(2012) "Konstitutionalisierung der Selbstbestimmung", in: Pernice, Müller, Peters:...

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95 Konstitutionalisierung der Selbstbestimmung Wulf Loh In diesem Aufsatz soll die Frage nach dem reproduktionskonstitutiven Prinzip der Völker- rechtsordnung gestellt werden und die Möglichkeiten einer Konstitutionalisierung dieses Prinzips erörtert werden. »Reproduktionskonstitutiv« bedeutet in diesem Fall, dass es um ein Prinzip geht, auf dessen Verwirklichung das Völkerrecht als Institution aufgebaut ist. Es legitimiert die Institution nicht nur in einem streng rechtlichen Sinne, sondern aufgrund der faktischen Akzeptanz der Akteure des Völkerrechtsdiskurses auch in einem sozialon- tologischen. Als ein solches Prinzip wird im Folgenden die Idee kollektiver Selbstbestim- mung identifiziert. Ohne die Überzeugung innerhalb des Rechtsdiskurses, dass das Völ- kerrecht kollektive Selbstbestimmung zu verwirklichen sucht, wäre die internationale Rechtsordnung in einem fundamentalen Sinne illegitim, nicht nur einzelne positivrechtli- che Normen, die mit diesem Prinzip kollidieren – sie würde als solche »erodieren«. Mithilfe einer normativen Rekonstruktion des Völkerrechtsdiskurses soll nicht nur das Prinzip kollektiver Selbstbestimmung identifiziert werden, sondern auch dessen idealtypi- scher Gehalt ermittelt werden. Dazu wird das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Menschenrecht der prävalenten Interpretation von kollektiver Selbstbestimmung im Sinne von staatlicher Souveränität gegenübergestellt. Dadurch lässt sich zeigen, dass kollektive Selbstbestimmung idealtypisch einen inneren Aspekt der individuellen Partizipation sowie einen äußeren Aspekt der kollektiven Autonomie beinhaltet. Ebenso wird deutlich, dass zur Bestimmung der Subjekte kollektiver Selbstbestimmung voluntaristische Selbstzu- schreibungen wichtiger sind als askriptive Fremdzuschreibungen. Der wichtigste Ge- sichtspunkt kommt dann einem Mindestmaß an Politisierung der kollektiven Identität zu, ohne die politische Rechte nicht zugesprochen werden können. Aus einem so gewonnenen Verständnis von kollektiver Selbstbestimmung können dann verschiedene Formen der Konstitutionalisierung der internationalen Rechtsordnung evaluiert werden. A. Einleitung Klassischerweise wird das Völkerrecht durch den Konsens der Staaten, d.h. vo- luntaristisch legitimiert. Zum einen geschieht dies über die freiwillige Ratifikati- on von völkerrechtlichen Verträgen, zum anderen durch eine allgemein geteilte Rechtsüberzeugung und eine dieser Rechtsüberzeugung korrespondierende Staa- tenpraxis im Falle des Völkergewohnheitsrechts. Auch hier ist die Freiwilligkeit zumindest formell durch die Möglichkeit eines dauerhaften Einwandes (persis- tent objection) vonseiten einzelner Staaten garantiert. Neben diesem formellen Legitimationskonzept finden sich im Völkerrecht ge- rade nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend auch materielle Legitimations- konzepte. Diese schlagen sich in Prinzipien, Zielen und Zwecken des Völker- rechts nieder. Tom Christiano beispielsweise spricht von »morally mandatory

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Konstitutionalisierung der Selbstbestimmung

Wulf Loh

In diesem Aufsatz soll die Frage nach dem reproduktionskonstitutiven Prinzip der Völker-rechtsordnung gestellt werden und die Möglichkeiten einer Konstitutionalisierung dieses Prinzips erörtert werden. »Reproduktionskonstitutiv« bedeutet in diesem Fall, dass es um ein Prinzip geht, auf dessen Verwirklichung das Völkerrecht als Institution aufgebaut ist. Es legitimiert die Institution nicht nur in einem streng rechtlichen Sinne, sondern aufgrund der faktischen Akzeptanz der Akteure des Völkerrechtsdiskurses auch in einem sozialon-tologischen. Als ein solches Prinzip wird im Folgenden die Idee kollektiver Selbstbestim-mung identifiziert. Ohne die Überzeugung innerhalb des Rechtsdiskurses, dass das Völ-kerrecht kollektive Selbstbestimmung zu verwirklichen sucht, wäre die internationale Rechtsordnung in einem fundamentalen Sinne illegitim, nicht nur einzelne positivrechtli-che Normen, die mit diesem Prinzip kollidieren – sie würde als solche »erodieren«. Mithilfe einer normativen Rekonstruktion des Völkerrechtsdiskurses soll nicht nur das Prinzip kollektiver Selbstbestimmung identifiziert werden, sondern auch dessen idealtypi-scher Gehalt ermittelt werden. Dazu wird das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Menschenrecht der prävalenten Interpretation von kollektiver Selbstbestimmung im Sinne von staatlicher Souveränität gegenübergestellt. Dadurch lässt sich zeigen, dass kollektive Selbstbestimmung idealtypisch einen inneren Aspekt der individuellen Partizipation sowie einen äußeren Aspekt der kollektiven Autonomie beinhaltet. Ebenso wird deutlich, dass zur Bestimmung der Subjekte kollektiver Selbstbestimmung voluntaristische Selbstzu-schreibungen wichtiger sind als askriptive Fremdzuschreibungen. Der wichtigste Ge-sichtspunkt kommt dann einem Mindestmaß an Politisierung der kollektiven Identität zu, ohne die politische Rechte nicht zugesprochen werden können. Aus einem so gewonnenen Verständnis von kollektiver Selbstbestimmung können dann verschiedene Formen der Konstitutionalisierung der internationalen Rechtsordnung evaluiert werden.

A. Einleitung

Klassischerweise wird das Völkerrecht durch den Konsens der Staaten, d.h. vo-luntaristisch legitimiert. Zum einen geschieht dies über die freiwillige Ratifikati-on von völkerrechtlichen Verträgen, zum anderen durch eine allgemein geteilte Rechtsüberzeugung und eine dieser Rechtsüberzeugung korrespondierende Staa-tenpraxis im Falle des Völkergewohnheitsrechts. Auch hier ist die Freiwilligkeit zumindest formell durch die Möglichkeit eines dauerhaften Einwandes (persis-tent objection) vonseiten einzelner Staaten garantiert.

Neben diesem formellen Legitimationskonzept finden sich im Völkerrecht ge-rade nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend auch materielle Legitimations-konzepte. Diese schlagen sich in Prinzipien, Zielen und Zwecken des Völker-rechts nieder. Tom Christiano beispielsweise spricht von »morally mandatory

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aims«1 der internationalen Rechtsordnung und zählt dazu Friedenssicherung, Armutsbekämpfung, Menschenrechts- und Umweltschutz, sowie die Etablierung einer grundlegenden Handelsgerechtigkeit. An dieser Stelle wird aus der rein formellen Frage nach der Legitimität des Völkerrechts auch immer eine Frage nach seiner Gerechtigkeit.

Besondere Aufmerksamkeit erhalten solche materiellen Prinzipien, seitdem Tendenzen erkennbar werden, die eine Entkoppelung des Völkerrechts von der Staatenzustimmung, zumindest in einigen Teilbereichen, nahelegen. Speziell im Hinblick auf demokratisch verfasste Staaten werfen derartige Tendenzen die Frage der Zurechenbarkeit von Regimen und Institutionen einer global governance auf. Partizipationsmöglichkeiten, die auf nationaler Ebene bestehen, werden durch das Entstehen globaler Rechtsregime wie dem internationalen Verwaltungsrecht eingeschränkt.2 Gleichzeitig gibt es jedoch auf internationaler Ebene kaum korrespondierende demokratische Strukturen und Praktiken, die diese Lücke füllen könnten.3

Auch der Verweis auf eine Output-Legitimation internationaler Verrechtli-chung verschiebt das Problem nur auf eine andere Ebene.4 Dem Prinzip der Freiwilligkeit als legitimierendem Element wird hierdurch ein Effektivitätskrite-rium im Sinne der Notwendigkeit einer rechtlichen Koordinierung gegenüber ge-stellt. Sofern aber nicht klar ist, in Bezug auf welche Ziele und Zwecke ein be-stimmter Bereich effektiv geregelt werden soll, muss immer schon eine Vorver-ständigung über diese Ziele und Zwecke vorausgesetzt werden. Output-Legitimität erfordert somit eine informierte Entscheidung aller primären Akteure über die normativen Zielsetzungen innerhalb eines bestimmten Regelungsberei-ches und holt so die Notwendigkeit staatlicher Zustimmung quasi durch die Hin-tertür wieder herein.

Daher versucht in jüngerer Zeit eine Reihe von Autoren, diese Ziele anhand bestimmter Regelungsbereiche des Völkerrechts oder auch herausragender Nor-men zu identifizieren.5 Gerechtfertigt werden müssen diese oder andere Ziele nicht mehr über die explizite Zustimmung der Staatengemeinschaft, vielmehr bilden sie die normative Grundlage eines Prozesses, den man als Konstitutionali-sierung des Völkerrechts bezeichnen kann. Durch diesen werden bestehende Normen oder Prinzipien auf eine höhere Hierarchieebene gehoben und so weit-gehend dem Zugriff der Staaten und anderer Rechtssetzungsorgane entzogen.

1 Christiano, State Consent and the Legitimacy of International Institutions. 2 Vgl. hierzu paradigmatisch: Kingsbury/Krisch/Stewart, »The Emergence of Global Ad-

ministrative Law«. 3 Siehe hierzu bspw.: Kumm, »The Legitimacy of International Law«. 4 Zum Begriff der Output-Legitimität siehe grundlegend: Scharpf, Regieren in Europa. 5 Einschlägig an dieser Stelle z.B.: Fassbender, The United Nations Charter.

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Die Legitimation für Normen innerhalb dieses Konstitutionalisierungsprozesses ergibt sich dann aus einer langjährigen Rechtspraxis. Diese drückt eine histori-sche und kontinuierliche Zustimmung der Staaten aus, einerseits zu den Normen selbst, andererseits aber auch zu deren herausgehobener Stellung im Normenge-füge des Völkerrechts.

Eine solche langfristige Staatenpraxis wirft jedoch das grundlegende Legiti-mationsproblem des Freiwilligkeitsprinzips erneut auf. Denn diese Freiwilligkeit bezieht sich allein auf die Zustimmung der jeweiligen Regierungen von Staaten, nicht aber notwendig auch auf die Zustimmung ihrer Bevölkerungen. Das Krite-rium des Staatenkonsenses sagt noch nichts darüber aus, inwieweit in diesem Konsens der Wille der Bevölkerung der einzelnen Staaten präsent ist. Im Gegen-teil, wenn man sich weltweite Datenerhebungen zu Freiheit und Bürgerrechten anschaut, so drängt sich ein gegensätzliches Bild auf: Dem Freedom House Re-port von 2011 zufolge gewährt mehr als ein Viertel aller Staatsregierungen ihren Staatsvölkern keinerlei Möglichkeit zur Partizipation.6 In diesen Fällen stellt die Staatenzustimmung lediglich eine Zustimmung weniger politischer Eliten dar. Darüber hinaus werden indigene Völker sowie nationale und religiöse Minder-heiten häufig ebenfalls unzureichend bis gar nicht repräsentiert. In vielen Län-dern ergibt sich so ein doppeltes Repräsentationsproblem.

