Prophetie und Wunderzeichendeutung in der Reformation und im frühneuzeitlichen Luthertum

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Thomas-Müntzer-Gesellschaft e. V. Veröffentlichungen Nr. 16 Thomas-Müntzer-Gesellschaft e. V. Mühlhausen 2011 James M. Stayer und Hartmut Kühne Endzeiterwartung bei Thomas Müntzer und im frühen Luthertum Zwei Beiträge

Transcript of Prophetie und Wunderzeichendeutung in der Reformation und im frühneuzeitlichen Luthertum

Thomas-Müntzer-Gesellschaft e. V.Veröffentlichungen Nr. 16

Thomas-Müntzer-Gesellschaft e. V.Mühlhausen 2011

James M. Stayer und Hartmut Kühne

Endzeiterwartung bei Thomas Müntzer und im frühen Luthertum

Zwei Beiträge

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Hartmut KühneProphetie und Wunderzeichendeutung

in der Reformation und im frühneuzeitlichen LuthertumBeobachtungen zu wenig beachteten Zusammenhängen

Thomas Müntzer hat bekanntlich in seiner Predigt vor der Schlacht bei Fran-kenhausen eine himmlische Erscheinung in Form eines Regenbogens als Zeichen Gottes gedeutet. Dies wird in der Forschung zur Apokalyptik Müntzers zwar gelegentlich erwähnt, aber kaum gewürdigt. Der Vorstand der Müntzergesell-schaft sah es deshalb als sinnvoll an, als Ergänzung zu den theologiegeschicht-lichen Erwägungen den Blick auf jene prophetischen und apokalyptischen Phä-nomene zu lenken, die Müntzer mit diesen für die Zeit typischen Erscheinungen verbinden. Ich bin deshalb gebeten worden, über diese bisher wenig beachteten ‚prophetischen‘ bzw. ‚apokalyptischen‘ Momente aus meinen Forschungen zur konfessionellen Kultur des frühneuzeitlichen Luthertums zu berichten. Wer sich diese Aufgabe stellt, muss sich im Klaren darüber sein, dass diese kul-turgeschichtliche Sicht schwer mit den traditionellen Mustern der Müntzerfor-schung, aber auch denen der Reformationsgeschichte überhaupt, in Einklang zu bringen ist. Denn was hier vorzuführen ist, liegt quer zu theologiegeschichtlichen Argumentationen und geistesgeschichtlichen Diskursen, in denen das Denken und Leben historischer Personen in die großen Linien der Ideenbildungen und Lehr-traditionen eingepasst werden. Dies soll keineswegs die Verdienste der Müntzer-forschung der letzten Jahrzehnte schmälern, denn nur die intensive Exegese und das sorgfältige Einfühlen in die meist komplizierten Texte Müntzers hat es ermög-licht, den Theologen hinter dem vermeintlichen Aufrührer und Sozialrevolutionär wieder zu entdecken. Mir geht es darum, die Perspektive und das Beobachtungs-instrument zu wechseln. An Stelle des mikroskopischen Blicks auf Prophetie und Apokalyptik in den Müntzer-Texten sollen diese Phänomene vor das Panorama der frühneuzeitlichen Frömmigkeitsgeschichte gestellt werden. Bevor aus diesem Panoramabild exemplarische Details vorgestellt werden, ist darauf aufmerksam zu machen, dass der Blick auf das Phänomen der propheti-schen Botschaften und eschatologischen Zeichendeutung im frühneuzeitlichen Protestantismus durch ein schwerwiegendes Vorurteil verstellt ist. Danach gab der reformatorische Aufbruch zwar Anlass, die Frage nach der Art und Wei-se, wie sich Gott dem Glaubenden offenbare, unterschiedlich zu beantworten. Aber nach einer Klärungsphase, die besonders durch die Unruhen des Jahres 1525 notwendig wurde, setzte sich in der entstehenden lutherischen Konfessi-onskirche die Vorstellung durch, dass sich Gott ausschließlich in der Heiligen Schrift und deren Auslegung in der Predigt vernehmbar mache. Wer sich auf

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anders geartete Formen der göttlichen Offenbarung berief, wurde als „Schwär-mer“ aus dem Mainstream der kirchlichen Frömmigkeit ausgeschlossen. Auf diese Weise traten die „Schwarmgeister“, seien sie nun mystisch, prophetisch, endzeitlich-apokalyptisch oder noch anders geprägt, der Konfessionskirche ge-genüber, in der die Offenbarung Gottes dem Kirchenvolk durch professionelle, universitär gebildete Theologen ausgelegt wird. Diese Sicht vereinfacht aber den historischen Sachverhalt nicht nur, sondern verkennt grundlegende Tatsachen der historischen Realität. In den unterschiedlichsten literarischen Texten, in Flugschriften, Predigten, Chroniken, autobiografischen Aufzeichnungen etc., die in den lutherischen Gebieten im 16. und im 17. Jahrhundert verfasst und ver-breitet wurden, wird nämlich immer wieder auf aktuelle Offenbarungen Gottes hingewiesen, die meist eine eschatologische Interpretation erfuhren. Diese ma-nifeste Schicht prophetischer Weissagung und eschatologischer Zeichendeutung soll im Folgenden sichtbar gemacht werden, indem ich drei Thesen formuliere, die exemplarisch erläutert und begründet werden.

1. TheseAuch nach der Krise des reformatorischen Aufbruchs im Jahre 1525 ist das prophe-tische Element in den lutherischen Territorien bis zum Ende des 17. Jahrhunderts erhalten geblieben.

Am 1. September 1585 erschien vor den Toren der Stadt Stettin ein „Prophet“ mit langem wallendem Haar; er trug ein blankes Schwert in der Hand und predigte mit lauter Stimme, so dass „vast alles Volck auß der Statt ihme zugelauffen/ dis groß wunder zu sehen/ vnd sein predigt anzuho(e)ren“.1 Er verkündete, dass Gott noch zwei Jahre lang die Möglichkeit zur Buße anbiete, weshalb er von Gott gesandt worden sei. Aber im Jahre 1587 werde ein weltweites Sterben über die Welt kommen. Danach würde der polnische König mit dem Papst und den Türken Deutschland überfallen und ein unvorstellbares Blutvergießen anrichten. Zuletzt werde Gott aber einen unbekannten Helden erwecken, der mit „geringem Volck“ die antichristliche Allianz „vertilgen/ zerschleißen und zerschmettern“2 werde. All dieses solle noch vor dem Jahre 1590 geschehen. Dieser propheti-

1 Zwo warhafftige Propheceyungen || von zuku(e)nfftigen dingen.|| Die erste/ von einem newen Prophe=||ten/ Welcher zu Stettin in Pomern/ deß ver=||floßnen 1585. Jars/ den ersten Septem=||bris erschienen.|| Die Andere || Von einem Fewrigẽ Sternen/ welcher in Cala=||bria gesehen wordẽ/ vñ desselbigen bedeutung/ was sich vn||gefabrlich von diser jetzigen zeit an/ biß auff das 1587.|| vnd 1588. Jar zutragen vnd verlauffen soll.|| ... ||, [s.l.]1586 [VD 16 V 2675], das Zitat hier Bl. A2r.

2 Ebenda, Bl. A3r.

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sche Auftritt wurde durch mindestens vier Drucke weit über Pommern hinaus bekannt gemacht.3 Allerdings ist die Geschichtsschreibung der Person dieses Propheten und seinen weiteren Wirkungen bisher nicht nachgegangen.4 Weniger dramatisch vollzog sich im Sommer 1614 das Auftreten eines Knechtes Andreas aus dem Spreewald, der in Lübbenau seine Offenbarungen verkündete.5 Er berichtete von Gesprächen, die er mit Christus auf der Heide führte. Dabei sei er von Christus beauftragt worden, die Gutsherren zur Beachtung der sonntäglichen Arbeitsruhe aufzufordern, die Knechte zu fleißigem Kirchgang und die Obrigkeit zur Sorge um niedrige Lebensmittelpreise; die kurfürstlichen Amtleute sollten beim Brandenburger Kurfürsten und dem Kaiser dafür eintreten, dass die unselige Ka-lenderspaltung in Folge der gregorianischen Kalenderreform aufhören möge. Nach mehreren Auftritten des Knechtes, der nach seinen wiederholten Zwiegesprächen mit Christus immer neue Anweisungen zu verkünden hatte, verliert sich seine Spur, ohne dass es Hinweise für eine obrigkeitliche Reglementierung gibt. Einen im Hinblick auf seine prophetische Berufung ganz ähnlichen Fall stellt der Weingärtner Hans Keil dar, der 1648 im Württembergischen Gerlingen mit Bußpredigten auftrat, sich auf die Berufung durch einen Engel berief und die Autorität seiner Predigt durch Blutwunder in seinem Weinberg unterstrich. In

3 Neben der in Anm. 1 zitierten Flugschrift erschien wahrscheinlich in Augsburg 1585 ein Einblattdruck: Warhafft Zeitung auß Stettin in Pomern / Von einem || newen Propheten welcher sich den ersten Herbstmonat diß 1585. Jars / erzeigt hat. Das einzige bekannte Blatt enthält die Züricher Wickiana-Sammlung, vgl. Wolfang Harms und Michael Schilling: Die Wickiana. Die Sammlung der Zentralbibliothek Zürich, Teil 2: Die Wickiana II (1570-1588), Tübingen 2005, S. 334f, Nr. VII, 166. Von den Herausgebern wird auf eine Variante des Einblattdruckes in der Staatsbibliothek München hingewiesen. Eine 1586 angeblich in Hof gedruckte Flugschrift, die u.a. mitteilt, dass ein Leonhardt Roth „von Dantzka“ der Urheber des ersten Druckes sei, ist gegenwärtig nur durch die Wiedergabe in A. Mintzel: Die Stadt Hof in der Pressegeschichte des 16., 17. und 18. Jahrhunderts, Hof 1979, S. 50-61, greifbar.

