Das Leiden fassen. Zur Leidensdialektik Søren Kierkegaards. (Grasping suffering: Kierkegaard's...

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Almut Furchert

Das Leiden fassen

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Kierkegaards Existenzanalysen entfalten das Problem der Leiden alsdialektisches Moment menschlicher Erfahrung in seiner ganzen Spann-weite: zum einen in den vielfältigen Ausdrucksweisen verzweifelterExistenz, zum anderen als Ausdruck der sich wesentlich werdendenExistenz im Ringen um Wahrheit, Ethos und Sinn. Dabei kehrt Kierke-gaard unseren Blick von einer rein äußerlichen Betrachtung von Leidund Leiden zu jenem »Leiden der Innerlichkeit«, das in die paradoxeStruktur des Daseins selbst eingeschrieben ist. Hier findet sich einMensch vor die beschwerliche Aufgabe gestellt, die Vermittlung seinerendlichen und unendlichen Bezüge selbst zuwege zu bringen. Der Ver-such, sein Leiden zu fassen, steht darum beispielhaft für die Bewegungder »Aneignung«, durch welche der endliche Geist seine Erfahrung,sein Denken, Glauben und Handeln mit Bewusstsein durchdringt, ver-tieft und zu eigen macht.

Die Untersuchung versucht, diesen Zusammenhang an dreiSchriftgruppen Kierkegaards nachzuzeichnen und dessen Bedeutungfür Selbst-, Welt- und Gott-Erkenntnis zu erhellen. Sie versteht sichdamit auch als ein Brückenschlag zwischen jenen Disziplinen, die sichum die leidende Existenz bekümmern.

Die Autorin:

Almut Furchert, Studium der Psychologie (Dipl. Psych.), Philosophieund Erwachsenenpädagogik an der Humboldt Universität zu Berlinund der Hochschule für Philosophie, München. Promotion zum Dr. phil.2011. Mehrfache Forschungsaufenthalte an der Hong Kierkegaard Re-search Library am St. Olaf College, Northfield, MN, USA. Psychologinund praktische Philosophin in eigener Praxis.

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Almut Furchert

Das Leiden fassen

Zur LeidensdialektikSøren Kierkegaards

Verlag Karl Alber Freiburg /München

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Alber-Reihe Thesen

Band 49

Die Publikation wurde von derJohanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung,Hamburg, unterstützt.

Originalausgabe

© VERLAG KARL ALBERin der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2012Alle Rechte vorbehaltenwww.verlag-alber.de

Satz: SatzWeise, FöhrenDruck und Bindung: CPI buch bücher.de Gmbh, Birkach

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)Printed on acid-free paperPrinted in Germany

ISBN 978-3-495-48527-9

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Für meine Schwester

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»Die dänische Philosophie, wenn einmal von einer solchen dieRede sein soll, wird darin von der deutschen verschieden sein,dass sie überhaupt nicht mit Nichts oder ohne jegliche Voraus-setzung anfängt, oder alles durch Mediieren erklärt, da sie ganzim Gegenteil mit dem Satz anfängt: dass es viele Dinge zwischenHimmel und Erde gibt, die kein Philosoph erklärt hat.Dieser Satz wird, indem er in die Philosophie aufgenommenworden ist, das gehörige Korrektiv abgeben und zugleich einehumoristisch-erbauliche Bewegtheit über das Ganze werfen.«

(Søren Kierkegaard)1

»Nein – wenn Gott selbst mit ihm redete, so ist er genöthigt dasMachtwort zum voraus zu senden und es in Erfüllung gehen zulassen –: Wache auf, der Du schläfst.«

(Johann Georg Hamann)2

1 DSKE2, 224, JJ:2392 Zitiert nach DKSE1, 33, AA:14.1; vgl. J. G. Hamann, Briefwechsel, herausgegeben vonWalther Ziesemer und Arthur Henkel, Bd. 1, Wiesbaden 1955, 369.

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Inhalt

Grundlegung: Von der Schwierigkeit, das Leiden zu fassen . . 13

Erster Teil»Mein Leben war ein großes Leiden …« –Leiden als Thema der Nachgelassenen Papiere . . . 25

Kapitel 1 Auf der Suche nach Wahrheit –Verwunderung als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . 37

1.1 Prolog: existentielle Wende auf Gilbjerget . . . . . . . . . 381.2 Frühe Auseinandersetzungen – Sehnsucht nach dem

Höheren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451.3 Denken am Abgrund – Leiden und Maieutik . . . . . . . . 51

Kapitel 2 Vom Zweifel zur Verzweiflung –›Kinderstube‹ des Existenzdenkens . . . . . . . . . 62

2.1 Die christliche Erziehung – »Fürchterlich!« . . . . . . . . 642.2 »Stille Verzweiflung« – Reflexionen der Schwermut . . . 692.3 Zur Gnade fliehen – Die Dialektik zwischen Wissen und Tun 742.4 Vom Gott des Vaters zum Gott-Vater – Neue Verhältnisse . 792.5 »in Bewegung gesetzt« – eine erste Zusammenfassung . . 85

Kapitel 3 Verwandeltes Denken – Bewegung der Innerlichkeit 88

3.1 Zu(m) Grunde gehen – Leiden und Erkenntnis . . . . . . 893.2 »Anthropologische Besinnung« – Zu-sich-selber-Kommen . 963.3 Verstehen und Handeln – die zweifache Bewegung der

Innerlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

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Kapitel 4 »… dass mein Leben meine Erziehung war« –Religiöse Selbstdeutung . . . . . . . . . . . . . . . 107

4.1 Was bleibt, ist der Pfahl im Fleisch –Das verwandelte Verständnis der Schwermut . . . . . . . 111

4.2 »dialektisches Schweben« – Das Leiden im Geiste alsAusdruck des Gottesverhältnisses . . . . . . . . . . . . . 122

4.3 »Wie langweilig …« – Zusammenschau und Ausblick I . . 128

Zweiter Teil»Alles Werden ist ein Leiden« –Leiden als Thema der Climacus-Nachschrift . . . . . 131

Kapitel 1 Einführung in die pseudonymen Schriften . . . . . . 132

1.1 Kierkegaards pseudonyme Methode – Johannes Climacus . 1351.2 »Menschlich-Existieren« – Die Unwissenschaftliche

Nachschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1411.3 Leiden als Thema der Nachschrift und ihrer Rezeptionen . 143

Kapitel 2 (Un)wissenschaftliche Vorbemerkungen zumWahrheitsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

2.1 Das objektive Problem – Wahrheit als Approximation . . . 1522.2 Das subjektive Problem – Wahrheit als Verhältnis

(Aneignung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

Kapitel 3 Der subjektive Denker – Doppelreflexion undInnerlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

3.1 Selber-Denken: die Doppelreflexion der Innerlichkeit . . . 1573.2 Aufmerksam werden: Existenzverhältnis als negative

Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1593.3 Das Verhältnis setzen: Übergang, Sprung und Entscheidung 1623.4 Denkend existieren – eine erste Zusammenfassung . . . . 166

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Kapitel 4 Zur Wahrheit verhalten – Paradox und Leidenschaft 168

4.1 Subjektivität als höchste Aufgabe: Das Ethische . . . . . . 1704.2 In Wahrheit existieren: Wahrheit in concreto . . . . . . . 1734.3 Wahrheit und Handeln: Leidenschaft und Paradox . . . . . 1764.4 Subjektivität und Daseinsdialektik –

zweite Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

Kapitel 5 Wirklichkeit als Schwierigkeit –Wahrheit verwirklichen . . . . . . . . . . . . . . . 185

5.1 Ins Dasein gestellt – von der Not des Existierenden . . . . 1865.2 Existieren als »inter-esse« – Bewegung und Ziel . . . . . . 1895.3 Das Handeln der Innerlichkeit – Idealität in Wirklichkeit –

Leiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1955.4 Die Kunst der Gleichzeitigkeit – dritte Zusammenfassung . 199

Kapitel 6 Vom Leiden der Innerlichkeit –Einübung und Verwandlung . . . . . . . . . . . . . 206

6.1 Existentielles Pathos: Umbildung des inneren Menschen . 2106.2 Resignation als anfängliche Ausrichtung –

das Höchste wollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2146.3 Leiden als wesentliche Einübung – das Höchste tun . . . . 219

6.3.1 Leiden als Umkehrung der bisherigen Verhältnisse . 2216.3.2 Leiden als höchstes Handeln der Innerlichkeit . . . . 2266.3.3 Leiden als Einlassen und Zulassen –

vierte Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . 2316.4 Schuld als entscheidender Ausdruck des existentiellen

Pathos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2336.5 Sein Leiden fassen – Haltungen zum leidenden Dasein . . 238

6.5.1 Die unmittelbare Lebensanschauung –Leiden als Unglück, Verzweiflung . . . . . . . . . . 241

6.5.2 Die Lebensanschauung der Innerlichkeit –Leiden als Vertiefung . . . . . . . . . . . . . . . . 245

6.5.3 Religiöse Perspektive – Pfahl im Fleisch –Verborgenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248

6.6 Zusammenschau der Fassungen vom Leiden . . . . . . . . 2596.7 Exkurs: Anti–Climacus, Climacus und die Verzweiflung

am leidenden Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

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Kapitel 7 Die Kunst der Aneignung –Zusammenschau und Ausblick II . . . . . . . . . . 270

Dritter Teil»Die Schule der Leiden« –Leiden in den Erbaulichen Schriften Kierkegaards . 283

Kapitel 1 Erbauung und Herzensbildung . . . . . . . . . . . 283

1.1 Zu den Erbaulichen Schriften und deren Verstehenshorizont 2861.2 »Erbauen« – mit Liebe emporziehen – Herz bilden . . . . 291

Kapitel 2 »Das Evangelium der Leiden« . . . . . . . . . . . . 294

2.1 Alleine gehen! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2962.2 Vom Nachfolgen – oder wie man den Weg geht … . . . . 3002.3 Verwandlung der Lasten – Sanftmut und Schwermut . . . 3042.4 Vom Trösten – Klugheit und Glaube . . . . . . . . . . . . 309

Kapitel 3 »Die Schule der Leiden« . . . . . . . . . . . . . . 313

3.1 Unabhängig werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3163.2 Nach innen kehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3183.3 Gott walten lassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321

