Warschauer Aufstand. Fakten und Hintergründe [1994]

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Marlms Krzoska WARSCHAUER AUFSTAND. FAKTEN UND HINTERGRUNDE 1.) Einleitung; Herr Botschaftssekretär, meine sehr verehrten Damen und Her- ren, »Der 1. August 1944 ruft uns in Erinnerung, welch uner- meßliches Leid von Deutschen über Polen gebracht wurde. Wie in einem Vergrößerungsglas treten Terror und Vernichtung, Ausrottung und Erniedrigung vor unsere Augen ... Der 1. August 1944 ist zugleich ein unauslöschliches Symbol für den Freiheits- willen des polnischen Volkes .. .Er ist zum Sinnbild für das kämp- fende Polen geworden, das sich nie mit Demütigung, Rechtlo- sigkeit und drohender Vernichtung abgefunden hat...Kein Land hatte im Zweiten Weltkrieg vergleichbar hohe Opfer zu beklagen wie Polen ... Wir beziehen sie alle in unser Gedenken ein und nehmen ihren Tod als Mahnung und Verpflichtung für die Zu- kunft zugleich.« Mit diesen Worten wandte sich Bundespräsident Herzog am 1. August dieses J abres an die Bevölkerung Warschaus und bat abschließend um Vergebung, . für all das, was ihr von Deutschen angetan wurde. Diese Rede, die man - glaube ich - heute schon mit Recht als historisch be- zeichnen kann, und die positiven Reaktionen darauf in Polen haben gezeigt, wie wenig normal das deutsch-polnische Verhält- nis heute, neunundvierzig Jahre nach Ende des Krieges noch sein kann. Der Warschauer Aufstand ist im deutschen historischen Denken praktisch rJcht existent; wenn überhaupt 9

Transcript of Warschauer Aufstand. Fakten und Hintergründe [1994]

Marlms Krzoska

WARSCHAUER AUFSTAND.

FAKTEN UND HINTERGRUNDE

1.) Einleitung;

Herr Botschaftssekretär, meine sehr verehrten Damen und Her­

ren, »Der 1. August 1944 ruft uns in Erinnerung, welch uner­

meßliches Leid von Deutschen über Polen gebracht wurde. Wie

in einem Vergrößerungsglas treten Terror und Vernichtung,

Ausrottung und Erniedrigung vor unsere Augen ... Der 1. August

1944 ist zugleich ein unauslöschliches Symbol für den Freiheits­

willen des polnischen Volkes .. . Er ist zum Sinnbild für das kämp­

fende Polen geworden, das sich nie mit Demütigung, Rechtlo­

sigkeit und drohender Vernichtung abgefunden hat...Kein Land

hatte im Zweiten Weltkrieg vergleichbar hohe Opfer zu beklagen

wie Polen ... Wir beziehen sie alle in unser Gedenken ein und

nehmen ihren Tod als Mahnung und Verpflichtung für die Zu­

kunft zugleich.« Mit diesen Worten wandte sich

Bundespräsident Herzog am 1. August dieses J abres an die

Bevölkerung Warschaus und bat abschließend um Vergebung, .

für all das, was ihr von Deutschen angetan wurde. Diese Rede,

die man - glaube ich - heute schon mit Recht als historisch be­

zeichnen kann, und die positiven Reaktionen darauf in Polen

haben gezeigt, wie wenig normal das deutsch-polnische Verhält­

nis heute, neunundvierzig Jahre nach Ende des Krieges noch

sein kann. Der Warschauer Aufstand ist im deutschen

historischen Denken praktisch rJcht existent; wenn überhaupt

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ein Aufstand bekannt ist, dann der im Warschauer Ghetto des

Jahres 1943. In Polen dagegen steht die Erhebung in der Tradi­

tion der nationalen Aufstände seit dem Ende des 18. J ahrhun­

derts und zählt zu den wichtigsten Ereignissen dieses J ahrhun­

derts im politischen Bewußtsein. Wie kam es zu diesem verzwei­

felten Aufbegehren, das sich militärisch gegen die Deutschen

und politisch gegen die Sowjets richtete?

2.) Polen im Zweiten Weltkrieg:

Der deutsche überfall auf Polen, der am 1. September1939 be­

gann, war durch das geheime Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin­

Paktes eine Woche zuvor ermöglicht worden, in dem Ostmittel­

europa in eine deutsche und eine sowjetische Interessenssphiire

aufgeteilt worden war. In den folgenden Jahren entwickelte sich

ein brutales Besatzungsregime, das sich zum Ziel gesetzt hatte,

die Polen auf die Stufe eines Hi1fsvolks herabzudrücken. Gegen

die planmäßigen Vemichtungsaktionen organisierte sich rasch

Widerstand in verschiedenen Formen, auf die hier nicht näher

eingegangen werden kann.

Neben militärischen Aktionen waren besonders das interne

Kommunikationsnetz im Untergrund und die Ausbildung eines

Teils der Jugend in geheimen Gymnasien und Universitäten

wichtig. Nach dem Juni 1941 organisierte sich auch

kommunistischer Widerstand innerhalb der Polnischen

Arbeiterpartei (PPR). Sie schloß sich in übereinstimmung mit

der Linie Stalins aber nicht dem konservativen Widerstand an.

Das Verhältnis zwischen der Londoner Exilregierung und der

Sowjetunion war trotz aller Bemühungen der Westmächte nach

der Entdeckung der Morde von Katyll nicht mehr zu kitten.

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..

In übereinstimmung mit den unabhängigkeitlichen Traditionen

war es höchstes Ziel und Grundsatz des polnischen Widerstan­

des in den Jahren 1939-44, eine große nationale Erhebung im

für Polen günstigen Moment des Krieges durchzuführen. Der

Wiederaufnahme des offenen Kampfes sollte die konspirative

Tätigkeit vorausgehen. Um die Uneinigkeit in den eigenen Rei­

hen zu beenden, beschloß die Exilregierung 1942 eine zentrale

Armeeorganisation, die sog. »Armia Krajowa« (AK, Heimatar­

mee) zu gründen. In der Folgezeit wurden verschiedene

Aufstandskonzepte entwickelt, die aufgrund der militärischen

Lage immer wieder modifiziert werden mußten.