4 Zum historischen Wissensstand vgl. Harms und Schilling (wie Anm. 3), S. 334. Die hier zu findende Angabe, der Prophet hätte in der Chronistik keine Spuren hinterlassen, ist falsch. Sein Auftritt wird erwähnt von Daniel Cramer: Das Große Pomrische Kirchen-Chronicon […], Stettin 1628 [ND. Hildesheim u. a. 2009], 4. Teil, S. 30. Cramer kom-mentiert die Predigt des Propheten: „Der außgang aber hat es bezeuget/ das er gelauffen vnd geweissaget hat/ ehe er ist gesand worden.“

5 Otto Tschirch: Ein Niederlausitzer Geisterseher, in: Niederlausitzer Mitteilungen 4 (1896), S. 150-167, stellte den Fall im Wesentlichen auf der Grundlage eines Traktats des Bran-denburger Superintendenten Garcäus dar: Joachim Garcaeus, Christliches Bedencken und Gutachten/ Was von deme newen Propheten in dem Marggraffthumb Nieder Lausitz und Königlichem OberAmpte desselben zu halten: Sampt dem rechtem Güldenem Griffe/ die Geister zu prüfen und unterscheiden […], Wittenberg 1615.

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diesem Fall setzte aber das Eingreifen der Obrigkeit und das negative Urteil der Theologen über seine Botschaften seinem Auftreten ein Ende, da er inhaftiert und schließlich des Landes verwiesen wurde.6

Die drei angeführten Laienpropheten mögen auf den ersten Blick seltsam, jeden-falls nicht typisch für das Gesamtbild lutherischer Konfessionskirchen anmuten. Allerdings hat es in den letzten einhundert Jahren immer wieder Versuche gegeben, diese Phänomene als charakteristische Erscheinungen zu erweisen. Als erster hat m. W. Johannes Janssen in seiner Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters (Bd. 6,1888) das Auftreten neuer Propheten in den lutherischen Territorien als eine signifikante Größe darzustellen versucht, die freilich – entspre-chend seinem negativen Gesamtkonzept der historischen Folgen der Reformati-on – als eine mentale Verirrung des späten 16. und des 17. Jahrhunderts beurteilt werden müsse.7 Die entsprechenden Texte wurden dem Kapitel „Wunder- und Schauerliteratur“ zugeordnet; nach Janssen belegen diese literarischen Neuheiten, dass „im öffentlichen Leben kein fester Halt mehr vorhanden war“ und „man sich in eine Welt des Wahnes und des Truges hineingelebt“ hatte.8 In einem ganz anderen Kontext verwies der Volkskundler Will-Erich Peuckert auf die prophetischen Gestalten der frühen Neuzeit. Als Ergänzung zu seinem Artikel „Prophet, Prophetie“ im Handbuch von Bächthold-Stäubli9 fasste er im Nachtragsband desselben Werkes unter dem Titel „Propheten, deutsche“ Notizen zu knapp 60 Propheten und Prophetinnen zusammen, die überwiegend dem 16.

6 Der Fall Hans Keil ist wahrscheinlich die besterforschte Episode aus der Geschichte des früh-neuzeitlichen Prophetismus im Luthertum. Eine ereignisgeschichtliche Darstellung erschien schon vor einem Jahrhundert: [Hermann] Dreher: Hans Keil, der „Prophet“, in: Blätter für Württembergische Kirchengeschichte 8 (1904), S. 34-61. In sozialgeschichtlicher Perspek-tive wurde der Fall untersucht von David Warren Sabean: Ein Prophet im Dreißigjährigen Krieg: Buße als soziale Metapher, in: Ders. Das zweischneidige Schwert - Herrschaft und Widerspruch im Württemberg der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1990, S. 77-112. - Norbert Haag: Frömmigkeit und sozialer Protest: Hans Keil, der Prophet von Gerlingen, in: Zeit-schrift für Württembergische Landesgeschichte 48 (1989), S. 127-142. Eine Untersuchung der Botschaft Keils im Kontext der zeitgenössischen Predigtliteratur findet sich bei Sabine Holtz: Theologie und Alltag. Lehre und Leben in den Predigten der Tübinger Theologen 1550-1750 (Spätmittelalter und Reformation, Neue Reihe 3), Tübingen 1993, S. 297-306.

7 Johannes Janssen: Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters, er-gänzt und herausgegeben von Ludwig Pastor, Bd. 6: Culturzustände des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges, 12. Aufl., Freiburg i. B. 1888, S. 431f.

8 Ebenda, S. 409.9 Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens, hg. von Hanns Bächthold-Stäubli, Bd. 7,

Berlin – Leipzig 1935/36, Sp. 338-366.

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und 17. Jahrhundert angehörten.10 Dieser substantielle Hinweis auf eine weithin unbeachtete Form christlicher Frömmigkeit blieb aber von der Forschung ebenso unbeachtet wie ein weiterer Aufsatz Peuckerts, in dem er auf dem Hintergrund der damaligen theologischen Forschung die frühneuzeitlichen Propheten mit den Prophetengestalten des Alten Testamentes verglichen hatte.11

Auf einer weitaus breiteren Grundlage hat sich der Volkskundler Jürgen Beyer in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit dem Phänomen der Prophetie im frühneuzeitlichen Luthertum beschäftigt. Für die Zeit zwischen 1550 und 1700 konnte er mehr als 200 Laien in den lutherischen Territorien des Reiches und in Skandinavien ermitteln, die mit einer prophetischen Botschaft an die Öffentlich-keit traten.12 Schon diese Zahl zeigt, dass es sich bei den Propheten nicht um ein Randphänomen handelt. Auch Thomas Klingebiel spricht in einem summarischen Aufsatz über Apokalyptik, Prodigienglaube und Prophetie von einem „gewalti-gen Aufschwung“ der Prophetie im „lutherischen Protestantismus des 16. und 17. Jahrhunderts“.13 Die Laienpropheten sollten als konstitutives Element für die Re-ligionsgeschichte des frühneuzeitlichen Luthertums begriffen werden. Sie erregten mit ihrem Auftreten und ihren Botschaften meist großes Aufsehen und fanden in den lutherischen Territorien Resonanz und Zuhörerschaft. Sie verunsicherten – zumindest gelegentlich – die politischen und theologischen Eliten, ähnlich wie dies die „Zwickauer Propheten“ getan hatten, als sie um die Jahreswende 1521/22 das Wittenberger Universitätsmilieu in grundsätzliche Zweifel stürzten.14 Auch

10 Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens, hg. von Hanns Bächthold-Stäubli, Bd. 9, Berlin und Leipzig 1941, Sp. 66-99.

11 Will-Erich Peuckert: Deutsche Volkspropheten, in: Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 12 (1935), S. 35-54.

12 „Mir sind bis jetzt gut 200 Fälle aus den lutherischen Gebieten des 16. und 17. Jahrhun-derts bekannt, während es außerhalb des Luthertums Propheten dieser Art kaum gegeben zu haben scheint.“ Jürgen Beyer, Lutherische Propheten in Deutschland und Skandinavien im 16. und 17. Jahrhundert. Entstehung und Ausbreitung eines Kulturmusters zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, in: Europa in Skandinavia. Kulturelle und soziale Dialo-ge in der frühen Neuzeit, hg. von Robert Bohn, Frankfurt a.M., 1994, S. 35–56, hier S. 37. Nicht erreichbar war mir seine m. W. bisher ungedruckt gebliebene Dissertation: Ders.: Lutheran Lay Prophets (c. 1550-1700), Phil. Diss. Masch. Cambridge 2000.

13 Thomas Klingebiel: Apokalyptik, Prodigienglaube und Prophetismus im Alten Reich. Ein-führung, in: Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts, hg. von Hartmut Lehmann und Anne-Charlott Trepp, Göttingen 1999, S. 17-32, das Zitat hier S. 23. Allerdings beziehen sich die von Klingebiel beigebrachten Belege im starken Maße auf französische Calvinisten und England.

14 Vgl. zum Auftreten der „Zwickauer Propheten“ jetzt Thomas Kaufmann: Thomas Münt-zer, „Zwickauer Propheten“ und sächsische Radikale. Eine quellen- und traditionskritische

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wenn die lutherischen Laienpropheten häufig in Konflikte mit den kirchlichen und obrigkeitlichen Strukturen gerieten, repräsentierten sie kein dem lutherischen Konfessionalismus gegenüber alternatives Modell des Christ-Seins. „Die Prophe-ten wollten kirchentreue Lutheraner sein und wurden als solche – jedenfalls bis in den Dreißigjährigen Krieg hinein […] akzeptiert.“15

2. TheseDie Bereitschaft, aktuelle Ereignisse als göttliche, ‚apokalyptische‘ Kundgebungen wahrzunehmen, wurde von allen Gruppen des Luthertums geteilt.

Der bereits erwähnte Regenbogen, der sich vor der Schlacht bei Frankenhau-sen am Himmel zeigte, ist ein Bild, das sich wohl auch durch die in der DDR gepflegten Darstellungsweisen im gegenwärtigen historischen Bewusstsein fest mit dem Ereignis verbunden hat.16 Die Tatsache dieser Erscheinung ist historisch nicht strittig. Hans Hut hat sie als Augenzeuge zwei Jahre später in einem Ver-hör detailliert beschrieben als „ain regenbogen am himel umb die sonen“, der von Thomas Müntzer als Zeichen „das es got mit inen [den Aufständischen] haben wolt“ gedeutet worden sei.17 Seit der zuerst 1965 von dem Astronomen Diedrich Wattenberg vorgetragenen Deutung dieser Erscheinung als Sonnen-halo18 hat sich diese Interpretation allgemein durchgesetzt.19 Es handelte sich

Untersuchung zu einer komplexen Konstellation (Schriften der Thomas-Müntzer-Gesell-schaft 12), Mühlhausen 2010.

15 Beyer (wie Anm. 12), S. 37.16 Zur Bildtradition vgl. Rainer Wohlfeil: Bauernkrieg: Symbole der Endzeit?, in: Rottenbur-

ger Jahrbuch für Kirchengeschichte 20 (2001), S. 53-71, bes. S. 63ff.17 „Und als der Myntzer den pauren obgemelter massen drei tag nachainander gepredigt,were

allwegen ain regenbogen am himel umb die sonen gesehen worden. Denselben regenbogen der Myntzer den pauren gezaigt und si getrost und gesagt, si sehen jetzo den regenpogen, den bund und das zaichen, das es got mit inen haben wolt. Si solten nur hertzlich streiten und keck sein“.

