Cosmology and ideology: the theory of the expanding universe in the public sphere (1922-1992)....

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1 Kosmologie und Ideologie: Die Theorie des sich ausdehnenden Weltalls im öffentlichen Raum (1922-1992) von Mauro Stenico (Trient-Frankfurt am Main) Erster Betreuer: Prof. Renato G. Mazzolini Zweiter Betreuer: Prof. Andreas Fahrmeir 1. Einführung Wenn man eine Dissertation über eine kosmologische Theorie im Rahmen eines Doktorats im Bereich der politischen Kommunikation vorschlägt, fragt man sich natürlich, welche die Verhältnisse zwischen der modernen Kosmologie und der Politik sind. Schwierig ist es, direkte Verhältnisse schon am Anfang zu bemerken. Eine kritische und historische Analyse kann aber beweisen, dass die öffentliche Diskussion eines kosmologischen Modells manchmal auch Politik und Ideologien involvieren kann. In diesem Fall hat der Wissenschaftshistoriker mit einer Pluralität von Kommunikationsebenen zu tun: Instrumentalkommunikation, d.h. die Erweiterung der Beschränkungen der menschlichen Wahrnehmung mit Instrumenten wie Fernröhre und Satelliten. Schon am Anfang konnte die moderne Kosmologie sich auf empirischen Daten basieren, welche die Astronomen nur mit der Hilfe von Instrumenten gewinnen konnten. Ohne solche Daten wären vielleicht kosmologische Theorien wie die des Urknalls nie geboren worden. Fachkommunikation. Oberflächlich würde es scheinen, spielen hier Ideologien und Politik keine Rolle: Man studiert die Naturgesetze, benutzt mathematische Gleichungen usw. Auch die Benutzung einer Formel kann aber philosophisch orientiert werden, wie z.B. bei der Frage: Gelten die mathematischen Gleichungen der Relativität nur für den beobachtbaren Teil der Welt oder für die Welt als Ganzes? Selten passiert es, dass innerhalb der Fachkommunikation ein Wissenschaftler den Einfluss von einer Ideologie explizit macht. Interesse eines Wissenschaftshistorikers ist aber, die gesellschaftliche und politische Situation zu studieren, aus der eine gewisse Theorie stammt. Das kann die indirekten Verhältnisse zwischen Gesellschaft, Politik und Wissenschaft klären. Öffentliche Kommunikation. Wenn die Wissenschaftler ihre Theorien der Öffentlichkeit zugänglich machen möchten, dann benutzen sie eine andere Sprache als die, die sie mit ihren Kollegen benutzen. So gibt es in der wissenschaftlichen Divulgation z.B. weniger Platz für mathematische Gleichungen und mehr für die Terminologie des alltäglichen Lebens. Im Prozeß der Popularisierung können die wissenschaftlichen Fragen mit persönlichen oder gesellschaftlichen Weltanschauungen in Kontakt treten.

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Kosmologie und Ideologie: Die Theorie des sich ausdehnenden Weltalls im öffentlichen Raum (1922-1992)

von Mauro Stenico (Trient-Frankfurt am Main) Erster Betreuer: Prof. Renato G. Mazzolini Zweiter Betreuer: Prof. Andreas Fahrmeir

1. Einführung Wenn man eine Dissertation über eine kosmologische Theorie im Rahmen eines Doktorats

im Bereich der politischen Kommunikation vorschlägt, fragt man sich natürlich, welche die

Verhältnisse zwischen der modernen Kosmologie und der Politik sind. Schwierig ist es, direkte

Verhältnisse schon am Anfang zu bemerken. Eine kritische und historische Analyse kann aber

beweisen, dass die öffentliche Diskussion eines kosmologischen Modells manchmal auch Politik

und Ideologien involvieren kann. In diesem Fall hat der Wissenschaftshistoriker mit einer Pluralität

von Kommunikationsebenen zu tun:

Instrumentalkommunikation, d.h. die Erweiterung der Beschränkungen der menschlichen

Wahrnehmung mit Instrumenten wie Fernröhre und Satelliten. Schon am Anfang konnte die

moderne Kosmologie sich auf empirischen Daten basieren, welche die Astronomen nur mit

der Hilfe von Instrumenten gewinnen konnten. Ohne solche Daten wären vielleicht

kosmologische Theorien wie die des Urknalls nie geboren worden.

Fachkommunikation. Oberflächlich würde es scheinen, spielen hier Ideologien und Politik

keine Rolle: Man studiert die Naturgesetze, benutzt mathematische Gleichungen usw. Auch

die Benutzung einer Formel kann aber philosophisch orientiert werden, wie z.B. bei der

Frage: Gelten die mathematischen Gleichungen der Relativität nur für den beobachtbaren

Teil der Welt oder für die Welt als Ganzes? Selten passiert es, dass innerhalb der

Fachkommunikation ein Wissenschaftler den Einfluss von einer Ideologie explizit macht.

Interesse eines Wissenschaftshistorikers ist aber, die gesellschaftliche und politische

Situation zu studieren, aus der eine gewisse Theorie stammt. Das kann die indirekten

Verhältnisse zwischen Gesellschaft, Politik und Wissenschaft klären.

Öffentliche Kommunikation. Wenn die Wissenschaftler ihre Theorien der Öffentlichkeit

zugänglich machen möchten, dann benutzen sie eine andere Sprache als die, die sie mit

ihren Kollegen benutzen. So gibt es in der wissenschaftlichen Divulgation z.B. weniger

Platz für mathematische Gleichungen und mehr für die Terminologie des alltäglichen

Lebens. Im Prozeß der Popularisierung können die wissenschaftlichen Fragen mit

persönlichen oder gesellschaftlichen Weltanschauungen in Kontakt treten.

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Religiöse Kommunikation. Eine Naturwissenschaft wie die Astronomie bleibt den

existentiellen Fragen des Menschen gegenüber nicht indifferent: Woher kommt die Welt?

Gibt es eine göttliche Vorsehung, die die Evolution der Welt überwacht?

Politische Kommunikation, die Ebene der Doktrinen, der Ideen und der politischen

Ideologien. Wenn wissenschaftliche Theorien vorgeschlagen werden, die Einfluss auf das

politische Glauben des Individuums oder der Gesellschaft haben können, dann kann eine

Regierung Interesse haben, ihre Meinung dazu auszudrücken. Im Fall der Sowjetunion und

der Deutschen Demokratischen Republik ist es klar, welches Interesse die kommunistische

Partei hatte, jeden astronomischen Bezug auf die Doktrin des creatio ex nihilo zu

vermeiden: Der dialektische Materialismus war nur mit kosmologischen Modellen

vereinbar, die die These der Ewigkeit der Materie unterstützten. Weniger ersichtlich – aber

nicht abwesend – war den Einfluss des Antijudaismus über manche deutschen

Wissenschaftler der Weimarer Republik und des Dritten Reiches. Diese Autoren nannten

sich selbst Retter der „germanischen Wissenschaft“ und Feinde der „jüdischen Physik“.

Auf den Basen dieses Schemas präsentiert meine Dissertation einige case studies über die

Wechselwirkung zwischen moderner Kosmologie und Politik. Im Bezug auf die Internationalität

des Internationalen Graduiertenkollegs beschäftigt sich meine Arbeit auch mit einem italienischen

(Vatikan) und einem deutschen Fall (DDR).

2. Die Kosmologie im 20. Jahrhundert und die Theorie des sich ausdehnenden

Weltalls Der Ausdruck Big Bang, heute als Bezeichnung einer vorherrschenden kosmologischen

Theorie bekannt, wurde im Jahr 1949 von Fred Hoyle (1915-2001) während einer

Rundfunksendung des BBC eingeführt1. Am Anfang war diese Theorie einfach als „Hypothese der

Expansion des Weltalls“ bekannt. Fundament der Hypothese war die allgemeine Relativität (1915-

1916) von Albert Einstein (1879-1955). In seinen Kosmologischen Betrachtungen2 benutzte

Einstein die relativistischen Gleichungen, um ein Modell des Kosmos als Ganzes auszuarbeiten:

Das Modell einer endlichen, sphärischen, homogenen und isotropischen Welt. Das war die Geburt

der relativistischen Kosmologie. Die relativistischen Gleichungen repräsentierten das

mathematische Instrument, mit dem der sowjetische Mathematiker Aleksandr A. Friedmann (1888-

1925) und der belgische katholische Priester und Physiker Georges E. H. J. Lemaître (1894-1966)

1 Fred Hoyle, The nature of the universe. A series of broadcast lectures, Oxford, Basil Blackweel, 1950. 2 Albert Einstein, Kosmologische Betrachtungen zur allgemeinen Relativitätstheorie, «Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Berlin)», 1917: 142-152.

