen Agenda der Akteure. Sie wurden auch als zweckmäßigeingesetztes Instrument und taktisches Feigenblatt genutzt, um dahinterstehende, nichtreligiöse Interessen durchzusetzen oder kontroverse Aktivi-täten vor der Bevölkerung zu legitimieren. Beispielsweise unterband dieMiliz während des Ramadans den Verkauf von Speisen und Getränken inden Restaurants von Le Kram Ouest, indem sie die Gastronomen unterDruck setzte, die Läden tagsüber zu schließen. Vorgebracht wurde, es seiunmoralisch, die Passanten in ihrem Fasten in Versuchung zu führen oderihnen das Fasten zu erschweren. Sah man sich die betroffenen Läden jedochnäher an, stellte man fest, dass die Gastronomen bekannte Kritiker der Milizwaren, welche über diese Taktik in ihre Schranken gewiesen werden sollten(Interview 18/2014 und 29/2014). Während in diesem Fall die islamische Mo-ral tatsächlich ordnungsdestabilisierend eingesetzt wurde, können religiöseInhalte, wenn sie in eine säkulare Sprache übersetzt werden, im öffentlichenRaum sogar das Potenzial besitzen, eine korrektive Funktion einzunehmen(Habermas 2001). Sie sind dann ein notwendiger Teil der vielstimmigenÖffentlichkeit einer Demokratie. Dies gibt nicht nur einen weiteren Anlass,

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7 Forschungsergebnisse und -perspektiven

die Mikroebene in politikwissenschaftliche Analysen einzubeziehen, sondernauch einen Grund, den gängigen Umgang und das Verständnis von Religionim Zusammenhang mit der demokratischen Transition und KonsolidierungTunesiens zu überdenken.

Tradition versus Moderne. Die in den Mikroprozessen beobachtete, teleo-logische Fortschrittserwartung bezüglich Tunesiens weiterer Entwicklungnach 2011 wurde in Le Kram entlang des scheinbaren Widerspruchs vonTradition und Moderne verhandelt. Der Begriff der Moderne wurde in diesemZusammenhang mit der Erwartung von Innovation verbunden, während derBegriff der Tradition als die Bewahrung des Ursprünglichen und der Heimat-verbundenheit verstanden wurde. Insbesondere Bourguibas an Westeuropaausgerichtete, postkoloniale Modernisierungspolitik und die damit verbunde-nen Strukturmaßnahmen hatten nach der Unabhängigkeit Tunesiens vonFrankreich zur Verfestigung dieses Verständnisses beigetragen. Das Narrativist damit tief in der kolonialen Geschichte Tunesiens verankert und wurde inLe Kram nach der Revolution 2011 erneut aufgegriffen. Einige „Traditiona-listen“ propagierten ihre strikte Ablehnung westlicher Einflussnahme auf dieweiteren Entwicklungen Tunesiens. Anstatt die eigene tunesische Geschich-te und Traditionen zugunsten westlicher Errungenschaften zu übergehen,müsse die Zukunft Tunesiens rein in den überlieferten Werten der eigenenGesellschaft gesucht werden. Die „Modernisten“ von Le Kram sahen sich derKritik ausgesetzt, Tunesiens Demokratisierungsprozess durch ihr unkritischesKlammern an Europa, beziehungsweise dem nicht weiter definierten Westen,zu schaden. Problematisch wurde der Diskurs, wenn Säkularität und Moder-ne gleichgesetzt wurden und der Islam als Faktor in den Diskurs einfloss.Dann wurde beispielsweise die Demokratie selbst als westliche Staatsformgewertet, die abzulehnen sei. Der Islam biete genug eigene Möglichkeiten.Der Blick zurück in die islamische Geschichte des Landes würde helfen, eineneigenen Weg für Tunesien zu finden, in dem das Verhältnis von Staat undReligion nicht durch westliche Einflussnahme bestimmt sei. Die Modernistenhingegen kritisierten, dass diese Einstellung rückwärtsgewandt und wenig

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7.1 Forschungsergebnisse

konkurrenzfähig sei. Moderne Staatsformen, wie sie im sogenannten Westenentstanden, seien dem genuin eigenen weit überlegen und deshalb vorzu-ziehen.223 In den lokalen Aushandlungsprozessen wurde diese Frontstellungschließlich aufgebrochen. Zivilgesellschaftliche Akteure setzten sich für dieAnerkennung der historischen Realitäten des Landes ein, das heißt für eineBalance aus modernen Ideen und tradierten Werten. Das wichtigste Symbolund gesellschaftliche Bindeglied war in diesem Zusammenhang aber nichtder Islam als Religion, sondern eine Vorstellung tunesischer Kultur, welcheals Schmelztiegel verschiedener zivilisatorischer Einflüsse konstruiert wurde.Über diese Definition von tunesischer Kultur wurde der Dualismus zwischendem modernen areligiösen Westen und dem Traditionellen beziehungsweisedem Eigenen und dem Islam umgangen. Äußere kulturelle Einflüsse ver-schmolzen als Bereicherung des als genuin Eigen wahrgenommenen. Diefranzösischen Einflüsse der kolonialen Vergangenheit wurden nicht länger alsBedrohung, sondern als selbstverständlicher Teil der heutigen Identität derBevölkerung konstruiert, welcher nicht in Konkurrenz zur religiösen Identitätstand.224 Die Betonung der geteilten tunesischen Identität und Geschichteverband im Lokalen verschiedene Einzelpersonen, ohne theologisch-politischeGrundsatzdiskussionen aufkommen zu lassen oder vornehmlich auf religiöseIdentitäten zurückgreifen zu müssen. Tatsächlich erstreckte sich diese schein-bar allgemeingültige Akzeptanz aber nicht auf alle religiösen Spielarten des

223Die in diesem Spannungsfeld verwendete Begrifflichkeiten erscheinen fragwürdig, dader Widerspruch nicht in der Vorwärts- versus Rückwärtsgewandtheit bestand. DieTraditionalisten versuchten, wie die Modernisten, eine zukunftsfähige politische Visionzu entwickeln. Der Unterschied beider Strömungen bestand eher in der Quelle derIdentitätsstiftung, welche auf der einen Seite die lokale Tradition als Grundlage derErneuerung hochhielt, auf der anderen Seite „fremde“ beziehungsweise „westliche“Errungenschaften als Leitbild propagierte.