Akten zur Geschichte des Bauernkrieges in Mitteldeutschland, unter Mitarbeit von Günther Franz hg. von Walther Peter Fuchs, Teil 2, Jena 1942, S. 897, Nr. 2102; jetzt auch bei Gottfried Seebaß: Müntzers Erbe. Werk, Leben und Theologie des Hans Hut, Gütersloh 2002, S. 538.

18 Diedrich Wattenberg: Der Regenbogen von Frankenhausen am 15. Mai 1525 im Lichte anderer Himmelserscheinungen (Archenholz-Sternwarte Berlin Treptow. Vorträge und Schriften 24), Berlin 1965.

19 Rezipiert wurde diese Deutung a. u. von Manfred Bensing: Thomas Müntzer, Leipzig 1965, S. 225; Walter Elliger: Thomas Müntzer. Leben und Werk, 3. Auflage Göttingen 1976, S. 769; Hans-Jürgen Goertz: Thomas Müntzer. Mystiker – Apokalyptiker – Revolutionär, München 1989, S. 154f.; Günter Vogler: Thomas Müntzer, Berlin 1989, S. 260.

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bei dem vermeintlichen Regenbogen über Frankenhausen also um ein optisches Phänomen, welches durch Eiskristalle in den oberen Schichten der Atmosphä-re verursacht wurde. Man könnte diese Interpretation einer Naturerscheinung als göttliches Zeichen für einen spezifischen Zug der Weltdeutung Müntzers oder aber als Durchbruch des Irrationalen angesichts einer außer Kontrolle geratenen Situation verstehen. Aber die Deutung einer Halo-Erscheinung als göttliches Zeichen ist keine Besonderheit der ‚Apokalyptik‘ Müntzers, solche Deutungen finden sich im Laufe des 16. Jahrhunderts vielmehr immer wieder. Exemplarisch soll hier ein Einblattdruck mit der Darstellung eines Halo vor-gestellt werden, der am 6. Dezember 1556 in Wittenberg zu beobachten war.20 Der bei Gabriel Schnellboltz21 in Wittenberg hergestellte Einblattdruck (Abb. 1) zeigt eine Darstellung der Stadtsilouette Wittenbergs von der Elbseite aus. Am Himmel oberhalb der Stadt ist über einer Nebelbank die Sonne sichtbar, die von zwei Nebensonnen begleitet wird, deren Schweife stark ausgebildet sind.22 Schon der Titel verweist auf die eschatologische Dimension des Vorgangs.23 Das Bild wird durch einen gereimten Text in deutscher Sprache kommentiert. Für seine Interpretation wird auf den Zeitpunkt des himmlischen Zeichens hinge-wiesen, welches sich zeigte „Als des HERRN Jhesu Christi wort// dem Volck fu(e)rgeprediget ward//Da Er selber die Kirche sein// Mit diesen worten an-redt fein:// Es werden viel Zeichen geschen// An der Sonnen/ Mond/ vnd den Stern“. Die „Zeichen an der Sonne“ waren also zeitgleich mit dem sonntägli-chen Gottesdienst und vor allem mit der Predigt zu sehen gewesen. Da am 2. Adventssonntag über die Perikope Lukas 21, 25-36 gepredigt wurde, in der von den Zeichen der Endzeit die Rede ist, legte sich ein eschatologisches Verständ-nis des über Wittenberg sichtbaren Zeichens nahe, zumal im Text des Lukase-vangeliums ausdrücklich die „Zeichen an Sonne, Mond und Sternen“ (Luk. 21, 25) erwähnt werden: „Solche vnd andere zeichen mehr // werden fu(e)r dem Ju(e)ngsten tag gehen her“. Daher wird das himmlische Zeichen in der weiteren Auslegung als extraordinäre Predigt Gottes gedeutet, die zur Buße ruft und zur Glaubensfestigkeit angesichts der Endzeit ermahnt. Diese Deutung himmli-

20 Der Einblattdruck ist wiedergegeben von Wilhelm Heß: Himmels- und Naturerscheinun-gen in Einblattdrucken des XV. bis XVIII. Jahrhunderts, Leipzig 1911, S. 9, Abb. 5.

21 Zu seiner kleinen Offizin und deren Produktion vgl. Christoph Reske: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet, Wiesbaden 2007, S. 1002, der seine Einblattdruckproduktion aber nicht berücksichtigt.

22 Vgl. die Beschreibung bei Heß (wie Anm. 20), S. 88. 23 „Dis Zeichen an der Sonnen/ist zu Wittembergk/am anndern Sontag des Aduents/gleich

vnter der Predigt des Euangelij Luci 21. Es werden Zeichen geschehen an der Sonnen/Mond/vnnd Sternen/gesehen worden/Anno 1556.“

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Abb. 1: Einblattdruck Dis Zeichen an der Sonnen/ist zu Wittembergk/am anndern Sontag des Aduents/gleich vnter der Predigt des Euangelij Luci 21. Es werden Zeichen geschehen an der Sonnen/Mond/vnnd Sternen/gesehen worden/Anno 1556, Wittenberg 1556 bei Gabriel Schnellboltz, Wiedergabe nach Wilhelm Heß: Himmels- und Naturerscheinungen in Einblattdrucken des XV. bis XVIII. Jahrhunderts, Leipzig 1911.

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scher Zeichen als eschatologischer Vorboten des Jüngsten Tages ist keineswegs singulär. Vielmehr gab die zitierte Lukas-Perikope den lutherischen Predigern alljährlich am 2. Adventssonntag dazu Anlass, Betrachtungen über die Endzeit anzustellen, und bildete zusammen mit Joel 3, 3f. („Und ich will Wunderzeichen geben am Himmel und auf Erden: Blut, Feuer und Rauchdampf; die Sonne soll in Finsternis und der Mond in Blut verwandelt werden, ehe denn der große und schreckliche Tag des HERRN kommt“) den locus classicus für die lutherische Exegese der Zeichen der Endzeit.24

Die intensive Beschäftigung mit den Zeichen an den Gestirnen im lutherischen Raum erklärt auch, warum die an sich relativ selten zu beobachtenden Halo-Phänomene25 einen außerordentlich starken Niederschlag in der Flugschrif-tenliteratur des 16. Jahrhunderts fanden. Gustav Hellmann stellte vor neunzig Jahren eine Übersicht all jener Einblattdrucke und Flugschriften des 16. Jahr-hunderts zusammen, die von „meteorologischen“ Phänomenen berichten.26 Er verzeichnete insgesamt 516 Drucke, von denen sich die größte Gruppe, nämlich 30 %, mit Halo-Erscheinungen beschäftigen.27 Das zweithäufigste ‚meteorologische‘ Phänomen, welches durch Drucke des 16. Jahrhunderts überliefert wird, sind Nordlichter, auf die 22 % der Drucke entfallen. Fast alle diese Drucke stellen die Himmelserscheinungen als göttliche Kundgebung dar. In der Literatur des Luthertums, die zwischen 1550 und 1700 verfasst wurde, finden sich aber nicht nur theologische Interpretationen himmlischer Zeichen, sondern die ganze Welt ist angefüllt mit göttlichen Offenbarungen. So wurden tierische und menschliche Missgeburten, blutende Gewässer und Lebensmittel, Blut- und Getreideregen, leuchtende Bilder am Nachthimmel oder weinende und schwitzende Lutherbilder immer wieder als Vorzeichen des Jüngsten Tages und Kundgebungen des göttlichen Zornes gedeutet.28 Die Kenntnis dieser Literatur und das Bewusstsein für die Frömmigkeit, aus der

24 Vgl. Ernst Koch: Das konfessionelle Zeitalter – Katholizismus, Luthertum, Calvinismus (1563–1675) (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen II/8), Leipzig 2000, S. 251.

25 Vgl. Heß (wie Anm. 20), S. 87f.26 Gustav Hellmann: Die Meteorologie in den deutschen Flugschriften und Flugblättern des

16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der Meteorologie (Abhandlungen der Preu-ßischen Akademie der Wissenschaften 1921, Phys.-Math. Klasse Nr. 1), Berlin 1921.

27 Vgl. die Übersicht bei Hellmann (wie Anm. 26), S. 20. 28 Zu Blutwundern im Luthertum vgl. Hartmut Kühne: „Zufällige Begebenheiten als Wunder-

geschichten sammeln“- Über dingliche Wunderzeugnisse im Luthertum, in: Der Ganders-heimer Schatz im Vergleich, Tagungsband zur Internationalen Fachtagung 30. 9. 2010-2. 10. 2010 Bad Gandersheim, hg. von Hedwig Röckelein [in Vorbereitung].

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sie sich speiste, ging dem modernen Protestantismus seit dem 18. Jahrhundert allerdings nach und nach verloren, so dass sie leicht als ‚katholische Überreste‘ missverstanden wurden.Die moderne Beschäftigung mit der Prodigienliteratur hat der Germanist Rudolf Schenda in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts angeregt.29 In dem von dem Germanisten und Volkskundler Wolfgang Brückner herausgegebenen Sammelband Volkserzählung und Reformation (1974)30 waren diese Impulse aufgegriffen worden, ohne dass diesen wegweisenden Forschungen eine angemessene Aufmerksamkeit auch jenseits der Germanistik zu Teil wurde. Erst die Arbeiten des Historikers Hartmut Lehmann zur Krise des 17. Jahrhunderts31 haben der Prodigiendeutung als Form der ‚Krisenliteratur‘ eine gewisse Aufmerksamkeit verschafft32, wobei die zurückliegende Jahrtausendwende33 und ein allgemeines gesellschaftliches Interesse an Krisenerscheinungen34 eine Rolle spielen dürften. Mit der Untersu-chung von Volker Leppin über die lutherischen eschatologischen Flugschriften

29 Rudolf Schenda: Die französische Prodigienliteratur in der zweiten Hälfte des 16. Jahr-hunderts, München 1961. - Ders.: Die deutschen Prodigiensammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 4 (1963), Sp. 637–710. Eine re-trospektive Zusammenfassung seiner Forschung bietet: Ders., Wunder-Zeichen: Die alten Prodigien in neuen Gewändern. Eine Studie zur Geschichte eines Denkmusters, in: Fabula. Zeitschrift für Erzählforschung 38 (1997), S. 14-32.

30 Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Er-zählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus, hg. von Wolfgang Brückner, Berlin 1974.