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die ersten Modelle eines dynamischen Kosmos ausarbeiteten3. Mit seiner Analyse konnte Lemaître

auch die wichtigsten und neuesten Daten der Astrophysik seiner Zeit erklären: Die

Rotverschiebungen des Lichtes der Galaxien (redshifts4). Seiner Meinung nach, war die

Rotverschiebung der Galaxien eine Erscheinung der Ausdehnung des Kosmos. Anfang der

Sechziger Jahre wurde die Theorie des Urknalls noch als Hypothese betrachtet. 1964 entdeckten

aber Arno Penzias (1933-) und Robert W. Wilson (1936-) die kosmische Hintergrundstrahlung

(cosmic microwave background radiation), heute als die Spur der ersten Lebensphasen des Weltalls

interpretiert. Im Bereich der Theorie des Urknalls war sie seit vielen Jahren vorgesehen worden.

1992 entdeckte der COBE Satellit die Anisotropien (d.h. Unregelmäßigkeiten in der Dichte der

Materie), die den Ursprung der Galaxien im Bereich der Theorie des Urknalls erklären konnten.

3. Die Polemik gegen die Relativität und die relativistische Kosmologie in der

Weimarer Republik und im Dritten Reich (1918-1945) Seit den Zwanziger Jahren entschied sich ein Teil der deutschen Wissenschaftsgemeinschaft,

gegen die relativistische Naturauffassung als Erscheinungsform des „jüdischen Geistes“ zu

widersetzen. Aufgrund der „Dolchstoßlegende“ war der Antijudaismus in der Weimarer Republik

schon am Anfang verbreitet. Manche Autoren waren der Meinung, das nationalistische Gefühl

nutzen zu können, um mehr Erfolg für ihre Polemik gegen die „jüdische Wissenschaft“ zu

gewinnen. Nach ihnen hätte ein großes inneres Komplott das Kaiserreich zum Untergang geführt.

Für die „germanische Physik“ war es aber noch nicht zu spät: Man musste sie retten. Die

Veröffentlichungen einiger Wissenschaftler hatten also auch politische Ziele, d.h. den Einfluss der

Juden auf die Wissenschaft zu entlarven und den jüdischen Plan für die Eroberung der Weltmacht

offenzulegen5. Die Werke eines Autors wie Theodor E. Fritsch (1852-1933) sind ein repräsentatives

Beispiel der nationalistischen Frustration jener Zeit. Seiner Meinung nach fühlten sich die Juden

berechtigt, alle Mittel zu benutzen, um die Goyim (die Nicht-Juden) zu versklaven. Wissenschaft,

Öffentlichkeit, Verkehr, Politik, Theater und Kultur liegen in ihren Händen6. Die klarste

Erscheinung des „jüdischen Geistes“ in der Naturwissenschaft war die Relativität des Juden

Einstein, eine Theorie, welche die klassische Naturauffassung umstürzte. Anfang des 20.

Jahrhunderts bezog sich noch das offizielle kosmologische Modell auf eine unendliche, ewige,

3 Aleksandr A. Friedmann, Über die Krümmung des Raumes, «Zeitschrift für Physik», X (1922), 1: 377-386; Georges E. H. J. Lemaître, Un univers homogène de masse constante et de rayon croissant, «Annales de la Société scientifique de Bruxelles», 47 (1927): 287-295. 4 D.h., dass das Licht der Galaxien sich gegen das rote Ende des Spektrums bewegt. Auf dem Basis des Doppler-Fizeau Effekts erklärt man dieses Phänomen als Erscheinung der Expansion des Kosmos. 5 Theodor E. Fritsch, Der jüdische Plan, Leipzig, Hammer-Verlag, 1920: 6. 6 Theodor E. Fritsch, Der Jüdische Zeitungs-Polyp, Leipzig, Hammer-Verlag, 1921.

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euklidische Welt, die mit Hilfe der newtonschen Physik zu studieren war. Nach der Meinung der

Gegner Einsteins waren die Juden nicht in der Lage, wahre Wissenschaft zu schaffen. Um wahre

Wissenschaft zu schaffen, musste man nämlich die tiefsten Aspekte der Naturerscheinungen

durchdringen und verstehen. Nur unter dieser Voraussetzung wäre ein Forscher fähig gewesen, eine

objektive Beschreibung der Natur zu gewinnen – und Objektivität war die Voraussetzung der

Wissenschaft. Das war dem arischen Menschen – bzw. dem Autor der traditionellen Wissenschaft –

möglich; im Gegenteil bewegte sich der „jüdische Geist“ an der Oberfläche der Natur und

deswegen konnte er nur eine subjektive Meinung über die Naturerscheinungen geben.

Subjektivismus war aber keine Wissenschaft. Kalküle, Formeln, Theorien, aber auch Experimente:

Das waren die Fundamente der „germanischen“ Naturauffassung. Falsch war die jüdische These

einer Einheit von Zeit und Raum in einem Raum-Zeit-Kontinuum, falsch das Modell eines

endlichen Kosmos7. Die einsteinischen Spekulationen galten als mathematischen „Formalismus“:

Voll von Formeln, hatten sie mit der Wirklichkeit wenig zu tun, da sie sich auf keinen empirischen

Beweisen basierten. Die Ergebnisse der Beobachtung der Sonnenfinsternis von 1919 – in Europa

und in den USA von den meisten Physikern als die größten empirischen Prüfungen der allgemeinen

Relativität interpretiert – repräsentierten nach der Gegner Einsteins keinen Beweis der Relativität:

Man konnte sie schon mit vorigen Theorien erklären. Die Relativität war nur eine

Massensuggestion: Die einsteinische Theorie war nicht geprüft, die Weltpresse – und nach der

Meinung eines T. Fritsches waren die Juden die Besitzer der Weltpresse – machte aber große

Reklame für sie. Im Buch Mein Kampf erklärte Adolf Hitler (1889-1945), dass die „Arier“ Autoren

echter Wissenschaft waren und dass sie ihre Kultur und Wissenschaft gegen die „niedrigen Rassen“

verteidigen mussten. Auf jeden Fall involvierte die „germanische“ Reaktion gegen die Juden in der

deutschen Wissenschaft nur eine Minderheit der Wissenschaftsgemeinschaft der Weimarer

Republik. 1920 wurde unter der Führung von Paul W. G. Weyland (1888-1972) die

Arbeitsgemeinschaft deutscher Naturforscher zur Erhaltung reiner Wissenschaft gegründet. Sie

bestand aus Physikern, Technikern und Ingenieuren, welche die „jüdische Wissenschaft“

bekämpfen wollten. Neben dieser Strömung waren die zwei Nobelpreisträger Philipp E. A. von

Lenard (1862-1947) und Johannes Stark (1874-1957). Die Antieinsteinische Liga war der Meinung,

dass die Relativität nur wegen Falsifizierung und Manipulation der Öffentlichkeit Erfolg gewonnen

hatte. Im Sommer 1920 entschied sich Einstein, gegen solche Angriffe zu verteidigen. Bald kam es

zu einer öffentlichen Konfrontation zwischen Einstein und seinen Gegnern: Die Konfrontation, die

in Bad Nauheim im September 1920 stattfand, konnte aber der Streitfrage kein definitives Ende

setzen. Während der Zwanziger Jahre wurden die Anhänger der Relativität in der Weimarer

7 Theodor E. Fritsch, Einstein’s Truglehre, Leipzig, Hammer-Verlag, 1921: 9.

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Republik noch scharf und oft angegriffen: Die Relativität war „bolschewistische Physik“8, wobei

man unter „Bolschewismus“ die Zerstörung der traditionellen Werte der Naturwissenschaft

verstehen sollte. Der Kosmos war unendlich und die relativistische Kosmologie hatte keine Chance,

das Gegenteil zu beweisen9. Nach der Meinung von Stark lieg die deutsche Physik in einer tiefen

Krise: Die „Relativisten“ waren zu theoretisch und zuwenig Beobachter. Wie konnte man unter

solchen Bedingungen neue Erkenntnisse gewinnen?10 Mit dem Aufstieg der NSDAP sahen die

„nordischen Physiker“ die Möglichkeit, die Allianz der Politik zu gewinnen. Nichts anderes als

„schöne Wörter“ konnten sie aber bekommen. In der Weimarer Ära war ihr bestes Ergebnis die

Veröffentlichung der Sammlung Hundert Autoren gegen Einstein11. Ihre Appelle zum Kampf gegen

die Relativität wurden von den übrigen Wissenschaftlern – z.B. von den berühmten Astronomen

Otto H. L. Heckmann (1901-1983) und Heinrich Vogt (1890-1968), beide Anhänger der NSDAP –

ignoriert. Im Gegenteil war Einstein in Deutschland noch eine Berühmtheit: Oft erzählten die

Zeitungen von ihm; seine Relativität war von vielen Physikern genutzt und die relativistische

Auffassung des Kosmos in den technischen Zeitschriften unterstützt.