Unter dem Eindruck eines veränderten Verständnisses von Souveränität ver-liert das Prinzip der Staatenzustimmung aufgrund dieser Problematik seine legi-timierende Funktion: Staatliche Souveränität soll längst nicht mehr nur die Stabi-lität einer internationalen Ordnung garantieren, sondern beinhaltet zunehmend auch eine Verantwortung des Staates gegenüber seinen Bürgern. Am deutlichs-ten zeigt sich dies in den völkerrechtlichen Bemühungen, eine klare Schutzver-antwortung des Staates zu etablieren.7 Darüber hinaus mehren sich die Stimmen, die jenseits philosophischer und politiktheoretischer Positionen im geltenden Völkerrecht ein sich entwickelndes globales Recht auf Demokratie erkennen wollen.8 Ob man diese Einschätzung nun teilt oder nicht, so lässt sich doch auch in der Völkerrechtswissenschaft die Tendenz beobachten, Souveränität nicht mehr nur im Sinne einer Repräsentation der Bürger, sondern auch als deren Recht auf Partizipation zu verstehen. So spricht Ulrich Preuß beispielsweise von der Souveränität als »kommunikatives und interaktives Teilhabe- und Teilnahmerecht«.9

6 Vgl. Freedom House, »Freedom in the World Survey«. Anne Peters macht ebenfalls auf

diesen Umstand aufmerksam. Vgl. Peters, »Dual Democracy«. 7 Vgl. ICISS, »The Responsibility to Protect«. 8 Besonders relevant hierfür: Franck, »The Emerging Right to Democratic Governance«. 9 Preuß, »Souveränität«, S. 324.

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Das archaische Verständnis von Souveränität, nach dem die jeweilige Staats- und Regierungsform immer schon ein Ausdruck kollektiver Selbstbestimmung ist, muss spätestens seit der Idee der Volkssouveränität mit Rousseau10 und ihrer faktischen Umsetzung in der amerikanischen und französischen Revolution als überholt gelten. Dennoch kümmert sich auch im UNO-System das Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten zunächst einmal nicht um die partizipatorische Legitimation einzelner Regierungssysteme. So heißt es zwar in der Friendly Re-lations Declaration, dass »alle Völker das Recht [haben], frei und ohne Einmi-schung von außen über ihren politischen Status zu entscheiden«.11 In dem Mo-ment aber, in dem die Völkerrechtslehre nun staatliche Souveränität als rechtli-che Entsprechung kollektiver Selbstbestimmung versteht, muss sie gleichzeitig notgedrungen annehmen, dass diese Selbstbestimmung des Kollektivs als pouvoir constituant in einem »constitutional moment«12 ausgeübt wird und da-nach in den Hintergrund tritt. Im Lichte einer Auffassung von Souveränität als Volkssouveränität scheint jedoch die Möglichkeit einer freiwilligen Selbstunter-drückung des Volkes nicht mehr plausibel, die dadurch zustande kommen soll, dass das Volk als Souverän ein autoritäres Regime konstituiert und sich so selbst jeglicher Form der Partizipation beraubt. Zumindest von außen lässt sich in die-sem Fall nicht mehr erkennen, ob es sich hierbei tatsächlich um eine souveräne Entscheidung des Volkes handelt, und gerade im Fall verwehrter Meinungsfrei-heit und unterdrückten Protesten dürften hieran auch berechtigte Zweifel auf-kommen.

Das Anliegen dieses Aufsatzes ist es daher, anstelle des herkömmlichen Ver-ständnisses von Souveränität ein Prinzip kollektiver Selbstbestimmung formulie-ren, das zwar dem Grundsatz der Freiwilligkeit gerecht wird, gleichzeitig aber auch dem angesprochenen Repräsentationsdefizit als Teilnahme- und Teilhabe-defizit Rechnung trägt. Dabei soll das Ergebnis einer normativen Rekonstrukti-on13, die an dieser Stelle nur andeutungsweise geleistet werden kann, kollektive Selbstbestimmung als konstitutives Prinzip des Völkerrechts herausstellen. In diesem Zusammenhang wird das Völkerrecht diskursiv als Institution verstan-den, deren Akteure die Praktiken und Normen dieser Institution reproduzieren, sofern sie von ihrer Legitimität überzeugt sind. Diese Legitimität bemisst sich wiederum an der Übereinstimmung der Praktiken mit dem konstitutiven Prinzip der Institution – d.h. dem Prinzip kollektiver Selbstbestimmung. Ebenso müssen die normativen Zielsetzungen der Praktiken des Völkerrechts funktional die Re-

10 Vgl. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag. 11 UN-Generalversammlung, »Friendly Relations Declaration«, S. 7. 12 Ackerman, We the people. 13 Zum Begriff der normativen Rekonstruktion siehe: Honneth, Das Recht der Freiheit. Da-

rauf werde ich im nächsten Abschnitt ausführlicher eingehen.

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produktion des Prinzips unterstützen. Wenn das konstitutive Prinzip dergestalt identifiziert und in seiner modernen Ausformung konkretisiert werden kann, er-möglicht dies eine immanente Kritik an den bestehenden Praktiken des Völker-rechts und stellt so normative Kriterien bereit, mit deren Hilfe ein Konstitutiona-lisierungsprozess innerhalb des Völkerrechts theoretisch unterfüttert werden kann.

B. Interpretation vs. Rekonstruktion

Wenn sich also kollektive Selbstbestimmung nicht mehr per se in staatlicher Souveränität erschöpft, d.h. wenn die bisherigen Vorstellungen von Souveränität nicht in jedem Fall eine Form kollektiver Selbstbestimmung der Bevölkerung darstellen, besteht die Aufgabe eben gerade nicht darin, kollektive Selbstbe-stimmung als rechtsanleitendes Prinzip einfach neu zu stipulieren. Dies wäre ei-ne extern-induktive Strategie, die einer eigenständigen, von der Praktik abge-koppelten, Argumentation bedarf und so immer die Problematik der Akzeptanz und fehlenden Situiertheit nach sich zieht. Vielmehr soll über eine geschichtsphi-losophische Deutung gezeigt werden, dass das Konzept der Souveränität immer auch schon eine Verkörperung der Idee der kollektiven Selbstbestimmung dar-stellt. Über die normative Rekonstruktion der Souveränität als kollektive Selbst-bestimmung – so die Hoffnung – verweist das Untersuchungsobjekt auf eine momentan gültige idealtypische Konzeption seiner selbst. Dieses Verfahren be-ruht zwar auf einer gewissen geschichtsteleologischen Prämisse, die bei aller Wandlung von der Möglichkeit der historischen Selbstidentität eines Konzepts ausgeht und das Hier und Jetzt als vorläufigen Kulminationspunkt dieser Wand-lung begreift. Andererseits ist diese Prämisse nicht übermäßig voraussetzungs-reich, da sie nur einen gegenwärtigen Idealtypus zu extrapolieren versucht und nicht eine zeitlose oder gar normativ letztgültige Bedeutung kollektiver Selbstbe-stimmung in der Geschichtlichkeit der Bedeutungswandlung des Begriffs zu er-kennen glaubt. Wie das Ideal von Souveränität als kollektiver Selbstbestimmung in einigen Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten verstanden wird, darüber will die normative Rekonstruktion keinerlei Aussagen treffen.

Von einer reinen Begriffsgeschichte unterscheidet die normative Rekonstruk-tion wiederum dadurch, dass sie auch die faktische Akzeptanz des analysierten Prinzips in den Blick nimmt. Hierfür wird der Völkerrechtsdiskurs untersucht, d.h. es sollen alle relevanten Akteure betrachtet werden, die ihre Rechtferti-gungs- bzw. Widerspruchsargumente in diesen normativen Diskurs einbringen. Der Begriff »Völkerrechtsdiskurs« ist dabei von der Völkerrechtspraxis als dem tatsächlichen Handeln der völkerrechtlich relevanten politischen Akteure einer-seits sowie der ihren Rechtfertigungsmustern zugrundeliegenden Rechtsüberzeu-

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gung andererseits zu unterscheiden. Ein grundlegendes Problem im Völkerrecht besteht ja gerade darin, dass die Staaten als Rechtssubjekte gleichzeitig die pri-mären Schöpfer dieses Rechts sind – Letzteres immer noch weitgehend unmediatisiert durch globale Legislativorgane. Daher folgt die nach außen kom-munizierte Rechtsüberzeugung der einzelnen Staaten in vielen Fällen Partikular-interessen und soll nur noch das interessegeleitete Regierungshandeln völker-rechtlich legitimieren. Der Begriff des Rechtsdiskurses hingegen trägt zwar der politischen Handlungsdimension Rechnung, vereint jedoch daneben auch die unmittelbaren Rechtsquellen des Völkerrechts nach Art. 38 Nr. 1 IGH-Statut so-wie den Bereich des soft law, Absichtserklärungen von politischen Führern, poli-tische Kampfschriften und die völkerrechtliche Ideengeschichte. Die faktische Akzeptanz eines Prinzips kollektiver Selbstbestimmung innerhalb dieses Diskur-ses liegt nicht so sehr in der tatsächlichen Rechtsüberzeugung, dass dieses Prin-zip nur auf die eine ganz bestimmte Art und Weise zu verstehen ist. Vielmehr zeigt die Interpretationstätigkeit bestimmter Ausformungen des Prinzips – in die-sem Fall z.B. des Rechtskonzepts der Souveränität –, zusammen mit Rechtferti-gungs-, Anfechtungs- und Widerspruchsbegründungen der verschiedensten In-terpretationen, dass diese Konzeption als konstitutives Prinzip wirkmächtig ist. Anders gesagt: Auch wenn die Auslegung der Souveränität en détail zu allen Zeiten und an allen Orten verschieden und teilweise stark umstritten war, zeigt die faktische Akzeptanz dieses Prinzips nicht nur seine tatsächliche Wirkmäch-tigkeit, sondern in der normativen Rekonstruktion auch, dass die Akteure zu al-len Zeiten der Überzeugung waren, dass es sich hierbei um eine Instanziierung kollektiver Selbstbestimmung gehandelt hat.

Dies ist auch der grundlegende Aspekt, in dem sich die normative Rekon-struktion eines völkerrechtskonstitutiven Prinzips kollektiver Selbstbestimmung von der juristischen Interpretation eines Rechts auf kollektive Selbstbestimmung unterscheidet. Das vorrangige Ziel Letzterer ist es, den genauen Inhalt des posi-tiven Rechts zu bestimmen und Fallentscheidungen an der Übereinstimmung mit diesem Recht zu messen. Dagegen soll durch eine normative Rekonstruktion nicht primär der aktuell gültige Gehalt eines Rechts auf kollektive Selbstbestim-mung identifiziert werden, sondern dieser Rechtsgehalt lediglich als Hinweis auf ein ihm zugrundeliegendes Prinzip verstanden werden. Dann lässt sich nicht nur die normative Legitimität dieser Rechtsordnung völkerrechtsimmanent evaluie-ren, sondern auch eine mögliche »dauerhafte und zu starke Diskrepanz zwischen Gründen erster und zweiter Ordnung«14 aufdecken. Rahel Jaeggi nimmt diese Unterscheidung von Joseph Raz auf,15 um mit ihrer Hilfe das »Lebendig-Sein« oder die »Erosion« von sozialen Institutionen zu erklären. Übertragen auf die In- 14 Jaeggi, »Was ist eine (gute) Institution?«, S. 543. 15 Vgl. hierzu: Raz, The authority of law.

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stitution Völkerrecht bedeutet dies, dass eine normative Rekonstruktion nicht nur die normative Legitimität seiner Praktiken und Normen im Sinne von legitimen Verfahren oder legitimen Zielen in den Blick bekommt, sondern auch die Frage, inwieweit sich die Akteure des Völkerrechtsdiskurses tatsächlich von den der In-stitution immanenten Begründungen noch überzeugen lassen.

