Dilthey und die Phänomenologie Husserls

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Sonderdruck aus Gunter Scholtz (Hg.) Diltheys Werk und die Wissenschaften Neue Aspekte V& R unipress ISBN 978-3-8471-0232-8 ISBN 978-3-8470-0232-1 (E-Book)

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

I. Standortbestimmung

Ernst Wolfgang OrthDilthey zwischen Kant und Husserl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Francesca D’AlbertoDiltheys zweites Hauptwerk: »Leben Schleiermachers« . . . . . . . . . . 23

Valentin PluderDiltheys Interesse an Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

Ulrich Dierse»Empirie und nicht Empirismus«. Diltheys Verhältnis zu Auguste Comteund zum Positivismus seiner Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

Karl-Heinz LembeckDilthey und der Marburger Neukantianismus . . . . . . . . . . . . . . . 65

Massimo MezzanzanicaDilthey und die Phänomenologie Husserls . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

Eric S. NelsonDilthey, Heidegger und die Hermeneutik des faktischen Lebens . . . . . 97

II. Einfluss auf die Wissenschaften

Helmut JohachDiltheys Theorie der Geisteswissenschaften – Programmatik undBedeutung für die Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

Gunter ScholtzDiltheys Geschichtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

Karl AchamDiltheys Bedeutung für die Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

Gabriele Malsch»dieser Fechtmeister der Einbildungskraft«. Aspekte der Poetik WilhelmDiltheys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

Mark GallikerDas geisteswissenschaftliche Forschungsprogramm der Psychologie.Diltheys »Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie«sowie die Antwort von Ebbinghaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

Michael WinklerWilhelm Dilthey und die geisteswissenschaftliche Pädagogik . . . . . . . 209

Jean-Claude GensDie Aktualität von Diltheys Naturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . 231

Michel Henri KowalewiczDiltheys Kritik der Weltanschauungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

Inhalt6

Massimo Mezzanzanica

Dilthey und die Phänomenologie Husserls

Das Verhältnis zwischen Dilthey und Husserl gehört zu den zentralen undmeistdiskutierten Problemen in der Rezeptionsgeschichte der DiltheyschenPhilosophie. Trotz der großen Anzahl an Studien, die sich diesem Thema ge-widmet haben, ist wiederholt die Schwierigkeit hervorgehoben worden, zu einerabschließenden Interpretation des Verhältnisses und der wechselseitigen Be-einflussung beider Denker zu gelangen. Wie Hans-Ulrich Lessing und FrithjofRodi bemerkten, »ist die Begegnung und Auseinandersetzung zwischen Dilthey-Schule und Phänomenologie (das Wort im weitesten, auch Heidegger ein-schließenden Sinn genommen) zweifellos der komplexeste Vorgang innerhalbder Wirkungsgeschichte Diltheys«.1 Er beginnt mit einem Treffen und einerDiskussion beider Philosophen. Das Treffen fand nach der Veröffentlichung derLogischen Untersuchungen Husserls 1905 in Berlin statt. Die brieflich geführteDiskussion setzte mit der Veröffentlichung des Aufsatzes Diltheys über die Typender Weltanschauung2 und der Programmschrift Husserls Philosophie als strengeWissenschaft3 ein. Sie fand ihre Fortführung zum einen im Versuch des Schülersund Schwiegersohns Diltheys, Georg Misch, eine Auseinandersetzung zwischenLebensphilosophie und Phänomenologie zu initiieren, die auch die PositionHeideggers einschließen sollte4; zum anderen aber auch in einigen Stellung-nahmen Husserls in den Zwanzigerjahren, die in der in einem Brief an Misch zufindenden Feststellung münden, nach der es die Gespräche mit Dilthey in Berlinwaren (und nicht dessen Schriften), die vom Husserl der Logischen Untersu-

1 Frithjof Rodi, Hans-Ulrich Lessing, Einleitung, in: Materialien zur Philosophie WilhelmDiltheys, hg. von F. Rodi, H.-U. Lessing, Frankfurt a. M. 1984, S. 15.

2 Dilthey, Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen,GS Bd. 8, S. 73 – 118.

3 Edmund Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, in: Logos I (1911); jetzt in: HusserlianaBd. 25: Aufsätze und Vorträge (1911 – 1921), hg. von Thomas Nenon, Hans Rainer Sepp,Dordrecht, Boston, Lancaster 1987, S. 3 – 62.

4 Georg Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der Dil-theyschen Richtung mit Heidegger und Husserl, Bonn 1930.

chungen zum Husserl der Ideen führten.5 In diesen Zusammenhang gehört auchdas Interesse am Diltheyschen Denken in Phänomenologenkreisen: nicht nurbei Heidegger6, sondern auch bei den Husserlschülern Ludwig Landgrebe7 undDietrich Mahnke8.

In diesem Beitrag versuche ich die wesentlichen Themen der direkt geführtenDiskussion beider Philosophen herauszuarbeiten. Ich beginne mit der Rezep-tion der Logischen Untersuchungen von Seiten Diltheys und behandle dann dieFrage des Verhältnisses von Philosophie und Weltanschauung, die beide imBriefwechsel9 diskutieren. Schließlich werde ich noch die Art und Weise be-trachten, in der Husserl im Laufe der Zwanzigerjahre vom Standpunkt seinerPhänomenologie aus die Frage Diltheys nach dem Verhältnis von Psychologie,Geisteswissenschaften und Erkenntnistheorie neuformuliert, indem er in denVorlesungen über phänomenologische Psychologie10 und in der Krisis11 nachdem Problem des Verhältnisses von Psychologie und Transzendentalphilosophiefragt.

1. Das Problem der Psychologie bildet sowohl für Dilthey wie auch für Husserlden Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen. Doch der Begriff der Psychologie hat

5 Husserl an Misch, 27.VI.1929, in: Husserl, Briefwechsel Bd. 6: Philosophenbriefe, hg. von KarlSchuhmann in Verbindung mit Elisabeth Schuhmann, Dordrecht, Boston, London 1994,S. 275.

6 Außer der Stellungnahme in § 77 von Sein und Zeit sind hier folgende Vorlesungen Hei-deggers zu erwähnen: Grundprobleme der Phänomenologie (WS 1919 – 20), Phänomenologieder Anschauung und des Ausdrucks. Theorie der philosophischen Begriffsbildung (SS 1920)und Ontologie. Hermeneutik der Faktizität (SS 1923). Diese Vorlesungen sind jetzt in denBänden 58, 59 und 63 der Gesamtausgabe von Heideggers Werken zugänglich. Wichtig für dieRezeption des Denkens Diltheys durch Heidegger sind auch die Vorträge von 1925 zum ThemaWilhelm Diltheys Forschungsarbeit und der gegenwärtige Kampf um eine historische Welt-anschauung, hg. von F. Rodi in: Dilthey-Jahrbuch 8 (1992 – 93), S. 143 – 77, und die VorlesungProlegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (Gesamtausgabe, Bd. 20). Zum Verhältnis zwi-schen Heidegger und Dilthey vgl. F. Rodi, Erkenntnis des Erkannten, Frankfurt a. M. 1990,S. 102 – 122.

