Rez. Gerzymisch : Translation als Sinngebung.les-2014-0007 188.208

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Gerzymisch, Heidrun (Hg.) (2013): Translation als Sinngebung. MitSprache: Translatorische Forschungsbeiträge. Münster: LIT Verlag, 232 S., ISBN 978-3-643-11864-6, 29,90Euro. Es handelt sich um den 1.Band der neuen Reihe mitSprache, die von der Gerzy- misch-Stiftung für die Deutsche Gesellschaft für Übersetzungs- und Dolmet- schwissenschaft herausgegeben wird. Er gliedert sich in drei Teile, wobei der erste Teil(S.387) eine Synopse von Vorlesungen als Einführung in die Über- setzungswissenschaft in Wien und Zürich die Leitgedankender Herausgebe- rin zum Übersetzen darlegt, deren Umsetzung dann im dritten Teil(S.117202) in vier Aufsätzen von Doktoranden aus dem MuTra-Doktorandenprogramm der Uni- versität des Saarlandes (www.uni-Saarland.de/mutra) beispielhaft vorgenommen wird. Eine weitere Darstellung liefert uns ein posthumer Text von Klaus Muders- bach, in dem die bekannte von Gerzymisch-Arbogast (1994) und Gerzymisch- Arbogast/Mudersbach (1998) entwickelte dreiphasige Textanalyse anhand von Paul Celans Gedicht Aber exemplifiziert wird (Teil2). Gerzymisch grenzt sich von anderen Autoren wie Umberto Eco oder George Steiner ab, welche ein sogenanntes Gelehrtenwissen(S.27) vermitteln. Sie will stattdessen Handlungsschemataliefern, denn Handlungsschemata vermitteln dagegen Handlungswissen in Form von konkreten Handlungsanweisungen, die in dem Sinne als wissenschaftlich zu betrachten sind, als sie ,auf rationalem Wege durch Begriffe Klarheit entstehen lassen(Jaspers 1 1946:17)(S.28). Wie das Re- gelwerkaufgebaut ist, an das sich der Übersetzer zu halten hat, kennen wir aus den beiden oben erwähnten Publikationen aus den Jahren 1994 und 1998, auf die sich Gerzymisch und auch die Mitstreiter in diesem Band immer wieder berufen. Dem noch nicht Eingeweihten liefert Gerzymisch eine Zusammenfassung: Wir verstehen unter einer Übersetzungsmethode eine schrittweise Anleitung zum übersetze- rischen Vorgehen, wobei das Ergebnis des ersten Schrittes den Ausgangspunkt für die Entwicklung des zweiten Schrittes, das Ergebnis des zweiten Schrittes den Ausgangspunkt für die Entwicklung des dritten Schrittes, usw. bildet, solange bis der Übersetzungszweck erreicht ist. Ziel einer solchen Algorithmisierung(des Übersetzungsprozesses) ist die Offen- legung und Sequenzierung des Zusammenspiels einer Vielzahl von Faktoren im aktuellen (übersetzerischen) Entscheidungsfall, der Nachweis der Regelhaftigkeit dieses Zusammen- spiels und die Transparenz des Ergebnisses (28) 2 . 1 Im Text mit Druckfehler: Jaspers2 Die Zahlen in Klammern ohne nähere Bezeichnung beziehen sich auf die Seitenzahlen in vorliegendem Buch. DOI 10.1515/les-2014-0007 Lebende Sprachen 2014; 59(1): 188207 Brought to you by | De Gruyter / TCS Authenticated | [email protected] Download Date | 4/24/14 4:18 PM

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Gerzymisch, Heidrun (Hg.) (2013): Translation als Sinngebung.MitSprache: Translatorische Forschungsbeiträge.Münster: LIT Verlag, 232 S.,ISBN 978-3-643-11864-6, 29,90 Euro.

Es handelt sich um den 1. Band der neuen Reihe „mitSprache“, die von der Gerzy-misch-Stiftung für die Deutsche Gesellschaft für Übersetzungs- und Dolmet-schwissenschaft herausgegeben wird. Er gliedert sich in drei Teile, wobei dererste Teil (S. 3–87) – eine Synopse von Vorlesungen als Einführung in die Über-setzungswissenschaft in Wien und Zürich – die „Leitgedanken“ der Herausgebe-rin zum Übersetzen darlegt, deren Umsetzung dann im dritten Teil (S. 117–202) invier Aufsätzen von Doktoranden aus dem MuTra-Doktorandenprogramm der Uni-versität des Saarlandes (www.uni-Saarland.de/mutra) beispielhaft vorgenommenwird. Eine weitere Darstellung liefert uns ein posthumer Text von Klaus Muders-bach, in dem die bekannte von Gerzymisch-Arbogast (1994) und Gerzymisch-Arbogast/Mudersbach (1998) entwickelte dreiphasige Textanalyse anhand vonPaul Celans Gedicht Aber exemplifiziert wird (Teil 2).

Gerzymisch grenzt sich von anderen Autoren wie Umberto Eco oder GeorgeSteiner ab, welche ein sogenanntes ‚Gelehrtenwissen‘ (S. 27) vermitteln. Sie willstattdessen „Handlungsschemata“ liefern, denn „Handlungsschemata vermittelndagegen Handlungswissen in Form von konkreten Handlungsanweisungen, die indem Sinne als wissenschaftlich zu betrachten sind, als sie ,auf rationalem Wegedurch Begriffe Klarheit entstehen lassen‘ (Jaspers1 1946:17)“ (S. 28). Wie das „Re-gelwerk“ aufgebaut ist, an das sich der Übersetzer zu halten hat, kennen wir ausden beiden oben erwähnten Publikationen aus den Jahren 1994 und 1998, auf diesich Gerzymisch und auch die Mitstreiter in diesem Band immer wieder berufen.Demnochnicht Eingeweihten liefert Gerzymisch eine Zusammenfassung:

Wir verstehen unter einer Übersetzungsmethode eine schrittweise Anleitung zum übersetze-rischen Vorgehen, wobei das Ergebnis des ersten Schrittes den Ausgangspunkt für dieEntwicklung des zweiten Schrittes, das Ergebnis des zweiten Schrittes den Ausgangspunktfür die Entwicklung des dritten Schrittes, usw. bildet, solange bis der Übersetzungszweckerreicht ist. Ziel einer solchen ‚Algorithmisierung‘ (des Übersetzungsprozesses) ist die Offen-legung und Sequenzierung des Zusammenspiels einer Vielzahl von Faktoren im aktuellen(übersetzerischen) Entscheidungsfall, der Nachweis der Regelhaftigkeit dieses Zusammen-spiels und die Transparenz des Ergebnisses (28)2.

1 Im Text mit Druckfehler: „Jaspers“2 Die Zahlen in Klammern ohne nähere Bezeichnung beziehen sich auf die Seitenzahlen invorliegendem Buch.

DOI 10.1515/les-2014-0007 Lebende Sprachen 2014; 59(1): 188–207

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Die Handlungsanweisungen für die Schrittabfolge, auf die sich Gerzymisch be-ruft, sehen wie folgt aus:

In einem ersten Schritt notiert sie sich die (inhaltlichen und formalen) Auffälligkeiten, die sieimOriginal feststellt, undordnet siedenentsprechendenTextstellenzu (Erstlektüre). Ineinemzweiten Schritt (Aufstellen der Aspektliste) entwickelt sie aus den zunächst intuitiv notiertenAuffälligkeiten Aspekte, denen sie wiederum einzelne Werte zuordnet, die möglichst klargegeneinander abgrenzbar (disjunkt) sind. (…) In einemdrittenSchritt (AspektivesLesen)wirdnun jede Textstelle unter jedem AspektAspekt gelesen und der entsprechende Wert zugeord-net. Als Ergebnis erhält man eine Textmatrix, die sozusagen die Lesart (Interpretation) desTextes durch die Übersetzerin darstellt. Schließlich werden in Schritt 4 (Übersetzungsbezoge-nes Lesen) die ermittelten Aspekte im Hinblick auf das Übersetzungsziel gewichtet, d. h., eswird– z. B. auf einer Skala von 1–99– eine Prioritätenliste erstellt, welcherAspekt imHinblickauf die Übersetzung am höchsten zu bewerten ist, welcher an zweiter Stelle realisiert werdensoll usw., bis eine vollständige Rangordnung erstellt ist. In Schritt 5 (Aspektives Übersetzen)schließlich werden zu den einzelnen Textstellen Übersetzungsvarianten erstellt, die wiede-rumnachder bereits erstelltenPrioritätenliste gewertetwerden. So erhält dieÜbersetzerin ein„Programm“, mit dem sie klare und einheitliche Kriterien formuliert, nach denen die Über-setzung (aus der Sicht der Übersetzerin) systematisch gestaltet werden soll und die für einenDritten nachvollziehbar sind. Damit sind die Voraussetzungen für ein wissenschaftlichesVorgehenbeimÜbersetzenerfüllt (Gerzymisch-Arbogast 1994:95).