Zwar bezieht auch die juristische Interpretation Rechtsprinzipien und -grundsätze in ihre Überlegungen mit ein; nicht umsonst wird die Validität eines Rechtssystems häufig an der Kohärenz der Normen mit den sie anleitenden rechtsmoralischen Prinzipien beurteilt.16 Dennoch wird hier im Sinne einer »constructive interpretation«17 die Institution des Rechts nicht von außen, son-dern aus dem Eingebettetsein in eine »interpretative community«18 heraus evalu-iert. Diese Gemeinschaft stellt durch eine standardisierte und formalisierte juris-tische Ausbildung sicher, »that the interpreters are already and always thinking within the norms, standards, criteria of evidence, purposes and goals of a shared enterprise, such that the meanings available to them have been preselected by their professional training«.19 Dagegen ist eine normative Rekonstruktion nicht nur nicht den Beschränkungen der juristischen Interpretationsgemeinschaft un-terworfen und kann so außerhalb der formaljuristischen Auslegungsregeln agie-ren. Darüber hinaus ist ihre Zielstellung, wie weiter oben angedeutet, auch eine andere. Gleichzeitig rekurriert sie nicht einfach auf normative Kriterien, die au-ßerhalb der Institution stehen und als externe Maßstäbe herangezogen werden. Vielmehr soll die Rekonstruktion die Möglichkeit einer »rekonstruktiven Kri-tik«20 eröffnen, d.h. eine den sozialen Praktiken und Normen immanente Beurtei-lung, die der Institution »eine mangelhafte, noch unvollständige Verkörperung der allgemein akzeptierten Werte vor[hält]«.21 Auf diese Weise ist es möglich, die rechtlichen Praktiken des Völkerrechts zu kritisieren, in denen sich als ihrem grundlegenden Prinzip die Anerkennungsforderungen aufgrund kollektiver Selbstbestimmung nur unzureichend widerspiegeln.

An dieser Stelle kann der Verlauf einer solchen normativen Rekonstruktion und die ihr folgende Kritik aufgrund des mangelnden Platzes nur angedeutet werden. Einige exemplarische Anmerkungen zum Völkerrechtsdiskurs in der Folge des UNO-Systems müssen in diesem Zusammenhang genügen. Als posi-tivrechtliche Ausformung des Prinzips kollektiver Selbstbestimmung steht seit

16 Für einen Überblick über die Kohärenzdebatte in der Rechtsphilosophie und eine fundier-

te Kritik an einer globalen Kohärenztheorie des Rechts i.S. einer »unity of principle« sie-he z.B.: Raz, »The Relevance of Coherence«.

17 Dworkin, Law̓ s empire, S. 52. 18 Fish, Doing what comes naturally, S. 133. 19 Ebd. 20 Honneth, Das Recht der Freiheit, S. 28. 21 Ebd.

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dem 2. Weltkrieg neben der souveränen Gleichheit der Staaten (die den Staats-völkern der bestehenden Staaten zumindest ein Recht auf äußere Selbstbestim-mung einräumt) vor allem das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Es bietet sich als primärer Fixpunkt innerhalb des zeitgenössischen Völkerrechtsdiskurses in-sofern an, als es in Art. 1 Nr. 2 UN-Charta als eines der Ziele der Vereinten Na-tionen und damit letztlich der internationalen Staatengemeinschaft genannt wird. Auch seine prominente Stellung als »Grundsatz« in der Friendly Relations Declaration, noch vor dem Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten, un-terstreicht seine Bedeutung als völkerrechtliches Prinzip. Darüber hinaus wird es durch seine identische Formulierung und herausgehobene Position in Art. 1 Nr. 1 der beiden internationalen Menschenrechtspakte überwiegend als Menschenrecht bezeichnet. Dort heißt es zwar: »Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestim-mung. [Herv. W.L.]«22 Dennoch argumentieren verschiedentlich Autoren dafür, dass es zwar nur als Kollektiv wahrgenommen werden kann, aber seine Schutz-funktion aus der Wichtigkeit für die Interessen von Individuen bezieht. Als para-digmatisch für diese Auffassung mag die Position von Antonio Cassese gelten, der schreibt: »Plainly self-determination is the summa or synthesis of individual human rights because a people really enjoys self-determination only when the rights and freedoms of all individuals making up that people are fully res-pected.«23 Ein so verstandenes Recht auf Selbstbestimmung stellt demnach ei-nem staatszentrierten Verständnis von Souveränität ein individual- bzw. grup-penzentriertes Prinzip gegenüber.

Eine genauere Analyse des Völkerrechtsdiskurses in Bezug auf das Selbstbe-stimmungsrecht der Völker offenbart drei interpretative Hauptströmungen. In ei-ner skeptischen, heute kaum mehr vertretenen Auslegung des Selbstbestim-mungsrechts ließe sich folgende Geschichte erzählen: Es wurde auf Betreiben des Ostblocks gegen liberal-demokratische Tendenzen in die beiden UN-Menschenrechtspakte eingeschrieben, hatte seine Berechtigung im Zuge der De-kolonialisierung und ist mit deren Ende obsolet geworden.24 Nicht ganz so kriti-schen Stimmen zufolge gesteht das Völkerrecht mit dem Selbstbestimmungs-recht jedem Volk die politische Selbstbestimmung zu, die aber zumindest die Staatsvölker im Moment der Staatsgründung schon ausgeübt haben. So bleibt die staatliche Souveränität der primäre Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts. Nach dieser Lesart gibt es nach wie vor einige Völker, die rechtmäßig ihre Selbstbestimmung einfordern können (so z.B. die Palästinenser), aber nationale Minderheiten und indigene Völker sind durch jeweils eigene völkerrechtliche

22 IPBürgR, Art. 1 Nr.1, 1. Satz, sowie IPWSKR, Art. 1 Nr.1, 1. Satz. 23 Cassese, Self-determination of peoples, S. 337. 24 Siehe hierzu bspw. die Darstellung der Geschichte des Selbstbestimmungsrechts in:

Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, insbes. Kap. 12.

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Übereinkommen vom Selbstbestimmungsrecht ausgenommen.25 Eine dritte, af-firmativ rechtsbeschreibende, Position kommt zu dem Schluss, dass das Selbst-bestimmungsrecht zum »tragenden Legitimationsprinzip der gesamten Völker-rechtsordnung geworden ist, das auch das Verhältnis von Staaten und Völkern neu definiert. Demnach ist die Souveränität der Staaten nicht mehr Selbstzweck, sondern steht im Dienste der Rechte des Volkes und der Menschenrechte, als de-ren Institutionalisierung sie allein gerechtfertigt ist«.26

Unstrittig im Völkerrechtsdiskurs ist jedoch der Charakter des Selbstbestim-mungsrechts als Menschenrecht. In Anlehnung an Charles Beitz̓ pragmatische Theorie der Menschenrechte soll das Selbstbestimmungsrecht der Völker daher in diesem Aufsatz als ein Teil einer »emergent practice«27 innerhalb des Völker-rechtsdiskurses identifiziert werden. Bei den Menschenrechten handelt es sich nach dieser Vorstellung insofern um eine sich entwickelnde soziale Praktik, als sie ein Regelset bereitstellen, das Autorität beansprucht und so Legitimität be-hauptet. Das internationale Menschenrechtsregime beinhaltet Institutionen und Prozesse, die die Verbreitung und Implementierung der Praktik unterstützen.28 Auf diese Weise generiert es normative Grundlagen für Kritik und Anerkennung, die eine soziologische, d.h. De-facto-Legitimität29 nach sich ziehen.

C. Die Menschenrechte als soziale Praktik

Dabei folgt das Verständnis von Menschenrechten als eine soziale Praktik einer politischen Konzeption der Menschenrechte, wie sie beispielsweise John Rawls vertreten hat.30 Sie zeichnet sich dadurch aus, dass hier die Frage nach der mora-lischen Letztbegründung der Menschenrechte von der Frage nach der Identifizie-rung einzelner spezifischer Rechte und der Frage nach ihrer Funktion abgekop-pelt wird. Eine Grundlegung der Menschenrechte als moralische Rechte allein aufgrund der menschlichen Natur oder der menschlichen Würde wird auf diese Weise vermieden.31 Vielmehr werden sie anhand der politischen Rolle, die sie innerhalb der internationalen Gemeinschaft spielen, charakterisiert. Diese Rolle beschreibt Rawls folgendermaßen: »Human rights are a class of rights that […]

25 Vgl. Murswiek, »The Issue of a Right of Secession – Reconsidered«. 26 Heintze, »Kapitel 6: Völker im Völkerrecht«, S. 391. 27 Beitz, The idea of human rights, S. 42-44. 28 Für eine genauere Erläuterung zu den Menschenrechten als eine sich entwickelnde sozia-

le Praktik siehe: Ebd., insbes. Kap. 7. 29 Zur Unterscheidung zwischen soziologischer und normativer Legitimität vgl.: Buchanan,

»The Legitimacy of International Law«, S. 79. 30 Vgl. Rawls, The law of peoples. 31 Für einen traditionellen Menschenrechtsansatz siehe bspw.: Griffin, On human rights.

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specify limits to a regime’s internal autonomy.«32 Menschenrechte sind also die-jenigen Rechte, die die Souveränität von Staaten einschränken können und so in-nerhalb der gegebenen Vielfalt politischer Regime eine Grenze der Legitimität ziehen. In dieser Funktion stellen sie eine notwendige, jedoch nicht hinreichende, Rechtfertigung für die Einmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten dar.33 Ihre Einhaltung ist die Voraussetzung für Staaten, um als »mem-bers in good standing in a reasonably just Society of Peoples«34 zu gelten.

Als souveränitätsbeschränkende Rechte bedürfen sie keiner moralischen Grundlegung, die wiederum auf ein spezifisches Menschenbild rekurriert. Im Gegenteil, bekanntermaßen erinnert sich Jacques Maritain im UNESCO-Report über die Menschenrechte an die Verhandlungen zur AEMR mit den Worten: »We agree about the rights but on condition that no one asks us why.«35 Mit Blick auf die Praxis lassen sich Menschenrechte also nicht in dem Sinne als uni-versell charakterisieren, dass sie fundamentale menschliche Bedürfnisse schüt-zen, die jedem Menschen qua Mensch-Sein notwendig zukommen. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um »urgent individual interests«36, deren jeweiliger Wert für den Einzelnen sich weder notwendig aus einer bestimmten Anthropolo-gie ableitet noch von allen zwingend geteilt werden muss. Aus diesem Grund lässt sich auch nur der spezifische Inhalt einzelner Rechte sowie deren Imple-mentierung abhängig von dem jeweiligen sozialen Kontext verstehen, in dem sie sich etablieren. Eine derartige Kontextualisierung wäre nicht möglich, wenn es sich um universelle Rechte handelte, die sich beispielsweise aus einer spezifi-schen Konzeption der menschlichen Natur ableiteten.

Unter dringlichen individuellen Interessen sind daher solche Interessen zu verstehen, die innerhalb einer großen Vielfalt verschiedener Lebensformen von der überwiegenden Mehrheit von Individuen als wesentlich angesehen werden. Wie gerade angesprochen, darf dabei diese Dringlichkeit weder als räumlich noch zeitlich universell missverstanden werden. Ebenso wenig kann sie als eine rein binäre, sondern muss als graduelle Eigenschaft von Interessen aufgefasst werden. Wenn es stimmt, dass Menschenrechte – wie Joseph Raz sagt – »set some limits to sovereignty«,37 dann muss die Dringlichkeit der durch sie ge- 32 Rawls, The law of peoples, S. 79. 33 Andere notwendige Rechtfertigungsgründe, die erfüllt sein müssen, um eine hinreichende

Begründung für die Intervention von außen zu liefern, orientieren sich an den allgemei-nen Bedingungen für humanitäre Interventionen. Hier seien als Beispiel vor allem Ver-hältnismäßigkeit und Effektivität der Maßnahmen genannt. Für eine ausführliche Darstel-lung der Rechtfertigungsgründe humanitärer Interventionen siehe bspw.: Walzer, Just and unjust wars; ICISS-Report »The Responsibility to Protect«.

34 Rawls, The law of peoples, S. 79. 35 Maritain, »Introduction«, S. I. 36 Beitz, The idea of human rights, S. 110. 37 Raz, »Human Rights Without Foundations«, S. 16.