7 Ludwig Landgrebe, Wilhelm Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften. (Analyse ihrerGrundbegriffe), in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 9 (1928),S. 237 – 366.

8 In einer Besprechung von Band 7 der Gesammelten Schriften Diltheys hatte Mahnke die Ideeeiner Komplementarität zwischen den Philosophien von Dilthey und Husserl ausgedrückt.Vgl. dazu Guy van Kerckhoven, Die Grundsätze von Husserls Konfrontation mit Dilthey, in:Dilthey und der Wandel des Philosophiebegriffs seit dem 19. Jahrhundert, hg. von ErnstWolfgang Orth, Freiburg i. Br., München 1984, S. 134 – 160.

9 Husserl, Briefwechsel Bd. 6, S. 43 – 53.10 Husserl, Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemester 1925, Husserliana

Bd. 9, hg. von Walter Biemel, Den Haag 1962.11 Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomeno-

logie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Husserliana Bd. 6, hg. von W.Biemel, Den Haag 1954.

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anscheinend für beide einen unterschiedlichen Stellenwert. Bei Dilthey ist diePsychologie, gemäß dem Projekt der Ideen über eine beschreibende und zer-gliedernde Psychologie, die grundlegende Wissenschaft für die Erkenntnis derhistorisch-geistigen Welt, die der Erkenntnistheorie die Grundlagen der Be-schreibung des seelischen Zusammenhangs bereitstellen soll, der den »Unter-grund des Erkenntnisprozesses«12 bildet. Deswegen ist sie eine »Psychologie inBewegung«, die nicht mit den naturalistischen Psychologien verwechselt werdendarf. Bei Husserl ist hingegen die Psychologie anfangs ein methodologischesWerkzeug, um die Vorgänge zu erhellen, die in der mathematischen Erkenntnisstattfinden. Trotz dieser Differenzen konnte Dilthey in einer Fußnote zu denStudien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften schreiben: »Suche ich nunhier diese meine Grundlegung einer realistisch oder kritisch objektiv gerichte-ten Erkenntnistheorie fortzubilden, so muss ich ein für allemal im ganzen daraufhinweisen, wie vieles ich den in der Verwertung der Deskription für die Er-kenntnistheorie epochemachenden ›Logische Untersuchungen‹ von Husserl(1900 – 1901) verdanke«.13 Nach der harschen Kritik des Psychologen HermannEbbinghaus an den Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psycholo-gie14 und nach den Zweifeln, die Windelband gegenüber seinen Kriterien äu-ßerte, die die Grundlage für seine Unterscheidung zwischen Naturwissen-schaften und Geisteswissenschaften bildeten,15 kam der entscheidende Impuls,seine wenige Jahre zuvor unterbrochenen psychologischen und erkenntnis-theoretischen Studien wiederaufzunehmen, erst durch das Gefühl, mit einemder brillantesten und tiefsten Genies der neuen Generation übereinzustimmen.In der Position Husserls sah er den Beweis für die Fruchtbarkeit seines eigenenAnsatzes, die Geisteswissenschaft auf einer Beschreibung des »psychischenStrukturzusammenhangs«, auf einer »beschreibend-zergliedernden Darstellungder Prozesse, innerhalb denen das Wissen entsteht«, zu gründen.16

Ausgehend von der Entdeckung des Apriori der Korrelation von Subjekt undObjekt, gelingt Husserl in den Logischen Untersuchungen die Bestimmung undAnwendung eines neuen phänomenologisch-deskriptiven Standpunkts, derdazu bestimmt sein soll, die Probleme der Logik zu lösen, indem er den Ge-gensatz zwischen Psychologismus und Logizismus überwindet. Im Unterschiedzu den psychologistischen Tendenzen behauptet Husserl einerseits den idealenCharakter der logischen Gegenstände und den universalen und notwendigen

12 Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, GS Bd. 5, S. 151.13 Dilthey, Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, GS Bd. 7, S. 14.14 Hermann Ebbinghaus, Über erklärende und beschreibende Psychologie, in: Zeitschrift für

Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 9 (1896), S. 161 – 205.15 Wilhelm Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft, in: ders., Präludien. Aufsätze und

Reden zur Philosophie und ihre Geschichte, Tübingen 1903, S. 136 – 160.16 Dilthey, Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, GS Bd. 7, S. 10.

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Charakter der Denkgesetze. Andererseits wendet sich Husserl im zweiten Bandder Logischen Untersuchungen gegen den impliziten Dogmatismus des Logi-zismus, der die Wahrheit der Objekte selbst behauptet, indem er die subjektivenTätigkeiten untersucht, die in den Erlebnissen das logische Objekt konstituieren.Zum Hauptmerkmal des Erlebnisses im phänomenologischen Sinne wird aufdiese Weise die Intentionalität, die Husserl als Gerichtetheit jedes Bewusst-seinsaktes auf einen Gegenstand, sein Sich-Erstrecken auf einen Inhalt oder die»immanente« Bedeutung beschreibt. Dieser Ansatz beruht auf der Möglichkeit,den Begriff des Erlebnisses »rein phänomenologisch« zu bestimmen, d. h. unterAusschaltung aller Beziehung »auf empirisch-reales Dasein«; somit wird dasErlebnis im deskriptiv-psychologischen Sinne zum Erlebnis im Sinne der reinenPhänomenologie.17

Kraft dieses neuen beschreibenden Ansatzes gelingt Husserl ein wesentlicherFortschritt bei der Überwindung der naturalistischen Psychologie. DieseÜberwindung hatte Dilthey als Bedingung für eine eigenständige Grundlegungder Geisteswissenschaften und Grundlage einer Erkenntnistheorie angemahnt,die an der Konkretheit psychologischer Erfahrung ansetzen sollte. Wie Husserlwill wohl auch Dilthey mit seiner »Theorie des Wissens als philosophischeSelbstbesinnung« einen Mittelweg zwischen Objektivismus und Psychologis-mus beschreiten. Denn tatsächlich weist er darauf hin, dass eines der grundle-genden Merkmale, die »gültiges Wissen« vom »bloßen Vorstellen, Vermuten,Fragen oder Annehmen« unterscheiden, der Umstand ist, dass in der Weise, inder der Inhalt sich dem Bewusstsein zu erkennen gibt, eine »objektive Not-wendigkeit« liegt.18

Die Unterschiede in den Ansätzen Diltheys und Husserls sind allerdings nichtzu unterschätzen, und zwar sowohl was die Frage nach dem Begriff des Erleb-nisses betrifft (das bei Dilthey keinen intentionalen Charakter besitzt) als auchhinsichtlich des Verhältnisses von Erlebnis und Ausdruck.

