Social TV in Deutschland – Rettet soziale Interaktion das lineare Fernsehen? [Social TV in Germany...

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0 Social TV in Deutschland Rettet soziale Interaktion das lineare Fernsehen? Christopher Buschow, Beate Schneider, Lisa Carstensen, Martin Heuer und Anika Schoft 1 Erscheint in: MedienWirtschaft, 10. Jg, Nr. 01/2013 Autoren Christopher Buschow, M.A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter Prof. Dr. Beate Schneider Universitätsprofessorin für organisatorische, rechtliche und wirtschaftliche Grundlagen der Medien Lisa Carstensen, B.A. Studentin im Studiengang Medienmanagement (M.A.) Martin Heuer, B.A. Student im Studiengang Medienmanagement (M.A.) Anika Schoft, B.A. Studentin im Studiengang Medienmanagement (M.A.) Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung (IJK) Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover Expo Plaza 12 D-30539 Hannover 1 Die in diesem Beitrag präsentierte Studie entstand unter Mitarbeit eines Forschungsseminars am IJK, an dem neben den AutorInnen Anne Eckhardt, Torsten Fischer, Jacqueline Gusmag, Konrad Mischok, Nadine Muß- mann, Johannes Schlag und Jedrzej Tymczuk beteiligt waren. Ihnen sowie den zwei anonymen GutachterInnen der MedienWirtschaft ist an dieser Stelle herzlich zu danken.

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Social TV in Deutschland –

Rettet soziale Interaktion das lineare Fernsehen?

Christopher Buschow, Beate Schneider, Lisa Carstensen, Martin Heuer und Anika Schoft 1

Erscheint in: MedienWirtschaft, 10. Jg, Nr. 01/2013

Autoren

Christopher Buschow, M.A.

Wissenschaftlicher Mitarbeiter

Prof. Dr. Beate Schneider

Universitätsprofessorin für organisatorische, rechtliche und wirtschaftliche Grundlagen der

Medien

Lisa Carstensen, B.A.

Studentin im Studiengang Medienmanagement (M.A.)

Martin Heuer, B.A.

Student im Studiengang Medienmanagement (M.A.)

Anika Schoft, B.A.

Studentin im Studiengang Medienmanagement (M.A.)

Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung (IJK)

Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover

Expo Plaza 12

D-30539 Hannover

1 Die in diesem Beitrag präsentierte Studie entstand unter Mitarbeit eines Forschungsseminars am IJK, an dem

neben den AutorInnen Anne Eckhardt, Torsten Fischer, Jacqueline Gusmag, Konrad Mischok, Nadine Muß-

mann, Johannes Schlag und Jedrzej Tymczuk beteiligt waren. Ihnen sowie den zwei anonymen GutachterInnen

der MedienWirtschaft ist an dieser Stelle herzlich zu danken.

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Social TV in Deutschland –

Rettet soziale Interaktion das lineare Fernsehen?

Erscheint in: MedienWirtschaft, 10. Jg, Nr. 01/2013

Management Summary: Fernsehsender, Start-Ups und Hardware-Hersteller setzen in zu-

nehmendem Umfang auf soziale Interaktion während des Fernsehens – und erhoffen sich mit

„Social TV“ einen Weg zur ‚Rettung‘ des linearen Fernsehens und der Erschließung neuer

Geschäftsfelder. Auf der Grundlage von 34 leitfadengestützten Experteninterviews mit Markt-

teilnehmern diskutiert der Beitrag das Marktumfeld von Social TV und seine Perspektiven in

Deutschland. Der Fokus liegt auf Nutzerinnen und Nutzern, spezifischen Fernsehformaten

sowie auf technologischen Entwicklungen, zukünftigen Geschäftsmodellen sowie den damit

verbundenen Chancen und Risiken von Social TV.

Kernthesen:

1. Immer mehr Nutzer interagieren untereinander während des Fernsehens.

2. Emotionalität und Aktualität von Sendungsformaten treiben das Interaktionspotenzial

von Social-TV-Anwendungen.

3. Von uns befragte Experten vermuten, dass diese Entwicklung neue Player begünstigt,

bestehende Markteintrittsbarrieren sinken und neue Konkurrenzverhältnisse entstehen

werden.

4. Die Zukunft von Social TV ist abhängig von der Akzeptanz der Nutzer für Devices

und Anwendungen sowie angemessene Geschäftsmodelle.

Schlüsselbegriffe: Social TV, Zukunft des Fernsehens, Fernsehindustrie, Content-

Produktion, disruptive Innovationen

1. Ausgangsbeobachtung: Fernsehen wird sozialer

Bei Ich bin ein Star – holt mich hier raus! fiebern Deutschlands TV-Zuschauerinnen und

-zuschauer nicht mehr nur allein vor dem Fernseher mit: Über Social Networking Sites wie

Facebook oder Twitter tauschen sich Fans und Kritiker der Sendung über Protagonisten und

Handlung aus, äußern Ekel über die Prüfungen, die die teilnehmende Prominenz durchläuft,

und Freude oder Unmut über die Kür der Dschungelkönigin. Ähnliche Entwicklungen zeigen

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sich bei zahlreichen anderen Sendeformaten im deutschen Fernsehen: Tatort, Deutschland

sucht den Superstar oder Schlag den Raab – kaum eine relevante TV-Sendung kommt heute

noch ohne Facebook-Fansite oder Twitter-Hashtag aus. „Wir haben festgestellt, dass in der

Werbepause die Server der Social Networks zu rauchen anfangen, weil viele Zuschauer online

gehen. Das wollen wir für unsere Angebote nutzen“, sagt Arnd Benninghoff, Geschäftsführer

von ProSiebenSat.1 Digital (vgl. Häberle 2011).