31 Grundlegend Hartmut Lehmann: Das Zeitalter des Absolutismus. Gottesgnadentum und Kriegsnot (Christentum und Gesellschaft 9), Stuttgart 1980.

32 Hartmut Lehmann: Die Kometenflugschriften des 17. Jahrhunderts als historische Quelle, in: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland, Teil II, hg. von Wolfgang Brückner, Peter Blickle, Dieter Breuer, Wiesbaden 1985, S. 683-700. - Ders., Frömmigkeitsgeschichtliche Auswirkungen der ‚Kleinen Eiszeit’, in: Volksreli-giosität in der modernen Sozialgeschichte, hg. von Wolfgang Schieder, Göttingen 1986, S. 31–50.

33 Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhun-dert, hg. von Manfred Jakubowski-Tiessen, Hartmut Lehmann, Johannes Schilling, Rein-hart Staats (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 155), Göttingen 1999.

34 Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts, hg. von Hartmut Leh-mann und Anne-Charlott Trepp (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Ge-schichte 152), Göttingen 1999. - Kulturelle Konsequenzen der „Kleinen Eiszeit“. Cultural Consequences of the ‚Little Ice Age‘, hg. von Wolfgang Behringer, Hartmut Lehmann, Christian Pfister (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 212), Göt-tingen 2005.

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ist das Thema inzwischen auch in der Kirchengeschichte ‚angekommen‘.35 Frei-lich ist damit die tiefe Verwurzelung des Prodigienglaubens in der frühneuzeitli-chen Frömmigkeitskultur der Lutheraner noch keineswegs ausgelotet. Dennoch ist in der Forschung der letzten vier Jahrzehnte deutlich geworden, dass es sich bei der Beobachtung von Prodigien um eine spezifisch protestantische und hier wiederum besonders im Luthertum verbreitete Erscheinung handelt. Es ist daher kein Zufall, dass die erste systematische Sammlung von aktuellen Prodigien von einem Gelehrten der streng lutherischen Universität Jena stammt, nämlich von dem Mediziner Job Finzel, dessen 1556 erstmals erschienenes Wunderzeichenbuch chronologisch geordnete Nachrichten vom Jahr 1517 bis 1566 enthielt und zum Bestseller wurde.36 Auch der Zeitpunkt dieser Publikation ist von Bedeutung, denn die akute Bedrohungssituation des Protestantismus im Anschluss an die Niederla-ge im Schmalkaldischen Krieg, das sich anschließende Interim und besonders die Belagerung Magdeburgs sensibilisierten für apokalyptische Zeichen, so dass in der Mitte des 16. Jahrhunderts eine breite Welle einschlägiger Texte festzustellen ist.37 Dieser Befund darf aber nicht zu dem Schluss verleiten, dass die frühe Reforma-tion von apokalyptischen Zeichendeutungen frei gewesen sei. Die eigentümliche Verbindung von biblisch-apokalyptischer Prophetie mit Formen der heidnisch-antiken Zeichendeutung ist auch in der frühen Reformation zu beobachten. In welchem Maße die reformatorische Publizistik darin von älteren Zeitströmungen abhängig ist, stellt allerdings eine bisher ungelöste Frage dar.

3. TheseDie Verbindung von humanistischer Wunderzeichendeutung und der frühen refor-matorischen Publizistik bedarf der Klärung.

Im Frühjahr 1523 veröffentlichten Martin Luther und Philipp Melanchthon eine Flugschrift mit dem Titel Deutung der zwo greulichen Figuren, Bapstesels

35 Volker Leppin: Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpu-blizistik im deutschen Luthertum 1548-1618 (Quellen und Forschungen zur Reformati-onsgeschichte 69), Gütersloh 1999.

36 Vgl. zu seinen Wunderzeichenbüchern Heinz Schilling: Job Finzel und die Zeichen der Endzeit, in: Volkserzählung und Reformation (wie Anm. 30), S. 326-392.

37 Thomas Kaufmann: Apokalyptik und politisches Denken im lutherischen Protestantismus in der Mitte des 16. Jahrhunderts, in: Ders.: Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantis-mus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts (Spätmittelalter und Reformation 29), Tübingen 2006, S. 29-66, bes. S. 36-39. - Anja Moritz: Interim und Apokalypse. Die religiösen Vereinheitlichungsversuche Karls V. im Spiegel der magdeburgischen Publizistik 1548-1551/52 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 47), Tübingen 2010, S. 218-222.

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Abb. 2: Das Freiberger Mönchskalb aus Martin Luther – Philipp Melanchthon: Deutung der zwo greulichen Figuren, Bapstesels zu Rom und Mönch-kalbs zu Freiberg in Meissen funden, Wittenberg 1523, Wiedergabe nach Konrad Lange: Der Papstesel. Ein Beitrag zur Kultur- und Kunst-geschichte des Reformationszeitalters, Göttingen 1891.

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zu Rom und Mönchkalbs zu Freiberg in Meissen funden, die mit 17 Auflagen bereits im ersten Erscheinungsjahr ein publizistischer Erfolg wurde.38 Gegen-stand der Schrift sind zwei tierische Missgeburten. Eines der Monstren war ein tagesaktuelles Ereignis: Ein Kalb, das nach der Schlachtung einer Kuh bei Freiberg am 8. Dezember 1522 im Mutterleib entdeckt wurde und dessen Aus-sehen an einen Mönch erinnerte.39 (Abb. 2) Die zweite Missgeburt soll 1496 am Tiberufer entdeckt worden sein; die Kunde von ihr scheint 1522 in Form eines Kupferstichs des Wenzel von Olmütz über Böhmen nach Wittenberg gelangt zu sein.40 Während Melanchthon die Deutung des römischen Monstrums als „Papstesel“, d. h. als Offenbarung des Antichristen, übernahm, schrieb Luther eine Interpretation des Mönchskalbes als eines Warnzeichens Gottes für den Mönchsstand. Die Lutherforschung hat sich für diese Flugschrift wenig inte-ressiert.41 Aby Warburg behandelte die gemeinsame Monstrendeutung Luthers und Melanchthons unter dem Begriff der reformatorischen „Weissagungspo-litik“, die nach Warburgs Vermutung dazu führte, dass gelehrte Prodigiendeu-tung in den populären Diskurs eingeschleust wurde.42 Daher haben die Äuße-rungen Luthers und seines Umkreises zur Wunderzeichendeutung zumindest in der von Warburg inspirierten Kulturgeschichte immer wieder ein gewisses Interesse gefunden.43

38 WA 11, S. 357–385. Die Drucke des Jahres 1523, die z.T. auch nur eine der beiden Mons-trendeutungen enthielten, sind im VD 16 erfasst: VD 16, Nr. M 2987, L 4424, L 4426, L 4429, M 2978, M 2979, M 2980, M 2981, M 2982, M 2983, M 2984, M 2985, M 2988, M 2989, M 2990, M 2995, M 2986.

39 Vgl. Konrad Lange: Der Papstesel. Ein Beitrag zur Kultur- und Kunstgeschichte des Re-formationszeitalters, Göttingen 1891, S. 78-80.

40 Die Entwicklung des Bildthemas bis zu dem Wenzel von Olmütz zugeschriebenen Kup-ferstich stellt Lange (wie Anm. 39) ausführlich dar.

41 Vgl. etwa Martin Brecht: Martin Luther, Bd. 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521-1532, Stuttgart 1986, S. 102. Bezeichnend ist, dass die 1891 erschienene Arbeit von Lange (wie Anm. 39) noch immer die einzige ausführliche Darstellung zu dem Thema bietet.

42 Aby Warburg: Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (Sit-zungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist.-Kl. 1919, 26. Abhandlung), Heidelberg 1920, wieder abgedruckt in: Aby M. Warburg: Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hg. von Dieter Wuttke (Saecula spiritalia 1), Baden-Baden 1980, S. 199-303, zur Monstrendeutung im Umkreis der frühen Reformation hier bes. S. 244ff.

43 Vgl. etwa Paola Zambelli: Der Himmel über Wittenberg: Luther, Melanchthon und ande-re Beobachter von Kometen, in: Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento 20 (1994), S. 39-62. - Michael Weichenhan: Luther und die Zeichen des Himmels, in: Luther und das monastische Erbe, hg. von Christoph Bultmann , Volker Leppin, Andreas Lindner (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 39), Tübingen 2007, S. 57-91.

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Auch wenn Luther die Geburt des Mönchskalbs nicht als apokalyptisches Zeichen versteht, weitet er in der Einleitung zu seiner Deutung den Blick über das einzelne Wunderzeichen hinaus und spricht von einer aktuellen Häufung solcher Ereignisse, was auf ihre endzeitliche Bedeutung verweise.44 Konkret nennt Luther in diesem Zusammenhang eine weitere aktuelle Missgeburt, das „Pfaffenkalb“ in Landsberg.45 Diese Monstren zeigen nach Luther, Gott „wil diß jar nur mit geystlichen heili-gen wunderzeichen faren, damitt er yhe sich mercken lest, das er des geistlichen stands sonderlich acht hatt und ettwas ym synn hatt auff die selben“.46 Jenseits dieser Flugschrift finden sich in ihrem zeitlichen Kontext zahlreiche Hinweise, dass Luther aufmerksam himmlische Zeichen registrierte. Während Luther an dem Text des Mönchskalbs arbeitete, äußerte er gegenüber Georg Spalatin im Zusammenhang mit einem Erdbeben in Spanien den Eindruck: „die monströsen Erscheinungen nehmen täglich zu“.47 In Beziehung dazu steht auch die Erwähnung eines in Harlem gestrandeten Walfischs, den Luther in einem Brief an Paul Speratus vom 13. Juni 1522 als Meerungeheuer bezeichnet und als Zeichen des göttlichen Zorns interpretiert.48 Schon zu Beginn des Jahres 1522 wies Luther in der Adventspostille auf eine aktuelle Häufung von Wunderzeichen hin. In der Auslegung der bereits oben angesprochenen Perikope zum zweiten Adventssonntag (Luk 21, 25-36) behauptet Luther, dass eine akute Zunahme der biblischen Zeichen zu beobachten sei: Sonnenfinsternisse49, Mondfinster-

44 „Mein wundsch und hoffnung ist, das der Jungst tag sey. Denn der zeichen bißher vil auff einander fallen und gleych alle wellt in einer grossen woge steht, Die on grossen wandel nicht kan abgehn, Datzu das Euangelische liecht so helle auffgangen, welchem alle mal groß verenderung umb der ungleubigen willen gefolget hatt.“ WA 11, S. 380.