Entscheidend für die Position Diltheys ist der Begriff der psychischenStruktur, den er schon in den Ideen ausarbeitete, als erlebte Beziehung zwischenden Teilen und dem Ganzen des psychischen Lebens: »Struktur ist ein Inbegriffvon Verhältnissen, in welchen mitten in dem Wechsel der Vorgänge, mitten inder Zufälligkeit des Nebeneinanderbestandes psychischer Bestandteile und derAbfolge psychischer Erlebnisse einzelne Teile des psychischen Zusammenhan-ges aufeinander bezogen sind«.19 Um diesen artikulierten (und damit aus-drückbaren und verständlichen) Charakter des psychischen Lebens zu ver-

17 Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. 2, Teil 1: Untersuchungen zur Phänomenologie undTheorie der Erkenntnis, Husserliana Bd. 19/1, hg. von Ursula Panzer, Den Haag 1984, S. 357.

18 Dilthey, Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, GS Bd. 7, S. 7.19 Ebd., S. 15.

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deutlichen, benutzt Dilthey das ursprünglich von Brentano stammende (undvon Husserl aufgegriffene) Schema, das als Hauptmerkmal der psychischenPhänomene die Beziehung zwischen Akt und Inhalt bestimmt. Dilthey unter-scheidet sich jedoch von Brentano – den er als »Scholastiker« betrachtet – darin,dass er der Lehre der Intentionalität des Bewusstseins und der BrentanoschenKlassifikation der psychischen Phänomene die umfassende Faktizität des Le-bens als ursprünglich Vorliegendes gegenüberstellt, das der Unterscheidungzwischen Bewusstsein und seinen Objekten vorhergeht. Mit dem Prinzip derPhänomenalität, das alle »Realität« auf die Dimension des Erlebnisses und aufseine Gegebenheit in einer Erfahrung des Widerstandes zurückführt, in dem derWille auf die Grenzen in der Welt stößt, wird Dilthey zum Antipoden desBrentanoschen Realismus, der die Wahrheit als Koinzidenz zwischen Urteil undObjekt auffasste.20

Dieser Unterschied zu Brentano markiert zugleich den Abstand zu Husserl.An ihm wird vor allem Diltheys Interesse am Ausdruck als Lebensphänomen undnicht als rein intellektuelle Tatsache sichtbar. Zwar stimmt es, dass Dilthey,indem er die strukturelle Einheit zwischen dem Ausdruck als psychischemPhänomen und der Bedeutung als Gegenständlichkeit hervorheben will, auf dieHusserlsche Definition des Ausdrucks zurückgreift : »jede Rede und jeder Re-deteil sowie jedes wesentlich gleichartige Zeichen« – wobei die Eigentümlichkeitdes Ausdrucks gegenüber anderen Zeichen gerade in der Bedeutsamkeit liegt.21

Doch während Husserl an der semantischen Dimension des Ausdrucks inter-essiert ist, an seiner Struktur als intentionalem Akt, in dem die Erlebnisse sichauf eine ideelle, identische und die Zeit überdauernde Bedeutungseinheit be-ziehen, untersucht Dilthey den Ausdruck als Objektivation des Lebens. Er siehtim Ausdruck vor allem die Artikulation eines Erlebnisses, das dadurch demVerstehen zugänglich wird – nicht nur dem Verstehen im Sinne einer metho-dischen Vorgehensweise der Geisteswissenschaften sondern auch dem ele-mentaren Verstehen, das auf einer vorwissenschaftlichen Ebene im praktischenLeben stattfindet.22 Für Dilthey macht der Ausdruck den Zusammenhangscha-rakter des Erlebnisses deutlich.

20 Zum Verhältnis von Dilthey und Brentano vgl. Jean-Claude Gens, La pens�e herm�neutiquede Dilthey, Villeneuve, d’Ascq 2002, S. 110 – 113, und Ernst Wolfgang Orth, Dilthey undBrentano zur Wissenschaftsforschung, in: Dilthey und der Wandel des Philosophiebegriffs seitdem 19. Jahrhundert, hg. von E. W. Orth, S. 24 – 54.

21 Dilthey, Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, GS Bd. 7, S. 39. Die HusserlscheDefinition findet sich in der ersten der Logischen Untersuchungen, die das Thema Ausdruckund Bedeutung behandelt. Vgl. Husserliana Bd. 19/1, S. 37.

22 Zur Wechselseitigkeit von Verstehen und Ausdruck bei Dilthey vgl. Georg Misch, Der Aufbauder Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens. Göttinger Vorlesungen über Logik undEinleitung in die Theorie des Wissens, hg. von Gudrun Kühne-Bertram, Frithjof Rodi,Freiburg i. Br., München 1994, S. 75. Zu den unterschiedlichen Formen des Verstehens, vor

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2. Wenn Dilthey, mit den Unterschieden, die wir gerade gesehen haben, in denLogischen Untersuchungen eine Bestätigung der Richtigkeit des eigenen psy-chologisch-strukturellen Ansatzes sieht, so ist das Urteil, das Husserl anfangsüber die Philosophie des älteren und etablierten Kollegen fällt, nicht ganz sowohlwollend und aufgeschlossen. In der programmatischen Schrift von 1911,Philosophie als strenge Wissenschaft, kritisiert Husserl vom Standpunkt einerErkenntnistheorie im Sinne Kants (als Untersuchung der Bedingungen a priorider Gültigkeit des Wissens) die naturalistische Philosophie und die psycho-physischen und experimentellen Psychologien. Indem diese den Verstand unddie Subjektivität naturalisierten, öffnen sie einem Skeptizismus Tür und Tor, derseine Wirkung nicht nur auf erkenntnistheoretischem Gebiete sondern auch imBereich der Ethik entfaltet. Implizit übernimmt Husserl also hier die Kritik, dieDilthey gegenüber der erklärenden Psychologie erhob. Trotz dieser Überein-stimmung kritisiert er aber dann im zweiten Teil seiner Schrift vehement diePhilosophie Diltheys als eine Philosophie der Weltanschauung mit »historizis-tischen« und deshalb, seiner Ansicht nach, relativistischen und skeptizistischenZügen.

Der im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert in der deutschen Philosophieweit verbreitete »Historizismus«, so Husserl, brachte einen Relativismus hervor,»der seine nahe Verwandtschaft mit dem naturalistischen Psychologismus hat,und der in analoge skeptische Schwierigkeiten verwickelt«.23 Dies deswegen, weilder Historizismus, auch wenn er keine direkte und explizite Naturalisierung desBewusstseins anstrebte, »seine Position in der Tatsachensphäre des empirischenGeisteslebens« einnimmt, indem er zwar Strukturen und Typen geistigen Lebensbeschreibt, aber dabei auf der Ebene dessen verbleibt, was Husserl Tatsachen-wissenschaften nennt.24 Husserl verkürzt nun allerdings das komplexere undambitioniertere Vorhaben Diltheys auf die späte Lehre von den Weltanschau-ungen25, wenn er in der Philosophie Diltheys ein charakteristisches Beispiel fürden Historizismus sieht. Dilthey, so Husserl, lehne den Skeptizismus zwar ab,doch positive Gründe gegen den Skeptizismus ließen sich gerade nicht auf derGrundlage einer Analyse der Weltanschauungen gewinnen, d. h. solange man aufder empirisch-tatsächlichen Ebene der Geschichte und der Geisteswissenschaftverbleibe, denn »weder gegen noch für irgendetwas, das auf objektive GültigkeitAnspruch erhebt, kann eine doch empirische Geisteswissenschaft argumentie-

allem dem elementaren Verstehen vgl. Dilthey, Plan der Fortsetzung zum Aufbau der ge-schichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, GS Bd. 7, S. 207 – 213.