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schützten Interessen gegen den Wert der Nichteinmischung abgewogen werden, den die staatliche Souveränität schützt. Sie kann daher nie als absoluter, sondern nur als relativer Wert fungieren. Die Funktion von Menschenrechten besteht nach dieser Vorstellung darin, die so verstandenen dringlichen Interessen gegen eine Reihe von »standard threats«38 zu schützen, d.h. gegen allgemein vorher-sehbare Bedrohungen »under the social circumstances in which the right is intended to operate«.39

Eine Theorie der Menschenrechte, die Menschenrechte als soziale Praktik ver-steht und die Funktion und den Inhalt dieser Rechte aus dieser Praktik ableitet, bedarf eines dreistufigen Argumentationsverfahrens:40 Zunächst muss ein dring-liches individuelles Interesse, dessen Verwirklichung überhaupt durch soziale In-stitutionen rechtlich verbindlich geregelt werden kann, ein moralisches Recht ar-gumentativ begründen. In einem zweiten Schritt ist zu zeigen, dass der Staat die angemessene institutionelle Adresse ist, um dieses Recht (bzw. das ihm zugrun-deliegende individuelle Interesse) zu schützen und zu fördern. Zuletzt muss eine Abwägung geleistet werden zwischen der Verpflichtung zur Einhaltung dieses Rechts vonseiten der Staaten und ihrem Recht auf Immunität gegenüber der Einmischung von außen in Bezug auf dieses Recht. Erst wenn sich auch hier zei-gen lässt, dass das individuelle Interesse moralisch dringlicher ist als das Recht auf innere Selbstbestimmung des Staates, lässt sich daraus ein Menschenrecht im Sinne einer politischen Konzeption ableiten.

An dieser Stelle zeigt sich, dass Menschenrechte als souveränitätsbeschrän-kende Rechte eine bestimmte Lesart von Souveränität als Ausdruck kollektiver Selbstbestimmung delegitimieren. Es ist eben – wie eingangs schon kurz hervor-gehoben – nicht erlaubt, im Namen der Souveränität die Menschenrechte der ei-genen Bevölkerung zu verletzen. Auch wenn ein universelles Recht auf Selbst-bestimmung dies zunächst einmal vorauszusetzen scheint, wie Michael Walzer sehr treffend herausgestellt hat:

»Wir können uns gewiß ohne weiteres ein allumfassendes Gesetz vorstellen, das etwa be-sagt: ›Selbstbestimmung ist das Recht jedes Volkes/jeder Nation‹. Nur wird sich dieses Gesetz schnell erschöpft haben, da es unfähig ist, seine eigenen inhaltlichen Ergebnisse näher zu bestimmen. Schließlich schätzen wir die Ergebnisse nur insofern, als sie selbstbe-stimmt sind, und die Bestimmung ändert sich mit dem jeweiligen ›Selbst‹. Wiederholte Akte von Selbstbestimmung erzeugen eine Welt der Differenz.«41

Den Eindruck eines prämodernen Verständnisses von kollektiver Selbstbestim-mung relativiert Walzer jedoch wieder, indem er Letztere im Sinne eines

38 Shue, Basic rights, S. 29. 39 Beitz, The idea of human rights, S. 111. 40 Die folgende Formulierung orientiert sich an: Raz, »Human Rights Without

Foundations«. Eine ähnliche Darstellung findet sich bei: Beitz, The idea of human rights. 41 Walzer, Lokale Kritik – globale Standards, S. 150.

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reiterativen Universalismus versteht.42 Er schlägt vor, das Recht auf Selbstbe-stimmung als ein Recht auf Wiederholung zu begreifen. Mithilfe der Idee eines wiederholenden Universalismus versucht er zu zeigen, dass der einzelne Akt der Selbstbestimmung unterschiedlichster Gesellschaften als Wiederholung einer Kultur- und damit auch Moralkonstruktion immer schon gewisse Ähnlichkeiten zu anderen, davon unabhängigen Kulturkonstruktionen aufweist. Dabei folgen diese Ähnlichkeiten jedoch keinem vorgegebenen normativen Muster, sondern beruhen auf einer empirischen Feststellung über die Gemeinsamkeiten menschli-cher Moralvorstellungen.

Der Grund hierfür ist Walzer zufolge zweigeteilt: Auf der einen Seite ist er darin zu suchen, dass politische Autoritäten immer in einem gewissen Rechtfer-tigungszwang gegenüber den Mitgliedern der politischen Gemeinschaft stehen, die im Sinne der Idee des Gesellschaftsvertrags eine Gegenleistung für die Auf-gabe ihrer Willkürfreiheit erwarten. Daher konstatiert Walzer, dass es »niemals eine politische Gemeinschaft gegeben [hat], die nicht die Bedürfnisse ihrer Mit-glieder in dem von ihnen verstandenen Sinne entweder befriedigt oder zu befrie-digen versucht oder zumindest zu befriedigen behauptet hat«.43 Auf der anderen Seite hält er Unrechtserfahrungen (oder zumindest kulturell tradierte Erzählun-gen über erlittenes Unrecht) aufgrund von autoritärer Herrschaft für ein Faktum, das allen Menschen gemeinsam ist. Insofern sind derartige Unrechtserfahrungen für die Ähnlichkeit der jeweils geschaffenen Moral mitverantwortlich. Moral-konstruktion geschieht auf immer unterschiedliche Art und Weise, ist dabei aber nicht willkürlich oder beliebig, sondern stellt auf politischer Ebene stets eine Antwort auf vergangenes Unrecht seitens einer Form politischer Autorität dar. »Erfahrungen, die zur Schaffung einer Moral führen, hängen häufig mit Herr-schaft und Knechtschaft, d.h. mit Unterdrückung, Schutzlosigkeit, Furcht und ganz allgemein mit der Ausübung von Macht zusammen.«44

Eine normative Rekonstruktion der Menschenrechtspraxis als Teil des Völker-rechtsdiskurses müsste noch eine ganze Reihe weiterer Aspekte berücksichtigen. Als ein vorläufiges Fazit lässt sich jedoch festhalten, dass mithilfe von Walzers Konzeption eines wiederholenden Universalismus einige grundlegende Men-schenrechte als dringliche Interessen rekonstruiert werden können, die die Sou-veränität von Staaten beschränken können. Die Darstellung der Menschenrechte als souveränitätsbeschränkende Rechte wiederum zeigt, dass ein idealtypisches Verständnis von kollektiver Selbstbestimmung nicht mehr mit einem klassischen Begriff der Souveränität zur Deckung gebracht werden kann. Als Menschenrecht schränkt das Selbstbestimmungsrecht der Völker die Souveränität des Staates

42 Vgl.: Ebd., besonders Teil II: Nation und Welt. 43 Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, S. 113. 44 Walzer, Lokale Kritik – globale Standards, S. 162.

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ein. Es transformiert sie zu einer Verantwortung des Staates für seine Bürger, die ihnen mindestens grundlegende Abwehr-, Freiheits- und Partizipationsrechte ga-rantiert. Darüber hinaus berechtigt es bestimmte soziale Gruppen zu Selbstbes-timmungsforderungen gegen den Staat, sofern sich diese Gruppen als »Volk« verstehen lassen. Zu guter Letzt gestaltet es die äußere Souveränität von Staaten um, die nicht mehr nur im Recht auf Nichteinmischung besteht, sondern zu einer Verantwortung auch für die Bevölkerungen anderer Staaten wird, wenn diese ih-rer eigenen Verantwortung nicht nachkommen. Nichts anderes bedeutet die Rede von der »Verantwortung der internationalen Gemeinschaft« für eklatante Men-schenrechtsverstöße, die auf einer zweiten Ebene greift, wenn die Verantwortung des einzelnen Staates versagt. Das Verständnis der Menschenrechte als einer emergenten sozialen Praktik bekommt nicht nur ihre souveränitätsbeschränkende Wirkung in den Blick, sondern gleichzeitig auch die Verantwortungsübertragung für die Einhaltung der Menschenrechte in besonderen Fällen auf die internationa-le Gemeinschaft. Diese impliziert jedoch letztlich eine Verantwortungsübernah-me der Staaten füreinander.

D. Kollektive Identitäten

Unter welchen Bedingungen tatsächlich von einer gelungenen Wiederholung als Ausdruck kollektiver Selbstbestimmung gesprochen werden kann, lässt sich nur klären, wenn man ihren Wert für das Individuum in den Blick bekommt. Kollek-tive Selbstbestimmung als Teil der sozialen Praktik der Menschenrechte muss daher normativ rekonstruiert und das ihr zugrundeliegende dringliche Interesse des Einzelnen identifiziert werden. Die These, die hier vertreten werden soll, lau-tet wie folgt: Das Recht auf kollektive Selbstbestimmung als Menschenrecht dient den grundlegenden Interessen der Individuen dadurch, dass es die Erhal-tung, Festigung und Förderung bestimmter Formen kollektiver Identität ermög-licht. Kollektive Identitäten im Allgemeinen wiederum beziehen ihren Wert für den Einzelnen aus dem Anteil, den sie am jeweiligen Personenkonzept des Indi-viduums haben. Die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen formt unseren kultu-rellen Horizont, beeinflusst unsere Werturteile und setzt den Rahmen für unsere Lebenspläne. Als »kulturproduzierende Geschöpfe«45, so Walzer, haben Indivi-duen ein grundlegendes Interesse, das politische Zusammenleben nach den eige-nen, historisch gewachsenen oder kulturell konstruierten, Wertesets zu gestalten. Margalit und Raz vertreten ein ähnliches Argument, wenn sie schreiben: »The interests of members of an encompassing group in the self-respect and prosperity

45 Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, S. 442.

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of the group are among the most vital human interests. Given their importance, their satisfaction is justified even at a considerable cost to other interests.«46 Kol-lektive und individuelle Identitäten bedingen sich so gegenseitig und verändern sich in diesem Prozess ständig. Dabei ist in der Debatte bis heute nicht geklärt, ob diese Identitäten sich größtenteils Selbst- oder Fremdzuschreibungen verdan-ken. Das Robbers-Cave-Experiment47 aus den 50er Jahren zeigt exemplarisch, dass kollektive Identitäten sich vielfach erst aufgrund der Anwesenheit einer als »die Anderen« perzipierten Gruppe entwickeln.

Entscheidend für das Argument ist jedoch ein anderer Aspekt. Die Tatsache, dass kulturelle Praktiken aus kollektiven Selbst- und Fremdzuschreibungen ent-stehen können, und nicht unbedingt umgekehrt, relativiert die Wichtigkeit kultu-reller Zuschreibungen für Gruppenidentitäten. Einige Autoren argumentieren, dass bestimmte kollektive Identitäten nach dem subjektiven Verständnis der Be-troffenen einen größeren Anteil an ihrer eigenen individuellen Identität haben als andere. Dies gelte insbesondere für Identitäten, die Margalit und Raz als »pervasive cultures«48 bezeichnen, also die aufeinander bezogene Gesamtheit kultureller Praktiken, die viele verschiedene und wichtige Aspekte des eigenen Lebens beinhaltet. Dieses Verständnis des Werts kultureller Identitäten für das Individuum deckt sich mit Teilen des Völkerrechtsdiskurses, dessen Position sich am deutlichsten in der Mexiko-City-Erklärung der UNESCO findet. Dort heißt es, dass erst Kultur den Menschen zu dem macht, was er ist, indem sie ihm erst die Fähigkeit zur Selbstreflexion und ein Moralbewusstsein ermöglicht.

Während für die UNESCO sich hieraus quasi notwendig die Schutzwürdigkeit kultureller Vielfalt ergibt, zeigt das Robbers-Cave-Experiment, dass mit einer vorschnellen Gleichsetzung von »kultureller Identität« mit einer kollektiven Identität, die politische Anerkennung und Selbstbestimmung fordert, niemandem gedient ist. Letztere werde ich im Folgenden daher in Abgrenzung politisierte Identitäten nennen, da ihre Genese eine gewisse Politisierung voraussetzt. In vie-len – vielleicht sogar den allermeisten – Fällen wird es sich dabei um kulturelle Identitäten handeln, speziell, wenn man einen weiten Kulturbegriff annimmt.

