"Dantes spiritus und die Wahrheit der Dichtung“, in Aisthetics of the Spirits - Spirits in Early...

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Sonderdruck aus Steffen Schneider (ed.) Aisthetics of the Spirits Spirits in Early Modern Science, Religion, Literature and Music Mit 28 Abbildungen V& R unipress ISBN 978-3-8471-0423-0 ISBN 978-3-8470-0423-3 (E-Book)

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Sonderdruck aus

Steffen Schneider (ed.)

Aisthetics of the Spirits

Spirits in Early Modern Science, Religion, Literatureand Music

Mit 28 Abbildungen

V& R unipress

ISBN 978-3-8471-0423-0

ISBN 978-3-8470-0423-3 (E-Book)

Inhalt

Steffen SchneiderDie aisthetische Dimension der Geistwesen in der frühen Neuzeit . . . . 9

Steffen SchneiderThe Aisthetics of Spirits in the Early Modern Period . . . . . . . . . . . . 19

I. Conceptio

Patrizia CarmassiDer Heilige Geist in handschriftlichen liturgischen Quellen desMittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

Tobias GeorgesDer Heilige Geist als Liebe bei Petrus Lombardus und Luther : GottesLiebe zum Menschen und des Menschen Liebe zu Gott in deraugustinischen Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

Christoph SteppichDen Atem des Weltalls schöpfen: Marsilio Ficino zur Rezeption desSpiritus Mundi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

Grantley McDonaldMelanchthon’s theory of spirit as a bridge between Galen, Ficino andLuther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

Delfina GiovannozziSpirit in Giordano Bruno’s magical works . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

Jan SöffnerDantes spiritus und die Wahrheit der Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . 149

Angela OsterAristotelische ,Geisteraisthetik‘? Konzeptionelle Poetologie undpurgierende Praxis des Spiritismus in italienischen Komödien derRenaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

Sibylle BaumbachShakespeares Theater der Geister : Spiritus-Konzepte in The Tempest . . . 191

Melanie Wald-FuhrmannModell Orpheus: Die Erfindung des virtuosen Instrumentalisten aus denBedingungen der Spiritus-Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

II. Purgatio

Tobias Georges“Muste doch Sanct Bernhard an aller seiner Muencherey verzweiveln” –Martin Luther using Bernard of Clairvaux in the dispute on monasticlife’s purity . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Stephen ClucasExorcism, conjuration and the historiography of early modern ritualmagic . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

Peter J. Forshaw“Morbo spirituali medicina spiritualis convenit”: Paracelsus, Madness,and Spirits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

Carlos WatzkaInteraktionen von Dämonen und Menschen im Wege der Besessenheit.Auffassungen über das Handeln von spiritus maligni gegenüberMenschen und erforderliche Gegenmaßnahmen im südeuropäischenKatholizismus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, dargestelltanhand des Sacerdotale Romanum und der Handbücher für dieexorzistische Praxis des Franziskaner-Minoriten Girolamo Menghi . . . 307

Bettina FullFascinatio: Bildreflexion und Wirkungsästhetik in der Dichtung Pierre deRonsards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365

Inhalt6

Philipp TheisohnPriscianus im Fegefeuer. Fischarts Schreibpraxis zwischen Dämonologieund grammatischer Purgatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405

Bruce R. SmithWhat Makes Shakespeare So Inspiring? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421

Brenno BoccadoroContrapunctus enim intentiones affectionesque animi imitatur et verba:some reflections on the philosophical background of word paintingduring the Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435

Christopher I. LehrichSpiritus Mundi, Spiritus Musicae? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465

Grantley McDonaldMusic, Spirit and Ecclesiastical Politics in Elizabethan England: JohnCase and his Apologia Musices . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477

Biographies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499

Index of proper names . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505

Inhalt 7

Jan Söffner

Dantes spiritus und die Wahrheit der Dichtung

Ein Unbehagen befällt die meisten Leser von Dantes Commedia – zumindest ineinem frühen Stadium ihrer Leserschaft. Es betrifft die Anmaßungen diesesTextes, die offenbar von jedwedem Versuch einer taktvollen Kaschierung oderSelbstrelativierung verschont geblieben sind. Dante scheint Gottes Gerechtigkeitganz offen im Sinne eigenen politischen Positionen und Anliegen walten zulassen. Er scheint Homer, Ovid, Horaz und Lukan für die eigene Eitelkeit zumissbrauchen und lässt sich in seinem Limbo von ihnen ehren.1 Gegen Endeseiner Reise durch das Purgatorio lässt er den seit dem Sündenfall verdorrtenBaum der Erkenntnis von Gut und Böse neu aufleben – und zwar just zu demZeitpunkt, da er selbst in seine Gegenwart tritt.2 Am Ende des Textes sieht er imLicht Gottes dessen Gesicht nicht nur so, dass es nach dem Bilde des Menschengemalt zu sein scheint (was schon eine eigenwillige Verkehrung ist) – sondernmehr noch: Er erkennt darin seine eigenen Züge.3 Die Liste ließe sich leichtverlängern, aber eigentlich dürfte dies genügen, um selbst heutige Leser, dienicht mehr so stark dem emotionalen Habitus mittelalterlicher Christendemutunterworfen sind, zu verstören.

Das Unbehagen über diese offenkundig schwer zu überbietende Selbstüber-zeugung im Angesicht Gottes ist so alt wie das heilige Gedicht, das sacro poema,wie wiederum Dante selbst seinen Text nennt.4 Unter den Antworten der ge-genwärtigen Diskussion haben vor allem vier Lesarten Bestand, von denen dreiden Versuch machen, den Skandal abzumildern – eine ihn auf sich nimmt. Siestecken als Extrempunkte die Koordinaten ab, in denen die Diskussion geführtwird: Erstens hat sich im allgemeinen Bewusstsein eine allegorisierende Deu-tung gehalten, in der die provozierenden Passagen ,eigentlich‘ etwas ganz an-deres bedeuten. Diese Haltung stößt allerdings insofern schnell an ihre Grenzen,

1 Inferno, Gesang IV, V. 86 – 102; alle Zitate nach Dante: Commedia, hg. A.C. Leonardi.2 Purgatorio, Gesang XXXII, V. 37 – 69.3 Paradiso, Gesang XXXIII, V. 131 f.4 Ebd. XXV, V. 1.

da Dante selbst in seinem berühmten Brief an Cangrande della Scala, für deneigenen Text eine Form des vierfachen Schriftsinns in Anschlag bringt, die immittelalterlichen Kontext einem bloß fiktionalen Text eigentlich nicht zustünde,womit die allegorische Verfasstheit des Textes nur zu einer weiteren Anmaßungwürde.5 Zum zweiten ist mit Charles S. Singleton die Lesart populär geworden,dass es die eigentliche Fiktion des Textes sei, seine Fiktionalität zu verbergen;dass die Commedia also einen Fiktionsvertrag impliziere, demzufolge alleSelbstmarkierungen des Textes als Wahrheitsrede bloß als ironische Selbst-markierungen des Textes als fiktionale Rede zu lesen seien.6 Doch auch in dieserLesart verbirgt sich eine problematische Selbstermächtigung Dantes, der damitgenau diejenige Wahrheit in ein fiktionales Spiel einbetten würde, an derenHeiligkeit ihm doch gelegen sein muss. Carlo Ginzburg widmet sich diesemProblem und spricht (drittens) von einem blinden Fleck (,blind spot‘) Dantes:Der Dichter habe zwar durchaus einen Wahrheitstext mit theologischem An-spruch schreiben wollen – dass die generative und wuchernde Kraft dichterisch-fiktionaler Texte per se diesem Anliegen widerspräche, sei ihm aber entgangen,sodass, was Singleton als bewusste Strategie der Fiktionalität umreißt, nunmehreine Art Unbewusstes dieses Textes darstelle.7 Das kommt einer Bankrotter-klärung mit unklarer Zielrichtung gleich (entweder Ginsburg erklärt DantesBankrott gegenüber dem eigenen Text – oder aber er zeichnet den Bankrott einerPhilologie nach, der es daran gelegen sein muss, ihre Probleme ohne diewohlfeile Annahme blinder Flecken zu bewältigen). Viertens stellt sich AndreasKablitz als wohl einziger Danteforscher der Herausforderung in ihrer ganzenBreite und geht davon aus, dass Dante davon überzeugt war, sein Text würdegerade in seiner Gestalt tatsächlich eine wichtige Rolle im göttlichen Erlö-sungswerk spielen.8

In diesem Aufsatz möchte ich eine weitere Option ins Spiel bringen, die dieAnmaßungen zwar nicht erklären und das sich daran anschließende Problemder Fiktionalität und deren Widerspruch zu einem theologisch haltbaren An-spruch nicht lösen kann – aber den Rahmen zu verschieben sucht, in dem dieserThemenkomplex gewöhnlich verhandelt wird. Mein Fokus wird dabei derjenigeder Poetik eines gespürten, eines emotionalen Sinns sein – als einer komple-mentären (nicht ausschließlichen) Alternative zu demjenigen Sinn, der sich inAuslegung und Lektüre erschließt. Dafür werde ich erstens den psychophysio-logischen Hintergrund umreißen, den Dante für die diesseitigen und jenseitigenMenschen annimmt. Zweitens möchte ich mich der Form des Wissens und

5 Vgl. zu diesem Problem R. Hollander: „Dante ,Theologus-Poeta‘“. Die Lösung, die Hollandervorschlägt, ist diejenige Charles S. Singletons – s. u.