Die Autorin dieser Leitgedanken hat ihrerseits bislang noch nie ihre theoretischenGrundlagen so in die Praxis umgesetzt, dass anhand eines Beispiels aufgezeigtwird, wie sie dem Handlungsschema folgend schrittweise zu einer konkretenzielsprachlichen Übersetzung gelangt. Die angekündigten Beispiele gewinnendaher besonderen Wert. Sucht man jedoch im dritten Teil der vorliegenden Publi-kation die Beispiele, in denen das Regelwerk zur Erstellung einer Übersetzungnach diesem „Handlungsschema“ durchgeführt werden soll, so haben wir esallerdings mit Untersuchungen zu tun, bei denen die Übersetzungen bereits vor-liegen. Die aufgestellten synchron-optischen Netzdarstellungen dienen also nurnoch zur Evaluation der bereits vorhandenen Übersetzungen.

Am stringentesten wird das vorgegebene Handlungsschema von Anne Goriusin ihrem Artikel „Kontextuelle Sinngebung und translatorische Äquivalenz: AmBeispiel von ‚Alles‘ in Georg Büchners Lenz und seiner englischen Übersetzung“angewendet. Ineinererstenatomistischen ‚naiven‘LektüredesTextes,aufderSuchenach„fraglichenAusdrücken“,notiertGoriusdasWort„alles/Alles“als„auffällig“,weil es abwechselndgroßundklein geschriebenwird. Sie schlägt imeinsprachigenWörterbuchnachunduntersucht,obdieWörterbuchbedeutungdemkontextuellenSinn des Wortes entsprechen kann, indem sie die Wörterbuchexplikation an dieStelle von„Alles“ indie entsprechendenKontexte einbaut. SiekommtzumSchluss,dass der so entstandene Text keinen Sinn ergibt, und somit der Sinn von ‚Alles‘ indiesemKontextnichtderWörterbuchexplikationentsprechenkann.

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Da sich der Sinnmithilfe dieses ‚Substitutionstests‘3 nicht klären lässt, werdenin einem zweiten Schritt die unmittelbaren Kontexte des Ausdrucks herausge-schnitten und in einer „‚hol-atomistischen‘ Sicht“ (182) die Beziehung des frag-lichen Ausdrucks zu diesen kontextuellen Textelementen formalisiert dargestellt.So wird z. B. das folgende Textsegment (auf S. 183) wie folgt formalisiert dar-gestellt:

Natürlichsprachliche Aussage:… Es war ihm alles so klein, so nahe, so naß…Relation: Argument 1 – Relator – Argument 2 – Argument 3 – Argument 4 – Argument 5 –Argument 6Formale Repräsentation:R (6) was?: A (1), wem?: A (2), was?: A (3), wie?: A (4), wie?: A (5),wie?: A (6)

Aus diesen Darstellungen lassen sich laut Gorius die „semantischen Rollen,‚Agens‘ Goal-Rolle, usw.“ der in Relation stehenden Partner im Textsegment ab-lesen.

Etwas leserfreundlicher wirkt die parallel dazu aufgestellte synchron-opti-sche Netzdarstellung, die allerdings noch nicht den „Sinn“ dieser Textelementeergeben, wie in den synchron-optischen Darstellungen dieser Relationen (184,185) behauptet wird, auch wenn nur von einem „partiell kontextuellen Sinn“ dieRede ist. Das synchron-optische Bild zeigt lediglich auf, dass „Alles“ und „alles“aufgrund der verschiedenen Verbindungen, die sie mit ihren kontextuellen Part-nern eingehen, nicht austauschbar und somit nicht synonym verwendet werdenkönnen.

„Da der kontextuelle Sinn bezogen auf das Textexzerpt unbestimmt bleibt, istdie Analyse auf ein größeres Textstück zu erweitern“ (S. 185). Es wird also „DerSinn von ‚Alles‘ im Gesamttext“ (185) untersucht. Dies ergibt das synchron-optische Netz ‚Alles‘ im Gesamttext als gesamthaft kontextueller Sinn von ‚Alles‘“(186). In diesem Netz ist erkennbar, dass „Alles“ „eine breite Skala gegensätzli-cher Relationen bündelt“ (187), wie die Textstellen und Lexeme aussagen, mitdenen es in Verbindung auftritt. Diese semantisch gegensätzlichen Textstellenlassen sich auf einer Skala zwischen „Bedrohlichem“ und „Harmonischem“ansiedeln. Das Ergebnis dieses Vorgehens wird wie folgt formuliert:

Dies lässt sich nun – unter Rückbindung an die Sekundärliteratur […] – als sprachlicheManifestation des Sinnzusammenhangs von ‚Entfremdungserlebnissen‘ deuten […]4 undmacht die starken Schwankungen der Dynamik zwischen Melancholie und Wahnsinn,

3 Unsere Bezeichnung4 Die Auslassungen betreffen jeweils Angaben zur Sekundärliteratur, die wir aus Platzgründenüberspringen.

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Restriktion und Expansion des seelischen Geschehens’ über das sprachliche Material trans-parent, das in der psychologischen Sekundärliteratur […] interpretiert wird (187–188; Her-vorhebung von uns).

Damit ist man am Ende der Handlungsanweisungskette angelangt und stellt fest,dass sie nicht zu einer zielsprachlichen Übersetzung geführt hat, wie von einer„Anleitung zum übersetzerischen Vorgehen“ – so Gerzymisch (28) – erhofftwerden könnte.

Das gleiche stufenweise Vorgehen wird dann, in einem zweiten Schritt, vonGorius auf die englische Übersetzung des Textes angewendet, um festzustellen,ob das Beziehungsfeld5 der „auffälligen“ Textelemente im Zieltext sich mit demder ‚Auffälligkeiten“ im Ausgangstext deckt. Da dabei festgestellt wird, dass diesnicht der Fall ist, kommt Gorius zur Schlussfolgerung, dass die Übersetzung nichtangemessen ist: „‚Alles‘“ wird nämlich „mit vier natürlichsprachlichen Variantenwiedergegeben, die überdies in keinem expliziten Bezug zueinander stehen.“(195) Dies hat zur Folge, dass „die Leserin [der Übersetzung] auf Hypothesenangewiesen ist, um sich den Sinnzusammenhang erschließen zu können“ (195).

Ebenso wenig mündet der Beitrag von Somayeh Amin in eine Übersetzung,sondern liefert uns ebenfalls lediglich einen Übersetzungsvergleich, wie bereitsdem Titel – „How Nora’s Idea of a ‚Miracle‘ Changes in the German, English, andPersian Translations“ – zu entnehmen ist. Auch hier finden wir keine „Hand-lungsanweisungen“ im o. g. Sinne, auf der Grundlage derer sich der zentraleBegriff „det vidunderlige“ in Ibsens Ein Puppenheim als „auffällig“ herauskris-tallisieren würde. Vielmehr besteht die „atomistic perspective“ in einem Vergleichdieses Wortes mit seinen verschiedenen Übersetzungen in den untersuchtenSprachen, wobei festgestellt wird, dass es in der englischen Fassung mit „themiracle“, in der deutschen mit „das Wunderbare“ und in der persischen mit dem,was dem Englischen „the very important accident“ bzw. „great expectations“entspricht, übersetzt wurde (121). Das Gerzymische Instrumentarium wird über-setzungskritisch angewendet.