224Die Wahrnehmung der Bedrohung der eigenen Kultur durch den Westen ist keinTunesien-spezifisches Phänomen. Die marokkanische Parti de la justice et du dé-veloppement (PJD) fordert beispielsweise eine saubere Kunst, arabisch al-fann al-naz. ıf, als Abgrenzung von der als dekadent empfundenen, „westlichen“ Kunstsze-ne. URL: https://www.iemed.org/observatori/arees-danalisi/arxius-adjunts/afkar/afkar-ideas-39/D_Gonzalez-Quijano_Fusion_Cultural_39.pdf. Zugriff am 23.03.2020

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7 Forschungsergebnisse und -perspektiven

Islam. Der sogenannte Golfislam wurde als Bedrohung des gesellschaftlichenZusammenhalts in Tunesien kommuniziert und damit als gemeinsamer Geg-ner konstruiert. Der beschriebene Diskurs war einer der Hauptmechanismen,um die lokale Ordnung zu stabilisieren. Diese lokalen Identitätsdiskursestehen nicht isoliert da, sondern finden sich auf verschiedenen politischenEbenen wieder. Im Parteiprogramm der Ennahdha aus dem Jahr 2011 heißtes, das Ben Ali-Regime habe Tunesien seiner identitätsstiftenden, kultu-rellen Herkunft beraubt und damit das Bewusstsein der Gesellschaft fürKunst und Kultur getrübt, weshalb die Partei religiöse Werte von neuem alsReferenz für die kulturelle Identität festsetzen wolle (vgl. Ennahdha 2011,S. 2). Die Politikwissenschaftlerin Nadia Marzouki sieht diesen Trend inder Ennahdha-Partei als Wegweiser für deren Zukunft: „Nahdawis insiston the re-appropriation of cultural authenticity as the defining standardof modernization and development“ (Marzouki 2012). Der parteipolitischeAkzent der Ennahdha auf eine exklusiv arabisch-islamische Identität Tune-siens kann den gesellschaftlichen Pluralismus jedoch auch gefährden, zumBeispiel dann, wenn der Schutz religiöser Werte zu Repressalien und einerSelbstzensur der Kunst- und Kulturszene führt.

7.1.2.2 Neopatrimoniale Reflexe

Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass die lokalen Aushandlungen zeigen,dass die lokale Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle während der demokrati-schen Transition spielte.225 Dabei wurden unterschiedliche Ausprägungenvon Zivilgesellschaft in den einzelnen Phasen der Aushandlungen relevant,wie sie Lauth beschreibt (Lauth 1999). Zu Beginn spielten vor allem Ak-teure eine Rolle, welche sich strategisch gegen den autoritären Staat unddie überdauernden Strukturen richteten. Im weiteren Verlauf standen dannKräfte im Vordergrund, welche sich für die Einübung demokratischer Prak-tiken engagierten und Bildung und Ordnung förderten. Zuletzt trat das

225Zu der Funktion der Zivilgesellschaft in den unterschiedlichen Traditionen der Demo-kratietheorie (Adloff 2005, Anheier 2013, Cohen & Arato 1995, Edwards 2014, Hall2013, Schmidt 2007).

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7.1 Forschungsergebnisse

Verständnis des Staats als Gegner in den Hintergrund und wurde vom Bilddes Staats als Partner ersetzt. Die Überwindung polarisierter Diskurse undder gesellschaftliche Zusammenhalt standen nun im Mittelpunkt (Merkel &Lauth 1998). Betrachtet man retrospektiv die lokale Akteurskonstellationwaren es aber auch die zivilgesellschaftlichen Akteure Le Krams, welchedie Persistenz neopatrimonialer Strukturen mittrugen. Die Zivilgesellschaftschwächt vertikale Ordnungsmuster, wie Klientelismus oder Patronagebezie-hungen nicht zwingend ab und kann unter Umständen auch destabilisierendwirken (vgl. Roninger 1994, S. 8). Hinzu kamen lokale, nicht staatlicheAkteure, welche die vorhandenen staatlichen Institutionen aus weiten Teilendes Viertels verdrängten und durch eigene Strukturen ersetzten. Diese bei-den gegenläufigen Entwicklungen entspannten sich entlang der perzipiertenGrenze zwischen West und Ost.

Ablösung neopatrimonialer Strukturen im Westen. Im Westen und damitin dem Teil Le Krams, dessen Einwohner im Diskurs als regimefern undbenachteiligt konstruiert wurden, gab es deutliche Versuche – oder zumin-dest den ausgedrückten Willen, alte Netzwerke und gegebenenfalls nochvorhandene, neopatrimoniale Strukturen konsequent zu durchbrechen. Inden Wochen nach dem Sturz Ben Alis wurden staatliche Institutionen mitbreiter Zustimmung und Unterstützung aus der Bevölkerung vehement be-kämpft und aus dem Westteil des Viertels verdrängt. Dahinter stand einVertrauensverlust der Bürger in den Staat und seine Verwaltung. Begründetwurde dieses Vorgehen mit dem Kampf gegen die Korruption und politischeEliten des Ben Ali Regimes, welche der Integrität der Institutionen schadeten.Allerdings wurden die alten Strukturen und die mit ihnen in Verbindungstehende Korruption und Vetternwirtschaft nicht immer prinzipiell abge-lehnt, sondern in einigen Fällen nur dann, wenn kein individueller Vorteil(mehr) daraus gezogen werden konnte. Dementsprechend begannen einigeAkteure, selbst ähnliche Strukturen im Viertel aufzubauen und im gleichenZug, Aufgaben der öffentlichen Verwaltung und der Sicherheitsbehördenzu übernehmen. Diese neuen Strukturen waren, entgegen den nach außen

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7 Forschungsergebnisse und -perspektiven

getragenen Forderungen nach Gerechtigkeit und Gleichheit, jedoch nichtdemokratischer als die vorhergehenden. Sie ordneten sich nicht in die neueverfassungsrechtliche Architektur ein, sondern beruhten ebenfalls auf persön-lichen Beziehungen und Patronage. Als selbsternannter Retter und Anführerder Miliz versprach beispielsweise Imed Dghij den Einwohnern von Le KramOuest, die Korruption zu bekämpfen und die Sicherheit im Viertel zu gewähr-leisten. Ein Interviewpartner versicherte, Dghijs Tür stehe jedem Bürgeroffen und Dghij kümmere sich persönlich um jedes Anliegen (Interview49/2013). Er ermächtigte sich über die Miliz als Patron der Bürger, nanntesich selbst „Omda“ und übernahm Aufgaben der öffentlichen Verwaltung,wie die Vergabe von Lizenzen. Diese Strukturen wurden von den Einwohnernakzeptiert, um eigene Anliegen und Bedürfnisse zu erfüllen, wo es der Staatnicht konnte. Die erneute Etablierung staatlicher Institutionen, zum Beispielder Verwaltungsbehörden, wurde durch diese Entwicklungen verzögert underschwert. Auch Sicherheitsbehörden wurden von den Milizionären im Viertelkonsequent bekämpft, da deren Rückkehr die Machtkonstellation im Viertelzum Nachteil dominanter Akteure verändert hätte. Es kam in Le KramOuest also zu einer Neubildung neopatrimonialer Strukturen jenseits derüblichen Eliten. Diese Situation verhinderte nach Linz (vgl. Linz 1990, S.158) und Przeworski (vgl. Przeworski 1991, S. 26) im Lokalen eine demokra-tische Konsolidierung, da die demokratischen Institutionen von relevantenpolitischen Akteuren, wozu sie auch Gruppen mit organisierten Interessenzählen, nicht als „the only game in town“ akzeptiert wurden.