6 C.S. Singleton, Dante Studies 1.7 C. Ginzburg: „Dante’s Blind Spot“.8 A. Kablitz: „Dantes poetisches Selbstverständnis“.

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Verstehens widmen, die mit dieser Psychophysiologie einhergeht, und ihremoraltheologischen Konsequenzen beleuchten. Drittens sollen die poetologi-schen Konsequenzen beleuchtet werden – und viertens anhand Inferno V kon-kretisiert werden.

I

Im 25. Gesang des Purgatorio – wir sind unter den erlösten Sündern der Wollust– begleitet der spätantike Dichter Statius Dante. Der Jenseitswanderer fragt, wiees möglich sei, dass die körperlosen Seelen ihre äußere Gestalt verändern –genauerhin: wie die Seelen der zum Fasten gezwungenen Völler, die Dante kurzzuvor gesehen hatte, schlanker werden, obwohl sie doch nicht aus Fleisch undKnochen bestehen. Nach einer offenbar der Frage eher ausweichenden als siebeantwortenden Erklärung durch Vergil schweift Statius weit aus und verschiebtden thematischen Fokus. Die Frage nach einer veränderlichen Körperform istfür ihn offenbar nicht zu trennen von derjenigen, wie und warum die Seelenspüren und fühlen können, warum sie die sinnliche Form und die Wahrneh-mungsfähigkeit ihrer einstigen Körper beibehalten.9 Dafür muss aber erst ein-mal erklärt werden, wie diese einstigen Körper der Natur nach angelegt warenund was sie unsterblich macht. Hierzu führt Statius aus, dass Gott selbst dierationale Seele dem ansonsten voll ausgebildeten Ungeborenen einhaucht. Sieliefert das Sprachvermögen (macht ein Tier zum sprachbegabten Kind „fante“)und ist ob des unmittelbar göttlichen, also nicht natürlichen Ursprungs auchunsterblich. Der Wortlaut ist hier entscheidend, denn Gott, der „motor primo[…] / […] spira / spirito novo“10 – mit anderen Worten: die Seele, wird in Formeines neuen spiritus eingeblasen.

Nun ließe sich denken, dass diese rationale Geist-Seele allein eines derHirnventrikel ausfüllen würde und z. B. auf die vis cogitativa beschränkt wäre.Doch das ist nicht der Fall. Die Rationalität und dasjenige, was den Menschenzum sprechenden Wesen macht, ist bei Dante Sache einer gewissermaßenganzheitlich wirksamen Kraft (vert�), die „ci� che trova attivo qui [nel corpofisico], tira / in sua sustanzia, e fassi un alma sola, / che vive e sente e s� in s�rigira.“11 Die rationale Seele nimmt also einerseits die gesamte aktive For-

9 Vgl. hierzu E. Gibson: „Purgatorio 25“; und Y. Wei Wei: „Embodiment in the Commedia“.Am umsichtigsten nähert sich Tanja Klemm diesem Gesang vor dem Hintergrund derzeitgenössischen Spiritus-Lehre (T. Klemm: Bildphysiologie), der ich in diesem Abschnittfolge.

10 Purgatorio XXV, V. 69 – 71.11 Ebd., V. 73 – 75.

Dantes spiritus und die Wahrheit der Dichtung 151

mungskraft („virtute informativa“12) der von der Natur geschaffenen pflanzli-chen und tierischen Seelen (anima vegetativa und anima sensitiva) in ihre ei-gene Substanz auf; andererseits schmiegt sie sich umgekehrt deren spezifischerFormungsarbeit an und wird damit selbst sinnlich und emotional. Die Verei-nigung der rationalen Seele mit dem Körper betrifft dabei nicht allein dessenäußerliche Form, sondern, mehr noch als das, dessen lebendige Funktionen. Sievereint sich mit den Körperprozessen, mit dem enaktiven Körper (wie gesagt,alles, was aktiv – attivo – ist, nimmt die rationale Seele in ihre Substanz auf). Indieser neuen Einheit der drei Seelen kann die an sich natürliche und bei Tierenauch sterbliche „virt� formativa“ bei Menschen nach dem Tod des Körpers nochaktiv bleiben.13 Entsprechend ist die rationale Seele auch nach dem Tod desKörpers noch in jeglicher Form der Sinnlichkeit („ciascun sentire“14) anzu-treffen.

Eine solche Vereinigung legt vor dem Hintergrund der mittelalterlichenPsychophysiologie einen weiteren Rückgriff auf die spiritus nahe, sind sie esdoch, die den (per se toten und fühllosen) materiellen Körper beleben, beseelenund sinnlich machen. Die rationale Seele amalgamiert sich demnach als neuerspiritus mit den Geistern und Kräften des Körpers und verleiht ihnen Un-sterblichkeit: Der ganze Vorgang wird in Analogie zum zuvor beschriebenenmenschlichen Zeugungsakt gesetzt und lässt sich damit als eine Form der con-ceptio beschreiben, die an die Empfängnis des Heiligen Geistes durch Mariaerinnert.15 Dass die rationale Seele in Analogie zur Heilstat den Körper un-sterblich macht, indem ein spiritus (ähnlich dem Heiligen Geist in der Ver-kündigung) vom Leib aufgenommen wird, zieht ungewohnte Konsequenzen fürdas diesseitige und jenseitige Leben der Menschen nach sich.

Ungewöhnlich ist an dieser Ansicht, dass der menschlichen Ratio (im Ge-gensatz zu der Ratio der Engel) damit keine von den Funktionen der körperli-chen Seelen unabhängige Existenz zukommt. Sie ist zu keinem Zeitpunkt desmenschlichen Lebens unabhängig von den anderen Seelen; umgekehrt habendie sinnlichen und emotionalen Aspekte der Körperlichkeit an der Unsterb-lichkeit teil. Der von Thomas von Aquin aufgegriffenen16 aristotelischen Doktrinvon der Seele als generierender Form des Körpers wird damit eine bis ins Jen-seits reichende Bedeutung verliehen. Verleiht die rationale Seele der anima ve-getativa und der anima sensitiva Unsterblichkeit und behält die eine ganzheit-liche Seele auch nach dem Tod des Körpers dessen natürliche Formungskraft

12 Ebd., V. 41.13 Vgl. ebd., V. 89.14 Ebd., V. 102.15 Vergleiche zu dieser Relation einmal mehr T. Klemm: Bildphysiologie, S. 1 – 11.16 Vgl. Thomas de Aquino: Scriptum super Sententiis, liber 2, distinctio 3, quaestio 1, articulus

6; ders.: Summa contra Gentiles, liber 2, capitum 57, numerus 14.