Fernsehen war zwar immer schon – und zwar seit den „Fernsehstuben“ der 1930er-Jahre

(Faulstich 2004: 195) – eine soziale Veranstaltung, die gemeinsam mit anderen in Gruppenre-

zeption und Anschlusskommunikation erfahren wurde (vgl. Hepp 1998; Klemm 2000). Da-

rauf deuten Begrifflichkeiten wie der „Lagerfeuer-Effekt“ des Fernsehens oder die Phänome-

ne des „Public Viewings“ von Sportgroßveranstaltung und „Co-Viewing-Partys“ hin. Neue

Technologien und Medien wandeln und erweitern das soziale Erlebnis Fernsehen heute aber

in ungekannter Dynamik, über die Grenzen von Familie, Freundeskreisen und geographischen

Regionen hinaus. Auf Social Networking Sites oder Senderplattformen wie ProSieben

Connect findet begleitende Kommunikation zur TV-Rezeption statt. „Heavy User“ sammeln

weltweit Punkte und Auszeichnungen, indem sie in TV-Shows ‚einchecken‘ (z. B. über Apps

von Start-Ups wie GetGlue, Couchfunk, Zapitano), und Nutzerinnen und Nutzer greifen wäh-

rend des Fernsehens auf die „Second-Screen“-Geräte Smartphone, Tablet oder Laptop zurück,

deren Inhalte mit dem laufenden Programm verkoppelt werden. Fernseherleben und kommu-

nikativer Austausch der Zuschauer über Online-Medien fusionieren so zu „Social TV“ –

Fernsehen wird damit sozialer.

So entfaltet die begleitende Kommunikation zum Fernsehen auch eine wirtschaftliche Bedeu-

tung: „We think that social media meets television is the next big thing […] Whoever figures

it out, will be the next Steve Jobs of this generation“, formuliert Ynon Kreiz, ehemals CEO

der Endemol Group (Bergman 2011). Heute wird Social TV in der Tat als ein Milliardenge-

schäft, vielleicht gar als Möglichkeitsraum für die Zukunft des linearen Fernsehens gehandelt.

MarketandMarkets (2012) erwartet, dass der weltweite Social-TV-Markt im Jahr 2017 über

256 Mrd. USD wert sein wird. Im angloamerikanischen Raum hat Social TV früher als in

Deutschland rege Verbreitung gefunden, insbesondere getrieben durch die bedeutend höhere

Twitter-Nutzung und das Engagement der Marktteilnehmer. Schon 2011 war Yahoo! bereit,

für das gerade zwölf Wochen alte Social-TV-Start-Up IntoNow 20 Mio. USD zu bezahlen

(Carlson 2011). Umkämpft ist in den USA derzeit die Standardisierung der TV-

Reichweitenmessung per Social Media, die Anbieter wie Bluefin Labs oder Trendrr, aber

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ebenso Nielsen in direkter Kooperation mit Twitter anbieten (Bergman 2012). Auch in Asien

ist die begleitende Kommunikation sehr prominent: Im Dezember 2011 wurde der in Japan

ausgestrahlte Anime-Film Castle in the sky via Twitter 25.088-mal pro Sekunde kommentiert

– weltweit die höchste Kommentarrate, die jemals auf der Social Networking Site gemessen

wurde (Twitter 2011).

Trotz der hohen Relevanz, die Fernsehsender, Content-Produzenten und Agenturen, aber auch

neue Marktteilnehmer wie Hardware- und Software-Hersteller, Telekommunikationsanbieter,

Start-Ups und Investoren dem sozialen Moment des Fernsehens zuschreiben, erfährt Social

TV in der medienwirtschaftlichen Forschung bislang nur geringfügige Aufmerksamkeit. Zu

wenig wissen wir heute über die Marktsituation in Deutschland sowie über Chancen, Potenzi-

ale und Risiken. Noch nicht zu beantworten ist die Frage, ob Social TV vielleicht das lineare

Fernsehen in Deutschland ‚retten‘ könnte.

Der Beitrag stellt Erkenntnisse aus 34 leitfadengestützten Experteninterviews mit Akteuren

des Themenfeldes Social TV in Deutschland vor, die zwischen März und Mai 2012 geführt

wurden. Diese Experten gaben Auskunft über ihre Vorstellungen von den Nutzerinnen und

Nutzern, über relevante Fernsehformate und Technologien, über ihr Marktumfeld und ihre

jeweiligen Geschäftsmodelle sowie über von ihnen antizipierte Chancen und Risiken. Zu-

nächst geben wir ein Überblick zum Phänomen Social TV (Kapitel 2). Die in dieser Studie

gewählte Methode wird vorgestellt, und wichtige Ergebnisse werden präsentiert (Kapitel 3).

Im Fazit beantworten wir die aufgeworfene Leitfrage und wagen einen Ausblick (Kapitel 4).