Kapitel 4 Sich sein Leiden recht zu Herzen nehmen –Zusammenschau III . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

Die Kunst, sein Leiden zu fassen – Schlussbetrachtung . . . . 335

Siglen-Verzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

Schriften Søren Kierkegaards . . . . . . . . . . . . . . . . . 346

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348

Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

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Inhalt

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Grundlegung:Von der Schwierigkeit, das Leiden zu fassen

»Tantum interest, non qualia,sed qualis quisque patiatur.«Augustinus

Es kommt nicht so sehr darauf an, was wir leiden, sondern wie wirleiden, so hat es Augustinus einmal gesagt. Die Frage, wie wir unserLeiden fassen, ist unlösbar mit der Geschichte der Menschheit und je-der individuellen Lebensgeschichte verbunden. Sie ist Thema der gros-sen Religionen und Geschichtenerzähler, der einfachen und klugen, ar-men und reichen Leute, der Abendnachrichten und Magazine, derArztpraxen und Beichtstühle. Leiden entwickelt und zerstört. Es be-gleitet unsere Geschichte und die Geschichte des einzelnen Menschenvon Anbeginn. Es findet sich als Thema in theologischen, philosophi-schen oder sozialen Debatten, es stellt die Frage nach Gut und Böse undnach deren Sinn. Trotz dieser Vielfalt und Alltäglichkeit seines Erschei-nens bleibt uns Leiden als Phänomen immer auch eigentümlich fremd,es holt uns ein und stößt uns zu, ob wir wollen oder nicht.

Søren Kierkegaard (1813–1855), Vordenker und Infragesteller,poetisierender Philosoph und philosophierender Poet, hat das Themades Leidens nie losgelassen. Sein Leiden zu fassen zu bekommen, darinsieht er Aufgabe und Schicksal des Menschen. Mit ihm überschreibt ersein Leben und an ihm entwickelt er sein Denken. Jener »Rufende inder Wüste«, wie ihn der russische Philosoph Leo Schestow einmal ge-nannt hat,1 erinnert wie wohl kein zweiter daran, was wesentlich Exis-tieren meint, wenn wir unser Existieren verstehend durchdringen undunser Verstehen gleichermaßen existierend ausdrücken wollen. Diese

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1 Leo Schestow, Kierkegaard und die Existenzphilosophie. Die Stimme eines Rufendenin der Wüste, 1949.

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Dialektik von Theorie und Praxis, von Wissen und Handeln ist seineForderung an die Zeit und an sich selbst.

Das Existieren in der abstrakten Betrachtung aufzulösen ist frei-lich eine Möglichkeit, dieser Forderung zu entgehen. Dies ist schondeshalb so verführerisch, weil man damit auch gleich das Leiden derExistenz aus der Gleichung gekürzt hat. Schwieriger ist indes, Leidenals Fragmal des Zeitlichen stehen zu lassen, welches uns immer auchdie Widersprüchlichkeit unserer Wirklichkeit vor Augen hält. Diesergrundlegende Widerspruch kann für Kierkegaard nicht im Abstraktenaufgehoben, sondern nur im eigenen Dasein vermittelt werden. SeinLeiden bis zum Grunde durchzuarbeiten und mit dem eigenen Daseinzu versöhnen, es gleichsam zum Ausgangspunkt seiner Denkentwick-lung zu bekommen, das ist die große Kunst des Dänen und sein Ver-mächtnis an die Nachwelt.2

Vorliegende Untersuchung hat zum Ziel, das Thema der Leidenals Thema der Daseinsdialektik im Werk Kierkegaards nachzuzeich-nen. Damit ist schon eine erste Grenzziehung vorgenommen. Die Fra-ge nach dem Leiden als Existenzbewegung ist verschieden von der Fra-ge nach dem Leid als solchem. Zu leiden ist immer schon Selbstvollzugund soll aus dieser Perspektive her in den Blick kommen. Diese Per-spektivsetzung hat zwei Gründe: Zum einen kommt dem Leiden alszentralem Bewegungsmoment im Denken Kierkegaards bisher nurein halbherziger Blick zu. Meist wurde es umgehend mit dem krän-kelnden und leidenden Autor selbst assoziiert oder aber als eine Artreligiös-christliche (Über)forderung gedeutet. Dabei trat die großeLeistung des Dänen in den Hintergrund, das Thema philosophisch,theologisch und psychologisch in eine Tiefe hinein zu explorieren, dienur selten erreicht wird. Ihm ist gelungen, den Begriff vom Leiden inseiner ganzen Spannweite aufscheinen zu lassen: zum einen in den

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2 Kierkegaards Einfluss auf nachfolgende Literaten, Theologen, Philosophen und Psy-chologen ist immens. Eine umfassende Nennung würde hier den Rahmen sprengen.Vgl. für einen Überblick die Aufsätze in Bibliotheca Kierkegaardiana 8, v. a. Wolfdie-trich von Kloedens Aufsatz »Einfluß und Bedeutung im deutsch-sprachigen Denken«,1981. Hans Joachim Störig schreibt in seiner Kleinen Weltgeschichte der Philosophie,1996, 529 treffend über Kierkegaard: »Man kann von ihm sagen, daß kein Mensch, dervon seinem Gedanken einmal angerührt wurde, aus diesem Abenteuer unverändertherauskommt; allgemeiner gesprochen, daß die Welt nach Kierkegaard unwiderruflichanders aussieht als vor ihm. Dies kann nur von ganz wenigen Großen wie Sokrates oderKant zu Recht gesagt werden.«

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vielfältigen Ausdrucksweisen verzweifelter Existenz, wie es seinePseudonyme in ihren unzähligen Charakterstudien durchgespielt ha-ben,3 zum anderen als Ausdruck der sich wesentlich werdenden Exis-tenz in seiner Bedeutung für die Aneignung von Wahrheit, Tugendund Sinnzusammenhängen.4 Mit seinen Betrachtungen hat Kierke-gaard nicht zuletzt die Grundlage für den jasperschen Begriff derGrenzsituation gelegt, an welcher sich menschliches Existieren immerwieder neu entscheidet. Leidend kann sich der Mensch verzweifelt ver-lieren aber auch verstehend hell werden. Das Verständnis vom Leidenals Grenzsituation hält uns auch die dialektische Spannung der kierke-gaardschen Leidens-Konzeption gegenwärtig, welche sich zwischenVerzweiflung und Verwandlung auftut.

Der zweite Grund der vorgestellten Fragerichtung hat ein lebens-praktisches Interesse und zielt auf den Leidenden selbst. In der thera-peutischen und seelsorgerlichen Praxis haben wir täglich mit unvor-stellbarem Leiden zu tun, mit menschlichen Schicksalen, die unfassbarscheinen. Hier kann die Frage, wie ein Mensch sein Leiden fassen bzw.ob ihm dazu verholfen werden kann, über Leben und Tod entscheiden.Sein Leiden verstehend zu durchdringen hat darum gleichermaßenphilosophische und therapeutische Relevanz. Erst wenn ein Menschselbst die Auseinandersetzung mit der leidenden Existenz nicht scheut,kann er auch dem Anderen in seinem Leiden hilfreich zur Seite stehen.Freilich spielt hier auch das Grundmotiv der christlichen Überlieferunghinein, nämlich dass der Gott selbst das Tal der Leiden durchwandert,nicht, um es aus der Welt zu nehmen, wohl aber, um den Weg des Lei-denden tröstend mitzugehen. In dieser doppelten Spannung steht auchunsere Fragestellung: zwischen dem leidenschaftlichen Interesse, dem

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3 Gerd Haeffner 1996, 31 charakterisiert in seinem Buch In der Gegenwart leben diesebesonderen Formen der Kierkegaard-Schriften als »literarisch inszenierte Innerlich-keitsdramen«. Kierkegaard selbst sieht den Sinn seiner pseudonymen Methode v. a. da-rin, den Autor hinter seinen Pseudonymen zurücktreten zu lassen, um aus einer Distanzder »Doppelreflexion« heraus die Vielfalt der Existenzmöglichkeiten durchzuspielen,deren Beurteilung oder Aufnahme allein dem Leser obliegt. Eine Vertiefung in Kierke-gaards pseudonyme Methode folgt im zweiten Teil, wenn sein Pseudonym JohannesClimacus vorgestellt wird. Einführend vgl. auch die Beiträge in Spletts Sammelband»Entweder oder« herausgefordert durch Kierkegaard, 1988, bzw. Hermann Deuser undNiels J. Cappelørns Artikel »Perspectives in Kierkegaard Research«, 1996.4 Dieser Zusammenhang findet sich u.a. in Robert C. Roberts Essay: »Existence, Emo-tion, and Virtue. Classical Themes in Kierkegaard«, 2002 behandelt.

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Leidenden aufzuhelfen und der Erkenntnis, dass Leiden wesentlich mitzum gelingenden Leben gehört.

Leiden als Wahrheitsfrage –Kierkegaards Umkehrung der Perspektive

Die Frage nach dem Leiden tangiert immer auch die Frage nach Gutund Böse. Interessanterweise wird Leiden gemeinhin mit dem Übel as-soziiert, also dem Bösen zugeschrieben, wie auch Jörg Splett in seinemNachdenken über den Begriff feststellt.5 Wir sprechen vom Leiden undmeinen eigentlich das Leid, etwas also, das einem Menschen von außenzustößt und seine Existenz nur zufällig berührt. Kierkegaards Beitragbesteht nun gerade darin, diesen Focus vom faktischen oder zufälligenLeid als dem Übel auf die innere Welt der Leiden zu richten. Hier, in derWendung nach innen, scheint auch jenes wesentliche Leiden auf, dasselbst in die Bewegung zum Guten hin eingeschrieben ist. Denn in derFrage nach dem guten Leben gebiert sich auch die Frage nach dem Lei-den neu. Strebt ein Mensch nämlich wahrhaft und von Herzen nachdem Guten, so heißt dies für ihn ja auch, das Gute leiden und alles fürdas Gute leiden zu wollen6 – ja selbst dessen Infragestellung zu durch-leiden. Hier, in der Bewegung zum Herzen, zur Mitte des Menschen,7

verändert sich auch sein Begriff vom Leiden, er verinnerlicht ihn. FürKierkegaard, den »Durchdenker des Christentums«, wie ihn der jüdi-sche Gelehrte Martin Buber einmal genannt hat,8 sind darum die Ver-suche, von Gott abzusehen, weil zu viel Leiden ist, oder von Gott zureden, aber vom Leiden abzusehen, nicht besonders vernünftig zu nen-nen. Vielmehr liegt das Geheimnis der Leiden ja gerade in der Zusam-mensetzung von Endlichem und Unendlichem verborgen.