23 Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, Husserliana Bd. 25, S. 41.24 Ebd.25 Husserl bezieht sich vor allem auf die Schrift Die Typen der Weltanschauung und ihre

Ausbildung in den metaphysischen Systemen.

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ren«.26 Für eine Entscheidung über die Gültigkeit einer spezifischen und histo-risch bedingten Kulturform und damit auch einer Wissenschaft ist, nach Hus-serl, eine Philosophie erforderlich, die sich auf ein prinzipiell anderes Niveau alsdie empirischen Wissenschaften begeben kann.

Trotz seiner Kritik gesteht Husserl Dilthey eine Art phänomenologischerAttitüde zu – und erkennt, dass dort, wo »die empirische Einstellung, die aufempirisches Verstehen geht, mit der phänomenologischen Wesenseinstellungvertauscht wird«, es »innerlich sein Denken zu bewegen« scheine.27 In seinereigenen Phänomenologie sieht Husserl dann folgerichtig eine Radikalisierungund kohärente Vertiefung der Kritik Diltheys am Naturalismus: »Wenn Diltheyin so eindrucksvoller Weise zur Geltung gebracht hat, dass die psychophysischePsychologie nicht diejenige sei, welche als ›Grundlage der Geisteswissenschaf-ten‹ dienen könne, so würde ich sagen, dass es einzig und allein die phänome-nologische Wesenslehre ist, welche eine Philosophie des Geistes zu begründenvermag«.28

Im Anschluss an diese Kritik Husserls in Philosophie als strenge Wissenschaftfand im Jahre 1911, dem Todesjahr Diltheys, ein kurzer aber bedeutenderBriefwechsel statt, den zuerst Georg Misch publik machte.29 In ihm bemühensich die beiden Philosophen, die Übereinstimmungen und Unterschiede ihrerPositionen zu klären, wobei sie sich in der Diskussion, die sich um Fragen derWissenschaftlichkeit der Philosophie und ihres Verhältnisses zur Metaphysikdreht, vor allem damit beschäftigen, Klarheit über die Bedeutung der Ausdrücke»Skeptizismus«, »Historizismus«, »Relativismus« und »absolute Gültigkeit« zugewinnen. Dilthey, der die Etikettierung seiner Philosophie als Historizismusund Skeptizismus ablehnte, versucht hier zu verdeutlichen, dass sein philoso-phisches Bemühen darauf abziele, zu einer philosophischen Grundlegung derEinzelwissenschaften (in diesem Fall der Geisteswissenschaften) zu gelangen,die den Skeptizismus eindämmen könne. Die Übereinstimmung mit Husserl,schreibt Dilthey, liege in der Überzeugung, dass es möglich sei, eine allgemeineTheorie des Wissens zu erschaffen. Aber der gemeinsame Weg ende auch schondort: »In dem weiteren Aufbau der Philosophie trennen sich dann unsere Wege.Mir erscheint eine Metaphysik unmöglich, welche den Weltzusammenhangdurch einen Zusammenhang von Begriffen in gültiger Weise auszusprechenunternimmt«.30

Um Diltheys Argument zu verstehen, muss man sich daran erinnern, dass ermit seiner Weltanschauungslehre die »Antinomie zwischen dem Anspruch jeder

26 Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, S. 45.27 Ebd.28 Ebd., S. 47.29 G. Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie, S. 180 – 186.30 Dilthey an Husserl. 29.VI.1911, in: Husserl, Briefwechsel. Philosophenbriefe, S. 43.

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Lebens- und Weltansicht auf Allgemeingültigkeit und dem geschichtlichen Be-wusstsein«31 überwinden wollte. Indem Dilthey das implizite emanzipatorischeElement im »historischen Bewusstsein« hervorhebt, das die Relativität allerFormen und Ausdrucksweisen menschlicher Kultur aufzeigt, geht es ihm darum,der Philosophie ihre eigene Geschichtlichkeit bewusst zu machen, ohne siedamit in die Situation zu versetzen, auf ihre eigentliche Aufgabe der Erkennt-nisbegründung verzichten zu müssen. Der Ausgangspunkt für die Lösung diesesProblems ist für Dilthey die »geschichtliche Selbstbesinnung«, die mithilfe einesanalytischen Ansatzes in der Vielfalt der Weltanschauungen und der von ihnenerzeugten Ideale »Struktur, Zusammenhang, Gliederung«32 entdecken will unddabei zeigen kann, dass diese sich in Übereinstimmung mit der Struktur despsychischen Lebens befinden. Jenseits aller Gegensätze zwischen den Weltan-schauungen und den philosophischen Begriffen wird dann deutlich, dass diegrundlegenden Züge der Weltanschauungen »die Seiten der Lebendigkeit inbezug zu der in ihr gesetzten Welt ausdrücken«33 und dass die Pluralität derWeltanschauungen der »Mehrseitigkeit« des Lebens entspricht.34 Da sie auf demgeschichtlichen und psychologischen Leben fußen (das die drei Komponentender gegenständlichen Auffassung, der Wertschätzung und der Zwecksetzungeinschließt, bzw. der Erkenntnis, des Gefühls und des Willens), entstehen dieverschiedenen Weltanschauungen (Philosophie, Kunst und Religion) aus demVersuch heraus, dem »Rätsel des Lebens und der Welt«35 gemäß der Lebenser-fahrung zu begegnen und es zu lösen. Auch dort, wo sie eher zu einer begriff-lichen Welterklärung neigen, wie bei der Philosophie, haben die Weltanschau-ungen keine rein intellektuellen Fundamente, sind keine reinen »Erzeugnissedes Denkens«, sondern sie gehen »aus dem Lebensverhalten, der Lebenserfah-rung, der Struktur unserer psychischer Totalität«36 hervor.

Die Einsicht in den Umstand, dass jedes metaphysische System, da es seinenUrsprung in einem psychischen Zusammenhang und einer historischen Situa-tion hat, nur einen Aspekt der Welt ausdrückt, der in seiner rätselhaften Tiefeunergründlich und unkategorisierbar bleibt, schließt nicht aus, sondern fordertgeradezu, dass man zwischen der geschichtlichen Bedingtheit der Wissenschaftund ihrer Geltung unterscheiden muss, denn sonst »verlöre die Idee des Wissens

31 Dilthey, Das geschichtliche Bewusstsein und die Weltanschauungen, GS Bd. 8, S. 3.32 Ebd., S. 7.33 Ebd., S. 8.34 Ebd., S. 69.35 Dilthey, Handschriftliche Zusätze und Ergänzungen der Abhandlung über die Typen der

Weltanschauung, GS Band 8, S. 138.36 Dilthey, Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Syste-

men, GS Bd. 8, S. 86.