45 Ebenda, vgl. auch die Einleitung ebenda, S. 360.46 Ebenda.47 „Monstra quottidie crebrescunt nam te audisse credo de terre motu in Hispania.“ WA Br.

3, S. 15, Nr. 571 (12. Januar 1523). Gustav Bebermeyer weist als Herausgeber darauf hin, dass Spalatin in seiner Chronik im Januar 1523 zwei Erscheinungen von Nebensonnen sowie eine Monstrengeburt in Bleddin notierte: „Ioannes de Taubenheim […] vidit mense Ianuario una cum nonnullis amicis solem mane exortum mutari in formam crucis […] Duo soles in Misnia sub mense Ianuario visi sunt, imo, ut mihi Ioannes a Taubenheim amicus scripsit, qui vidit Eylenburgo Lipsiam ad nundinas proficiscens, vidit ad Tauchum oppi-dulum ... solem orientem cum radio igneo, tandem, cum aliquandiu durasset, in cauda in crucem desinente.“ ebenda, Anm. 7.

48 „...enim apud Harlem bellua marina, quam cetum vocant, septuaginta pedum longitudine et triginta quinque latitudine. Hoc monstrum habent ex antiquis exemplis pro certo irae signo; Dominus misereatur eorum et nostri.“ WA Br. 2, Nr. 509. S. 559-562, hier S. 560.

49 „Szo haben wyr ynn kurtzen iaren ßo viel ßonnen vorlust gehabt, das ich nit acht, das tzuvor ßo viel und ßo nahe auff eynander yhe geweßen seyen.“ WA 10. I. 2., S. 99.

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nisse50, Meteoriten51, Überschwemmungen und Sturmwinde.52 Die endzeitliche Bedeutung der einzelnen Zeichen wird durch ihre Verbindung noch unterstri-chen: „Szo gehen sie doch itzt mit dem hauffen semptlich daher, und nicht sel-den, ßondernn viel und offt, denn unßer tzeytt die sihet tzugleych Sonn unnd Monscheyn vorlieren, sterne fallen, menschen bange werden, grosse wind unnd wasser braußen, und was mehr gesagt ist. Es kompt alle auff eynen hauffen.“53 Auf eine bevorstehende oder sich schon vollziehende Veränderung verweisen nach Luthers Meinung auch neuartige Wunderzeichen, die nicht im biblischen Text genannt werden, nämlich Kometen, vom Himmel fallende Kreuzzeichen und die Ausbreitung der Syphilis.54 „Solcher hauffe tzeychen will etwas grossers bringen, denn alle vornunfft denckt.“55 Ähnliche Bemerkungen über die Häu-fung himmlischer Zeichen finden sich schon in der im zweiten Halbjahr 1521 verfassten Weihnachtspostille Luthers.56 In der Adventspostille heißt es, dass die Zeichen in den letzten vier Jahren, also seit 1518, stark zugenommen hätten.57 Dagegen erwähnt Luther in seiner 1524 verfassten Einleitung zum Bericht der aus dem Kloster Helfta geflohenen Nonne Florentina von Oberweimar jene Zeichen, die Gott in den drei letzten Jahren, also ab 1521, gewirkt habe.58

50 „...unnd ditz tzeychen ist auch ynn kurtzen iarn viel mal geschehen. Ist doch eyn tzeyttlang daher schier keyn iar geweßen, es hatt entweder ßonn oder mond den scheyn vorloren, tzuweyllen beyde mitt eynander ynn eynem iar, tzuweylen eynß tzwey mal; sind das nit tzeychen, was sind denn tzeychen ?“ ebenda, S. 100.

51 „...die sterne werden fallen vom hymel; das tzeychen lest sich teglich sehen, unnd ich weyß nit, obs vor tzeytten auch ßo offt geschehen sey“ ebenda, S. 100f.

52 „Ich meyne aber, das wir ynwendig tzehen odder tzwelff iaren solch wind, solch rausschen und braußen gehabt und gehoert haben, on was noch werden will, das ich kaumet glewb, das tzuvor yhe eyn tzeyt ßo grosse unnd ßo viel wind und braußen habe erhoeret.“ ebenda, S. 104.

53 Ebenda, S. 104. 54 „…unnd newlich sind viel creutz vom hymel gefallen, und ist mit unter auch auffkomen die new

unerhoerete kranckeyt der frantzosen“ ebenda. Die Kreuzwunder bzw. Kreuzregen in den Jahren 1501-1503, bei denen Kreuzzeichen und andere Zeichen der Passion Christi auf die Kleidung fielen und z. T. auch auf der Haut erschienen, sind ein bisher unbearbeitetes Thema geblieben. Die einschlägigen Drucke, die von diesen Ereignissen berichten, verzeichnet Hellmann (wie Anm. 26), S. 32-34. Stefanie Funck (Marburg) bereitet derzeit eine Dissertation zum Thema vor.

55 Ebenda, S. 105.56 „Alßo sind diße iar daher auß der massen viel Eclipses, viel tzeychen ynn vielen landen am

hymel gesehen; denn es ist gewißlich vorhanden eyn großer wyrbell [...] gewisse tzeychen sind es, datzu sie gott geschaffen hatt, aber ungewisser artt, dauon die gauckeler tichten.“ WA 10. I. 1., S. 571.

57 WA 10. I. 2., S. 104. 58 „Got hat der selben zeichen dise drey jar wol mehr gethan, wilche zu rechter zeyt wol

sollen beschrieben werden.“ WA 15, S. 87. Zur Erwähnung der Wunderzeichen in diesem

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Diese keineswegs vollständige Zusammenstellung von Belegen soll verdeut-lichen, in welchem Maße die Wahrnehmung göttlicher Zeichen in den frühen Jahren des reformatorischen Aufbruchs auch für Luther eine Rolle spielte. Im Umfeld der frühen Reformation war es vor allem Spalatin, der besonders sensi-bel auf „wunderliche“ Weissagungen reagierte und deren Verbreitung mit seiner „Pressepolitik“ förderte, wie schon Aby Warburg feststellte.59 Schlaglichtartig macht die Luther und Spalatin gemeinsame Auffassung von der Bedeutung himmlischer Zeichen in einem Brief vom 19. März 1520 deutlich, in welchem Luther kurz zuvor sichtbare Feuererscheinungen am Himmel über Wien als Vor-zeichen seines eigenen Schicksals interpretiert.60 Die durch zahlreiche Drucke bezeugten bildhaften Nordlichter, die vom 3. bis zum 7. Januar 1520 in Wien zu sehen gewesen waren, kannte auch Spalatin, in dessen Chronik-Materialien sich eine farbige Kopie eines einschlägigen Drucks von Johann Singriener be-findet.61 Darauf wird noch zurückzukommen sein. Man könnte geneigt sein, die Belege der Sensibilität Luthers und seines Um-feldes für göttliche Vorzeichen in den frühen zwanziger Jahren des 16. Jahr-hunderts mit jener existentiellen Verunsicherung zu erklären, die sich durch den Zusammenbruch des traditionellen Autoritätengefüges durch die Causa Lutheri ergab. Nicht unwichtig ist aber, dass Luther gegenüber der immer wie-der behaupteten Konzentration der himmlischen Zeichen auf den Zeitraum 1518/1523 in einem späten Rückblick aus dem Jahr 1541 die „Wunderzeit“ auf die Regierung Kaiser Maximilians (1497-1518) ausdehnt, in der so viele Zeichen erschienen seien, wie in keinem Zeitalter zuvor.62 Mit dieser Behauptung greift Luther auf eine Wahrnehmung zurück, die sich in dieser Form m. W. erstmals in einem Flugblatt findet, das der Straßburger Humanist Sebastian Brant 1496

Zusammenhang vgl. Antje Rüttgardt: Klosteraustritte in der frühen Reformation. Studien zu Flugschriften der Jahre 1522 bis 1524, Gütersloh 2007, S. 274f.

59 Warburg (wie Anm. 42), S. 233. Zur Spalatins Interesse an Wunderzeichen vgl. Zambelli (wie Anm. 43), S. 44-55.

60 „Nouas, scilicet flammas incendiaque, fertur apud te esse visiones Vienne visas in coelo , quas opto videre & ipse. forte & mea tragedia in illis est, sicut fuit in prioribus.“ WA Br. 2, S. 72, Nr. 268. Die Deutung des letzten Abschnitts „in prioribus“ soll sich nach Klingner a.a.O., S. 96 auf den Blitzschlag bei Stotternheim beziehen.

61 Vgl. Zambelli (wie Anm. 43), S. 49, mit Anm. 26.62 „Et sub isto Maximiliano signa in coelo mirabilia et multa facta sunt, imo et in terra et in

aquis, de quibus Christus dixit: ‘Et signa magna erunt’, ita ut nullo seculo simul et plura et maiora facta legantur, Quae spem certam faciunt diem illum beatum instare brevi.“ Hinzu trat gleichzeitig auch das erste Auftauchen der Syphiliis: „Morbus novus Gallicus, alias Hispanicus cepit [...] Unum de signis Salutis magnis ante diem Extremum.“ Supputatio annorum mundi 1541, WA 53, S. 170.