2. Social TV: Worum geht es?

Der Begriff Social TV verbindet Fernsehen mit sozialer Interaktion. Eine konsensuale Defini-

tion besteht bisher allerdings nicht: Während manche Autoren in die Begriffsbestimmung

auch das fernsehbegleitende Sprechen von tatsächlich Anwesenden vor einem Fernsehgerät

einbeziehen, stellen andere Autoren nur auf die (medial vermittelte) Interaktion über räumli-

che Distanz ab. Offen bleibt auch die Frage, ob sich Social TV lediglich auf Kommunikation

bezieht, die zeitgleich zu TV-Inhalten entsteht, oder ob auch Vorab- oder Anschlusskommu-

nikation mit einbezogen werden soll. Wir orientieren uns in unserer Forschung an der Defini-

tion nach Research and Markets (2010):

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„Social TV ist die Erweiterung von Social Media in den Fernsehbereich hinein, indem sich Nutzer wäh-

rend des Fernsehens oder im Anschluss daran in sozialen Netzwerken oder entsprechenden Plattformen

zu den Programminhalten äußern.“ (Research and Markets 2010; eigene Übersetzung)

Diese Definition bildet die Grundlage der Expertenbefragung und akzentuiert die in diesem

Beitrag relevanten Dimensionen:

Nutzer: Eine aktuelle Befragung des Branchenverbandes BITKOM ergab, dass 77

Prozent der deutschen TV-Zuschauer mit Internet-Zugang parallel zur TV-Rezeption

mit ihrem Laptop, PC, Smartphone oder Tablet surfen. 18 Prozent dieser Nutzer un-

terhalten sich währenddessen aktiv auf Social Networking Sites (BITKOM 2012). Ins-

besondere das Wissen um die Nutzungsmotive ist bisher aber sehr begrenzt (Paga-

ni/Mirabello 2011; Wohn/Na 2011).

Fernsehformate/Programminhalte: Verschiedene Studien haben bereits den Zusam-

menhang zwischen bestimmten Fernsehformaten mit der Aktivierung sozialer Inter-

aktion untersucht (vgl. exempl. Ducheneaut/Moore/Oehlberg/Thornton/Nickell 2008;

Ericsson ConsumerLab 2011; Geerts 2009). Die Forschungserkenntnisse sind jedoch

widersprüchlich hinsichtlich der Eignung bestimmter Sendeformate für die Interaktion

und zeigen eine hohe Divergenz mit Blick auf die jeweils generierten Kommunikati-

onsinhalte. Mittlerweile liegt erste explorative Forschung vor, welche TV-Formate in

Deutschland (welche) Kommunikation stimulieren (vgl.

Buschow/Schneider/Ueberheide 2013).

Technologie: Social TV wird in zwei grundlegende Entwicklungslinien differenziert.

Auf der einen Seite stehen One-Screen-Devices, bei denen der Fernseher internetfähig

ist und soziale Interaktion ermöglicht. Auf diese Lösung setzen Hardware-Hersteller

(z.B. Samsung SmartTV, Sony Internet TV, Panasonic Viera Connect). Ein solcher

Ansatz wird auch für das längst angekündigte Fernsehgerät von Apple erwartet. Auf

der anderen Seite stehen Second-Screen-Devices. Der Rezipient schaut hier über ein

herkömmliches Fernsehgerät und nutzt für soziale Interaktion ein zweites, in der Regel

mobiles Endgerät wie Laptop, Smartphone oder Tablet. Second-Screen-Devices wer-

den vor allem von kleineren Start-Ups bespielt. Gemeinsam ist beiden Entwicklungs-

strängen die Einbindung von Social Networking Sites wie Twitter und Facebook.

Markt und Geschäftsmodelle: Mit den Perspektiven und Potenzialen von Social TV

hat sich die Forschung bisher kaum auseinandergesetzt. Jedoch wird deutlich, dass

Social TV neue Wege der Wertschöpfung mindestens für TV-Produzenten und Dreh-

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buchautoren (Andrejevic 2008; Adolf-Grimme-Akademie & MMB 2010), Fernseh-

sender (HMR International 2011), Werbetreibende (Zigmond/Stipp 2010) sowie

Agenturen (Nielsen 2011) eröffnet.

3. Empirische Studie: Ergebnisse der Experteninterviews

Um möglichst vielfältige Einschätzungen über die Marktsituation von Social TV in Deutsch-

land zu erhalten, wurden leitfadengestützte, halbstandardisierte Interviews mit 34 Experten

aus den Bereichen Fernsehsender (4 Personen), Hardware- und Software-Hersteller (3), Con-

tent-Produzenten (1), Start-Ups (6), Investoren (2), Telekommunikationsanbieter (3), Agentu-

ren (7), Social Networking Sites (1), Journalismus/Blogsphäre (6) und Wissenschaft (1) ge-

führt. Experten besitzen Spezialwissen, und „[...] der Forscher nutzt den Wissensvorsprung,

den der Befragte hinsichtlich des zu untersuchenden Realitätsbereichs besitzt, um neue Er-

kenntnisse zu gewinnen“ (Keuneke 2005: 262). Das Ziel der Experteninterviews war es, Aus-

sagen über die relevanten Themenbereiche Nutzer, TV-Formate, Technologieentwicklung,

Strategie und Markt zu generieren. Diesen Dimensionen folgte die Struktur des Leitfadens.

Qualitative Interviews erheben keinen Anspruch auf statistische Repräsentativität, sondern

helfen, prozesshafte Ausschnitte der Reproduktion und Konstruktion sozialer Realität darzu-

stellen (Lamnek 1995: 25).