46 Margalit/Raz, »National Self-Determination«, S. 204. 47 Sherif/Harvey/White/Hood/Sherif, Intergroup conflict and cooperation. In diesem Expe-

riment wurden zwei Gruppen von 11-jährigen Jungen mit ähnlichem Hintergrund (weiß, protestantisch, Mittelschicht, alle aus der Gegend von Oklahoma) in unterschiedlichen Camps im Oklahoma Robbers Cave State Park untergebracht. Die Gruppen wussten an-fangs nichts voneinander, ihnen wurde nach einiger Zeit von den Betreuern von der Exis-tenz der jeweils anderen Gruppen berichtet. Sofort forderten sie sich gegenseitig zu Sportspielen u.ä. heraus, und entwickelten in nur vier Tagen detaillierte Gruppenidentitä-ten mit Namen (Eagles und Rattlers) und höchst unterschiedlichen Verhaltenscodices. Aufgrund aufkommender Gewalt zwischen den Gruppen musste das Experiment nach nur vier Tagen abgebrochen werden.

48 Margalit/Raz, »National Self-Determination«, S. 186.

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Unter den Vorzeichen der Selbstbestimmung stellt sich jedoch nicht zu Unrecht die Frage, »whether culture«, wie Anthony Appiah ketzerisch bemerkt, »having allowed us an expansive view, should finally, like Wittgenstein̓s ladder, be thrown away«.49 Denn für die Frage nach kollektiver Selbstbestimmung sind nicht so sehr die Betonung kultureller Unterschiede als Faktum menschlicher Sozialorganisation entscheidend, sondern vielmehr der Wunsch nach Anerken-nung als Gruppe und die politische Selbstorganisation in Bezug auf für die Gruppe wichtige Aspekte des öffentlichen Lebens. Die Dimension der kollekti-ven Handlungsfähigkeit ist an dieser Stelle die einzige Möglichkeit, von einem »Selbst« im Sinne kollektiver Selbstbestimmung zu sprechen, wie Iris Marion Young sehr luzide herausgestellt hat:

»Insofar as a collective has a set of institutions through which that people make decisions and implement them, then the group sometimes expresses unity in the sense of agency. Whatever conflicts and disagreements may have led up to that point, once decisions have been made and action taken through collective institutions, the group itself can be said to act. […] This capacity for agency is the only secular political meaning that the ›self‹ of collective self-determination can have.«50

In der Praxis wird der Wunsch nach kollektiver Selbstbestimmung häufig auf der fehlenden Kontrolle über die Fremdzuschreibungen und der damit verbundenen politischen Nachteile beruhen, die entlang bestimmter Momente der eigenen Identität von außen zugeschrieben werden. Und viele dieser Fremdzuschreibun-gen – wenn nicht alle – lassen sich im Sinne einer kulturellen Identität verstehen, mindestens als »culture writ small«51, wie Appiah sagt. Eine – gar von außen festgestellte – alle Lebensbereiche übergreifende »culture writ large«52, oder auch »pervasive culture«53, wie von Margalit und Raz gefordert, ist dafür nicht notwendig.

Diese Überlegungen decken sich mit der Überzeugung eines substanziellen Ausschnitts des Völkerrechtsdiskurses, der die subjektiven Identitätszuschrei-bungen und voluntaristischen Assoziationsbestrebungen von Individuen betont. So wird beispielsweise nach Helmut Rumpf der Träger des Selbstbestimmungs-rechts allein von der Geschichte gemacht bzw. durch die Politik bestimmt. Dem Völkerrecht kommt dann nur noch eine nachträglich legitimierende Funktion zu.54 Und der Sonderberichterstatter der UN-Unterkommission zur Verhinderung von Diskriminierung, Aureliu Cristescu, schreibt: »The fact is that, whenever in the course of history a people has become aware of being a people, all definitions

49 Appiah, The ethics of identity, S. 120. 50 Young, »Two Concepts of Self-Determination«, S. 50. 51 Appiah, The ethics of identity, S. 130. 52 Ebd. 53 Margalit/Raz, »National Self-Determination«, S. 186. 54 Vgl. Rumpf, »Das Subjekt des Selbstbestimmungsrechts«, S. 52.

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have proved superfluous.«55 Der Völkerrechtsdiskurs ist bisher weitgehend davor zurückgeschreckt, eine allgemein akzeptierte, schlüssige Definition von Volk im Sinne des Selbstbestimmungsrechts zu entwickeln. Dies liegt vor allem daran, dass die Deutungshoheit über den genauen Inhalt des Selbstbestimmungsrechts weitgehend dem Konsens der Staaten unterliegt. Aus Furcht vor Anerkennungs-ansprüchen gegen ihre territoriale Integrität versucht die Staatengemeinschaft nach wie vor, die Liste der potenziellen Rechtsträger so weit als möglich einzu-schränken. Aus der Verwendung der Begriffe »Völker« oder auch »Nationen« in der Völkerrechtspraxis lässt sich zumindest schließen, dass sich das Volk deut-lich vom Staat abhebt. Es gibt eben kein Selbstbestimmungsrecht des Staates, auch wenn dies ohne Weiteres denkbar wäre.

E. Die voluntaristische Beschreibung von politisierten Kollektiven

Der Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts hat dazu geführt, dass Selbstbes-timmungsdiskurse größtenteils in den Begriffen »Ethnie« und »Nation«, seltener auch über eine spezifische Religionszugehörigkeit geführt werden. Der Volksbe-griff im Selbstbestimmungsrecht der Völker entwickelt ein eigentümliches Ei-genleben zwischen ethnos und demos,56 d.h. zwischen der ethnisch-kulturellen Identitätszuschreibung einer Gruppe und der politischen Einheit eines Staatsvol-kes. Die meisten Befreiungsbewegungen haben sich in der Vergangenheit daher den Anstrich des Ethnisch-Kulturellen gegeben und so versucht, ein Volk im Sinne des Völkerrechts zu sein oder zu werden. Ein besonders gutes Beispiel mag hier die Republik Padanien und die ihr zugeordnete ethnisch-kulturelle Identität des Padanischen darstellen, die als vielbelächeltes Deckmäntelchen für die Sezessionsbestrebungen der Lega Nord aus rein ökonomischer Vorteilsnah-me dient. Dennoch ist dieser Fall nicht trivial, nachdem es sich bei allen kollek-tiven Identitäten – ob kulturell konnotiert oder nicht – ohne Frage um »imagined communities«57 handelt. Der Anspruch auf politische Anerkennung ist für die Individuen des Kollektivs in jedem Fall ein konkretes und zentrales Anliegen. Intuitiv würden wir einem solchen Anspruch sehr viel eher zustimmen, wenn er Hand in Hand mit der Forderung nach institutioneller Umsetzung der eigenen

55 Cristescu, »The Right to Self-Determination«, S. 17. Dies hält ihn jedoch nicht davon ab,

im Weiteren eine recht detaillierte Definition von »Volk« mithilfe »objektiver Kriterien« wie Territorium und Identität zu geben. Siehe dazu Fußnote 59.

56 Zur Unterscheidung der Begriffe »ethnos« und »demos« siehe: Francis, Ethnos und De-mos.

57 Vgl.: Anderson, Die Erfindung der Nation.

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kulturell konstruierten Moralcodes geht, als wenn er nur opportunistisch ein fi-nanziell belastendes Süditalien auszugrenzen versucht.

Aufgrund des Versuchs im 19. und frühen 20. Jahrhundert, einen eindeutigen und klar erkennbaren Zusammenhang zwischen Souveränität und Nationalität herzustellen (»Jeder Nation ihren eigenen Staat«), hat die Völkerrechtspraxis bisher – wenn überhaupt – nur nachträglich auf die Anerkennungs- und Selbst-bestimmungsforderungen von Gruppen reagiert und eine Definition des Volks-begriffs weitgehend vermieden. Denn wenn klar wäre, was ein Volk bzw. eine Nation im Sinne des Völkerrechts wäre, könnten auch alle unter diese Definition fallenden Gruppen völkerrechtliche Souveränität fordern. Insofern versucht die Völkerrechtspraxis, aber auch zu großen Teilen das Schrifttum, dieses nachträg-liche Appeasement von Gruppen, die schon in gewaltsame Selbstbestimmungs-konflikte verwickelt sind, durch eine voluntaristische Volksdefinition zu legiti-mieren. Der Völkerrechtler Hans-Joachim Heintze beispielsweise spricht hier von dem »Bewusstsein und dem politischen Willen, ein Volk zu sein«.58

Einen Trend in die andere Richtung setzt Cristescu mit seiner bekannten und im Völkerrechtsdiskurs vielzitierten Definition:

»(a) The term ›people‹ denotes a social entity possessing a clear identity and its own cha-racteristics; (b) It implies a relationship with a territory, even if the people in question has been wrongfully expelled from it and artificially replaced by another population; (c) A people should not be confused with ethnic, religious or linguistic minorities, whose exis-tence and rights are recognized in article 27 of the International Covenant on Civil and Po-litical Rights.«59

Für das Heranziehen von derartigen Fremdzuschreibungen spricht zwar die Tat-sache, dass rein subjektive Kriterien nicht nur unter Umständen auch Sportverei-nen das Recht auf kollektive Selbstbestimmung eröffnen, sondern darüber hinaus die Politisierung einer kollektiven Identität zu einem notwendigen Kriterium ma-chen. Andererseits kann nur dort, wo Selbstbestimmung wirklich gefordert wird, auch Selbstbestimmung gewährt werden. Eine reine Fremdzuschreibung von »Volk« würde dem Prinzip der Selbstbestimmung in eklatanter Weise wider-sprechen. »By defining the unit, we imply an element of determinism«,60 schreibt Harold Johnson. Diese Aussage bedarf jedoch genauerer Betrachtung, da jedem Akt von Selbstbestimmung notwendig eine Fremdzuschreibung vorausgehen muss. Darauf weist schon William Jennings hin, der in einem vielzitierten Satz die Problematik zuspitzt: »On the surface it seemed reasonable: let the people decide. It was in fact ridiculous, because the people cannot decide until some-body decides who are the people.«61 58 Heintze, »Kapitel 6: Völker im Völkerrecht«, S. 408. 59 Cristescu, »The Right to Self-Determination«, S. 41. 60 Johnson, Self-determination within the community of nations, S. 134. 61 Jennings, The Approach to self-government, S. 56.

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Hier zeigt sich, dass auch im Fall eines voluntaristischen Volksbegriffs, der mit Selbstzuschreibungen und Referenden arbeitet, zumindest ein Kriterium von außen determiniert werden muss: das der Mitgliedschaft bzw. Territorialität. Die Festlegung, wer die Mitglieder eines politisierten Kollektivs sind bzw. die Fest-legung des Territoriums, auf dem ein mögliches Gebietsreferendum stattfinden soll, beeinflusst den Ausgang solcher Referenden enorm.62 »In Wahrheit ist ›das Volk‹ einer jener Ausdrücke, die erst dann etwas bedeuten, wenn ihnen eine nä-here Bestimmung hinzugefügt wird. Es kommt auf den gegebenen Zusammen-hang an.«63 Im Rahmen dieses Aufsatzes ist eine genauere Auseinandersetzung mit den jeweiligen Möglichkeiten und Implikationen einer Grenzziehung nicht möglich. Nur so viel kann gesagt werden: Antworten auf derartige Fragen müss-ten sich als Ergebnis einer Deliberation herauskristallisieren, die alle Betroffenen einschließt. Auf ein solches Kriterium hat bereits das Bundesverfassungsgericht hingewiesen.64

Um jedoch den heiklen Fragen nicht vollständig auszuweichen, möchte ich kurz auf die Möglichkeit einer vierstufigen Systematik eingehen, die die prakti-sche Möglichkeit verschiedener Kollektive zur Wahrnehmung ihres Rechts auf Selbstbestimmung widerspiegelt: Die erste Stufe umfasst kulturelle Kollektive ohne jede politische Repräsentation. Ihre Mitglieder haben natürlich wie alle In-dividuen ein Recht auf kollektive Selbstbestimmung, beanspruchen dieses aber zurzeit nicht und werden daher am besten über nationale Antidiskriminierungs-gesetze oder Minderheitenrechte eingefangen. Dies schließt jedoch auch immer eine Schutzverantwortung des jeweiligen souveränen Staates ein, der sich dafür vor der internationalen Gemeinschaft verantworten muss. Auf der zweiten Stufe ist der Wunsch der Mitglieder des Kollektivs nach politischer und rechtlicher Anerkennung deutlich auszumachen, die Gruppe verfügt jedoch über kein primä-res Siedlungsgebiet. An die Stelle territorialer Autonomie kann aber durchaus ei-ne funktionelle bzw. kulturelle Autonomie treten, bei der der jeweiligen Gruppe die Entscheidung über Bereiche wie Kultur, Medien, Sprache und Bildung über-tragen werden.