Auch hier erfolgt die Sinngebung in einem weiteren Schritt, in dem diesprachlichen Auffälligkeiten aufgrund ihrer Funktion zu Holemen abstrahiertwerden, dies in Beziehung zum Gesamttext-Holon und zu einem „allgemeinen“Hintergrundwissen, bestehend z. B. aus Sekundärliteratur, bzw. Gender-Studienzum selbigen Theaterstück, was wiederum zum sprachlichen Ausdruck zurück-geführt werden muss.

5 Unser Ausdruck.

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This part of the analysis takes us through the text in intensive reading and relates indi-vidually perceived ‘conspicuous’ expressions in the text to a superordinated structure(= holon) which is made up from (1) the extracted text expressions in their functionalpositions in the text, (2) abstracts them and attributes them holeme6 status i.e. a functionalposition, (3) interrelates implied background ‘general’ knowledge (e.g. secondary literatureon gender issues and/or on the play A Doll’s House) which is then related back to possible‘concretizations’ in the text (S. 123, unsere Hervorhebung).

Die in diesem Kernzitat von uns hervorgehobenen Ausdrücke sind einfach zuvage. Man vermisst die angekündigten „klaren“ „Handlungsanweisungen“ zurAbstrahierung des Holem-status aus den „auffälligen“ sprachlichen Manifestatio-nen. Und auch hier wird wiederum nicht gezeigt, in welche Richtung die letzt-endliche „Sinngebung“ in der Verbindung von individuell wahrgenommenenAusdrücken und dem Holon verläuft, die dann auch noch zu möglichen Konkreti-sierungen im Text „zurückgeführt“ (wie genau?) werden soll. Es scheint unklar,wie der methodisch vorgeschriebene 2. Schritt derHolem-Bildung – also der Funk-tionszuweisung eines als auffällig empfundenen sprachlichen Ausdrucks – ohnevorher hergestelltem holistischem Blick auf den Gesamttext in Form des Holonserfolgen kann, welcher aber im Handlungsschema als 3. Schritt vorgegeben ist.Und wenn sich die Autorin in ihren Ausführungen auf den Jasperschen Begriff der„Grenzsituation“ beruft, so liegt hier eine „Grenzsituation“ für den Übersetzer vor,in der es zur „Sinngebung“ kommt, und zwar erscheinen, auf Grund dieserBeschreibung, der holistische Sinn und das Hintergrundwissen als die entschei-denden Faktoren, die die Grundlage für die Sinngebung bilden, welche dann,anhand der „Konkretisierungen“, d. h. der sprachlichen Manifestationen, die die-se Sinngebung konditioniert haben, auf ihre Legitimation hin untersucht werdenmuss. Zur „Klarheit“ der Handlungsanweisung darf nicht von „possible“ Kon-kretisierungen die Rede sein, sondern diese sind klar die Auslöser für dieSinngebung – sei es unmittelbar oder assoziativ vermittelt – und müssen (!) unbe-dingt gefundenwerden, soll die Methode als „wissenschaftlich“ gelten.

In einer dritten, hol-atomistischen Perspektive, wird dann die Beziehungzwischen dem herausgearbeiteten Holon von Noras „SELBSTWERDUNG“ unddem Kernwort „Miracle“ hergestellt, indem ein konzeptuelles Umfeld („hope,

6 Als dem Holon „SELBSTWERDUNG“ zugeordnete Holeme findet Amin „DIE PRÄKRITISCHEPHASE: NORAS BEZIEHUNG ZU HELMER“ und „DIE KRITISCHE PHASE: NORAS WANDLUNG“.Dem ersten Holem werden Subholeme wie „NORAS AKZEPTANZ DER INFERIOREN/SUMISSIVENROLLE, NORA ALS BITTSTELLERIN“ usw. zugeordnet, dem zweiten: „NORAS ERKENNTNIS DES‚WUNDERBAREN‘ ALS ILLUSION, NORAS WENDE IN DER HALTUNG ZU SICH SELBST,“ usw.(124).

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fear, wish, desperation“ S. 125) aufgedeckt wird, zu dem das Kernwort in Bezie-hung steht.

Das Fazit, das Amin aus dieser aufwändigen atomistischen Studie zieht ist:

While in English and German the ‘miracle’ is kept with its sublime connotation of somethinggrand, the Persian renders the word by ‘expectation’ and ‘accident’. Especially ‘accident’does not leave much room for illusionary connotations and certainly does not offer itself asan expression which could mark a positive turning point in one’s life (125)

Dieses die atomistische Untersuchung betreffende Ergebnis war vorauszusehen,wobei man persisch können muss, um die Konnotationen der persischen Wörterund die damit verbundenen Assoziationen wirklich zu erfassen. Das eigentlicheübersetzerisch wichtige Problem, nämlich „whether Nora’s underlying romanticidea of love and the co-existant ambiguity is brought out in the Persian trans-lation“, „remains to be seen in a deeper analysis“ (126), ohne dass allerdingsirgendwelche „Handlungsanweisungen“ gegeben wären, die für diese „deeperanalysis“ richtungsweisend wären bzw. in ein algorithmisierendes, schrittweisevorgehendes Handeln münden würden.

Der interessante Artikel „Translating Hybridity“ von Edmond Kembou ver-gleicht zwei Übersetzungen von Patrice Nganangs Temps de chien aus demkamerunischen Französisch ins Englische und Deutsche. Die Hybridität bestehtin der Aufnahme autochthoner kamerunischer Sprachelemente in den französi-schen Text. Diese Elemente wurden schlecht übersetzt, weil der affektive Gehaltdabei verloren gegangen ist und somit der Funktion der kamerunischen Wörterim französischen Text nicht Rechnung getragen wurde. So geht z. B. bei derÜbersetzung der Interjektion „bo-o“ durch deutsch „Oho“, (im Satz: „Bo-o, tufais ça avec lui?“) die im Originaltext durch „bo-o“ konnotierte affektive Nähezum Leser verloren und wird im Deutschen durch eine im Kontext völlig de-platzierte Überraschung markierende Interjektion ersetzt. Die englische Version„Bo-o do you that with him?“, mit Entlehnung der kamerunischen Interjektion,wird dagegen von Kembou als „one of the commendable solutions“ (217) ange-sehen, „as it informs the reader about a strange occurrence in the ST“, eineLegitimation, die uns allerdings selbst etwas „strange“ und merkwürdig anmu-tet, denn was kann der englische Textempfänger mit dieser aus dem kulturellenKontext herausgerissenen Entlehnung anfangen? Hier wäre sicher eine im Texterklärende Übersetzung erforderlich, denn die Funktion dieses „extrastructura-lism“ ist es sicher nicht, über eine „strange occurrence in the ST“ zu „informie-ren“.

So interessant der Artikel auch ist, er überzeugt nicht von der Notwendigkeitdes in den „Leitgedanken“ präkonisierten dreistufigen „Handlungsschemas“.Sicher hätte auch das von Gerzymisch präkonisierte dreistufige Vorgehen nicht zu

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einer besseren Übersetzung geführt. Die von Kembou kritisierten Mängel beruhennämlich entweder auf einer mangelhaften kulturellen Information über die Funk-tion der Extrastrukturalismen im französischen Ausgangstext oder auf einer man-gelhaften übersetzerischen Kompetenz in der Umsetzung des Erkannten. Imersten Fall ist das Problem hermeneutischer Art; der Übersetzer muss sich umdas, was die Hermeneutik ein „wissensbasiertes Verstehen“ (Bǎlǎcescu/Stefanink2012:204, Fn. 4) genannt hat, bemühen („grounded understanding“ bei Stolze2011). Im zweiten Fall geht es um die Kenntnis der verschiedenen übersetzungs-theoretisch fundierten Problemlösungsverfahren. Die Notwendigkeit der ersten(atomistischen) Stufe des „Handlungsschemas“ geht nicht aus der vorliegendenDarstellung hervor. Die Grenze zwischen den beiden anderen Stufen (holistischund hol-atomistisch) müsste klarer gezogen werden. Der Artikel beweist nämlich,dass der Übersetzer letztendlich nur mit einem holistischen Vorgehen zu einerangemessenen Übersetzung kommen kann, bei dem die einzelnen „Extrastruk-turalismen“ im Hinblick auf Ihre Funktion im Originaltext übersetzt werden, undzwar im Gesamtnetz der Extrastrukturalismen, das den Text isotopisch durch-wirkt.