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5 Vgl. Jörg Spletts Gotteserfahrung im Denken, 2005, 175ff.6 So entfaltet es Kierkegaard in seinen Erbaulichen Reden in verschiedenem Geist, 84.Wir werden diese im dritten Teil der Untersuchung vertiefen.7 Jörg Splett spricht in seinem Nachdenken über Gott und Mensch immer auch vomHerzen als Symbol für die Mitte des Menschen, seinem tiefsten Wesen oder dem »Or-gan der Wahrheitserkenntnis« und knüpft hier an eine reiche Tradition an von Christusüber Augustin bis Pascal. Vgl. dazu die Beiträge in der Dialogischen Festschrift für JörgSplett, 2001, v. a. Hubert Lenz’ Artikel »Zur Antwort berufen«, 107f. Auch Kierkegaardhatte sich schon dieser Sprache vom Herzen angenommen, etwa wenn er im Erbauli-chen von »Herzensbildung« redet (vgl. Teil III).8 Martin Buber, Das dialogische Prinzip, 1973, 199.

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Wie bekommt der Mensch nun aber das Gute in sein Herz? Hierstoßen wir auf Kierkegaards zentrales Konzept der Aneignung, jenerinnerlichen Bewegung, durch welche das Gewusste erst im eigenenExistenzvollzug wirksam werden kann. Dieses innere Handeln findenwir von Kierkegaards Pseudonym Climacus dann selbst noch einmalals ein »Leiden« entfaltet (vgl. Teil II). Ein solches Leiden der Inner-lichkeit ist aber gänzlich verschieden von diesem oder jenem Leid, daseinem Menschen auf dem Weg durch die Zeit zustößt. Es ist vielmehrAusdruck seiner höchsten Leidenschaft, durch welche er sich zur Wahr-heit zu verhalten sucht und dadurch selbst wesentlich umgeschafftwird.

Um solcherart ›schaffendes Leiden‹ nachzuvollziehen, müssen wiraber zunächst die Dialektik der Verinnerlichung nachvollziehen, mitwelcher uns der Verfasser von einem rein äußerlichen Leidensver-ständnis zum Leiden der Innerlichkeit hindurch mit nimmt. Hier, inder inneren Vertiefung, vertiefen sich dem Menschen auch die Begriffeund hier kann ein Mensch das Höchste lernen, was ein Mensch lernenkann (vgl. Teil III). In dieser Tiefe treffen sich darum auch beide Fra-gestellungen: die Frage nach der Wahrheit der Leiden und die Fragenach der Wahrheit selbst. »Denn zweifeln und fragen kann man nurdort, wo es um Wahrheit geht«, so formuliert es etwa Josef Schmidtin seiner Abhandlung zur »Frage nach dem Guten«.9 Diese Frage lässtsich für den Existierenden darum auch nicht befriedigend, gar ein fürallemal, im Allgemeinen beantworten. Das ewig Unergründlichescheint ihm ja erst durch die Aneignung im eigenen Lebensvollzugwahrhaft als Antwort auf. Und indem er weitergeht, kann er diese Ant-wort jeden Augenblick wieder verlieren. Im Verhältnis zum Existieren-den wird die »Antwort« darum selbst zum Existenzvollzug, sie ist,ganz im buberschen Sinne, eingeschrieben in die Beziehung zwischenEwigem und Endlichen. Kierkegaard löst die Frage nach der Wahrheitder Leiden darum keineswegs im Subjektiven auf. Vielmehr übergreiftdie aneignende Bewegung das bloß Subjektive wie Objektive gleicher-maßen, indem sie Erkenntnisgegenstand und Erkennenden zusam-mensetzt. Erst so kann auch der unbedingte Anspruch unbedingterWahrheit ernst genommen werden.10 In diesem Sinne finden wir dieProzesse von Leiden und Erkennen in Werk Kierkegaards wesentlich

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9 Vgl. Schmidts Aufsatz »Der Mensch als religiöses Wesen«, 1997, 287.10 Ringleben 1983, 310 schreibt dazu: Die »Pointe« ist, dass die subjektive Aneignung

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miteinander verschränkt:11 In der Erfahrung von Leid und Leiden stelltsich dem Menschen das Leben selbst zur Frage und erlaubt ihm nichtlänger, in das Allgemeine oder Abstrakte auszuweichen. Hier, auf sichselbst zurückgeworfen, muss er sich der Frage des Daseins auf neueWeise annehmen, indem er sie sich zu Herzen nimmt.

Wohl auch darum lässt sich Kierkegaard in seiner Betrachtung derLeidensproblematik nicht auf spekulative Lösungsversuche ein. Dennselbst wenn es uns gelänge, die Theodizeefrage im Abstrakten zu klä-ren, könnte dies dem konkret Leidenden kaum Hilfe sein.12 Kierke-gaard stellt ihm darum Hiob selbst zum Lehrer. Von Hiobs Ringenmit dem Leiden können wir lernen, dass allgemeine Wahrheiten odergutgemeinte Ratschläge hier nicht weiterhelfen. Vielmehr geht es da-rum, den um Wahrheit und Sinn Ringenden ermutigend zur Seite zustehen, bis sich ihm die Wahrheit selbst erschließt. Denn seine klagen-de Frage ist ja immer schon Anfrage an den Gott selbst, ob dieser istund ob er gut ist, und ob das Leben noch einen Sinn macht. Der Fragerist also an den Gott selbst verwiesen, um Antwort zu finden. Jede vor-schnelle Antwort eines übereifrigen Helfers wäre hier nur »liebens-wurdige Dummheit«, die vermeinte, der Gott hätte seine Hilfe nötig.13

Möglicherweise war es darum auch die »Nicht-Antwort«, die die Hörerdes viel beachteten Vortrags des Theologen Karl Rahner am meistenberührt hat. Rahner hatte zur Frage referiert: »Warum läßt uns Gottleiden?«, und war zur Schlussfolgerung gekommen, dass wir die letzte»Unbegreiflichkeit« der Leiden nur dadurch annehmen und bewältigenkönnen, wenn wir »die Unbegreiflichkeit Gottes selbst annehmen.«14

Kierkegaards Religionsphilosophie, die wesentlich eine Entfaltungdieses paradoxen Verhältnisses zum Ewigen ist, zeigt sich darum auchin einem konsequenten Methodenbewusstsein. Soll die Wahrheit imMenschen selbst ans Licht kommen, so helfen ja keine systematischen

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»mehr Wahrheit hat als das bloß ›objektive‹«, eben »weil erst so die Wirklichkeit Gottesangemessen erfasst wird.« (Vgl. Teil II)11 Emil Angehrn hat sich recht ausführlich mit diesem Zusammenhang in seinem Auf-satz »Leiden und Erkenntnis«, 2003 beschäftigt.12 Vgl. auch Schmidts Exkurs zur Theodizeefrage, wie sie sich bei der Beschäftigung mitder Wahrheit des Guten stellt, 1997, 298f.13 AUN1, 69.14 Karl Rahner, Sämtliche Werke, Bd. 31, 273. Der Eindruck vom Vortrag stammt vomdem Journalisten Otto Friedrich, nachzulesen im Nachwort von Andreas R. Batlogg undAlbert Raffelt zur Neuauflage des Vortrags von Karl Rahner, Warum läßt uns Gottleiden?, 2010, 74.

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Übersichten. Hier verlässt sich Kierkegaard ganz auf die sokratischeMaieutik. Dieser im besten Sinne geistigen Geburtshelferkunst liegtzum einen sein unerschütterliches Vertrauen in die Einsichtsfähigkeitdes Menschen15 zugrunde, zum anderen seine im eigenen Daseinsvoll-zug gewonnene Erkenntnis, dass sich ein Mensch erst im Durchleidender Frage auch in deren Antwort hinein findet (vgl. Teil I). Erst hiervermag sich dem Menschen auch das Geheimnis der Leiden zu er-schließen: Sein Leiden ergründend sinkt er hin zum Grunde, der ihnbegründet, »weil Gott in dem Grunde ist«.16

Die Frage, wie wir unser Leiden fassen können, berührt daher im-mer schon die Grundfragen menschlichen Lebens, und indem sie nachHoffnung und Sinn sucht, übergreift sie das unmittelbar Gegebene aufdas Unbedingte hin. Nur durch diesen »tätigen, innen-wirkendenSchmerz«, so schreibt es Rainer Maria Rilke in seinem berühmtenBrief an die Gräfin Sizzo, vermag ein Mensch auch zum Sinn vor-zudringen, welcher ihm würdig ist.17

Leiden als Thema der Daseinsdialektik –Entfaltung der Fragestellung

Die Schwierigkeit, das Leiden zu fassen, zeigt sich schon an der Kon-fusion der Begriffe von »Leid« und »Leiden« im alltäglichen Sprach-gebrauch. Das dänische »Lidelse« (Leiden) hebt sich aber schon da-durch vom bloßen Leid [dän.: Lede] ab, indem es sich vom Verb »lide«(leiden, mhd: in die Fremde ziehen, Not durchstehen) her bestimmt. Indieser Bestimmung zielt es auf ein subjektives Erleben und beschreibteinen psychologischen Prozess im Menschen selbst. Während wir mit»Leid« (mdh: Leit, Beleidigung, Unrecht) zuallererst einen objektivenUmstand meinen, etwas also, was einem Menschen unvermittelt zu-stoßen oder angetan werden kann, ist »Leiden« als Tätigkeit verstan-den immer schon durch das Verhältnis zum Existierenden selbst ver-mittelt.18