Für die dritte Stufe muss eine Gruppe eine territoriale Ausgangsbasis haben, die erst die Möglichkeit für eine vollständige politische Selbstverwaltung ein-räumt. Die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts auf dieser Stufe ist nicht notwendig mit Eigenstaatlichkeit gleichzusetzen. Dennoch kann ein Sezessions-recht nicht allein als Ultima Ratio bei schwersten Menschenrechtsvergehen in Betracht gezogen werden, wie dies von vielen Autoren gefordert wird. Die vierte und letzte Stufe schließlich bilden die Staatsvölker der bestehenden Nationalstaa-

62 Vgl. hierzu: Peters, Das Gebietsreferendum im Völkerrecht. 63 Von Simson, »Was heißt in einer europäischen Verfassung ›Das Volk‹?«, S. 2. 64 BVerfGE 1, 14 (42).

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ten. Neben dem Anspruch auf innere Selbstbestimmung verpflichtet sie die er-folgreiche Ausübung ihrer äußeren Selbstbestimmung gleichzeitig, den kulturel-len Kollektiven innerhalb ihrer Grenzen ebenfalls das Recht auf Selbstbestim-mung zu gewähren.

Die Anerkennung als selbstbestimmtes Kollektiv durch die internationale Gemeinschaft ist dabei an vier Bedingungen gebunden: Erstens muss das Kollek-tiv auf jegliche Form gewaltsamer separatistischer Bestrebungen verzichten. Zweitens kann es nur als selbstbestimmtes Kollektiv anerkannt werden, wenn es der eigenen Bevölkerung das Recht auf innere Selbstbestimmung zugesteht oder zumindest glaubhaft machen kann, dass es die Kriterien für innere Selbstbe-stimmung institutionell umsetzen wird, sobald es politische Autonomie erlangt hat. Drittens ist es im Sinne des Prinzips kollektiver Selbstbestimmung unver-zichtbar, dass das Kollektiv den jeweiligen Minderheiten in seinem Einflussbe-reich ebenfalls das Recht auf Selbstbestimmung zuerkennt. Und schließlich muss es eine mögliche Kompensationspflicht akzeptieren, sofern es sich durch das Er-gebnis des Selbstbestimmungsprozesses einen deutlichen Vorteil gegenüber den Betroffenen dieses Prozesses verschafft. Hiermit ist vor allem der zurückblei-bende Teil bei einer einseitigen Sezession oder weitgehenden Autonomie ge-meint, möglicherweise aber genauso Nachbarländer bzw. ehemalige Vertrags-partner internationaler Verträge.

F. Formen kollektiver Selbstbestimmung

In diesem Abschnitt soll eine Antwort auf die Frage nach der tatsächlichen Aus-gestaltung kollektiver Selbstbestimmung gegeben werden. Es ist deutlich gewor-den, dass sie nicht mehr im Sinne einer klassischen Form der Souveränität ver-standen werden kann, nach der die staatliche Autonomie nach innen wie außen das entscheidende Regelungsprinzip der internationalen Ordnung ist. Vielmehr verweisen die Umbrüche im Souveränitätsverständnis über die letzten Jahrhun-derte sowie die Auseinandersetzung um das Konzept der Souveränität gerade im Nachklang des Zweiten Weltkriegs auf eine idealtypische Konzeption kollektiver Selbstbestimmung. Analog zum völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrecht glie-dert sich diese zunächst in zwei Teile: Zum einen in eine äußere Selbstbestim-mung, die hier als kollektive Autonomie sowie als kollektive Verantwortung ver-standen wird, zum anderen in eine innere Selbstbestimmung als individuelle Par-tizipation, die aber von außen auch erkennbar sein muss.

Kollektive Autonomie beinhaltet dabei auf der einen Seite einen Anspruch auf Nicht-Beeinflussung, auf der anderen Seite umfasst sie ein Recht auf Anerken-nung als autonom handelnde Einheit. Der Begriff der Nicht-Beeinflussung ist dabei normativ reichhaltiger ist als das Recht auf Nichteinmischung, wie es sou-

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veränen Staaten zukommt. Während letzteres im geltenden Völkerrecht eine au-tonome Sphäre eröffnet, in der niemand anders als die autonome Einheit Autori-tät oder Kontrolle ausüben kann, kommt es bei der Nicht-Beinflussung (non-domination) auf die Möglichkeit einer Einmischung an. Young beschreibt diese Unterscheidung sehr deutlich:

»An agent dominates another when he or she has power over that other and is thus able to interfere with the other arbitrarily . Interference is arbitrary when it is chosen or rejected without consideration of the interests or opinions of those affected. An agent may domi-nate another, however, without ever interfering with that person. Domination consists in standing in a set of relations which makes an agent able to interfere arbitrarily with the ac-tions of others.«65

Äußere Selbstbestimmung kann sich deshalb nicht in dem Recht auf Nichteinmi-schung erschöpfen, da hier wichtige Aspekte kollektiver Autonomie vernachläs-sigt werden, so z.B. indirekte Einschüchterungsversuche, Abhängigkeitsbezie-hungen, ungleiche Verhandlungspositionen, Drittwirkungen und Ähnliches. Die-se sollen nach Philip Pettit mit dem Begriff der Nicht-Beeinflussung ausge-schlossen werden,66 damit ein Konsens tatsächlich auf dem Prinzip der Freiwil-ligkeit aller beruhen kann. Obwohl zunächst nur auf Individuen bezogen und für innerstaatliche demokratische Deliberationsprozesse entwickelt, haben sowohl Pettit selbst als auch Young das Konzept der non-domination später auf die in-ternationale Ebene übertragen. Zunächst identifiziert Pettit drei Möglichkeiten der unangemessenen Kontrolle von außen (»unchecked alien control«), die ge-gen die Idee der Nicht-Beeinflussung verstoßen: »interference«, »invigilation« und »inhibition or intimidation«.67 »Interference« bezieht sich dabei nicht nur auf tatsächliche Einmischung von außen, es reicht hierfür, dass die betroffene Einheit davon überzeugt ist, dass ihre Handlungsoptionen von außen einge-schränkt werden. Dagegen stellt »invigilation« eine Form der Kontrolle dar, bei der die Kontrollinstanz von außen nur dann eingreift, wenn sich das betroffene Kollektiv entgegen den Wünschen der Kontrollinstanz entscheidet. Selbst wenn sich das Kollektiv also immer in Übereinstimmung mit der Kontrollinstanz ver-hält, wird es faktisch durch das Vorhandensein dieser Instanz beeinflusst. Dies drückt sich explizit in der dritten Form der Kontrolle aus, die Pettit als »inhibiti-on« oder »intimidation« bezeichnet. Hierbei lässt die jeweilige Kontrollinstanz die betroffene Einheit lediglich in dem (richtigen oder falschen) Glauben, sie hätte eine Kontrolle im Sinne der »invigilation« über sie und beeinflusst dadurch ihre Handlungen.

65 Young, »Two Concepts of Self-Determination«, S. 48. 66 Für eine ausführliche Darstellung der Idee der Non-Domination siehe: Pettit, Republica-

nism. 67 Vgl. hierzu: Pettit, »A Republican Law of Peoples«, S. 73-74.

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Young geht hier noch einen Schritt weiter und bezieht die Tatsache stetig wachsender Interdependenz auf globaler Ebene in ein Konzept »relationaler Au-tonomie«68 mit ein. Aufgrund der transnationalen und globalen Verflechtungen lässt sich ihrer Meinung nach die Idee der Nichteinmischung nicht mehr auf-rechterhalten, da es bei so gut wie allen Handlungen von Gruppen immer andere betroffene Gruppen geben wird, die von diesen Handlungen beeinträchtigt wer-den. Daher plädiert sie dafür, zunächst von einer »presumption of noninterference«69 auszugehen, dabei aber beim Vorliegen von Externalitäten ei-nen Anspruch der Betroffenen auf Verhandlungen zu gewähren. Dieser An-spruch soll durch geeignete transnationale Prozesse eingelöst oder sogar vor da-für vorgesehenen Institutionen entschieden werden. Sofern alle Gruppen eine Möglichkeit haben, am Design und der Implementierung derartiger Foren und Institutionen mitzuwirken, ist deren Einmischung in die inneren Angelegenheiten selbstbestimmter Kollektive keine Beeinflussung, da sie gerade Beeinflussung im Sinne von domination minimiert.

Hier klingt schon deutlich der zweite Aspekt äußerer Selbstbestimmung neben der kollektiven Autonomie an: das Moment kollektiver Verantwortung. Äußere Selbstbestimmung bringt nicht nur das Recht auf Nicht-Beeinflussung mit sich, sondern auch eine Verpflichtung, kollektive Selbstbestimmung als konstitutives Prinzip des Völkerrechts zu achten und zu fördern. Die Selbstbestimmung ande-rer politisierter Kollektive ist anzuerkennen und – soweit es geht – zu ermögli-chen. Dazu gehört zum einen, vonseiten selbstbestimmter Kollektive die »morally mandatory aims« des Völkerrechts als funktionale Vorbedingungen kollektiver Selbstbestimmung zu respektieren und umzusetzen. Darunter fällt auch die Etablierung transnationaler oder globaler Strukturen, um einerseits die-se Ziele des Völkerrechts effektiver zu erreichen, andererseits aber auch die Nicht-Beeinflussung selbstbestimmter Kollektive zu gewährleisten, wie ich sie weiter oben dargestellt habe. Zum anderen muss auch die innere Selbstbestim-mung von Kollektiven gefordert und unterstützt werden. Hier ist die internatio-nale Gemeinschaft auf einer zweiten Ebene des Menschenrechtsschutzes in der Pflicht, das Menschenrecht auf kollektive Selbstbestimmung zu schützen und zu fördern.

Den zweiten Aspekt kollektiver Selbstbestimmung, die innere Selbstbestim-mung, rekonstruiere ich als Recht auf individuelle Partizipation. Kollektive Selbstbestimmung als Menschenrecht muss die Interessen der Individuen nach kollektiver kultureller Identität abbilden. Die institutionelle Ausgestaltung dieser kulturellen Identität soll daher auch von allen Mitgliedern des Kollektivs mitge-

68 Zum Konzept der relationalen Autonomie siehe: Young, »Two Concepts of Self-

Determination«, S. 49-53. 69 Ebd., S. 51.