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bei, dann ist am Menschen auch seine tierische und sogar pflanzliche Seiteunsterblich. Entsprechend wirkt die Formungskraft der Seele nicht nur in demdiesseitigen fleischlichen Leib, sondern formt in Hölle und Fegefeuer auch diesie umgebende Luft, verleiht auch ihr Verstand, Sinnlichkeit und Affektivität.Statius bedient, um dies anschaulich zu machen, sich der Metapher einerFlamme, die der Form des Feuers folgt und nur dort ist, wo auch das Feuer ist;17

und er beschließt seine Antwort:

„Quindi parliamo e quindi ridiam noi [die Jenseitsbewohner];quindi facciam le lagrime e ’ sospiriche per lo monte [del purgatorio] aver sentiti puoi.Secondo che ci affliggono I disirie li altri affetti, l’ombra [l’anima] si figura;e quest’ � la cagion di che tu miri.“18

Statius geht hier die Seelenfunktionen im Einzelnen durch: Dass die Jenseits-bewohner sprechen, ist der anima rationalis geschuldet. Die Funktionen deranima sensitiva sind dafür verantwortlich, dass sie lachen, weinen, seufzen,begehren und affektiv berührt werden können. Die Verschlankung der Seelen,nach der Dante gefragt hatte (das also „che tu miri“), ist indes Folge der vege-tativen Funktionen. Besonders bemerkenswert ist an dieser Stelle allerdings,dass Statius auch letzteres unmittelbar an die Funktionen der sensitiven Seeleanschließt. Die ganzheitliche Seele folgt in ihrer Formungskraft den Neigungenund den anderen Affekten („disiri / e li altri affetti“). Das Amalgam von emotiv-sinnlicher und rationaler, natürlicher und göttlicher Seele verformt sich inEntsprechung zum Affektiven und Emotiven – nicht durch rationale Einsichtund auch nicht durch das Fehlen von Nahrung wird die Seele der geläutertenVöller also schlank, sondern durch die emotive Haltung, die das Fasten dieSeelen lehrt.

Ex post ergibt es damit durchaus Sinn, dass Statius die Antwort in Form einerErklärung über die Affektivität der Jenseitsbewohner gegeben hat. So lässt sichmit einem Blick auf die Jenseitsreiche schließen, dass die Form der Seele imFegefeuer nicht eine Art unsterbliche und stabile Ur-Form, sondern eine be-wegte und bewegende Form ist, deren Form sich in der Läuterung ändert. Dass„disiri / e li altri affetti“ so sehr ins Zentrum von Dantes Seelenkonzeptionrücken, mag dennoch zunächst überraschen. Doch geht man nach den Sün-denklassen, die Dantes Fegefeuer entwirft, scheint tatsächlich vor allem die af-fektive und sensitive Form entscheidend zu sein. Die diesseitige Affektivität istim Jenseits nicht nur erhalten – sie scheint auch über die Verortung der Sünderin der Jenseitsordnung zu bestimmen. Das ergibt insofern Sinn, als eine – für

17 Vgl. Purgatorio XXV, V. 97 – 99.18 Ebd., V. 103 – 108.

Dantes spiritus und die Wahrheit der Dichtung 153

heutige Augen wohl absonderliche – Konzeption von Sünde und Tugend alsaffektiver Habitus in der Tradition der mittelalterlichen Theologie steht. Tod-sünden sind ja nicht das, was man tut. Sie sind Grundhaltungen, aus denen sichergibt, was man tut. Der Katalog der sieben Todsünden, dem Dantes Fegefeuerfolgt, zeigt auf, wie sehr diese Grundhaltungen – eben – solche der anima sen-sitiva und nicht der Vernunftseele sind: Wollust, Völlerei und Geiz sinddurchaus „disiri / e […] affetti“, die Trägheit oder Melancholie ist die emotionaleHaltung einer Erlösungsvergessenheit, Zorn und Neid sind kaum anders zubegreifen denn als Affekte, und selbst die superbia leitet sich im Mittelalter auseiner Art Laune her, von der die Etymologie des deutschen Wortes Hochmutnoch zeugt, stammt es doch vom höfischen hohen muot, dem ritterlichen Stolzund dem Gefühl adeliger Überlegenheit ab. Als Emotionen verformen die Tod-sünden dabei offenbar die eine mit den Körperfunktionen amalgamierte Seele.

Die rationale Seele allein kann dabei die Seelen offenbar nicht von der Sündebefreien – es braucht Reue, und zwar eine solche, die die sensitive Seele erfasst:Sie muss in Tränen verkörpert werden.19 Wichtiger ist vielleicht noch, dass Reueund Einsicht offenbar nicht genügen, einen entstellten Seelenleib zu reinigen.Dantes Frage an Statius zeigt dies: Es benötigt Jahre, teilweise Jahrtausende, biseine Seele ihre tugendhafte Form zurückgewonnen hat. Die Sündhaftigkeit einesMenschen liegt damit zwar durchaus in der Summe seiner Verfehlungen – aberdiese Summe ist für einen Sünder anscheinend nicht in Form einer (rationalen),Verbuchung‘, sondern in etwa so zu veranschlagen zu sein, wie die Summe derbeim Üben nachlässig oder unangemessen gespielten Töne sich auf das Könneneines Geigers auswirkt. Die Verfehlungen zählen als schlechte emotionale Ge-wohnheiten, die der Sünder angenommen hat: als verfehlter affektiver Habitus.Und so wie ein Entschluss zum besseren Geigenspiel nicht genügt, um ein guterGeiger zu werden, lässt sich auch das Fegefeuer nicht einfach überspringen. DerSünder muss nach seiner Reue noch durch eine Art Rehabilitations-Klinikgehen: Gebeugt unter Steinen verlieren die Hochmütigen ihren allzu aufrechtenGang, den begehrlichen Blick auf das Gut der anderen verlieren die Neider unterKappen, wie sie in der Falknerei verwendet werden, und dasselbe Verhältnis giltauch für die fastenden Völler. Wenn Seelen auf diesem Läuterungsberg dieFormungskraft ihrer Seele heilen können, dann ist die Affektivität maßgeblicherAustragungsort des Abstreifens der Sünde: Am Jenseitsort der Läuterung ge-winnt die Seele eine neue Reinheit, eine von keiner Sünde mehr entstellte Form.

19 Vgl. Purgatorio V, V. 106 – 108.

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II

Implizit ruft dieser Vorgang aber auch die Frage nach der Form der unsterbli-chen Seele im Diesseits auf. Denn formt diese sich sogar im Jenseits nach kör-perlichen Maßgaben, dann muss das hienieden umso mehr gelten. Auch hierformt der enaktive Körper seine Haltung, seine Anlagen, seine moralischenTugenden und Laser ja durchaus auch auf emotive Weise.20 Statius’ Ausfüh-rungen zufolge formt sich die Seele im Verbund mit dem Wachstumsprozess desKörpers. Das leuchtet auch in Hinblick auf die Todsünden ein, denn nur imVerbund von rationaler, sensitiver und vegetativer Seele formen sich Affekte(das, was die Menschen bewegt) und Begehren (die concupiszible und iraszibleGerichtetheit) aus.

In diesem Prozess spielt aber auch die Umwelt des Menschen eine Rolle. DieKonsequenz einer solchen Konzeption zeigt sich bereits zu Beginn der Com-media – der einzigen Passage also, welche die diesseitige Welt zum Schauplatzhat. Dante führt sich als ein Wanderer in den Text ein, der sich nachts in einemdunklen Wald verlaufen hat. Wer eine entsprechende Naturerfahrung gemachthat, weiß, dass sich eine emotionalere Situation kaum denken lässt – und das,obwohl die faktische Gefahr eher gering ist (auch schon zu Dantes Zeit : Räubernzu begegnen war für einen Verirrten unwahrscheinlicher, als wenn er auf dem,rechten Weg‘ gewandelt wäre; selbst wilde Tiere waren nachts genauso sehr aufder Straße anzutreffen wie im Unterholz). Die Angst ist damit situativ, nicht aberrational. Und sie widerspricht der theologischen Tugend der Hoffnung – womitsie zudem sündhaft ist. So liegt die Vermutung nahe, dass der Mensch seine Seeleformt, indem er sich der Welt handelnd, wahrnehmend und spürend ein-schmiegt.