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drucken ließ.63 Das in einer lateinischen und einer deutschen Fassung publizierte Flugblatt deutet eine tierische Missgeburt, die Sebastian Brant zur Begutachtung zugestellt worden war: eine Sau mit einem Kopf aber zwei Schnauzen und acht Beinen. Brants Interpretation hebt mit einem Wunderpanorama der eignen Zeit an, das sich in dem Satz „Eine solche Konzentration von Wunderzeichen gab es noch nie“64 zusammenfassen lässt. Im Gegensatz zur heutigen landläufigen Wahr-nehmung des großen Humanisten, der vor allem als Verfasser des Narrenschiffs bekannt ist, galt Sebastian Brant seinen Zeitgenossen auch als Kapazität für die Deutung göttlicher Zeichen.65 Seinen Ruf als „Erzaugur“ begründete er mit der Interpretation des 1492 bei dem elsässischen Städtchens Ensisheim niedergegan-genen Meteoriten, des sog. „Donnersteins“.66 Der Germanist Dieter Wuttke hat sich darum bemüht, diese Deutungen göttlicher Zeichen – Meteoriten, Missgebur-ten, himmlische Erscheinungen – durch Sebastian Brant verständlich zu machen. Die Apostrophierung als „Erzaugur“ des Heiligen Römischen Reiches im Zeit-alter Kaiser Maximilians verweist auf das antik-heidnische Vorbild der römischen Auguren, die den Vogelflug als Orakel deuteten. Wuttke hat aber zeigen können, dass es Brant nicht um eine Wiederherstellung, sondern um eine Überbietung der Antike ging, die möglich sei durch die „Zusammenführung von Augurenwesen,

63 Der Druck ist wiedergegeben von Paul Heitz: Flugblätter des Sebastian Brant, Straßburg 1915, Tafel 10 [deutsche Fassung], Tafel 11 [lateinische Fassung]. Zum Kontext vgl. Dieter Wuttke: Erzaugur des Heiligen Römischen Reiches: Sebastian Brant deutet siamesische Tiergeburten, in: Humanistica Lovaniensia, 43 (1994), S. 106-131, hier bes. S. 108-115.

64 Ebenda, S. 110.65 Um die Wiederentdeckung dieser Dimension im Werk Sebastian Brants hat sich vor allem

Dieter Wuttke verdient gemacht. Eine von Wuttke geplante Monografie zu dem Thema hat er nicht vorgelegt, so bleibt man auf seine einschlägigen Aufsätze angewiesen: Dieter Wuttke: Sebastian Brants Verhältnis zu Wunderdeutung und Astrologie, in: Studien zur deutschen Literatur und Sprache des Mittelalters. Festschrift für Hugo Moser zum 65. Geburtstag, hg. von Werner Besch u.a., Berlin 1974, S. 272-286. – Ders.: Wunderdeutung und Politik. Zu den Auslegungen der sogenannten Wormser Zwillinge des Jahres 1495, in: Landesgeschichte und Geistesgeschichte. Festschrift für Otto Herding zum 65. Geburtstag, hg. von Kaspar Elm, Eberhard Gönner und Eugen Hillenbrand, Stuttgart 1977, S. 217-244. – Ders.: Sebastian Brants Sintflutprognose für Februar 1524, in: Literatur, Sprache, Un-terricht. Festschrift für Jakob Lehmann zum 65. Geburtstag, hg. von Michael Krejci und Karl Schuster, Bamberg 1984, S. 41-46. Vgl. auch die Lit. In Anm. 54 und Anm. 56. Nicht erreichbar war mir Ders.: Der Erzaugur Sebastian Brant deutet Überschwemmungen, in: Margarita amicorum: studi di cultura europea per Agostino Sottili, 2. Bde., hg. von Fabio Forner u.a., Milano 2005, S. 1137-1155.

66 Vgl. Dieter Wuttke: Sebastian Brant und Maximilian I. Eine Studie zu Brants Donnerstein-Flugblatt des Jahres 1492, in: Die Humanisten in ihrer politischen und sozialen Umwelt, hg. von Otto Herding Robert Stupperich, Boppard 1976, S. 141-176.

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mythischem Sehertum, biblisch gelenkter Prophetie und Naturbeobachtung.“67 Für Brant sind biblische Prophetie und die Interpretation von Naturwundern der eigenen Zeit keine Gegensätze, sondern gehören zusammen68, denn die Er-scheinungen lassen sich nur „durch die Denkkraft des Oedipus oder den heiligen Geist des Joseph“69 angemessen begreifen. An die Seite von Sebastian Brant lie-ßen sich unschwer eine Reihe weiterer humanistisch gebildeter Autoren der Zeit um 1500 stellen, die in ähnlicher Weise aufmerksam besondere Naturphänomene beobachteten und sie als göttliche Vorzeichen zu interpretieren versuchten. Wie diese Literatur aber in der Gesellschaft der damaligen Zeit kursierte und was sie bei den Lesern bewirkte, ist noch weithin unbekannt. Deshalb will ich an dieser Stelle auf eine bisher wenig beachtete mitteldeutsche Bibliothek hinweisen, die zur Verbreitung dieser Literatur interessante Auskünfte gibt und zudem im un-mittelbaren Umfeld Thomas Müntzers verortet ist.

ExkursEine mitteldeutsche Klosterbibliothek als exemplarischer Fall für die Verbreitung ‚apokalyptischer‘ Einblattdrucke

Die Kirchenbibliothek der St.-Blasii-Kirche von Nordhausen bewahrt bis heute einen großen Teil der Klosterbibliothek des Servitenklosters Himmelgarten, das unmittelbar vor den Toren Nordhausens lag.70 Der Bestand der Klosterbiblio-thek stammt im Wesentlichen aus dem letzten Jahrzehnt des 15. und dem ersten Viertel des 16. Jahrhunderts.71 Ein großer Teil dieser Bände tragen einen Proku-ratorenvermerk von der Hand Johannes Huters (Pileatoris), des letzten Priors

67 Wuttke (wie Anm. 53), S. 107. 68 Vgl. Wuttke: Sebastian Brants Verhältnis zu Wunderdeutung (wie Anm. 65), S. 276f.69 Wuttke (wie Anm. 53), S. 117.70 Die Geschichte des Klosters schrieb Karl Meyer: Urkundliche Geschichte des Augusti-

ner-Marienknechts-Klosters Himmelgarten, Nordhausen 1892. Ich danke Christian Popp (Göttingen) für die Herstellung einer digitalen Kopie des seltenen Druckes aus den Be-ständen der Universitätsbibliothek Göttingen.

71 Ein Katalog des Bibliotheksbestandes mit einer geschichtlichen Einleitung verfasste Richard Rackwitz: Nachrichten über die St. Blasii-Bibliothek in Nordhausen und das Kloster Himmelgarten bei Nordhausen, dem die Bibliothek entstammt, Nordhausen 1883. Zu Geschichte und Bestand vgl. auch Hannelore Götting: Geschichte und Bedeutung der Kirchenbibliothek St. Blasii in Nordhausen, in: Kirchenbibliotheken als Forschungsauf-gabe, hg. von Uwe Czubatynski u.a., Neustadt a. d. Aisch 1992, S. 21-34. - Stephan Lange: Kirchenbibliothek St. Blasii Nordhausen (unter „Lutherstadt Wittenberg“), in: Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland, Bd. 22: Sachsen-Anhalt, hg. von Friedhilde Krause, Hildesheim 2000, S. 186f.

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des Klosters.72 Huter gehört bildungsgeschichtlich in den Kontext der Erfurter Universität und war eine typische Gestalt des Klosterhumanismus. Die biografi-schen Kenntnisse seiner Person sind noch recht beschränkt; eine Beschäftigung mit seinem „Tagebuch“ wäre sicher biografisch aufschlussreich und könnte mög-licherweise auch für die Kirchen- und Regionalgeschichte wichtiges Material zu Tage fördern, aber die ursprünglich zum Bestand der Blasii-Bibliothek gehörige Handschrift ist inzwischen in unbekannte private Hände gelangt.73 Nach einem Eintrag dieses Tagebuchs trat Huter spätestens 1485 in das Kloster ein.74 Er wurde 1489 als „frater Johannes Huter de Northusen“ an der Universität Erfurt immatrikuliert und dort 1495 zum Magister artium promoviert. Spätestens 1514 erscheint er dort als Doktor der Theologie. Im Jahr 1500 wird er als Ordenspro-vinzial genannt; spätestens seit 1510 war er Prior des Himmelgartenklosters. Der humanistisch gebildete Huter bereicherte – wohl besonders durch seine guten Kontakte nach Erfurt - die Bibliothek seines Klosters. Die letzten Neuzugänge mit seinem Prokuratorenvermerk fallen in das Jahr 1527. Wahrscheinlich sorgte er auch dafür, dass die Bibliothek in eine Niederlassung des Klosters in Nord-hausen gebracht wurde, als die Servitenmönche 1525 vor den aufständischen Bauern flüchteten. Das von den Bauern geplünderte Kloster ging rasch ein; die herrenlose Bibliothek ließ der Stadtrat 1552 in die Nordhäuser Pfarrkirche S. Blasii bringen, wo sie den Grundstock der Kirchenbibliothek bildete. Neben dem eigentlichen Bestand von 351 Bänden enthielt die Bibliothek, als sie 1883 von dem Gymnasiallehrer Richard Rackwitz katalogisiert wurde, auch 12 Ein-blattdrucke.75 Von diesen Einblattdrucken sind heute nur noch jene fünf vorhan-den, die in Buchdeckel eingeklebt waren.76 Durch die Angaben von Rackwitz lassen

72 Zu den biografischen Daten Huters vgl. Ernst Koch: Geschichte der Reformation in der Reichsstadt Nordhausen am Harz, Nordhausen 2010, S. 22-25. Das Zeugnis über die Hinwendung Huters zur Reformation beruht auf dem Missverständnis einer Nachricht, die Cyriakus Spangenberg: Ander Teil des Adelspiegels […], Schmalkalden 1594, Bl. 43v überliefert, durch Ernst Günter Förstemann: Kleine Schriften zur Geschichte der Stadt Nordhausen, Bd. 1, Nordhausen 1855, S. 25.

73 Das Tagebuch verzeichnet Rackwitz (wie Anm. 71), S. 37, Nr. XIV. Für die Auskunft zum Verbleib der Handschrift danke ich Stefan Lange (Wittenberg).

74 Vgl. Meyer (wie Anm. 70), S. 40.75 Rackwitz (wie Anm. 69), S. 37-39. Rackwitz listet nur 11 „Flugblätter“ auf, ein xylographi-

scher Einblattdruck mit den Patronen des Servitenordens wird von ihm an anderer Stelle (ebenda, S. 39 zu A 69) genannt.