Anfang 1944 entschied man sich schließlich für eine neue Stra­

tegie, die unter dem Tarnnamen »Operation Gewitter« (oper­

acja buna) durchgeführt werden sollte. Im ganzen Land sollten

die Deutschen gestört und angegriffen werden. Die Aktion soll­

te im Osten beginnen und sich mit dem Frontverlauf nach We­

sten vorschieben. Die Kämpfe sollten sich vor allen Dingen auf

das flache Land, auf Dörfer und kleine Städte erstrecken, aber

nicht bei oder in größeren Ortschaften unternommen werden.

Den besser bewaffneten städtischen Einheiten der AK sollte

dabei die Aufgabe zufallen, die bei einem Rückzug zu erwarten­

den Ausschreitungen von NS-Behörden und SS, Wehrmacht

und exi1russischen Einheiten gegenüber der Zivilbevölkerung ab-'

zuwehren und dann die Städte nach dem deutschen Abzug zu

sichern. Es handelte sich somit um keinen allgemeinen Auf­

stand, sondern um ein Netz lokaler Erhebungen, die nicht

gleichzeitig zu erfolgen brauchten. Kämpfe mit den Sowjets

sollten um jeden Preis vennieden werden, die Aktion »Gewit­

ter« selbständig zu Ende geführt werden. Der Befehl beinhalte-

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te, daß der Zeitpunkt der Auslösung der Operation äußerst

wichtig sein würde. Ein zu früher Beginn - ohne Unterstützung

durch die Rote Armee - würde zu einer totalen Niederlage füh­

ren. Dieser Plan erwies sich angesichts des im Januar 1944 be­

ginnenden sowjetischen Einmarsches als nicht durchführbar. Die

vorgesehene Zusammenarbeit mit den Sowjets klappte ebenfalls

nicht. Spätestens bei den Kämpfen um Wilna zeigte sich, daß

ein Großteil der AK -Soldaten anschließend von den Sowjets

interniert oder umgebracht wurde.

Die Entscheidung, Warschau in den Kampf miteinzubeziehen,

fiel relativ spät. Zunächst war geplant, die Hauptstadt mit

Rücksicht auf die waffenlose Bevölkerung und die historischen

Gebäude auszusparen. Man wollte während der Aktion Burza

lediglich wenige, für die Wehnnacht unwichtigere Stadtteile be­

setzen, um heftige Reaktionen der Deutschen zu vermeiden. Die

Gründe für die Änderung dieser Taktik lagen in verschiedenen

Bereichen: 1.) im Ideellen: Warschau sei schon im September

1939 heldenhaft verteidigt worden, dort befinde sich der Sitz der

Untergrundregierung, es sei ein Symbol des Widerstandes, des­

halb dürfe es nicht untätig bleiben. 2.) im Politischen: Polen

müsse seinen Beitrag zum Kampf mit den Deutschen liefern,

um später als Mitsieger anerkannt zu werden 3.) im Militäri- .

schen: Der sowjetische Vorstoß bis über die Weichsel schien

unmittelbar bevorzustehen, die deutsche Front schien schwach

zu sein. Obwohl alliierte Hilfe aus der Luft nicht zu erwarten

war, wollte man den Sowjets zuvorkommen 4.) im Psychologi­

schen: Die bevorstehende deutsche Niederlage erzeugte eine

Stimmung der Vergeltung; die AK befürchtete einen spontanen

Aufstand, im Zuge dessen eventuell auch kleinere (prosowje-

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tische Verbände) die Macht an sich reißen könnten.

3. Der Aufstandsausbruch:

Im Juli 1944 überschritten sowjetische Soldaten den Bug und

erreichten erstmals polnisches Gebiet. In Moskau entstand

daraufhin das Polnische Komitee der Nationalen Befreiung

(PKWN), das über Chelm am 2. August nach Lublin übersie­

delte. Dies verschlechterte die politische Lage der AK

entscheidend, die von den Westmächten zudem gedrängt wurde,

mit den Sowjets zusammenzuarbeiten.

In Warschau befand man sich in einer fatalen Situation. Wenn

man nicht kämpfte, stand die Einnalune durch die Rote Armee

ohne polnischen Widerstand bevor, wenn man kämpfte, setzte

man sich dem Vorwurf aus, die Allianz der Großmlichte zu

geflihrden.

Noch am 14. Juli meldete der Oberbefehlshaber der Heimatar­

mee, General Tadeusz Komorowski »Bor« .1 nach London,

daß bei der gegenwärtigen Stärke der Deutschen im Lande ein

Aufstand keinerlei Chance hlitte. Einige Woche später hatte er

allerdings seine Meinung dahingehend geändert, daß er fest­

stellte, Warschau solle vor Einmarsch der Roten Armee von

eigenen Verbänden befreit werden. Komorowski war vor dem.

Krieg nicht politisch tätig gewesen und stand in dem Ruf, eine

schwache Persönlichkeit zu sein. In dem Moment, als die

Entscheidung fiel, Warschau miteinzubeziehen, schien es so, als

würden die Deutschen ihre Truppen allmählich aus der Stadt

1 Mit einem » . « markierte Namen oder Begriffe wer­den entweder L-n Personenverzeichnis oder im Glossar erklärt.

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abziehen, weil die Heeresgruppe Mitte im Osten weitgehend zu­

sammengebrochen war. Tatsächlich formierten sie sich aber nur

neu im Rahmen der 9. Armee. Lediglich ein Teil der zivilen

Kräfte wurde abgezogen. Das Attentat auf Hitler am 20. Juli

nährte außerdem die Hoffnung, die deutsche Führung werde

wie schon im Ersten Weltkrieg nun rasch auseinanderbrechen.