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selbst ihre Geltung«.37 In diesem Zusammenhang erklärt sich Dilthey denn auch»ganz einverstanden« mit Husserl, wenn dieser feststellt, dass auf der Ebene desHistorischen und Tatsächlichen keine Gründe für oder wider die Wahrheit einerphilosophischen oder wissenschaftlichen Theorie gefunden werden können.Dennoch bleibt Dilthey davon überzeugt, dass die Unmöglichkeit der Meta-physik nur »von geisteswissenschaftlicher Analyse ausgehend systematischerUntersuchung« bewiesen werden könne, die deswegen nichts anderes sei als»Ausbildung des geschichtlichen Bewusstseins«.38

Wie aus dem Antwortbrief Husserls an Dilthey deutlich wird, basieren dieDiskussion und der Dissens beider Philosophen auf einem Missverständnisbezüglich des Begriffs der Metaphysik und der möglichen Wege einer Kritik undÜberwindung derselben. Wenn für Dilthey Metaphysik der Anspruch ist, denZusammenhang von Welt und Leben in einem Begriffssystem vollständig aus-zudrücken, so scheint Husserl, auf den Spuren Kants, eine traditionelle Meta-physik von einer kritischen Metaphysik zu unterscheiden, die er mit der Phä-nomenologie gleichsetzt. Aufgabe der letzteren ist es, jede objektive Gültigkeit,jedes spezielle Gebiet der Erfahrung auf ein Apriori zurückzuführen, auf idealeund absolute Prinzipien, die – von psychologischen, geschichtlichen und an-thropologischen Tatsächlichkeiten unberührt – in der Lage sind, die Gültigkeitdes Wissens zu garantieren. Dieses Apriori fällt mit der intentionalen Korrela-tion zwischen Subjekt und Objekt der Erfahrung, zwischen Ich und Welt zu-sammen. »Metaphysik« ist in diesem positiven Sinne Analyse der Bedingungender Möglichkeit von Erfahrung, d. h. der intentionalen Beziehung zwischenBewusstsein und Welt, »der rätselhaften Wesensbeziehungen zwischen Sein undBewusstsein«.39 Damit ist aber zugleich eine Metaphysik des »Dings an sich« imStile Kants oder eine Metaphysik »� la Spinoza«, die die Welt aus einem Systemvon Begriffen heraus erklärt, ausgeschlossen, denn Husserl zufolge ist »die Redevon einem Sein, das noch ›dahinter‹ liegt und aus Prinzip unerkennbar« ist,widersinnig.40 Diese Ansicht unterscheidet sich nicht wesentlich von derjenigen,die der junge Dilthey mit dem Theorem der »völligen Positivität der Welt«41 zumAusdruck brachte. Dieses richtete sich wie auch die späte Weltanschauungslehregegen Systemkonstrukte, die die Welt und die Erfahrung auf rein begrifflicheWeise begründen wollen. Wenn für Dilthey die Welt eine positive Ganzheit ist,die niemals völlig auf Begriffe zurückgeführt werden kann und die wir in ihrer»Phänomenalität« erfahren, so ist für die Phänomenologie die Welt »Phäno-men«, und hinter den Phänomenen gibt es keine metaphysische Welten, die

37 Dilthey an Husserl 29.VI.1911, in: Husserl, Briefwechsel, Bd. 6, S. 46.38 Ebd., S. 47.39 Antwort Edmund Husserls auf den Brief Diltheys vom 29. Juni, ebd., S. 50.40 Ebd.41 Dilthey, Erkenntnistheoretische Fragmente (1874 – 79), GS Bd. 18, S. 198 – 199.

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unerkennbar bleiben oder sich in den Erscheinungen zeigen. Husserl ist sichdieser Nähe deutlich bewusst, wenn er in seiner Antwort an Dilthey abschlie-ßend auf die gemeinsamen Bestrebungen und Forschungsziele der eigenen»phänomenologischen Elementaranalyse und phänomenologischen Analyse imGrossen« und der Diltheyschen »Morphologie und Typik der grossen Kultur-gestaltungen« hinweist.42 Doch jenseits der versöhnlichen Erklärungen und derVersuche, zu einem Konsens zu gelangen, bleiben die theoretischen Unter-schiede bestehen. In seinem Kommentar zur Diskussion zwischen Dilthey undHusserl hat Misch darauf hingewiesen, dass die gemeinsame Einsicht in dieNotwendigkeit einer allgemeingültigen Wissenstheorie weit davon entfernt ist,den Konflikt zu lösen. Sie verlagert ihn lediglich auf eine andere Ebene. Tat-sächlich ist der Begriff des Wissens, für dessen Fundierung beide Philosopheneine Theorie suchen, ein gänzlich verschiedener. Bei Husserl hat er den »Zug derabsoluten Erkenntnis, der dem mathematisierenden Logiker ansteht, das pla-tonische Ideal der reinen Wissenschaft«, bei Dilthey bezieht er sich auf dieRealwissenschaften und auf die erfahrbare Wirklichkeit.43 Zudem scheint auchdie Suche der Grundlegung in unterschiedliche Richtungen zu verlaufen, dennobwohl bei beiden der Begriff der Bedeutung zentral ist, wird er bei Husserl alseine »rein theoretische Form« und bei Dilthey als eine »Objektivation des Le-bens« verstanden.44 In der Entwicklung von der statischen Phänomenologie derIdeen zur genetischen Phänomenologie der Zwanzigerjahre, die im transzen-dentalen Bewusstsein eine passive Dimension der Geschichtlichkeit entdeckt,kommt es jedoch zu einer ähnlichen Denkbewegung wie bei Diltheys »Auflo-ckerung des Bodens des logischen Phänomens«.45 Letztere stellt nach Misch dietheoretische Grundgeste der »Lebenslogik« dar, von der Dilthey spricht und dieauf die Verwurzelung der logischen Formen im vorkategorialen Boden des Le-bens hinweist.46 Es ist deswegen bezeichnend, dass im Laufe der EntwicklungHusserls die Diltheysche Frage nach den Geisteswissenschaften einen promi-nenten Platz einnimmt.

3. Die Kritik an Dilthey im Briefwechsel lässt schon Themen anklingen, dieHusserl im ersten Band der Ideen in den Überlegungen zur Methode der phä-nomenologischen epoch� entwickeln wird. Damit ist vor allem der Unterschiedzwischen natürlicher Einstellung und phänomenologischer Einstellung gemeint

42 Antwort Edmund Husserls auf den Brief Diltheys vom 29. Juni, Husserl, Briefwechsel Bd. 6,S. 51.

43 Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie, S. 183.44 Ebd., S. 184.45 Ebd.46 Es war G. Misch (ebd., S. 208 f), der als erster eine Annäherung Husserls an Diltheys Vision

einer genetischen Logik feststellte.