Als geeignete Interviewpartner wurden solche Unternehmen bzw. Einzelpersonen bestimmt,

die mit ihrem speziellen Fachwissen einen nennenswerten Beitrag zur Beantwortung der Leit-

fragen leisten konnten. Die Auswahl erfolgte auf Basis einer Recherche in Online-Medien und

Fachzeitschriften sowie mit Hilfe eines Referenzsystems, bei dem Interviewte auf potenzielle

weitere Gesprächspartner verwiesen. 60 Experteninnen und Experten wurden um ein Ge-

spräch gebeten, 34 Interviews konnten realisiert werden (Ausschöpfungsquote: 57 %). Auf-

grund von Stichprobenausfällen, die auf Nichterreichbarkeit und Verweigerung zurückzufüh-

ren sind, konnten nicht alle Expertengruppen in der Stichprobe entsprechend ihrer Bedeut-

samkeit repräsentiert werden. Die Gesprächsdauer variierte zwischen 15 und 90 Minuten, im

Durchschnitt dauerten die Gespräche 55 Minuten. Die Interviews wurden transkribiert, ano-

nymisiert und mit dem Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2008) aus-

gewertet.

3.1 Das Bild vom Endkunden: Social-TV-Nutzer

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Prinzipiell räumen die Befragten den Nutzerinnen und Nutzern großen Einfluss auf die Etab-

lierung und Weiterentwicklung von Social TV in Deutschland ein. Der Vertreter einer Social

Networking Site beschreibt die Gesamtentwicklung beispielsweise als „sehr stark durch die

Nutzer getrieben und weniger durch die TV-Sender“ (Social Networking Site 1). Die Exper-

ten haben jedoch disperse Vorstellungen vom Endkunden und davon, was den typischen Nut-

zer auszeichnet. Während einige der Befragten vermuten, eine eher jüngere, internetaffine

Zielgruppe nutze Social-TV-Angebote, erklären andere Experten: „Man denkt natürlich bei

Social TV an die ‚Germany‘s Next Topmodel‘-Zuschauer und ‚DSDS‘-Zuschauer usw.. Aber

letztlich wissen wir es nicht.“ (Start-Up 1) Die Experten warnen, sich zu sehr auf eine be-

stimmte Zielgruppe zu konzentrieren, da sich „die Nutzung durch alle Altersgruppen ziehen

kann“ (Journalist/Blogger 1). Nutzerinnen und Nutzer seien gerade in Zukunft nicht auf „so-

ziodemographische Variablen“ zu reduzieren (Agentur 2).

Als bedeutendste Innovation beschreiben die Befragten ein vertieftes TV-Erlebnis für das

Publikum: „Wir können eine stärkere Beziehung zu den Inhalten aufbauen, wenn wir das wol-

len“, beschreibt Journalist/Blogger 1 diesen Mehrwert für die Zuschauer. Die Verfügbarkeit

von Hintergrundinformationen sowie die Möglichkeit, mit den handelnden Akteuren einer

Sendung über Online-Medien in Verbindung zu treten, seien erfolgversprechende Optionen

für bisher zwangsläufig eher passive Konsumenten (vgl. z. B. das Pilotprojekt „Rundshow“

des Bayerischen Rundfunks; Gutjahr 2012). Zudem könnten sich „Ad-Hoc-Communities“,

also situations- und sendungsbezogene Gruppen von Nutzern bilden und untereinander aus-

tauschen (Journalist/Blogger 1). Deren Aktivitäten auf den Social-Media-Plattformen könnten

dann wiederum als Orientierung für andere Nutzer dienen: Sie erfahren von relevanten Inhal-

ten oder was Freunde gerade schauen und können so auf neue Weise durch das TV-Angebot

navigieren. Dieses Prinzip verfolgt beispielsweise das US-amerikanische Start-Up Get Glue,

das seinen Nutzerinnen und Nutzern automatisierte sowie nutzergenerierte Empfehlungen in

Form eines Social-TV-Guide unterbreitet (Kirkpatrick 2010).

Auch wenn die Vorteile überwiegen, die befragten Experten thematisieren auch Nachteile für

die Nutzer, die eine schnelle Marktdurchdringung maßgeblich verzögern. Vor allem die wenig

nutzerfreundlichen Anwendungen werden als Nachteil wahrgenommen. Erst „wenn es einfa-

cher möglich ist, dann werden es die Leute nutzen, die fernsehschauen“, prognostiziert ein

Befragter (Agentur 1). Viele Social-TV-Anwendungen ließen einen offensichtlichen Mehr-

wert nicht erkennen. Ein wirklicher Zusatznutzen, der potentielle Nutzer zum Mitmachen mo-

tivieren könnte, fehle aktuell oftmals noch.

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Als zentrales Motiv für die Nutzung von Social-TV-Angeboten schätzten die Experten die

Kommunikation mit anderen Nutzern und mit Content-Schaffenden ein. Nicht alle Rezipien-

ten jedoch interessierten sich für Interaktion. Etablierte Motive für die Fernsehnutzung wie

Unterhaltung, Entspannung oder „Berieselung“ blieben auf absehbare Zeit bedeutsam. Aktivi-

tät und Passivität des Publikums fielen von Sendung zu Sendung unterschiedlich aus: Das

Kommunikationsbedürfnis bei einem Game-Show-Format wie Schlag den Raab dürfte größer

sein als beispielsweise während der Rezeption der inhaltlich anspruchsvollen Serie Mad Men

(Start-Up 2).