Einen Tag später berichtete Komorowski nach London, daß ab

dem 25. Juli ein allgemeiner A1armzustand für einen Aufstand

in Warschau gelte. Am 27. Juli hatte der deutsche Rundfunk

gemeldet, daß sich in den nächsten Tagen 100 000 Menschen

einfinden sollten, um die Befestigungen rund um Warschau zu

verstärken. Einige polnische Militärs fürchteten nun eine bevor­

stehende Evakuierung der Hauptstadt. Man zögerte dennoch

mit dem Beginn des Aufstands, weil die Munitionsvorräte nur

für drei bis vier Tage reichten und der Ausgang der deutsch­

sowjetischen Panzerschlachten im Osten nicht klar war. Am 29.

Juli verkündete die kommmunistische Polnische Volksarmee,

daß die AK die Hauptstadt verließe. Radio Moskau rief in pol­

nischer Sprache die Bevölkerung Warschaus zum Aufstand auf.

Die Entscheidungswege der polnischen Seite waren unklar. Ge­

genseitige Rivalitäten verhinderten klare Verantwortlichkeiten.

Ministerpräsident Stanisfaw Mikofajczyk " ein Vertreter der

Bauempartei, der auf einen Ausgleich mit Moskau setzte, besaß .

eine Blankovollmacht des Ministerrats, den Aufstand auszulö­

sen, hatte die Entscheidung aber den Leuten vor Ort zugescho­

ben. Der Oberbefehlshaber im Exil, General Kazimien Sosn­

kowski " war ein enger Mitarbeiter Püsudskis gewesen und war

deshalb entschieden antikommunistisch eingestellt. Er sprach

sich gegen einen Aufstand aus, befand sich aber in Italien. Die

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Direktiven, die somit in Warschau ankamen, waren nicht ein­

deutig und hinterließen eher Ratlosigkeit. Die Verantwortlichen

waren sich darüber einig, daß es einen Aufstand geben mußte,

nicht aber über seinen Zeitpunkt. Noch am Morgen des 31. Juli

scmen für die nächsten Tage nichts Besonderes bevorzustehen.

Es zeichnete sich zwar ab, daß sich die sowjetischen Truppen

der Weichsel näherten, die Mehrheit der versammelten Anführer

der Heimatarmee lehnte aber einen sofortigen Aufstandsbeginn

ab. Zu der nachmittäglichen Besprechung stieß jedoch der

Kommandant des Warschauer Bezirks der AK, Antoni

Chrusciel »Monter« ., hinzu, der bisher zu den Gegnern

raschen Handelns gehört hatte, und meldete, daß sowjetische

Panzer schon in Praga stünden und daß man sofort mit dem

Aufstand beginnen müßte. Diese Forderung wurde von anderen

Generälen energisch unterstützt. Komorowski gab daraufhin,

ohne die Verifizienmg des Berichtes von Chrusciel anzuordnen,

den Befehl zum Aufstand für den nächsten Tag, 17 Uhr. Als

sich eine knappe Stunde später herausstellte, daß es sich in

Praga wohl nur um sowjetische Aufklärer handelte, war es zu

spät, die Entscheidung zurückzunehmen.

4. Die erste Woche:

Eine der wesentlichen Vorbedingungen jeder Art von Aufstand

war in Warschau nicht gegeben: das Oberraschungsmoment. Die

Deutschen rechneten zumeist mit einer größeren Widerstands­

aktion, auch waren sie - vermutlich durch Agenten - über den

Termin des Ausbruchs grob informiert. In Warschau lebten zu

diesem Zeitpunkt noch etwa eine Million Menschen. Bewaffnete

Soldaten der AK gab es Anfang August ptwa 15 000, ihnen

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Warschall im Jahre 1944

annhals Warschaller Aufstand) (nach Kr ,

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I standen 30 000 kämpfende Deutsche gegenüber.

Die Aufständischen hatten die Stadt in verschiedene militärische

Bezirke eingeteilt. Am wichtigsten waren sicherlich Altstadt und

Innenstadt. Ober letztere hielten alle anderen Bezirke Kontakt

miteinander. In der Altstadt war die Kierblldzia-Brücke am

Schloß von entscheidender Bedeutung; sie konnten die Polen

nie einnehmen, so daß die Deutschen die ganze Zeit über einen

Keil hielten, der von der Brücke bis zum Pilsudski-Platz reichte.

Dieser Keil erleichterte später die Aufspaltung der Aufstands­

gebiete in kleinere Kessel. Generell gelang es nicht, auch nur

eine der Brücken in die Hand zu bekommen; eine Koordinie­

rung des Aufstandes auf beiden Weichselseiten kam deshalb

nicht zustande. Größere Erfolge gab es in der Innenstadt, wo

einzelne Viertel und ein Teil der wichtigen Gebäude besetzt

werden konnten, etwa das Rathaus. Fehlschlugen dagegen die

Angriffe auf das Gestapo-Hauptquartier in der Aleja Szucha

und auf den Hauptbahnhof. Lediglich die Eroberung des Pru­

dential-Hochhauses gelang. Weitere Primiirziele wie die Einnah­

me des Flugplatzes von Okllcie und die Besetzung deutscher

Vorrats- und Waffenlager wurden gar nicht oder nur in völlig

unzureichendem Maße erreicht.

Die Taktik der Deutschen bestand aus dem Einsatz überlegener

Waffen, vor allem schwerer Artillerie, und Bombardierungen aus

niedriger Flughöhe. Militärisch gesehen war der Aufstand schon

nach wenigen Tagen gescheitert. Die polnische Verlustrate dabei

war iiußerst hoch und dürfte in den ersten Stunden etwa 2000

Mann (von insgesamt etwa 15 (00) betragen haben. Viel ver­

heerender war jedoch, daß etwa 5000 Aufständische noch am 2.

