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28 B lut ist eine Farbe mit sicherlich langer Haftung. Und eine, die vermutlich zu den ersten Malfarben zu zählen ist, wie die prähistorischen Höhlenmalereien (nicht nur in Lascaux) es eindrücklich unter Be- weis stellen. Sie hält nicht nur lange und kann geradezu unsichtbar werden, was die Kriminologen immer wieder unter Beweis stellen, sondern bindet uns alle – MalerIn- nen wie Betrachtende gleichermaßen – auf eine besondere Weise an das Gemalte bzw. Gesehene. Es ist möglicherweise diese erste ›Blutsbande‹, die uns glauben macht, Ge- mälde hätten tendenziell eine rätselhafte Tiefendimension und eine daraus resul- tierende, nicht immer klar zu denieren- de Macht über uns. Nicht verwunderlich, dass Gemälde oder allgemeiner gespro- chen Kunstobjekte zu bevorzugten Hand- lungsträgern im klassischen Horrorgenre wurden. Auffällig ist dies im japanischen (koreanischen) Kulturkreis, wo es seit den mittelalterlichen Gespenster- oder Gru- selgeschichten (kaidan) bis zum heutigen J-Horrorlm eine Häufung von unheilbela- denen, übersinnlichen und vor allem aktiv agierenden Bildern (Gemälde, Fotograen, Computerbilder, Filmbilder) gibt. Auch Dario Argento als Meister des Gial- lo, der italienischen Horrorlmvariante, die Elemente der klassischen Krimis mit Thrill- und Splattereffekten durchsetzt, kann ins- besondere in seiner früheren Schaffenspha- se auffällig viele Filmarbeiten vorweisen, die nicht zuletzt durch einen obsessiven Einsatz von Gemälden oder Kunstobjekten gekennzeichnet sind. Ganz zu schweigen von seinem ausgeprägten Sinn für Bildäs- thetik, vor allem für die Farbgestaltung der Mise-en-scènes, deren Bezüge zu klas- sischer Kunst nicht schwer nachzuweisen sind. Doch im Folgenden wird es mir weni- ger um diese Art der Kunstafnitäten ge- hen, sondern vorrangig um die handlungs- relevanten ›Rollen‹, die Argento den Bildern in seinen Filmen gab. Drei Filme ragen da- bei heraus: PROFONDO ROSSO (Rosso – Farbe des Todes; 1975) und LA SINDROME DI STEN- DHAL (Das Stendhal Syndrom; 1996), beide bezeugen geradezu eine Bildbesessenheit, sowie L UCCELLO DALLE PIUME DI CRISTALLO (Das Geheimnis der schwarzen Handschu- he; 1970), das den erstgenannten nicht nur in zeitlicher Hinsicht vorangeht. In anderen Filmen wie TENEBRE (1982) oder LA TERZA MADRE (Mother of Tears; 2007) weist Argento den Kunstobjekten zumindest in Teilen bedeutsame Funkti- onen zu, und SUSPIRIA (1977) kann man die Einüsse der Bilder von M.C. Escher, des Surrealismus und des deutschen l- mischen Expressionismus ( DAS CABINET DES DR. CALIGARI von Robert Wiene, 1920) bescheinigen. Tiefe Fallen Von der gefährlichen Kunst, mit Bildern umzugehen Von Joanna Barck

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Joanna Barck

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Blut ist eine Farbe mit sicherlich langer Haftung. Und eine, die vermutlich zu

den ersten Malfarben zu zählen ist, wie die prähistorischen Höhlenmalereien (nicht nur in Lascaux) es eindrücklich unter Be-weis stellen. Sie hält nicht nur lange und kann geradezu unsichtbar werden, was die Kriminologen immer wieder unter Beweis stellen, sondern bindet uns alle – MalerIn-nen wie Betrachtende gleichermaßen – auf eine besondere Weise an das Gemalte bzw. Gesehene. Es ist möglicherweise diese erste ›Blutsbande‹, die uns glauben macht, Ge-mälde hätten tendenziell eine rätselhafte Tiefendimension und eine daraus resul-tierende, nicht immer klar zu defi nieren-de Macht über uns. Nicht verwunderlich, dass Gemälde oder allgemeiner gespro-chen Kunstobjekte zu bevorzugten Hand-lungsträgern im klassischen Horrorgenre wurden. Auffällig ist dies im japanischen (koreanischen) Kulturkreis, wo es seit den mittelalterlichen Gespenster- oder Gru-selgeschichten (kaidan) bis zum heutigen J-Horrorfi lm eine Häufung von unheilbela-denen, übersinnlichen und vor allem aktiv agierenden Bildern (Gemälde, Fotografi en, Computerbilder, Filmbilder) gibt.

Auch Dario Argento als Meister des Gial-lo, der italienischen Horrorfi lmvariante, die Elemente der klassischen Krimis mit Thrill- und Splattereffekten durchsetzt, kann ins-

besondere in seiner früheren Schaffenspha-se auffällig viele Filmarbeiten vorweisen, die nicht zuletzt durch einen obsessiven Einsatz von Gemälden oder Kunstobjekten gekennzeichnet sind. Ganz zu schweigen von seinem ausgeprägten Sinn für Bildäs-thetik, vor allem für die Farbgestaltung der Mise-en-scènes, deren Bezüge zu klas-sischer Kunst nicht schwer nachzuweisen sind. Doch im Folgenden wird es mir weni-ger um diese Art der Kunstaffi nitäten ge-hen, sondern vorrangig um die handlungs-relevanten ›Rollen‹, die Argento den Bildern in seinen Filmen gab. Drei Filme ragen da-bei heraus: PROFONDO ROSSO (Rosso – Farbe des Todes; 1975) und LA SINDROME DI STEN-DHAL (Das Stendhal Syndrom; 1996), beide bezeugen geradezu eine Bildbesessenheit, sowie L’UCCELLO DALLE PIUME DI CRISTALLO (Das Geheimnis der schwarzen Handschu-he; 1970), das den erstgenannten nicht nur in zeitlicher Hinsicht vorangeht.

In anderen Filmen wie TENEBRE (1982) oder LA TERZA MADRE (Mother of Tears; 2007) weist Argento den Kunstobjekten zumindest in Teilen bedeutsame Funkti-onen zu, und SUSPIRIA (1977) kann man die Einfl üsse der Bilder von M.C. Escher , des Surrealismus und des deutschen fi l-mischen Expressionismus (DAS CABINET DES DR. CALIGARI von Robert Wiene , 1920) bescheinigen.

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Von der gefährlichen Kunst, mit Bildern umzugehen

Von Joanna Barck

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Aus: Michael Flintrop/Marcus Stiglegger (Hg.):Dario Argento - Anatomie der Angst. (Deep Focus 16), Berlin 2013

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(oder des Lebens). Auch die Architektur un-terstützt zunächst diesen Eindruck, denn die keilförmig arrangierte Theke stößt wie ein Bollwerk aus Licht in die dunkle Trostlosigkeit der Straße vor. Aber dieser Eindruck ist nicht von Dauer, denn das wie ein Aquarium rundum verglaste Diner ist ein Schaukasten, der zum Voyeurismus nötigt und ein fortwährendes Begehren nach mehr Sehen weckt.

Was davon und auf welche Weise kann in einem Film freigesetzt werden? Was macht man mit einem Gemäldesujet im Film, das bewusst die Handlungsfähigkeit seiner Prot agonisten negiert? Argentos Umset-zung geschieht auf den ersten Blick im Stile eines klassischen Tableau vivant, mit ande-ren Worten: Angefangen mit den Personen, die die Bildprotagonisten nachstellen, bis hin zu den Requisiten, der Farbgestaltung, der Lichtführung und der Nachbildung von architektonischen Formen und stoffl icher Materialität steht im Tableau vivant alles unter dem Vorzeichen einer möglichst per-fekten Nachbildung des Gemäldes.20 Mit ei-nem guten Gespür für Bildqualitäten und offensichtlich im Bewusstsein jener Pro-blematik will ein Bewegtbild ein Gemäl-de ›verlebendigen‹, setzt Argento auf eine vermittelnde Variante, wobei er einerseits die Filmhandlung auf einen schleppenden Dialog reduziert und vor das Café verlagert. Andererseits normalisiert er die exzentri-sche, keilartige Architektur des gemalten Diners, indem er das fi lmische Café als ein Oval zwischen den Säulen der Arkaden ein-baut und damit harmonischer in den Platz integriert. So nimmt er dem Gemälde im wahrsten Sinne des Wortes die Spitze und integriert es stärker in die Filmhandlung, nicht ohne jedoch auf das Fremdartige, das der Einsatz eines Tableau vivant im Film mit sich bringt, zu verzichten. Unverkennbar von großem Interesse war für Argento die

Lichtdramaturgie, die er präzise von Hop-per übernimmt. Das Bläuliche der Beleuch-tung, die spezifi sche Lichtstreuung, die um das Café eine wohlige Aura schafft, ist eine hervorragend gelungene Transformation des Malerischen ins Filmische. Nicht ohne Witz gestaltet Argento das Personal des Blue Café um und liefert damit einen Kommen-tar zum Gemälde, indem er die ihm eigene Starre und Depression in eine italienische Coolness der Nachtschwärmer übersetzt und nach Geschlecht gruppiert. Sukzessive verlagert Argento weitere Handlungssze-nen ins Café, ohne den Bezug zum Gemäl-de zu verlieren. So zum Beispiel durch die Einschreibung eines weiteren Gemäldezi-tats in das große Tableau vivant: Es ist jene junge, allein sitzende Frau, die Argento aus Hoppers Automat (1927) – oder Chop Suey – für diese Szene entliehen hat.

Doch steht nicht Hopper allein Pate für die starke piktorale Grundstruktur dieser Sequenzen. Die tiefen Schlagschatten der architektonischen Formationen und die Leere des Platzes erinnern stark an Gemäl-de von Giorgio de Chirico , beispielsweise an die vielen Variationen der Piazza d’Italia (1913). Typisch für De Chiricos Bilder ist die gespannte Atmosphäre, die ohne eine fass-bare Ursache die Szenerie beherrscht, die leeren Plätze mit ihrer reduzierten Archi-tektur, in denen nicht selten zwei Perso-nen einsam und verloren stehen oder der Schatten einer nicht näher zu bestimmen-den Figur förmlich durchs Bild zu huschen scheint. Ähnliches lässt sich auch für die fi lmische Sequenz sagen, vor allem für jene kurze Szene, in der Marcus aus dem Fenster der Ermordeten eine im schwar-zen Trenchcoat bekleidete Person über den Vorplatz weggehen sieht.21

Das so verschachtelte fi lmische Tableau vivant ließe sich sicherlich auf seinen sym-bolischen Gehalt hin entschlüsseln (soziale

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Kälte, Großstadtdepression etc.), aber ich meine, dass seine bedeutendere Rolle in der Markierung einer Schlüsselszene liegt. Die Gemäldenachstellung funktioniert da-bei in zweifacher Richtung: als Wende- und Initiationspunkt im Film (für Marcus) und in ihrer Signalwirkung für die Zuschauer, vergleichbar mit der Wirkung des jeweils einen neuen Mord ankündigenden Kinder-liedchens. Mit dem Tableau vivant wird dem Film jenes notwendige Quantum an Fremd-artigkeit in das Szenario eingeschrieben, das die Suche des Protagonisten nach dem fehlenden (Erinnerungs-)Bild und damit nach dem Mörder motiviert. Marcus weiß, dass hier irgendetwas mit den Bildern im Apartment nicht stimmt. Und diese Aussa-ge kann durchaus auf den gesamten Film übertragen werden: Die dem Filmbild ›un-tergeschobenen‹ Gemälde sitzen selbst wie Fremdkörper in der Struktur des Films fest und werden für die Handlung zu Trägern von Bedeutungen, die sie nicht ohne Wei-teres preisgeben. Denn auch das Apartment

der toten Hellseherin, das Marcus in der nachfolgen-den Szene betritt, ist voll-gestellt mit Kunst.