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15 Dies charakterisiert, so Schmidt 1997, 290 gerade den Menschen, der ernsthaft nachWahrheit strebt, dass er auch den Anderen als ein zur Wahrheitserkenntnis fähigesSubjekt anerkennt.16 AUN2, 271–272.17 Rainer Maria Rilke, Die Briefe an die Gräfin Sizzo, Wiesbaden 1977, 50 f.18 Kierkegaard benutzt meist das dänische Wort »Lidelse«, welches auf das Verb »lide«

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Der Titel der vorliegenden Untersuchung Das Leiden fassen zeigtan, dass es uns gerade um diese Verhältnisbestimmung gehen soll, zumeinen darum, wie ein Mensch sein Leiden fassen kann, und zum ande-ren, wie er sich selbst in seinem Leiden erfasst. An dieser Schwierigkeitlässt sich auch das Anliegen der Existenzdialektik Kierkegaards umrei-ßen: Sie ist immer schon Einspruch gegen pure Spekulation, durch wel-che man zwar einiges zu wissen bekommt, nicht aber, wie man selbst inein Verhältnis zu diesem Wissen kommt. Die Existenzkategorien, dieKierkegaard hier den idealistischen Grundbegriffen entgegenstellt,19

sind darum immer schon offen auf Wirklichkeit, d. h., ihr Inhalt er-schließt sich erst aus ihrer Beziehung zum Existierenden. Im Bezugauf Existenzbegriffe verrät es darum »einen sichern Takt …, sich derDefinitionen zu enthalten«, bemerkt auch Kierkegaards pseudonymerAutor Haufniensis im Begriff Angst.20 Die Erschließung solcher Exis-tenzbegriffe ist daher eingebunden in das Verständnis der Innerlichkeitselbst, mit welcher Kierkegaard das Verhältnis umschreibt, in welchemein Mensch zu sich selbst sowie seinen endlichen und unendlichen Be-zügen zu stehen kommt. Dies hält uns vor Augen, dass KierkegaardsBegriffe beweglich bleiben müssen, weil sie in die Dialektik des Daseinsselbst eingezeichnet sind und von dorther erst ihre Bestimmung undBedeutung erfahren.21 Dementsprechend finden wir die zentralen Ka-tegorien bei Kierkegaard immer schon als Ausdrucksweisen individu-eller Existenz beschrieben, gewisserweise als Phänomene »nach Art desSich-Verhaltens«, wie es Arne Grøn in seiner Untersuchung zur Kier-kegaard’schen Phänomenologie treffend ausgedrückt hat.22 Fragt man

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Grundlegung: Von der Schwierigkeit, das Leiden zu fassen

zurückgeht. Dieses ist ähnlich dem Deutschen verstanden als vorwärtsschreiten, dahin-gehen aber auch gerne haben, leiden, mögen. Für eine etymologische Betrachtung ver-weise ich hier an die sprachwissenschaftliche Untersuchung von Christa Kühnhold, DerBegriff des Sprungs, 1975, 114f. Kühnhold weist darauf hin, dass im Dänischen Lidelse(leiden) nichts mit dem Word Lede (Leid) zu tun hat, welches vom Adjektiv »widerwär-tig, hässlich, abscheulich« abgeleitet ist.19 Vgl. Heinrich Anz’ Aufsatz »Selbstbewusstsein und Selbst. Zur IdealismuskritikKierkegaards«, 1980, 53.20 BA, 152. Und Haufniensis schreibt hier weiter: »Wer im täglichen und doch feierli-chen Umgang mit der Vorstellung lebt, daß ein Gott ist, könnte schwerlich wünschen,sich dies selbst zu verderben, oder sich verdorben zu sehen dadurch, daß er selbst eineDefinition zusammenflickte dessen, was Gott ist.« (BA, 153)21 Kierkegaard hat hier nicht zuletzt die Grundlage für eine phänomenologische An-thropologie gelegt (vgl. Martin Buber 2000, 88f.).22 Arne Grøn, »Kierkegaards Phänomenologie?« 1996, 93.

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in diesem Sinne nach dem Leiden, so fragt man im Grunde nach derArt des Sich-Verhaltens zum leidenden Dasein.

In diesem Verständnis von Wirklichkeit liegt nun auch Kierke-gaards Hauptkritik an der Hegel’schen Auffassung begründet, welchemeint, »daß das Äußere das Innere und das Innere das Äußere sei«. Mitdiesem »ästhetisch-metaphysischen Prinzip« sei Hegel dann auch»glücklich fertig geworden« (AUN1, 293). Für den konkreten Men-schen, so der Einwand, ist das Äußere aber nur in den seltensten Fällenauch das Innere. Vielmehr ist ja gerade sein Verhältnis das Entschei-dende, also wie er sich innerlich zum Äußeren stellt. In diesem Sinnekann nur der Existierende selbst die Vermittlung zuwege bringen undjenen Graben überwinden, der sich zwischen Innen und Außen, Wahr-heit und Wirklichkeit auftut. Kierkegaards Begriff der Daseinsdialektikist folglich als eine tätige Bewegung zu fassen, die sich in zweifacherWeise zeigt: zum einen als das Zusammenhalten der Existenzwider-sprüche durch den Existierenden selbst; zum anderen als jene Bewe-gung vom Äußeren zum Inneren, durch welche die Prozesse von Ver-innerlichen, Vertiefen und Verwandeln ihr Leben haben.23

An dieser Dialektik der Verinnerlichung orientiert sich nun auchvorliegende Untersuchung. Das Thema der Leiden wird dabei vor allemunter drei Hinsichten entfaltet: Zum einen in seiner allgemeinen undgrundlegenden Form, als Krisis der eigenen Erfahrungswelt, welchedem Menschen Anstoß der Innerlichkeit (im Sinne bewusster Verhält-nissetzung) sein kann. Durch diese Beziehungssetzung scheint zwei-tens das verinnerlichte Leiden auf, derart, dass der Existierende hiersein Leiden innerlich auf sich nimmt und aneignet. Erst hier, in der sichbewusst werdenden Selbstbewegung, nimmt nun drittens das Leidender Innerlichkeit seinen Ausgang. Ein solches innerliches Leiden darfaber keinesfalls mit einem äußerlichen Verständnis vom Leiden ver-wechselt werden. Vielmehr gehört es zur Welt der Innerlichkeit undist maßgeblich in das Verhältnis zum Absoluten eingeschrieben. Es istjene leidenschaftliche Einübung des höchsten Verhältnisses im Existie-renden selbst – jene existentielle Schwierigkeit, die sich dem endlichenGeist erst auftut, wenn er sich zu seinen endlichen und unendlichen

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Grundlegung: Von der Schwierigkeit, das Leiden zu fassen

23 Vgl. Michael Theunissens kurzen Überblick zu Kierkegaards Dialektik im Vergleichzu Hegel in seiner Einführung »Kierkegaards philosophisches Profil«, 1996, 11 f. Füreine ausführlichere Einführung sei hier die gut verständliche Arbeit von HermannDiem zur Existenzdialektik von Sören Kierkegaard, 1950 empfohlen.

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Bezügen zu verhalten sucht. Wir wollen im Gang der Untersuchungdiese dialektische Bewegung der Verinnerlichung nachzeichnen undzu klären versuchen, wie sich das Verständnis vom Leiden an ihr ent-faltet.

Mit der Rückwendung zum Daseins-Verhältnis erinnert Kierke-gaard nicht zuletzt an eine ›vergessene Welt‹, jene der Innerlichkeit.Diese ist keineswegs mit gefühliger Überspanntheit oder sonstigen ro-mantischen Vorstellungen zu verwechseln, sondern wird von Kierke-gaard als eine Doppelreflexion beschrieben, durch welche der Denkergleichzeitig auf das Allgemeine und auf sich selbst im Verhältnis zumAllgemeinen reflektiert. Während die Frage nach dem »Warum« derLeiden immer auch in Gefahr steht, dem Menschen das Problem derLeiden nach außen zu verlegen, kehrt Kierkegaard den Blick der Be-trachtung radikal nach innen: Denn ein Mensch kann ja auch leiden,ohne dass es dazu besonderer Übel bedürfte: Er kann etwa sein Selbstin Angst verschließen oder ganz aufgeben, er kann sich verzweifelt zugewinnen suchen und dabei doch verfehlen. Hier hat Kierkegaard nichtzuletzt die Grundlagen einer modernen Psychopathologie vom Selbstgelegt und vor Augen geführt, dass es nicht nur äußere Umstände sind,die dem gelingenden Selbstvollzug entgegenstehen, sondern dass sichder Mensch dabei selbst oft genug im Wege steht. Sein Selbstverhältniszuwege zu bringen ist darum eine schwere und beschwerliche Aufgabeund Menschen können gerade hier, in ihrem Verhältnis zum Selbst undseinen grundgelegten Bezügen, in tiefe Not geraten. Wir wollen darumdie Frage, wie ein Mensch sein Leiden zu fassen bekommt immer auchim Zusammenhang zur Frage betrachten, wie er sich selbst in seinemDasein erfasst.

Die drei Teile der Untersuchung: Leben, Denken, Glauben

Kierkegaards Werk ist vielschichtig und vielschichtig aufeinander be-zogen. Das Thema vom Leiden und seiner innewohnenden Dialektikfindet sich in allen Schriftgruppen aufgenommen und vielfältig vari-iert; angefangen von den nachgelassenen Papieren über die pseudony-men Werke bis hin zu den erbaulichen Schriften.24 Vorliegende Arbeit

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Grundlegung: Von der Schwierigkeit, das Leiden zu fassen

24 Es mag darum verwundern, dass es bisher kaum eigenständige Untersuchungen zudiesem Thema gibt. Die Dissertationen von Dalrymple 2010 bzw. Suhr 1983 stellen wir

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hat sich zum Ziel gesetzt, diesen inneren Zusammenhang im Kierke-gaardwerk nachzuzeichnen. Dazu soll jeweils eine Schrift aus den dreiSchriftgruppen genauer untersucht werden, womit gleichzeitig dieDreiteilung dieser Untersuchung grundgelegt ist.25 Ich gebe hier nureinen kurzen Überblick, eine ausführliche Einführung folgt dann imjeweiligen Teil selbst:

Wir beginnen im ersten Teil mit Kierkegaards nachgelassenen Pa-pieren. Zum einen beinhalten diese mehr oder minder privaten Auf-zeichnungen des Dänen jene ersten Niederschriften, mit denen der Au-tor seine Reflexionen zum Thema beginnt. Zum anderen hatKierkegaard sein schriftstellerisches Wirken wie kaum ein Anderer inseinen eigenen Lebenshorizont eingezeichnet. Wir wollen seine nach-gelassenen Schriften hier als »dritte Mitteilungsform«26 lesen, welchegleichberechtigt neben den pseudonymen und erbaulichen Schriftensteht. Das Problem der Leiden scheint dabei zunächst als Thema dereigenen Lebenserfahrung des Autors auf, verdichtet sich alsbald zumThema von Aneignung und Erkenntnis und findet seine Bestimmungals Vertiefung der eigenen Identität gleichwie als Ausgangspunkt sei-nes Philosophierens. Hier finden wir auch die zentralen Begriffe derExistenzdialektik vorgedacht, die uns durch die folgenden Teile be-gleiten.