Am 28. März 1933 entschied sich Einstein, Deutschland definitiv zu verlassen. In den USA

kritisierte er die nationalsozialistische Regierung. Seit April 1933 bis 1945 wurde den Namen

Einstein in den deutschen Zeitschriften fast nicht mehr erwähnt (damnatio memoriae). Dasselbe

passierte aber mit der Relativität nicht. In der Zeitschrift für Astrophysik und in den Astronomischen

Nachrichten wurden neue Artikel über die relativistische Kosmologie publiziert. Die Wahl von

Stark als Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (1934), die Veröffentlichung des

Werkes Deutsche Physik von Lenard (1936) und die rhetorischen Appelle der NSDAP gegen die

internationale Kultur spielten praktisch keine Rolle für das Ziel der „arischen Physiker“. 1936

konnte im Gegenteil Werner K. Heisenberg (1901-1976) mit der Allianz von mehr als 70 Kollegen

eine offizielle Reaktion gegen die „Arier“ organisieren: Die Angriffe gegen die Anhänger der

modernen Physik als Träger des „jüdischen Geistes“ konnten nicht mehr toleriert werden. Für die

Entwicklung der theoretischen Wissenschaft – und später des Atomprogramms – waren moderne

Theorien wie die Quantenphysik und die Relativität notwendig. In der Streitfrage über die

quantistische Physik konnte Heisenberg die Hilfe von Heinrich L. Himmler (1900-1945)

bekommen, um sich gegen die Angriffe von Stark zu verteidigen. Wie andere Kollegen war 8 Georg Biedenkapp, Bolschewistenphysik, «Der Türmer», 1 (1920): 521-524. 9 Arthur Patschke, Umsturz der Einsteinschen Relativitätstheorie. Einführung in die einheitliche Erklärung und Mechanik der Naturkräfte, Berlin-Wilmersdorf, 1920. 10 Johannes Stark, Die gegenwärtige Krisis in der deutschen Physik, Leipzig, Verlag von Johann Ambrosius Barth, 1922. 11 Hans Israel – Erich Ruckhaber – Rudolf Weinmann, hrsg. von, Hundert Autoren gegen Einstein, Leipzig, R. Voigtländers Verlag, 1931.

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Heisenberg der Meinung, es war kein Problem Anhänger der NSDAP und der modernen Physik zu

sein12. Für die Partei war die Situation ein Dilemma. Auf einer Seite standen Physiker wie Stark

und Lenard. Ihre Angriffe gegen die moderne Physik waren ein Problem. Lenard und Stark waren

aber ideologisch treu und darüber konnte man nicht zweifeln: Eine öffentliche Stellung gegen sie

war undenkbar. Auf der anderen Seite musste man aber die theoretische Untersuchung von

Heisenberg und Kollegen schützen. Die Partei entschied sich also für die Neutralität. Ende 1937

präsentierte Alfred Rosenberg (1893-1946) eine offizielle Stellung über die Freiheit der Forschung:

Die Diskussion über die physikalischen und kosmologischen Theorien war frei und die Partei hatte

kein Interesse, eine dogmatische Stellung darüber zu nehmen. In der zweiten Hälfte der Dreißiger

Jahre versuchte der Astronom Bruno J. Thüring (1905-1989), später Direktor der Wiener Sternwarte

(1940-1945) und bis ans Ende seines Lebens Gegner der Relativität, eine „arische Astronomie“

aufzubauen. Thüring beurteilte Einstein als den Autor, der versucht hatte, das Weltall dem

mathematischen Formalismus zu unterwerfen13. Die Juden hatten auch die Kontrolle der deutschen

Astronomie und versuchten, eine neue Kosmologie auszuarbeiten14: Die talmudische Kosmologie.

Das war Thürings Erklärung: Der Talmud war die Sammlung von Regeln, die der Jude mit den

anderen Juden und mit den Goyim anwenden musste. Diese Regeln stammten aus rabbinischen

Streitfragen über Moral. Im Bereich der Moral hatte aber jeder Rabbiner seine eigene Meinung, die

er schon im voraus – vor der Streitfrage selbst – unterstützte. Jeder Rabbiner versuchte dann zu

beweisen, dass seine Moral direkt aus der Bibel (Torah) stammte und dass sie deswegen die richtige

moralische Stellung war. Ein Sophismus!, erklärte Thüring. Und das Wesen der relativistischen

Naturauffassung war nicht anderes als talmudische Psychologie. Diese Auffassung bestand aus

Dogmen (theoretischen Postulaten und Formeln), die Einstein schon im voraus – ohne

wissenschaftliche Beweise – unterstützte und die er mit Sophismen den anderen Physikern

aufdrängen wollte. Wie andere „Arier“ war auch Thüring der Meinung, dass der Aufstieg der Juden

in der modernen Wissenschaft verdächtig war: Vor dem 20. Jahrhundert hatten sie keine Rolle in

den deutschen Naturwissenschaften gespielt. Die Juden hätten von der chaotischen Situation der

Physik am Anfang des 20. Jahrhunderts profitiert, um ihr Geist darin zu inokulieren: Nur so konnte

eine Theorie wie die der Expansion des Weltalls in die europäische Wissenschaft eintreten15. Statt

des klassischen Begriffs der Unendlichkeit zu verteidigen, unterstützte die „jüdische Astronomie“ 12 Werner K. Heisenberg, Die Bewertung der „modernen theoretischen Physik”, «Zeitschrift für die gesamte Naturwissenschaft», 9 (1943): 201-212. Ibidem: 203. 13 Bruno J. Thüring, Deutscher Geist in der exakten Naturwissenschaft, «Deutsche Mathematik», I (1936), S. 10-11. 14 Bruno J. Thüring, Physik und Astronomie in jüdischen Händen, «Zeitschrift für die gesamte Naturwissenschaft», 3 (1937): 55-70. 15 Bruno J. Thüring, Über den logischen Gehalt jener Weltalltheorien, welche sich einer nicht-euklidischen Geometrie oder einer Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit bedienen, «Zeitschrift für die gesamte Naturwissenschaft», 4 (1939): 246-255. Vgl. auch Bruno J. Thüring, Albert Einsteins Umsturzversuch der Physik und seine inneren Möglichkeiten und Ursachen, Berlin, Dr. Georg Lüttke Verlag, 1941.

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das Modell einer endlichen Welt. Monographien gegen Einstein und die Relativität erschienen auch

in Italien.

In der Zwischenzeit entschieden sich die „Nicht-Arier“, eine definitive Reaktion gegen die

„nordischen Physiker“ zu organisieren. Es war die Zeit des Atomprogramms und weitere Angriffe

gegen den „jüdischen Geist“ der modernen Physik hätten nur neue Probleme für die

wissenschaftliche Untersuchung des Reichs schaffen können: 1940 konnte Heisenberg wegen

Johannes Stark den Nachfolger von Arnold J. W. Sommerfeld (1868-1951) an der Universität

München nicht werden und jetzt war Thüring Direktor der Wiener Sternwarte: Es war zuviel! Unter

der Führung des Physikers Wolfgang K. E. Finkelnburg (1905-1967), Anhänger der NSDAP,

konnte eine Konfrontation mit den „nordischen Wissenschaftlern“ stattfinden. Am 15. November

1940 wurden die „Arier“ in München besiegt: Thüring und einige Kollegen verließen die

Konfrontation vor dem Ende. Die anderen Physiker unterschrieben eine Vereinbarung: Die

Quantenphysik war zur Zeit die beste Beschreibung der atomischen Dynamiken und die

kosmologische Relativität war nicht definitiv bestätigt worden, aber man konnte sie nicht

aprioristisch ablehnen. Nach München wollten die „Nicht-Arier“ sich von den „arischen

Überlebenden“ im Bereich der Naturwissenschaft befreien: Eine zweite Konfrontation fand also in

Seefeld (Tirol) am 3. November 1942 statt. Die „Arier“ mussten diesmal akzeptieren, dass die

Relativität das natürliche Ergebnis der Entwicklung der modernen war: Sicherlich wäre sie auch

ohne Einstein entstanden. Bis 1945 hatten die „arischen Physiker“ noch nur die Möglichkeit,

bedeutungslose pamphlets gegen die Relativität zu veröffentlichen. Nach dem Krieg setzte Thüring

seinen persönlichen Kampf gegen die relativistische Kosmologie in der BRD fort.