Vergleichen wir die „Handlungsschemata“ der drei untersuchten Umsetzun-gen des dreistufigen Handlungsschemas, so stellen wir fest, dass die MuTra-Schüler jeweils unterschiedliche Reihenfolgen bei den drei zu befolgenden„Handlungsschritten“ zugrunde legen. Bei Anne Gorius geht es von der atomisti-schen Sicht (181; mit Untersuchung der Bedeutung im Wörterbuch), über die „hol-atomische“ Sicht (182; mit Untersuchung der partiellen Sinnerschließung im Kon-text) zur holistischen (185) Untersuchung des Sinns im Gesamttext. Amin beginntebenfalls mit der „atomistic perspective“ (121), geht dann aber direkt zu „II. aholistic perspective, that focusses on the contextual sense“ (123) über, ohne dievon Gorius als „hol-atomistisch“ bezeichnete 2. Etappe der „partiellen Sinn-erschließung“ zu respektieren; in dem abschließenden „Summarized Commenta-ry“ (125) erscheinen dann „atomistic“, „hol-atomistic“ und „holistic“, in dieserReihenfolge, ohne dass jedoch ein Unterschied zwischen „hol-atomistic“ und„holistic analysis“ klar herausgearbeitet wird. Kembou beugt sich zwar den theo-retischen Vorgaben, in dem er die drei Stufen, in der vorgegebenen Reihenfolge(wie bei Gorius aufgezeigt) eingangs zitiert, scheint aber bei der Sinnerschlie-ßung, sprich „Sinngebung“, auf die beiden ersten verzichten zu können, da erdirekt zur holistischen Sicht fortschreitet, in Form einer „text analysis [that] aimsat making the interrelationship between the Cameroonian text elements and theirfunction in the selected excerpt of Temps de chien transparent through a holisticstructure (211), eine Analyse, die bei Gorius in der 2. (hol-atomistischen) Etappeerfolgt. Überhaupt scheint sich für Kembou das gesamte Verfahren zur Sinn-gebung in der 3. (holistischen) Etappe abzuspielen. Hier findet er die „Auffällig-

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keiten“ die sonst der 1. (atomistischen) Stufe7 zugeschrieben werden und hier istauch der Ort für seine Untersuchung der Beziehungen dieser auffälligen Text-elemente zu anderen Textelementen (was bei Anne Gorius die 2. Stufe darstellt),dies jedoch bereits in deren Funktion in Hinblick auf den Gesamttext (wobei essich bei seinem „Gesamttext“ allerdings um ein „ text excerpt“ (212) handelt. Vonder angekündigten Stringenz im Ablauf der aufeinanderfolgenden Handlungs-schritte, die zu einer „Algorithmisierung des Übersetzungsprozesses“ (28) führensoll, ist da wenig zu spüren. Das liegt aber nicht an der Inkompetenz der MuTra-Schüler, sondern an den Schwierigkeiten bei der Umsetzung der theoretischenVorgaben.

Die Bedeutung, die in diesen drei praktischen Studien letztendlich demholistischen Aspekt zukommt, ist kennzeichnend für die Schwerpunktverlage-rung in der vorgestellten dreistufigen Blickwinkeltheorie, so man mit o. a. Dar-stellungen aus den Jahren 1994 und 1998 vergleicht. Wurden nämlich in diesenfrüheren Darstellungen subjektive Elemente, wie Intuition und Kreativität ausden Überlegungen zu „Methoden des wissenschaftlichen Übersetzens“ aus-geschlossen8, so tritt nun die Subjektivität des Übersetzers im übersetzerischenHandeln in den Vordergrund, wie dann auch in den jetzt von Gerzymisch vor-gegebenen theoretischen „Leitgedanken“ auf Schritt und Tritt betont wird. Undbei diesen subjektiven Entscheidungen schwingen nun mal intuitive Momentemit. So ist vielfach von der „Einfühlung der Übersetzerin“ (S. 24) die Rede, vom„Einfühlungsvermögen“ der Übersetzerin (S. 31), vom „Einfühlen in den Ande-ren“ (S. 51), von „Einfühlung in die Gesprächspartner und in die Gesprächssitua-tion (S. 52), von „‚gefühlte‘[r] Atmosphäre“ (69), von „Empathie“ (S. 76), von„individueller Sinngebung“ und „individuelle[n] Hypothesen“ (S. 52, Hervorhebungim Text); kurz: „Die grundsätzliche Personengebundenheit der Übersetzerin darfnicht verdrängt, sondern muss als Prinzip des wissenschaftlichen Denkens und

7 „A first reading reveals the presence of strange and uncommon words“ (211).Dies in demKapitel das die Überschrift „On the establishment of a holistic sense“ (211) trägt und als Unter-kapitel des Kapitels „Holistic analysis of the French original ST“ (211) fungiert und mit denWorten beginnt: „The implementation of the text perspectives will be limited in this article to theholistic perspective“, woraus zu schließen ist, dass dies die maßgebende Perspektive ist. Nur ausdiesem Blickwinkel, auf Grund der Kenntnis der Funktion der Extrastrukturalismen, die der Autordieser Übersetzungskritik Dank seines fundierten Sachwissens hat, ist es ihm möglich dieQualität der Übersetzung zu evaluieren.8 Dort steht: „Dies heißt natürlich nicht, dass übersetzerische Intuition und Kreativität generellnegiert werden. Vielmehr werden sie hier als jenseits einer systematischen Vorgehensweiseliegende Größen betrachtet und gehen daher nicht mit in die methodischen Überlegungen ein.“(Gerzymisch-Arbogast/Mudersbach 1998:16)

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Arbeitens (an)erkannt werden“ (S. 55). Da fällt es schwer, die Intuition aus-zuschließen!

Und so finden wir auch einen Hinweis auf den Ort, der der Intuition und derKreativität zugewiesen wird:

Im Gegenteil können wir sagen, dass Kreativität, die ‚Kunst‘ des Übersetzens, dort beginnt,wo die Systematik aufhört. Kompetenz im Umgang mit den Regelwerken ist Voraussetzungfür das Zusammenspiel von Kreativität und Intuition beim Übersetzen. Fritz Paepcke ver-wendete dafür das schöne Bild, dass sich die „geordnete Regel in das Spiel der Intuitionöffnet“ (S. 29, Fn. 5)

Also doch wieder ein „outsourcing“, um einen Terminus aus der Wirtschafts-sprache zu benutzen. Paepcke hat aber nie behauptet – wie es etwa Wilss (1992)getan hat –, dass wir es im Übersetzungsprozess mit zwei getrennt aufeinander-folgenden Phasen zu tun haben. Er hat zusammen mit Forget von der „intuitionfoudroyante“ gesprochen, die nach einem vorhergehenden systematischen Pass-Spiel im Fußball schließlich zum Tor führt. Doch nachdem das Tor gefallen ist,geht das Spiel weiter! Das heißt, dass dieser Augenblick der Kreativität und derIntuition in das Gesamtgeschehen eingebettet werden muss. Beide gehören zumgesamten Übersetzungsprozess und somit zum „Regelwerk“ und können nichtvon den methodischen Überlegungen ausgeschlossen werden, wie noch in Gerzy-misch-Arbogast/Mudersbach (1998:16) argumentiert.