Persistenz neopatrimonialer Strukturen im Osten. Im als regimenah und be-vorteilt wahrgenommenen Le Kram Est fielen die Reaktionen auf den SturzBen Alis hingegen gegenläufig aus. Hier erfuhren vor allem die eingesesseneEinrichtungen Zulauf. Es handelte es sich dabei um zivilgesellschaftliche Ak-teure, welche bereits unter dem Regime Ben Alis existierten, dabei jedoch nureinen begrenzten Handlungsspielraum besaßen. Über die Interviews wurdedeutlich, das viele Einzelmitglieder dieser Akteursgruppen sich selbst nichtals Teil der persistierenden neopatrimonialen Strukturen sahen, tatsächlich

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7.1 Forschungsergebnisse

aber über persönliche oder berufliche Netzwerke mit den alten politischenEliten in Verbindung standen und diese für ihr Agieren im Viertel nutzten.Persönliche Kontakte in verschiedene Ministerien waren für die Vereine undJugendeinrichtungen unter dem Ben Ali Regime unumgänglich gewesen,um beispielsweise die Genehmigung oder Finanzierung der vereinseigenenProjekte zu sichern (Interview 2/2015). Da die Kommunen auch nach der Re-volution von 2011 über keine ausreichenden Mittel verfügten, um die lokalenVereine zu unterstützen, änderte sich an dieser Notwendigkeit wenig. Ent-sprechend zögerlich reagierten die betroffenen zivilgesellschaftlichen Akteurein Ost (und West), die öffentliche Verwaltung und Polizei zu kritisieren oderüber Korruption und Vetternwirtschaft zu sprechen. Vielmehr hielten siean den bestehenden, zum Teil korrupten Strukturen fest und unterstütztendiese, um die Ordnung und Sicherheit im Viertel aufrecht zu erhalten und dieeigene Arbeitsfähigkeit nicht zu gefährden. Im gleichen Zug sprachen sich allediese Akteure aber auch für die Konsolidierung der Demokratie in Tunesienaus und forderten Präventionsmaßnahmen, wie eine konsequente Aufsichtoder die Sensibilisierung, Belehrung und Fortbildung der Beschäftigten inder Kommune. Letzteres wiederum deckt sich mit der These O’Donnellsund Schmitters, die Zivilgesellschaft sei der Motor der Demokratisierung(vgl. O’Donnell & Schmitter 1986, S. 57). Daher hofften einige der in diesemWiderspruch gefangenen, zivilgesellschaftlichen Akteure auf eine weitereDezentralisierung der Strukturen und zusätzliche finanzielle Mittel für dieKommunen, um die eigenen Handlungsspielräume zu erweitern (Interview3/2014). Die Kenntnis über diese beiden unterschiedlichen gesellschaftlichenBewältigungsmechanismen und ihre Auswirkungen auf das institutionelleGefüge kann im Rahmen der Transitionsforschung dazu beitragen, Voraus-setzungen und Hindernisse im erklärten Ziel dieses Forschungszweigs, demInstitutionenwandel, auf der Meso- und Mikroebene besser zu verstehen.

341

7 Forschungsergebnisse und -perspektiven

7.2 Forschungsperspektive Mesoebene

Betrachtet man die politikwissenschaftliche Forschung zum Umbruch in Tu-nesien (seit 2011), dann wird deutlich, dass ihr Großteil nach wie vor durcheine makropolitische Herangehensweise geprägt ist und sich auf langfristigwirkende Dynamiken und Prozesse konzentriert. Hinzu kommt die Präfe-renz der Forschung, universales Wissen zu generieren, weshalb partikularepolitische Aushandlungen, wie kurzfristig wirkenden Interessen, Machtspieleund Beziehungen im Lokalen, weitgehend ein blinder Fleck bleiben. Dochder Fall des Einzelnen ist kein Einzelfall (vgl. Caillat 2017, S. 64 f.). Diealleinige Betrachtung der Makroebene, ohne Einbezug von Individualdaten,kann den häufig im Partikularen stattfindenden, tiefgreifenden gesellschaft-lichen Umbruch nicht immer adäquat erfassen. Auch kann sie die Fragendanach, was Veränderung bewirkt beziehungsweise wie Strukturen sich ver-ändern, nicht umfassend beantworten, ohne lokale Einflussfaktoren, wiesoziale Aushandlungsprozesse, einzubeziehen. Da ein komplexes Feld miteiner Vielzahl an sich überschneidenden Dynamiken betrachtet wird, kanndie mehrheitliche Konzentration auf die Makroebene zu ungeklärten Fragenund Befunden führen. Zieht man Mikroprozesse dagegen in die politikwissen-schaftliche Analyse mit ein, ergibt sich nicht nur die Chance, diese blindenFlecken näher zu beleuchten, sondern auch die Möglichkeit, als gegebenhingenommene Wahrheiten der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mitder nationalen Ebene zu relativieren. Wissen über ungeschriebene Regelnpolitischer Ordnungen und informelle Prozesse der Institutionenbildung kanngeneriert werden. Qualitative Einblicke in Gegenbewegungen können dievorwiegend quantitativen Messungen der Demokratiequalität ergänzen undden dahinter stehenden, politischen und sozialen Prozess offenlegen. Die In-formationsgewinnung auf der Mikroebene, welche für diesen tiefer gehendenBlick notwendig ist, ist aber in Relation zu der eher geringen Reichweite derBefunde sehr aufwendig. Hinzu kommt das Problem, dass die Antworten derForschung noch sehr unbefriedigend sind, will man das Zusammenspiel beiderEbenen, also die sich ergebende Makro-Mikro-Kluft, erklären: Was passiert