Das Verstörende dabei ist – und auch das legt der erste Gesang der Commedianahe –, wie wenig die Ratio diesen Prozess leiten kann. Der verirrte Danteschöpft zunächst neue Hoffnung im Anblick eines Hügels. Seine Hoffnung liegtnicht in einem rationalen Prinzip begründet, sondern im Aufstieg auf einenHügel, der ihm Überblick zu verschaffen verspricht. Aber drei Tiere stellen sichihm in den Weg: Ein Pardelluchs, ein Löwe und schließlich eine Wölfin. Umdiesen Vorgang zu verstehen, muss man ein bisschen ausholen. Dante ist eingelehrter Mann, und so scheint es ihm selbstverständlich zu sein, dass dieseTiere lesbar sind (zumindest die Wölfin deutet er lang und breit aus). DerForschung gemäß sollen die Tiere entsprechend die drei Todsünden (Wollust,Hochmut und Geiz) oder gar eine Art allegorische Dreifaltigkeit der Sünde21

bezeichnen. Solche Allegorien entsprechen der Tradition einer Psychomachie

20 Vgl. hierzu einmal mehr T. Klemm: Bildphysiologie, S. 1 – 11.21 Vgl. G. Gorni: Dante nella selva.

Dantes spiritus und die Wahrheit der Dichtung 155

(d. h. einem allegorischen ,Seelen-Kampf‘ der Tugenden und der Laster). Ihrgemäß müsste sich aber sowohl Dantes Angst durch die theologische Tugend derHoffnung und jede weitere Sünde ebenfalls durch eine ihr entgegengesetzteTugend besiegen lassen. Doch Dantes Aufnahme der Tradition ist gebrochen.Zunächst einmal betreten die Allegorien nicht die innerliche Bühne des See-lenkampfes, sondern werden draußen, in der faktischen Welt angetroffen. Auchgreifen sie nicht an, sondern stehen nur inhaltsschwer herum. Vor allem aber istder Ausgang des Seelenkampfes verkehrt. So unterliegt Dantes Hoffnung soforteiner nur angedrohten Gefahr ; schlimmer noch: die täuschende Schönheit desPardelluchses bemächtigt sich wider Dantes besseres Wissen seiner Gefühle.

Damit wiederholt sich das Problem der Angst im Wald: Die körperliche undemotionale Haltung schert sich offenbar nicht genügend um ein als theologi-scher Gehalt erschlossenes Wissen – und dieses Wissen reicht damit umgekehrtnicht hin, die körperlich-seelische Bewegtheit zu bestimmen. So scheint Danteseine Commedia mit einem ganz handfesten und einfachen Umstand einzulei-ten, der sich als ein solcher der mangelnden Kongruenz von vita contemplativaund vita activa benennen lässt: Über die Dinge Bescheid zu wissen, ist etwasanderes, als adäquat mit ihnen umzugehen. Eine lesbare Wahrheit der Weltreicht nicht hin, um die Menschen zu erlösen.

Vielleicht hilft der oben eingebrachte Begriff des Einübens und das Beispielder Übungsstunden eines Geigers weiter, um diesen Umstand zu verstehen:Gutes instrumentenkundliches und harmonietheoretisches Wissen lehrt nicht,Geige zu spielen. Warum sollte also ein theoretisches Wissen über die Sündehinreichen, um sündhaftes Fühlen und Handeln zu vermeiden? Der dunkle Waldoffenbart vor diesem Hintergrund ein weiteres Problem, nämlich dasjenige,körperlich einer gefallenen Welt ausgesetzt zu sein, mit einer Seele, die durchihre Verwachsenheit mit den sinnlichen – und das heißt : die Sinnlichkeiten derWelt in sich aufnehmenden und von ihnen geformten – spiritus gar nicht anderskann, als fühlend an dieser Welt teilzuhaben. Wie soll sie sich in einem Walddenn nicht fürchten, wie soll die täuschende Schönheit eines Pardelluchses denAugen denn nicht gefallen, wenn sie – anstatt rationale Beobachterin zu sein –zutiefst verfangen ist in den sinnlichen Funktionen des Körpers?

Nimmt man diese partizipative und enaktive (sich in den physiologischenFunktionen, im physischen Handeln und im psychischen Erleben ereignende)Dimension der Sünde ernst, dann wird es in einer gefallenen Welt fast unmög-lich, nicht zu sündigen. So wird Dante später den ambigen und (zumindestheute) sprichwörtlichen Satz äußern: „ne la chiesa / coi santi, e in taverna coighiottoni“22 mit dem er es rechtfertigt, täuschende Höllen-Dämonen ihrerseitszu täuschen und zu überlisten. Welche Herausforderung in diesem Satz steckt,

22 Inferno XXII, V. 14 f.

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lässt sich leicht nachvollziehen: Es genügt in vielen Fällen nicht, sich standhaftder Sünde zu verweigern. Teilweise erlaubt allein eine selbst sündhafte Haltunges, der schlimmeren Sünde zu entkommen. Das aber kann nur Teil der Pro-blembeschreibung einer gefallenen Welt sein, nicht eine Antwort auf sie.

III

Allein die Tatsache, dass mit Vergil ein Dichter Dante aus seinem Wald rettet, legtes nahe, zu vermuten, dass Dichtung besser geeignet ist, dem Problem deraffektiven Teilhabe an einer gefallenen und täuschenden Welt gerecht zu werden,als reine theologische Belehrung es wäre. Eine Unterscheidung zwischen theo-logischem und poetischem Umgang mit Wissen führte Dante bereits in seinemConvivio, seinem Gastmahl aus. In diesem Text verfolgt er zwei grundsätzlichverschiedene Diskurse: Liebesgedichte werden von einem langen theoretischenKommentar flankiert. Der Titel dieses Werkes ist sprechend, denn zu Essen gibtes zunächst einmal „lo pane delli angeli“,23 wie Dante es mit dem Psalm 77,24 – 5nennt, wo das biblische Manna als Himmelsbrot so bezeichnet wird. Gegessenwerden die Speisen des (göttlichen) Geistes. Das erinnert fast schon zu sehr ansAbendmahl und das Verspeisen des göttlichen Verbum. Doch hat dieses Brot derEngel offenbar einen Makel, denn Dante unterscheidet es bald darauf von der-jenigen Speise, die er eigentlich reichen möchte, nämlich seinen Kanzonen. DasBrot der Engel ist in seinem Text nur der theologische Kommentar – und denktman nun daran, was Engel von Menschen unterscheidet, dann kommt dies einerZuweisung der Text-Formen zu Seins-Formen gleich: Engel sind geistige Sub-stanzen, die – anders als der Erlöser – niemals Fleisch geworden sind.

Dante spricht für seinen eigenen Text von einem karitiativen Mitleid mit dentierisch-körperlichen Menschen („misericordia […] inver di quelli che in bes-tiale pastura veggiono erba e ghiande se[n] gire mangiando“)24 – wobei diesesMitleid dadurch begründet ist, dass er selbst Mensch ist und also einen ent-sprechenden Leib hat. Was später in seinem Purgatorio in der Amalgamierungder göttlich-unsterblichen Seele mit dem vegetativen und sinnlichen Leib phy-siologisch beschrieben wird, umreißt er hier entsprechend bereits poetologisch,indem er sich selbst als einen Kanzonen-Dichter darstellt, der das theologischeBrot der Engel in eine andere Speise mischt, die aus seinem eigenen fleischlichenLeben besteht.25 Damit vollzieht das Convivio gewissermaßen die Fleischwer-

23 Convivio, Buch I.1.7; alle Zitate nach Dante: Convivio, hg. Franca Brambilla Ageno, Firenze1995.

24 Ebd., Buch I.1.8.25 Ebd., Buch I.1.10.

Dantes spiritus und die Wahrheit der Dichtung 157

dung des Verbum im Rahmen des Verfassens von Texten nach: Was in anderen(theologischen) Werken als Brot der Engel allein dem menschlichen Geist zuessen gegeben würde, gewinnt durch die dichterischen Kanzonen eine leiblicheDimension und wird erst so dem ganzen Menschen (und der durch eineFleischwerdung erlösten Welt) gerecht. Die Annäherung eines lesend einge-nommenen Brotes an die Fleischwerdung verleiht dem Convivio eine eucha-ristische Dimension.

Dieser Gedanke lässt sich weiterführen. Auch in der Eucharistie verbirgt sichschließlich eine Unterscheidung zweier Formen der Wahrheit. Denn die Hostieist eben gerade nicht nur das Brot der Engel. Es ist ein heiliges Brot für dieMenschen, das durch die Fleischwerdung des Verbum erst möglich wurde und zuZeiten des biblischen Manna noch nicht möglich war. Die Eucharistie macht denspirituellen Leib Christi präsent – sie bedeutet ihn nicht nur. Die Hostie ein-zunehmen ist etwas anderes, als sie theologisch zu verstehen, und nicht dasVerstehen, sondern das Essen macht das Sakrament aus. Damit stehen sich zweiverschiedene Formen des Wort-Sinns gegenüber : Eine solche, die sich im Be-deuten und eine solche, die sich im Einverleiben ergibt – eine referentielle (derText referiert auf Welt und Wahrheit und im hermeneutischen Nachvollzugdieses Verweisens erkennt der Leser den Sinn des Textes) und eine partizipa-torische (der Leser nimmt den Text leiblich auf und hat in dieser unmittelbarenAufnahme, die den Vorgang des Deutens überspringt, an ihm teil).