Zwar wird das Wort „intuition“ in vorliegendem Band allgemein gemieden,aber es kommt dann doch (wenn auch etwas schüchtern) in einer Fußnote zurSprache, nämlich bei Anne Gorius, wenn es im ersten Stadium des atomistischenHerangehens an den Text um die Bezeichnung für die einzelnen Textelementegeht. Sie spricht vom „fraglichen Ausdruck“, der den Ausgangspunkt für dasübersetzerische Handeln darstellt, und schreibt dazu in einer Fußnote: „Unter‚fraglicher Ausdruck‘ wird hier ein Ausdruck verstanden, der der Übersetzerin beider Lektüre eines Textes bzw. im Textzusammenhang intuitiv auffällt“ (S. 171,Fn 1; unsere Hervorhebung).

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Unsere Einschätzung:

Zum Auffinden der „Auffälligkeiten“9:

Es fehlen klare Handlungsanweisungen zum Erkennen der „Auffälligkeiten“ inder ersten Phase des rein atomistischen Vorgehens. Fiktion, und besonders einGedicht – wie das in vorliegendem Band von Mudersbach untersuchte Gedicht„Aber“ (91–113) von Paul Celan –, wird emotional gelesen, und zwar nicht durchein Gitter von semantischen Merkmalen, sondern durch ein Assoziationsnetz vonEngrammen, das sich im Kopf des Übersetzers aufgrund seiner individuellenErfahrungen herausgebildet hat. Nach der Lektüre von Nachtzug nach Lissabonwird der eine Leser sich vielleicht an gesellschaftskritische Passagen erinnernund seinen Eindruck an den entsprechenden „fraglichen Ausdrücken“ fest-machen, die für ihn (!) dem Auffälligkeitskriterium Genüge tun, also für ihn‚conspicuous‘ sind; während der andere vom krimiähnlichen Geschehen faszi-niert ist und vor diesem Hintergrund anders entscheidet. Dies führt zu verschiede-nen „Auffälligkeiten“. Dies jedoch jedes Mal vor dem Hintergrund einer holisti-schen (!) Lektüre, die über sein Engrammnetz Assoziationen auslöst.

Dass die Wahrnehmung von Auffälligkeiten selbst bei professionellen Über-setzern sehr unterschiedlich sein kann, zeigt sich z. B. bei der Übersetzung desersten Satzes in Célines Voyage au bout de la nuit: „Ça a débuté comme ça.“ Derrumänischen Übersetzerin fällt nichts auf. Sie gibt dies ohne Berücksichtigungvon Sprachniveau und Rhythmus wieder. Der Übersetzungswissenschaftler TudorIonescu wirft es ihr vor: er „voudrait que le traducteur sente combien, dans cepremier ‚ça‘ se cristallise toute l’attitude de Céline face à la guerre, face à sessemblables, face à n’importe quoi. Voilà ce que résume pour Tudor Ionescu cepremier mot de ce premier roman de Louis Ferdinand Céline! Et voilà ce que letraducteur de cette phrase doit reconnaître et traduire en langue cible.„ (Stefanink2011:21). Er kann es aber nur vor dem Hintergrund seiner holistischen Kenntnisdes Romans und des Gesamtwerks dieses Autors.

9 Im Sinne der angestrebten „Wissenschaftlichkeit“ des vorliegenden theoretischen Ansatzessollte auf terminologische Vereinheitlichung geachtet werden. Der allgemein akzeptierte Termi-nus „Auffälligkeiten“ scheint z. B. bei Gorius Unbehagen auszulösen. Sie spricht von „fraglichenAusdrücken“ (179), aber auch von „ausgefallenen Ausdrücken“ (181) bzw. „Auffälligkeiten“(180).

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Zur von Gerzymisch vorgenommenen Abgrenzung zur Hermeneutik:

Auch wenn die in vorliegendem Buch benutzte Terminologie und das rigoroseVorgehen von der Wortanalyse hin zur holistischen Wahrnehmung den Eindruckeines Strebens nach Objektivität vermittelt, das nichts mit der metaphorischenAusdrucksweise der Hermeneutik zu tun hat, scheint dieser Band doch eine„hermeneutische Wende“ in der dreistufigen Blickwinkeltheorie anzudeuten, wiesie von den Autoren in diesem Band vertreten wird, auch wenn dies nicht explizitist und Gerzymisch sich von der Hermeneutik abgrenzen will. Allein der Titel lässtdiese Schwerpunktverlagerung erkennen. Darüber hinaus zeigen die Anwen-dungsbeispiele, dass trotz des eingangs zitierten Handlungsschemas mit algorith-misierendem Anspruch letztendlich immer wieder auf die holistische Texterfas-sung zur entscheidenden „Sinngebung“ zurückgegriffen werden muss, ganz imSinne des hermeneutischen Ansatzes, von dem sich Gerzymisch allerdings expli-zit abgrenzt, indem sie auf einen Unterschied verweist. Der erweist sich jedoch beinäherem Hinsehen als inexistent und ist auf mangelnde Kenntnis des hermeneu-tischen Ansatzes zurückzuführen:

Grundsätzlich ist es natürlich möglich, sich beim Übersetzen den Sinn intuitiv zu erschlies-sen oder nachzuempfinden. Dann ist die Vorgehensweise aber nicht darstellbar oder wieder-holbar. In der Literatur wird dies vielfach mit dem hermeneutischen Verstehensprozesserklärt – Hans Georg Gadamers ‚lesen ist übersetzen‘. Im Mittelpunkt steht dabei die Er-schließung des Textes in seinem unbestimmten ‚Schönem‘, dem ,Geist‘ des Textes. In derLiteratur spielt dies natürlich eine Rolle beim Literaturübersetzen. Auch hier ist aber fürtranslatorische Zwecke die Sinngebung über-individuell transparent zu machen (71).

Den Unterschied zwischen ihrem Vorgehen und dem der Hermeneutik siehtGerzymisch in der Darstellungsmöglichkeit der Vorgehensweise und in ihrerWiederholbarkeit, die beide dem hermeneutischen Vorgehen abgesprochen wer-den, so wie Letzterem auch die Bemühungen um Transparenz abgesprochenwerden.

Ein Blick in Cercels Übersetzungshermeneutik (Cercel 2013) – insbesondereKapitel 10.6, das den Titel „Intersubjektive Nachvollziehbarkeit“10 trägt, zeigt,dass der hermeneutische Ansatz in der Übersetzungswissenschaft vollauf demAnspruch auf Transparenz genügt, zumindest in seinen neueren Entwicklungen

10 „intersubjektive Nachvollziehbarkeit“ scheint uns angemessener als „interindividuelle Nach-vollziehbarkeit“ bzw. „interindividuelle Überprüfbarkeit“, bzw. „inter-individuell überprüfbar“(30), wo noch ein Hauch von Objektivitätnostalgie mitschwingt, während die Hermeneutik dieunumgehbare Subjektivität des übersetzerischen Handelns erkennt und die „intersubjektiveNachvollziehbarkeit“ (Stefanink 1997) als neues Evaluationskriterium anerkennt.

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unter Berücksichtigung kognitiver Erkenntnisse. Auch die von Gerzymisch gefor-derte „Darstellbarkeit“ erfolgt an einem konkreten Beispiel in Bǎlǎcescu/Stefa-nink 2006, wo auch die „Wiederholbarkeit“ der Vorgehensweise abzulesen ist:Cercel (2013:250) spricht von einer „nachträglichen Methodik“ im übersetzungs-hermeneutischen Denken, welche die von Gerzymisch geforderte Wiederholbar-keit gewährleistet. Überhaupt lohnt es sich für die Vertreter einer Transparenz imübersetzerischen Handeln einen Blick – und sogar mehr als einen!– in CercelsÜbersetzungshermeneutik zu werfen, will man den Eindruck eines monolithischenAnsatzes revidieren, der sich lediglich auf ein passives der „Vita contemplativaFrönen“ beschränkt, wie es z. B. Siever (2010:104) formuliert. Die Ansätze, die sichauf der Basis kognitionswissenschaftlicher Erkenntnisse um das bemühen, wasCercel 2013 einen „Verwissenschaftlichungsprozess“ bezeichnet, bergen enormviele Gemeinsamkeiten mit den Bemühungen um Transparenz, wie wir sie in derMuTra-Schule finden.