Da sind der als eine Art Wandtattoo stilisierte sie-benarmige Leuchter und die in der Nische stehen-de Skulptur einer großen weißen Jakobsmuschel, die an das Gemälde der Geburt der Venus von San-dro Botticelli erinnert. Ihre symbolischen Bedeu-tungen sind im Wesent-lichen unproblematisch: Die Menora – der sieben-armige Leuchter – steht alttestamentarisch für die sieben »Säulen der

Weisheit« (Buch der Sprichwörter 9,1) und bezeichnet die Erleuchtung (2. Buch Mose 25,31–40). Als das wichtigste religi-öse Symbol der Synagogen verweist sie insbesondere auf den jüdischen Glauben und in unserem Zusammenhang auf die Herkunft der Ermordeten. Auf der ande-ren Seite steht die Skulptur, mit der die Jakobsmuschel als vielfältiger Symbol-träger eingebracht wird: Sie steht für das Weibliche, für die Sexualität, aber auch, je nach Kontext, für die Schönheit und Reinheit oder für den Vanitasgedanken (geleerte Muschel) oder für das Geheim-nis, das die geschlossene Muschel hütet (die Perle). Die Jakobsmuschel der Skulp-tur ist aufgebrochen, ihr bewachter In-halt nicht mehr vorhanden, der Leuchter der Weisheit brennt nicht. Wir haben es hier mit modernen Kunstobjekten zu tun, die selbst ihre ›aufgebrochene‹ Symbolik ausstellen und damit die Aufl ösung ihrer möglichen oder ursprünglichen Bedeu-tungen verweigern.

Der Protagonist in einer Welt der Kunst

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Die dicht an dicht behängte Bildergale-rie, jener Gang, den Marcus vom Wohnzim-mer mit der überaus präsenten modernen Kunst aus nimmt, verweigert ihm zugleich die Einsicht in die ihr eingeschriebene Be-deutung. Umgeben von Kunstwerken befi n-det sich Marcus in zweifachem Sinne ›im Bilde‹, und gerade deswegen – ich greife an dieser Stelle meinen Ausführungen vor – kann er die Zusammenhänge nicht über-blicken. Er ist in doppelter Hinsicht blind für das Sichtbare.

Die Spur der Bilder: Das Blut – die Leerstellen – Holmes und Lacan

Neben Alfred Hitchcock und David Lynch ist Dario Argento möglicherweise der dritte wichtige Regisseur, dessen Filme sich her-vorragend für die Interpretation mit den Mitteln der psychoanalytischen Theorie-ansätze (Sigmund Freud , C.G. Jung , Jacques Lacan , Melanie Klein ) eignen. Bisher führ-te dies vor allem dazu, die fraglos auffälli-gen und mit dem konventionellen Muster des ›schwachen Geschlechts‹ brechenden Frauenrollen als mordende Gattinnen und Mütter und die gleichzeitig schwachen oder zumindest passiven männlichen Protagonis-ten gegeneinander zu interpretieren.22

Die Frau als ›Mängelwesen‹, als diejeni-ge, die des Phallus entbehrt und sich durch diesen Mangel nach Lacan erst überhaupt situiert, ist in den hier zu analysierenden Filmen vor allem ein Wesen, das sich zu-mindest des Symbols ›Phallus‹ bedienen kann. Sie ist – verbleiben wir in der Ter-minologie Lacans – diejenige, die kastriert. Argento verbindet diese agierenden (kast-rierenden) Frauen und reagierenden (kas-trierten) Männer mit einem mäandernden Faden aus Bildern und Fetischobjekten, die ich im Folgenden in den Fokus neh-men möchte.

Ich wage zu behaupten, dass nur sehr we-nige Filme so meisterhaft und exemplarisch eine klassische investigative Untersuchung mit Psychoanalyse verbinden wie Argen-tos PROFONDO ROSSO . Die Handlung auf der Primärebene ist schnell zusammengefasst: Marcus Daly, ein professioneller Musiker, wohnt einem Mord bei, der sich im selben Apartmenthaus ereignet, das auch er be-wohnt. Seine Hilfe kommt zu spät, aber im Apartment des Opfers überkommt ihn das überwältigende Gefühl, etwas gesehen zu haben, was auf den Mörder hinweist. Mar-cus geht davon aus, dass es ein Gemälde ist, das zwischenzeitlich entwendet wurde. Besessen von dieser Idee – wir erinnern uns an Sam aus L’UCCELLO – macht er sich gemeinsam mit der Journalistin Gianna Brezzi (Daria Nicolodi ) auf die Suche nach diesem fehlenden Indiz. Während weite-re Morde geschehen, bewegt sich Marcus von einem Anhaltspunkt zum nächsten, wobei alle Hinweise piktoraler Art sind, bis er zu der ersten Tat vordringt, die alle anderen nach sich gezogen hat: zu dem Mord an einem Familienvater während ei-nes Weihnachtsfestes. Mithilfe einer Foto-grafi e fi ndet Marcus schließlich die Villa, in der der erste Mord geschah und auch das geheime Zimmer, in dem die mittler-weile mumifi zierte Leiche des Ermorde-ten sitzt. Alle Hinweise deuten auf Carlo (Gabriele Lavia ), seinen Freund und Kol-legen. Doch der Mörder entpuppt sich am Ende als Carlos Mutter Marta (Clara Cala-mai), die ihren patriarchalen Ehemann umbrachte, als dieser sie in eine Anstalt einweisen wollte.

In PROFONDO ROSSO überkreuzen sich die Methoden von Sherlock Holmes mit den Analyseansätzen von Sigmund Freud und, noch viel mehr, von Jacques Lacan . In diesem Chiasmus stehen ›die Bilder‹, wobei sie nicht nur aus den sichtbaren Wandma-

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lereien, Zeichnungen und Gemälden beste-hen, die den Film mäandernd wie ein roter Faden durchziehen. Als Symbole, investi-gative Spuren und Objekte der Begierde der Protagonisten gleichermaßen bilden sie, metaphorisch gesprochen, sowohl das Gerüst als auch die Blutbahnen der fi lmi-schen Geschichte. Doch das erste Bild, das den Anfang des Films markiert, hat eine andere Beschaffenheit: Es ist das mentale Bild, das Helga Ulmann (Macha Méril ) wäh-rend einer öffentlichen Séance auf einem »European Congress on Parapsychology« vor ihrem inneren Auge sieht. Dieses Bild ist die für alle anderen unsichtbare Ima-gination, die sie von einer psychotischen Persönlichkeit ›empfängt‹, die, wie es im Film heißt, bereits gemordet hat. Interes-sant zu beobachten ist das Versagen der Sprache als Mittel der Rationalisierung und Bewusstwerdung, das hier besonders deutlich zutage tritt. So kann Helga auf dem Podium des Kongresses angesichts dessen, was sich in ihrem Inneren zu ei-nem Bild des ersten Mordes verfestigt, kei-ne klare Beschreibung liefern: »Da ist et-was. [...] Etwas Scharfes, Seltsames, so wie der Stich eines Stachels [...].« Dieses erste Imaginationsbild und die Unfähigkeit der Hellseherin, das Gesehene zu verbalisie-ren, verdeutlichen etwas für den Verlauf der Handlung eminent Wichtiges: Nicht die Sprache ist es, die hier etwas aufzudecken hilft, sondern das Vermögen, das Unsicht-bare sichtbar zu machen.

Sprache ist für Lacan (und für Freud ) der Schlüssel zum Unbewussten, insofern der Sprecher oder die Sprecherin »nicht wis-sen, was sie sagen«.23 Das setzt aber vor-aus, dass sie ›etwas‹ sagen, das signifi kant ist. Man kann behaupten, dass es gerade Helgas Unvermögen ist, aus dem Gesehe-nen die richtigen Schlüsse zu ziehen, was schließlich zu ihrem Tod führen wird. Und

dieser ist unvermeidlich, weil das Medium in der Imagination sehr wohl den Mörder gesehen hat, allerdings zunächst ohne ihn zu erkennen, und das heißt: ohne ihn si-gnifi kant erfassen zu können. Auch Mar-cus wird alsbald einen ähnlichen blinden Fleck angesichts der vielen Porträts im Apartment der Hellseherin entwickeln. Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass die fi lmische Psychoanalyse nicht auf dem Gesprochenen, sondern auf dem Gesehe-nen beruhen muss. Das Lacan’sche oder Freud’sche »Ich weiß nicht, was ich sage« wird hier zu einem »Ich weiß nicht, was ich sehe«. So ist es auch kein Zufall, dass die beredte Dominanz der Bilder gegen die re-lative sprachliche Unfähigkeit der Protago-nisten steht. Marcus Daly ist ein zurückhal-tender, tendenziell wortkarger Pianist. Als Engländer ist ihm die italienische Sprache zudem sicherlich fremd, auch wenn die-se Offensichtlichkeit an keiner Stelle der Erzählung thematisiert wird. Schließlich akzentuiert eine slapstickartige Szene, die vordergründig das unvermeidlich typisch Italienische (die lärmende Bar, der obligat frisch aufgebrühte Espresso) aufs Korn nimmt, die grundsätzliche sprachliche Störung des Films. Wenn Marcus vor lau-ter Zischen der Kaffeemaschine und dem Lärm der Barmänner nicht mit der Jour-nalistin Gianna Brezzi, die seine Vertraute in dem Mordfall ist, telefonieren kann, so verliert das Gesagte seine Signifi kanz und gibt sie an das Gezeigte ab.

Dass Gemälde in der Mordangelegen-heit eine zentrale Rolle spielen, steht zumindest für den Protagonisten außer Frage, der von der Idee des abhanden ge-kommenen Bildes geradezu zwanghaft getrieben ist. Seine Fixierung auf ein ab-wesendes Bild bedeutet schließlich die Erlangung der Souveränität über das Imaginäre (Bilder). Dieses Motiv erinnert

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nicht von ungefähr an L’UCCELLO und den Schriftsteller Sam, der in der Galerie die gleiche Erfahrung macht. Auch ihn ver-folgt die Szene, aufgelöst in verschiede-ne Close-ups und Standbilder, ohne dass er seinem Irritationsgrund näher käme. Marcus’ blinder Fleck und die Ahnung um seine Relevanz entstehen in den wenigen Sekunden, in denen er Helga zu Hilfe eilt und dabei einen langen Gang ihrer Woh-nung durchquert.

Dicht an dicht hängen hier gerahmte Gemälde oder kolorierte Zeichnungen, deren Aufhängung und Reihung an eine Ahnengalerie erinnert. Es sind Porträts von verzerrten Gesichtern mit leeren, weißen Augäpfeln ohne Pupillen und auf-gerissenen dunklen, zahnlosen Mündern, die mehr an Totenköpfe oder Geisterge-stalten als an lebende Menschen gemah-nen. Es spricht einiges dafür, Helga als das Medium dieser Bilder und vielleicht auch als die Malerin der übersinnlichen Wesen selbst zu bestimmen. Und sind die Dar-gestellten nicht im gewissen Sinne ihre Familie oder ihre ›Kinder‹, denen sie aus der Dunkelheit des Vergessens wieder ans Licht und in die Sichtbarkeit verhalf? Ihre offensichtlichen Ähnlichkeiten unterein-

ander zitieren in gewisser Weise – wenn auch pervertiert – durchaus die wieder-kehrenden physiognomischen Merkmale von Familienangehörigen.

In diesen Porträts zeigt sich die Ambi-valenz oder die Paradoxie, die zwischen dem Sehen und dem Nicht-Wahrnehmen-Können liegt. Das Unsichtbare zu sehen, wie es Helga in der Séance tat, ist eine Sa-che, ob das so Gesehene jedoch entspre-chend bezeichnet (wahrgenommen) wird, ist von einer sprachlichen Interaktion zwi-schen Innen und Außen abhängig. Marcus scheitert daran in der Bildergalerie – auch er bleibt ›sprachlos‹. Als Metapher für das Problem des Blicks, der etwas sieht, aber nichts erkennt, können die weißen und damit ›blinden‹ Augen der Porträtierten genommen werden: Augen, die offensicht-lich auf die ›andere Seite‹ – zum Tod hin – ausgerichtet sind, worin auch eine (›fa-miliäre‹) Ähnlichkeit mit Helga und ihrem nach innen gerichteten Blick läge.