Der zweite Teil behandelt die pseudonymen Schriften Kierke-gaards und stützt sich hauptsächlich auf eine umfangreiche religions-philosophische Abhandlung mit dem markanten Titel: AbschließendeUnwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken.Kierkegaard hat diese Schrift, welche er seinem Pseudonym JohannesClimacus in den Mund legt, auch als sein Hauptwerk bezeichnet. Indiesem geht Climacus der Frage nach, wie ein Mensch in Wahrheitexistieren kann. An dieser Frage entfaltet er – in steter Abhebungzum spekulativen Zeitgeist – die anthropologischen und metaphysi-

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Grundlegung: Von der Schwierigkeit, das Leiden zu fassen

im zweiten Teil vor. Auf andere thematische Untersuchungen wird an entsprechenderStelle verwiesen.25 Die beste Übersicht über die Struktur und Absicht seines »polyphonen« Werkes gibtKierkegaard selbst, und zwar in seinem Zwischenbericht in der Abschließenden unwis-senschaftlichen Nachschrift (AUN1, 245ff.)26 Der Vorschlag, den Nachlass Kierkegaards als »dritte Mitteilungsform« zu behan-deln, entstammt Hermann Deusers Untersuchung Sören Kierkegaard. Die paradoxeDialektik des politischen Christen, 1974, 79–82. Auf diese dreigliedrige Ausdrucksformist in der Kierkegaard-Forschung jedoch bisher kaum eingegangen worden.

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schen Grundlagen seiner Existenzdialektik. Hier lässt sich auch die Ein-bindung der Leidensthematik eindrücklich nachzeichnen. »Leiden«kommt vor allem als Übergangs- und Werdemoment in den Blick, so-wie als Thema des »existentiellen Pathos«, welches das höchste Han-deln der Innerlichkeit beschreibt, wodurch sich ein Mensch zur Wahr-heit zu verhalten sucht.

Im dritten Teil lesen wir das »Evangelium der Leiden«, einen dererbaulich-christlichen Texte Kierkegaards. In diesen Reden wendet sichder erbauliche Autor an den Leidenden selbst und sucht seine Fragennach Trost und Heilung mitzugehen. Im Bild von der »Schule der Lei-den« entfaltet Kierkegaard das Gottesverhältnis als ein Lernverhältnis,durch welches der Leidende sein Leiden zu transzendieren lernt, unddabei auf jene Wahrheit aufmerksam wird, die das ›Herz bildet‹.

Die dreigliedrige Struktur der Untersuchung hat zwei Gründe:Zum einen soll versucht werden, die Bewegung der Verinnerlichungin die Denkentwicklung des Verfassers selbst einzuzeichnen. Zum an-deren zeigt sich in der trichotomischen Struktur das philosophischeVerständnis des Denkers selbst: Es steht im lebendigen Austausch mitder eigenen Wirklichkeit auf der einen Seite und seinen Sinnzusam-menhängen und geistigen Bezügen auf der anderen Seite. Dies dürftevor allem Kierkegaards Verständnis der Aneignung geschuldet sein,welche Leben, Denken und Glauben in besonderer Weise umgreiftund durchwirkt. Dieser Anspruch an eine tragende philosophische Le-benspraxis war dem Verfasser selbst so unabweislich, dass sein Konzeptder Aneignung nicht nur den Inhalt, sondern auch die Form seinesWerkes maßgeblich geprägt hat. Nicht zuletzt bringen den Denker bei-de Bewegungen, die Durchdringung des Themas im eigenen Lebengleichwie im eigenen Denken, zur Wirklichkeit des Leidenden zurück,an welchen sich seine zahlreichen erbaulichen und aufbauenden Mit-teilungen richten. Hier findet sich ›der Andere‹ im Werk Kierkegaardsauf ganz konkrete Weise: Es ist der Leser selbst, mit dem der Autor bisheute in einen lebendigen Dialog tritt.

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Erster Teil»Mein Leben war ein grosses Leiden …« –Leiden als Thema der nachgelassenen Papiere

»Ja, wofern mein Leiden, meine Schwachheit nicht die Bedingung wäre fürmeine ganze geistige Wirksamkeit: ja dann würde ich natürlich noch einenVersuch machen, die Sache ganz einfach medizinisch anzufassen. Es hat jakeinen Sinn, zu leiden, wie ich leide und dann gar nichts zu tun, wenn dasLeben, welches man führt, doch gleichwohl gar keine Bedeutung hat. Aberhier kommt das Geheimnis, die Bedeutung meines Lebens entspricht gerademeinem Leiden.« (T4, 8; Pap. X2 A 92)

»Das ganze Leiden mit der späteren Reflexionsarbeit ist eigentlich meineeigene Entwicklung geworden.« (GWS, 72)

In diesem ersten Teil der Untersuchung wollen wir ein Verständnis da-für entwickeln, wie dem jungen Denker das Thema der Leiden als Um-stand der eigenen Lebenswelt begegnet, wie er es zu verstehen suchtund schlussendlich zum Ausgangspunkt seiner Denkbewegung be-kommt. Dabei wollen wir von seinen nachgelassenen Aufzeichnungenher den Anfang nehmen. Diese sollen als eigenständige Schriftgruppe1

gelesen werden, gewissermaßen als »innere« Philosophie parallel zur»äußeren«. Unsere Fragerichtung hat ein philosophisches Interesse: Eswill zum einen die Denkentwicklung hinsichtlich des aufgespanntenThemas entfalten. Dieses durch die eigene Erfahrung getragene Den-ken soll dann vor allem im zweiten Kapitel sowie im zweiten Teil dieserArbeit in Dialog gebracht werden mit dem philosophischen Denken desSchriftstellers. Gerade diese Doppelung des Gedankens, jene »doppelteDialektik«, macht für Kierkegaard lebendiges Denken aus, eines, wel-ches in der Tiefe verbunden ist mit dem Leben und Dasein des Denkersselbst. Dadurch stehen Leben und Werk im lebendigen Austausch undwirken aufeinander zurück.

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1 Vgl. Deuser 1974, wie bereits in der Grundlegung ausgeführt.

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In den oben angeführten Zitaten deutet der Verfasser selbst denZusammenhang seines Lebens und Leidens an. Die Reflexion des Lei-densthemas ist also nicht randständig für sein Lebensprojekt, sonderneng verwoben mit seinem Wirken als Schriftsteller, wie er es selbst inseinem Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller fest-gehalten hat (s. o.). Umso mehr mag verwundern, dass dieser Zusam-menhang in der Forschungsliteratur bisher kaum Beachtung gefundenhat. Zwar scheint das Thema des ›leidenden Kierkegaard‹ allgegenwär-tig, doch ist man hier kaum über biographisch-pathologisierende Ana-lysen hinausgekommen. Solche Analysen dissoziieren aber eher Lebenund Wirken, als beide in ihrer thematischen Verbindung zueinander zuführen. Diese bisherige Zurückhaltung hinsichtlich thematischerNachlass-Studien mag auch daran liegen, dass der Leser hier vor einemweit schwierigeren Zugang steht als etwa bei den einzelnen philosophi-schen Schriften. Die nachgelassenen Aufzeichnungen sind in sichselbst so vielschichtig und gehen weit über bloß Privates hinaus, so dassdie Frage nach einem angemessenen Untersuchungszugang bereitseine unüberwindbare Hürde darstellen kann.2

Zum Umgang mit dem Nachlass

»… bei nachgelassenen Papieren fühlt man sich aufgrund des Abgebroche-nen, Desulotorischen ständig dazu gedrängt, die Persönlichkeit mitzudichten.Nachgelassene Papiere sind wie eine Ruine, und welche Bleibe wäre für Be-grabene wohl natürlicher?3

Schauen wir zunächst auf die Schriftgruppe des Nachlasses selbst: Da-zu zählen zum einen die Journale und Aufzeichnungen sowie BriefeKierkegaards, zum anderen die Schriften über sich selbst, welche inder deutschen Edition jene Schriften zusammen fassen, die Kierke-gaard ursprünglich als eine öffentliche Erklärung über sich und seinWirken konzipiert hatte. Hier werden wir uns vornehmlich auf dieSchrift Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller

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2 Thematische Zugänge zu den Journalen finden sich etwa in den Aufsätzen im Kierke-gaard Studies Yearbook 2003.3 Vgl. SKS 2, 151. Wir folgen hier der Übersetzung Purkarthofers 2003, 316. Dieserüberschreibt seinen Übersichtsartikel zum Nachlass mit diesem Zitat des Schreibers»A« aus Entweder-Oder.

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konzentrieren. Kierkegaard hat es sich mit dieser Schrift nicht leichtgemacht und in immer neuen Anläufen versucht, eine öffentlicheSelbsterklärung zuwege zu bringen. Letztlich ist zu Lebzeiten nur einkleiner Auszug davon als Die Rechenschaft (1951) erschienen. Der Ge-sichtspunkt selbst, der in mehreren variierten Versuchen vorlag, kamerst vier Jahre nach dem Tode Kierkegaards zur Veröffentlichung.4 DasBesondere an dieser Schrift ist, dass der Verfasser hier selbst eine eige-ne Deutung über sein Leben und Wirken vorlegt, wobei er die Bedeu-tung der Leidensthematik in diesen Zusammenhang einschreibt. Wirkommen also nicht umhin, von dieser gegenseitigen Bezogenheit herden Ausgang zu nehmen. Dementsprechend soll uns der Gesichtspunktauch als Referenzpunkt für die Auseinandersetzungen mit dem Nach-lass dienen.