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7.2 Forschungsperspektive Mesoebene

dazwischen? Wie lässt sich nachvollziehen, wie Maßnahmen der Makroebenebis auf die Mikroebene absteigen und dort verankert und reproduziert wer-den? Wie wird das Handeln auf der Mikroebene konkret generalisiert und inaufsteigenden Strukturen abgebildet (Tillmann 2004)? Um die gewonnenenErkenntnisse zu Mikroereignissen nutzbar zu machen und sie in einen breite-ren Kontext, einen gesamtgesellschaftlichen Sachverhalt einordnen zu können,bietet es sich an, sie zunächst in die mittlere Reichweite der Mesoebeneeinfließen zu lassen. Dort tragen Mikrobefunde dazu bei, die Komplexitätder Wechselwirkungen der verschiedenen Ebenen sichtbar zu machen, Ursa-chen und Hintergründe politischer Entwicklungen zu rekonstruieren, derenWirkungsweisen zu verstehen, Erklärungszusammenhänge zu identifizierenund darüber Erkenntnislücken zu schließen. Verknüpft man die Mikro- mitder Mesoebene wird also die Evolution der Rahmenbedingungen erfassbarund dadurch das Entwicklungspotenzial eines Systems. Der Fokus liegt dannzum Beispiel auf Prozessen, welche generalisierte Aussagen über den Verlaufund das erwartbare Verhalten von Akteuren zulassen und sich nicht nur aufdemokratiefördernde Akteure konzentrieren (vgl. Sandschneider 1996, S. 42).Die Forschung auf der Mesoebene birgt das Potenzial, Schwachstellen undtheoretische Lücken der Mikro- und Makroebene auszubalancieren (Merkel1999). In der Transitionsforschung herrscht mittlerweile Konsens, dass dieunterschiedlichen Ansätze auf verschiedenen Ebenen nicht in Konkurrenzzueinander treten, sondern sich wechselseitig ergänzen. Dies leisten zumBeispiel Forschungsansätze auf der Mesoebene, welche struktur- und ak-teurszentrierte Theorien verbinden und das Zusammenwirken von sozialemHandeln und den strukturellen Bedingungen in welchem dieses stattfindet,untersuchen (Ouaissa & Sold 2017). Im Fokus der Transitionsforschungstehen hierbei soziostrukturelle Herangehensweisen, welche die Wechselwir-kungen zwischen dem Agieren kollektiver Akteure und der strukturellenBedingungen betrachten. Hierzu zählt beispielsweise das Handeln der Eliten,die politische Partizipation oder die Rolle von Minderheitengruppen in derpolitischen Transformation und den vorausgehenden Revolutionen (Asseburg& Wimmen 2016, Huber & Kamel 2015). Möchte man die in dieser Studie

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7 Forschungsergebnisse und -perspektiven

aufgegriffenen, lokalen Aushandlungsprozesse in einen breiteren politischenRahmen einordnen, bietet es sich als weiterführende Forschungsperspektiveauch an, die individuellen Interaktionen der identifizierten Akteure überden öffentlichen Raum des Viertels, das heißt über die Mikroebene hinauszu verfolgen. Über die Beziehungsgefüge, Interaktionen und die Praktikeneinzelner Akteure kann beispielsweise ein vielfältig miteinander verbundenesNetzwerk betrachtet werden, das die genannten Ebenen überspannt undmiteinander verflicht. Diese Netzwerke haben keine geografischen Grenzen,die sie auf eine lokale, regionale oder nationale Reichweite beschränken (vgl.Allen 2011, S. 154 ff.). Sie können dazu beitragen, die Effekte politischeInteraktionen lokaler, regionaler (und zentraler) Akteure zu erkennen, Hier-archien der Entscheidungsfindung aufzudecken und Formationen der Machtinnerhalb und zwischen Institutionen nachzuvollziehen. Die Betrachtunginformeller Netzwerkstrukturen subnationaler Akteure liefert dann wichtigeEinblicke in die Regierbarkeit Tunesiens sowie in die Staatsorganisation,wenn die Akteure über ihre lokale Verankerung hinaus beispielsweise nachKooperationspartnern in Ministerien oder finanziellen Sponsoren in Institu-tionen suchen, um ihre eigene Agenda durchsetzen zu können oder ihremAnliegen Gehör zu verschaffen. Sie überspannen die Ebenen, nehmen dabeiEinfluss auf Dezentralisierungsprozesse, sozialräumliche Abhängigkeiten zwi-schen Zentrum und Peripherie und die „governability“ des Staates. Darüberbeeinflussen sie letztendlich bottom-up die nationale Lage und damit dieMöglichkeit einer demokratischen Transition beziehungsweise Konsolidie-rung in Tunesien. Ein weiterer Ansatzpunkt der Forschung ist der Fokusauf genannte Institutionen, wodurch ebenfalls die Mesoebene politischerAushandlungsprozesse in den Mittelpunkt der Forschung steht. Institutionensind für die Transitionsforschung insofern relevant, da sie durch die Imple-mentierung demokratischer Prozesse reziproke Erwartungssicherheit schaffen,indem sie formale Entscheidungen und verbindliche Normen etablieren (vgl.Merkel et al. 1996, S. 12). Damit steigen nicht nur die Chancen für einedemokratische Konsolidierung, sondern die beteiligten Akteure erhaltenauch langfristige Perspektiven und die Möglichkeit, nicht nur kurzfristige

344

7.2 Forschungsperspektive Mesoebene

Strategien zu verfolgen (Elster 1986). Mit der Mesoebene verknüpft, könnendie Ergebnisse der Mikroebene in diesem Fall dazu beitragen, zu verstehen,wie der Diskurs an Institutionen gebunden ist, wie sich die Institutionen wan-deln und wie die Beziehungen zwischen den alten und neuen Institutionengestaltet sind. Betrachtet man die Institutionen jedoch, ohne die Mikro-prozesse einzubeziehen, dann läuft man Gefahr, lediglich Mechanismen zubeobachten, welche interne Funktionen und deren andauernde Reproduktionsicherstellen (vgl. Foucault & Seitter ca. 1996, S. 39 f.). Ein aktueller For-schungsansatz, welcher den politischen Wandel Tunesiens über die Analyseder Institutionen auf der Mesoebene aufgreift und in den vergangenen Jahrenvermehrte Aufmerksamkeit erhält, ist die Dezentralisierungsforschung. Fürdie Transitionsforschung ist insbesondere das angenommene Potenzial derDezentralisierung als Motor des demokratischen Wandels relevant. Dahintersteht die normative (und nicht unumstrittene) Erwartung, dass die Demokra-tisierung durch das Vorantreiben einer vertikalen Gewaltenteilung weg vonder Zentralregierung und eine zunehmende Tiefe und Reichweite der Partizi-pation gefördert werden kann (Yerkes & Muasher 2018). Im Fall Tunesiensstehen insbesondere der Ausgleich der über Jahrzehnte gewachsenen, regio-nalen Disparitäten und die Verbesserung der sozioökonomischen Situationder Bürger im Vordergrund, wenn eine dauerhafte Zustimmung der Gesell-schaft zu demokratischen Ordnung erlangt werden soll.226 Die nur langsam