76 Es handelt sich um die Nr. 1, 2, 4, 5 und 9 nach Rackwitz (wie Anm. 69), S. 37-39. Das Verschwinden der übrigen Blätter ließ sich bisher nicht aufklären. Konrad von Rabenau publizierte 1983 das einzige bekannte Blatt mit der lateinischen Fassung von Cranachs „Fuhrwagen“ aus dem Bestand der Blasii-Bibliothek, vgl. Kunst der Reformationszeit

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sich aber auch die inzwischen verschollenen Drucke relativ sicher rekonstruieren. Hinzu kommt ein weiterer Einblattdruck, der erst im September 2011, unmittelbar vor Abschluss dieses Textes, in einem von Rackwitz nicht berücksichtigten Band entdeckt wurde.77 Fast zwei Drittel, nämlich acht Einblattdrucke, beschäftigen sich mit Monstrengeburten, himmlischen Zeichen und ähnlichen Prodigien, vier Dru-cke handeln von Wallfahrten und Heiligenkult78 und ein Druck gibt eine Erfurter Grabinschrift mit lateinischen Versen von Nikolaus Marschalk wider.79 Die acht Wunderzeichen-Drucke sollen im Folgenden knapp vorgestellt werden. Drei von ihnen behandeln Missgeburten. Der älteste Druck stammt aus dem Jahre 1495, wurde in Erfurt hergestellt und stellt einen an den Köpfen zusam-mengewachsenen ‚siamesischen‘ Zwilling vor (Abb. 3). Diese Wundergeburt fand im Umkreis des Wormser Reichstages von 1495 statt und sorgte schon dadurch für großes publizistisches Aufsehen. Nachrichten von dieser Geburt wurden in zahlreichen Drucken popularisiert. Auch Sebastian Brant deutete die Geburt als himmlisches Zeichen, um die Reichsreform weiter voranzutreiben und die un-glückliche Spaltung zwischen Kaiser und Reich zu heilen.80 Der zweite Nord-häuser Druck zeigt die Darstellung eines 1512 angeblich in Ravenna geborenen Monstrums. Er gehört zu einer Serie ähnlicher Drucke, die 1512 im Reich ver-breitet wurden. 81 Der historische Kern dieser Wundergeburt ist allerdings his-

[Staatliche Museen zu Berlin, Hauptstadt der DDR, Ausstellung im Alten Museum vom 26. Aug. bis 13. Nov. 1983], Berlin 1983, S. 356f, Nr. E 51. Aus dem Artikel geht nicht hervor, wie der Einblattdruck in der Bibliothek gefunden wurde und ob es sich um einen Makulaturfund handelt.

77 Ich habe Hans Losche (Nordhausen) sehr für seine Mittteilung vom 15. September 2011 über den Einblattdruck zu danken, der sich im vorderen Buchdeckel des Band mit der Si-gnatur A 34 fand. Dieser zweite Teil der Baseler Werkausgabe des Johannes Chrysostomus von 1504 (VD16 J 395) wurde von Rackwitz aus unbekannten Gründen nicht erfasst.

78 Zu zwei Einblattdrucken liegen inzwischen einschlägige Publikationen vor: Hartmut Kühne: Zwischen Totschlag und Tourismus. Spuren von Wallfahrt und Pilgerschaft im mitteldeutschen Umfeld Luthers, Luthers Lebenswelten (Tagungen des Landesmuseums für Vorgeschichte Halle 1, 2008), hg. von Harald Meller– Stefan Rhein – Hans-Georg Ste-phan, Halle 2008, S. 377–387. - Stefan Heinz: Ein wiederentdeckter Heiltumsdruck des Heiligen Rockes von 1512, in: Kurtrierisches Jahrbuch 48 (2008), S. 155-159.

79 Das lateinische Gedicht hat Nikolaus Marschalk in sein 1502 gedrucktes Enchiridion Poe-tarum Clarissimorum aufgenommen, vgl. dazu auch Gustav Bauch: Die Universität Erfurt im Zeitalter des Frühhumanismus, Breslau 1904, S. 212f.

80 Zu dem aus Nürnberg stammenden Druck vgl. Wuttke: (wie Anm. 53), S. 234f.81 Vgl. Rudolf Schenda: Das Monstrum von Ravenna. Eine Studie zur Prodigienliteratur,

in: Zeitschrift für Volkskunde 56 (1960), S. 209-225. Wichtige Ergänzungen bietet Oli-ver Duntze: Ein Verleger sucht sein Publikum: die Strassburger Offizin des Matthias die Straßburger Offizin des Matthias Hupfuff (1497/98 - 1520), München 2007, S. 230f.

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torisch ähnlich nebulös, wie der „Papstesel“. Der jüngste Monstren-Druck soll nach Rackwitz aus dem Jahr 1518 stammen. Er stellte unter der Überschrift „Dyss kyndt ist geborn worden zu Isennach“ eine menschliche Missgeburt dar. Für diesen mit „M. K.“ gezeichneten Druck, der verschollen ist, ließ sich bisher kein weiteres Exemplar auffinden. Dasselbe gilt für einen lateinischer Einblatt-druck aus dem Jahre 1519, der nach Rackwitz unter dem Titel Coniectura super natiuitate Antichristi „Vermutungen über die Geburt des Antichrist“ enthielt und mit einem „Holzschnitt, darstellend einen durch das Land schreitenden Wanderer, mit einem Schwert in der Rechten“82 illustriert war. Leider gibt es außer der sehr knappen Notiz von Rackwitz keinerlei weitere Angaben über diesen Druck, der für die Frage nach der Virulenz von Antichrist-Prophezeiungen im frühreforma-torischen Kontext Mitteldeutschlands besonders instruktiv wäre.Ein weiterer verschollener Druck aus dem Jahre 1504 zeigte einen Holzschnitt mit der Darstellung eines unbekleideten Mädchens, dessen Körper mit verschie-denen Kreuzzeichen bedeckt ist. Bei diesem Blatt handelte es sich um die Vari-ante eines Drucks, der im Jahre 1503 in mindestens zwei Ausgaben in Nürnberg und in Straßburg hergestellt wurde.83 Er schildert eine Stigmatisierung, die 1503 einem Mädchen im Dorf Leidrigen (heute Gemeinde Rosenfeld) am Neckar widerfuhr. An seinem Leib erschienen die Wundmahle Christi und Zeichen der Marterwerkzeuge Christi (Arma Christi).84 Eine nachhaltige Bekanntheit er-langte dieser Fall durch die Schilderung im Wunderzeichenbuch des dem Hof König Maximilians nahestehenden Freiburger Stadtschreibers Jakob Mennel.85 Die Stigmatisation wurde von den Zeitgenossen in den Zusammenhang der oben schon erwähnten Kreuzregen gestellt86, auch wenn es sich um einen relativ

82 Rackwitz (wie Anm. 69). S. 38, Nr. 7. 83 Vgl. zu den Drucken und zur Sache Frieder Schanze: Zu drei Nürnberger Einblattdrucken

des frühen 16. Jahrhunderts, in: Gutenberg-Jahrbuch 1992, S. 134-145, hier bes. S. 134-138. Der Straßburger Druck wird behandelt im Katalog: Das vervielfältigte Bild. Deutsche Druckgrafik 1480-1550 aus dem Besitz der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Tübin-gen 1983, S. 97, Nr. 90.

84 Die einzige historische Untersuchung zu dem Fall schrieb m. W. Paul Schmid: Schlußwort zum Leidringer Stigmatisationsfall, in: Heimatblätter vom oberen Neckar. Monatsschrift für Geschichte, Kunst und Volkskunde vom Schwarzwald, Heuberg und von der Baar 4 (1928), S. 647-651.

85 Vgl. ebenda, S. 648f.86 Der päpstliche Legaten Raimund Peraudi, der die Kölner Universität um ein Gutachten zu

den Kreuzfällen bat, wurde durch einen ihm zugesandten Druck auf die Leidringer Stig-matisation aufmerksam gemacht, vgl. Die Mirakelbücher des Klosters Eberhardsklausen, hg. von Paul Hoffmann und Peter Dohms, Düsseldorf 1988, S. 112-115, zur Zusendung des Druckes hier S. 113.

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Abb. 3: Einblattdruck Von der wunderbaren Geburt des Kindes bei Worms, Erfurt 1495 bei Hans Sporer (GW 10578), Kirchenbibliothek S. Blasii, Nordhausen.

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singulären Fall handelte, da die Kreuze sonst meist nicht auf der Haut, sondern auf der Kleidung wahrgenommen wurden. Zwar ist die Verwandtschaft des in Nordhausen verschollenen Druckes mit den beiden bekannten Exemplaren aus Nürnberg und Straßburg deutlich, aber sowohl das im Impressum genannte Jahr 1504 als auch der von Rackwitz mitgeteilte Titel zeigen, dass es sich um das Exemplar eines weiteren Druckes gehandelt haben muss.Auf der Grenze zwischen „Zeitung“ und apokalyptischer Weltdeutung bewegt sich ein Einblattdruck mit dem Titel Von eynem nawen Propheten yn Persia auf-gestanden // der sich eyn irdisschen got nennet als hirnach volgeht, der im Jahre 1502 in Leipzig bei Wolfgang Stöckel produziert wurde.87 (Abb. 4) Die Abschrift einer Variante dieses Drucks hat Falk Eisermann in einer Handschrift der Go-thaer Forschungsbibliothek nachgewiesen und den Kontext der Entstehung dieser Nachrichten etwas aufgehellt.88

Eine sorgfältige Analyse des erst jetzt neu entdeckten Einblattdruckes war durch die Kürze der Zeit nicht möglich, einige Indizien verweisen aber möglicherwei-se auf die Offizin des Matthias Maler in Erfurt als Entstehungsort89 (Abb. 5). In dem Druck wird berichtet, dass am Abend des 25. Juni 1517 von vier Bau-ern aus Kleinpösna und zwei Bauern aus Hirschfeld (heute im nordöstlichen Stadtgebiet Leipzigs gelegen), die Klosterleute des Leipziger Thomasklosters waren, Erscheinungen am Nachthimmel gesehen wurden. Sie erblicken zuerst gewappnete Landsknechte, dann einen Mann, der einem Wolf aus seinem Kelch zu trinken gab, einen Löwen, den drei Wölfe angriffen, einen Mann mit einer Posaune, zwei Männer, die je ein Kind „frassen“, vier schlafende Männer, die den schlafenden Jüngern Christi am Ölberg glichen, einen gekrönten Mann, vor dem eine Jungfrau bittend auf die Knie fiel, die Gestalt eines Priesters, der die Hände ausstreckte, eine zweite priesterliche Gestalt, die von einem Mann mit einem großem Straußenfederhelm begleitet wurde und schließlich einen alten gekrönten Mann, nach dessen Auftritt sich die Erscheinung auflöste. Das Blatt schließt mit der namentlichen Nennung der vier Bauern aus Kleinpösna und der lateinischen Versicherung, der Propst des Thomasklosters habe von den genannten Personen unter Eid den obigen Bericht in Erfahrung gebracht.