4. Die Theorie des sich ausdehnenden Weltalls, der dialektische Materialismus

und der sowjetische Kommunismus (1922-1991) Das Verhältnis der sowjetischen Astronomen mit der modernen Kosmologie könnte man

ohne die Philosophie des dialektischen Materialismus (Diamat) nicht verstehen. Nach den

Prinzipien des Diamat – d.h. der Philosophie des Marxismus und der Kommunistischen Partei –

wäre die Materie ewig, unendlich und besonderen Gesetzen unterworfen: Die quantitativen

Veränderungen der Materie erklären nicht nur die Existenz einer unendlichen Pluralität materieller

Formen, sondern auch die ganze qualitative Vielfältigkeit der Natur. Gott und Transzendenz

existieren nicht. Alles ist Materie und Materie erklärt sich selbst: Alles, was „geistlich“ ist –

Vernunft, Kultur usw. – stammt aus der Evolution der Materie. Nach Friedrich Engels (1820-1895)

wäre der Materialismus im ununterbrochenen Kampf mit dem „Idealismus“, auch „Klerikalismus“

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oder „Fideismus“ benannt16. Nach den Diamatisten wären die Prinzipien des Diamat

wissenschaftlich legitimiert, wie Stalin (1878-1953) selbst im Jahr 1907 anerkannt17. Zwei Jahre

später definierte Lenin (1870-1924) das Weltall «sich bewegende Materie»18. 1922 benutzte er die

neue Zeitschrift Pod Znamenem Marksizma (Unter dem Banner des Marxismus), um die

„materialistischen Wissenschaftler“ zum Kampf für den Atheismus und gegen die „bürgerliche

Naturauffassung“ aufzufordern19.

Zur Zeit der NEP (1917-1928) gab es eine relative Freiheit im Bereich der

Naturwissenschaften und Friedmann konnte die mathematische Theorie des dynamischen Kosmos

ausarbeiten. Die Sternwarte Pulkowo, in der Nähe von Leningrad, wurde ein internationales

Zentrum der Astronomie. Russische Astronomen verbrachten zur Zeit Jahre oder Monaten im

Ausland. 1924 gründete Wasiliy G. Fessenkow (1889-1972) das Astronomicheskii Zhurnal

(Astronomische Zeitschrift). Die Debatte über die allgemeine Relativität war in der Sowjetunion der

Zwanziger Jahre vielfärbig. Nach der Meinung vieler Marxisten war das wichtigste Problem nicht

die relativistische Physik, sondern die relativistische Kosmologie: Oft war diese „bürgerliche

Kosmologie“ mit anti-materialistischen Konklusionen charakterisiert, wie z.B. die räumliche oder

zeitliche Endlichkeit des Weltalls. Im Gegenteil war die Welt unendlich und ewig. Mit dem

Aufstieg Stalins und dem Ende der NEP (1928) wurde die ideologische Atmosphäre sehr schwer.

Die Diamatisten agierten jetzt als Richter der kosmologischen Theorien. Die stalinistische Strategie

des Sozialismus in einem Land hatte ihre Folgen auch in der Wissenschaft: Die sowjetische

Wissenschaftsgemeinschaft proklamierte sich selbst zur Wortführerin der „proletarischen

Wissenschaft“. „Volksfeinde“ gab es auch in der Sowjetwissenschaft. Auf dem XVI. Parteitag

(1930) erklärte Stalin, dass unter den „Feinden“ auch der Papst, die Kirche, die Klerikalen, die

Agenten und die Spione der Bourgeoisie waren20. Von den „Überresten des Kapitalismus“ musste

das sowjetische Volk sobald als möglich befreit werden: In Gefahr war die Revolution selbst! 1930

schrieben einige Astronomen (wie Fessenkow, Pavel P. Parenago 1906-1960, Boris A. Worontsow-

Welyaminov 1904-1994 und Vartan T. Ter-Oganezov 1890-1962) an den Papst21: Die Katholische

Kirche war Feind der „wahren“ Naturauffassung, d.h. der Diamat. 1932 wurde im Astronomicheskii

Zhurnal einen Aufruf der Sowjetakademie der Wissenschaften auf Englisch veröffentlicht, mit

16 Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach, Offenbach am Main, Bollwerk-Verlag Karl Drott, 1947. 17 Stalin, Anarchismus oder Sozialismus?, Berlin, Dietz Verlag, 1949: 12. 18 Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, Moskau, Verlag für fremdsprachige Literatur, 1947: 300. 19 Lenin, O značenii voinstvujuščego materializma, «Pod Znamenem Marksizma», 3 (1922): 227-236. http://www.marxists.org/archive/lenin/works/1922/mar/12.htm 20 Stalin, Politischer Bericht des ZK der KP(B)SU, Moskau, Zentralvölker-Verlag, 1930: 20-21. 21 Vartan T. Ter-Oganezov, Otkrytoe pis’mo sovetskikh astronomov Rimskomu Pape Piiu XI, «Izvestiia», 17. März 1930: 2.

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welchem alle Wissenschaftler der Welt zur Revolution aufgefordert wurden22. In einem Artikel über

den zweiten Fünfjahresplan wurde der Sowjetastronomie die Aufgabe gegeben, am Kampf gegen

die Überreste der Religion im Bewusstsein des Sowjetvolkes teilzunehmen23. Solche

Ideologisierung erlebten auch Zeitschriften wie Priroda (Natur) und Vestnik Akademii Nauk SSSR

(Akten der Akademie der Wissenschaften der UdSSR). Viele Autoren konzentrierten sich auf die

These der Allianz zwischen Kirche, Kapitalismus und „bürgerlicher Wissenschaft“ gegen den

Sozialismus. Lenin, Stalin und die Väter des Kommunismus waren als große Philosophen,

Wissenschaftler und Verteidiger der „proletarischen Wissenschaft“ betrachtet. Die

wissenschaftlichen Institute und die Zeitschriften wurden mit aktiven Referenten der Partei

„bolschewisiert“, die manchmal großen Einfluss über Karrieren und Publikationen hatten. In der

Sowjetastronomie erschienen aber noch einige nicht-ideologisierten Werke, wie die des Physikers

Matwei P. Bronstein (1906-1938). 1931 veröffentlichte er eine lange Arbeit über die relativistische

Kosmologie24: Die Redaktion entschied sich, ein Vorwort gegen die moderne Kosmologie

hinzugeben. 1933 definierte Bronstein das Weltall als dynamisch25 und 1934 rechtfertigten er und

Lev D. Landau (1908-1968) die Theorie des universellen Wärmetodes26. 1936 veröffentlichte Boris

P. Gerasimovič (1889-1937) das Werk A course in astrophysics and stellar astronomy, das dem

Leser eine der letzten sowjetischen Interpretationen des redshift als Prüfung einer möglichen

Expansion des Kosmos als Ganzes präsentierte27. Auf dem XVII. Parteitag (1934) bestätigte Stalin

die Notwendigkeit, die Überreste des Kapitalismus in Russland zu bekämpfen28. Einige Monaten

später fand der I. Kongress der Sowjetischen Schriftsteller statt: Der Politiker Andrei A. Shdanow

(1896-1948) erklärte, dass die Literatur dem Sozialismus (partiinost’) dienen musste. Eine

„neutrale“ Literatur (bezydeinost’) konnte es nicht geben: Solche Politik galt aber für die ganze

Kultur. In der Zwischenzeit interpretierten Astronomen und Philosophen die empirischen Daten der

Astronomie auf eine diamatistische Weise. Viele Strategien wurden benutzt, um sich gegen die

„klerikale Kosmologie“ zu verteidigen: Ridikülisierung der „westlichen Theorien“, Reduktion der

Expansion von globalem zum lokalen Phänomen (Expansion der „Metagalaxie“, d.h. des nur 22 Alexander P. Karpinsky, The appeal of the All-Union Academy of Science to all the scientists of the world and to all scientific and technical workers, «Astronomicheskii Zhurnal», IX (1932), 3-4: 125-128. Unter den Unterzeichnern waren auch Alexander P. Karpinsky (1847-1936), Präsident der Akademie, drei Vizepräsidenten, der Sekretär, 25 Mitglieder wie z.B. der Physiker Sergei I. Vavilov (1891-1951), und politische Referenten wie Nicolai I. Bukharin (1888-1938). 23 On the planning of astronomical research in the Ussr, «Astronomicheskii Zhurnal», 9 (1932), S. 318-319. 24 Matwei P. Bronstein, Sovremennoe sostoyanie relyativistskoi kosmologii, «Uspekhi Fizicheskik Nauk», I (1931), 1: 124-184. 25 Matwei P. Bronstein, On the expanding universe, «Physikalische Zeitschrift der Sowjetunion», IV (1933), 3: 73-82. 26 Matvei P. Bronstein – Lev D. Landau, Über den zweiten Wärmesatz und die Zusammenhangsverhältnisse der Welt im Großen, «Physikalische Zeitschrift der Sowjetunion», 1 (1934): 114-119. 27 Boris P. Gerasimovič, A course in astrophysics and stellar astronomy, Berkeley, 1936. 28 Stalin, Bericht über die Arbeit des Zentralkomitees der KPdSU(B), Moskau-Leningrad, Verlagsgenossenschaft Ausländischer Arbeiter in der UdSSR, 1934.