226Bereits unter Bourguiba hatte es in Tunesien einen Dezentralisierungsdiskurs gegeben,welcher realpolitisch jedoch von fortschreitenden Zentralisierungsmaßnahmen begleitetwurde. Zunächst mit dem Ziel veranlasst, die tribalen Strukturen zu Gunsten einesvereinten Staats zu überkommen, wurden die Maßnahmen unter Ben Ali zunehmendrepressiver. Lokale Verwaltungseinrichtungen wurden entmachtet und mit vom Regimehandverlesenem Personal zentral besetzt. Nach 2011 mussten deshalb zunächst neueGemeinden geschaffen werden, um den bis dato außerhalb einer Gemeinde lebendenBürgern die Möglichkeit einzurichten, an Kommunalwahlen teilzunehmen (Baccouche2016). Dezentralisierungsmaßnahmen sollen zu einer Neugewichtung von Herrschaftin Tunesien beitragen, indem zentralstaatliche Aufgaben dezentral übertragen oderFinanzströme über alle Ebenen hinweg gesteuert werden. Gebremst wird diese Ent-wicklung unter anderem auf Grund von Bedenken, dass Autonomiebestrebungenauf subnationaler Ebene zu weiten Handlungsspielraum einzuräumen (International

345

7 Forschungsergebnisse und -perspektiven

voranschreitende Etablierung von Institutionen setzt ebenenübergreifendnicht nur die Beteiligung nationaler wie übernationaler Akteure voraus,sondern auch das Tätigwerden lokaler und regionaler Akteure. Der Blickauf die Mikro- und Mesoebene politischer Aktivitäten ist damit relevantund geboten, insbesondere da neu geschaffene Institutionen aus ungeklärtenGründen nicht greifen und persistierende neopatrimoniale Netzwerke dieaktuellen Dezentralisierungsmaßnahmen erschweren.

Crisis Group 2018) und die einsetzende Politikverdrossenheit als Folge unrealistischerErwartungen der Bevölkerung.

346

Anhang

Interviewleitfaden

Eingangsphase

Aus der Fragestellung resultierenden Zweck des Gesprächs vermitteln

Wer bin ich?

Kurze Darlegung des Forschungsprojekts

Aufklärung zum Datenschutz

Einverständnis zur Aufzeichnung des Gesprächs einholen

Einverständnis zur Erstellung schriftlicher Notizen einholen

Ausfüllen des Dokumentationsbogens

Sprachpräferenzen für das Interview klären (Arabisch, Englisch, Deutsch)

Beispielfragen der Hauptphase

Wie hat sich die Revolution 2011 in Le Kram zugetragen?

Wie haben Sie die erste Zeit nach der Revolution in Le Kram erlebt?

Beschreiben Sie bitte weitere bedeutende Zäsuren in Le Kram

Wie hat sich das Ereignis XY am Tag XY zugetragen?

Welche Themen werden in Ihrer Nachbarschaft in Le Kram diskutiert?

347

Wie haben sich diese Themen mit der Zeit verändert?

Welche Rolle spielt XY für Sie? (z.B. Religion, Nation, etc.)

Was versprechen Sie sich von XY?

Was bedeutet das Symbol XY für Sie?

Wie würden Sie XY bewerten?

Wie stehen Sie zu XY?

Wie hat sich (Ihr Leben in) Le Kram nach der Revolution 2011 verändert?

Wie würden Sie Ihre eigenen Lebensumstände beschreiben?

Welche Gemeinsamkeiten/Unterschiede sehen Sie zwischen Le Kram Estund Ouest?

Welche Gemeinsamkeiten/Unterschiede sehen Sie in Bezug auf die AkteureX und Y?

Gründungsjahr, Anzahl und Alterszusammensetzung der Mitglieder derOrganisation XY?

Worin besteht die Arbeit, die Aktivität, das Angebot der OrganisationXY?

Welche Funktion nehmen Sie in der Organisation XY ein?

Welche Aufgaben übernehmen Sie in dieser Funktion?

Welche Ziele wollen Sie mit der Organisation XY erreichen?

Wie gehen Sie dabei vor?

Wie finanziert sich die Organisation XY?

Wie erreichen Sie die Adressaten mit Ihrer Botschaft?

348

Wie wird das Angebot von Organisation XY im Stadtviertel angenommen?

Vor welchen Herausforderungen stehen Sie in Bezug auf XY?

Wie beurteilen Sie die aktuelle politische Lage in Le Kram/Tunesien?

Wie beurteilen Sie die Sicherheitslage in Le Kram/Tunesien?

Wie würden Sie Ihre Zukunftsvision im Hinblick auf Le Kram/Tunesienbeschreiben?

Welche Schritte halten Sie für notwendig, um die Lage dahingehend zuverändern?

Welchen Typ von Regierungssystem wünschen Sie sich für Tunesien undwarum?

Welche Herrschaftsform wünschen Sie sich für Tunesien und warum?

Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Akteur X und Akteur Y beschrei-ben?

Welche Kooperationen besitzt, forciert oder lehnt Organisation XY ab?

Was konnten sie mit der Organisation XY bisher erreichen?

Schlussphase

Fällt Ihnen noch etwas zum Thema des Interviews ein?

Welche Fragen haben Sie noch an mich?

Welche Erwartungen bestehen an mich?

Welche weiteren Gesprächspartner können Sie mir empfehlen/vermitteln?