August die Stadt verließen, um Verstecke aufzusuchen. Zurück

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blieb die weitgehend eingeschlossene Masse der Kämpfer in der

Innenstadt.

Nach den Worten Komorowskis sah die Konzeption des Auf­

standes so aus, daß die Hauptkämpfe nur zwei bis drei Tage

dauern sollten, der Aufstand sollte nach höchstens einer Woche

durch das Eingreifen der Sowjets beendet sein. Es zeigte sich

aber, daß diese keine Anstalten machten, ihre ursprüngliche

Planung zu ändern. Der Hauptstoß der Roten Annee ging in

Richtung Balkan. Der Vorstoß des III . sowjetischen Panzer­

korps diente wohl nur der Sondierung. Es kann allerdings kein

Zweifel daran bestehen, daß die Rote Annee Warschau hätte

einnehmen können, wenn sie es gewollt hätte.

Die deutsche Seite reagierte heftig auf den Aufstandsausbruch.

Dabei lag die zentrale Steuerung bei Himmler, der sich für seine

Fehleinschätzung, in Warschau stünde kein Aufstand bevor,

revanchieren wollte. Er setzte hauptsächlich Polizei- und Ersatz­

einheiten aus Posen (Poznan), sowie SS-Einheiten aus Lyck

(Elk) und Tschenstochau (Cz'ilstochowa) zur Verstärkung der

Wehrmacht ein. Bei letzteren handelte es sich um gefangenge­

nommene russische Soldaten (Sturmbrigade RONA). Fast die

Hälfte der neu eingetroffenen etwa 6500 Mann sprach nicht

deutsch. Neben Russen waren unter ihnen sehr viele Ukrainer,

an deren antipolnische Nationalgefühle appelliert wurde. Himm­

ler ließ als erste Maßnahme den im KZ Sachsenhausen sitzen­

den ehemaligen AK-Führer General Rowecki »Grot« • erschie­

ßen. Dann ging er zu Hitler und teilte diesem mit:

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»Geschichtlich gesehen ist es ein Segen, daß die Polen das machen. Ober die fünf, sechs Wochen kommen wir hinweg. Dann aber ist Warschau, die Hauptstadt, der Kopf, die In­telligenz dieses 16-17 Millionenvolkes de; Polen aus ge-

r J löscht«. (Rede vor den Wehrkreisbefehlshabern und Schul­

kommandeuren in J!igershöhe am 21. September 1944).

Gleichzeitig befahl Himmler allen von ihm eingesetzten und

unterstellten Verbänden:

»Alle Polen in Warschau, ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht sind zu erschießen, Gefangene dürfen nicht ge­macht werden. Warschau ist dem Erdboden gleichzuma­chen, um Europa zu zeigen, was es bedeutet, einen Auf­stand gegen Deutsche zu unternehmen« (Bericht des Stabsarztes der Brigade Dirlemanger, nach Kirchmllier, S. 245/46).

Ab dem 4. August waren die deutschen Gegenmaßnahmen ko­

ordiniert. Dabei trat das Paradoxon ein, daß der Aufstand be­

reits zu Ungunsten der Polen entschieden war, als die Kämpfe

erst richtig begannen. Nun wurde Straße für Straße gekämpft.

Sinnbild des deutschen Terrors wurde die Vorgehensweise in

den Stadtteilen Wola und Ochota.

In Wola wurden alle Bewohner der Häuser, die sich gar nicht

innerhalb der Karnpfzone befanden, zum Verlassen des Hauses

aufgefordert. Sie wurden anschließend nach »hinten« geschickt.

Entgegen ihren Erwartungen wurden sie nach wenigen hundert

Metern jedoch nicht in Sammellager für einen weiteren Ab­

transport gebracht, sondern auf Fabrik-, Kirch- und Hinterhöfe

und in Gärten getrieben, die als Massenexekutionsstätten dien­

ten.

Alle, die das Unglück hatten, gerade dorthin gebracht zu wer­

den, wurden - meist durch Genickschuß oder MG - umge­

bracht. Die meisten der arn 5. August in Wola auf diese Weise

umgekommenen Menschen waren weder »aufständisch« noch

»bandenverdächtig«, sondern einfache Zivilisten. Kämpfe hatten

in diesem Gebiet entweder gar nicht stattgefunden oder waren

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r I bereits zwei bis drei Tage beendet.

Im Hof der ehemaligen Nudelfabrik wurden zwischen 2000 und

4000 Polen erschossen. In der Ursus-Fabrik in der Wolska­

Straße wurden etwa 5000 Menschen erschossen. Eine Zeugin

berichtete:

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»Bis zum 5. August blieb ich im Keller. An diesem Tag zwischen 11 Uhr und 12 Uhr sagte man uns, daß wir ihn verlassen sollten. Es entstand ein fürchterliches Gedränge und eine Panik. Ich war allein, weil mein Mann nicht aus der Stadt zurückgekommen war. Ich blieb zurück mit mei­nen drei vier, sechs und zwölf Jahre alten Kindern und selbst im letzten Monat schwanger. Ich blieb, weil ich hoff­te, daß man mir zu bleiben erlauben würde und war die letzte, die den Keller verließ. Alle Hausbewohner waren schon zur Ursus-Fabrik gebracht worden ... und mir wurde befohlen, auch dorthin zu gehen ... A1s ich dort ankam konnte man Schüsse, Schreien, Betteln und Weinen vom Hof hören - es bestand kein Zweifel, daß dort Massenhin­richtungen stattfanden. Die Menschen, die vor dem Ein­gang standen, wurden in Zwanziger-Gmppen hereingelassen - oder vielmehr geschoben ... Es gab keine Chance, gerettet zu wurden oder sich freikaufen zu können. Deutsche und Ukrainer waren um uns hemm. Ich ging als letzte und blieb zurück, immer in der Hoffnung, daß sie eine schwangere Frau nicht erschießen würden. In der Fabrik sah ich einen Haufen mit Leichen, der ungefähr einen Meter hoch war. Davon gab es mehrere. Auf bei den Seiten des Hofes lagen unzlihlige Tote. Ich erkannte unter ihnen ermordete Freun­de und Nachbam ... Unsere Gruppe wurde in Vierer-Grup­pen aufgeteilt. Wenn vier den Stapel erreichten, wurden sie mit einem Genickschuß umgebracht, fielen um usw. Ich war unter den letzten vier. Ich bat die Ukrainer um mich hemm, mich und meine Kinder zu retten. Sie fragten, ob ich etwas hätte, um mich freizukaufen. Ich hatte einen be­trächtlichen Goldbeitrag bei mir und gab ihn ihnen. Sie nahmen ihn und wollten mich wegbringen, aber der Deut­sche, der die Hinrichtungen leitete, sah uns und erlaubte das nicht. Als ich ihn anflehte und seine Hände küßte, schob er mich zur Seite und schrie: 'Schneller'. Ich ging zur