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beobachtbaren Teils der Welt), alternative Interpretationen des redshift. Experten ihrer

astronomischen Sektoren, agierten die sowjetischen Kosmologen als materialistische Philosophen

wenn sie Betrachtungen über die Natur des Kosmos in Artikeln und Büchern präsentierten. Um das

Modell eines unendlichen Kosmos zu verteidigen, wurden manchmal alte kosmologischen Modelle

wiederverwendet, wie den hierarchischen Kosmos von Johann H. Lambert (1728-1777) und Carl V.

L. Charlier (1862-1934). Ende 1936 war die sowjetische Astronomie praktisch fast ganz

diamatisiert29. 1936-1938 (Zeit der Größen Säuberungen) wurden ungefähr 30 Astronomen wegen

„gegenrevolutionärer Aktivitäten“ verhaftet30: Bronstein und Gerasimovič wurden hingerichtet. Der

Astrophysiker Nikolai A. Kozyrev (1908-1983) und der Physiker Landau wurden verhaftet, auch

weil sie als Anhänger der „bürgerlichen Kosmologie“ identifiziert wurden31. Pravda, Priroda,

Astronomicheskii Zhurnal, marxistische Intellektuellen wie Wladimir J. Lwow (1904-2000) und

Ter-Oganezov – die vielleicht in einem nicht-stalinistischen Land keinen Erfolg gewonnen hätten –

verleiteten die Aktion der Partei gegen die „Feinde“ der Sowjetwissenschaft. Während der

Säuberungen führten solche Autoren die Propaganda gegen die „bürgerliche Kosmologie“ fort32.

Ihrer Meinung nach hatten die „Volksfeinde“ mit westlichen Autoren mitgearbeitet, um das Modell

eines endlichen Kosmos in Russland zu verbreiten33. Lemaître war ein Symbol der „Feindschaft“:

Seine Hypothese über einen Anfang der Welt war eine «verkleidete Theologie»34, die er für Kirche

und Papst ausgearbeitet hatte35. Die offizielle Linie der sowjetischen Kosmologie wurde Ende 1938

definitiv klar: Unter der Führung der Akademie der Wissenschaften erklärten die russischen

Astronomen in Moskau, dass die diamatistische Interpretation des Kosmos die einzige

wissenschaftliche Erklärung der Natur war. Die Anhänger der „westlichen Kosmologie“ waren

„Feinde“ der Sowjetunion. Wie man einfach versteht, gab es in der Sowjetunion keine

wissenschaftliche Revolte gegen die offizielle Linie der Partei im Bereich der Astronomie.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Shdanow die Aufgabe gegeben, den „bürgerlichen“

Einfluss auf die sowjetische Kultur zu eliminieren. Aus verschiedenen Gründen hatte die Partei ihre

Kontrolle über die sowjetische Kultur während des Krieges verloren und westliche Elemente waren

29 «We Soviet scholars are the real and rightful inheritors of the great concept of the infinite world, populated by an infinite abundance of (...) systems of heavenly bodies of various complexity». Zitat von Moris S. Eigenson (1906-1962): Vgl. John E. Haley, The confrontation of dialectical materialism with modern cosmological theories in Soviet Russia, University of California, University Microfilms International, 1983: 83. 30 Robert A. McCutcheon, Stalin’s purge of Soviet astronomers, «Sky & Telescope», LXXVIII (1989), 4: 352-357; Alina I. Eremeeva, Political repression and personality: the history of political repression against Soviet astronomers, «Journal for the History of Astronomy», XXVI (1995), 4: 297-324. 31 McCutcheon, Stalin’s purge of Soviet astronomers: 356. 32 Wladimir J. Lwow, Al’bert Einshtein v soiuze s religiei, «Novyi Mir», 10 (1937): 186-197. Ibidem: 186. 33 Wladimir J. Lwow, Na fronte kosmologii, «Pod Znamenem Markzisma», 7 (1938): 137-167. Ibidem: 143. 34 W. Shafirkin, O stroenii vselennoi i nekotorych reaktsionnych ideach burzhuaznoi kosmologii, «Pod Znamenem Markzisma», 7 (1938): 115-136. Ibidem: 125. 35 Wiktor N. Petrow, Nekotorje voprosj kosmologii, «Pod Znamenem Markzisma», 7 (1940): 113-128. Ibidem: 123.

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also in sie eingetreten. Die Akzeptierung einer kulturellen Liberalisierung stand aber außer

Diskussion. Es kam zum Anfang des Shdanowshchina (Die Sache Shdanows). Im Juni 1947 fand

eine philosophische Konferenz in Moskau statt: Shdanow erklärte, dass die materialistischen

Wissenschaftler jeden bürgerlichen Versuch entlarven mussten, Gott in die Naturwissenschaften

wiedereinzuführen36: Die „westliche Kosmologie“ war mittelalterlicher Kreationismus. Ende 1948

fand eine neue Konferenz über die ideologischen Fragen der Sowjetastronomie statt37. 1951 kam es

zu einer neuen, großen Polemik gegen den Westen. Die VIII. Konferenz der Internationalen

Astronomischen Union (I.A.U.) sollte in Leningrad stattfinden; aufgrund des Koreanischen Krieges

(1950-1953) beschloss man aber, sie nach Rom zu bewegen. Die sowjetische Regierung

interpretierte das Ereignis als eine öffentliche Aktion der USA gegen die UdSSR38. Bis Ende des

Stalinismus war eine echte wissenschaftliche Konfrontation zwischen Westen und Osten definitiv

ausgeschlossen.

Stalin starb im Jahr 1953. Auf dem XX. Parteitag (1956) klagte Nikita S. Chruschtschow

(1894-1971) die Verbrechen des Stalinismus an. Die extremistischen Wissenschaftler-Ideologen

verloren ihren Einfluss. 1954 kam es in Kiew zur offiziellen Anerkennung der Vereinbarkeit

zwischen Diamat und Relativität. Seit der zweiten Hälfte der Fünfziger Jahre wurden die

Hauptzeitschriften der Sowjetwissenschaft auf Englisch übersetzt. Auf der VI. Kosmogonischen

Konferenz wurden die Rückständigkeit der russischen Kosmogonie und die Notwendigkeit ihrer

Modernisierung anerkannt39. Der modernisierte Diamat war jetzt mit Modellen eines endlichen

Kosmos vereinbar: Nicht mehr waren die Philosophen Richter der kosmologischen Theorien,

sondern Beobachtungen und empirische Daten. Wie unter Stalin war aber die Polemik gegen den

Kreationismus der „bürgerlichen Astronomie“ aktiv und in diesem Sinne mussten die

Sowjetwissenschaftler ihre philosophische Terminologie noch sorgfältig beachten40. Unterschiede

gab es aber zwischen der konservativen und der innovativen kosmologischen Schulen. 1958 fand

die X. Konferenz der I.A.U. in Moskau statt: Anwesend waren 1.200 Wissenschaftler aus 36

Staaten, darunter auch die USA. Während der Konferenz behauptete Aleksei N. Kosygin (1904-

36 Andrei A. Shdanow, Kritische Bemerkungen zu dem Buch G. F. Alexandrow: „Geschichte der westeuropäischen Philosophie“, Berlin, Dietz Verlag, 1950. 37 I. A. Prokofieva, Conférence sur les questions idéologiques de l’astronomie, «La Pensée», 28 (1950), S. 10-20. 38 On the meeting of the Eight General Assembly of the International Astronomical Union, «Astronomicheskii Zhurnal», XXVIII (1951): 9-14. 39 Alla G. Masevich, A meeting of the commission for cosmogony devoted to the future development of work on cosmology, «Soviet Astronomy», I (1957), 2: 306-307. 40«Judge my astonishment on my first visit to the Soviet Union when I was told in all seriousness by Russian scientists that my ideas would have been more acceptable in Russia if a different form of words had been used. The words “origin” or “matter-forming” would be O. K., but “creation” in the Soviet Union was definitely out». Fred Hoyle, Frontiers in cosmology, in Cosmic perspectives, hrsg. von S. K. Biswas, Cambridge University Press, 1989: 97-107. Ibidem: 101.

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1980), dass die sowjetische Regierung stolz auf die internationale Mitarbeit der Astronomen war41.

Astrophysiker wie Jakow B. Seldowitch (1914-1987) und junge Wissenschaftler wie Igor D.

Nowikow (1935-) veröffentlichten vieles über die moderne Kosmologie. Die Friedmannsche

Kosmologie wurde rehabilitiert und 1963 sagten Nowikow und Doroshkewitch die Existenz der

kosmischen Hintergrundstrahlung voraus42.

Leonid I. Breschnew (1906-1982) drang auf die Wichtigkeit des partiinost’ in der

Wissenschaft43, aber zur Zeit war die Sowjetastronomie ganz modern44. Die Wörter Big Bang,

früher als „amerikanische Terminologie“ betrachtet45, erschienen jetzt regelmäßig: 1978 wurden sie

zum ersten Mal im Astronomicheskii Zhurnal46 benutzt. 1976 anerkannte die dritte Ausgabe der

Großen Sowjetischen Enzyklopädie einige der wichtigsten Aspekte der „westlichen Kosmologie“47.