Den Unterschied zum hermeneutischen Ansatz gibt es! Allerdings nicht inder mangelnden Bemühung um Transparenz und intersubjektiver Nachvollzieh-barkeit, sondern im methodischen Vorgehen. Während wir es bei Gerzymisch miteinem dreistufigen Vorgehen zu tun haben, das beim Wort beginnt und zurholistischen Texterfassung führt, geht der hermeneutische Ansatz umgekehrtvor, wobei bei beiden in einer der Phasen das oben zitierte „intensive reading“einsetzt, das zur nötigen „Empathie“11 (76) führt. Bei Gerzymisch (hier vertretendurch Amin) führt dieses intensive Lesen zur Bildung von Holemen, im herme-neutischen Ansatz dagegen zur Kreativität im Problemlösungsverfahren. Derhermeneutische Weg, der, von der holistischen Texterfassung ausgehend, hinzum Einsatz von textlinguistischen Argumenten führt, wenn es um Problemlö-sung oder um Transparenz durch Aufspüren der „sprachlichen Manifestationen“geht, die zur kreativen Problemlösung geführt haben12, scheint uns natürlicher,dem Verhalten des normalen Lesers angepasst, für den der Text ja schließlichgeschrieben wurde. Er allein führt zu kreativen Problemlösungsverfahren, diemit einer „nachträglichen Methodik“ (Cercel 2013:250) ebenso effizient wissen-schaftlich transparent gemacht werden können. Das von Gerzymisch (73) selbstangeführte Beispiel vom Auge, dessen Funktion wir nur vor dem Hintergrundunserer ganzheitlichen Vorstellung vom Gesicht erkennen können, plädiert ein-deutig für die Priorität der holistischen Perspektive im Sinne des hermeneuti-

11 Ein Begriff der auch in vielen hermeneutischen Schriften eine maßgebende Rolle spielt.12 Ganz im Sinne von Coserius Textlinguistik: „Das bedeutet dementsprechend, den bereitsverstandenen Inhalt auf einen bestimmten Ausdruck zurückzuführen, zu zeigen, dass demsignifié des Makrozeichens im Text ein spezifischer Ausdruck entspricht. In der Hinsicht ist alsodie hier behandelte Textlinguistik Interpretation, Hermeneutik“ (Coseriu 1980:151).

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schen Ansatzes. Diese (!) Perspektive ist doch letztendlich für die Sinngebungentscheidend, wie es ja auch in folgendem Zitat aus vorliegender Publikationzum Ausdruck kommt:

Dabei wird die ‚Einfühlung‘ der Übersetzerin vor allem im Hinblick auf die ganzheitlicheholistische Perspektive transparent, in der sich die individuelle Sinngebung zeigt, die dieÜbersetzerin dem Text unterlegt bzw. die sie als dominante Sinngebung in ihrem Translatzum Ausdruck bringen will (24, Hervorhebung im Text).

Nachdem wir festgestellt haben, dass einerseits beim Auffinden der „Auffällig-keiten“ anlässlich der ersten Lektüre des Textes Intuition im Spiel ist und dassandererseits der von Gerzymisch formulierte Einwand der angeblich mangelndenTransparenz der Hermeneutik entkräftet ist, wäre der Weg zu einer „hermeneuti-schen Wende“ im dreistufigen Sinngebungsdenken frei. Vieles lässt in diesemBand darauf schließen. Allerdings müsste auch noch anerkannt werden, dassnicht Jacobson als Vorläufer für die Berücksichtigung der Subjektivität des Über-setzers gelten kann, wie auf S. 17 behauptet13, sondern, viel früher bereits, Schlei-ermacher!

Zur Praxisrelevanz des dargestellten theoretischen Ansatzes14

Die Frage, die sich der Praktiker stellt, ist jedoch, ob sich die „Wiederholung“dieser Vorgehensweise wirklich als seinen Bedürfnissen angemessen empfiehlt.Der Aufwand, den die angestrebte Sinnkonstruktion über drei Stufen erfordert,mag sich durchaus für Studierende lohnen. Aus didaktischer Sicht ist er ineinigen Punkten sogar empfehlenswert, da zumindest die synchron-optischenDarstellungen der Wortrelationen im Text bzw. der kulturell bedingten hinter-gründigen Assoziationsnetze dem Studierenden die beim Übersetzen zu berück-sichtigenden Faktoren plastisch vor Augen führen. Desgleichen macht das ato-mistische Vorgehen, wie es Gorius beispielhaft demonstriert, dem Lerner den

13 Dort heißt es: „Entsprechend legt Jacobson der Übersetzungshandlung eine ‚interpretation‘zugrunde. ‚Interpretation‘ umschließt die Verstehensdimension. Damit entzieht Jacobson bereitsdie Übersetzung der ‚objektiven‘, ‚wiederholbaren‘ Betrachtung und bringt […] den ‚subjektiven‘Faktor ins Spiel, dessen Erfassung und Beschreibung für die heutige Translationswissenschaft sokennzeichnend ist“ (17). Liegt hier ein bewusstes Ignorieren des hermeneutischen Beitrags, seitSchleiermacher, zur Übersetzungswissenschaft vor?14 In der Internetdarstellung (http://www.uni-saarland.de/campus/forschung/forschungsakti-vitaeten/uds-promotionsfoerderung/mutra-international-phd-school.html) wird von Dieter Willdie Praxisrelevanz des Vorgehens betont.

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Unterschied zwischen Wörterbuchbedeutung und kontextuellem Sinn bewusst.Aber der eingeschlagene Weg zur Sinnkonstruktion müsste in die andere Rich-tung verlaufen. Die Festmachung des intuitiv gefundenen Sinns an den auslö-senden sprachlichen Manifestationen im Text sollte nachträglich (!) erfolgen,nachdem der Lerner zu einer intuitiven (eventuell kreativen) Problemlösunggekommen ist, die er sich nicht so leicht vor Augen führen kann und die nachErklärung verlangt. Es bedarf dazu auch keiner erschöpfenden Textanalyse,sondern einer „problemorientierten“, wie in Stefanink 1997 empfohlen. BeimPraktiker könnte nämlich durch die hier verordnete Vorgehensweise eher die vonHönig/Kußmaul (1982:9) bemängelte Theoriefeindlichkeit verstärkt werden, wiewir sie in extrem hohen Maß am Beispiel korsischer Übersetzer miterlebt haben(Bǎlǎcescu/Stefanink 2003)15.

Zum gesamten vorgeschlagenen Handlungsschema grundsätzlich:

Es geht hier um den Versuch der Zusammenführung zweier grundsätzlich ent-gegengesetzter Ansätze in der wissenschaftlichen Forschung: Dem atomistischenAnsatz einerseits, der versucht, Elemente auf ihre unreduzierbaren Teile zureduzieren, deren intrinsischer – von ihrer Relation zu anderen Elementenunabhängiger – Wert herauskristallisiert wird, um dann zu einem Aggregat zu-sammengefügt zu werden, dessen Sinn sich aus den einzelnen atomistisch he-rausgearbeiteten Sinneinheiten zusammensetzt16, und dem holistischen Ansatzandererseits, der auf komplexe Systeme angewendet wird, in denen der Wert dereinzelnen Elemente nicht atomistisch intrinsisch bestimmt wird, sondern durchdie Beziehungen, die diese Elemente mit den anderen Elementen im Systempflegen und durch die Funktion, die sie im System ausüben. Sprache ist einsolches System und in noch viel stärkerem Maße ist es Sprache in Texten. Diepraktischen Anwendungen des von Gerzymisch und Mudersbach präkonisiertenHandlungsschemas vermögen u. E. nicht von der Angemessenheit des atomisti-schen Vorgehens in Bezug auf Texte zu überzeugen, so sehr sich die Schüler derMuTra-Schule auch bemühen, dies aufzuzeigen, indem sie das Handlungsschemaordnungsgemäß anwenden.