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tragen werden können, d.h. sie muss – um Rawlsʼ Kriterium legitimer Herrschaft anzuführen – gegenüber allen Mitgliedern gerechtfertigt werden können.70 Selbstbestimmung ist also nicht einfach mit politischer Autonomie gleichzuset-zen. Zu unterscheiden ist dabei zwischen der tatsächlichen, aber impliziten, Zu-stimmung durch die Mitglieder des Kollektivs und der Frage, wie diese Selbstbe-stimmung von außen zu erkennen ist. So mag es durchaus einen, wie Walzer es nennt, »certain ›fit‹ between the community and its government«71 geben, der von außen nicht als solcher wahrgenommen wird. Auf ähnliche Weise argumen-tieren Vertreter wertepluralistischer Positionen. Da es sich bei dem Recht auf kollektive Selbstbestimmung jedoch um ein Menschenrecht handelt, das nicht nur selbstbestimmte Kollektive verpflichtet, sondern in einem zweiten Schritt in den Verantwortungsbereich der internationalen Gemeinschaft fällt, ist ein »certain fit« allein kein geeignetes Kriterium.

Sofern also von außen der Wille des Einzelnen als Teil des Kollektivs im Handeln dieses Kollektivs nicht erkennbar ist, kann es sich nicht um Selbstbe-stimmung als Ausübung eines kollektiven Menschenrechts handeln. Letztlich ist also die zweite, d.h. von außen erkennbare, Artikulation des Kollektivwillens entscheidend.

Dabei muss – in Übereinstimmung mit dem völkerrechtlichen Selbstbestim-mungsrecht – die innere Selbstbestimmung als individuelle Partizipation nicht notwendig demokratisch im Sinne turnusmäßiger Wahlen organisiert sein. Elektorale Demokratie, Mehrparteiensystem, eine deutliche Konkurrenz zwi-schen Regierung und Opposition … das alles lässt sich zwar als eine Art Gold-Standard für individuelle Partizipation beschreiben, ist aber nicht zwingend not-wendig für funktionierende Partizipationsmöglichkeiten aller Individuen. Ent-scheidend ist voice, nicht vote. Letztere garantiert zwar in vielen Fällen die an-gemessene Berücksichtigung verschiedener Interessen und Meinungen, von die-sem Prinzip kann und sollte aber abgewichen werden, wenn das auf der Freiwil-ligkeit aller Beteiligten, d.h. letztendlich auf einem Akt kollektiver Selbstbe-stimmung, beruht. Auch wenn elektorale Elemente von Demokratie als inhären-ter Bestandteil einer bestimmten politischen Kultur verstanden werden können, sind sie in diesem Fall nur der Indikator, mit dem sich von außen Selbstbestim-mung als substanzielle individuelle Partizipation messen lässt. Pettit fasst diese Einsicht folgendermaßen zusammen:

»The self-ruling demos or people may also often run on automatic pilot, allowing public decision-making to materialize under more or less unexamined routines. What makes them self-ruling or democratic is the fact that they are not exposed willy-nilly to that pattern of

70 Vgl.: Rawls, Politischer Liberalismus, insbes. VI. Vorlesung, §2. 71 Walzer, »The Moral Standing of States«, S. 212.

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decision-making: they are able to contest decisions at will and, if the contestation estab-lishes a mismatch with their relevant interests or opinions, able to force an amendment.«72

Die Kriterien, nach denen sich individuelle Partizipation bemisst, orientieren sich daher an der Möglichkeit zu Widerspruch und Einflussnahme. So zählt z.B. Jos-hua Cohen einige Merkmale auf, die seiner Meinung nach als menschenrechtli-che Mindeststandards für die Mitgliedschaft in politischen Gemeinschaften gel-ten.73 Dazu müssen erstens die Interessen aller im politischen Prozess repräsen-tiert werden. Zweitens haben alle ein Recht auf Einspruch, der auch gehört wer-den muss, und drittens müssen die offiziellen Vertreter politischer Institutionen ihre Entscheidungen anhand öffentlich geteilter Gemeinwohlvorstellungen erläu-tern. Cohen übernimmt hier augenscheinlich einen Rechtekatalog von Rawls, wie ihn dieser für seine »decent peoples« entwickelt hat. Achtbare Völker zeich-nen sich nach Rawls zusätzlich noch dadurch aus, dass in ihnen eine formale Gleichheit herrscht und nur »vernünftige umfassende Lehren« (d.h. Weltan-schauungen, die die »Bürden des Urteilens« im Sinne religiöser Toleranz aner-kennen) als gesellschaftlich übergreifende Vorstellungen des Guten denkbar sind.74 In diesem Zusammenhang formuliert Leif Wenar Kriterien, nach denen von außen sichergestellt werden kann, dass ein Volk sein Selbstbestimmungs-recht als Recht auf seine eigenen Bodenschätze und andere Ressourcen tatsäch-lich auch wahrnehmen kann und nicht schutzlos kleptokratischen Eliten ausgelie-fert ist, die die Bodenschätze zur eigenen Bereicherung ausbeuten.75 Um dieses Recht sinnvoll wahrnehmen zu können, muss das Volk als Eigentümer dieser Ressourcen laut Wenar zum einen die Möglichkeit haben, sich über Verkäufe, Schürfrechte etc. zu informieren. Darüber hinaus ist es essentiell, dass das Volk die Verkäufe stoppen kann, d.h. es muss effektive politische Strukturen geben, innerhalb derer die Bevölkerung ihre Ablehnung zum Ausdruck bringen kann. Diese politischen Informations- und Einspruchsrechte dürfen nicht durch unan-gemessene Beeinflussung in Form von Propaganda oder Gewalt eingeschränkt werden.

Aus diesem kurzen Überblick an verschiedenen Merkmalen für die innere Selbstbestimmung eines Kollektivs im Sinne individueller Partizipation lässt sich ein Kernbestand an Kriterien herausfiltern. Grundlegende Abwehr- und Subsis-tenzrechte dienen als Vorbedingung für die effektive Partizipation aller, ebenso wie Rechtsstaatlichkeit und eine grundlegende Gewissensfreiheit als religiöse Toleranz. Dazu kommt eine »Konsultationshierarchie« (Rawls) oder »nonelected consultative legislature« (Wenar), in der alle Individuen auf die eine oder andere

72 Pettit, Republicanism, S. 186. 73 Vgl.: Cohen, »Is there a Human Right to Democracy?«. 74 Siehe hierzu: Rawls, Das Recht der Völker, insbes. Teil II, §8 und 9. 75 Vgl. hierzu: Wenar, »Property Rights and the Resource Curse«.

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Weise repräsentiert sind, sodass sich deren Interessen im politischen Prozess wi-derspiegeln. Eine grundlegende Versammlungs-, Rede- und Pressefreiheit er-möglicht die Information über »salient issues«76 und dient als Basis für eine ge-sellschaftliche Deliberation über politische Standpunkte. Darüber erstreckt sich eine Gemeinwohlvorstellung, die zwar nicht liberal im Sinne von weltanschau-lich neutral sein muss, aber dem Rawlsschen Kriterium der »Vernünftigkeit« ge-nügt, d.h. dass sie keinen Anspruch auf Alleingültigkeit erhebt und andere welt-anschauliche Vorstellungen als grundsätzlich gleichwertig akzeptiert. Diese Cha-rakteristika sind die Voraussetzung für individuelle Partizipation als Ausdruck eines Volkswillens. Oder, wie Wenar schreibt: »Absent these conditions, the people’s silence is just silence.«77

Das grundlegendste Kriterium für eine substanzielle innere Selbstbestimmung ergibt sich jedoch aus dem Prinzip der kollektiven Selbstbestimmung selbst, spe-ziell in der von mir identifizierten Ausprägung als kollektive Verantwortung. Wie bei jedem Freiheitsrecht, das allen Rechtssubjekten gleichermaßen zu-kommt, wird das Recht des einen durch das Recht der anderen beschränkt. In diesem Fall wird die innere Selbstbestimmung des Kollektivs begrenzt durch die Selbstbestimmung der anderen Kollektive innerhalb seiner Grenzen. Die Inan-spruchnahme der selbstbestimmten institutionellen Ausgestaltung der eigenen kollektiven Identität ist daher nur so lange durch das Recht auf Selbstbestim-mung gerechtfertigt, wie die Möglichkeit zur Inanspruchnahme des gleichen Rechts durch andere gewährleistet wird. In diesem Zusammenhang schreibt Walzer mit leicht pessimistischem Unterton:

»Für jeden Nationalismus kommt die Stunde der Prüfung, wenn er sich mit dem überra-schenden Auftreten einer neuen Nation auseinandersetzen muß – oder besser gesagt: einer neuen Befreiungsbewegung, welche den Status einer Nation beansprucht. Diese Erfahrung ist nicht ungewöhnlich; und ich vermute, die Prüfung wird für gewöhnlich nicht bestan-den.«78

Aus dieser vermutlich richtigen Einschätzung heraus ist es umso entscheidender, dass kollektive Selbstbestimmung als Menschenrecht mit globalen Rechtsstruk-turen unterfüttert wird, die dafür sorgen, dass diese »Prüfung« immer häufiger auch bestanden wird.

76 Moravcsik, »What Can We Learn from the Collapse of the European Constitutional

Project?«. 77 Wenar, »Property Rights and the Resource Curse«, S. 21. 78 Walzer, Lokale Kritik – globale Standards, S. 190.

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G. Praktische Implikationen der Konstitutionalisierung

Vor dem Hintergrund kollektiver Selbstbestimmung als Autonomie und Partizi-pation lässt sich aus einer rechtstheoretischen Sicht das Legitimationsdefizit ei-ner rein auf Staatenkonsens basierenden Völkerrechtsordnung nun genauer be-nennen. Staaten haben aus dieser Perspektive nicht nur eine Ordnungs- und Schutzfunktion, sondern sind Institutionalisierungen, die der Selbstbestimmung ihrer Völker dienen. Ihre Souveränität ist nach diesem Verständnis ein Werk-zeug, um ihre Staatsvölker frei von äußerer Einmischung zu repräsentieren. Dies bedeutet jedoch im Umkehrschluss, dass Staaten illegitime Ausformungen kol-lektiver Selbstbestimmung darstellen können, sofern sie ihren Bevölkerungen keine substanziellen Partizipationsrechte zugestehen. Gleiches gilt, wenn sie den jeweiligen Minderheiten innerhalb ihres Staatsgebietes das Recht auf kollektive Selbstbestimmung verwehren. Da kollektive Selbstbestimmung aber nicht nur kollektive Autonomie, sondern auch eine kollektive Verantwortung beinhaltet, kann die alleinige Feststellung der Illegitimität einzelner Staaten nur ein erster Schritt sein. Kollektive Selbstbestimmung als Menschenrecht schränkt nicht nur die staatliche Souveränität ein, sondern verpflichtet in einem zweiten Schritt auch die übrigen selbstbestimmten Kollektive. Welcher Art diese Verpflichtung im Fall eines Verstoßes gegen das Menschenrecht auf kollektive Selbstbestim-mung ist, soll im Folgenden angesprochen werden.

Als Rechtssubjekte (und vor allem Rechtserzeuger) einer internationalen Ord-nung besteht für diejenigen Kollektive, die die gerade ausgeführte, anspruchsvol-le Form kollektiver Selbstbestimmung schon verwirklicht – oder zumindest weitgehend verwirklicht – haben, natürlich die Möglichkeit, über ihre Rechtset-zungsfunktion den Zugang zu und die Mitgliedschaft in dieser internationalen Rechtsordnung zu beschränken. Diesen Weg wählt beispielsweise Rawls in sei-nem »Recht der Völker«79, wenn er nur sogenannte »liberal peoples« und »decent peoples« über ein idealtheoretisches Recht der Völker entscheiden las-sen will und andere Formen von Gesellschaften im Anschluss von einer idealen »Gesellschaft der Völker« ausgeschlossen wissen will. Die so außerhalb des Rechts stehenden Gesellschaften sind im wahrsten Sinn des Wortes »outlaw sta-tes«. Im Gegensatz zu Rawlsʼ »society of peoples« ist jedoch ein solches Vorge-hen mit dem geltenden Völkerrecht nicht vereinbar, ohne der Antinomie des ein-schließenden Ausschlusses anheim zu fallen, wie Jacques Derrida scharfsinnig bemerkt.80 Denn wenn Staaten als »outlaw states«, »Schurkenstaaten« o.ä. ge-brandmarkt werden, so werden sie durch diesen Akt einerseits aus der Staaten-gemeinschaft ausgestoßen und somit zu Rechtlosen im Sinne des Völkerrechts. 79 Vgl.: Rawls, Das Recht der Völker. 80 Vgl.: Derrida, Schurken, S. 93-94.