r I Hinrichtungsstelle, hielt in der rechten Hand die beiden

kleinen Hiinde meiner jüngsten Kinder und in der linken die meines Iiltesten Sohns .. Der erste Schuß traf ihn, der zweite mich und der dritte meine jüngeren Kinder. Ich fiel auf die linke Seite, der Schuß, der mich traf, tötete mich nicht.« (Documentae Occupationis Teutonicae, Bd. 2, S. 43-46).

Die Augenzeugin lag unter dem Leichenstapel bis zum nächsten

Tag.

Ein besonders grauenvolles Schicksal erlitten die Menschen der

in Wola gelegenen Spitliler. Die Kranken, die sich nicht selbst

bewegen konnten, wurden am 5. August größtenteils in ihren

Betten erschossen. Das Krankenhauspersonal, vom Chefarzt bis

zu den pflegenden Nonnen, hatte das gleiche Schicksal. Furcht­

bare Vorgiinge spielten sich dabei in dem am 5. August gegen

11 Uhr von Exilrussen besetzten Radium-Institut Curie-Sklo­

dowska in Ochota ab, das vorwiegend mit krebskranken Frauen

belegt war, von denen die Mehrzahl mit ihren Pflegerinnen ver­

gewaltigt und ermordet wurde. Die Massenerschießungen des 5.

August wurden am Abend vom zuständigen deutschen Be­

fehlshaber, Genera1m~or von dem Bach, zwar gestoppt, die

Ermordung von männlichen Zivilisten ging aber weiter. Die Lei­

chen tausender hingerichteter Polen wurden von Landsleuten

unter Zwang zu großen Stapeln zusammengetragen und ver- .

brannt. Die wenigen Polen, die überlebten und gefangengenom­

men wurden, wurden in verschiedene Obergangslager gebracht

(Pruszk6w, Ursus, St. Adalbert-Kirche in Wola), wo ihnen alle

Habseligkeiten abgenommen wurden. Sie blieben ohne Essen,

Trinken, medizinische Versorgung und wurden meist in

Arbeitslager nach Deutschland verbracht. Die Gesamtzahl der

Toten in Wola dürfte bei etwa 35 000 gelegen haben.

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5. Der weitere Kampfverllluf:

Die Angaben der kämpfenden Deutschen über die zllhlenmäßi­

ge Stärke der Aufständischen führten dazu, daß ab Mitte Au­

gust in steigendem Maße Waffen von außen zugeführt wurden

(u.a. Sturmgeschütze, Mörser und Flammenwerfer), die sich

aber im Häuserkampf nur unzureichend bewlihrten. Am 14.

August wurde die »Korpsgruppe von dem Bach« gebildet, der

alle zur Aufstandsbeklimpfung eingesetzten Verbände der Wehr­

macht, SS und Polizei und auch die Zivilverwaltung unterstellt

wurden. Mit dieser Entscheidung begann nach der Rückerobe­

rung der Vorstädte der Kampf um die Altstadt. Hier lagen sich

auf beiden Seiten etwa 7000 Mann gegenüber. Die Polen waren

allerdings ohne schwere Waffen und konnten in das enge Viertel

kaum Nachschub hineinbekommen. Es gab hier keine Aus­

weichmöglichkeiten und auch die Bauweise der Häuser war den

Verteidigern selten dienlich. Einziger Fluchtweg blieb das Kana­

lisationssystem. So verließ auch am 25. August das Hauptquar­

tier der AK die Altstadt, weil man erkannte, daß sie nicht mehr

lange zu halten sein würde. Die Kapitulation dieses Bezirks

erfolgte am 2. September. Die 1500 überlebenden Kämpfer und

die von ihnen zumeist getragenen 500 Verwundeten verließen

das Gebiet ebenfalls durch das Kanalsystem. Am 6. September

fiel das Weichselviertel (Powisle).

Mitte September kam noch einmal Hoffnung auf. Nachdem

zuvor schon erste Kapitulationsverhandlungen geführt worden

waren, eroberte die Rote Armee am 15. September Praga. Die

genaue Motivation dafür zu diesem Zeitpunkt ist bis heute nicht

bekannt. Wahrscheinlich wollte man demonstrativ der verhee­

renden psychologischen Wirkung begegnen, die der Widerstand

22

r gegen alliierte Hilfen ausgelöst hatte . An der Spitze des An­

griffes standen polnische Soldaten der kommunistischen Ber­

ling-Armee '. Dennoch gab es keinerlei Absprachen mit der

Aufstandsführung. Am 13. und 14. September wurden die

Weichselbrücken von den Deutschen gesprengt. Die Sowjets

und Polen versuchten nun, bei Saska K~pa die Weichsel zu

überqueren, wobei erstere recht passiv blieben, nachdem sie

eine gewisse Frontbegradigung erreicht hatten. Die teilweise auf

dem Westufer der Weichsel errichteten Brückenköpfe konnten

durch die ausbleibende Unterstützung der Sowjets nicht lIinger

als einen Tag gehalten werden. Diese hatten den gewünschten

Propagandaerfolg im Westen, zeigten aber auch weiterhin kein

Interesse am Gelingen der Operation.