Zur Zeit von Mikhail S. Gorbatschow (1931-) konzentrierten sich die russischen Astronomen – wie

ihre westlichen Kollege – auf die Untersuchung der Anisotropien der Hintergrundstrahlung. Die

Rhetorik der Regierung über den Diamat48 repräsentierte den letzten Rest des alten

naturwissenschaftlichen Konservatorismus.

5. Die diamatistische Kosmologie in der sowjetischen Besatzungszone (1945-

1949) und in der Deutschen Demokratischen Republik (1949-1990) Nach dem Zweiten Weltkrieg verbreitete sich der Einfluss des Diamat auf Ostdeutschland.

1946 wurde die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands gegründet und am 7. Oktober 1949 die

DDR. Die stalinistische Diktatur spielte eine Rolle auch im neuen sozialistischen Land, mit der

Verfolgung der „Volksfeinde“ und dem Kult Stalins. Philosophie und Wissenschaften mussten die

diamatistische Linie anerkennen. Nach Klaus Zweiling (1900-1968) war der Marxismus eine ganz

moderne Philosophie49. Das Weltall sollte dialektisch analysiert werden50. 1948 erklärte Otto

41 Donald H. Sadler (hrsg. von), Transactions of the International Astronomical Union. Vol. X: Tenth General Assembly held at Moscow 12-20 August 1958, Cambridge, Cambridge University Press, 1960: 13. 42 Andrei G. Doroshkewitch – Igor D. Nowikow, Mean density of radiation in the metagalaxy and certain problems in relativistic cosmology, «Soviet Physics-Doklady», IX (1964), 2: 111-113. 43 Leonid I. Breschnew, Auf dem Wege Lenins. Reden und Aufsätze. Band 1. Oktober 1964 – April 1967, Berlin, Dietz Verlag, 1971: 7-12. 44 Igor D. Nowikow – Jakov B. Seldowitch, Cosmology, «Annual Review of Astronomy and Astrophysics», 5 (1967): 627-648. 45 Jakov B. Seldowitch, The “hot universe”, «Vestnik of the USSR Academy of Sciences», XXXIX (1969), 4: 38-46. Ibidem: 39. 46 B. V. Vainer et alii, Synthesis of light elements in a big-bang model universe, «Soviet Astronomy», XXII (1978), 1: 1-6. 47 Gustav I. Naan, Cosmology, in Great Soviet Encyclopedia, XIII (1976): 188-190. 48 Mikhail S. Gorbatschow „Zurück dürfen wir nicht!“, Bremen, Donat & Temmen Verlag, 1987: 171. 49 Klaus Zweiling, Marxismus „nur noch historisch interessant?“, «Einheit», II (1947): 731-739. Ibidem: 735. 50 Victor Stern, Marxismus und Nationalismus, «Einheit», II (1947), 10, S. 935-942.

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Grotewohl (1894-1964), dass Deutschland für eine kulturelle Revolution bereit war51. Wie in der

UdSSR, galten auch in Ostdeutschland die Naturwissenschaften als Instrumente der antireligiosen

Propaganda. „Fideistisch“ war jede Theorie, nach der die Welt im Raum und Zeit endlich war. Auf

dem I. Parteitag der SED (1949) beschloss man, die marxistische Propaganda zu intensivieren:

Walter E. P. Ulbricht (1893-1973) gab ab sofort seinen Beitrag52. Konferenzen über die „richtige“

philosophische und wissenschaftliche Linie fanden statt. 1949 wurde in Berlin eine Konferenz über

Lenin organisiert: Das Ereignis repräsentierte eine offizielle Offensive gegen den „Idealismus“53.

Unter den Teilnehmern waren Anton Ackermann (1905-1973), Mitglied des Politbüros, Kurt Hager

(1912-1998), Ideologe der Partei, die Philosophen Georg Klaus (1912-1974) und Georg Mende

(1910-1983), Fred Oelßner (1903-1977), Mitglied des Politbüros, und der Jurist Peter-Alfons

Steiniger (1904-1980). Viele Autoren – später Protagonisten der modernen ostdeutschen

Astrophysik – publizierten zur Zeit vieles gegen die „bürgerliche Kosmologie“54. Robert Havemann

(1910-1982) definierte die Dialektik der Natur ein geniales Werk55. Zeitschriften wie Urania, Neue

Welt und Einheit nahmen am Kampf teil. Auf dem III. Parteitag der SED (1950) erklärte man, dass

die Delegierten auf die Aktivitäten der „Saboteuren“ beachten mussten. Der Philosoph Walter

Hollitscher (1911-1986) wurde bestraft, weil er Vorlesungen an der Humboldt-Universität hielte, in

denen er zuwenig die „bürgerliche Wissenschaft“ kritisiert hatte. Die starke Nutzung des Diamat

war zur Zeit imperativ56 und Ulbricht behauptete, dass die Partei großes Interesse an der

physikalischen Diskussion hatte57.

Auch in der DDR spielte Stalins Tod eine primäre Rolle. Nach dem Aufstand Ostberlins

(Juni 1953) konnte aber Ulbricht seine politische Rolle retten. Die repressiven Massnahmen im

Bereich der Kultur wurden stärker. 1953-1956 gab es bedeutende Appelle zum philosophischen

Konservatorismus: Auf dem IV. Parteitag der SED (1954) erklärte man, dass die Philosophen und

die Physiker sich im Kampf gegen die „idealistische Physik“ vereinigen sollten. Wie in der

Sowjetunion konnte man die Theorie der kosmischen Expansion nur im Sinne der Ausdehnung der

„Metagalaxis“ akzeptieren: Ausgeschlossen war die Möglichkeit von einem Anfang und einem

51 Max Günter – H. Franck – Otto Grotewohl, Arbeiterschaft, Technik, Intelligenz, Berlin, Die Freie Gewerkschaft Verlag Gesellschaft, 1949: 31. 52 Walter E. P. Ulbricht, Gewerkschaftskampf 2. Aus den Reden und Aufsätzen der Jahre 1945-1952, Westberlin, Verlag für das Studium der Arbeiterbewegung, 1972: 298. 53 Klaus Zweiling, Ideologische Offensive, «Einheit», IV (1949): 664-666. 54 Hans-Jürgen Treder, Mißbrauch der Wissenschaft. C. F. v. Weizsäcker im Dienste amerikanischer Kriegshetze, «Einheit», IV (1949): 1027-1032. Ibidem: 1028. 55 Robert Havemann, Dialektik der Natur. Zum Erscheinen der ersten vollständigen deutschen Ausgabe des genialen Werkes von Friedrich Engels, «Einheit», VII (1952): 842-855. Ibidem: 854. 56 Walter E. P. Ulbricht, Wissenschaft im Dienste des Neuaufbaus, «Aufbau», IX (1953): 109-114. Ibidem: 109-110. 57 Ibidem: 112.

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Ende der Welt. 1957 lobte Ulbricht ein Werk von Havemann gegen den Wärmetod des Weltalls58.

Ab 1958 gewann Ulbricht die totale Macht. Bald musste sich aber die DDR mit den Thesen des

XX. Parteitages der KPdSU konfrontieren. Eine Debatte über die Modernisierung des Diamat fand

auch in der DDR statt. Der Stalinsche Dogmatismus wurde kritisiert und der Physiker Herbert Hörz

(1933-) erklärte, dass man die „bürgerlichen Werke“ richtig einschätzen sollte. Im April 1958

kritisierte Ulbricht die geringe Benutzung des Diamat und der antireligiosen Propaganda in der

Naturwissenschaft59. Der Politiker kritisierte auch alle Versuche, die Theorie eines endlichen

Kosmos in der DDR zu verbreiten60. In der Zwischenzeit wurden aber Werke über moderne

Themen der Astrophysik – Nucleosynthese61, Singularität62, redshift63 – publiziert. Mit Kalkülen

und empirischen Beobachtungen bewies Hans-Jürgen Treder (1928-2006), dass vor 12-15

Milliarden Jahren das Weltall ganz anders als heute aussah64. 1964 schrieb Hörz, dass man aus

praktischen Gründen das Modell eines endlichen Kosmos nutzen konnte; man sollte aber wissen,

dass das unendliche Weltall die beste heuristische Beschreibung der Welt repräsentierte65. Während

der Sechziger Jahre gewann Havemann die Rolle eines Protagonisten in der DDR: Mit Schriften

und Vorlesungen66 kritisierte er öffentlich die Regierung und die Klassiker des Diamat, die seiner

Meinung nach veraltet und nutzlos für die wissenschaftliche Diskussion waren. Arbeitsverbot in der

DDR und Ausschluss aus der Akademie der Wissenschaften waren die Folgen. 1966 polemisierten

einige Marxisten gegen die italienische kommunistische Zeitung l’Unità und den Kommunist Lucio

L. Radice (1916-1982), der die Regierung der DDR wegen der Strafen gegen Havemann

angegriffen hatte67. Die Polemik gegen die „bürgerliche Wissenschaft“ war selbstverständlich noch

aktiv68, aber mit der Entdeckung der kosmischen Hintergrundstrahlung erlebte auch die ostdeutsche

Kosmologie eine bedeutende Modernisierung.