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Gleichzeitig aber sind sie in ihrer Staatlichkeit qua Völkerrechtssubjektivität nach wie vor Teil dieser Rechtsgemeinschaft. Der Begriff »outlaw state« bein-haltet demnach eine Contradictio in Adjecto:81 zum einen den Ausschluss als »outlaw«, zum anderen den Einschluss als »state«.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach einer völkerrechtlichen Anreizstrategie, wie sie z.B. die EU für ihren Rechtsbereich verfolgt, nicht. Zu-mindest ein vollständiger Ausschluss aus allen internationalen Rechtsbezügen ist nicht nur unrealistisch, er ist auch nicht gewollt. Denn zum einen ist es für die Lösung globaler Problemlagen (z.B. der oben angesprochenen »morally mandatory aims« des Völkerrechts) unerlässlich, möglichst viele Akteure mit an Bord zu haben. Zum anderen muss die Frage nach einer legitimen internationa-len Ordnung aus zwei Blickrichtungen beantwortet werden: aus der Binnenper-spektive selbstbestimmter Kollektive, sowie aus der Außenperspektive legitimer internationaler Strukturen. Wie eingangs schon erwähnt, gründet sich die Legi-timität des Völkerrechts auf den Konsens ihrer Rechtssubjekte, d.h. zunächst einmal der Staaten. Wenn diese wiederum in dem hier vorgestellten Sinne illegi-time Ausformungen von kollektiver Selbstbestimmung als dem reproduktions-konstitutiven Prinzip der Völkerrechtsordnung darstellen, kann selbst ein nach Regeln der Nicht-Beeinflussung entstandener Konsens keine Legitimität bean-spruchen. Die Legitimationskette ist unterbrochen.

Auf der anderen Seite leidet selbst eine ideale internationale Ordnung, wie sie z.B. Rawls mit seiner Gesellschaft der Völker avisiert, unter den zu Anfang an-gesprochenen Tendenzen der Entkoppelung des Völkerrechts von der Staatenzu-stimmung. Die Regime und Institutionen einer global governance werfen die Frage der Zurechenbarkeit und Kontrolle besonders im Hinblick auf demokrati-sche Staaten auf, da diese die Partizipations- und Einspruchsmöglichkeiten ihrer Bürgerschaften in Gefahr sehen. Andrew Moravcsik geht sogar soweit, dies als »one of the central questions – perhaps the central question – in contemporary world politics«82 zu bezeichnen. Aus diesem Grund muss eine transitorische Weltordnung zweierlei leisten: Sie muss zum einen für die Selbstbestimmung al-ler Kollektive sorgen, die eine solche anstreben. Dazu gehört konsequenterweise auch eine Rechtssubjektivität aller selbstbestimmten Kollektive, ohne die tat-sächliche äußere Selbstbestimmung nicht möglich ist. Zum anderen muss sie die Legitimationskette von selbstbestimmten Kollektiven zu einer konsensualisti-schen Globalordnung aufrechterhalten, da sonst die Selbstbestimmung diesmal nicht von innen, sondern von außen verunmöglicht wird. Dabei ist es jedoch vonnöten, die zunehmende Verrechtlichung aufgrund »systemischer Imperati-

81 Dies gilt natürlich ebenso für alle anderen Termini rund um den Begriff des Schurken-

staates (z. B. »rogue state«, »outlaw nation«, »pariah state« etc.). 82 Moravcsik, »Is there a ›Democratic Deficit‹ in World Politics?«, S. 336.

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ve«83 und die damit schwindende Bindung an die explizite Zustimmung der Rechtssubjekte nicht einfach rückgängig machen zu wollen. Ein solcher Versuch gibt die funktionalen Ziele des Völkerrechts84 auf, scheinbar zugunsten des rep-roduktionskonstitutiven Prinzips kollektiver Selbstbestimmung. In Wahrheit kann er aber nur misslingen, da zwar das Prinzip die funktionalen Ziele vorgibt, andererseits aber diese Ziele das Prinzip erst ermöglichen.

Ein erster Schritt, um dem angesprochenen Legitimationsdefizit zu begegnen, besteht meines Erachtens darin, das klassische Verständnis von staatlicher Sou-veränität als konstituierendes Element der jetzigen Völkerrechtsordnung um die hier vorgestellte Auffassung von kollektiver Selbstbestimmung zu erweitern. Damit wird nicht nur neueren Bestrebungen Rechnung getragen, die die Souve-ränität an eine Verantwortung für die eigene Bevölkerung vor der internationalen Gemeinschaft koppeln, sondern auch die idealtypisch wirksame Variante kollek-tiver Selbstbestimmung verrechtlicht. Darüber hinaus ist es nur konsequent, wenn auf völkerrechtlicher Ebene keine Unterscheidung zwischen den vier Stu-fen von kollektiver Selbstbestimmung mehr gemacht wird. Das bedeutet, dass al-le Völker im Sinne des Selbstbestimmungsrechts als Völkerrechtssubjekte gleichgestellt wären, egal, ob es sich hierbei um die Staatsvölker souveräner Staaten handelt oder um indigene Völker. Alle als selbstbestimmte Kollektive anerkannten Gruppen könnten beispielsweise gleichberechtigt einen Antrag auf Mitgliedschaft bei internationalen Organisationen stellen. Im Fall der UNO ließe sich die praktische Implementierung zunächst einmal über die Zuerkennung ei-nes Beobachterstatus für alle selbstbestimmten Völker denken, wie dies in der Vergangenheit auch schon für einzelne Befreiungsbewegungen geschehen ist. Dieser Status würde dann sukzessive ausgebaut und nach und nach dem Status der permanenten Mitglieder gleichgestellt. Dadurch müssten die aufgenomme-nen Völker die Verpflichtungen aus der Charta erfüllen und wären so beispiels-weise an das Gewaltverbot gebunden. Hier könnte ein Anreiz an bewaffnete Be-freiungsbewegungen geschaffen werden, im Gegenzug zu einem Gewaltverzicht die politische Aufwertung als Mitglied der UNO zu erhalten.

Ein solches Vorgehen steht im Einklang mit dem Selbstverständnis der UNO, wie es aus der Generalversammlungsdebatte um den Cardoso-Report deutlich wird.85 Dort hatte die Generalversammlung Überlegungen zu einer stärkeren Rolle des Individuums im politischen Prozess der UNO – sei es über eine zweite Kammer im Sinne einer »People’s Assembly«86 oder der Möglichkeit transnatio-

83 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. 84 Im Sinne von »morally mandatory aims«, d.h. also bspw. Sicherheit und Frieden, Men-

schenrechts- und Umweltschutz, Armutsbekämpfung und Handelsgerechtigkeit. 85 Vgl.: GA/10268 sowie GA/10270. 86 Paradigmatisch hierzu: Falk/Strauss, »On the Creation of a Global Peopleʼs Assembly«.

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naler Referenden unter der Aufsicht der UNO87 – eine klare Absage erteilt mit dem Hinweis auf die intergouvernementale Struktur der UNO. Auch wenn die von mir beschriebenen politisierten Kollektive nicht immer über gefestigte poli-tische Organisationsformen verfügen, besitzen sie doch in jedem Fall effektive Repräsentationsmechanismen, ohne die eine Politisierung nicht möglich wäre. In Bezug auf die Intergouvernementalität der UNO scheint mir der repräsentative Charakter dieser Strukturen wichtiger zu sein als ein dauerhaft stabiles politi-sches System. Neben der theoretischen Kohärenz ergeben sich nach meinem Da-fürhalten aus einer solchen Gleichstellung zwei funktionale Vorteile: Erstens würde dies Völker und ihren Kampf um Anerkennung aufwerten und gleichzei-tig die staatliche Souveränität auf einer rechtlichen wie politischen Ebene weiter einschränken. Zweitens würde zwar mit der Erweiterung der Rechtssubjekte zu-nächst einmal eine Zunahme der Verhandlungsparteien einhergehen und so Ent-scheidungsfindungen verkompliziert. Hieraus könnten sich jedoch veränderte Konstellationen ergeben, die eine Neugewichtung der globalen Agenda ermögli-chen könnten.

In der bisherigen Völkerrechtspraxis vollzieht sich die Politisierung eines Kol-lektivs als politisch handelnde Einheit leider in vielen Fällen durch einen gewalt-samen Kampf um Anerkennung. Erst wenn sich ein De-facto-Regime mit Waf-fengewalt etabliert hat, folgt in einem zweiten Schritt die Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft. Dieser Gewaltlogik könnte entgegengewirkt wer-den, indem die internationale Anerkennung des politisierten Kollektivs vor der Aushandlung des endgültigen Status geschieht. Dadurch wären nicht nur Ver-handlungen auf Augenhöhe möglich, sondern auch der Schutzbehauptung des betroffenen Staates, dass es sich um rein »interne Angelegenheiten« handele, würde vorgebeugt. In einem dritten Schritt könnte das Verhandlungsergebnis durch ein Plebiszit bestätigt und dann umgesetzt werden.88

Da Anerkennung von politisierten Kollektiven als gleichberechtigte Völker-rechtssubjekte in der Praxis nach wie vor durch die Staaten erfolgt, liegt hier liegt ein entscheidendes Hindernis für eine derartige Umgestaltung des Völker-rechts. Erst wenn ein maßgeblicher Anteil der Völkerrechtssubjekte aus Völkern besteht, entsteht das notwendige Momentum, das die Anerkennung von selbstbe-stimmten Kollektiven, die keine Staaten sind, zur Normalität macht. Ein Anreiz für die Staatengemeinschaft, dennoch politisierte Kollektive als Völker anzuer-kennen, könnte in den Anerkennungskriterien liegen, wie ich sie weiter oben be-schrieben habe. Dadurch werden nicht nur neu aufgenommene Völkerrechtssub-jekte an das Prinzip der Selbstbestimmung gebunden, sondern auch gewaltsame separatistische Bewegungen pazifiziert. 87 Siehe: Peters, »Dual Democracy«. 88 Vgl. hierzu: Peters, Das Gebietsreferendum im Völkerrecht.

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Gleichzeitig ist jedoch entscheidend, dass eine zunehmende Interdependenz und Verrechtlichung der globalen Ebene dafür sorgt, dass die Nationalstaaten sich in diesem Anerkennungs- und Aushandlungsprozess gegenüber der transna-tionalen globalen Gemeinschaft und einer sich entwickelnden globalen Öffent-lichkeit rechtfertigen müssen. Diese Rechenschaftspflicht kann sich nur in Bah-nen unhintergehbarer Normen des Völkerrechts vollziehen, die die Grundlage eines beobachtbaren Konstitutionalisierungsprozesses der internationalen Rechtsordnung bilden. In der Völkerrechtspraxis könnten so alle Völkerrechts-normen prima facie zu Kandidaten eines Konstitutionalisierungsprozesses erklärt werden, die das Recht auf kollektive Selbstbestimmung zum Inhalt haben oder es fördern. An ihnen müssten sich dann alle primären Rechtssubjekte des Völker-rechts, aber auch alle Regelungsregime einer global governance orientieren, die durch keine direkte Legitimationskette mehr an das Prinzip der Freiwilligkeit rückgebunden sind. Nur so lässt sich das reproduktionskonstitutive Prinzip, das dieser Rechtsordnung schon immer zugrunde liegt, tatsächlich verwirklichen. Das Völkerrecht bürgt so einmal mehr für die Ermöglichung kollektiver Selbst-bestimmung, verstanden nicht mehr als reine Autonomie des Staates, sondern als Interesse von Individuen an Selbst- und Mitgestaltung politischer Zusammen-hänge.

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