Verabschiedung vom Gesprächspartner und Dank

349

Zeitungen und Nachrichtenplattformen

al-Chourouk [al-shuruq al-tunisiyya] (Tunis)

al-Hiwar [al-h. iwar] (Tunis)

al-Jazeera [al-jazıra] (Doha)

al-Qantara [al-qant.ara] (Bonn)

al-Sabah [al-s.abah. ] (Tunis)

African Manager (Tunis)

Business News (Tunis)

Die Zeit (Hamburg)

El-Dameer [al-d. amır]

France 24 (Frankreich)

Huffington Post (New York)

Jeune Afrique (Paris)

Kapitalis (Tunis)

La Presse de Tunisie (Tunis)

Le Figaro (Paris)

Le Monde (Afrique)

Le Quotidien (Esch-sur-Alzette)

Le Temps (Laussane)

L ’Express (Paris)

Nawaat (Tunis)

350

Süddeutsche Zeitung (München)

The Economist (London)

The Guardian (London)

Tuniscope (Tunis)

Tunisia Live

Tunisia News

351

Chronologie der Ereignisse 2010 – 2018

Abbildung 7.1: Chronologie 2010–2011

2010 -2011 (Inter-)Nationale Ebene Le Kram Ouest Le Kram Est

17.12.2010 Selbstverbrennung Mohammed Bouazizis

13.01.2011 Zerstörung der Polizeistation Le Kram Ouest, Ausschreitungen mit Todesop-fern, Plünderungen, Vandalismus

14.01.2011 Sturz des Ben Ali-Regimes, Verhängung des Ausnahmezustands, Mohamed Ghannouchi wird geschäftsführender Staatspräsident

Demonstrationen und Vandalismus Demonstrationen und Vanda-lismus

15.01.2011 Fouad Mebazaa wird kommissarisches Staats-oberhaupt, Mohamed Ghannouchi bleibt Mi-nisterpräsident, UGTT ruft zur Bildung von Bürgerwehren auf

Erste Bürgerwehren bilden sich Erste Bürgerwehren bilden sich

18.01.2011 Mohamed Ghannouchi tritt aus der RCD aus

23.01.2011 Kasbah I: Demonstrationen bis 27.01.2011

30.01.2011 Rachid al-Ghannouchi reist in Tunesien ein

03.03.2011 Fouad Mebazaa kündet Wahlen für den 24.07.2011 an, Kasbah II

09.03.2011 Auflösung des Parteiapparats der RCD

08.04.2011 Dekret Nummer 384 zur Entsendung von Son-derdelegierten

Hichem Rezgui wird Bürgermeister Hichem Rezgui wird Bürger-meister

29.03.2011 Auflösung der Geheimpolizei

29.04.2011 Massenflucht aus dem Gefängnis in Gafsa

Mai 2011 Gründung der LNPR

29.05.2011 Verhaftung Samir Ferianis

28.06.2011 Salafisten greifen das Kino Afric‘art in Tunis an

24.09.2011 HipHop Konzert im Stadtpark

07.10.2011 Fernsehausstrahlung des Films Persepolis Demonstrationen in Le Kram

22.10.2011 Übernahme der Sayyida Khadija Mo-schee durch Salafisten

14.10.2011 Predigt zur Errichtung eines islamischen Staats in Tunesien (Khadija Moschee)

Demonstrationen der Salafis-ten vor der Polizeistation

23.10.2011 Wahlen zur Verfassungsgebenden Nationalver-sammlung

Aktivisten versuchen Geschlechtertren-nung beim Urnengang durchzusetzen

09.11.2011 Interview Souad Abderrahi bei Radio Monte Carlo

13.11.2011 Ansprache Hamadi Jebali in Sousse (6. Kalifat)

20.11.2011 Erste Zusammenkunft der zukünftigen Miliz in der besetzten Polizeistation von Le Kram Ouest

22.11.2011 Erstes Zusammentreten der Verfassungsgeben-den Nationalversammlung mit Moustafa Ben Jaafer als ihr Präsident, Wahl: Hamadi Jebali wird Ministerpräsident, Moncef Marzouki wird Staatspräsident,

Mandate der Bürgerwehren laufen aus Mandate der Bürgerwehren laufen aus

11.12.2011 Die Übergangsverfassung wird beschlossen

12.12.2011 Moncef Marzouki wird als Staatspräsident ver-eidigt

24.12.2011 Wettbewerb islamische Kultur der Ramallah Moschee

352

Abbildung 7.2: Chronologie 2012/12012 (Inter-)Nationale Ebene Le Kram Ouest Le Kram Est

12.01.2012 Dreitägige Gedenkfeier der Miliz zum ersten Jahrestag der Revolution

23.01.2012 Aktivisten der Miliz bedrohen über drei Ta-ge hinweg die Buchhandlung und Kunstga-lerie Mille Feuilles in La Marsa

Februar 2012

Privilegierte Partnerschaft mit der EU

21.02.1012 Die Verfassungsgebende Nationalver-sammlung beginnt Arbeit an der Präambel

03.03.2012 Parteitreffen Nidaa Tounes in Ksar Helal Pressekonferenz der Miliz

26.03.2012 Freisprache Samir Ferianis

06.03.2012 Salafisten bedrohen die Universität La Manouba, Demonstrationen vor dem Mi-nisterium für Hochschulbildung

16.03.2012 Demonstrationen in Tunis für die Umset-zung islamkonformer Normen in der Ver-fassung

20.03.2012 Demonstrationen in Tunis gegen die Seg-mentierung politischer Akteure in Säkulare und Islamisten

24.03.2012 Treffen Essebsis mit Vertretern der En-nahdha-Partei

25.03.2012 Demonstrationen in Tunis für die Aufnah-me der Scharia in die Verfassung

26.03.2012 Die Ennahdha-Partei lehnt die Scharia als Teil der Verfassung ab

31.03.2012 Minister für Religiöse Angelegenheiten, Noureddine al-Khademi, kündigt landes-weite Razzien in Moscheen an

April 2012 Brandstiftung im Mausoleum Sidi El Kacem in El Kef

09.04.2012 Demonstrationen mit Todesopfern

01.05.2012 Großdemonstration in Tunis für die natio-nale Einheit

Miliz entfernt Plakate der UGTT und be-droht Vertreter der UGTT

20.05.2012 Großdemonstration der Ansar al-Scharia in Kairouan

30.05.2012 Ansprache Hamadi Jebalis

02.06.2012 Dekret 518: Kommunale Polizei

11.06.2012 Regierung verhängt nächtliche Ausgangs-sperre in Le Kram und anschließenden Stadtvierteln nach den Ausschreitungen

Die Polizeistation und Einzelhändler werden überfallen, Angriff auf die Kunstausstellung Printemps des Arts in La Marsa

Einzelhändler werden überfallen

16.06.2012 Gründung Nidaa Tounes

17.06.2012 Gründung Info Islam Tunisia

16.10.2012 Zerstörung des Mausoleums Sayyida Aicha Manoubia

Juli 2012 Schariapolizei der Salafisten in Le Kram

12.08.2012 Demonstration gegen den Verfassungsent-wurf

18.08.2012 Fastenbrechenfest der Miliz

31.08.2012 Demonstrationen der Miliz in Tunis

14.08.2012 Demonstrationen gegen den ersten Verfas-sungsentwurf

353

Abbildung 7.3: Chronologie 2012/2

2012 (Inter-)Nationale Ebene Le Kram Ouest Le Kram Est

27.08.2012 Achte Verlängerung des Ausnahmezustands

28.08.2012 Ministertreffen in Carthage Miliz zu Gast beim Ministertreffen

26.10.2012 Gründung des Kram Teams

02.11.2012 Internationale Buchmesse Le Kram eröffnet

05.12.2012 Pressekonferenz Rachid al-Ghannouchi

12.12.2012 Interview Recoba bei Elhiwar Ettounsi TV

354

Abbildung 7.4: Chronologie 20132013 (Inter-)Nationale Ebene Le Kram Ouest Le Kram Est