Auch Dante spricht auf zwei verschiedene Weisen. Anders als in philoso-phischen Prosimetren wechseln sich metrisch gebundene Texte und Traktate imConvivio nicht einfach ab: Vielmehr kommentieren die Traktate (mit anderenWorten: das Brot der Engel) die Gedichte (mit anderen Worten: die eigentlicheSpeise dieses Gastmahls, das den Menschen verabreicht wird). Auch im Conviviosagen zudem beide Textformen dasselbe – bloß auf verschiedene Weise. Dietheologische Weise zielt auf eine geistigere Wahrheit, aber sie erreicht damit nurdie Engel (oder das, was am Menschen Engel ist).26 Die Dichtung indes wendetsich der ganzen, auch leiblichen, auch mit den Tieren geteilten Existenz desMenschen zu, die – wie man aufgrund der oben skizzierten Physiologie ver-muten kann – von der unsterblichen geistigen Seele nicht getrennt werden kann.So ergibt es überhaupt Sinn, warum Dante neben den Traktaten die Gedichteüberhaupt stehen lässt. Für ein rein konzeptuelles Verstehen hätten sie ja genügt.

Doch was hat es vor diesem Hintergrund zu besagen, dass Dante die Kan-zonen als ,allegorisch‘27 versteht? Eine Erklärung holt er in seiner Definition des

26 Entsprechend schreibt Dante auch in seinem Paradiso an der Stelle, da er dieselbe Wendungdes Brots der Engel noch einmal aufgreift (Paradiso, Gesang II, V. 1 f.), dass man davonhienieden nicht satt werde – und das obwohl man auch hier von ihm (und durch es) lebe.

27 Convivio, Buch I.1.18.

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allegorischen Sinns nach, die er zu Beginn des zweiten Teils seines Convivioplaziert. Dante rahmt diese Ausführungen als Gebrauchsanweisung zur Lektüreseines eigenen Texts – und nimmt die gerade besprochene Brot-Metaphorikwieder auf:

„[…] per� che pi� proficabile sia questo mio cibo, prima che vegna la prima vivandavoglio mostrare come mangiare si dee. Dico che, s� come nel primo capitolo � narrato,questa esposizione conviene essere litterale ed allegorica.“28

Den allegorischen Sinn bestimmt er nunmehr genauso doppelt wie die Speiseder Lektüre, insofern er eine theologische von einer dichterischen Allegorieunterscheidet. Der allegorische Sinn, so schreibt er in dem wohl meistzitiertenSatz des Werks, „si nasconde sotto ‘l manto di queste favole [also der fiktivenGeschichten], ed � una veritade ascosa sotto bella menzogna.“29

Dieser Satz erfordert eine genaue Beschäftigung. Dante setzt fiktive Ge-schichten mit der schönen Lüge gleich. Dennoch verbirgt sich unter ihnen eineallegorische Wahrheit. Das allein wäre nur insofern etwas Besonderes, als dieMetapher des integumentum, d. h. der unter dem Gewand der Lüge verhülltenWahrheit eines Textes,30 hier auch auf zeitgenössische, sogar eigene und nichtnur auf antike Dichter angewandt wird. Dass eine Deutung des integumentum imRahmen antiker Dichtung möglich ist, ergibt sich traditionell aus der Rück-bindung aller Wahrheit auf den Schöpfer. Denn schließlich haben die Dichterselbst in der Geschichte und damit in der Vorsehung gelebt und gewirkt, konntenalso von Gott auch ohne eigenes Wissen als Werkzeug seiner Offenbarung ge-nutzt werden. Die Wahrheit der Dichtung wird in solchen Fällen dem jeweiligenDichter selbst nicht bewusst und im Text entsprechend auch nicht expliziert. Sieist eine Selbstoffenbarung der Vorsehung, die, unabhängig von der Autorin-tention, durch den Text spricht. Entsprechend kann nur eine allegorische Deu-tung sie zutage befördern, die den Text mutwillig gegen den Strich zu lesenversteht.

Überträgt man diese Lehre auf eigene Dichtung, dann ist die Verhüllungmutwillig. Sie leitet sich dann nicht mehr aus der göttlichen Eingebung her, diein das Gewand der täuschenden Texte hineinfällt, sondern wird vielmehr zumaktiv und bewusst ausgeübten literarischen Handwerk gemacht. Das kann ver-wundern, denn so entfällt eigentlich die Legitimation des integumentum. Esfragt sich, warum diese Wahrheit überhaupt bekleidet und damit wohl eherentstellt als erschlossen, eher maskiert als bezeichnet werden soll. Nun ließe sichsagen, dass den Geschichten gewissermaßen die rhetorische Aufgabe des or-

28 Ebd., Buch II.1.1 – 2.29 Ebd., Buch II.1.3.30 Vgl. hierzu H. Brinkmann: „Verhüllung (,integumentum‘)“; B.K. Stengl: „Integumentum“.

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natus, des Schmucks der Rede zukäme. Doch das wäre eine sehr extreme Aus-legung dieses Schmucks: Schließlich wäre Dante zufolge ja der gesamte Text –und nicht nur einzelne Aspekte seiner Form – Schmuck einer Wahrheit, die vomText gar nicht expliziert würde. Auch könnte man behaupten, dass die direkteund unmittelbare Wahrheit zu didaktischen Zwecken manchmal ungeeignet sei;doch widerspricht auch hier die Bekleidungsmetapher der eigentlichen Aufgabeeiner solchen Didaktik – nämlich der Offenlegung der Wahrheit, d. h. ihrerEntkleidung von den täuschenden Gewändern einer gefallenen Welt. Im Ge-genteil würde sie den Zugang zur Wahrheit durch ihre Schönheit (bei der einunwissender Leser ja nur allzu leicht verharren wollen wird) nur verkompli-zieren.

Ich möchte einen anderen Weg beschreiten und behaupten, dass der Sinn derDichtung sich – wie Dante es sagt – auf andere Weise ergibt als derjenige derTheologen: Dass die Wahrheit bei den Dichtern einen anderen Aggregatzustandhat als bei den Theologen. Dabei geht es – so die These – um die Wahrheit derkörperlich fühlenden Seele der Leser, die sich im Akt des Lesens das Gewand derTexte anlegt. Diese meine Ansicht mag nun vollständig abwegig erscheinen,doch möchte ich versuchen, sie durch ein paar Beobachtungen zu plausibili-sieren. Zunächst ließ sich bereits beobachten, dass die unhintergehbare Wahr-heit einer auf ihren Schöpfer hin angelegten Welt, wie Dante es sagt, nicht nur imDeuten einholbar sein muss. Entsprechend ist sie im Convivio eine Wahrheit, dienicht vom Text hervorgebracht wird, sondern die ein Text nur ,bekleiden‘ kannund die von textueller Erstellung auch nicht abhängt. Dies erschließt sich umsobesser, wenn man nicht allein an die antiken Dichter und ihre Werke, sondernauch an die historia der Bibel denkt. Auch deren historischer Sinn lässt sich vonden Theologen schließlich allegorisch auslegen, da er Teil der göttlichen Vor-sehung und als solcher analogisch lesbar ist: So ist z. B. das Manna der Israeliteneine Präfiguration, die die Eucharistie bedeutet. Liest man diese historia als das,was sie für einen mittelalterlichen Theologen ist, nämlich als faktisches Ge-schehen, dann ergibt sich auch hier eine doppelte Form des Sinns. Dennschließlich war die theologische Ausdeutung ex post den Israeliten selbst beimManna-Mahl noch nicht zugänglich. Nicht in der Deutung erschloss sich ihnender Sinn und die Heiligkeit des Manna, sondern in der Teilhabe am göttlichenHeilsplan. Das Allegorische der historia liegt damit nicht allein in der Deutung,sondern auch in der handelnden und durchlebenden Partizipation an der Vor-sehung.