3.2 Live mitfiebern und mitbestimmen: Fernsehformate für Social TV

Nach Expertenmeinung sind grundsätzlich alle Fernsehformate für Social TV geeignet, die

sich durch eine charakteristische Eigenschaft auszeichnen: „It needs to be relevant for social“

(Produzent 1). Relevanz bestimmt sich dabei nach Experteneinschätzung über die Aktualität

und die emotionale Ansprache der jeweiligen Formate. Abbildung 1 verortet die von den Ex-

perten genannten Formate nach der Stärke ihrer Ausprägung auf beiden Dimensionen.

Abbildung 1: Fernsehformate und ihre Eignung für Social TV

Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von Expertenaussagen (n = 34)

Zu den Formaten, die sowohl eine hohe zeitliche Aktualität als auch eine hohe emotionale

Ansprache besitzen, zählen demnach Casting- und Game-Shows, Sportübertragungen sowie

TV-Events wie die MTV Video Music Awards. Vor allem ein hohes emotionales Involvement

der Zuschauer evoziere bei ihnen das Bedürfnis nach Austausch mit anderen. Für Live-

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bertragungen etwa von Wettbewerben, Sport oder Spielen regt die Aktualität der Formate,

das „Dabeisein“ die Interaktion an. Bei Casting-Shows wiederum liege der Reiz im Voting für

Kandidatinnen und Kandidaten und damit im Gefühl, auf das laufende Programm Einfluss

nehmen zu können. Beispielsweise ließ NBC die Zuschauer bei The Voice per Facebook-App

kostenlos abstimmen, wer weiterkommen sollte (Elber 2012). Formate mit hoher emotionaler

Ansprache und großer Aktualität sind der Experteneinschätzung nach durch das Live-

Mitfiebern und Mitbestimmen in Online-Medien charakterisiert.

Der Reiz zur Interaktion mit anderen Zuschauern bestünde bei Nachrichten- und Politikforma-

ten sowie Wissenschaftsmagazinen, die zwar über Aktualität, jedoch über vergleichsweise

geringes emotionales Aktivierungspotenzial verfügen, demgegenüber vor allem in der Suche

nach Zusatzinformationen. Dies gelte insbesondere für Sendungen mit aktueller und hoher

gesellschaftlicher Relevanz der Themen für das Publikum.

Zu den Formaten mit hoher emotionaler Ansprache, aber geringer Aktualität zählen bei-

spielsweise Spiel- und Kinofilme. Auch die Dichte der Erzählstruktur spielt dabei eine Rolle:

„Film ist natürlich ein bisschen was anderes, weil in einen Film möchte ich eher mal tiefer

eintauchen und mich in die Charaktere hineinfühlen usw. Da macht s, glaube ich, nicht so viel

Sinn, nebenbei hier rumzutwittern, rumzuresearchen. Da macht s vielleicht vorab Sinn, eben

sich Trailer anzuschauen, wie gesagt, so ein [...] Sharing, vielleicht eine Einladung auch zu

Freunden.“ (Start-Up 3) Bei diesen Formaten müsste demnach vor allem das Bedürfnis nach

Anschlusskommunikation bedient werden. Daneben spielt der „Discovery-Aspekt“, also das

Entdecken von Filmen und Serien über den Austausch in sozialen Netzwerken, eine wichtige

Rolle.

Unterschiedliche Formate bedingen also nach Meinung der Befragten auch unterschiedliche

Anreize zur Social-TV-Aktivität. Es gibt „… Formate, da ist es leichter, und es gibt Formate,

da ist es schwerer“ (Journalist/Blogger 6). Formate mit bereits heute ausgeprägten Social-TV-

Elementen sind insbesondere im oberen rechten Quadranten verortet. Sie sind also bestimmt

durch das Mitfiebern und Mitbestimmen bei (Live-)Sendungen. Schwieriger wird eine Zu-

schaueraktivierung nach Ansicht der Experten hingegen bei Filmen und Serien. Aber gerade

hier sehen einige der Befragten auch ein großes Veränderungspotenzial: Durch die Einbin-

dung der Nutzer in das Storytelling eröffneten sich Möglichkeit für ganz neue Formate. So

könnte auch der Verlauf von fiktionalen Geschichten in Zukunft von Nutzern mitgestaltet

werden.

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3.3 One- vs. Second-Screen-Devices: Technologieentwicklung

Die Verbindung von Social-Media-Nutzung und Fernsehen in einem Gerät kann nach Exper-

teneinschätzung insbesondere durch die Bildschirmgröße punkten. Auffällig ist jedoch, dass

von den Vorzügen der One-Screen-Devices meist im Konjunktiv oder Futur gesprochen wird.

Der Grund sei – so meint ein Befragter eines TV-Senders –, dass „die [jetzigen] Konzepte

noch nicht ganz überzeugen“ (TV-Sender 3). One-Screen-Lösungen seien im Moment noch

nicht ausgereift und wiesen deutliche Schwächen auf. Dies betrifft vor allem die Usability,

denn „… das Eingabeproblem ist furchtbar – jeder, der einmal versucht hat, Applikationen zu

testen, bei denen man die Dinge per Fernbedienung bedienen muss: Katastrophe!“ (Journa-

list/Blogger 1).