Und doch nimmt Marcus gerade in die-sem Gang voller ›blinder Bilder‹ die Fährte auf. Seinen Ausgangspunkt markiert eine Leerstelle, was seine detektivische Arbeit psychoanalytisch so interessant macht. Halten wir zunächst fest: Was Marcus zu

Der Kunstkorridor aus PROFONDO ROSSO

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bestimmen sucht, ist nicht die Frage nach dem Mörder, sondern die nach dem ge-störten (Bild-)Gefüge in der Galerie. Es ist eben jenes »Ich weiß nicht, was ich sehe«, das Marcus’ spezifi sche ›Blindheit‹ cha-rakterisiert und seinen obsessiven Wunsch nach dem Unsichtbaren motiviert. Sie ist gleichzeitig auch die Spur des Blutes (des Mordes), die den Gemälden von Anfang an eingeschrieben ist. Auf diese Weise wird die Suche nach dem Mörder zu ei-ner psychoanalytischen Suche nach dem Verdrängten.

»Das Bild steckt in meinem Kopf«

Marcus verfährt zunächst ganz wie der Meisterdetektiv Sherlock Holmes, wenn er nach dem fehlenden Indiz fragt und es an die Analyse des Tatorts bindet. So be-lehrt Holmes seinen Freund Watson darü-ber, dass nicht das Unsichtbare das übliche Hindernis einer Untersuchung darstellt, sondern der Mangel an Wahrnehmung:

»Never trust general impressions, my boy, but concentrate yourself upon details.«24

Holmes’ Methode beruht auf der Parzel-lierung des Tatortbildes in einzelne visu-elle Details, wodurch er sich, einem Täter nicht unähnlich, selbst der aggressiven Zerstückelung bedient. Sein höheres Ziel, nämlich die erneute Zusammensetzung der Einzelstücke zu einem vollständigen und nun verstandenen Ganzen, rettet ihn davor, selbst ein psychopathischer Killer zu werden. Was habe ich zunächst gese-hen, und was stimmt nun nicht mehr mit dem Gesamtbild (Tatort) überein? Ist etwas verändert worden, und wenn ja, was und warum? Diese Fragen beschäftigen Marcus in der Weise, wie sie auch Holmes beschäf-tigten, und führen logischerweise zu dem ersten ›Bild‹, mit dem alles begann (Helgas Imagination).»Das Bild steckt in meinem Kopf – eine fl üchtige Vision«, sagt Marcus zu seinem betrunkenen Freund Carlo auf der Piazza vor dem Tatort. Doch die ›Visi-on‹ ist genaugenommen gar keine Vision,

sondern psychoanalytisch betrachtet ein verdrängtes Bild, das in diesem Sinne tatsächlich in Marcus’ Kopf ›steckt‹, so wie die Imagi-nation des Mörders sich zu-vor im Kopf der Hellseherin entfaltete, ohne dass sie ihre Signifi kanz erkannte. Und dennoch sieht Marcus etwas, was man durchaus als ein ›fl üchtiges Bild‹ be-zeichnen könnte, denn es ist ein Spiegelbild, das das Gesicht des Mörders wi-derspiegelt. Was der Film uns – und Marcus – erst am Ende offenlegt, haben wir von Anfang an gesehen: das gespiegelte Gesicht der Täte-Irritierte Erinnerung: Die Täterin im Spiegel

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rin, das sich in das Umfeld der Bildnisse perfekt einfügt. Die Mimikry spielt sich auf zwei Ebenen, der strukturellen und der symbolischen, ab: Sie betrifft die Form des Spiegels, die sowohl das horizontale Oval als auch den Stil der Rahmung wiederholt, und das Sujet, das hier das bleiche, ›irre‹ Gesicht ist, das sich als Spiegel-Bild in die real expressionistisch gemalten, surre-alen Bildnisse einfügt. Marcus sieht tat-sächlich sowohl das lebende Gesicht der Täterin als auch ein Bild, das Spiegelbild als solches.»Vielleicht sollte das Bild ver-schwinden, weil es etwas Wichtiges dar-stellte«, mutmaßt Carlo. Auch Carlo irrt sich darin, denn dieses Bild ist nicht ver-schwunden, sondern bestimmt als der ›an-wesende Dritte‹ – angelegt in der Symbolik der mächtigen Marmorskulptur des Brun-nens, die den Raum zwischen Marcus und Carlo im Hintergrund der Szene dominiert – sein und indirekt auch Marcus’ Leben. Denn es ist Carlos psychisch kranke Mut-ter Marta, die sich am Ende an Marcus für seine falschen Schlüsse, die zum Tod ihres Sohnes führten, rächen wollen wird.25 An-ders ausgedrückt: Marcus soll sterben – üb-rigens auf die gleiche Art und an der glei-chen Stelle wie die Hellseherin –, weil ihm das Vermögen fehlt, richtig zu sehen. »Du bist zu realistisch, mein Freund«, wirft ihm auch Carlo vor, »und dabei übersiehst du das Wichtigste.« Tatsächlich stolpert Mar-cus von einem Bild-Puzzle zum nächsten, wobei sein Begehren, die Leerstelle auszu-füllen, nicht gelingt. Seine Schlussfolgerun-gen scheitern immer wieder an dem »Ich weiß nicht, was ich sehe«. Marcus kommt aus dem Zustand der Verwunderung über seine Unfähigkeit, sich zu erinnern, nicht heraus, was wiederum verdeutlicht, dass, mit Lacan gesprochen, in dieser Konstel-lation der Signifi kant fehlt. Lacan spricht vom Signifi kanten als dem, was das Subjekt

verstört, weil es zunächst für ihn unbe-greifl ich ist, und vom Signifi kat als der ver-drängten Bedeutung, auf die der Signifi kant hindeutet, ohne sie jedoch preiszugeben. Der Signifi kant verdeckt also das Signifi -kat und weist gleichzeitig damit auf seine Existenz hin. Die Situation in PROFONDO ROSSO ist verzwickter, weil der Signifi kant, nach dem Marcus sucht, für ihn zunächst nur aus der Verwunderung über sein Ab-handenkommen existiert.

Das Marcus abhanden gekommene Bild-detail ist also das Gesicht der Mörderin, das sich scheinbar so natürlich in das rückwär-tig hängende Porträt einfügt und dennoch ein lebendiges widergespiegeltes Subjekt ist. Es ist die Maskierung – wir wohnten dem Ritual der Augenkonturierung mit einem schwarzen Eyeliner bei –, die das Gesicht Martas an die sie umgebenden Porträts an-gleicht; ihre psychopathologische Störung ist sicherlich ein weiterer Faktor, der die Ähnlichkeit evoziert. Als Maske unter an-deren Masken, eingerahmt von dem golden-barocken Rahmen des Spiegels, blass und starr ist ihr Gesicht tatsächlich zu einem medialen Bild geworden. »In Wirklichkeit gibt es zwei Versionen der Wahrheit«, sagt Carlo zu Marcus, und wir können überset-zen: die Wahrheit des Symbolischen und die des Realen. Welche Wahrheit Marcus sucht, zeigt sich nur allmählich, so wie seine zögerliche Antwort auf die Frage, die ihm die Journalistin stellt: »Ich suche die Wahrheit. Wollen Sie nicht, dass sie entdeckt wird?«

Die Scherbe oder das Symbolische

»Wir werden alles im Haus verstecken. Nie-mand wird es jemals erfahren. Wir müs-sen vergessen.« Diese Sätze, nachgespielt vom Freund der verstorbenen Helga, sind Zitate ihrer Imagination, rückblickend

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betrachtet erzählen sie die Situation des ersten Mordes: Es ist Marta, die hier auf ihren kleinen Sohn Carlo einredet. Was im Haus versteckt wird, ist die Leiche des er-stochenen Vaters, und es ist der Mord, den Carlo und Marta für immer vergessen sol-len. Es ist, in psychoanalytischen Termen gesprochen, die Situation der Kastration des Vaters durch die Mutter, die im Besitz des symbolischen Phallus ist: der Macht der Signifi kanten (der Sprache des Vaters), symbolisiert durch das Messer.26

Um diese Geschichte offenzulegen, muss Marcus sich auf die Suche nach dem verlorenen Signifi kanten, dem ›über-sehe-nen‹ Bild und der verlorenen Sprache be-geben. Seine Nachforschungen führen ihn zu einer Fotografi e des Hauses, in dem es angeblich – so die moderne Sage – spukt: Man hörte dort ein Kinderlied, gesungen von einem Knaben, das plötzlich aufhört und in einen markerschütternden Schrei überging. Das Foto entwendet Marcus (er reißt es heraus) aus einem Buch und hin-terlässt seinerseits wiederum eine bildli-che Leerstelle in einem sprachlichen Sys-tem. Leere Zimmer erwarten ihn in der Villa, die er auf der Suche nach einem In-diz durchstreift. So etwas wie Intuition, seine häufi g thematisierte ›künstlerische Sensibilität‹ oder auch nur sein Wille, in der Villa das fehlende Bild fi nden zu müs-sen, macht Marcus schließlich auf einen roten Riss im Wandverputz aufmerksam. Die Signalfarbe Rot zwingt Marcus, ge-nauer hinzusehen – dieses Rot, das Blut symbolisiert und das von Anfang an mit den Bildern verknüpft war, bezeichne ich daher als Aggressor, weil es die Struktur hat, zurückzublicken.

Marcus’ Begehren nach dem unsichtbar gemachten Galeriebild ist im Sinne Freuds und Lacans vergleichbar mit der Disposi-tion des Hysterikers, der sich zum Objekt

einer Betrachtung, zum Begehrten selbst machen will. Vordergründig wird zwar das Bild freigelegt, um seine Geschichte auf-zuzeigen, das heißt aber auch, um den Be-trachter ›anzugehen‹ und in diesem Sinne den auf ihn gerichteten Blick zu erwidern: ›zurückzublicken‹. Elle me regarde, was im Französischen gleichermaßen ›sie blickt mich an‹ als auch ›sie geht mich an‹ be-deutet.27 Das Auge als »gefräßiges Organ«28 braucht visuelle Nahrung (Stimulanz), die ihm im »Blick« geboten wird. Doch alles, was sich dem Blick darbietet, kann auch selbst den Blick erzeugen. Ermöglicht wird es, so die Psychoanalyse, durch die Kons-truktion des Subjekts, das sich erst durch den Blick des Dritten/des Anderen, durch das Angeschautwerden konstituiert. So ist das im Horrorfi lm bevorzugte Durchboh-ren, Ausstechen, Durchschießen, Heraus-reißen, Ausbrennen der Augen nicht nur eine Negierung des Sehens und Beobach-tens, sondern auch eine drastische Meta-pher für die Abwehr des Anderen als des eigentlichen Subjekts, das uns zu Objekten seines Blicks/Begehrens macht.29

Die Scherbe(n), die Marcus zu Hilfe nimmt, um das große Ganze (das Wandbild) frei-zulegen, fi ndet er vor seinen Füßen und erstaunlicherweise in dem unter Wasser stehenden Gerümpelkeller. Dieses zunächst unbedeutende Detail der fi lmischen Nar-ration ist psychoanalytisch durchaus von Interesse, denn es macht die Bedeutung der Handlung der ›Bildfreilegung‹ klarer. Die Scherbe ist nicht nur ein zufälliges Hilfsmittel, sondern vor allem ein Symbol, und um genauer zu sein, sie ist das Symbol schlechthin. Lacan bzw. Pater Lucien in seinem Vortrag in Lacans Seminar machte darauf aufmerksam,30 dass sich das Wort »Symbol« etymologisch vom griechischen Wort für »Scherbe« oder »Bruchstück« (σύμβολον, sýmbolon) ableitet, mit dem/der

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man zwei Vertreter einer Sache (Partei, In-teressenverbund etc.) ausstattete, damit sie ihre Zugehörigkeit und im weitesten Sinne ihre Identität anhand der Passgenauigkeit von zwei Bruchstücken überprüfen konn-ten. So wurden die Scherben zum Symbol einer bestimmten Sache, aber auch der Zusammen-fügung/Entsprechung von zwei Zeichen.