Die ursprüngliche Idee des Physikers Mudersbach war, synthetisch aus Be-deutungselementen, die aneinandergefügt werden, Sinn aufzubauen, so versucht

15 S. Unsere Schlussbemerkung.16 Dies steckt hinter dem Satz: „Die individuelle Sinngebung geht von sprachlichen Manifestatio-nen aus, die zu einem Ganzen verknüpft und strukturiert werden […]“ (30; Hervorhebung imText).

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auch Gorius vorzugehen, indem sie die einzelnen Wörter zunächst isoliert17,danach in kleineren Textexzerpten untersucht um so zu einem „Teilsinn“, zugelangen, bevor sie in einem weiteren Schritt die „fraglichen Ausdrücke“ imGesamttext untersucht. Doch Textsinn wird nicht stufenweise aus Teilsinneinhei-ten zu einem Aggregat zusammengebaut, wie es der „leksemantische Bedeutungs-begriff als gestuftes Bedeutungsnetz im Kontext“ (66) laut Gerzymisch vorsieht.Nachdem Gorius anhand von Textexzerpten einen sogenannten „partiell kon-textuellen Sinn“ (180) erschlossen haben will, müssen sich, wie sich zeigt, der„atomistisch“ gefundene Sinn sowie der kontextuelle „kontextuelle Teilsinn“ letzt-endlich dem „Tribunal“ des Gesamtsinns stellen.

Es zeigt sich somit, dass es sicher notwendig ist, eine subjektive Sinn-gebung zu überprüfen, jedoch muss die Vorgehensweise umgekehrt werden:Holistisch konstruierter Sinn muss, sagen wir, „atomistisch“ nachvollziehbargemacht werden.

N.B.: Schwer nachzuvollziehende Behauptungen:

Es fällt uns schwer, einige grundlegende Kerngedanken nachzuvollziehen, die alsevident präsentiert werden.

1) Folgende Aussagen wirken inkohärent bzw widersprüchlich und könntendie Studierenden verwirren. In den „Leitgedanken“ steht:

Beim translatorischen Verstehen, also beim Verstehen zum Zweck der späteren Umsetzung,kann es allerdings nicht um die Tiefe allgemein-hermeneutischer Verstehenszusammenhän-ge gehen, sondern um Verstehen in eine andere Lebenswelt, Sprache und Kultur. (S. 26)

In der Anwendung bei Gorius heißt es jedoch, im Rahmen der „Sinnfindung einesAusdrucks im Original“: „Dazu wird der Text zunächst ‚naiv‘ gelesen und frag-liche Ausdrücke werden markiert“ (179). In einer Fußnote zu ‚naiv‘ beruft sie sichauf Gerzymisch-Arbogast/Mudersbach (1998:47), wo es heißt: „Das ‚naive‘ Lesenbezieht sich darauf, dass die ‚erste Kenntnisnahme des Textes […] eine Möglich-keit [enthält], die bei jeder weiteren Lektüre verloren geht, nämlich überrascht zuwerden durch unerwartete Auffälligkeiten‘.“ (179, Fn. 17). Da ist von „Verstehenin eine andere Lebenswelt“ noch lange nicht die Rede!

17 Nach dem Motto: „dass das Einzelphänomen (Atom) ‚[…] isoliert charakterisierbar [ist] durchinterne Substanzeigenschaften ohne Zuhilfenahme von Relationen zu anderen Atomen‘ (Muders-bach 1983:347)“ (177)

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Dazu: Verstehen ist Verstehen. Auch wenn später (!) eine „Umsetzung“ statt-findet, so ist der ursprüngliche Verstehensakt derselbe. Der Unterschied beimÜbersetzen besteht lediglich in der Bewusstmachung des Verstandenen. Über-setzen ist eine „herméneutique en acte“, wie es Ladmiral (2010:12) formuliert, einVerstehen, welches dann in Hinblick auf den zu formulierenden Zieltext und dieeventuell damit zusammenhängenden Probleme zu neuem tieferen Verständnisführen kann. Der Widerstand, den die Formulierung in die Zielsprache darstellt,zwingt lediglich zur Rückbesinnung auf das Verstandene und zur dadurch even-tuell ausgelösten Infragestellung bzw. Vertiefung desselben. Letztendlich ist abermein Verständnis für den Zieltext verantwortlich nicht umgekehrt. All dies er-fordert ein grundsätzliches Nachdenken über das, was wir eine „Verstehenspro-zesseinheit“ nennen.

2) Wenn es auf S. 73–74 heißt:

Ein weiteres besonderes Problem beim holistischen Übersetzen ergibt sich aus der Tatsache,dass immer der konkrete einzelne Ausdruck, nicht der gesamthaft abstrakte Sinn (etwa dieGemütsverfassung der ‚Verzweiflung‘ des Lenz in Georg Büchners Novelle) zu übersetzenist. Das heißt, dass wir beim Übersetzen vom atomistischen Einzelausdruck ausgehenmüssen und von dort den Bezug zu einer holistischen Vorstellung herstellen können (abernicht müssen, je nach individueller Sichtweise der Übersetzerin) – ähnlich dem BeispielKlaus Mudersbachs (2007), dass wir ein Auge (atomistische Sichtweise) nur vor dem Hinter-grund unserer ganzheitlichen Vorstellung von einem Gesicht (holistische Gestalt) erkennenkönnen. Wir können daher z. B. die ‚Verzweiflung‘ in Georg Büchners Lenz nicht übersetzen(es sei denn, sie kommt als konkreter Ausdruck vor), sondern wir brauchen zum Übersetzeneine Manifestation der Verzweiflung als konkreten Ausdruck, den wir transportieren kön-nen. Nur den Ausdruck können wir jeweils ‚über‘-setzen. (S. 73–74; unsere Hervorhebung)

so können wir dies nicht nachvollziehen. Die von uns im Rahmen unserer Trans-lationsprozessforschung aufgenommenen Korpora weisen ein hochgradiges Be-wusstsein von dem auf, was die unbefangenen Informanten als „Atmosphäre“des Textes bezeichnen18, womit sie einen impliziten Sinn bezeichnen, der sichnicht an einem bestimmten Ausdruck festmachen lässt, sondern den ganzen Textdurchwirkt und auf einem Netz von durch die verschiedenen Textelemente her-vorgerufenen Assoziationen beruht, wie es im vorliegenden Fall der ‚Verzweif-lung‘ gegeben ist. Im Laufe der Aushandlungen einer übersetzerischen Problem-lösung geht es den Informanten, im Rahmen unserer ethnomethodologischenGesprächsanalyse, um die „Kristallisierung“ und „Kondensierung“ dieser an ver-schiedenen Textmerkmalen festzustellenden „Atmosphäre“ in einem Wort bzw.Syntagma. Dies in einem Zusammenwirken von bottom up und top down Elemen-

18 Auch der vorliegende Text spricht ja von einer „‚gefühlten‘ Atmosphäre“ (69).

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ten, die zu einer kreativen Lösung führen. Manche Texte erzwingen geradezuderartige Lösungen, wie in Bǎlǎcescu/Stefanink 2006, 2008 aufgezeigt. DieserProzess ist der Verfasserin sicher bekannt, der soeben zitierte Textausschnitt,könnte den naiven Leser jedoch leicht zu einer allzu starken Fixierung auf dasÜbersetzen vonWörtern verleiten.

Schlussbemerkung: Erfahrungswerte und Perspektiven.