Deswegen sehen die Experten das größere Potenzial bei Second-Screen-Lösungen. Viele

Haushalte und Zuschauer verfügten bereits über Second-Screen-Geräte, und auch die Zahl der

Anwendungen für Zweitgeräte sei weitaus höher als für Fernsehgeräte. Second-Screen-

Devices seien „näher am Zuschauer“ (Journalist/Blogger 6). Auch der Befragte von Agentur 6

ist der Meinung, dass er „eher dem Second-Screen-Trend folgen“ werde, „weil die Leute da-

mit auch sozialisiert sind“. Am Ende könnte es möglicherweise eine Frage der Gewohnheit

sein, die dem Second Screen den entscheidenden Vorteil bringe. Investor 1 hält es sogar für

möglich, „… dass man so weit kommt, dass ich [am] iPad […] meinen Screen abbilde und

sozusagen für mich der große Flachbildschirm nur noch das Abbild des iPads ist. Damit ist

natürlich sämtlicher Wert aus dem Fernsehgerät genommen.“ Die nächsten Jahre würden zei-

gen, ob sich One- oder Second-Screen-Devices durchsetzen werden oder ob sogar der Second

Screen zum First Screen werde. Die Vorteile und das Potenzial dafür besitzt er den Aussagen

der Experten nach.

3.4 Von Treibern und Bremsern: Der Social-TV-Markt in Deutschland

Die Strukturen des Social-TV-Marktes bilden sich derzeit noch heraus. Die Experten diffe-

renzieren im Wesentlichen vier Kategorien, in die sie die zentralen Marktteilnehmer, die im

Jahr 2012 den deutschen Social-TV-Markt prägen, verorten. Hier werden Fernsehanstalten

und Produzenten als Content-Lieferanten, Hardware-Hersteller und Start-Ups als Technolo-

gie, Social Networking Sites als Mediatoren und On-Demand-Dienste als Internet-TV ange-

führt.

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Die Befragten lokalisieren die Treiber der Social-TV-Entwicklung insbesondere im Bereich

der Technologie. Sowohl Hardware-Hersteller, als auch Start-Ups drängten mit ihren Lösun-

gen auf den Markt und böten in ihren Anwendungen das höchste Maß an Innovation. Die ho-

he Dichte an Start-Ups im Social-TV-Markt sei darauf zurückzuführen, dass es bislang „noch

niemandem gelungen [sei], ein Userinterface [so] hinzukriegen, dass man es […] tatsächlich

nutzt und jeder es bedienen [kann]“ (Journalist/Blogger 1). Eine Herausforderung, der sich die

Start-Ups stellen – in der Hoffnung eine (auch finanziell) tragfähige Lösung zu entwickeln.

Abbildung 2: Marktteilnehmer auf dem Social-TV-Markt in Deutschland

Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von Expertenaussagen (n = 34)

Als Bremser in der Entwicklung von Social TV in Deutschland sehen die Experten die etab-

lierten privaten und öffentlich-rechtlichen TV-Sender. Für diese Anbieter hat das Phänomen

Social TV zwei Seiten. Während Social TV einerseits die Möglichkeit bietet, Zuschauer an

das live ausgestrahlte lineare Fernsehprogramm zu binden, schwächt die Entwicklung ande-

rerseits auch heutige Markteintrittsbarrieren des TV-Marktes und sorgt für neue Konkurrenz-

verhältnisse – gerade auf Seiten der Content-Anbieter. Es wird zwar konstatiert, die etablier-

ten Sender seien zunehmend im Bereich Social TV aktiv und würden eigene Anwendungen

entwickeln. Allerdings blieben die Bemühungen nach Einschätzung der Experten deutlich

hinter den Möglichkeiten zurück und führten dazu, dass die Sender eher zu den Getriebenen

der Entwicklung zählten, statt diese selbst zu gestalten und von den positiven Effekten zu pro-

fitieren. Entsprechend ausgerichtet seien auch ihre Geschäftsmodelle.

3.5 Trial and error: Geschäftsmodelle von Social-TV-Anbietern

Die strategischen Ansätze im Bereich Social TV werden von den Anbietern als offen und un-

einheitlich beschrieben, was mit der Neuartigkeit des Phänomens und der Vielzahl von unter-

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schiedlichen Angeboten erklärt wird. So reichen die Angebote von Check-In-Funktionen für

Sendungen über Zusatzinformationen bis hin zu Community-Angeboten. Diese lassen sich

anhand eines Aktivitätskontinuums von „Lean-Back“ bis „Move-Forward“ systematisieren

(vgl. Abbildung 3).

Abbildung 3: Verortung von Social-TV-Angeboten zwischen Passivität und Aktivität

Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von Expertenaussagen (n = 34)

Die strategischen Ansätze lassen sich außerdem im Spannungsfeld zwischen der Etablierung

neuer und der Erweiterung bestehender Geschäftsmodelle verorten. Wie genau diese Modelle

ausgestaltet werden, um sie auch finanziell lohnenswert zu machen, wird als offen angesehen:

„Was auch her muss, das sind clevere Geschäftsmodelle.“ (Agentur 1)

Die Entwicklungen der Start-Ups bedienen das gesamte Spektrum von Lean-Back- zu Move-

Forward-Aktivitäten. Strategisch zielen sie auf Etablierung neuer Geschäftsmodelle und vari-

ieren dabei stark. Start-Up 2 beschreibt sein Geschäftsmodell beispielsweise als die Vermitt-

lung von Nutzern zu Inhalteanbietern: „[W]enn die Entdeckung funktioniert, bringen wir den

Nutzer zu den Inhalten. Wir treten nicht in Konkurrenz zu den Inhalteanbietern. [...] Wir laden

[…] diese Partner ein, mit uns zusammenzuarbeiten, so dass ihre Inhalte bei uns zu entdecken

sind. Und wenn der Nutzer sie dann auswählt zu gucken, dann gibt s halt unterschiedliche

Modelle, wie der Partner monetarisiert. [...] Unabhängig von diesem Modell, wie der Partner

monetarisiert, bringen wir die Nutzer zu ihm, und das ist unser Geschäftsmodell.“ (Start-Up

2) Ein anderes Start-Up setzt in diesem frühen Stadium erst einmal auf Risikofinanzierung.