58 Robert Havemann, Einführung in die chemische Thermodynamik, Berlin, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1957. 59 Walter E. P. Ulbricht, Die Staatslehre des Marxismus-Leninismus und ihre Anwendung in Deutschland. Referat und Schlußwort auf der Babelsberger Konferenz am 2. und 3. April 1958, Berlin, VEB Deutscher Zentralverlag, 1958: 58. 60 Walter E. P. Ulbricht, Freiheit, Wissenschaft und Sozialismus. Antwort auf Fragen der Arbeiter und der Intelligenz, Berlin, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1959. «Mir ist bekannt, daß zeitgenössische Physiker aus der Relativitätstheorie die Schlußfolgerung ziehen über die Endlichkeit der Welt, wobei es die verschiedenartigsten Hypothesen gibt, die aber keineswegs hinreichend begründet werden können»: 111. 61 Werner Pfau, Die Entstehung der chemischen Elemente im Kosmos, «Die Sterne», XXXVI (1960), 7-8: 129-141. 62 Wolfgang Mattig, Die Problemstellung der Kosmologie, «Die Sterne», XXXVII (1961), 7-8: 154-161. 63 Theodor Schmidt-Kaler, Der Nebel mit der größten gemessenen Rotverschiebung, «Die Sterne», XXXIX (1963), 3-4: 55-57. 64 Hans-Jürgen Treder, Kosmologie und Unendlichkeit der Welt, «WF», 13 (1963): 553-554. 65 Herbert Hörz, Philosophische und physikalische Raum-Zeit-Theorie, «PDS», II (1964), 2: 55-61. 66 Robert Havemann, Dialektik ohne Dogma, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1964. 67 Georg Klaus et alii, Una lettera sul «caso Havemann», «l’Unità», 5. April 1966: 8. 68 J. P. Levitan, Der Astronomieunterricht in der sowjetischen Mittelschule, «ADS», 5 (1967): 108-111. Ibidem: 110.

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Am 3. Mai 1971 nahm Erich Honecker (1912-1994) die Führung der DDR. Zur Zeit hatte

die Theorie des Urknalls großen Erfolg. Die Polemik gegen den „Idealismus“ ging aber weiter69.

Zeitschriften wie Die Sterne galten als Bruck für die wissenschaftliche Kommunikation mit dem

Westen. Immer polemisierte man gegen die „westliche“ Interpretation des Urknalls: Entweder war

die kosmische Expansion ein lokales Phänomen oder bezog sich der Urknall wirklich auf das

Weltall als Ganzes, galt aber nur als Anfang einer neuen Phase seines ewigen Lebens70. Unter

diesen Voraussetzungen konnte man im Jahr 1984 bei der Akademie der Wissenschaften zu Berlin

den «Triumph der Theorie vom heißen Urknall»71 feiern.

6. Die moderne Kosmologie und der Vatikan Am Dogma der Schöpfung verbunden (Gn 1,1), liest die katholische Theologie den Kosmos

als Erscheinung der göttlichen Seligkeit (Sal 8, 2-5). Die Ordnung und die Rationalität der Welt und

ihrer Gesetzte repräsentieren den Grund rationeller Beweise der Existenz Gottes, wie der H. Paulus

(Rm 1, 20), die katholische Tradition, das Erste Vatikanische Konzil (1869-1870) und die

antimodernistische Einstellung von Papst Pius X. (1903-1914) erklären. Die katholische Apologetik

besteht dann nicht nur aus Dogmen und Glauben, sondern auch aus philosophischen

Argumentationen. An der Naturwissenschaften als Weg zu Gott interessiert, sollten sich die Päpste

im 20. Jahrhundert mit einem neuen Bild des Kosmos konfrontieren. Nach Papst Leo XIII. (1878-

1903) gab es keine Opposition zwischen Theologie und moderner Wissenschaft72. 1891 wurde die

Vatikanische Sternwarte (Specola Vaticana) restauriert. Die Enzyklika Rerum novarum definierte

den Sozialismus als eine falsche Lösung der sozialen Konflikte: Die Abschaffung des

Privateigentums hätte nur neue Klagen zwischen den Menschen verursacht. Papst Pius X. (1903-

1914) definierte die Philosophie des Modernismus, die über die Möglichkeit von philosophischen

Beweisen der Existenz Gottes zweifelte, als anti-katholisch. Außerdem, historisierte der

Modernismus die Dogmen des Glaubens und die Autorität der Kirche. Unter Pius XI. (1922-1939)

wurde die Pontificia Academia Scientiarum (1936) gegründet und die Sternwarte nach

69 Helmut Bernhard, Astronomie und Weltanschauung. Standpunkte der marxistischen Philosophie zu philosophischen Problemen der Astronomie, Leipzig-Jena-Berlin, Urania-Verlag, 1974. 70 «Die Schüler sollen erkennen, daß der „Urknall“ kein zeitlicher Anfang des Weltalls ist, sondern eine neue Phase der kosmischen Entwicklung einleitete (...) Das Weltall ist ewig; es hat weder Anfang noch Ende in der Zeit und ist räumlich unbegrenzt». Helmut Bernhard, Zur Erörterung kosmischer Entwicklungsprozesse, «ADS», III (1986), 6: 133-135. Ibidem: 135. 71 Karl-Heinz Lotze, Aufbau und Entwicklung des Weltalls. V. Das Standard-Modell des frühen Universums, «Die Sterne», LX (1984), 1: 15-23. Ibidem: 21. 72 Leo XIII Providentissimus Deus, 1893.

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Castelgandolfo verlegt. Als Anhänger des Dialogs von Wissenschaft und Glauben73 war der Papst

überzeugt, dass die himmlische Ordnung als eine mächtige Prüfung für die Existenz einer

ordnenden Intelligenz galt74. Die Kirche war im Kampf gegen den Bolschewismus: Kommunismus,

Atheismus und Diamat wurden von Zeitschriften wie La Civiltà Cattolica regelmäßig kritisiert75.

Die Sowjetwissenschaften waren dem Diamat unterworfen76: Frei war dort die wissenschaftliche

Untersuchung nicht. 1937 wurde der Diamat auch mit der Enzyklika Divini Redemptoris verurteilt.

Der Materialismus lehnte alle Prinzipien der religiösen Weltanschauung ab: Gott, die Seele, die

Autorität der Kirche, die Dogmen.

Mit Pius XII. (1939-1958) trat die moderne Kosmologie in Vatikan offiziell ein. Nach

Pacelli repräsentierte die Astronomie den besten naturwissenschaftlichen Weg zu Gott77. Ab 1939

fanden viele Konferenzen über die moderne Astrophysik an der Päpstlichen Akademie statt. Die

Akademie zählte auf Mitglieder, die vom Einklang von Wissenschaft und Glauben überzeugt

waren. Der englische Mathematiker Edmund T. Whittaker (1873-1956) veröffentlichte

apologetische Werke, in denen die Hypothese des Urknalls explizit mit dem Dogma der Schöpfung

konfrontiert wurde: Die Schöpfung selbst war aber kein Gegenstand der Physik, sondern der

Metaphysik78. Am 8. Februar 1948 bezog sich der Papst während einer Rede an die Academia

Scientiarum an die Theorie, nach der die Welt plötzlich im Raum und Zeit geschaffen worden

war79. 1949 wurde der Kommunismus exkommuniziert und mit der Enzyklika Humani generis

(1950) den Diamat noch einmal abgelehnt. La Civiltà Cattolica unterstützte die Vereinbarung

zwischen Kosmologie und Theologie80. Am 22. November 1951 gab es die offizielle Anerkennung

des Modells eines dynamischen Weltalls. Den Mitgliedern der Academia Scientiarum erklärte der

Papst, dass das Weltall im Raum und Zeit endlich war; unvermeidbar wäre es zum Wärmetod

gekommen81. Die Welt war vergänglich und hatte einen mächtigen (d.h. explosiven) Anfang

gehabt82. Das Moment der Schöpfung war aber Kompetenz der Metaphysik: Dogmen wie die der