Dass diese partizipative Form des allegorischen Sinns im Mittelalter eineentscheidende Rolle spielte, belegen weniger die theologischen Texte (die diesenSinn in aller Regel selbst auslegen und damit in einen hermeneutischen Sinnverwandeln), sondern vielmehr die rituellen und liturgischen Praktiken, die alssolche ,sinnlos‘ wären, wenn man sie auf ihre symbolische Bedeutung und also

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eine theologische Auslegung reduzieren wollte. Das Abendmahl, dessen Hei-ligkeit sich nur in der Ausführung, nicht aber in der Deutung ergibt, habe ichoben schon erwähnt – und derselbe Umstand gilt natürlich für die anderenSakramente ebenfalls. Anschaulicher ist noch das Beispiel einer Pilgerfahrt nachJerusalem, weil sie sich leicht an das kanonische Lehrbeispiel des vierfachenSchriftsinns anschließen lässt; die rituelle Handlung einer Pilgerfahrt verschiebtdas texthermeneutische Modell lediglich in Richtung des physischen und par-tizipativen (nicht-hermeneutischen) Sinns. Historisch und faktisch wandert derPilger durch die physische Welt (gemäß dem vierfachen Schriftsinn wäre das dersensus historicus). Zugleich aber – und zwar wiederum nicht durchs Deuten,sondern durchs Wandern selbst – tut er mit seiner Fahrt der Ordnung der KircheChristi genüge, lässt die Pilgerfahrt zu einem Teil der Wanderung seiner Seele insHeil werden und ist damit spirituell unterwegs zum Himmlischen Jerusalem.Damit sind alle Ebenen des vierfachen Schriftsinns auch in einem faktischen undrituellen Handeln verwirklicht – nur ist der Sinn oder sensus dabei kein her-meneutischer. Das soll nicht heißen, dass man die Pilgerfahrt nicht entspre-chend deuten, den körperlichen Sinn nicht als Verweis und Signifikation auf-fassen, ihn nicht deuten könnte oder sollte. Es soll bloß besagen, dass diesesDeuten-Können nicht heißt, dass der Vorgang seinen Sinn damit schon aus-schließlich im Deuten und Bedeuten finden würde. Vielmehr stehen körperlich-partizipativer und hermeneutischer Sinn als zwei verschiedene Aggregatzu-stände desselben gegenüber. Und dabei ist der partizipative Sinn für das See-lenheil der entscheidende: Nicht das Ausdeuten einer Pilgerfahrt, sondern ihrVollzug macht sie heilig und damit überhaupt erst sinnvoll. Auch die Commediabeschreibt eine Reise ins Jenseits, die eine solche Pilgerfahrt gewissermaßenhistorisiert; und im Convivio scheint Dante die Vollzugs-Dimension derWahrheit auch im Auge zu haben, wenn er von der Allegorie der Dichter spricht.Er fährt das oben begonnene Zitat zur mit dem Gewand der schönen Lügebekleideten Wahrheit mit einem Beispiel fort. Mit dem Lügengewand und demallegorischen Sinn der Dichter verhält es sich:

„[…] s� come quando dice Ovidio che Orfeo facea con la cetera mansuete e le fiere, e liarbori e le pietre a se muovere; che vuol dire che lo savio uomo con lo strumento de lasua voce faria mansuescere e umiliare li crudeli cuori, e faria muovere a la sua vo-luntade coloro che non hanno vita, di scienze e d’arte: coloro che non hanno vitaragionevole sono quasi come pietre. […] Veramente li teologi questo senso prendonoaltrimenti che li poeti.“31

Wie man Ovid auslegen und moralisieren kann, wird hier klar. Das ist die Art,wie Theologen Texte lesen. Was aber tun die Dichter? Offenbar genau das, wovon

31 Convivio, Buch II.1.4 – 5.

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diese Theologen sprechen; denn Dante wählt als Beispiel ja eine Allegorie, dieselbst von der Dichtung handelt – und sie besagt nach seiner eigenen Lesart: dieDichter bewegen gemäß des Wissens und der Kunst. Mit anderen Worten: siesagen nicht die Wahrheit, sie bewegen in Einklang mit der Wahrheit.

Die Forschung zu dieser Passage hat bislang nicht den Versuch unternom-men, den Sinn der Dichter-Allegorie im Bewegen selbst zu suchen. Stattdessengeht man erstaunlich einhellig davon aus, dass nicht nur die Theologen, sondernauch die Dichter es in der Allegorese auf einen hermeneutisch zu erschließendenWahrheitsgehalt und eine zweite Verweisebene neben der literalen angelegthaben, ihn bloß verschieden allegorisieren würden:32 Dante unterscheide, so derKonsens in ansonsten völlig konträren Lesarten, zwei Textsorten: eine fiktionale(dichterische) und eine nicht-fiktionale (theologische). Wie gesagt ist derKonsens an dieser Stelle auch schon beendet; es besteht kaum Einigkeit darüber,worin die Fiktion der Dichter-Allegorie genau liege und inwiefern sie sich vonder Theologen-Allegorie unterscheide. Schließlich fragt sich, wenn man dieserLesart folgt, inwiefern der orphische Gesang eigentlich Fiktion sei. Fiktionalitätist ohne Aussage nicht denkbar – und von dem, was Orpheus sagt, spricht Dantenicht. Er spricht stattdessen von etwas, das mit Fiktionalität zunächst nichts zutun hat: vom movere. Er wählt ein Beispiel, in dem Orpheus Unbeseeltes (Steine),vegetativ Beseeltes (Bäume) und sensitiv Beseeltes (Tiere) gemäß seiner Dich-tung bewegt, und er deutet diese Stelle so, dass sie besagt, wie der DichterMenschen ohne Vernunft – mit anderen Worten: ihrerseits vegetativ und sen-sitiv beseelte Wesen – bewegt.

Wenn es darum geht, geistlose Menschen zu erreichen, kann das moverenichts hermeneutisches sein. Mit anderen Worten: der Sinn der Allegorie derDichtung kann sich nicht in Form einer übertragenen Bedeutung ereignen,sondern nur als unmittelbarer sinnlicher Effekt. Dante sagt das eigentlich auchrecht klar. Um es noch einmal zu zitieren: „veramente li teologi questo senso[allegorico] prendono altrimenti che li poeti“ (meine Hervorhebung); es gehtalso nicht darum, dass sie andere (nämlich fiktionale) Wege gehen, um Alle-gorien zu entwerfen, sondern dass sie den Sinn derselben Allegorien anders –und wir können nun ergänzen: in Form eines sinnlichen sensus – zu erfassen.

Damit setzen sich die gängigen Lesarten m. E. dem Verdacht aus, dass sie ander Frage vorbeilaufen, die Dante zu beantworten suchte. Sie widmen sich zwarunterschiedlichen Formen, Allegorien zu verfassen – aber als Sinn lassen sie nurden hermeneutischen gelten, den Dante m. E. allein den Theologen zuschreibt.Dante selbst widmet sich der Allegorie stattdessen, indem er sie als eine ArtKippfigur zwischen (theologischem und nur die Vernunft betreffendem) Be-

32 Vgl. etwa C.S. Singleton: „Dante’s Allegory“, A. P. Lanapoppi: „Allegoria“, oder A. Kablitz:Die Kunst des Möglichen, S. 229 – 247.

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deuten und (dichterischem, alle menschlichen Seelenfunktionen würdigenden)Bewegen beschreibt, zwischen Sinn als Effekt der Signifikation und Sinn alsverkörperte Sinnlichkeit.

Diese Kippfigur lässt sich m. E. nur dann nachvollziehen, wenn man auch demLesen jene enaktive und partizipative Form des Sinns zugesteht, die ich oben denrituellen Handlungen von Eucharistie und Pilgerfahrt habe zukommen lassen,d. h. wenn man den sensus auch als sinnlichen Sinn oder als Gerichtetheit ineiner (körperlichen) Bewegung versteht, wie diejenige, die Orpheus bewirkt.Oder, in Dantes metaphorischen Worten, wenn man an einem Text nicht alleindas Brot der Engel zu essen trachtet, sondern auch die körperliche Speise zu sichnehmen möchte. Dantes Passage zu Orpheus ist hier eigentlich sehr klar. Or-pheus bewegt gemäß seiner selbst (muove a se) die wilden Tiere, Bäume undSteine, und so bewegt auch der Weise (der offenbar selbstverständlich einDichter und kein Theologe ist) mit seiner Stimme die Tumben und intellektuellLeblosen. Der Unterschied lässt sich auch in zeitgenössischen rhetorischenBegriffen fassen. Während die Theologen, einer zeitgenössisch-ciceroniani-schen Rhetoriklehre gemäß, dem docere eines Textes nachgehen, setzen dieDichter damit auf das movere. Theologie lehrt. Dichtung bewegt. Damit tritt nurden Theologen die Wahrheit im Aggregatzustand eines verborgenen Gehalts derDichtung entgegen. Dem Dichter erscheint sie stattdessen im Aggregatzustandaffektiver Teilhabe: sie erscheint als eine Art zu bewegen und bewegt zu werden.