Das Auftauchen der Scherbe im Film verweist auf den Symbolcharakter der gesamten Szene, näm-lich der Freilegung von Verborgenem, das sich hier als ein visuelles Feld des verdrängten Bildes prä-sentiert. Gleichwohl ist das, was freigelegt wird, seinerseits nur ein Fragment – die zu vorschnell von Marcus fallengelassene Scherbe symbolisiert seine erneute Unfä-higkeit, sich des Signifi kanten zu vergewis-sern. In Marcus’ Abwesenheit ›entblättert‹ sich das verborgene Wandgemälde selbst und zeigt uns, den am Ort verbliebenen Zuschauern, die wahre (ganze) Dimen-sion der Ursituation. Diese bildet die ge-störte Dreiecksbeziehung dar, in der der Vater von seiner Ehefrau ermordet (kast-riert) wird und der Sohn das Messer (das sich der Vater, wie wir am Ende des Films erfahren werden, in letzter Kraft aus dem Rücken zieht) ergreift und hochhält. Mar-cus interpretiert das Fragment, das er für das Ganze hält und dabei die Hauptakteu-rin ›über-sieht‹, falsch und setzt Carlo in seiner ›Perversion‹ (er ist homosexuell) als Täter gleich.

Spricht man von der Blickzähmung im Kontext der Kunst31 – der Sichtbarkeit –, so liegt hier in der blank grundierten Wand, die dem Auge de facto keine Nahrung bie-tet, die Umkehrung der Zähmung vor: Der

Blick prallt von der Wand ab und kann die im Verborgenen liegende Bedeutung nicht erreichen – außer die Wand zeigt Risse. Eine andere Formel für die Signifi kanz des Bildes liefert der imaginäre Abdruck an der leeren Wand in einem versteckten Winkel des Hau-

ses. Es sind die sogenannten Schmutzränder, die üblicherweise ein Bild hinterlässt, wenn es lange an einer Stelle hing, die hier eine Stelle der Abwesenheit markieren. Wie in dem ›abhanden gekommenen‹ Bild in Hel-gas Bildergalerie, so haben wir es auch hier mit einem Bild als Leerstelle zu tun. Aber diese ›Bilderspur‹ ist nicht bloß ein Hin-weis auf die ehemalige Bildexistenz – sie ist ein Symbol für die Dimensionierung des Bildes in seinem Verweischarakter auf ein Dahinter. Man denke an dieser Stelle an die virtuellen oder phantasmagorischen Bilderräume/Bilderweiterungen im LA SINDROME DI STENDHAL .

Dieses Mal kann Marcus das Rätsel des fehlenden Bildes ergründen, indem er das Symbol richtig deutet und die Wand (Me-tapher für Bildoberfl äche und Schwelle zugleich) einreißt, um so die dahinter lie-gende Kammer freizulegen. Die Analogie in der Gestaltung dieser Mise-en-scène zu seiner Freilegung des Wandbildes ist of-fensichtlich. Obwohl zugemauert, im Dun-keln und abgeschieden von der sichtbaren Raumkonstellation des Hauses, blieb das

Das abwesende Bild als Leerstelle

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Zimmer dennoch immer ein wesentlicher Teil der architektonischen – und vor allem der psychischen – Gesamtheit. Übersetzt in psychoanalytische Terme: Die Kammer – der ›Ort‹ hinter dem Bild – ist das Fun-dament, aus dem die folgenden Störungen erwachsen.

Marcus missversteht die Bezüge der Bil-der untereinander – eine Kinderzeichnung führt ihn zu Carlo hin als dem ›Kind‹ und vermeintlichen Täter –, die wie frei fl uktu-ierende Signifi kanten um das Signifi kat der Tat (der Ermordung/Kastration des Vaters) kreisen, die Tat selbst jedoch nicht bezeich-nen. Dass Signifi kant und Signifi kat ihre Seiten wechseln – in der Zuordnung insta-bil sind –, ist das Symptom der vielfältigen Störungen der Protagonisten. Und als sol-che sind die anwesend-abwesenden Bilder gleicherweise betroffen. Marcus’ abhanden gekommenes Spiegel-Bild verhält sich zu dem großen Wandgemälde wie der Signifi kant zum Signifi kat: Es verdeckt die Bedeutung und weiß zugleich auf diese hin. So ist Mar-ta nur ein Verweis auf die bildlich gefasste Ursituation der gestörten Triangel im psy-choanalytisch gedeuteten Verhältnis von dem Begehren der Mutter (dem Vater), dem Vater (als dem Gesetz / der Sprache des Ver-

bots) und dem Kind (seiner Subjektbildung durch das Gesetz des Verbots).

Die Faszination, die Argentos Filme be-zeugen, ist die eines visuellen Kunstwerks, das – um mit einem Zitat von August Ruhs zu schließen –

»[...] immer auch einer Verfremdungsfunk-tion geschuldet [bleibt], die die Frage nach Bedeutung jenseits des Gesehenen aufwirft und die ein Dahinterliegendes verheißt, das der Betrachter stets zu erkennen und zu er-fassen wünscht. Denn als Quelle eines Trie-bes – des Schautriebes – ist auch das Auge Ort (ja sogar Schauplatz par excellence) der dialektischen Wirkung von Eros und Thana-tos [...]: Im Trachten nach unmittelbarer und möglichst unvermittelter Befriedigung, im Streben nach Erfüllung und Vollendung und damit nach Aufhebung seiner Spannung ist das Wirken des reinen Triebes von vornhe-rein tödlich. So ist auch das Auge ein Organ voller Gefräßigkeit und Gier und sein Blick ist grundsätzlich böse.«32

Marcus’ Begehren nach dem Bild entpuppt sich schließlich als eine Suche nach dem Blick der Selbsterkenntnis. Möglicherwei-se ist es der Blick, den Marcus am Ende

Marcus’ Spiegelbild im Blut

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des Films (bereits jenseits der eigentlichen Handlung, da während der Credits) fi ndet, wenn er in die Blutlache der guillotinier-ten Marta schaut. Es bleibt den Zuschauern überlassen, Marcus’ Handgeste des Augen-bedeckens im Sinne einer symbolisch zu denkenden Projektion und Gegenprojek-tion (wie Anna in LA SINDROME DI STEN-DHAL ) zu deuten.

Anmerkungen1 Der Film basiert auf dem Roman The Screaming

Mimi (1949) von Fredric Brown , einem US-ameri-kanischen Schriftsteller, der vor allem Science-Fiction-Kurzgeschichten und Kriminalromane verfasste, welche zunächst in Pulp-Zeitschrif-ten veröffentlicht wurden. Dario Argento war von der Geschichte in The Screaming Mimi so angetan, dass er sie in abgewandelter Form zum Grundmuster von drei Filmen machte – L’UCCELLO DALLE PIUME DI CRISTALLO , PROFONDO ROSSO und TENEBRE . Betont wird häufi g, dass es sich bei keinem dieser Filme um Romanverfi l-mungen im strengen Sinne handelt, dennoch sind Argentos Anleihen zumindest L’UCCELLO betreffend mehr als nur fl üchtig. Bezeichnend für alle drei Filme ist ihre kriminologische Handlung, die deutliche Elemente des Horror-Genres aufweist, dennoch aber vor allem dem Detektiv-Muster im Sinne eines Sherlock Hol-mes oder auch der Hitchcock’schen Figuren (unschuldig verdächtiger Mordzeuge) folgt. Zum Roman im Vergleich mit L’UCCELLO sie-he bei Maitland McDonagh: Broken Mirrors / Broken Minds. The Dark Dreams of Dario Ar-gento, New York 1994, S. 42ff.

2 Vgl. ebd., S. 40.3 Einem aufmerksamen Zuschauer wird bereits

in der Mitte des Films ein anderes modernes Kunstwerk aufgefallen sein, das im Apartment des Schriftstellers aufgestellt war. Die Szene zeigt zwar keine gewalttätige Aktion, doch entbehrt sie nicht einer surrealen, bedrohli-chen Stimmung, denn während alle Personen die Wohnung verlassen, verbleibt die Kamera im Raum und zeigt ein gefährlich ausschau-endes Kunstobjekt: eine Skulptur, bestehend aus einer spitzen, messer- oder pfeilähnlichen

Form, die das (woher?) einfallende Licht bündelt und als einen den Zuschauer blendenden Blitz zurückwirft. Sie erinnert entfernt an futuris-tische Skulpturen, an den Bauhaus-Stil und an Vertreter der abstrakten Kunst wie Julio González , der als der Erfi nder der ›Eisenplas-tik‹ (Plastik mit Schweißgerät) in den 1940er Jahren gilt. Sie ist es, die in Abwesenheit aller Protagonisten scheinbar das Apartment okku-piert und in symbolischer Weise die Funktion der Kunstbilder für den Film offenbart: ihre Agitation aus dem Verborgenen, sozusagen aus den Tiefen der Filmbilder heraus.

Der Blitz – das an der Skulptur sich bündeln-de Licht –, das den Betrachter blendet, ent-spricht dem Blick, mit dem er etymologisch (althochdeutsch) gleichbedeutend ist: Der Blick ist wie der Blitz, der einen Strahl aus-sendet und den Betrachter(blick) an das Ob-jekt seiner Betrachtung bindet. Hier trifft uns, die Film- und KunstbetrachterInnen, der Blick des Objekts und macht uns symbolisch blind für die tatsächliche Funktion der Bilder, wie das Argento meisterhaft in PROFONDO ROSSO in Szene setzten wird.

4 Das Interview mit Argento wurde anlässlich der Präsentation von LA SINDROME DI STENDHAL auf der Viennale ’96 in Wien geführt; siehe Be-hind The Door 8, 2/1997, S. 95–97, hier S. 96.

5 Beschrieben sind seine besondere Kunsterfah-rung und ihre psychosomatischen Auswirkun-gen in seinen 1817 veröffentlichten Reisenoti-zen Rome, Naples et Florence . Stendhal: Gesam-melte Werke (Hg. Manfred Naumann), Berlin 1964, S. 234: »[...] Ich war auf dem Punkt der Begeisterung angelangt, wo sich die himmli-schen Empfi ndungen, wie sie die Kunst bietet, mit leidenschaftlichen Gefühlen gatten. Als ich die Kirche verließ, klopfte mir das Herz; mein Lebensquell war versiegt, und ich fürchtete umzufallen.«

6 Vgl. Graziella Magherini: La Sindrome di Stendhal, Firenze 1989; dies.: »Mi sono inna-morato di una statua«: Oltre la Sindrome di Stendhal, Firenze 2007. Beide ohne dt. Über-setzungen. Zum ersten Buch siehe auch Aus-züge und Informationen auf Englisch unter: www.auxologia.it/stendhalsyndrome/pageb.htm#PREMESS (24.5.2013). Das Buch erntete Kritik aus der Fachwelt, da die Untersuchung der Symptome als nicht wissenschaftlich stringent angesehen wird.

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7 Neben den Credits weist Argento auch promi-nent im Film selbst auf Magherinis Buch hin, indem er Passagen während einer psychothera-peutischen Sitzung vorlesen lässt. Zu der Frage nach der immersiven Funktion von Gemälden in Spielfi lmen mit besonderer Berücksichtigung Dario Argentos LA SINDROME DI STENDHAL sie-he ausführlich in meinen Aufsatz: Der digitale Riss im Film-Bild. Zu Raumbildern in Spielfi l-men, in: Joanna Barck / Gundolf Winter / Jens Schröter (Hg.): Das Raumbild. Aspekte eines verdrängten Bildphänomens, München 2009, S. 215–240. Im Folgenden beziehe ich mich in überarbeiteter Form auf meine ursprüngli-chen Ausführungen.

8 Es sei nur am Rande angemerkt, dass in die-ser Wandlung der Persönlichkeit von einer ursprünglich positiv besetzen Figur hin zum psychotischen Täter Parallelen bestehen zu Peter aus TENEBRE , der gleicherweise die Taten eines Mörders nach seinem Tod weiterführt, der ursprünglich die Figur seines Romans nachahmte.

9 Gernot Böhme: Theorie des Bildes, München 1999, S. 46.

10 Vgl. W.J.T. Mitchell: What Do Pictures Want? The Lives and Loves of Images, Chicago 2006 (dt.: Das Leben der Bilder: Eine Theorie der vi-suellen Kultur, München 2012).

11 Mit dem Ausdruck des Risses nehme ich Bezug auf den »Riss des Seins«, den Gernot Böhme in seinem Buch Theorie des Bildes (München 1999, S. 7) formuliert.

12 Juliet Mitchell (Hg.): Melanie Klein: The Selected Melanie Klein, London 1986; Robert D. Hinshel-wood: A Dictionary Of Kleinian Thought, Lon-don 1991; dies.: Clinical Klein, London 1994.