Die Journale und Aufzeichnungen stellen eine weit umfangrei-chere Schriftgruppe dar. Sie enthalten jene Notizbücher, Aufzeichnun-gen, Briefe und Loseblattsammlungen, in welche Kierkegaard schonvon jungen Jahren an seine Gedanken, Reflexionen und Erfahrungenniederschrieb. Die erste Edition der dänischen Papirer liegt in 22 Bän-den vor und gibt eine ungefähre Vorstellung von der unermüdlichenReflexionsarbeit des Verfassers. Kierkegaards nachgelassenen Auf-zeichnungen sind also weit umfangreicher, als es etwa die gängigedeutsche Auswahlübersetzung der »Tagebücher« suggeriert.5 »Alle

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I Leiden als Thema der nachgelassenen Papiere

4 Vgl. dazu die »Geschichtliche Einleitung« des Übersetzers in Schriften über sich selbst(SüS). Hirsch charakterisiert diese Selbstzeugnisse Kierkegaards als »kostbare und ein-zigartige Dokumente in der Geschichte der christlich abendländischen Autobiographie«.Kierkegaard habe »sein Leben und Schaffen mit einer Bewußtheit und Klarheit durch-drungen«, die »nahezu unbegreiflich ist.« (SüS, VIV–XV)5 Die deutsche von Gerdes besorgte fünfbändige Auswahlübersetzung der Tagebücherim Diederichs-Verlag 1962–1974 beschränkt sich fast ausschließlich auf sog. ›tagebuch-ähnliche Einträge‹. Dagegen steht der umfangreiche private schriftliche Nachlass. Kier-kegaard machte Notizen über gelesene Werke ebenso wie über seine schriftstellerischenProjekte, was den Großteil der Papirer ausmacht. Er hatte zudem die Angewohnheit,mehrere Bücher gleichzeitig zu führen, dazu beschrieb er unzählige Zettel und Papiere.All diese Schriften wurden nach seinem Tode akribisch zusammengefasst, chronologischgeordnet und editiert mit dem Nachteil, dass dadurch der Zusammenhang der einzelnenBücher verloren ging. Dieser Zusammenhang der einzelnen Journale ist in der neuenEdition der Søren Kierkegaard Skrifter (SKS) wieder berücksichtigt worden, die Deut-sche Søren Kierkegaard Edition (DSKE) ist in Arbeit. Meine Zitation der Papirer spie-gelt hier den aktuellen Stand der vorliegenden Editionen und Übersetzungen. Zur ein-facheren Vergleichbarkeit für den deutschsprachigen Leser wird soweit als möglich nachder Gerdes-Auswahlübersetzung zitiert. Soweit der Eintrag in der aktuellen DSKE vor-

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bisherigen deutschen Ausgaben von Kierkegaards Nachlass … ver-mochten nur ein sehr lückenhaftes und selektives Bild von Umfangund Inhalt seiner Tagebücher zu vermitteln«, schreiben auch die He-rausgeber der neuen Deutschen Sören Kierkegaard Edition 2005, viii,welche die Neueditierung des Nachlasses in Angriff genommen haben.

Allein am Umfang dieser in Arbeit befindlichen Edition wirddeutlich, dass es sich bei Kierkegaards Journalen weniger um »Tagebü-cher« im herkömmlichen Sinne handelt, sondern um eine großange-legte Sammlung von Stimmungen, Reflexionen, Aphorismen undKonzeptionen, Vorlesungsmitschriften und Lesenotizen.6 Diese Schrif-ten waren nicht zur Veröffentlichung gedacht, sondern initiieren, be-gleiten, kommentieren und schlussendlich beenden auch Kierkegaardsschriftstellerisches Wirken. Man kann aber davon ausgehen, dass sichder zwar nicht hofierte, aber doch bekannte Autor im kleinen Däne-mark schon früh bewusst war, dass auch seine privaten Aufzeichnun-gen eines Tages von der Nachwelt gelesen werden. Dies zeigt sichschon daran, dass er seine Aufzeichnungen später sortierte, num-merierte, manche sogar bestimmten Themen zuordnete und auch hierund dort einige Ausstreichungen vornahm. Ein Gang durch die Journa-le zeigt auch, wie vielschichtig die Interessen ihres Verfassers waren.Hier finden sich Reflexionen eigener Erfahrungen oder Gedanken ne-ben Leseexzerpten und schriftstellerischen Entwürfen, erbauliche Me-ditationen und Gebete neben polemischen Possen oder ernsten Zeit-geistkritiken.7 Diese Aufzeichnungen entwickeln sich über die Jahre

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liegt, folgt ein Abgleich mit dieser und die Angabe der Referenz an zweiter Stelle. Wei-chen die Übersetzungen stark voneinander ab und trägt die neuere Übertragung We-sentliches zum Verständnis bei, zitieren wir nach DSKE und geben die Referenz dem-entsprechend an erster Stelle an. Dies gilt auch für Aufzeichnungen, die nicht in derGerdes-Auswahl vorliegen. Einträge, die sich in keiner der benannten Editionen finden,folgen meiner eigenen Übersetzung und werden dementsprechend mit der Referenz zuden Papirer angegeben (siehe dazu auch die Angaben im Anhang). Die biographischenEckdaten werden zur Orientierung so nötig zum Verständnis mit angegeben, ansonstenverweise ich auf die vorliegenden umfangreichen Biographien, welche die äußeren Um-stände rekonstruieren, die sich in den nachgelassenen Aufzeichnungen nur verschlüsseltbzw. in reflektierter Form finden.6 Richard Purkarthofer schlägt in seinem dezidierten Bericht zur »deutschsprachigenRezeptionsgeschichte von Kierkegaards Nachlass«, 2003, 318 vor, auch in deutschspra-chigen Untersuchungen von Journalen zu sprechen. Dies würde die nachgelassenen Pa-pirer Kierkegaards nicht nur terminologisch besser charakterisieren, sondern auch jeneMissverständnisse vermeiden, die durch den Begriff »Tagebücher« entstanden sind.7 Das Fotobuch Written Images, herausgegeben von Niels J. Cappelørn, Joakim Garff

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immer mehr zur Parallelschrift des schriftstellerischen Wirkens. SeinSpätwerk abschließend werden sie in den letzten Lebensjahren zur al-leinigen Mitteilungsform, welche v. a. der Selbstreflexion und dem re-ligiösen Dialog dienen.

Ein Zugang zum Nachlass ist dementsprechend vielschichtig be-gehbar. Purkarthofer 2003.a hat einen hilfreichen Einblick in die For-schungsgeschichte zum Nachlass gegeben, auf die wir hier für eineVertiefung der Thematik verweisen.8 Bisher sind Kierkegaards Journa-le und Aufzeichnungen vor allem unter historisch-biographischem In-teresse gelesen worden. Die Faszination am Leben des großen Dänenscheint nach wie vor ungetrübt. Dabei wurden solche Personenstudienjedoch nicht selten auch zu Studien im Pathologischen und Kierkegaardselbst zum Patienten eines psychoanalytischen Reduktionismus.9 Einehistorisch-biographische Rekonstruktion steht zudem vor dem Pro-blem, dass Kierkegaards Papirer nur äußerst selten biographischenCharakter haben. Und selbst wenn man ein biographisches Ereignisauszumachen scheint, bleibt unklar, wie viel davon bereits der Dich-

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und Johnny Kindrup, 2003 gibt einen anschaulichen Einblick in Kierkegaards Welt derJournale und Papiere. Hier kann man die große Zahl teilweise hochwertig eingebunde-ner Journale betrachten, die Handschriften und Eigenarten ihres Verfassers studieren(so hat Kierkegaard oft die Seiten seiner Journale zur Hälfe eingefaltet, so dass er zu-nächst die Innenseiten beschrieb und später Ergänzungen und Notizen am Rand vor-nehmen konnte), aber auch die ungezählten Entwürfe für seine Werke. Dazu lose Blät-ter und Briefe des Verfassers, selbst einige Skizzen und Zeichnungen fanden den Weg indas Buch. Der Leser wird daran erinnert, in welch kurzer Zeit Kierkegaard sein Werkniedergeschrieben hat, unentwegt begleitet durch die Aufzeichnungen in den Journalen.Zur Diskussion der Journale als eigenständige Schriftgruppe vgl. auch Alastair Hannay,»Kierkegaards Journals and Notebooks«, 2003, 189–201.8 Purkarthofer 2003.a, 343 zeigt, dass es bis auf wenige Ausnahmen bisher kaum Ver-suche gibt, den Nachlass nicht nur als Beiwerk sondern als integrativen Teil des Gesamt-werkes zu lesen. Vgl. auch seinen Aufsatz »Possible Use of Kierkegaard’s Journals andNotebooks for Research«, 2003.b, 202ff. So sollten die Journale nicht nur autobiogra-phisch sondern auch thematisch gelesen werden, etwa zum Nachvollzug der intellektu-ellen Auseinandersetzungen Kierkegaards und jener Autoren, mit denen er im Diskurswar. Vor allem die Untersuchung der Erbaulichen Reden und ihrer philosophischenGehalte könne, so Purkarthofer, von einer Nachlass-Studie profitieren, da Kierkegaardhier oft die Themen konzipiert bzw. nachbereitet hat.9 Als Beispiel sei hier die Untersuchung aus der Blütezeit der Psychoanalyse von F. C.Fischer, Die Nullpunktexistenz, 1933, 152f. genannt. Fischer nimmt Kierkegaard alsModell für eine »Erscheinungsform von manischer Erregung und melancholischer De-pression« und zeigt anhand von Tagebucheinträgen den krankhaft schwermütigen Cha-rakter mit Hang zum Selbstmord auf.