Vor diesem Hintergrund löst sich m. E. auch der oben liegen gelassene Knoteneines dichterischen Textes, der nur Gewand der Wahrheit ist. Achtet man – imSinne der Hermeneutik der Theologen – auf den Gehalt des historischen Sinnseiner Geschichte, dann haben wir es bei dem Orpheus-Mythos leicht mit bloßen,schönen Lügen‘ zu tun, hinter denen sich eine zweite, allegorische Referenz-ebene auftut, die auf eine Wahrheit Bezug nimmt. Doch bezeichnenderweisespielt für die Wahrheit, die Orpheus und also ein Dichter erreicht, gar keine Rolle,was er sagt, sondern nur, wie er bewegt – was so viel heißt wie dass die Frage nachdem Gehalt für die Frage nach der Wahrheit der Dichtung unangemessen ist. DasGewand, das der Text ist, verhüllt nur für die Theologen einen Wahrheits-Gehalt,für die Dichter indes schmiegt es sich an die konkreten Körper der Leser an,bewegt sich mit ihnen und leitet sie zur Bewegung an. Und diese Bewegtheit istder Austragungsort der ,gehaltlosen‘ Wahrheit der Dichtung.

Dantes spiritus und die Wahrheit der Dichtung 163

IV

Doch kann das movere dann überhaupt einen Wahrheitswert haben, wenn eskeinen inhaltlichen Gehalt hat? Diese Frage führt zurück zur Commedia. Dennvor dem Hintergrund einer maßgeblich im Affektiven liegenden Sünd- undTugendhaftigkeit ist die Dichtung nicht einfach der theologischen Wahrheits-rede unterlegen. Im Gegenteil macht das ,movere‘ sie sogar moralisch umsorelevanter. Dantes Seelenlehre erfordert es schließlich, dass die Wahrheit auchaffektiv bewegen und nicht nur belehren können muss: Wird Dichtung nur denTheologen gemäß in einer Freilegung ihres bedeuteten Gehalts, den Dichterngemäß aber in der affektiven Bewegtheit verstanden, dann setzt sie auch dort ein,wo besseres Wissen nicht hilft, dort, wo der theologisch deutende Dante nichtaus dem Wald findet und zur Befreiung stattdessen einen antiken Dichter be-nötigt.

Welche Wahrheit ist von einem Dichter – zumal von einem antiken Dichter –zu erwarten? Wenn gemäß der integumentum-Lehre die Wahrheit von derdichterischen Lüge nicht tangiert wird und stattdessen unabhängig von derIntention des Dichters durch den Text hindurch spricht, können Dichter imPrinzip sagen, was sie wollen – es wird in letzter Konsequenz immer schondeshalb eine tiefere ,Wahrheit‘ in sich bergen, weil sie innerhalb der Vorsehungsprechen, die sich ihrer bedient. Von der Seite der Dichter und also des movereher gesehen, gilt etwas Ähnliches. Hier wird eine Bewegung insofern wahr sein,als auch sie sich in der Vorsehung ereignet und damit Teil der Vorsehung ist.

Einer solchen Wahrheit ist in einer mittelalterlichen Welt aber ohnehin nichtzu entkommen – und sie scheint daher auch keiner Dichtung zu bedürfen.Schlimmer noch: Der Wahrheitsstatus literarischer Texte würde sich, wenn dasalles wäre, allein durch die sinnliche Schönheit von demjenigen der sonstigen(gefallenen) Welt unterscheiden – und wie gefährlich diese Schönheit ist, zeigtDante an der oben besprochenen, verführerischen Schönheit des Pardelluchses.Schönheit allein kann es nicht sein, was ein sacro poema heilig macht. Allerdingskönnen Dichter die Affekte auf viele verschiedene und nicht immer nur tu-gendhafte Weise bewegen – und damit auf sehr viele verschiedene Weise zumTeil der Vorsehung und ihrer Wahrheit werden. Damit, so lässt sich wiederumunter Rückgriff auf Dantes Orpheus-Beispiel sagen – zählt für die Dichtung nichtdas Was des Besagten, sondern das Wie des Bewegens. Das eröffnet eine ganzandere Frage nach der Wahrheit der Dichtung – und ihrem Gegenteil, derTäuschung. Denn auch diese kann dann nicht mehr eine Täuschung über Inhaltesein, sondern ist eine Form des falschen – des sündhaften – movere.

Diesem Problem widmet Dante sich gleich zu Beginn der Commedia, als der

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Jenseitswanderer auf das erste Sünderpaar trifft :33 Paolo und Francesca verbü-ßen auf ewige Zeit ihre Wollust, zu der sie von der schönen Lüge eines Ritter-romans verführt wurden. Der Prosa-Lancelot war ihr Kuppler oder Galeotto –und das obwohl dies ein Text ist, dessen dichterische Lüge sicherlich keinerleiTäuschungsabsicht hat: Der Prosa-Lancelot ist ein Text, der seine Fiktionalitätostentativ hervorhebt und kein Missverständnis darüber aufkommen lässt, dassseine Handlung vollständig erfunden ist. Rhetorisch formuliert: Angelegt istdieser Text allein auf das delectare – den Genuss der Dichtung; er macht keinenHehl daraus, dass er keine referentielle Wahrheit hat – bzw. dass sie, wenn schon,in einen sehr dicken und vollständig opaken Mantel der schönen Lügen einge-hüllt ist.

Paolo und Francesca scheinen das genau auf diese Weise zu verstehen. Sielesen „per diletto“34, mit anderen Worten: um der delectatio willen. Mit dieserLesehaltung wähnen sie sich in Sicherheit und lesen – wie Dante mit einem Reimauf den rhetorisch-literarischen „diletto“ herauskehrt – „senza sospetto.“35 DerText, so glauben sie offenbar, kann ihnen bei einer solchen Lektürehaltung keinefalsche Wahrheit weismachen. Doch eine solche Haltung vergisst die Macht desdichterischen movere: die Macht, mit der Orpheus wilde Tiere, Wald und Steinebewegt. Der Roman bewegt sie damit wider besseres Wissen, er lässt das Le-serpaar physisch erbleichen, erotische Blicke wechseln, zittern und sich küssen.Die Partizipation und Enaktion steht hier im Zeichen der Wahrheit einer Vor-sehung, die Paolo und Francesca ins Verderben schickt. Sie werden vom eifer-süchtigen Ehemann ermordet und als Wollüstige in die Hölle verbannt. Dasmovere war durch das delectare nicht unschädlich zu machen, der ,Fiktionspakt‘schützte nicht vor der Sündhaftigkeit der emotionalen Teilhabe.

An dieser Stelle möchte ich noch einmal an den 25. Gesang des Purgatorio undseine ästhetisch-affektive Seelenlehre erinnern, denn sie hat auch für die Frageder dichterischen Fiktion eine ungewöhnliche Konsequenz. Um seine Betrach-tungen einzuleiten, stellt Statius klar, dass man aus dem Fehlen eines Sinnes-organs für den universelle Ideen erfassenden Intellekt (possibile intelletto) nichtauf dessen Unabhängigkeit von der (im Menschen verkörperten) Seele schließenkönne. Auch ohne ein eigenes körperliches Organ haben Intellekt und Sprachean der Körperlichkeit teil :

„Ma come d’animal divegna fante,non vedi tu ancor : quest’� tal punto,che pi� savio di te f� gi� errante,

33 Zu einer ausführlicheren Diskussion der Fiktionalitätsproblematik dieser Passage vgl. vomAutor : „Die Kunst, Novellen in die Welt zu setzen (Boccaccio – Chaucer)“.