13 Vgl. Julian Hoxter: Anna With The Devil Inside. Klein, Argento, & ›The Stendhal Syndrome‹, in: Jack Hunter (Hg.): A Complex of Carnage. Dario Argento: Beneath the Surface, (Glitter Books) 2012, S. 119–137.

14 Gilles Deleuze / Félix Guattari: Tausend Pla-teaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1992 (Kapitel 7: Das Jahr Null – Die Erschaffung des Gesichtes), S. 229–262.

15 Eine genaue Interpretation des Gemäldes ist im vorliegenden Text leider nicht möglich. Zur Ergänzung empfehle ich statt einer langen Liste wissenschaftlicher Abhandlungen zwei fi lmi-sche Inszenierungen des Gemäldes, als Bildana-lysen vorgelegt von Peter Greenaway: NIGHT-

WATCHING (2007) und REMBRANDT’S J’ACCUSE (2008), ein kunsthistorisches Video-Essay zu den ›Rätseln‹, die das Gemälde dem Betrachter aufgibt. Siehe auch auf YouTube unter: http://youtu.be/uZ1fvZOAYSM und http://youtu.be/K1TNdNsolzQ (24.5.2013).

16 Im linken Bildteil sieht man vor dem Original stehend einen kahlen, hell aus dem Gebüsch unter dem Baum hervorleuchtenden Schädel des Ermordeten, bei dem es sich um den bib-lischen Abel handelt. Sein Mörder ist der im Bildvordergrund pfl ügende Kain, mit dessen Tat biblisch umgedeutet das »Eiserne Zeital-ter« der Mühsal, Schmerzen und Gewalt für die Menschheit eingeleitet wird. Wie das vorder-gründige Thema des Gemäldes – die Geschich-te von Ikarus und seinem Vater Daedalus –, so ist die Teilung der Weltzeitalter auch in den Metamorphosen von Ovid zu fi nden. Zu Brue-gels Bild siehe die hervorragende Analyse von Beat Wyss: Pieter Bruegel. Landschaft mit Ika-russturz. Ein Vexierbild des humanistischen Pessimismus, Frankfurt am Main 1990.

17 Jacques Lacan / Jacques-Alain Miller (Hg.): Die Psychosen. Das Seminar von Jacques Lacan. Buch III (1955–1956), Weinheim/Berlin 1997, S. 111; vgl. auch S. 112.

18 Der Stendhal-Schwindel (Interview) in: Spie-gel online 7/2008 (11.2.2008), unter: www.spiegel.de/spiegel/print/d-55766049.html (24.5.2013).

19 Der als Hintergrund für die Filmsequenz die-nende Brunnen ist einer der spiegelsymmet-risch zueinander stehenden Wasserspeier mit den Personifi zierungen zweier Flussgottheiten (hier der Gott des Flusses Po). Sein Pendant, die Flussgöttin der Dora Riparia, sieht man nur im kurzen Moment am Anfang der Sequenz. Beide Brunnen sind 1937 von Umberto Bagli-oni errichtet worden.

20 Das Tableau vivant ist demnach eine körper-lich-dingliche Rückübersetzung des Bildge-genstandes und seiner Komposition in die Realität der lebenden Dinge, und als solche ist sie eine fehlerhafte Imitation des Gemäl-des, da sie dessen zeitliche Dimension nicht übersetzen kann. Eine faktische ›Verleben-digung‹ des Gemäldes erforderte die zum Le-ben dazugehörige Bewegung, das Vergehen von Zeit oder allgemeiner das Empfi nden der zeitlichen Dimensionierung, das wiederum die Bezugnahme zur gemalten Vorlage zerstören

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würde. Unabdingbar für ein Tableau vivant ist daher seine relative Bewegungslosigkeit. Zur Funktion von Tableaux vivants siehe Joanna Barck: Hin zum Film – Zurück zu den Bildern, Tableaux vivants: »Lebende Bilder« in Filmen von Antamoro, Korda, Visconti und Pasolini, Bielefeld 2008.

21 Frappierend ist auch, dass de Chirico sich für seine Piazza-Darstellungen von den Beschrei-bungen der Turiner Architektur und seiner leeren Plätze inspirieren ließ, die er in den Schriften von Friedrich Nietzsche fand.

22 Vgl. Xavier Mendik: Detection and Transgres-sion. The Investigative Drive Of The Giallo, in: Hunter, a.a.O., S. 7–48, und Ray Guins: Tortured Looks. Dario Argento And Visual Displeasure,in: ebd., a.a.O., S. 49–70.

23 Vgl. David Nasio: Le concept de sujet de l’inconscient, Paris 1992, S. 223–252; nur teilwei-se ins Deutsche übersetzt. Siehe unter: http://lacan-entziffern.de/?p=8590 (24.5.2013).

24 Arthur Conan Doyle: A Case of Identity, in: Ders.: The Adventures of Sherlock Holmes, Hertfordshire 1993, S. 155.

25 Zu den Muttercharakteren bei Argento siehe Xavier Mendik: From the Monstrous Mother to the »Third Sex«. Female Abjection in the Films of Dario Argento«, S. 71–118, in: Hunter, a.a.O.

26 Da an dieser Stelle auf die Theorie Lacans zum Phallus nicht ausführlich eingegangen wer-den kann, nur so viel zum groben Verständ-nis: Lacan sieht im Phallus ein Symbol für die

Geschlechterdifferenz, und als symbolischer Phallus steht er für die unerreichte, aber an-gestrebte Machtgenerierung oder -aneignung, womit nicht nur das äußere Beherrschen des Anderen, sondern auch die Möglichkeit, das begehrte Objekt zu sein (und daher die/den Begehrenden manipulieren zu können), an-gesprochen ist. Keiner der beiden Geschlech-ter – »Mann« und »Frau« – ist im Besitz des Phallus, womit er zwar dennoch mit dem Penis identifi ziert werden kann, aber grundsätzlich nicht anatomisch »Penis« ist. Vgl. J.-D. Nasio: 7 Hauptbegriffe der Psychoanalyse, Wien 1999; Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psy-choanalyse (1964). Das Seminar von Jacques Lacan, Buch XI., Olten 1975; August Ruhs: La-can. Eine Einführung in die strukturale Psy-choanalyse, Wien 2010.

27 Sie ist die Sardinendose, die auf den Wellen schaukelt und Lacan »anblickt«. Vgl. Lacan: Grundbegriffe, a.a.O., S. 102f.

28 Vgl. Ruhs, a.a.O., S. 104.29 Vgl. ebd., S. 110f.30 Vgl. Jacques Lacan: Über das Symbol und über

seine religiöse Funktion (1954), in: Ders.: Der individuelle Mythos des Neurotikers oder Dichtung und Wahrheit in der Neurose, Wien 2008, S. 45.

31 Vgl. Claudia Blümle / Anne von der Heiden (Hg.): Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie, Berlin 2005.

32 Ruhs, a.a.O., S. 120–121.

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Eine besondere Stellung innerhalb dieser kunstdurchsetzten Filme nimmt Argentos Debütarbeit L’UCCELLO DALLE PIUME DI CRIS-TALLO ein. Hier fi nden wir bereits fast alle Ingredienzien vor, die in verschiedenen Variationen Argentos spätere Filme prä-gen werden: die farbstarke, extravagante Filmbildästhetik, den Einsatz einer in der Horizontalen und Vertikalen bewegten Kamera, der nicht selten verwirrende und destabilisierende point of view und nicht zu-letzt die subversive wie investigative Funk-tion von Skulpturen, Gemälden, Zeichnun-gen, Fotografi en oder auch mechanischen Puppen, fi gurienem ›Spielzeug‹ oder auch Masken und Schmuckgegenständen.

Die Frage nach der möglichen Funktion von Kunst in Argentos Filmen ist immer auch eine Frage nach dem Sehen, nach dem Blick, den wir zu den Bildern senden und der uns gleichermaßen dort (wieder) begegnet. Mit dem französischen Psycho-analytiker und Psychiater Jacques Lacan gefragt: Was sehe ich, und was sieht mich an? Der Spiegel und das Bild sind Permu-tationen dieser Fragestellungen.

»Seid vorsichtig mit der Kunst ...«

Argentos Inszenierung macht aus Kunst – mit der bereits erwähnten Vorliebe für Gemälde – auratische, gleichwohl gefährliche Ob-jekte, voller geheimer Be-züge, rätselhaft und au-tark. So auch in seinem Erstlingswerk L’UCCELLO DALLE PIUME DI CRISTALLO (im Folgenden L’UCCELLO), das in vielerlei Hinsicht ein Vorläufer von PROFONDO ROSSO ist und generell ein strukturelles und narrati-ves Grundmuster für viele

seiner nachfolgenden Filme bereitstellt. Auffällig sind die Analogien in der nar-rativen Grundstruktur beider Filme: Im erstgenannten ist es ein amerikanischer Schriftsteller, Sam Dalmas (Tony Musan-te), der auf seinem nächtlichen Nachhau-seweg zufällig Zeuge eines Mordversuchs in einer Galerie für moderne Kunst wird, ohne den maskierten Angreifer der Ehe-frau des Galeristen auch nur erkennen zu können.1 In PROFONDO ROSSO wiederum ist es Marcus / Marc Daly (David Hemmings ), ein englischer Pianist, der auf seinem glei-cherweise nächtlichen Nachhauseweg Zeuge des Mordes an einer Hellseherin wird. Der Mord geschieht direkt vor seinen Augen, denn die Frau wird an der Fensterscheibe ihres hellerleuchteten Zimmers mit einem Beil erschlagen, das Glas birst und schnei-det ihren Hals und ihre Brust auf. Zu ge-schockt, um sofort reagieren zu können, hastet Marcus der in den Glassplittern hängenden Frau zu Hilfe und betritt nun in großer Eile ihre Wohnung, in der sich moderne Kunst eng aneinanderreiht.

Basiert die Dramaturgie dieser zentra-len Sequenz in PROFONDO ROSSO auf Tem-po, so kennzeichnet die analoge Szene in L’UCCELLO die Dramatik von Sams bloßem Zusehenkönnen, während die Protagonis-tin schwer verletzt wird.

Skulpturen und Menschen

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Sam, der zwischen zwei Glastüren oder Glasscheiben (eine Art vollverglas-tem Zwischenbereich der Galerie) vom Tatort getrennt, ja regelrecht dort ge-fangen ist, sieht zwei miteinander kämp-fende Personen, die auf eine beängsti-gende, zuerst nicht klar zu fassende Art mit den sie umgebenden Skulpturen zu interagieren scheinen. Insbesondere der maskierte Angreifer in einem schwar-zen Regenmantel und mit Hut entspricht strukturell den von einem Halbdunkel umgebenden Skulpturen. Man möchte fast meinen, es ist die Aggressivität der modernen Kunstobjekte, ihrer Formen, die in einer Übertragung zur Eskalation der Situation zwischen Mann und Frau geführt hat. Stilisierte Krieger, überdi-mensionierte Hahnenkrallen, Phallus- und Weiblichkeitssymbole, übergroße Rundungen, Dreiecke und spitze Formen, teils ausgeleuchtet, teils im Schatten ver-borgen, konsolidieren die spezifi sche At-mosphäre des Raumes, in dem die schwer verletzte Monica (Eva Renzi ), die Ehefrau des Galeristen, liegt. Das Messer, mit dem der Täter die Frau angreift, funktioniert in diesem sinnbildhaft aufgeladenen Kon-text wie eine Verlängerung der Spitzen und Ecken der ausgestellten Skulpturen – der Messerstich in den Bauch symbolisiert

eine aggressive Penetration, bei der die Kunst(-objekte) Mittäter ist (sind).

Einen Mordversuch in einer Umgebung geschehen zu lassen, die normalerweise der Kunst vorbehalten ist, bedeutet die Tat selbst zur Kunst zu erheben. Und was Sam zu sehen bekommt, ist jenseits der bloßen Tatsache, dass es sich um einen Gewaltakt handelt, ein überaus kunstvolles Arrange-ment: ein artifi ziell ausgeleuchtetes, fast monochrom gehaltenes Tableau mit einem Mordanschlag als Sujet. Sam als Gefange-ner in einem Raum zwischen zwei Glas-scheiben ist der Voyeur (der Betrachter) dieser Szene par excellence, wenn auch wider seinen Willen. Die Glasscheibe, die ihn vom Tatort trennt, materialisiert in raffi nierter Weise die ästhetische Gren-ze, die zwischen dem Kunstobjekt – dem Bild – und dem Betrachter die jeweiligen Sphären sichert. Der Blick kann dem Kör-per zwar vorauseilen, doch ›ins Bild‹ ein-greifen kann er hier jedenfalls nicht (was sich in LA SINDROME DI STENDHAL radikal ändern wird).