Unter dem Begriff Handelsmodell, also über ein Bonuspunktesystem, versucht ein weiteres

Start-Up zu monetarisieren: „Wenn man die Punkte hat, löst man sie gegen Produkte ein, wir

kaufen diese noch billiger und haben eine Spanne.“ (Start-Up 6)

Die Strategien der Hardware-Hersteller sind dagegen klarer einzuordnen. Sie nutzen Social

TV zum einen dazu, ihre Produktpalette zu vergrößern. Dazu werden die Fernsehgeräte zum

einen mit erweiterten Funktionen zur Interaktion der Nutzer und zum Bereitstellen von Zu-

satzinformationen ausgestattet, um so den Abverkauf zu steigern. Zum anderen wird aber

auch auf neue Geschäftsmodelle über die Erschließung von Inhalten verwiesen, die die Gren-

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zen zwischen Hardware-Herstellern und Content-Lieferanten fließend macht: „Bei uns ist es

zusätzlich so, dass wir ein eigenes Eco-System aufgebaut haben, [...] wo wir zusätzlich Inhal-

te wie Musik oder Filme verkaufen. Musik in dem Fall auf ‚Subscription‘-Basis [...]. Und das

Gleiche gilt dann eben auch für Film, nur zahle ich hier auf einem ‚Pay-per-view‘-Modell, das

heißt, den Film will ich anschauen, also zahle ich auch nur den Film, den ich anschauen

möchte.“ (Hardware- und Software-Hersteller 1) Hardware-Hersteller setzen verstärkt auf die

Aktivität der Nutzer und lassen sich deswegen im Move-Forward-Bereich verorten.

Auch die Produzenten versprechen sich größere Chancen, die sich aus den Interaktionen so-

wie aus den Beiträgen in Communities ergeben und maßgebliche Veränderungen für die Art

und Weise der Produktion mit sich bringen würden. Auf dieser Grundlage können neue Se-

rien- und Filmformate entwickelt werden.

Die Fernsehsender nutzen Social TV aus Sicht der Experten vor allem für die Erweiterung

ihres bestehenden Geschäftsmodells. Dabei variieren die Angebote von Lean-Back bis Move-

Forward und dienen dem Ziel, einerseits mehr Zuschauer an die lineare TV-Ausstrahlung zu

binden und andererseits über die Schaltung von Werbung im TV-Programm höhere Erlöse zu

generieren.

Die Experten sind sich einig, dass alle Marktteilnehmer die neuen Möglichkeiten austesten

und erproben: „It‘s a quite new landscape. A new landscape is being built, so we don‘t have

an answer. It‘s more or less a trial and error process we are in right now.“ (Produzent 1)

3.6 Zukunftsausblick: Chancen für neue Marktteilnehmer – Risiken für die etablier-

ten – Herausforderungen für alle

Die unsichere Entwicklung eines bisher noch wenig strukturierten Social-TV-Marktes stellt

die Frage nach Chancen, Risiken und Herausforderungen.

Die Nutzer werden von den Experten nicht nur als die Treiber der Innovation eingeschätzt,

mit ihrer Social-TV-Nutzung bedienen sie auch ein zentrales Interesse aller anderen Markt-

teilnehmer. Sie liefern Daten und Informationen von großem Wert, mit denen sich auch eine

„digitale Quote“ ermitteln lässt. Über Social Networking Sites äußern sich Nutzer zu TV-

Inhalten, Werbespots und ihrem zusätzlichen Informationsbedarf rund um das Fernseherleb-

nis. Diese Daten stehen den Marktteilnehmern zur Verfügung und bilden die Grundlage für

eine detaillierte Analyse und möglichen Anpassungsbedarf von Fernsehinhalten. Getestet

werden können auch (neue) Werbeformen. Die unmittelbare Response unterstützt die Werbe-

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vermarktung durch eine Optimierung von Werbespots, Product Placements, Branded Content

oder auch die Verlängerung von Werbung in die Social-TV-Anwendungen und eröffnet neue

Wertschöpfungspotenziale. Auch Werbung, die gezielt auf Nutzerkommentare eingeht, ist

eine von den befragten Experten genannte Option.