6. Die Haltung der Allüerten:

London erfuhr am 26. Juli vom Aufstandsplan. Botschafter

RaczyTIski • versuchte nun, die militärische Unterstützung der

Briten zu erhalten. Außenminister Eden beantwortete das Ge­

such um britische Bomberunterstützung negativ, die Reichweite

der Flugzeuge sei nicht groß genug. Die Russen wurden von

Mikolajczyk erst 24 Stunden vor Aufstandsbeginn von den Plii­

nen unterrichtet. Auch nach Ausbruch des Aufstands war·

Großbritannien nicht bereit, ihn militärisch zu unterstützen. Die

Gespräche, die Mikolajczyk in Moskau mit Stalin führte, blieben

ebenso ohne Ergebnis, da Polen der neuen Ostgrenze nicht

zustimmen wollte. Die Nachricht vom Aufstand, die am

Nachmittag des 2. August in London eintraf, rief bei englischen

und polnischen Offiziellen Konsternierung hervor, da man zu

diesem Zeitpunkt nicht damit gerechnet hatte. Die Unterstilt-

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zung blieb gering. Von den 14 Flugzeugen (7 exilpolnische, 7

britische), die Warschau in der Nacht vom 4. auf den 5. August

anflogen, um Waffen abzuwerfen, konnten nur zwei einen Teil

ihrer Ladung loswerden, 5 gingen verloren. Daraufhin beschlos­

sen die britischen Verantwortlichen, diese Art Hilfe einzustellen.

In den folgenden Tagen starteten vereinzelt noch polnische

Maschinen. Das Londoner Kriegskabinett kam bei Beratungen

am 9. August zu dem Ergebnis, daß Hilfe für die Aufständi­

schen am ehesten von Seiten der Sowjets möglich sei, sie dort

aber nicht unbedingt forciert werde.

Die britische Polenpolitik war zu dieser Zeit von der Auffassung

geprägt, daß in einem N achkriegse\l1'opa Polen durchaus zu

einer sowjetischen Sicherheits zone gehören könne, wenn es ein

gewisses Maß an Selbständigkeit behalten würde. Deshalb war

man nicht bereit, über eine beschränkte UnterstUtzung der Re­

gierung Mikofajczyk hinauszugehen. Das Kriegskabinett bat

Moskau und Washington um Unterstützung filr den Warschauer

Aufstand. Etwa gleichzeitig erklärte Stalin, daß er den »unver­

antwortlichen Aufstand« nicht unterstützen wolle. So war es

auch für amerikanische Flugzeuge unmöglich, auf russischen

Flughäfen zwischenzulanden.

Am 24. August teilte Roosevelt Churchill mit, er sehe keine

Möglichkeit, den Polen zu helfen. Man war in der Folge vor

allem bemüht, atmosphärischen Störungen im Verhiiltnis zur

Sowjetunion aus dem Weg zu gehen. Die ungünstigen Ergebnis­

se der Versorgungs!lüge führten dazu, daß sie nach dem 1.

September endgiUtig eingestellt wurden . Angesichts des Falls

der Warschauer Altstadt wuchs die Verzweiflung in polnischen

Regierune;skreisen, Mikolajczyk drohte mit Rilcktritt. Am 9.

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September erklärte Stalin überraschend seine Bereitschaft, so­

wjetische Flugplätze für westalliierte Maschinen zu öffnen, was

wahrscheinlich seinen Vorstellungen einer Kompromißlösung

entsprach. Die am 18. September erstmals von den Amerika­

nern durchgeführte Hilfsaktion endete mit einem großen Miß­

erfolg. Von 107 abgeworfenen Ladungen fielen nur 19 in clie

Hände der Aufstänclischen. Aufgrund der sich weiter ver­

schlechternden Lage wurden clie Flüge nicht fortgesetzt. Die

Meinungsverschiedenheiten der Alliierten bezüglich Polens wur­

den in der Auffassung Churchills deutlich, daß es nur von der

Roten Armee befreit werden könne. Er setzte auf eine Verstän­

digung zwischen der »Londoner« und der »Lubliner«

Regierung unter Führung Mikolajczyks. Generell kann man

davon ausgehen, daß clie Westmächte nur wenig Interesse für

die Entwicklung in Polen aufbrachten, ihre militärischen PriOli­

täten lagen anderswo.

7. Alltag im aufständischen Warschau:

Hinsichtlich der Stromversorgung, Kanalisation, Installation und

Gasversorgung waren schon vor Aufstandsausbruch Vorberei ­

tungen getroffen worden. Bis zur Einnahme am 5. August lie­

ferte das E-Werk im Weichselviertel planmäßig Strom.

Anschließend mußten seine Aufgabe Akkumulatoren überneh­

men, die in den Fabriken wiederaufgeladen wurden und mit

denen vor allem Krankenhäuser, mechanische Werkstätten der

Armee, Mühlen, Wäschereien und Wasserpumpen versorgt bzw.

betrieben wurden. Ab Ende August war der Strom ge brauch

strikt reglementiert, clie Einhaltung der Bestimmungen soUte der

jeweilige Hausmeister überwachen.

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p

Das größte Problem war die Wasserversorgung der Hauptstadt.

Zentrale Wasserwerke und Pumpen waren überwiegend in deut­

scher Hand; die Hauptlast fiel somit auf die kleineren Pump­

stationen in den Vierteln. Man versuchte die ganze Zeit über,

Lecks in den Rohren zu reparieren. Zudem sollten alte und

neue Brunnen die Wasserversorgung der Bevölkerung sicher­

stellen. Der Brunnenbau gestaltete sich jedoch aufgrund des

fehlenden Materials und der Unkenntnis der Lage der Wasser­

rohre als schwierig.