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tung zugehört. In diesem Sinne sind Kierkegaards Papirer selbst Lite-ratur. In ihnen überwiegt die innere ›Ver-Dichtung‹ so weit, dass außereinigen zentralen Eckdaten kaum biographischen Anlässe zu Wortkommen. Das »Mitdichten der Persönlichkeit« (s. o.) war und ist auchin der Kierkegaard-Forschung eine besondere Schwierigkeit und hatbeträchtlich zum heutigen Bild »Søren Kierkegaard« beigetragen.10

Leben und Dichtung – narrative Hermeneutik

Nun ist es weder Anliegen dieser Untersuchung, dieses tradierte Kier-kegaard-Bild geradezurücken noch gänzlich zu dekonstruieren. Viel-mehr geht es uns gerade um die Deutung des Themas durch den Autorselbst, in welcher sich auch sein existenzdialektisches Denken vor- undabbildet. Hier, im Ringen um das eigene Selbst- und Weltverständnis,bildet sich auch das philosophische Verständnis des Denkers heraus.Dieser Ausgangspunkt ist freilich nicht unproblematisch, da ein solchesProjekt immer auch in Gefahr steht, das Denken des Autors im Pri-vaten aufzulösen.11 Es kann aber auch derart versucht werden, dass Per-son- und Denkentwicklung hier in einen sich ergänzenden und vertie-fenden Zusammenhang gebracht werden.

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I Leiden als Thema der nachgelassenen Papiere

10 Purkarthofer 2005, Liessmann 1993 und Gardiner 2001 geben in ihren Kierkegaard-Einführungen sehr anschauliche und lesenswerte Überblicke zu Leben und Person-gestalt Kierkegaards. Auch Hermann Deuser gibt eine Einführung in Leben und Werkdes Dänen in seinem Übersichtsartikel zur »Existenzdialektik« Kierkegaards, 1983,125f. Für den englischsprachigen Raum seien hier die Einführungen von Pattison 1997und Watkin 1997 genannt. Auf Pattisons Arbeiten werden wir hier des Öfteren Bezugnehmen. Zum Vergleich seien hier auch Hirschs Kierkegaard Studien, 1978 genannt.Dezidierte Biographien findet der Leser etwa bei Hannay 2001 oder Lowrie 1955. Dieumfangreichste und aktuellste, jedoch nicht ohne Kritik gebliebene Biographie hat Joa-kim Garff 2004 vorgelegt. Eine umfassende Einführung in die zentralen Themen zurprivaten und intellektuellen Lebenswelt Kierkegaards gibt der 12. Band der BibliothecaKierkegaardiana: Kierkegaard as a person, 1983. Hier finden sich in Einzeluntersuchun-gen etwa die Themen der Herkunftsfamilie, sein intellektueller Hintergrund und Aus-bildung aufgenommen, wie auch die späteren Entwicklungen etwa der Corsar-Krise,daneben Untersuchungen zu seinen persönlichen Gebeten sowie seinem christlichenSelbstverständnis.11 Auch wenn sich Kierkegaards existentiellen Analysen auf seine eigenen Lebens- undLeidenserfahrung stützen, so machen Deuser & Cappelørn 1996, 6 deutlich, meint dieskeineswegs, dass sich Kierkegaards Schriften »in der Banalität reiner biographischerErklärungen wälzen.«

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Für eine solche Betrachtung der inneren Deutungszusammenhän-ge können wir die biographischen Daten weitestgehend den Biographenüberlassen und uns auf die innere Geschichte des Themas konzentrie-ren.12 Ein solcher Zugang findet sich auch in George Pattisons Artikel»A Mysterious Family …«, 2009, 193 f. vorgeschlagen: So könne manKierkegaards Narration über sein eigenes Leben auch als Erzählentwurffür die Themen der Moderne lesen. Hier strebt der Denker nicht nurnach der Wahrheit, sondern auch danach, sich selbst wahrhaft einsich-tig zu werden. Dazu muss er sich aber erst hindurch arbeiten zur Frei-heit des eigenen Lebensvollzugs. Denn das Selbst findet sich ja immerschon vor – in die Welt gestellt – mit seinen mannigfachen Bezügen.Die Entwicklung seines Selbstverhältnisses ist daher kein abstraktesUm-sich-selber-Kreisen, sondern geschieht in der Auseinandersetzungmit den vorgefundenen Verhältnissen: den eigenen Familienstrukturenetwa, gesellschaftlichen Bedingungen oder den Traditionen von Den-ken und Glauben. Diese Bedingungen können immer auch der Selbst-entfaltung des Individuums im Wege stehen, gleichwie das Individuumsich selbst dabei im Wege stehen kann (vgl. ebd.).

Diese vielschichtigen Bezüge des Selbstverhältnisses finden sichauch in den Auseinandersetzungen des Journalschreibers und sind engverwoben mit der Entwicklung seines Verständnisses vom Leiden. Soist »Leiden« hier nicht nur als das bloß Vorgefundene, Vererbte oderÜbernommene verstanden, sondern wird selbst in ein Reflexionsver-hältnis gesetzt, woran sich der Denker abarbeitet und hindurcharbeitet.Dadurch liegt die Bedeutung für die Entwicklung des Denkers nichtmehr im Leiden als äußerer Einflussgröße, sondern vielmehr in dessenReflexionsprozessen. Eine solche Verhältnissetzung geht aber bei einerbloß biographisch-historischen Betrachtung hinter Faktischem ver-loren. Denn die Dimension der Zeit, in welcher sich Person entfaltet,ist nicht historisch derart, dass sie sich aus der Abfolge von Daten er-schließen könnte. Vielmehr, so macht Pattison 2009, 201 deutlich, liegtder inneren Geschichte eines Menschen auch die Dimension einer »in-neren Zeit« zugrunde, welche Pattison die »Zeit des Selbstbewusst-seins« nennt.

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12 Die Methode der narrativen Hermeneutik sucht vor allem danach, die persönlicheBedeutung einer Lebensgeschichte und ihrer wesentlichen Themen zu eruieren, anstattderen bloßen Umstände. Für einen Überblick aus Sicht der Sozialwissenschaften sieheDaniel McAdams »Personal Narratives and the Life Story«, 1999, 478–500.

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Während Kierkegaards Leser der pseudonymen Schriften oft sze-nische Skizzen vorfindet, welche er selbst um die Dimension ›innereZeit‹ ergänzen muss, indem er die Problemstellung im eigenen Lebendurcharbeitet, hat Kierkegaard für seine nachgelassenen Aufzeichnun-gen seinen eigenen Gesichtspunkt dargelegt. Dadurch eröffnet sich demLeser dieser Aufzeichnungen auch ein möglicher Deutungszusammen-hang. Wir wollen Kierkegaards Gesichtspunkt darum auch zum Aus-gangspunkt unserer Untersuchung zum Nachlass nehmen.13 Es ist da-bei nicht von Belang, ob wir diese Deutung für ›wahr‹ halten. Sie gehörtja selbst schon zur Narration des Autors, innerhalb welcher auch dieDeutung und Bedeutung der Leidensthematik aufscheinen soll. Freilichist dem Leser hier freigestellt, sich diese Deutung zu eigen zu machenoder sie gänzlich in Frage zu stellen.14 Kierkegaard fasst in seinem Ge-sichtspunkt den Bedeutungszusammenhang nun folgendermaßen:

»Weit zurück in meiner Erinnerung, geht der Gedanke, daß da in jeder Ge-neration zwei oder drei sind, die für die anderen geopfert werden, dazu ge-braucht, in entsetzlichem Leiden zu entdecken, was den anderen zugutekommt; auf die Art verstand ich schwermütig mich selbst, daß ich dazu erse-hen war.« (GWS, 77)

»Ich verstehe es als meine Unvollkommenheit; denn meine gesamte Wirk-samkeit als Schriftsteller ist, wie ich des öfteren gesagt, zugleich meine eige-ne Entwicklung, in der ich selbst mich tiefer und tiefer auf meine Idee, meineAufgabe besonnen habe …« (GWS, 119)

Lassen wir uns also vom Denker selbst die Themen vorgeben, wie ersich in und durch sein Leiden verstand, werden vier Aspekte deutlich:Zum Ersten finden wir das Thema des Leidens selbst in die Entwick-lung gesetzt, durch welche der Autor auf seine Aufgabe und Bestim-mung aufmerksam wurde. Diese Bestimmung liegt nun darin, sein Lei-den im Dienste einer höheren Idee zu durchdringen, um dadurch »zu

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13 Dieser Zugang zum Nachlass über den Gesichtspunkt wurde bisher nur von Niels J.Cappelørn versucht in seinem Artikel »Kierkegaards eigener ›Gesichtspunkt‹ : ›Vorwärtszu leben, aber rückwärts zu verstehen‹«, 1975. Vgl. Purkarthofer 2003.a, 343.14 Joakim Garff versucht in seinem Essay zum Gesichtspunkt, »The Eyes of Argus«,2002 Kierkegaards Selbstverständnis gänzlich zu dekonstruieren, indem er etwa dasGottesverhältnis Kierkegaards im Freud’schen Über-Ich auflöst. Dabei bleibt er abereiner eher traditionellen Interpretationsfolie verhaftet, nämlich den ganzen Kierkegaardim ungelösten Vater- und Reginekonflikt untergehen zu lassen. Siehe auch die Kritikdarauf von Sylvia Walsh, »Reading Kierkegaard with Kierkegaard against Garff«, 1999.

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entdecken«, was Anderen zugute kommt. Hier deutet sich auch derZusammenhang von Leiden und Erkenntnis an, wie er vor allem imdritten Kapitel zur Sprache kommen soll. Diese Erkenntnisbewegungsteht im Dienst »für die anderen«, so der zweite Aspekt, sie soll geradeder Allgemeinheit zugute kommen. Dieser Bezug des Denkers Kierke-gaard zum Anderen ist oft in Frage gestellt worden. Im Kontext seinerSelbstdeutung zeigt er sich aber in besonderer Weise. Der Autor ver-steht sein Werk ganz auf den Anderen hin angelegt, eingeschrieben inden Dienst einer höheren Idee. Der dritte Aspekt macht deutlich, dassKierkegaard sein Leben keineswegs als Norm ansieht. Vielmehr be-greift er sich in einer Ausnahmestellung, die ihre Bedeutung darin hat,aus dieser Position heraus der Allgemeinheit von Nutzen zu sein. Zumanderen schwingt in diesem Zeugnis auch die Rede von jener Machtmit, die den Autor zu dieser Stellung »ersehen« hat (s. o.). Der vierteund letzte Aspekt bezieht sich auf das schwermütige Selbstverständnisdes Autors. Sich selbst in Existenz zu verstehen macht für den Existenz-denker gerade das Höchste aus, bis wohin ein Mensch auf seinem Wegdurch die Zeit gelangen kann. Ein solches Selbstverständnis beinhaltetnicht nur, dass ein Mensch zu Konklusionen kommt, die ihn allgemeinals Menschen auszeichnen, sondern auch zu jenen, die ihn als dieseneinzelnen und einzigen Menschen zeichnen. Für den Autor jedenfallsscheint seine schwermütige Prägung mit in dieses Selbstverständnis zugehören und mit diesem in komplexer Wechselwirkung zu stehen.