Während Social TV für TV-Sender und Werbevermarkter die Chance bietet, ihr etabliertes

Geschäftsmodell und ihre Vorherrschaft auf dem Fernsehmarkt zu bewahren und auszubauen,

bietet es für andere Player die Möglichkeit, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln und in den

Fernsehmarkt einzutreten: Es ist „auch die Chance für andere, etwas zu holen, um es dann –

über diesen Umweg – auch irgendwann im Kerngeschäft zu schaffen.“ (Journalist/Blogger 1)

Chancen für die einen bedeuten zugleich Risiken für andere. So wird das Eintreten neuer An-

bieter in den Fernsehmarkt als Risiko für etablierte Player angesehen. Ein Risiko, mit dem

alle Player konfrontiert werden, sind die hohen Kosten, die mit der Entwicklung und Etablie-

rung von Social-TV-Angeboten einhergehen. Aufgrund der unklaren Akzeptanz der Produkte

beim Nutzer werden Investitionen in eigene Anwendungen als riskant angesehen. Eine kriti-

sche Anzahl an Nutzern gilt als Voraussetzung für den Erfolg, weshalb eine Verknüpfung mit

den bestehenden Social Networking Sites wie Facebook und Twitter von den Experten als

erstrebenswert angesehen wird. Auch rechtliche Rahmenbedingungen werden im Zusammen-

hang mit Social TV als Risiko thematisiert. Die Datenschutzproblematik, die sich aus der

Verwendung von Nutzerdaten ergibt, wird als mögliches Risiko erwähnt.

Die Herausforderungen für die weitere Social-TV-Entwicklung gelten bei den Experten als

groß. Unumstritten ist dabei, dass der Zugang zu Content eine entscheidende Rolle spielen

wird. Die Befragten gehen davon aus, dass Social TV attraktive Formate zwar noch attraktiver

machen, nicht aber als Kompensation für schwache Formate dienen kann. Standardisierte

Social-TV-Angebote werde es nicht geben, die Anwendungen müssten für Inhalte und Sende-

formate angepasst sein. Durch einen klar erkennbaren Mehrwert der Angebote müsste der

Nutzer idealerweise aktiviert werden, denn nur eine kritische Anzahl von Nutzern sei erfolg-

versprechend. Und weil den Nutzern eine so entscheidende Bedeutung bei der Entwicklung

und Verbreitung von Social TV zukomme, müssten sich die Anbieter auf einen zunehmenden

Kontrollverlust einstellen. Dies setze auch ein grundlegendes Umdenken voraus.

4. Ausblick

14

Interaktive TV-Zuschauer, die sich intensiv mit Sendungen, Protagonisten und Hintergründen

auseinandersetzen und sich mit Gleichgesinnten darüber austauschen, bieten eine vielverspre-

chende Zielgruppe für Programmanbieter und Werbetreibende. Bewegt sich ein Publikum

parallel zur Fernsehnutzung – und vor allem contentbezogen auf Social Networking Sites –,

so eröffnet dies zahlreiche programmbezogene und werbewirtschaftliche Optionen. Eine pa-

rallele oder aufeinander Bezug nehmende Nutzung von Fernsehen und Social Media ermög-

licht es, diese Zielgruppe der aktiv kommunizierenden und partizipierenden Fernsehzuschauer

gezielter anzusprechen, für programmbezogene kommerzielle Angebote zu interessieren oder

sie über die von ihnen genutzten Online-Kanäle noch stärker an das Programm zu binden.

Auch eröffnen sich Content-Verantwortlichen hier neuartige Wege, den Lebenszyklus ihrer

Inhalte zu verlängern und die Zuschauer länger als nur für die Dauer von Sendungsbeginn bis

Abspann für das Programm zu interessieren oder sie in den Sendungsverlauf zu integrieren.

Vor allem mit zunehmender quantitativer Relevanz ist es darüber hinaus denkbar, dass die

Social-TV-Nutzung des Publikums tendenziell zu einer verstärkten Umschichtung von Wer-

beetats führt, wenn Mediaplaner einen relevanten und interessanten Teil ihrer Zielgruppe

während des Fernsehens in Social Networks und auf programmbezogenen Websites wissen.

Abbildung 4: Ausgewählte Zukunftsprognosen der befragten Experten

Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von Expertenaussagen (n = 34)

Bei der Frage, wie relevant diese Entwicklungen in der Zukunft werden, sind sich die Exper-

ten nicht einig. Die Meinungen reichen von der Annahme, dass Social TV nie eine massen-

wirksame Entwicklung darstellen werde, über die Beschreibung des Phänomens als Neben-

schauplatz bis hin zur Annahme, dass es sich um die relevanteste Entwicklung der nächsten

15

Jahre handele. Daher lässt sich auch im Hinblick auf die Frage nach der Rettung des linearen

Fernsehens keine klare Aussage treffen. Deutlich wurde aber, dass es sich bei Social TV um

eine Entwicklung handelt, die – wenn auch bisher nur von einer kleinen Gruppe – längst in

Gang gesetzt wurde und durch die rasante Entwicklung von Social Media kaum aufzuhalten

sein wird. Das Phänomen Social TV wurde dabei weniger durch Unternehmen strategisch

geschaffen, sondern vielmehr emergent durch die Alltagspraxis von Nutzern entwickelt. Wie

Social TV konkret voranschreitet, bleibt auch zukünftig abhängig von den beteiligten Playern

im Markt auf der einen Seite und – das ist erfolgskritisch – der Akzeptanz der Nutzer auf der

anderen Seite. Neben vielen Chancen und Zukunftsvisionen sehen die Experten einige Hürden

auf dem Weg. So müssen Lösungen geschaffen werden, die durch Usability, Content und an-

gemessene Geschäftsmodelle Anreize zum Mitmachen setzen. Wer schließlich Social TV in

Deutschland zum Durchbruch verhelfen und davon profitieren wird, bleibt abzuwarten.

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