Prägnant inszeniert Argento hier die spezifi sche Distanz, die ästhetische Gren-ze, die die Kommunikation zwischen dem Kunstwerk und seinen Betrachtern fundiert: Gehindert durch die Glasscheibe, von der die Laute abprallen, sind die Protagonis-

ten stumm füreinander, und ihre Aktionsräume scheinen eine jeweils au-tonome Welt zu markie-ren. So dehnt sich die Zeit jenseits der Scheibe all-mählich, bis sie mit dem Zusammenbruch der ver-letzten Monica zum Still-stand kommt. Jetzt ist die Galerieszene beinahe ein perfektes, in sich ruhendes Tableau. Sams Situation in Skulpturen umgeben das ›Opfer‹

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dem ›Zwischenreich‹ zwi-schen Straße (dem Realen) und Galerie (dem Imaginä-ren) entspricht im Wesent-lichen der Situation, in der sich der/die Filmzuschaue-rIn befi ndet; Maitland Mc-Donagh vergleicht Sam mit einem Insekt gegossen im Bernstein,2 doch ist die Sze-nerie jenseits der Glasschei-be – die zusammengebro-chene, ›eingefrorene‹ Frau inmitten der bewegungslo-sen, ›starrenden‹ Kunstobjekte – zu einem Kunstwerk in toto gegossen. Die Verletzte, die Skulpturen, der gesamte Kunstraum, gedacht als ein imaginäres, symbolisch be-setztes Szenario (ein ›Bild‹), scheint Sam anzublicken, der diesem ›Blick‹ von der anderen Seite der Scheibe nicht immer standhalten kann und sich immer wieder abwendet, um dann seine eigene unmög-liche Situation zu realisieren.

Die Szene kehrt mit gravierender Ver-änderung in der Rollenverteilung am Ende des Films wieder, wenn die genesene Moni-ca sich als die psychopathische Mörderin entpuppt, nach der die Polizei schon lan-ge fahndet, und die nun ihren einstigen Lebensretter umzubringen versucht. Mit der Offenlegung ihrer richtigen Identität schreibt sie sich nachdrücklich in die Kunst-landschaft ein, in der die Dinge nicht das sind, was sie scheinen. Waren die Kunstob-jekte in der Eingangssequenz noch stum-me Beobachter und im übertragenen Sinne indirekte Mittäter, so werden sie in dieser Szene zu tatsächlichen Mordobjekten, zu spitzen Waffen oder, wenn man so will, zu Mördern und ihrer Komplizin. Begraben unter einer solchen Skulptur ist Sam nicht mehr der Zuschauer, den die Glasscheibe vom Geschehen trennt. Eingerissen ist die

ästhetische Grenze, die ihm die gesicherte Position sicherte.

In verkürzter Weise bedient sich Argen-to auch in TENEBRE , seinem dritten Detek-tiv-Künstler-Film, des Motivs der tötenden Kunstobjekte. Hier ist es eine messerschar-fe, aus Stahldornen bestehende Skulptur in der Wohnung eines Mordopfers, das dem (erneut) amerikanischen Schriftsteller Pe-ter Neal, der sich anfänglich als Ermittler im Mordfall betätigt, zum tödlichen Ver-hängnis wird. Sie durchbohrt und nagelt ihn geradezu an die Wand fest, als seine Assistentin versucht, die von innen durch die gekippte Skulptur versperrte Tür zu öffnen, was wiederum das Kunstobjekt in Bewegung bringt. Obwohl vordergründig als unglücklicher Zufall inszeniert, ent-steht gleichwohl der Eindruck, die Skulp-tur selbst könne gehandelt haben. Im Ge-genzug zu den beiden ersten thematisch verwandten Filmen sind es in TENEBRE Männer, die die Morde ausführen, doch am Ende ist es auch hier eine Frau, die das Kunstobjekt als Waffe einsetzt.3

In L’UCCELLO begegnen wir noch einem anderen Typus von Bild, dessen Sujet irri-tierend bis verstörend ist, sich für die kri-minalistische Untersuchung jedoch als von entscheidender Bedeutung entpuppt. Sam

Die Skulptur als Waff e

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macht ein solches Bild in einer anderen auf Antiquitäten spezialisierten Kunstgalerie ausfi ndig, die der Arbeitsplatz des ersten Opfers in der Mordserie war. Dieses Bild – wir werden dem Phänomen in PROFONDO ROSSO wiederbegegnen – ist strenggenom-

men ein absentes, ›unsichtbares‹, denn ein Käufer (der Mörder) hat es zuvor erwor-ben. Aber von dem Original gibt es noch ein Foto, das Sam in seinem Apartment den Ehrenplatz gibt. Ab diesem Moment steht es auch im Zentrum seines Begehrens, das im Imaginären der Szene liegt, deren Zeuge er war. Das Gemälde stellt eine Ge-waltszene dar, die sich in einer altertüm-lich wirkenden winterlich-stillen Land-schaft vor dem Hintergrund eines Dorfes abspielt. Seltsam ruhig ist die Umgebung – die Winterbilder von Vater und Sohn Pie-ter Brueg(h)el standen hier zweifellos Pate –, umso schockierender die Gewalt, die ein mit Mantel und Hut maskierter Mann dem am Boden liegenden Mädchen mit einem langen Messer antut. Sam – wie später auch Marcus in PROFONDO ROSSO – ist ratlos, er kann den Signifi kanten nicht benennen, das Bild bleibt für ihn hermetisch, wenn auch ›bedeutungsvoll‹. Was er nicht er-kennen kann, ist die strukturelle Gleich-heit des Gemäldes mit der Szene, der er in

der Galerie unfreiwillig beiwohnte. Erst die ›höhere Instanz‹, der wissende Künst-ler selbst, liefert die Verbindung zwischen Realität und künstlerischer Imagination, denn eine wahre Begebenheit habe ihn zu diesem Bild inspiriert. Eine Überblendung

der Schwarzweißfotografi e mit dem farbigen Original, das nun in Monicas Woh-nung hängt, macht den Zusammenhang zwischen dem Imaginären und dem Begehren beider Protago-nisten: Monica dient es zur Aktivierung ihres unüber-wundenen Traumas – sie ist die Missbrauchte der Bildszene –, Sam hingegen verhilft das Gemälde dazu, seine versiegte Kreativität

im Schreiben wiederzuerlangen.»Seid vor-sichtig mit der Kunst ...«, mahnt Argento in einem Interview mit der Filmzeitschrift Be-hind The Door.4 Was an dieser Stelle vielleicht nur halb so ernst gemeint war, scheint er in seinen Filmen mehr als nur einmal im wörtlich-tödlichen Ernst realisiert zu ha-ben. War in TENEBRE und in L’UCCELLO das Kunstobjekt als aktiver Part mit seiner mör-derischen Gesinnung höchstens angedeu-tet, so wird mit LA SINDROME DI STENDHAL das Agitationsmoment von Gemälden zum Leitthema des Films erhoben.

Das Syndrom der Bilder

Der französische Schriftsteller Stendhal (alias Marie-Henri Beyle ) erkrankte wäh-rend seines Aufenthalts in Florenz im Jah-re 1816 an einem nicht ganz gewöhnlichen ›Syndrom‹, das Gott sei Dank nur temporä-re Auswirkungen hatte. Dessen Symptome: Schwindel, Übelkeit, Herzrasen, allgemei-ner Erschöpfungszustand bis hin zu Störun-

Das traumatisierende Gemälde

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gen in der Wahrnehmung, Desorientierung und im Extremfall auch Halluzinationen. Dessen Ursache: das Betrachten von Kunst höchsten Ranges und in großen Mengen.5

Florenz mit seinen unzähligen Kunstschät-zen in Kirchen, Galerien und eben jenen berühmten Uffi zien ist prädestiniert, zum Hort und zur Keimzelle jenes Syndroms zu werden, an dem jedenfalls bis in die 1990er Jahre Hunderte Touristen angeblich oder tatsächlich litten – Tendenz abnehmend, denn nun liegen Prospekte in Hotels aus, die darüber aufklären ... Die Psychiaterin und Psychoanalytikerin Graziella Magheri-ni gilt als die ›Erfi nderin‹ oder Entdeckerin dieses Syndroms. Sie wurde auf diese psy-chosomatische Störung während ihrer Tä-tigkeit im Krankenhaus Santa Maria Nuova in Florenz durch die relative Häufung der mit vergleichbaren Symptomen eingelie-ferten Patienten, zumeist Touristen, auf-merksam. Ihre Analysen veröffentlichte sie 1989 in einem Buch, in dem sie diese temporäre Erkrankung nach dem ersten ›Patienten‹ Stendhal-Syndrom benannte.6

Diese Untersuchung lie-ferte Dario Argento die Idee zu seinem gleichna-migen Film LA SINDROME DI STENDHAL .7

Der Film handelt von der jungen Kriminalbe-amtin Anna Manni (Asia Argento ), die gemeinsam mit ihren Kollegen nach einem Serienmörder fahn-det, der bereits einige junge Frauen brutal vergewaltigt und anschließend getötet hat. Eine Spur führt sie in die Uffi zien, wo sie sich zunächst mit einem per-sönlichen Problem kon-frontiert sieht: Die dort

ausgestellten Kunstwerke verursachen ihr Schwindel, Übelkeit, akustische und visu-elle Wahrnehmungsstörungen und führen schließlich zur Ohnmacht. Eine Rückblen-de, die Anna als Kind in ihrem heimatli-chen Museum in Viterbo zeigt, macht deut-lich, dass es sich offenbar um ein älteres, verdrängtes Symptom handelt. Nach dem Vorfall in den Uffi zien leidet Anna unter einer temporären Amnesie. In ihrem Ho-telzimmer angekommen, benommen und auf Kunst sensibilisiert, wiederholt sich das Stendhal-Syndrom angesichts einer Reproduktion von Rembrandts sogenann-ter Nachtwache (offi zieller Titel: Die Kompa-nie des Frans Banning Cocq ; 1642) Auch hier hört sie zunächst die zu der Bilddarstellung dazugehörigen Geräusche: Waffengeklirr, Schritte, Schüsse aus einer Pistole und Stimmen, die Holländisch sprechen. Es sind männliche Befehle und eine aufgebrachte, leicht verzweifelte Frauenstimme – sie ge-hört offenbar zu dem auffällig ausgeleuch-teten Mädchen im Bild, der (fast) einzigen Frau in einer männlich dominierten Bild-

Rembrandts Nachtwache

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situation –, die auf Holländisch »Ich habe nichts gesagt!« ruft.