73 Pius XI, «Scienza e Fede provengono dallo stesso Autore» Discorso per l’inaugurazione dell’anno accademico della Pontificia Accademia delle Scienze «Nuovi Lincei» (1931), in Marcelo S. Sorondo (hrsg. von), I Papi e la scienza nell’epoca contemporanea, Milano, Jaca Book, 2007: 33-34. 74 Pius XI, «La struttura dell’universo illustra l’infinita sapienza del Legislatore» Discorso per l’inaugurazione dell’anno accademico della Pontificia Accademia delle Scienze «Nuovi Lincei» (21.12.1930), in I Papi e la scienza nell’epoca contemporanea: 30-32. 75 Il bolscevismo distruttore di ogni civiltà cristiana, «La Civiltà Cattolica», LXXXII (1931), 2: 513-525. 76 Alcuni aspetti del satanismo comunista, «La Civiltà Cattolica», LXXXIV (1933), 1: 313-323. 77 Pius XII, «L’uomo sale a Dio per la scala dell’universo» Discorso per la Sessione plenaria dell’Accademia (3.12.1939), in I Papi e la scienza nell’epoca contemporanea: 71-80. 78 Edmund T. Whittaker, The beginning and end of the world, London, Oxford University Press, 1942: 4. 79 Pius XII, «L’invariabilità della legge naturale e il supremo governo di Dio nel mondo» Discorso per la Sessione plenaria dell’Accademia, in I Papi e la scienza nell’epoca contemporanea: 99-108. Ibidem: 103. 80 Johannes W. J. A. Stein S. J., L’universo, donde?, «La Civiltà Cattolica», C (1949), 3: 255-264. 81 Pius XII, «Le prove dell’esistenza di Dio alla luce delle moderne scienze naturali» Discorso per la Sessione plenaria dell’Accademia: 118-129. Ibidem: 123. 82 Ibidem: 125.

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Schöpfung basierten sich nicht auf naturwissenschaftlichen Prüfungen. Die Konklusionen der

Kosmologie konnten aber als Hilfe für die katholische philosophische Untersuchung betrachtet

werden. Die Reaktion der atheistischen Astronomen war sofortig. Lemaître selbst war mit dem

päpstlichen Gespräch nicht zufrieden. Der zukünftige Präsident der Päpstlichen Akademie der

Wissenschaften (1960-1966) hatte irrigerweise verstanden, dass der Papst eine

naturwissenschaftliche Hypothese – von Lemaître selbst in den vorigen Jahren ausgearbeitet –

nutzen wollte, um das Dogma der Schöpfung zu beweisen. Seiner Meinung nach war dies

gefährlich: Hätte man in der Zukunft bewiesen, dass die Hypothese des Urknalls falsch war, so

hätte der Papst eine falsche Hypothese als naturwissenschaftliche Basis eines Dogmas genutzt. Seit

1932 war der Vatikan Mitglied der I.A.U. und 1952 sollte die Konferenz der I.A.U. in Rom

stattfinden. Lemaître wusste, dass es in der I.A.U. Wissenschaftler gab, die mit der päpstlichen

Annährung von Glauben und Wissenschaft nicht einverstanden waren. Vorgesehen war es, dass der

Papst den Mitgliedern der I.A.U. eine Audienz gewährt hätte: Nach Lemaître musste man aber

„diplomatische Zwischenfälle“ vermeiden. Dank der Hilfe von Daniel J. K. O’Connell S.J. (1896-

1952), Direktor der Specola Vaticana, konnte Lemaître seine persönliche Meinung dem Papst

erklären. Der Papst entschied sich also, diesmal eine vorsichtigere Rede über die Beziehung

zwischen Astronomie und Glauben zu halten83. Auf jeden Fall nahmen die sowjetischen Delegierten

an der päpstlichen Audienz nicht teil. 1957 gewährte der Papst seine letzte Audienz der Päpstlichen

Akademie: Pacelli behauptete, dass die Welt das selbe Alter des Kosmos hatte: 5 Milliarden Jahre84.

1956 fragte O’Connell den Papst nach der Zulassung, einen sowjetischen Astronom nach dem

Vatikan einzuladen. Pacelli antwortete, dass die Einladung evtl. privat sein sollte und nicht im

Nahmen der Akademie. 1958 wurden die vatikanischen Astronomen der Specola Vaticana

verboten, an der Konferenz der I.A.U. in Moskau teilzunehmen.

Unter Johannes XXIII. (1958-1963) und mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-

1965) fing eine neue vatikanische Ostpolitik an. Nach Paul VI. (1963-1978) war die

„Modernisierung“ der Kirche das wichtigste Ziel85: Mit dem Kommunismus sollte man nicht die

Politik der Trennung nutzen, sondern die des Dialogs. La Civiltà Cattolica bestätigte noch die

Zustimmung zur Lemaîtreschen Kosmologie86; wie vorher war die diamatistische Kosmologie

abgelehnt. Der Unterschied zwischen den sechs Tagen der Schöpfung (Genesis) und den Milliarden

83 Pius XII, Discorso di Sua Santità Pio XII all’ottava assemblea generale dell’Unione Astronomica Internazionale. 7 settembre 1952, Tipografia Poliglotta Vaticana, 1955. 84 Pius XII, Discorso per la Sessione plenaria e la Settimana di studio su «Il problema delle popolazioni stellari» (20.05.1957), in I Papi e la scienza nell’epoca contemporanea: 137-141. Ibidem: 139. 85 Paolo VI, Ecclesiam suam, 1964. 86 Vincenzo Arcidiacono S. J., L’evoluzione dell’universo, «La Civiltà Cattolica», CXIV (1963), 3: 533-546.

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Jahren der modernen Kosmologie wurde wie nach der Tradition erklärt: Die Bibel war kein

naturwissenschaftliches Werk, sondern eine Sammlung von Texten für die Rettung der Seele. Im

Bereich der Naturauffassung benutzte die Bibel einfache Erklärungen, die mit der modernen

Wissenschaft nichts zu tun hatten. Die Bibel wollte aber keine präzise Beschreibung der

Naturerscheinungen geben, sondern die Abhängigkeit der gesamten Natur von Gott klären. Am 4.

Oktober 1965 traf Paul VI. den sowjetischen Aussenminister Andrei A. Gromyko (1909-1989) in

New York. 1967 konnten vier vatikanische Astronomen zum ersten Mal an einer Konferenz im

Ostblock (Prag) teilnehmen. 1970 lud offiziell die Päpstliche Akademie der Wissenschaften zum

ersten Mal einen sowjetischen Astronom – Viktor A. Ambartzumian (1908-1996) – nach dem

Vatikan ein87.

Johannes Paul II. (1978-2005) interessierte sich sehr viel für die Naturwissenschaften. 1979

fand eine internationale Konferenz über Wissenschaft und moderne Welt im Vatikan statt: Große

Reklame wurde dem kosmologischen Problematik gegeben88. Zwei Jahre später wurde der

sowjetische Astrophysiker Seldowitch nach dem Vatikan eingeladen. Johannes Paul behauptete,

dass die Wissenschaftler keine Chance hatten, die Geheimnisse des Moments der Schöpfung

durchzudringen89. Es war klar, dass man für die philosophische Erklärung der Evolution der Welt

eine übernatürliche Ursache benötigte. Wie Lemaître wollte aber auch Wojtyła einen starken

Konkordismus vermeiden. Am 1. Juni 1988 schrieb er an den Direktor der Specola Vaticana,

George V. Coyne (1933-)90: Der Theologe sollte den Naturwissenschaften gegenüber nicht passiv

bleiben, sondern eine Mindestvorbereitung haben, um sie richtig zu schätzen oder kritisieren. Auf

diese Weise hätten die Theologen Theorien wie die des Urknalls nicht mehr akritisch für die

katholische Apologetik genutzt. Am 1. Dezember 1989 waren Gorbatschow und seine Frau Gäste

Italiens und des Vatikans. Zwei Jahre später erkannte die Päpstliche Akademie der Wissenschaften

die Entdeckungen des amerikanischen Satellits COBE an91.

87 Daniel J. K. O’Connell S. J. (ed. by), Study week on nuclei of galaxies. April 13-18, 1970, «Pontificiae Academiae Scientiarum. Scripta varia», 35 (1971). 88 Science and the modern world. Part III. Proceedings of the symposium on «Science and the Modern World», plenary session, November 11-13, 1979, «Pontificiae Academiae Scientiarum. Scripta varia», 52, 1984. 89 Giovanni Paolo II, Discorso per la Sessione plenaria e la Settimana di studio su «Cosmologia e fisica fondamentale», in I Papi e la scienza nell’epoca contemporanea: 238-241. Ibidem: 239. 90 Giovanni Paolo II, Lettera al Reverendo George V. Coyne, Direttore della Specola Vaticana, in I Papi e la scienza nell’epoca contemporanea: 280-288. 91 Bernard Pullman (hrsg. von), The emergence of complexity in mathematics, physics, chemistry and biology. Proceedings. Plenary Session of the Pontifical Academy of Sciences, 27-31 October 1992, «Pontificiae Academiae Scientiarum. Scripta varia», 89: 1996.