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und dementsprechend der zwischen Tatsachenwissenschaften und Wesenswis-senschaften, aufgrund dessen Husserl behaupten kann, dass die Phänomeno-logie »das wesentliche eidetische Fundament der Psychologie und der Geistes-wissenschaften ausmacht«.47 Der auf seine Art »empirische« Charakter derphänomenologischen Einstellung ist für Husserl durch das »Prinzip aller Prin-zipien« garantiert, das, wie E.W. Orth bemerkt hat48, an das Diltheysche »Prinzipder Phänomenalität« erinnert. Dieses Prinzip gewährleistet, »dass jede originärgebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, dass alles, was sichuns in der ›Intuition‹ originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit)darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in denSchranken, in denen es sich da gibt«49; in ihm drückt sich also der intuitiveCharakter der phänomenologischen Erfahrung aus.

Von der Ausarbeitung der Texte, die Eingang in den zweiten Band der Ideenfanden (begonnen 1912 und in einigen Teilen fortgeführt bis 1928) über dieVorträge und Vorlesungen über Natur und Geist (gehalten 1919 und 1927) bis zuden Cartesianische Meditationen (1929) und der Krisis-Schrift (1935 – 36), d. h.in der Phase des Übergangs von der »statischen« Phänomenologie zur »dyna-mischen« bzw. »genetischen« – von der Untersuchung über die Konstitution derObjekte im reinen Bewusstsein bis zur Untersuchung über das sich seinerseits inder Zeit bildende Bewusstsein – erweitert Husserl den Bereich phänomenolo-gischer Forschung zusehends. In dieser Phase kommt er auf Diltheys Thema derGeisteswissenschaften zurück, die, obwohl ihre Untersuchungen auf einer em-pirischen Ebene wurzeln, dennoch dahin tendieren, die Grenzen der natura-listischen Wissenschaftlichkeit zu überwinden und den Weg zur Betrachtungdes subjektiv bestimmten Charakters der Erfahrung eröffnen. Parallel zur Be-handlung des Themas der Fremderfahrung beschäftigt sich Husserl in dieserPhase auch mit der Frage der Erfahrung der geistigen, sozialen und geschicht-lichen Welt, bei der die Antworten nicht in Kausalerklärungen zu suchen sind,sondern im »Motivationszusammenhang«. Diese thematische Linie lässt sich biszur Untersuchung der »statischen« Konstitution der Objektivität im drittenAbschnitt von Band II der Ideen verfolgen.50

47 Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I,Husserliana Bd. 3, hg. von W. Biemel, Den Haag 1950, S. 41 – 42.

48 Vgl. dazu E. W. Orth, Einleitung, in: Dilthey und die Philosophie der Gegenwart, S. 24.49 Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I,

S. 52.50 Vgl. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie

II, Husserliana, Bd. 4, hg. von Marly Biemel, Den Haag 1952, S. 172 – 302. In einem Brief anMahnke vom 26. Dezember 1927 (in: Husserl, Briefwechsel, Bd. 3: Die Göttinger Schule, hg.von K. Schuhmann in Verbindung mit E. Schuhmann, Dordrecht, Boston, London 1994,S. 460) erinnert Husserl daran, wie er nach dem Treffen mit Dilthey in Berlin einige Übungenin Göttingen über »Natur- und Geisteswissenschaft« abhielt und dass ihn viele Jahre lang

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Dennoch bleibt auch in dieser Phase die Beurteilung von Diltheys Denkenambivalent. Husserl gesteht Dilthey eine große (geschichtliche) Bedeutung zu,im Kampf »gegenüber der dem naturwissenschaftlichen Zeitalter selbstver-ständlichen naturalistischen Deutung der Geisteswissenschaften als blossendeskriptiven Naturwissenschaften«.51 Trotz der historischen Bedeutung seinesKampfes gegen die naturalistische Psychologie und obwohl »Hermann Ebb-inghaus’ elegante, aber nur die unzulängliche wissenschaftliche Ausgestaltungder Diltheyschen Ideen zersetzende Kritik« nicht den Einfluss der DiltheyschenPhilosophie auf die jüngeren Generationen verhindern konnte, unterstreichtHusserl einmal mehr dasjenige, was ihm die Grenze Diltheys zu sein scheint –der Mangel an theoretischer Strenge.52 Und wieder ist es die Phänomenologie,die intentionale Analyse der Objektkonstitution (in diesem Fall der geistigenWelt) in und für das Bewusstsein, die eine Lösung für die von Dilthey aufge-worfenen Probleme anbietet.53

Ebenso wenig wie Dilthey leugnet Husserl den teilweisen Wert der Ergebnisseder naturalistischen Psychologien. Er stellt sich jedoch dem Problem, dieGrenzen ihrer Gültigkeit durch die intentionale Untersuchung der Bewusst-seinsakte, in denen sich die Objekte der empirischen Wissenschaften konsti-tuieren, festzulegen. Auf diese Weise rekonstruiert er das System regionalerOntologien, innerhalb dessen die Ontologie der Region »Seele« verortet wird.Die Betrachtung des Menschen als Natur ist zwar, so Husserl, legitim, sie trägtder Spezifizität des Menschen aber nicht Rechnung: »so wenig umspannt dieserTitel [Natur, M. M.] die spezifisch geistige Sphäre in ihren geistigen Beziehun-gen«. Es ist lediglich ein Vorurteil, »dass Natur das wahre Sein des Subjektesist«.54 Der naturalistischen Einstellung setzt Husserl die »personalistische Ein-stellung« der Geisteswissenschaften entgegen, die der alltäglichen Einstellungder Lebenspraxis entspricht und derjenigen des Naturwissenschaftlers vor-gängig sei; denn auch der Naturwissenschaftler fasst nicht permanent die Weltin Begriffen einer objektiven Natur auf.55

In der personalistischen Einstellung ist nach Husserl die Person nicht isoliert,sondern in einer intentionalen Beziehung mit der umgebenden Welt, die eineWelt für eine Gemeinschaft von Subjekten in Einfühlungszusammenhängen ist.

»geisteswissenschaftliche Phänomenologie« fast mehr als alle anderen Probleme beschäf-tigte.

51 Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie II,S. 172 – 173.

52 Ebd., S. 173.53 Ebd.54 Ebd., S. 346.55 Ebd., S. 183. Zum Begriff der Person bei Husserl im Verhältnis zur Philosophie Diltheys vgl.

Stephan Otto, Rekonstruktion der Geschichte. Zur Kritik der historischen Vernunft, München1982, S. 93 – 99.