Wir beginnen unsere Untersuchung also durchaus mit Altbekann-tem, wollen diese Themen nun aber mit der Deutungsperspektive desAutors selbst zusammensetzen. Dadurch soll die weithin überseheneBewegung der Aneignung deutlich werden, welche nicht nur ein zen-trales philosophisches Konzept Kierkegaards darstellt, sondern freilichauch Thema des eigenen Lebensvollzugs ist. Sie beschreibt die Weise,wie ein Mensch seine Erfahrungen durchdringt und verwandelt. Da-durch erst, so werden wir sehen, zeigen sich ihm auch Bestimmungund Sinn.

Gliederung des ersten Teils

Der hier versuchte Nachvollzug der Gedankenentwicklung des Autorserhebt in keinster Weise Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr sol-len hier nur einige zentrale Entwicklungslinien angedeutet werden, die

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uns auch zur Vorbereitung für die Betrachtung im zweiten und drittenTeil der Untersuchung dienen. Aufbauend auf die in der Grundlegungvorgeschlagene dialektische Struktur wollen wir das Thema in dreiVertiefungen entfalten: Zum einen als Thema der Lebenserfahrungdes Schreibenden selbst und wie er sich darin verstanden hat. ZumZweiten als Thema der Prozesse von Verinnerlichen, Aneignen undVertiefen. Zum Dritten als Leiden der Innerlichkeit in seiner Bedeu-tung für menschliche Erkenntnistätigkeit und religiöse Erfahrung.Dementsprechend ergibt sich folgende Gliederung dieses ersten Unter-suchungsteils:

Im ersten Kapitel folgen wir dem jungen Schreiber auf eine Reiseins Nordseeland. Anhand seiner berühmt gewordenen Gilleleie-Auf-zeichnungen wollen wir ein Verständnis für den Ausgang seiner Denk-entwicklung entwickeln als der Suche nach existentieller Wahrheit.Diese Aufzeichnungen eigenen sich zudem wie keine anderen, umeinen Einblick in Kierkegaards Denkkategorien zu ermöglichen, welchefast visionär in einem kontemplativen Moment vor dem jungen Mannzu stehen kommen. Hier deutet sich auch das große Thema an, das sichfortan durch Leben und Werk Kierkegaards ziehen wird: die Bewegungder Aneignung. Im zweiten Kapitel werfen wir einen Blick auf die ›Kin-derstube‹ des Existenzdenkers selbst, wie er uns dazu in seinem Ge-sichtspunkt Einblick gegeben hat. Hier reflektieren wir v. a. die religiö-se Erziehung, welche aufgrund ihrer Misslichkeit den Denker erstvollends auf die Bedeutung der Aneignung für das eigene Leben auf-merksam gemacht hat. Diese Einsicht wurde gleichermaßen zum In-halt und zur Form seiner Darlegungen. Dabei zeigt sich die Bewegungder Aneignung in zwei Verhältnissen, zum einen zum schwermütigenLeiden, zum anderen in Richtung auf das Wahre, Unbedingte oder Re-ligiöse. In einem dritten Kapitel kommt Leiden dann in seiner maieu-tischen Bedeutung für menschliches Erkennen in den Blick sowie inseiner ontologischen Struktur als Ausdruck des Selbstbewusstseins. Ineinem vierten und zusammenfassenden Kapitel wird das Thema derLeiden in das Licht religiöser Erfahrung gerückt. Hier wird es zumgeistigen Ausdruck für die Einübung des höchsten Verhältnisses, dasden Menschen innerlich verwandelt. Eine solche Verwandlung wirdbeispielhaft am Thema der Schwermut nachgezeichnet, jenem Leiden,das den Verfasser zeitlebens begleitet hat. Es wird sich zeigen, dass dieAneignung freilich nicht die Begriffe verändert, wohl aber die Bedeu-tung, welche sie für einen konkreten Menschen entfalten.

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Begrenzungen des Untersuchungsthemas

Die Frage bei einem solchen Vorgehen bleibt freilich, mit welcher Deu-tung wir es zu tun haben und zu tun haben wollen. Denn unsere Aus-wahl ist ja immer schon Einschränkung der Vielfalt und Weisen, wiesich der Schreibende selbst verstand. Darum ist es gut, uns diese Ein-schränkung anfangs zu vergegenwärtigen: Wir wollen hier vornehm-lich der Frage nachgehen, wie der Denker sein Denken am und aus demLeiden heraus entwickelt hat. Dass ihn dieses Denken in Konsequenz inneues Leiden führte, soll jedoch nicht Thema dieser Abhandlung sein.Uns soll vor allem jener Bezug interessieren, durch den wir aus derBetrachtung der Thematik in einem einzelnen Leben auch Aufschlussüber das Thema im Allgemeinen erhalten, etwa für die Bewegungenvon Aneignung und Erkennen. Die späte Entwicklung Kierkegaards,die öffentliche Zurschaustellung durch den Corsaren etwa und die da-mit einhergehende umfassende Reflexion in seinen Journalen findetder Leser hier genauso wenig abgehandelt wie Kierkegaards spätereStreitschriften gegen die Staatskirche, welche das Leiden des Christen-menschen explizit zum Thema und Kriterium machen. Hier tritt sein»existentielle(s) Einstehen für die Theorie«, so Deuser 1974, 82 immerklarer hervor.15 Wohl werden wir auf das religiöse Verständnis der Lei-den eingehen und u.a. auch aufzeigen, dass Martyrerqualen oder der-gleichen in Konsequenz mit einem religiösen Bekenntnis einhergehenkönnen, keineswegs aber der Inhalt des »religiösen Leidens« sind, wel-ches Kierkegaard explizit als Dimension des Geistes bestimmt. Die spä-te Entwicklung Kierkegaards als Streiter und »Wahrheitszeuge«scheint jedoch so sehr der spezifischen Eigenart seines personalen Exis-tenzverständnisses geschuldet, dass wir dies hier nur unzureichend amRande abhandeln, geschweige denn nachvollziehen könnten.

Auch die unglückliche Liebesbeziehung, die den Denker undSchriftsteller zeitlebens begleitet hat, wird hier nicht zur Anschauungkommen. Nicht etwa, weil Regine nicht wichtig gewesen wäre für Sø-ren und sein Leiden, sondern weil darüber bereits »ad infinitum«,

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15 Vgl. zum Hintergrund des späten Kierkegaards die Arbeiten von Bredsdorff 1983sowie die Habilitationsschrift Deusers, Dialektische Theologie. Studien zu Adornos Me-taphysik und zum Spätwerk Kierkegaards, 1980, welche v.a. die Papirer der späten Jahreausführlich untersucht. Kierkegaards christliches Selbstverständnis hat auch MikulováThulstrup 1983 näher beschrieben.

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wenn nicht gar »ad nauseam« berichtet wurde (Pattison 1997, 120),und Regine es mithin verdient hat, in Ruhe gelassen zu werden. Hiersei nur soviel angemerkt: Es scheint ganz so, dass der junge Denker,von der ersten Begegnung mit der Leichtigkeit und Unmittelbarkeitder jungen Frau »zutiefst erschüttert«, nur noch tiefer auf seineschwermütige Prägung aufmerksam wurde und den Umstand, diesenicht beizeiten heben zu können. Dass diese Einsicht dem jungenMann erst aufbricht, nachdem er den Schritt in ein ›normales Leben‹versucht hat, mag daher weniger verwundern denn die Verwunderung,welche dieser Umstand bis heute hervorgerufen hat.16

Zum Abschluss sei erwähnt, dass der junge Kierkegaard eher un-willig begonnen hat, seine Gedankenflut auf lose Zettel zu notierenund sich erst später dazu durchrang, Journale zu schreiben, um »da-durch teils die Möglichkeit einer Kenntnis meiner selbst zu einem spä-teren Augenblick« zu gewinnen, »teils die Geschmeidigkeit im Schrei-ben«, so reflektiert er selbst in seinen Journalen: »Und deshalb sind dieAufzeichnungen, die ich habe, so völlig zusammengeschnurrt, daß ichjetzt nichts mehr davon verstehe« (T1, 136; DSKE1, 194, DD:28). Lesenwir nun Auszüge der nachgelassenen Papirer, müssen wir uns also be-wusst halten, immer auch mit »zufälligen« und »zusammengeschnurr-ten« Aufzeichnungen zu arbeiten, welche nur ein Ausschnitt der tat-sächlichen Erlebens- und Gedankenwelt ihres Verfassers sein können.Das Ziel dieser Untersuchung ist insofern nicht, das Thema und seineEntwicklung im Daseinsvollzug zur Gänze zu klären. Es soll hier ledig-lich ein neuer Blick auf diese große Schriftgruppe der Journale undAufzeichnungen gewagt werden, um einige Entwicklungslinien neuzu beleuchten.

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16 Die amerikanischen Kierkegaard-Übersetzer Howard und Edna Hong merken dazuFolgendes an: »Most people marry out of love, at best, you see. But really the rare thingis to not marry out of love« (In: Marc Hequet »Love and Kierkegaard«, St. Olaf Maga-zine, January 2006, p. 38–45). Kierkegaard selbst hat die ethische Relevanz eines gebro-chenen Gelübdes in seinen Schriften schonungslos durchleuchtet und freilich auch hierseine Lehren gezogen: So muss ein Mensch, um nicht an seinem Scheitern zu verzwei-feln, über das bloß Ethische hinausgreifen.