08.01.2013 Überfall der Miliz auf die ATSM

23.01.2013 Mawlid-Vortrag der Ramallah Moschee

06.02.2013 Ermordung Chokri Belaids

17.02.2013 Informationsstand des Jugendzentrums zum Umweltschutz

19.02.2013 Rücktritt Hamadi Jebalis tritt als Minis-terpräsident zurück

22.02.2013 Ali Laarayedh wird Ministerpräsident

26.02.2013 Neue Sonderdelegierte werden ernannt Alia El May wird Bürgermeisterin Alia El May wird Bürgermeisterin

07.03.2013 Landesweite Moscheerazzien Die Sayyida Khadija Moschee wird von den Sicherheitskräften befreit

14.03.2013 Lotfi Ben Jeddou wird Innenminister

23.03.2013 Internationale Earth Hour des World Wi-de Fund for Nature (WWF)

Earth Hour des Jugendzentrums mit Um-zug in Le Kram Ouest

26.03.2013 Interview mit Imed Dghij bei al-Mutawassat TV

19.04.2013 Sit-in der Miliz vor dem Ennahdha-Hauptquartier

24.04.2013 Ausflug des Jugendzentrums zum Natio-nalpark Ichkeul

09.05.2013 Ausflug des Jugendzentrums nach Touzeur

25.05.2013 Verhaftung der Organisatoren des Sit-ins (Imed Dghij, Recoba, etc.)

25.06.2013 Ermordung Mohamed Brahmis

27.06.2013 Zweitägige Sitzung der Verfassungsge-benden Nationalversammlung zum Im-munisierungsgesetz

Demonstrationen, Graffitis und Videobot-schaft der Miliz

08.07.2013 Der Ramadan beginnt Die Miliz verbietet Gastronomen die Gäs-tebewirtung vor dem Iftar

08.08.2013 Festgebet der Ramallah Moschee im Parc Urbain du Kram

Festumzug der Ramallah Moschee zum Fastenbrechenfest durch Le Kram

22.08.2013 Die Miliz bedroht Bäckerei in El Manar

27.08.2013 Die Ansar al-Scharia wird verboten

September 2013

Der nationale Dialog wird von der UGTT initiiert

Bedrohung der UGTT durch die Miliz, Sanierung des Kreisverkehrs durch die Gemeinde

22.10.2013 Angriff der Salafisten auf die Sayyida Khadija Moschee

25.10.2013 Erneuter Angriff der Salafisten auf die Sayyida Khadija Moschee

26.10.2013 Miliz Besprechung mit Regierungsvertr.

01.11.2013 Verhaftung Islam Ben Trads und Aus-schreitungen

12.11.2013 Info Islam Tunisia bei Radio Zaytouna

29.11.2013 Welt-Aids-Tag Vorträge im Kulturzentrum

05.12.2013 Gedenkfeier der Miliz zum Todestag Ferhat Hacheds

13.12.2013 Verhaftung Hichem Kennous

355

Abbildung 7.5: Chronologie 2014/12014 (Inter-)Nationale Ebene Le Kram Ouest Le Kram Est

11.01.2014 Theaterstück zum dritten Jahrestag der Revolution im Kulturzentrum

29.01.2014 Mehdi Jomaa wird Ministerpräsident

27.02.2014 Die tunesische Verfassung tritt in Kraft

Frühjahr 2014

Dauerausstellung des Kulturzentrums zur Stadtteilgeschichte

März 2014 Vereinbarung einer Mobilitätspartner-schaft mit der EU

05.03.2014 Staatspräsident Marzouki hebt den Aus-

02.03.2014 Großveranstaltung der Miliz und Aufruf Imed Dghijs zum Blutvergießen unter tunesischen Polizisten

09.03.2014 Dreiwöchige Schulferienbetreuung be-ginnt im Kulturzentrum

16.03.2014 3D-Filmvorführung Kulturzentrum für Kinder und Jugendliche

20.03.2013 Nationalfeiertag zur Tunesischen Unab-hängigkeit

Kram Team hisst Nationalflagge

26.03.2014 Verhaftung Imed Dghijs unter Ausschrei-tungen, Verurteilung Dghijs zu 14 Mona-ten Haft, die Miliz erklärt Le Kram Ouest zum „secteur interdit“

09.04.2014 Nationalfeiertag zum Gedenken an den 9. April 1938

Gedenkfeier im Rathaussaal

18.04.2014 23. Monat des Erbes des Ministeriums für Kultur

Monat des Erbes im Kulturzentrum

25.04.2015 31. Kunstmesse wird eröffnet

01.05.2014 Tag der Arbeit Theaterstück zum Tag der Arbeit im Kul-turzentrum

01.05.2014 Viertägige Seminarreihe „Dawah für Nichtmuslime“ Info Islam Tunisia

09.05.2014 HipHip-Konzert im Jugendzentrum

17.05.2014 Sportfest Jugendzentrum

26.05.2014 Die LNPR wird verboten

27.05.2014 Haftentlassung Imed Dghijs, Willkom-mensfeier und Demonstrationen

31.05.2014 Interview Dghijs auf al-Mutawassat TV

04.06.2014 Kommunikationstraining für Frauen im Jugendzentrum

25.06.2014 Wiedereröffnung CinéVog

28.07.2014 Festumzug zum Eid al Fitr der Ramallah Moschee mit Festgebet im Parc Urbain du Kram

Festumzug zum Eid al Fitr der Ramallah Moschee mit Festgebet im Parc Urbain du Kram

356

Abbildung 7.6: Chronologie 2014/22014 (Inter-)Nationale Ebene Le Kram Ouest Le Kram Est

01.08.2014 Pressekonferenz zum Festival Layali El Ons, Rücktritt Alia El Mays

03.08.2014 Geplante Eröffnung des zehntägigen Festivals Layali El Ons

17.08.2014 Einwöchiges Beachfestival des Jugend-zentrums mit Umweltaktionen und Film-vorführung in Kooperation mit dem Kul-turzentrum Le Kram Est

Einwöchiges Beachfestival des Kultur-zentrums mit Umweltaktionen und Film-vorführungen in Kooperation mit dem Jugendzentrum Le Kram Ouest