Post, insbesondere Feldpost. wurde während des Aufstands von

kleinen Pfadfindern zugestellt. Dies geschah auf deren eigene

Initiative hin. Die Briefkästen wurden zweimal täglich geleert;

außer im Bezirk Zentrum wurden Briefe auch nach Zoliborz,

Mokot6w, Czerniak6w und in die Altstadt zugestellt. Es galten

allerdings einige Einschränkungen hinsichtlich Gewicht, Art des

Briefes und Inhalt; letzterer unterlag einer Art Militärzensur,

über die Kämpfe durfte nicht geschrieben werden. Im August

wurden täglich bis zu 10 000 Briefe geschickt. Im September

funktionierte das System nur noch im Zentrum; die Bevölkerung

wohnte weitgehend in Kellern und konnte über unterirdische

Gänge Kontakte aufnehmen.

Die Feuerbekämpfung erwies sich als schwierig, da man nur

über wenige Feuerwehrautos verfügte. Mitunter konnten nur

Spaten, Äxte und Eimer zum Einsatz kommen.

Die in der Stadt vorhandenen Grundprodukte wie Mehl, Schrot

und Gemüse wurden registriert und durften zunächst nicht ver­

kauft werden; gleiches galt für das Vieh, das auch nicht ge-I I schlachtet werden durfte . Die Aufforderungen, Läden zu öffnen,

I andere Produkte zu verkaufen und nicht zu horten, wurden

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nicht von allen eingehalten. Manche erhofften sich auf dem

Schwarzmarkt höhere Preise. Geld verlor rasch an Bedeutung

und wurde durch Tauschhandel und Spekulation ersetzt. Fette,

Zigaretten, Wodka und Wasser wurden zu den wertvollsten Gü­

tern. Die Kommunikation verlief sowohl über überirdische Passagen

durch miteinander verbundene Häuser und Höfe als auch

unterirdisch durch Twmel und speziell konstruierte Keller. Die

Kanalisation blieb Kurieren und Gruppen mit Sondererlaubnis

vorbehalten.

Das normale Arbeitsleben wurde mit Aufstandsbeginn weitge­

hend eingestellt. Die Häuserkomitees waren dafür zustl!.ndig,

Arbeitstrupps zusammenzustellen, um bestimmte Tätigkeiten

auszuführen. Ab 18. August waren alle Ml!.nner zwischen 17 und

50 (mit einigen Ausnahmen) zu solchen Diensten verpflichtet.

Dies stieß oft auf Protest und ließ sich so nicht durchführen.

Die Lieferung von Waren in die Hauptstadt kam naturgeml!.ß

zum Stillstand. Man mußte auf bestehende Lager und private

Bestl!.nde zurückgreifen. Vor Aufstandsbegilm dachte man, die

Vorräte für die Armee würden drei Tage, mit den von den

Deutschen zu erobernden Bestl!.nden für weitere sieben Tage

ausreichen. Es zeigte sich bald, daß die Vorräte aus der Okku- .

pationszeit weit größer waren, als man zunächst angenommen

hatte. Man richtete öffentliche Suppenküchen, vor allem für die

Obdachlosen, ein und versuchte, die Bevölkerung nach den

jeweiligen Vorräten in Gruppen einzuteilen. Brot sollte rationiert

werden. Von den ungefähr 150000 Menschen, die iln Septem­

ber iln Bezirk Zentrum lebten, konnte sich eine große Anzahl

noch selbst versorgen. Erst in der zweiten Septemberhälfte ver-

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schlechterte sich die Situation dramatisch. Außer Gerste war so

gut wie nichts mehr vorhanden, die Gefahr des Verhungerns

bestand aber nicht lmmittelbar, auch wenn die Lager der

Regierung leer waren.

Besonderer Wert wurde auf die Einhaltung von Hygienevor­

schriften gelegt, um Seuchen zu verhindern. Treppenhäuser und

Durchgänge sollten ständig gereinigt, Bürgersteige und Straßen

gewässert, Milli verbrannt und die Reste vergraben werden. Die

Bevölkerung wurde aufgefordert, die persönliche Hygiene si­

cherzustellen. Trinkwasser sollte immer abgekocht werden, Es­

sen immer gekocht, Obst und Gemüse sorgfrutig gewaschen.

Beerdigungen sollten rasch und wenn möglich in Särgen statt­

finden. Die während des Aufstands hliufig auftretenden Fälle

von Ruhr waren eher ein Ergebnis der unzureichenden Ernäh­

rung als fehlender Hygiene.

Während des Aufstandes erschienen über 130 verschiedene

Publikationen, darunter Tages- und Wochenzeitungen, Magazi­

ne etc. Die Mehrzahl von ihnen wurde von den Organen, die

der AK nahestanden, veröffentlicht. Hinzu kamen zwei Radio­

sender, der militärische und das zivile PoIskie Radio sowie ein

offizieller Megaphonservice. Die Patrouillen des Informations­

und Propagandabüros (BiP) sollten die Bevölkenmg zusätzlich

mit Nachrichten versorgen. Die Zeitungen hatten vier verschie­

dene Aufgaben: sie verbreiteten Nachrichten, sie versorgten die

Einwohner mit einer Informationsquelle für die Organisation des

A1Itagslebens, sie wurden als Propagandaform benutzt und hat­

ten das Ziel, die Moral der Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Im

Laufe des Aufstandes zeigte sich, daß die Zeitungen der linken

Parteien beliebter wurden als diejenigen, die die Positionen der

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Exilregierung vertraten.

Von Seiten der Aufstandsführung wurde die Anweisung gege­

ben, so oft wie möglich zu beten und zur Hl. Messe zu gehen.

Alle möglichen Orte wurden zu provisorischen Kirchen. Der

Glaube und seine Ausübung trug in wesentlichem Maße zur

Stärkung der Moral bei.