34 Inferno, Gesang V, V. 127.35 Ebd., V. 129.

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s� che per sua dottrina f� disgiuntoda l’anima il possibile intelletto,perch� da lui non vide organo assunto.“36

Der „possibile intelletto“ ist sprachlich; er ist dies, insofern er – wie die Spracheselbst – Dinge betreffen und entwerfen kann, die nicht in der sinnlichen Ge-genwart vorzufinden sind. Wichtiger ist aber noch die dem widersprechendeVerortung dieses Möglichkeits-Intellekts im faktischen und also nicht bloß po-tentiellen, sondern auch aktuellen Körper. Ist das, worüber dieser Intellektnachdenkt, zwar jenseits des faktisch Körperlichen angesiedelt, so ist dasDenken selbst doch trotzdem mit einer verkörperten Seele verbunden. Eineganzheitliche Seele – und hier liegt die Krux der Opposition von „possibileintelletto“ und Affektivität für die Frage nach der dichterischen Fiktion – kannnicht vollständig im Konjunktiv des bloß Möglichen weilen. Zumindest bewegtist sie in actu (auch das bedeutet das Wort enaktiv). So sehr die Liebe vonLancelot und Guinivere auch nichts als eine schöne Lüge ist, deren Schönheiteine konjunktivische delectatio entfalten kann, so wenig kennt das movere einensolchen Konjunktiv. Paolo und Francesca sind ganz faktisch aufgewühlt. Dasästhetische Erleben ist damit für Dante weder interesselos noch selbstreferentiell– und vor allem nicht unschuldig. Diejenige Wahrheit, die sich als leiblicheTeilhabe entfaltet – die Wahrheit der Dichtung – wird der Seele auch dann nochzum Problem, wenn die referentielle Form der Bezugnahme auf die Wahrheit auffür jedermann einsichtige Weise unterbunden ist. Literarisches Mit-Fühlen wirdzum Problem der vermeintlichen ästhetischen Konsequenzlosigkeit fiktionalerTexte.

Dieses Problem ergreift auch den Zuhörer der Geschichte: Dante, der Jen-seitswanderer, der in Francescas Rede keine delectatio sucht, sondern von ihrbelehrt werden will über ihre Geschichte und über das Wesen ihrer Sünde: was ersucht, ist also ein docere. Aber auch eine solche Haltung vermag es nicht, sich dasmovere zu unterwerfen. Sie ist ebenso blind für die Macht des movere wie die aufsdelectare gerichtete Lektüre. Hier entpuppt sich die Kehrseite jener bewegendenmisericordia, in deren Zeichen Dante sein Convivio gestellt hatte; mitfühlenkann man schließlich auch im Schlechten. So geht Dante in dieselbe Falle wie dieLiebenden: Francesca lobt ihn für seine „piet�“37, also für sein Mitgefühl mit dertäuschenden Schönheit der Sünde, die jede durch sie verkleidete Wahrheit inVergessenheit geraten lässt. Von „pietade“38, hingerissen bricht Dantes Leib wietot zusammen. Wäre er tatsächlich gestorben, dann hätte seine Seele ihren Platzunter den Sündern der luxuria bereits gefunden.

36 Purgatorio Gesang XXV, V. 61 – 66.37 Inferno Gesang V, V. 93.38 Ebd., V. 140.

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Aber was geschieht nun mit Dantes Lesern – zumal dann, wenn auch sie vonFrancescas Rhetorik bewegt worden sind? Implizit gibt Francesca hierauf eineAntwort. Sie beendet ihre Erzählung mit dem Satz „Quel giorno pi� non vileggemmo avante“39, was nicht nur den Liebesakt so elegant der bereits he-raufbeschworenen Bewegtheit der Leserimaginationen überlässt, sondern auchklar besagt: Lest weiter, sonst geht es euch so wie uns. Tatsächlich endet dieLancelot-Liebe schlecht – sollte eine Wahrheit in der Emotionalität des Prosa-Lancelot liegen, dann kommt sie zeitlich verspätet; gerade so wie man mit Dantedurch die gesamte täuschende Hölle gehen muss, bis dass sich der Schleier derSündenerzählungen zu lüften beginnt.

V

Damit zurück zur eingangs aufgeworfenen Frage nach dem literarischen Statusder Commedia. Wie bereits eingangs erwähnt, weist Dante in einem Brief anCangrande della Scala seine Leser an, die Commedia allegorisch aufzufassen –und zwar auf eine Weise, die er mit derjenigen vergleicht, wie die Heilige Schriftzu lesen sei. Der Unterschied zwischen Bibel und Commedia ist allerdings ma-nifest, denn der Literalsinn der Sacra Scriptura ist ein historischer Sinn – der-jenige des Sacro Poema stattdessen ein jenseitiger („wörtlich genommen derZustand der Seelen nach ihrem Tod“, wie Dante es selbst sagt),40 über dessenhistorische Faktizität zumindest Zweifel bestehen kann: Sollte die Commedia fürsich nämlich in Anspruch nehmen, mit der Jenseitsreise ihres Autors eine his-torische Wahrheit zu erzählen, dann würde das eine Anmaßung bedeuten, diealle eingangs beschriebenen noch in den Schatten stellte: Dante würde seinereigenen Tat eine Christi Menschwerdung beantwortende, vielleicht sogar über-treffende Bedeutung zuzuschreiben.

Angesichts der vielen Eigenwilligkeiten der Commedia wäre eine solcheLesart durchaus möglich (sie würde die anderen Anmaßungen sogar legiti-mieren), aber sie wirft auch viele Fragen auf, denn sie würde besagen, dass Danteseinen Text ohne dichterische Erfindungskraft geschrieben hätte, dass er seineReise nicht einmal für eine Vision, sondern sogar für eine persönliche Erinne-rung gehalten habe. Nicht, dass dies unmöglich wäre, doch darf nicht vergessenwerden, dass Dante in dem Cangrande-Brief von einem sensus litteralis undnicht von einem sensus historicus spricht und dass er sein Werk Heiliges Eposund nicht Heilige Schrift nennt. So scheint mir auch die erste Begegnung mit der

39 Ebd., V. 138.40 „[…] litteraliter tantum accepti status animarum post mortem“ (Dante: Epistola ad Can

Grande della Scala § 8, S. 174).

Dantes spiritus und die Wahrheit der Dichtung 167

Seele eines Verstorbenen – diejenige mit Vergil und also einem Ependichter – alseine Art Dichtungs-Signal aufzufassen zu sein.

Was aber wird unter diesen Maßgaben aus dem allegorischen Sinn? Nach Arteines Theologen deutet Dante in dem Cangrande-Brief seinen Text selbst undmacht darin den Menschen selbst zum Gegenstand, der aufgrund des Werksseines freien Willens gerechtermaßen belohnt oder bestraft wird („Si vero ac-cipiatur opus allegorice, subiectum est homo […] per arbitrii libertatem iustitiepremiandi et puniendi obnoxius est“).41 Der allegorische Sinn betrifft – imGegensatz zum Literalsinn – auch das Diesseits, genauerhin: er betrifft die obenverhandelte Frage nach der Sündhaftigkeit des Menschen und deren Folgen.Liest man diesen allegorischen Sinn nach dem Modus der Dichter und also alsFrage der spezifischen Bewegtheit der Leser, dann ist dieser Sinn genau derje-nige, der sich auch bei Paolo und Francesca antreffen ließ.

Was ich zur allegorischen Lesart der Commedia vorschlagen möchte, istdaher, dass Dante als Dichter die täuschenden Gewänder, die die gefallenen Weltselbst der Wahrheit angelegt hat, kunstvoll durch solche zu ersetzen sucht, dieder theologischen Wahrheit besser entsprechen. Die Lüge seiner Dichtung istzwar immens – und sie wäre in etwa diejenige, die auch Singleton annahm. Abersie betrifft nur den Literalsinn des Textes, nicht aber das movere, das sichstattdessen als eine Bewegtheit in der Wahrheit verstünde (worin sich Dantesmovere von dem des Prosa-Lancelot fundamental unterschiede). Die Dichtung,so wäre mein Versuch einer Antwort auf Dantes Anmaßungen, emanzipiert sichauf äußerst selbstbewusste Weise von der Anbindung des Literalsinns an diehistorische Wirklichkeit, um das movere mit einer höheren Wahrheit zu verei-nen. Indem die Commedia sich über die historische Form der Wahrheit erhebt,vereinigt sie stattdessen in sich die affektive Seite des Textes mit der moralischen(und auch anagogischen) Wahrheit. Der Text schmiegt sich einer lebendig-be-wegten göttlichen Ordnung an, bringt sie auch dort zutage, macht sie auch dortsinnlich bewegend, wo die gefallene Welt sie verstellt. Dante versucht in seinemeigenen movere, so wäre mein Vorschlag, teilzuhaben an der Bewegtheit jenes„Amor che move ’l sol e tutte le altre stelle“,42 den der letzte Vers der Commediabeschwört.

41 Ebd.42 Paradiso Gesang XXXIII, V. 145, meine Hervorhebung.

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