Annas Versuch, das Bild durch ein La-ken zu ›ersticken‹ und unsichtbar zu ma-chen, scheitert. Schließlich kann sie sich den von dem Bild ausgehenden ›Lockru-fen‹ nicht entziehen und stellt sich dem Gemälde. Wie zuvor in den Uffi zien, so öffnet sich auch hier die Bildoberfl äche auf einen dahinterliegenden Raum und simuliert damit eine Tür-/Torsituation, deren Schwellenübertretung (Aufl ösung der ästhetischen Grenze) Anna auf eine nächtliche Straße führt. Es ist zwar nicht das Amsterdam mit der von Rembrandt gemalten Wachablösung, sondern Rom, doch auch hier sind Ordnungshüter – die römischen Polizisten und Milizen – zu se-hen, die im Begriff sind, einen Tatort ab-zusperren. Wie auf dem Rembrandt bild die hell ausgeleuchtete Figur, so ist auch Anna hier (fast) die einzige Frau innerhalb einer männlichen, von Gewalt durchdrungenen Domäne. Nur das Opfer – im erweiterten Sinne Annas ›Doppelgängerin‹ – ist glei-cherweise weiblich. Annas Übertretung der medialen Grenze und ihr ›Eingehen‹ in die Bilderwelt in dieser Filmsequenz sind als ein Zeitsprung in ihre unmittelbare Vergangenheit organisiert. Denn die Öff-nung des Bildes führt die Kommissarassis-tentin zu den verdrängten Hintergründen ihres Auftrags. Das Bild fungiert hier als ein Archiv des Erlebten, als das piktorale Gedächtnis des Unbewussten, das folge-richtig Annas Amnesie aufzulösen hilft. Wieder zurück in der ›realen Realität‹ ih-res Hotelzimmers, noch ganz im halluzina-torischen Zustand befangen, wird sie von dem Serienmörder Alfredo Grossi (Thomas Kretschmann ) vergewaltigt und entführt. Sie kann sich zwar befreien, doch bleibt sie schwer traumatisiert und zieht sich in das Haus ihres Vaters (und ihrer Brüder)

zurück, wo sie anfängt, ihr Trauma durch das Malen von eigenen Bildern abzubauen. Ein zweites Mal von dem psychopathischen Mörder entführt, mehrfach vergewaltigt und bewusst Bildern ausgesetzt – es han-delt sich um Graffi ti, von Junkies an die Wände eines verlassenen Gebäudes in der Nähe eines Wasserfalls gemalt –, kann sie schließlich ihren Peiniger töten und sich befreien. Ihre Traumatisierung kann sie jedoch nicht bewältigen, was schließlich zu einer dissoziativen Persönlichkeitsstö-rung führt: Anna wird, da Alfredo nun tot ist, an seiner Stelle morden und auf diese Weise sich seiner Allmacht weiterhin ver-sichert fühlen.8

Welche Aufgabe kommt dabei den Ge-mälden und dem Stendhal-Syndrom zu? Betrachtet man dieses titelgebende Krank-heitsbild nicht aus der Perspektive seiner vorgeblichen Symptome (Schwindel, Hallu-zination etc.), sondern von seiner Ursache her, so ist man mit der auratischen Kraft der Bilder und ihrer selbstständigen Wirklich-keit konfrontiert. Mit Gernot Böhme aus-gedrückt: »Die Tatsache, daß ein Bild ein Bild sein kann ohne Referenten, zwingt uns dazu, ein Sein von Bildern anzunehmen, das unabhängig ist vom Sein der Dinge. [...] Wir leben nicht nur in der Welt der Dinge, sondern auch in der Welt der Bilder.«9 Ar-gento entwirft diese »Welt der Bilder« ex-plizit als eine räumlich-akustische Realität hinter der real-pastosen, ›verschlossenen‹ Bildoberfl äche. Seine Gemälde werden als Subjekte konstruiert und mit einer starken Handlungsfähigkeit ausgestattet.

Dies geschieht in einer Metamorphose, die die Werke durchlaufen, um aus ihrer Passivität oder Starre zu ›erwachen‹ und in einen aktiven, handelnden Part über-zugehen. Im Film äußert es sich durch akustische Reize: Anna hört die Gemälde, jene sphärischen Klänge des ›göttlichen‹

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Himmels auf dem Deckenfresko von Nasi-ni und Tonelli (1696/1699), den Lärm der Schlacht in Paolo Uccellos Schlacht von Ro-mano (1450er), das Windblasen der herbei-fl iegenden Götter Zephyrus und Aura auf Botticellis Geburt der Venus (ca. 1485) oder das Traben und Wiehern der Pferde aus Lu-dovico Butis Allegorie der Neuen Welt (1588). In Anbetracht dieser piktoralen Dominanz wird Anna zunehmend vom Schwindel und Unwohlsein ergriffen. Die stärkste Anzie-hung üben Caravaggios Haupt der Medusa (1598–99) und Botticellis La Primavera (ca. 1478) auf sie aus. Eine bereits körperlich-haptische Beziehung wird im letztgenann-ten Bild hergestellt, denn hier streckt Anna die Hand nach dem Gemälde aus und löst damit den Alarm aus, der Bilder vor po-tenzieller Zerstörung oder Entwendung schützen soll. Angesichts ihrer gefährli-chen Attraktion (ad trahere: zu sich ziehen, anziehen) ist das Signal durchaus auch ein Warnsignal vor dem Bild.

Es drängt sich die Frage auf, was (diese) Bilder eigentlich wollen – denn strengge-nommen schaffen sie ein Paralleluniver-sum, das mit der fi lmischen Narration, die um das Verhältnis zwischen dem Seri-enmörder und der Krimi-nalbeamtin kreist, nichts zu tun hat. W.J.T. Mitchell hat im Zuge der Debatten um die tiefgehende Ver-änderung in der Rezepti-onshaltung Bildern und Images gegenüber (Pictorial Turn) provokativ eine sol-che Frage gestellt und sie (von mir hier stark verein-facht) als den Wunsch nach Beachtung und Liebe, der den Bildern (wie Personen) eigen ist, beantwortet.10 Argentos Gemälde bezeu-

gen möglicherweise einen solchen Wunsch der Bilder, indem sie die Immersion oder, wenn man so will, die körperliche Verei-nigung und Absorption der BetrachterIn-nen suchen.

Versinnbildlicht wird dies mit Annas – im wahrsten Sinne des Wortes – Eintauchen in die Welt des Gemäldes von Pieter Bruegel d. Ä., das die Landschaft mit dem Sturz des Ika-rus (ca. 1555) darstellt. Wie Ikarus, dessen künstliche Flügel aus Federn und Wachs in der Sonne schmolzen und seinen Sturz ins Wasser verursachten, so stürzt auch Anna in Bruegels Bild und in das Wasser hinein, das nun nicht mehr gemalt, son-dern virtuell-real bzw. fantastisch-real ist. Anders jedoch als Ikarus, der in den Meeresfl uten (auch den gemalten) stirbt, wird die Kriminalbeamtin von einem mys-tischen Fisch gerettet. Bezeichnenderweise ist dieser Fisch kein Bilddetail, das Brue-gel gemalt hätte, und doch – so suggeriert die fi lmische Bildverlebendigung – ›lebt‹ er unter der Oberfl äche des Bildes. Er steht, so meine Interpretation, für die Welt der Träume, die absurde und abstruse Welt der Fantasie, und als solche symbolisiert er die andere Seite der Realität, das, was Jacques

Bruegels Landschaft mit dem Sturz des Ikarus

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Lacan als das Imaginäre bezeichnet und das möglicherweise als Kern der Kunstbilder angesehen werden könnte.

Annas Eintauchen in die Gemälde geht einher mit einem Riss, der die Bildober-fl äche verändert:11 Aufgelöst ist die reale undurchdringliche Pastosität einer Farb-leinwand, verschwunden der Bilderrah-men, der dem Kunstwerk die gesicherte Inselstellung innerhalb der Normalität der Gebrauchsdinge (und Menschen) ga-rantiert. Die Metamorphose des Gemäldes ist symbolisch als aufgerissener Schlei-er – in Bruegels Bild als Nebel- oder Wol-kenschleier – aus der Perspektive des Hi-nabstürzenden inszeniert. Dahinter zeigt sich ihr nicht nur ein imaginärer Raum, eine Traumwelt, die scheinbar unter der realen liegt. Sichtbar wird zugleich auch ein irreal beängstigendes Begehren, das in der Vereinigung im Kuss zwischen ihr und dem Fisch (dem Bild) sexuell konnotiert ist. Handelt es sich hierbei um das Begehren des Bildes, um das der Protagonistin oder um das Begehren der Filmzuschauer- und BildbetrachterInnen?

Unter diesem Aspekt besehen, zeigt sich die Auswahl der Gemälde in LA SINDROME DI STENDHAL als überraschend kontingent: Botticellis Primavera mit der Darstellung der zentral ins Bild gestellten Venus und des sie umgebenden Reigens zwischen Ze-phyr, der Flora verfolgt, der Frühlingsgöt-tin, die von ihr berührt wird (und sich in Blumen verwandelt), Amor, der den Bogen in Richtung der Grazien spannt, und Mars, der die Wolken beiseite schiebt, ist eine Al-legorie auf die erotische Liebe. Anna Manni kommt der Aufforderung der Venus, die sie mit Blicken und Kopfwendung in ihr Reich quasi einlädt, oder dem Begehren des Bil-des nach und berührt die hier durch das Glas versiegelte Oberfl äche. Die Geburt der Venus und La Primavera verweisen auf die

Erotik, die Liebe, aber auch auf die sexu-elle Gewalt (Mars und Zephyr) im Leben Mannis. Annas spätere ›Verwandlung‹ in das Alter Ego des Psychopathen ist in den vielfältigen (Ver-)Wandlungen der anti-ken Sagenwelt angelegt, so auch in dem ›mörderischen‹ Haupt der Medusa von Ca-ravaggio , vor dem Anna den Blick senkt. Der tötende Blick der Medusa, gemalt auf einem Schild, steht hier stellvertretend für die Macht der Bilder überhaupt. Auch die Graffi ti in der Grotte stellen sexuelle Gewalt aus und thematisieren damit, psy-choanalytisch argumentiert, die Macht des Phallus. Eros und Thanatos – wie der et-ruskische Sarkophag mit der Darstellung der Liebenden aus Annas Kindheit – stehen diesseits und jenseits der Bilder und domi-nieren Annas reale Welt auf eine brutale Weise. Eine frühkindliche Repression wird in dem unterkühlten Verhältnis zwischen patriarchalem Vater und der nun schutz-bedürftigen Tochter angedeutet.

Versteht man Annas Bildproblem als eine Form der dissoziativen Störung oder als den konkreten Vorboten ihrer späteren Persönlichkeitsspaltung, so fungieren die Bilderwelten darin als Schutz- oder Pro-jektionsräume, die je nach Kontext ihre reale Situation sublimieren: die Rettung im Bruegel bild, den Beginn eines Krimi-nalfalles (den sie lösen wird) im Remb-randt bild, den Frieden und die Reinigung im Wasserfall-Gemälde (auf das ich hier nicht weiter eingehe) und, möglicherwei-se, die Befreiung oder Aggressionsfreiset-zung im Junkie-Graffi to.

Eine Möglichkeit der Bildinterpretati-on ergibt sich in Anwendung der psycho-analytischen Theorie nach Melanie Klein , die die Ich-Bildung in der frühkindlichen Entwicklungsphase mit der Ausbildung von »guten« und »schlechten« Gefühlen gegenüber dem ersten Objekt der Begierde

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(Mutterbrust) ansetzt.12 Klein nennt diese Phase »paranoid-schizoide«, weil das Ob-jekt in zwei Extreme gesplittet wird, ohne dass das Kleinkind realisieren kann, dass es sich um ein und dasselbe Objekt (die Mut-ter) in seiner Dualität handelt. Die darauf-folgende Phase bezeichnet die Psychoanalytikerin als die »depressive«, weil das Kind Schuldgefühle entwi-ckelt, während es erkennt, dass sein Objekt der Begier-de divergierende Seiten in sich vereinigt. Beide Posi-tionen – die »depressive« und die »paranoid-schi-zoide« – können, so Klein , abwechselnd auftreten und auch das erwachsene Sub-jekt dauerhaft begleiten. Die Leistung, die Kleins Theorie erbringt, liegt in der Verbindung zwischen der Entwicklung einer Objektbeziehung und der Struktur der (Ich-)Identifi kation. Hierbei spielt die Projektion der eigenen als »schlecht« oder »böse« empfundenen Eigenschaften auf an-dere Personen oder Objekte im Allgemeinen eine Rolle, aber auch die Introjektion der fremden Eigenschaften auf sich selbst.