8. Kapitulation und Zerstörung Warschaus

Gegen Ende September übernahm deutscherseits die 9. Armee

die Hauptlast der Aufstandsbekämpfung. Am 23. September fiel

Czerniak6w. Dramatisch wurde die Situation in Mokotöw, wo

der fliehenden Bevölkerung der Weg durch die Kanalisation

teilweise versperrt war und das am 27. September kapitulieren

mußte . Besonders eindrucksvoll stellte dieses Drama der be­

kannte Regisseur Andrzej Wajda in seinem Frühwerk » Kanal«

aus dem Jahre 1956 dar. Auch die anderen Stadtteile hatten

keine Chance mehr. Zoliborz, wo schwache Einheiten der kom­

munistischen Armia Ludowa mitkämpften, kapitulierte am 30.

September

Anfang Oktober brach der Aufstand dann endgültig zusammen.

Die in der Innenstadt verbliebenen kleineren AK-Einheiten

mußten am 2. Oktober kapitulieren. Die komplette Stadt wurde

evakuiert. Die meisten AK - Kämpfer entzogen sich der Internie­

rung und tauchten unter.

Etwa 250 000 Einwohner wurden ins Lager Pruszk6w gebracht,

andere als Zwangsarbeiter ins Reich geschickt. Anschließend

begannen die Deutschen, Warschau systematisch zu zerstören.

Sie folgten damit einem Befehl Hitlers, der dies als Rache für

den Aufstand angeordnet hatte. Als am 17. Januar 1945 die

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Rote Armee einmarschierte, waren 93% aller Gebäude zerstört.

Die Gesamtzahl der Opfer Hißt sich nicht mehr genau rekon­

struieren. Man kann aber davon ausgehen, daß etwa 150 000

Zivilisten durch Luftangriffe, Artilleriebeschuß, Seuchen und

Massenexekutionen ums Leben kamen, hinzu kamen etwa 16

000 Soldaten der AK. Auf deutscher Seite wurden etwa 20 000

Menschen getötet oder verwundet.

Das Scheitern des Aufstands hatte für die Polen verheerende

psychologische Folgen. Dem kommunistischen Einfluß wurde

nun kaum noch Widerstand entgegengesetzt. Dem neu ernann­

ten Oberbefehlshaber der AK, General Leopold Okulicki "

gelang es nicht mehr, die Kräfte im Lande fest zu organisieren;

die von den Sowjets gestützte Provisorische Regierung wurde

zur dominierenden Kraft im Lande. Nachdem im Frllhjahr 1945

die Rote Armee ganz Polen besetzt hielt und die 15 wichtigsten

AK-Führer, unter ihnen Okulicki und Jankowski " nach Mos­

kau verschleppt, dort zu langjährigen Haftstrafen verurteilt und

teilweise ermordet wurden, regte sich kaum noch Widerstand.

Der Weg zum sozialistischen Satellitenstaat >>Volkspolen« war

frei.

9. ZusBDlInenfassung:

Der Warschauer Aufstand vom 1. August bis 2. Oktober 1944

bildete den verzweifelten Versuch großer Teile der polnischen

Bevölkerung, sich von der fast fünfjiihrigen Besatzung doch

noch zu befreien, bevor die sowjetischen Truppen die

Hauptstadt erreichen wilrden. Die militärischen Führer der Hei­

matarmee sahen in der Erhebung, die in der polnischen Auf­

standstradition seit dem Ende des 18. Jahrhunderts stand, die

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letzte Möglichkeit, den Russen als Herr im eigenen Haus ent­

gegentreten zu können. Dabei unterschlitzte man allerdings die

den Deutschen verbliebenen militlirischen Möglichkeiten und

deren Kampfbereitschaft. Gleichzeitig überschlitzte die Führung

der AK die Möglichkeit auswlirtiger Hilfe, sei es durch Luft­

angriffe der Westa11iierten, die technisch nicht durchzuführen

waren, sei es durch den Einmarsch der Roten Armee, die zwar

schon sm Ostufer der Weichsel stand, aber andere militlirische

Ziele verfolgte.

Der Aufstand scheiterte somit schon im Ansatz, wurde dennoch

aber über zwei Monate durchgehalten und ist dadurch zu einem

Symbol polnischen Widerstandes geworden. Die letztendliche

Niederlage bedeutete jedoch zugleich das Ende einer national­

polnischen Option für die Zukunft. Die Vernichtung eines gro­

ßen Teiles der Warschauer Intelligenz erleichterte es den

Kommunisten, mit Hilfe Moskaus die Macht in einem Land zu

erobern, daß praktisch keine marxistische Tradition besaß. Der

Aufstand war nach einer frühen Bewertung der Wochenzeitung

»Tygodnik Powszechny« von 1945 »ein politischer Fehler, ein

militlirischer Unsinn - und eine psychologische Notwendigkeit.

Denn Warschau war zu diesem Zeitpunkt ein Pulverfaß, das

ansonsten wohl unkontrolliert explodiert wäre. Symptomatisch

für die Haltung vieler junger Klimpfer war der Satz des Dichters

Krzysztof Kamil Baczyßski, der schon in den ersten Tagen des

Aufstands fiel : »Jetzt müssen wir sterben, damit Polen leben

kann.«

Für uns Deutsche stellt sich die Frage, warum dieses Ereignis

über 50 Jahre so wenig bekannt sein konnte, obwohl die wäh­

rend des Aufstandes begangenen deutschen Kriegsverbrechen

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..

durchaus die Dimensionen anderer unheilvoller Symbole dieser

Art, in Lidice und Oradour, in Marzabotto und Babi- Y ar •

haben.

Markus Krzoska (' 1967) studierte Osteuropäische Geschichte

und Politik in Mainz; derzeit Doktorarbeit zum Thema »Zyg­

munt Wojciechowsld als Historiker, Publizist und Politiker« an

der FU Berlin.

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