11.09.2014 Miliz und Salafisten verherrlichen die Anschläge auf das World Trade Center in New York am 11.09.2001

17.10.2014 Überfall der Ferchichi Moschee durch Salafisten

26.10.2014 Parlamentswahlen

30.10.2014 Der Präsidentschaftswahlkampf beginnt Dreiwöchige Wahlkampagne Imed Dghijs für Moncef Marzouki

23.11.2014 1. Runde der Präsidentschaftswahlen Verhaftung Imed Dghijs wegen unzuläs-siger Wählerbeeinflussung

14.12.2014 Aufruf der Miliz zur Demonstration vor der US-Botschaft in Tunis

21.12.2014 2. Runde der Präsidentschaftswahlen, Essebsi wird Staatspräsident

Imed Dghij ist offizieller Wahlbeobachter der ISIE, Ausschreitungen nach Wahlsieg Essebsis, Imed Dghij und weitere Milizi-onäre werden verhaftet

21.12.2014 Essebsi wird als Staatspräsident vereidigt

357

Abbildung 7.7: Chronologie 2015

2015-2018 (Inter-)Nationale Ebene Le Kram Ouest Le Kram Est

06.02.2015 Das Kabinett nimmt die Arbeit auf

22.04.2015 Auftritt Anis Chouchène auf Hannibal TV

30.08.2015 Umweltaktion des Kram Teams

Oktober

2015

Berufsinformationstage

01.10.2015 Ausflug Kram Team nach Karthago

12.10.2015 Neue Sonderdelegierte werden ernannt Tarek Farjaoui wird Bürgermeister Tarek Farjaoui wird Bürgermeister

24.12.2015 Theateraufführung des Jugendzentrums

16.01.2016 Kram Team informiert im Rathaus über

Kickboxsport

21.02.2016 Internationaler Tag der Muttersprache Tag der Amazigh-Kultur im Jugendzent-

rum in Kooperation mit dem Club de la

culture amazighe La Marsa

20.05.2016 Die Regierung ernennt neue Sonderdele-

gierte

Chaima Nafti wird Bürgermeisterin Chaima Nafti wird Bürgermeisterin

Januar

2017

Ausschreitungen und Demonstrationen

gegen wirtschaftliche Situation in Tunesi-

en

April 2017 Kram Team Workshop Persönlichkeitsbil-

dung

Mai 2017 Informationsstand des Jugendzentrums

zum Rassismus in Tunesien vor dem Nati-

onaltheater in Tunis

13.10.2017 Partnerschaftsvertrag des Kulturzentrums

mit der Association baie du Kram

18.10.2017 Der Gouverneur von Tunis, Omar

Mansour, trifft Imed Dghij und besichtigt

Le Kram

19.10.2017 Die Gouverneursposten werden durch

das Innenministerium neu besetzt

04.05.2018 Kommunalwahlen in Tunesien Fathi Laayouni wird zum Bürgermeister

gewählt

Fathi Laayouni wird zum Bürgermeister

gewählt

August

2018

Bürgermeister Fathi Laayouni verbietet

die Anerkennung von interreligiösen

Ehen in Le Kram

15.08.2018 Katholischer Feiertag Mariä Himmelfahrt Prozession in Le Kram und La Goulette

wird wiederbelebt

358

Übersetzungen der arabischsprachigenAbbildungen

Abbildung 7.8: Einladung zur Gedenkfeier – Übersetzung zu Abbildung 5.3

Besondere Einladung

Männer der Revolution Le Kram

Anlässlich des ersten Jahrestags der Revolution am vierzehnten Januar laden euch die Männer der Revolution von Le Kram zur Teilnahme an dieser Demonstration ein, welche vom zwölften Januar bis Samstag, den vierzehnten Januar stattfindet.

Das Programm: am Donnerstag vor der Grundschule 5. Dezember ab 17.30 Uhr.

Am Freitag: um 11.00 Uhr morgens vor der alten Polizeistation; um 17.00 Uhr eine Soirée auf dem Ettahouna Platz (veranstaltet von den Söhnen des dreizehnten August).

Am Samstag: morgens auf der Avenue Habib Bourguiba in der Hauptstadt, um 18.30 Uhr eine verpflichtende Soirée, welcher die ersten Bürger des Staats beiwohnen.

Ihre Anwesenheit und Teilnahme ist uns eine Ehre.

359

Abbildung 7.9: Struktur der Staatsorgane im Kalifat – Übersetzung zu Ab-bildung 5.6

Kalif

Nationalversammlung Bevollmächtigte Assistenten

Vollstreckungsminister

Verwaltungsorgane (staatliche Interessen)

Oberster Richter Direktor Industriebehörde

Direktor Auswär-tige Angelegenh.

Direktor Information

Direktor Gesundheit

Direktor Bildung

Schatzmeister Staatskasse

Direktor Innere Sicherheit

General Dschihad

Wali

Bürger-beauftragte

Direktor Kriegsindustrie

Botschafter & Konsule

Direktor Wissenschaft

Direktor Kommunikation

Direktor Transport

Sekretäre Import

Befehlshaber Polizei

Brigadegeneral Arbeiter

Prozessrichter Direktor Schwerindustrie

Abgesandte Diplomaten

Direktor Strateg. Nachrichten

Direktor Land & Bewässerung

Direktor Arbeit

Sekretäre Verbrauch

Gruppenführer Provinzräte

Buchführer Direktor Elektroindustrie

Direktor Vereinbarungen

& Verhandlungen

Direktor Staatlicher

Nachrichten-dienst

Direktor Vermögen &

Bodenschätze

Direktor Wissen-schaftliche Ent-

wicklung & Tech-nologie

Staatsbankier Generalstabs-chef

Direktor Erdöl & Gas

Direktor Energie & Strom

Direktor Militärpolizei

Direktor Wald & Weide

Direktor Landesbehörde

Direktor Schutzbefohlene

Direktor Staats- angehörigkeit

360

Abbildung 7.10: Struktur Info Islam Tunisia – Übersetzung zu Abbildung5.10

Leitungsgremium

Mitglied Mitglied Schriftführer Schatzmeister Vize-Präsident Präsident

Exekutivversammlung

Exekutivdirektor

Kommunikationsabteilung Abteilung Administration,

Finanzen und Recht

Abteilung

Management & Übersetzung

Werbe– und Schlichtungsab-

teilung

Koordinator der Bruderschaft Abteilung für neue

Konvertiten

Abteilung für Mission und

missionarische Innovation Zweigstelle Tunis

Zweigstelle Djerba Zweigstelle Sfax

Zweigstelle Kairouan Zweigstelle Nabeul

Zweigstelle Sousse

361

Literaturverzeichnis

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