In den Jahren 2000–2003 hatte uns eine Gruppe von korsischen Übersetzernkontaktiert, die unter dem Namen „Génération 70“ aus romanischen Sprachen insKorsische übersetzte, um aus sprachpolitischen Gründen die Literaturfähigkeitdes Korsischen nachzuweisen. Sie bestand aus Dichtern, Schriftstellern, Univer-sitätsprofessoren, Linguisten, von denen keiner eine Ausbildung zum Übersetzerhatte. Sie suchten händeringend nach einer theoretischen Legitimierung für ihreübersetzerische Tätigkeit und waren vom Kontakt mit den gängigen Theorien biszur Aggressivität enttäuscht. Dies kam in Äußerungen wie „L’heure n’est plusaux théories“ (Durazzo 2003:188), „Non esiste, né mai esisterà, una scienza dellatraduzione“ (Coco 2003:133) zum Ausdruck. Sie kamen zu einer äußerst theorie-feindlichen Einstellung19, versuchten aber dennoch immer wieder, ihre häufigkreativen übersetzerischen Entscheidungen zu begründen, meist mit naiven lin-guistischen, etymologisierenden Argumentationen, die bei Ihnen das Gefühl des„Verrats“ am Original nicht verstummen lassen konnte, wie es z. B. in ThiersBeitrag „L’écart parfait“ (2003) zum Ausdruck kommt. Ihnen sollte man die imvorliegenden Band präkonisierte algorithmisierende Vorgehensweise nicht zu-muten. Diesen Adressaten mussten wir eine etwas praxisfreundlichere Vor-gehensweise anbieten, die auch einen Platz für Kreativität offen ließ. Mit derDarstellung des hermeneutischen Ansatzes konnten wir das Vertrauen in dieTheorie wieder herstellen (s. Bǎlǎcescu/Stefanink 2003).

Man kann sich aber vorstellen, dass zur Ausbildung von Übersetzern dieAuseinandersetzung mit dieser Methode herangezogen werden könnte, sie zeigtnämlich anhand der synchron-optischen Netzwerke sehr gut auf, welche Fak-toren und Elemente bei der Sinnbildung impliziert sind und beim Übersetzenberücksichtigt werden müssen. Allerdings sollte vom vorgegebenen imperativen

19 So schreibt Coco: « Io non possiedo teorie e tanto meno ricette sul tradurre » (Coco 2003:132);allein das Wort „traductologia“ ruft bei Coco heftige Abneigung hervor: « Un termine che, a partel’orridezza della parola, mi è completamente estraneo » (Coco 2003:132). Dies nachdem er sichmit den Theorien von Newmark auseinandergesetzt hatte, ein im Vergleich zu Gerzymischziemlich harmloser Vertreter der Branche.

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Handlungsschema abgesehen werden und mit dem holistischen Aspekt als Erstesan den Text herangegangen werden. Grundsätzlich scheint uns aber dieser An-satz insbesondere durch die Erstellung eines Tertium comparationis in der Über-setzungskritik einsetzbar.

Nachdem wir uns sehr viel Mühe gegeben haben, um in einer empathischenLektüre dem Anliegen der vorliegenden Publikation gerecht zu werden und dabeizur Erkenntnis gekommen sind, dass im Denken der Vertreter der dreistufigenMethode, im Vergleich zu früheren Publikationen, eine Schwerpunktverlagerungauf die Betonung der „Subjektivität“ im übersetzerischen Handeln und der damitverbundenen „Sinngebung“ stattgefunden hat, welche letztendlich nur vor demHintergrund einer „holistischen“ Textlektüre erfolgen kann, wäre es sinnvoll,wenn sich die Vertreter des vorliegenden Ansatzes ebenso empathisch mit herme-neutischen Texten20 befassen würden, da es mehr Annäherungspunkte gibt alsvon Gerzymisch in der zitierten Passage bzgl. des Vergleichs mit dem hermeneu-tischen Ansatz vermutet wird, zumal sich einige Vertreter des hermeneutischenAnsatzes im Sinne seiner „Verwissenschaftlichung“ (s. Cercel 2013:122–149) aufneuere Erkenntnisse der Kognitionswissenschaften stützen (s. Cercel 2013:130–145) und so überzeugend den Vorwurf vorwissenschaftlichen Denkens, oder gardes „Mystizimus“ entkräften, den sich die Hermeneutiker seitens der „incompre-hensive“ gefallen lassen mussten, welche den erkenntnistheoretischen Wert vonMetaphern (noch) nicht erkannt haben21. Eine derartige Zusammenarbeit wäre imDienste einer gemeinsamen praxisnahen Theorie, die dem Übersetzer nicht„Handlungsanweisungen“, sondern vielmehr Entscheidungskriterien in die Handgeben würde. Sonst riskiert man Abwehrreaktionen, wie sie die oben erwähntenkorsischen Übersetzer gezeigt haben, nachdem sie sich die Hörner an einigenTheorien abgestoßen hatten: „Certo a poco servono le varie teorie sulla traduzio-ne. È altrettanto assurdo prescrivere il modo di tradurre, come dire al poeta comefare poesia“. (Coco 2003:134). Eine derartig dezidiertere Annäherung an herme-neutisches Gedankengut, unter Verzicht auf den für Praktiker etwas abstoßendenformalisierenden Teil, wäre sicher im Sinne eines Fortschritts in der Praxisorien-tiertheit gemeinsamen übersetzungtheoretischen Denkens, die gestatten würde,einige Praktiker als neu-motivierte Lerner da abzuholen, wo sie stehen, wie eseiner lernerzentrierten Didaktik angemessen ist.

20 Einen umfassenden Überblick, der auf die feinen Unterschiede zwischen den verschiedenenhermeneutischen Ansätzen und auf die neuesten Entwicklungstendenzen hinweist gibt Cercel(2013), s. auch Stefanink/Bǎlǎcescu 2013.21 Dies leider trotz neuerer erkenntnistheoretischer Erkenntnisse in den Kognitionswissenschaf-ten!

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Zu diesem Zweck könnte gemeinsam über praxisnähere Forschungsmetho-den nachgedacht werden, wie z. B. Methoden der Translationsprozessforschung22,sowie über die Integration neuerer kognitionswissenschaftlicher Erkenntnisse23 indie Erforschung des Übersetzungsprozesses. Desgleichen müsste wohl explizitdie Rolle der Intuition erörtert werden, an die der Praktiker ständig appelliert,sowie der Platz der Kreativität, die ebenfalls zum täglichen Brot des Übersetzersgehört, dies vor dem Hintergrund der gemeinsamen grundlegenden Erkenntnisder Subjektivität übersetzerischen Handelns, welche ein neues Evaluationskrite-rium erfordert, das sowohl in der MuTra-Schule als auch im hermeneutischenAnsatz als in der Rückführung eines konstruierten Sinns auf sprachliche Mani-festationen dieses Sinns im Text konzipiert wird, auch wenn die Sinnkonstruktionanders verläuft. Wir kommen darauf zu sprechen, weil Gerzymisch sich explizitvon der Hermeneutik global distanziert, offenbar in Unkenntnis ihrer neuerenEntwicklung und der verschiedenen Ansätze. Vielleicht ist es an der Zeit, dass dieKommunikationswissenschaftler etwas intensiver kommunizieren!

Zitierte Literatur:

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22 Wir haben mit der ethnomethodologischen Konversationsanalyse interessante aus der über-setzerischen Praxis kommende Ergebnisse erzielt.23 Unsere konversationsanalytischen Korpora bestätigen z. B. die kognitivistischen Erkenntnisseaus der kognitivistischen Assoziationsforschung.

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Stefanink, Bernd/Bǎlǎcescu, Ioana (2013): Rezension von Larisa Cercel: Übersetzungshermeneu-tik Historische und systematische Grundlegung. Hermeneutik und Kreativität, Bd. 1, St. Ing-bert: Röhrig, Lebende Sprachen, 393–396.

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Thiers, Ghjacumu (2003): “L’écart parfait.” Thiers (Hg.) (2003): 363–372.Thiers, Ghjacumu (Hg.) (2003): Baratti. Commentaires et réflexions sur la traduction de la poésie.

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derung/mutra-international-phd-school.html (zuletzt am 1.1.2014 befragt)

Ioana Bălăcescu: Universitatea din Craiova, 020771 Bucureşti, Str. Spătarului 1, Rumänien,E-Mail: [email protected] Stefanink: Babeş Bolyai University Cluj-Napoca/Klausenburg, Carl-von-Ossietzkystr. 11,33615 Bielefeld, Deutschland, E-Mail: [email protected]

Rezension 207

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