In Bezug auf LA SINDROME DI STENDHAL wendet Julian Hoxter das Klein’sche Mo-dell auf die Protagonistin und ihr Sten-dhal-Syndrom an und erklärt damit Annas Hinwendung zu den Gemälden als eine Ver-lagerung des »Guten und Schönen« nach außen, bei gleichzeitiger Internalisierung des »Bösen und Hässlichen« in das eigene Ich, was zunächst de facto den Charakter des Serienmörders bestimmte.13 Hoxters Interpretation leuchtet da ein, wo sie sich auf das Verhältnis zwischen Anna und ihrem Peiniger bezieht. Auch ist die Ana-lyse der von Anna selbst gemalten Bilder,

die sie nach ihrer ersten Vergewaltigung und bereits in der vermeintlichen Sicher-heit ihrer väterlichen Umgebung anfertigt, schlüssig. Auffällig ist die Sonderstellung, die diese Gemälde innerhalb der anderen Kunstobjekte des Films haben, und ihre

anale Charakteristik der aufgerissenen schwarzen Mund-Löcher, sodass Hoxter sie zu Recht als Annas Versuch einer Selbst-therapie interpretiert. Er sieht darin ihr Bemühen, sich von den »bösen« Objekten zu befreien. Ich vermute, dass das nicht ihre einzige Funktion ist, vielmehr sehe ich in ihnen, wie in den übrigen Gemälden des Films auch, Introspektionsmedien. Das aufgerissene, schwarze – das heißt unge-wiss-unendliche – Mund-Loch funktioniert meiner Ansicht nach weniger nach außen als vielmehr nach innen: als das alles ver-schlingende ›schwarze Loch‹, als ein Stru-del, aus dem Anne nicht mehr rauskommt. Auch hier bleibt bezeichnenderweise der zum Schrei aufgerissene Mund dominant, jedoch ohne Sprache. Annas Selbstbildnis besteht im Grunde aus schwarzen, umran-deten Löchern auf einer weißen Leinwand, die nach Deleuze und Guattari das faziale Schema schlechthin ergeben:14 Es sind die

Ann Manni im Kreise ihrer eigenen Bilder

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tiefen Brunnen der Subjektivität und die Flächigkeit der Objektivierung, die das Un-heimliche – das »Horrorgesicht«, wie die beiden Autoren sagen – am menschlichen Gesicht zum Vorschein kommen lassen. In den Bildnissen entkleidet Anna ihr eigenes Gesicht jeder subjektiv-naturalistischen Wiedererkennbarkeit und stellt das dahin-terstehende, ›nackte‹ Gerüst als das fazia-le Schema aus. Selbst die roten Stellen, die Anna ihren Selbstbildnissen immer wieder hinzufügt, sind Symbole der Wunden, der Tränen, des Blutes und des Herzens.

Annas Versuche, mit Farbe zu experi-mentieren – sie bedeckt sich vollkommen mit pastoser Ölfarbe –, bleiben weniger ei-nem künstlerischen Gestus à la Yves Klein geschuldet als vielmehr dem Ausdruck ei-nes Begehrens, das nach der körperlichen Vereinigung mit der Kunst, dem physi-schen Einswerden mit dem Werk strebt. Das Begehren nach Kunst ist hier das Be-gehren nach der abwesenden Mutter, die als Künstlerin/Malerin (wir erfahren es im Laufe des Films) mit Kunst gleichgesetzt wird. In diesem Kontext betrachtet, kann der Kuss, den Anna mit dem in den Bild-tiefen verborgenen Fisch austauscht, nun als jener Kuss der begehrten ›immer gu-ten‹ Mutter interpretiert werden.

Was passiert aber, wenn Alfredo die Selbst-bildnisse mit den Reproduktionen des Brue-gel bildes verhängt? Strukturell betrachtet wird hier der Zugang zu dem Eigenen – zu Annas tief verborgenem Ich – durch ein an-deres, potenteres Ich (für das hier symbo-lisch Gemälde stehen) verdeckt, oder besser gesagt: überblendet. Sind die Reproduktio-nen, wie Hoxter annimmt, tatsächlich die in einem fehlgeleiteten Entwicklungsprozess externalisierten guten Objekteigenschaf-ten, die ›guten Dinge‹, die Mutter?

Betrachtet man vor diesen Fragen noch einmal die Auswahl der Gemälde, so fällt

ein Faktor auf, der sie alle aneinander bin-det, nämlich die Tatsache ihrer jeweils sekundären ›Bildaussagen‹, die in einem ambivalenten Verhältnis zu dem vorder-gründigen Feld des Sichtbaren stehen. Auf die sexuellen, teils gewalttätigen Konno-tationen der Bilder habe ich bereits hinge-wiesen: natürliche Schönheit, Weiblichkeit und befreite Sexualität (Liebe) einerseits, Gewalttätigkeit, Verwandlung, Männlich-keit, Phallus/Penis-Darstellungen und er-zwungene Sexualität andererseits. Zwei besondere Gemälde werden auch im Film signifi kant hervorgehoben: Die Nachtwache von Rembrandt und die Landschaft mit dem Sturz des Ikarus von Bruegel . War sich Ar-gento seiner Auswahl auch in den letzten Bilddetails bewusst?

Rembrandts Nachtwache stellt – will man einigen Interpreten Glauben schen-ken – unter anderem eine Verschwörungs-theorie zum geplanten Anschlag auf den Leutnant Willem van Ruytenburch dar , je-ner gelb bekleideten Figur im Bildvorder-grund, hinter der eine Büchse abgefeuert wird.15 Das Gemälde von Bruegel hat vor-dergründig zwar den Sturz des Ikarus zum Sujet, doch versteckt er gleicherweise eine Leiche im Gebüsch, die nur mit kriminalis-tischem Gespür zum Vorschein kommt.16

Dieses sekundäre Thema wird, sobald ent-deckt, zum primären, handlungsrelevan-ten Auslöser, der den tieferen Bildschichten eingeschrieben bleibt. Beide Gemälde sind nicht zuletzt wegen ihrer besonderen Bild-ästhetik berühmt – in diesem Sinne han-delt es sich bei beiden um besonders ›schö-ne Bilder‹. Doch die ästhetische Schönheit inkorporiert eine hässliche Seite, die be-merkenswerterweise hier als die Ursache des ›Schönen‹ gesehen werden muss. Wird hier das Imaginäre selbst tätig und zwingt Anna, sich der Ambivalenz einer dualen Welt von Gut und Böse, von Eros und Tha-

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natos, von masochistischen und sadisti-schen Zügen zu stellen? Bejahen wir diese Frage, das Stendhal-Syndrom wäre somit ein externalisiertes Begehren, das Anna nicht als ihr eigenes erkennen kann oder will. Die Überblendung der Selbstbildnis-se mit Imaginärem bedeutet in meinem Verständnis kein Verunmöglichen des Selbstbildungsprozesses, wohl aber eine Verlagerung des Problems. Man könnte auch sagen, die Selbstbildnisse und das Stendhal-Syndrom sind zwei Seiten einer Medaille – in beiden Fällen geht es um die Unmöglichkeit der Selbsterkenntnis oder präziser: der Selbstbildung und der Inter-subjektivität, so als ob das Spiegelstadium, in dem sich das heranwachsende Kind als ein (ganzes) Subjekt im Bild erkennt, bei Anna gestört worden wäre. Dementspre-chend sind die Selbstbildnisse Parzellie-rungen eines Ichs, das sich kaum konsti-tuiert hat. Und in beiden Fällen handelt es sich um eine Symbolisierung des Begeh-rens – deutlich hört man die Bilder ›ihr‹ Begehren akustisch verbalisieren, und ihr Aufstöhnen und Schreien korreliert mit der Stummheit des Begehrens in Annas Selbstbildnissen.

Ein besonderes Gemälde in diesem Kon-text stellt Michelangelo Caravaggios Narziß (1598/99) dar, das Alfredo als Posterrepro-duktion erwirbt. Der titelgebende Bildpro-tagonist kniet vor einer Wasserlache und betrachtet darin verzückt sein eigenes Spiegelbild. Vorgesehen war das Bild für das fi nale Experiment mit Annas Bilder-syndrom, denn Alfredo war von ihren Re-aktionen auf Gemälde fasziniert. Die nicht selten vertretene Meinung, der Narziss sei in der Betrachtung seines Spiegelbildes mit sich selbst konfrontiert, ist zu verkürzt und dadurch eindimensional. Dabei liegt seine primäre Konfrontation auf der medialen Ebene, denn Narziss betrachtet zuallererst

ein Bildnis (von sich selbst). Es ist das Bild-medium, das ihm die Ganzheit seiner Per-son und in diesem Sinne seine ›Schönheit‹ vermittelt. Nach Lacan stellt der Narzissmus für das »zwischenmenschliche Verhältnis« eine »zentrale imaginäre Beziehung« dar, die eine erotische Beziehung ist: »[...] jede erotische Identifi zierung, jedes Erfassen des anderen durch das Bild in einem Ver-hältnis erotischer Fesselung geschieht über den Weg der narzißtischen Beziehung, und das ist auch die Grundlage der aggressiven Spannung.«17 Aggressiv daher, weil das Ich sich gleichwohl als ein Anderer erkennt. Ob-wohl dieses von Alfredo angedachte Expe-riment nicht zustande kommt, so realisiert sich das Gemälde auf eine überraschende Weise im Film, ex negativo, denn Anna tö-tet ihr eigenes Spiegelbild ab, um in diese Lücke Alfredos Begehren zu stellen. Die fi l-misch inszenierten Einschreibungen und Überblendungen des Alfredo-Ichs über das ausgelöschte Anna-Ich geschehen immer im Spiegel: Anna mit langen blonden Haa-ren, einer Perücke, die die Narbe an ihrer Wange verdecken soll, deren symbolischer Wert aber in der Farbe von Alfredos blon-den Haaren liegt. Das Spiegelbild, das Anna sieht, ist das einer schönen jungen Frau – blond, weiblich und unnahbar wie die Frau-enbildnisse Botticellis . »Kunst gelingt es, uns etwas spüren zu lassen, was wir nie ausgedrückt und nie gewusst haben«, sagt Magherini in einem Interview mit Alexan-der Smoltczyk 18 – das scheint Argento, der mit den Schriften von Magherini vertraut ist, nicht nur in LA SINDROME DI STENDHAL umgesetzt zu haben.

Im Bilde sein

Eine stille, scheinbar laue Nacht, die Straßen sind menschenleer, nur die Geräusche des Wassers von einem Wandbrunnen und die

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Schritte des Protagonisten sind zu hören, die allein bezeugen, dass es noch Leben in der gespenstisch leeren Stadt gibt.

Diese Mise-en-scène aus Argentos PRO-FONDO ROSSO können wir in Turin auf der Piazza Comitato di Liberazione Nazionale lokalisieren, die ihr heutiges Aussehen den Umbauten der späten 1930er Jahre verdankt, welche architekturhistorisch eine für das Italien dieser Zeit typische Mischung aus Stilelementen der Moderne und faschis-tischer Klassik vorweisen.19 In diese fa-schistische, unterkühlte Architektur setzt Argento eine Bar mit einem blauen Neon-schriftzug Blue Café hinein, die es am Ori-ginalschauplatz nicht gibt. Wir nehmen sie am Ende eines Establishing Shots kurz als Hintergrund des Protagonisten wahr, doch diese kurze Zeitspanne reicht aus, um da-

rin das berühmte großfor-matige Gemälde Nighthawks von Edward Hopper (Nacht-schwärmer von 1942) wie-derzuerkennen.

Für die fi lmische Nar-ration ist dieser Wieder-erkennungsmoment eine problematische Stelle, denn sie katapultiert den Zuschauer gewissermaßen aus der Filmhandlung he-raus: Während man ganz und gar damit beschäf-

tigt ist, das entdeckte ›Gemälde‹ im Film zu bestaunen, wird man unaufmerksam für die Handlung. So situiert Argento sei-ne beiden männlichen Protagonisten und Musikerkollegen, Marcus und Carlo, am Brunnen vor dem Café und lässt sie einen langsamen, ›alkoholisierten‹ Dialog füh-ren, wobei das Blue Café im Hintergrund zu sehen ist.

Hoppers Nighthawks ist nicht zuletzt durch die besondere Stimmung, die es meis-terhaft einfängt, berühmt. Drei anschei-nend in die eigenen Gedanken versunkene Personen sitzen an der Theke eines Diners. Das Paar, dessen Hände eine körperliche Be-rührung andeuten, und ein ihm gegenüber sitzender Mann, den der Bildbetrachter als Rückenfi gur sieht, malte Hopper von-einander separiert und ohne einen Blick-

kontakt mit einem schar-fen Pinsel und der für ihn typischen präzisen Beob-achtungsgabe. Meisterhaft leuchtet Hopper das Innen und Außen des Diners aus, sodass das grelle Licht der Bar zu einem Versprechen auf Geborgenheit wird: Das Diner als Zufl uchtsstätte für Gestrandete der Nacht

Edward Hoppers Nachtschwärmer

Hoppers Nachtschwärmer inszeniert in PROFONDO ROSSO

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