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An die Stelle der Einsamkeit des transzendentalen Bewusstseins tritt hier dieDimension einer egologischen Pluralität, einer »monadologischen Bewusst-seinsvielheit«.56 In dieser Welt der Lebensbeziehungen ist jedes geistige Subjekt,jedes Ich sich bewusst, einer geistigen Welt anzugehören. Es erfährt sich selbstals Subjekt in einer Welt der Dinge, die sich ihm entgegensetzen. Um dieseerlebte Welt bedeutungsvoller Zusammenhänge zu verstehen, die nicht voneinem Kausalverhältnis zwischen Subjekt und Umwelt getragen werden, son-dern von Motivationszusammenhängen57, ist eine Psychologie erforderlich, dienicht nach naturalistischen Bestimmungen sucht, sondern sich »für Bewusstseinin sich und seine Wesenseigentümlichkeiten, ebenso für Geister, geistige Indi-viduen, geistige Zusammenhänge« interessiert.58 Während naturalistische Psy-chologien unfähig sind, die wesentlichen Eigentümlichkeiten des Psychischenund seiner Strukturen zu erblicken, könnte eine solche Psychologie die Aufgabebewältigen, das ihr »völlig eigentümliche Reich verstehbarer Zusammenhängeaufzuklären und damit zur Grundwissenschaft zu werden für die gewaltigeobjektive Welt des Geistes, deren Eigenes es wieder ist, eine verstehbare Welt zusein«.59

Um die Mitte der Zwanzigerjahre herum entwickelt Husserl während derBeschäftigung mit dem Verhältnis von empirischer Psychologie und Phäno-menologie die Idee einer phänomenologischen (»reinen« oder »intentionalen«)Psychologie, die sich auf mittlerer Ebene zwischen empirischer Psychologie undtranszendentaler Phänomenologie einreiht, zu der sie sowohl methodologischals auch thematisch parallel verläuft.60 In diesem Zusammenhang setzt sichHusserl erneut mit Dilthey auseinander. Dieses Mal ist er jedoch weniger ab-wertend als noch in Philosophie als strenge Wissenschaft und stärker daraufbedacht, die Nähe zwischen der deskriptiven Psychologie Diltheys und seinereigenen Phänomenologie zu betonen. Für Husserl bleibt zwar auch hier Dilthey»viel mehr ein Mann genialer Gesamtintuitionen als der Analyse und abstrakterTheoretisierungen«. Ein Denker, der weder die Fähigkeiten zur »elementarenErfahrungsanalyse«, noch der »logischen Präzision« und des »Denkens in Prä-zisionsbegriffen« entwickelt hat, sondern vielmehr nur in der Lage ist, »daskonkrete Geistesleben, das individuelle und das gesellschaftlich-geschichtliche,

56 Vgl. dazu Iso Kern, Einleitung des Herausgebers, in: E. Husserl, Zur Phänomenologie derIntersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Erster Teil : 1905 – 1920, Husserliana Bd. 13, DenHaag 1973, S. XXV.

57 Für Husserl bildet der Begriff der Motivation das eigentümliche Erklärungsmittel derGeisteswissenschaften. Vgl. dazu Husserliana Bd. 13, S. 93, 96, und Natur und Geist, Hus-serliana Bd. 25, S. 322.

58 Husserliana Bd. 13, S. 96.59 E. Husserl, Natur und Geist, S. 319 – 320.60 E. Husserl, Phänomenologische Psychologie, a.a.O.

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in seiner lebendigen Konkretion zu überschauen«.61 Doch abgesehen von diesenbekannten Einschränkungen empfiehlt Husserl seinen Studenten die Lektüreder Diltheyschen Werke, da sie »eine geniale Vorschau und Vorstufe der Phä-nomenologie«62 seien. Er urteilt über die Ideen über eine beschreibende undzergliedernde Psychologie positiv und gibt zu, sie seinerzeit unter dem Einflussder »glänzende Antikritik« von Ebbinghaus nicht gelesen zu haben. Er nennt sie»eine geniale, wenn auch unvollkommen ausgereifte Arbeit, die sicher in derGeschichte der Psychologie unvergessen bleiben wird«.63 Husserl zufolge hatsich Dilthey zwei Verdienste erworben: Zum einen hat er den einheitlichenCharakter des psychischen Lebens als »Erlebniseinheit« bestimmt und darausdie Notwendigkeit einer rein beschreibenden Psychologie gefolgert, die auf in-tuitive Weise vorgeht. Zum anderen hat er die Eigentümlichkeit der innerenErfahrung und die Methoden ihrer Beschreibung verstanden, indem er zeigte,dass das geistige Gebiet durch eine besondere Art eines nichtkausalen ur-sprünglichen Zusammenhanges gekennzeichnet ist: der Motivation, die zumErlebnisbestand gehört und deshalb »der schlichten Intuition und Deskriptiondirekt zugänglich« ist.64

Diese Wertschätzung hindert Husserl jedoch nicht, der Diltheyschen Psy-chologie einige grundsätzliche Schwächen vorzuwerfen. Vor allem vermisstHusserl einerseits klare Prinzipien, die über Sinn und Grenzen der Ansprücheder erklärenden Wissenschaften entscheiden. In der Sprache Husserls: Es fehltdie Unterscheidung zwischen Wesenswissenschaften (a priori) und Erfah-rungswissenschaften. Andererseits bemängelt er auch die fehlende methodischeStrenge bei der Konstruktion der psychologischen Problematik. Wie soll esmöglich sein, fragt sich Husserl, aus der Beschreibung intuitiver Singularitätenheraus eine Psychologie im Sinne einer Grundwissenschaft zu entwickeln? Wennes stimmt, dass Geisteswissenschaften mit Individualität zu tun haben, so istdoch ebenso wahr, dass die Psychologie keine Wissenschaft sein will, die »dieindividuellen und historischen Faktizitäten in ihren individuellen Zusammen-hangsmotivationen individuell verständlich macht«. Sie will vielmehr »die Ge-setze des Seelenlebens und die Gesetze, nach denen Gemeingeistigkeit undKultur überhaupt erwächst«, erkennen.65 Solange man aber auf der Ebene derempirischen Intuition der Individualität verbleibt – und für Husserl ist dies dieEbene, auf der sich die Diltheysche Untersuchungen bewegen – kann dann dieBeschreibung überhaupt anderes umfassen als empirische Individualitäten?Husserl hält Dilthey vor, sich nicht »das radikale Problem der Objektivität

61 Ebd., S. 6 – 7.62 Ebd., S. 35.63 Ebd., S. 35 f.64 Ebd., S. 10.65 Ebd., S. 10 – 13.

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geistiger Gebilde, sowohl solcher, die im einzelpersonalen Leben als einzelper-sonale Leistung erwachsen, als auch solcher Gebilde von vergemeinschaftetenPersönlichkeiten« gestellt zu haben.66 Husserl vertritt hier also eine Positionähnlich der des neukantianischen Philosophen Rickert67, wobei er seinerseitsallerdings nicht nur die Passagen in den Ideen, in denen Dilthey explizit von derUnmöglichkeit spricht, die Psyche unabhängig von ihren historischen Mani-festationen zu erkennen, sondern auch die 1927 veröffentlichten Texte (imBand 7 der Gesammelten Schriften) auber Acht lässt, die ja gerade das Verstehendes Lebens aus seinen Objektivationen zum Gegenstand haben. Diese MängelDiltheys verweisen, Husserl zufolge, auf den größten Irrtum, der die Methode beider Untersuchung des Bewusstseins betrifft. Von empirischer Intuition ausge-hend, habe Dilthey nicht erkannt, dass es möglich ist, zu einer Wesensintuitionder Bewusstseinsakte überzugehen. So erkennt Dilthey nicht, dass »die das ra-dikale Wesen des psychischen Lebens ausmachende Beziehung auf Bewusst-seinsgegenständlichkeiten das eigentliche und unendlich fruchtbare Themasystematischer Seelenanalysen ist und zwar als Wesensanalysen«.68 Nur eineintentionale Psychologie kann fü Husserl die Aufgaben, die Dilthey sich stellte,lösen. Aufgaben, die Husserl hinsichtlich der transzendentalen Problemstellungaufnimmt, um die Psychologie zu einer »Grundwissenschaft des Verstehens« zumachen, die die »Einheit des seelischen Zusammenhangs« als »Untergrund allerErkenntnisprozesse« sichtbar macht.69

Da Husserl die Intentionalität als Grundeigenschaft des Bewusstseins be-stimmt, bildet die phänomenologische Psychologie die Grundlage aller natu-ralistischen Psychologien und der Geisteswissenschaften. Sie ist auberdem einDurchgangspunkt auf dem Weg zur transzendentalen Philosophie. Während dietraditionellen Psychologien sich auf die »vorgegebene Welt« beziehen und zuden mundanen Wissenschaften gehören, wird erst durch den Vollzug dertranszendentalen Reduktion die Welt und jede natürliche Weltbetrachtung »voneinem letzten Standpunkt, der uns in die transzendentale Geistigkeit führt«,thematisiert. »Die Grundwissenschaft«, schreibt Husserl, »wird nun die tran-szendentale Phänomenologie, eine Psychologie höchsten und neuen Sinnes,welche alle Vernunftkritik in sich befasst und alle echten philosophischen

66 Ebd., S. 359.67 In seinem Buch Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (Tübingen 1921, S.

IX) vermisst Rickert bei Dilthey die Unterscheidung zwischen dem empirischen Bereich desSeelischen und der geistigen Sphäre des Wertes. Zur Kritik Rickerts an Dilthey vgl. auch H.Rickert, Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströ-mungen unserer Zeit, Tübingen 1922. Hier sieht Rickert im gemeinsamen »Dringen aufUnmittelbarkeit« (ebd., S. 29) eine enge Verwandtschaft zwischen Dilthey und Husserl.

68 Husserl, Phänomenologische Psychologie, S. 13.69 Ebd., S. 15.

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Probleme«.70 Mit dieser Haltung will der Phänomenologe zur originären Welt-erfahrung zurückkehren (die von Husserl jeweils unterschiedlich als »natürli-chen Weltbegriff«, »Erfahrungswelt« und »Lebenswelt« bezeichnet wird), um zuverstehen, wie sich die empirischen Wissenschaften im Verhältnis zu ihrennotwendigen und a priori gegebenen Strukturen entwickeln.

Mit der Entdeckung dieser Erfahrungswelt gelangt Husserl zum einheitlichenUrsprungsort aller Wissenschaften, seien es Natur- oder Geisteswissenschaften,die in den Augen des Phänomenologen dem »konkreten Leben« zugehörig sind.Sie sind Ergebnisse der konstituierenden Tätigkeit des Bewusstseins, welchessich seinerseits in der genetischen Phänomenologie als das Resultat einer pas-siven Konstituierung entpuppt. Man kann auch hier eine Nähe zur AuffassungDiltheys feststellen, der im Lebenszusammenhang die Ursprungsdimension dernatur- und geisteswissenschaftlichen Erkenntnis sah. Dabei gilt es allerdings zubeachten, dass anders als Dilthey Husserl diese Ursprungsdimension als tran-szendentale Subjektivität und transzendentales Leben auffasst. Zugleich unter-scheidet Husserl dabei zwischen der Reflexion über das Apriori der phäno-menologischen Psychologie, die sich noch auf dem Boden der Welt bewegt, undder transzendentalen Phänomenologie, die sich durch ihr Infragestellen desWelthorizontes auszeichnet. Mit der Einklammerung dieses Welthorizontes undder »personale[n] Geistigkeit in ihrem natürlich-weltlichen Dasein« reduziertsich dieser für die Phänomenologie auf die Dimension der »Phänomenalität«. Erliegt nun nicht mehr »in der Welt, sondern in der Subjektivität«. Nicht in der»personalen Subjektivität, die erfahren ist als in der Welt seiende«, sondern »inderjenigen Subjektivität, die da die Personalität ständig erfahrende ist und indemjenigen Leben, das nicht objektiv personales Leben, sondern subjektiv dasdieses Personale umfassende, in sich subjektiv darstellende ist«.71

Wenn man sich diese Entwicklungen vergegenwärtigt, wird verständlich,warum Husserl sich bei dem für seine genetische Phänomenologie charakte-ristischen Versuch, vom phänomenologischen Standpunkt aus die Probleme derhistorisch-psychologischen Erfahrung anzugehen, nicht nur im »Contrast« zu,sondern auch in einer »inneren Gemeinschaft« mit Dilthey fühlte, wie er ineinem Brief im November 1930 an Misch anlässlich der Veröffentlichung vonBand 8 der Gesammelten Schriften Diltheys anmerkte.72 Zugleich gab er dortseiner Hoffnung Ausdruck, dass die von Misch und Groethuysen herausgege-benen Schriften Diltheys ihm »nach der Vollendung der Zeichnung des Rahmenseiner universalen (konstitutiv-phänomenologischen!) Philosophie, die jetzt inAusarbeitung ist« hilfreich sein könnten. Der alte Husserl betont dabei, sich in

70 Ebd., S. 222.71 Ebd., S. 233.72 Husserl, Briefwechsel, Bd. 6, S. 283.

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einer neuen Phase seines Schaffens zu befinden. Er sei jetzt nicht mehr der»ahistorische Husserl«, der »nur zeitweise Distanz von der Historie nehmenmusste (die er doch stets im Blick hatte), gerade um in der Methode soweitkommen zu können, an sie wissenschaftliche Fragen zu stellen«.73 Zu einerwirklichen Begegnung der lebensphilosophischen Richtung Diltheys mit derphänomenologischen Methode Husserls konnte es aber auch hier nicht mehrkommen. Wichtiger als die gemeinschaftliche Verweigerung gegenüber jeglichernaturalistisch verkürzten Auffassung des Subjekts, der Erfahrung und desWissens blieb wohl der Umstand, dass »Husserls rationalistische Interpretation,die er seinen eigenen Entdeckungen gab, Dilthey nicht Konform war, währendDiltheys Tendenz in ihrer Tiefe keine Resonanz bei Husserl finden konnte«.74

73 Ebd., S. 283 f.74 Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philoso-

phische Anthropologie, Gesammelte Schriften Bd. 4, Frankfurt a. M. 2003, S. 66.

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