87 Von diesem Druck hat sich ein wohl identisches Exemplar in der Herzog-August-Biblio-thek Wolfenbüttel mit der Signatur QuH 26 (4) erhalten.

88 Es handelt sich um den Band Chart. B 180 der Forschungsbibliothek Gotha; die Abschrift ebenda, Bl. 10r-11r. Vgl. Falk Eisermann: Archivgut und chronikalische Überlieferung als vernachlässigte Quellen der Frühdruckforschung, in: Gutenberg-Jahrbuch 81 (2006), S. 50-61, hier S. 56.

89 Ich bin Oliver Dunze (Berlin) für Hinweise zur Typenbestimmung dankbar.

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Abb. 4: Einblattdruck: Von eynem nawen Propheten yn Persia aufgestanden…, Leipzig 1502 bei Wolfgang Stöckel, Kirchenbibliothek S. Blasii, Nordhausen.

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Eine leicht gekürzte Fassung dieses Berichts findet sich auch in der von dem Leipziger Domherrn Georg Horn von Seßlach (gest. 1527) für die Annalen des Thomasklosters hergestellten Materialsammlung.90

Die Beschreibung derartiger Bilder am nächtlichen Himmel beruht wohl auf einer Ausdeutung von Nordlichtern als bildliche Zeichen.91 Solche Beschrei-bungen und Bilddeutungen begegnen im 16. Jahrhundert häufig, allerdings er-lebten sie ihre Konjunktur erst nach der Jahrhundertmitte.92 Insofern kann der Bericht über die Lichterscheinung bei Leipzig als recht frühes Zeugnis dieser Literatur angesehen werden. Bei den bereits oben angesprochenen Feuerzeichen, die Anfang Januar 1520 über Wien beobachtet wurden und die sowohl bei Spalatin als auch bei Luther auf Interesse stießen93, handelte es sich dagegen wahrscheinlich um Halo-Er-scheinungen.94 Bisher waren insgesamt acht Drucke zu diesem Ereignis bekannt, die schon Gustav Hellmann verzeichnete, davon vier Einblattdrucke.95 Mögli-cherweise gehörten einige 1854 in der Hamburger Stadtbibliothek gefundene Fragmente zu einem weiteren Einblattdruck.96 Einen bisher nicht berücksich-tigten Einblattdruck zu diesem Ereignis besaß auch die Blasii-Bibliothek. Dem

90 Ich habe Marek Wejwoda (Leipzig) für die Überlassung seiner Transkription aus der Hand-schrift Cod. 3004 der Österreichischen Nationalbibliothek Wien zu danken; der Text fin-det sich dort auf Blatt 10r-12r. Marek Wejwoda bereitet eine Edition der Thomas-Annalen vor. Vgl. zur Handschrift vorerst Hermann Menhardt: Verzeichnis der altdeutschen lite-rarischen Handschriften der österreichischen Nationalbibliothek, 2. Band, Berlin, 1961, S. 750f. Zum Verfasser Georg Horn von Seßlach vgl. Hermann Menhardt: Zur Lebensbe-schreibung Heinrichs von Morungen, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 70 (1933), S. 209-234, bes. S. 210-215.

91 Vgl. Heß (wie Anm. 20), S. 89-91.92 Vgl. Hellmann (wie Anm. 26), S. 24f. Exemplarisch sei auf Cyriakus Spangenberg ver-

weisen, der in seiner Mansfeldischen Chronik zahlreiche Prodigien verzeichnet. Polarlich-tern widmet er besondere Aufmerksamkeit; vgl. Hartmut Kühne: Der Prediger als Augur – Prodigien bei Spangenberg, in: Reformatoren im Mansfelder Land. Erasmus Sarcerius und Cyriakus Spangenberg, hg. von Stefan Rhein – Günter Wartenberg, Leipzig 2006, S. 229-244, zu den Nordlichtern hier S. 233-235.

93 Vgl. oben Anm. 60f.94 Diese Deutung vertritt Hellmann (wie Anm. 26), S. 35; Heike Talkenberger: Sintflut.

Prophetie und Zeitgeschehen in Texten und Holzschnitten astrologischer Flugschriften 1488-1528, Tübingen 1990, S. 172 ist ihm darin gefolgt.

95 Hellmann (wie Anm. 26), S. 35f. 96 J. L. de Bouck: Zwei alte Lieder in niederdeutscher Mundart nach einem älteren Abdruck

in: Serapeum 15 (1854), S. 209 – 218, der den von Hellmann (wie Anm. 26), S. 35, Nr. 4 verzeichneten niederdeutschen Einblattdruck veröffentlichte, berichtete ebenda, S. 218 von kleinen Bruchstücken mit denselben Holzschnitten, aber einem anderen Text als dem des niederdeutschen Blattes.

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Abb. 5: Einblattdruck: Anno M. CCCCC: xvij. xxv. Junij. hoc est quinta feria post Johannis Baptiste…, Erfurt ? bei Matthias Maler ? 1517 ?, Kirchenbibliothek S. Blasii, Nord-hausen.

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Titel nach ähnelte er einem Einblattdruck, den der Baseler Dichter Pamphilius Gengenbach zur Kundmachung des Ereignisses und seiner Interpretation her-stellte, da beide zwar nicht identische aber sehr ähnliche Überschriften trugen.97 Gengenbachs Flugblatt ist für die Reformationsgeschichte von Bedeutung, weil er in den himmlischen Zeichen einen Aufruf an den eben zur Regierung gelang-ten Karl V. erblickte, sich der Luthersache aber auch der Sache des „gemeinen Mannes“ anzunehmen.98 Der Text des Einblattdruckes der Nordhäuser Biblio-thek stammt nach der Angabe von Rackwitz aber aus der Feder von Sebastian Brant; der Druck wird auf den 15. März 1520 datiert. Dieser Brant-Text ist in der Forschung bisher unbekannt und wäre er erhalten, sicher ein hoch interessan-tes Dokument, da Brant mit seiner Deutung direkt auf den Druck Gegenbachs reagiert zu haben scheint.99 Leider teilt Rackwitz nur 14 Verse daraus mit und beschreibt die kolorierten Holzschnitte „gröbster Art“ nicht genauer. Die acht Wunderzeichen-Drucke der Himmelgartenbibliothek bilden sicher nur einen kleinen Ausschnitt aus einem weit größeren Spektrum von ‚apokalypti-schen‘ Flugschriften, die im nördlichen Thüringen wie in anderen Gegenden des Reiches zwischen 1495 und 1520 kursierten. Ihre Bewahrung in den Buchde-ckeln einer Klosterbibliothek macht deutlich, dass diese Literatur nicht etwa als populärer Lesestoff für Laien oder das ‚Volk‘ abgetan werden darf. Sie wurden mitten im Milieu eines durch den Humanismus geprägten Servitenkonvents rezi-piert. Die Blätter überdauerten die Zeit, weil sie einer Werkausgabe Gersons, der theologischen Summa des Alexander von Hales und den Werken des Johannes Chrysostomus beigegeben wurden, und zwar nicht als verstecktes Buchbinder-material, sondern deutlich sichtbar auf der Innenseite der Buchdeckel.

Abschließende BemerkungAm Ende dieses Beitrags soll ein kurzes Fazit gezogen werden. Trotz aller ex-emplarischen Beschränkung dürfte deutlich geworden sein, dass Prophetie und Apokalyptik im 16. und 17. Jahrhunderts zur alltäglichen Lebenswirklichkeit in

97 Pamphilius Gengenbach zu de[m] allergroßmechtigsten küng karle. I Als ma[n] zalt. M. CCCCC. Vnd XX. in de[m] Monat des Jenners I sind diese wunderzeichen zu Wien yn Osterich alle nacheynander am hymel gesehe[n] worde[n] …, Basel 1520. Eine Abbildung des Blattes findet sich bei Wolfang Harms und Michael Schilling: Die Wickiana. Die Samm-lung der Zentralbibliothek Zürich, Teil 1 (1500-1569), Tübingen 1997, S. 16f; Nr. VI. 8.

98 Vgl. Talkenberger (wie Anm. 94), S. 175-177.99 Vgl. Thomas Wilhelmi: Sebastian Brant. Kleine Texte, 2. Bde, Stuttgart- Bad Cannstadt

1998. Nach freundlicher Auskunft von Thomas Wilhelmi (Heidelberg), der eine überar-beitete Neuausgabe seiner Sebastian Brant-Bibliografie von 1990 vorbereitet, ist bisher kein weiterer Textzeuge dieses Einblattdruckes bekannt.

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den protestantischen Territorien gehörte. Dies wurde deshalb in der Kirchen-geschichte bisher wenig wahrgenommen, weil es sich dabei um Erfahrungsebe-nen handelt, die erst jenseits der großen theologie- und ideengeschichtlichen Linien sichtbar werden. Zugleich habe ich zu zeigen versucht, dass die in der protestantischen Literatur festzustellende Verbindung von antiker Vorzeichendeutung mit biblischer Pro-phetie bei der Deutung der eigenen Zeit schon seit dem späten 15. Jahrhundert an vielen Stellen anzutreffen ist. Neben den von mir im vorliegenden Beitrag besonders beachteten Einblattdrucken und den hier nicht in den Blick genom-menen astrologischen Flugschriften würde eine gründliche Untersuchung von Chroniken dieses Bild wahrscheinlich bestätigen und bereichern.100 Zu klären bleibt, wie dieses Interesse an Wunderzeichen in die Äußerungen der frühen Reformation einmündete. Voraussetzung für eine Klärung dieser Fragen dürfte aber sein, die historischen Personen in ihrer existentiellen, komplexen und auch widersprüchlichen Ganzheit zu begreifen und nicht auf ihre ‚akademischen‘ Lehräußerungen und die dahinter stehenden Denktraditionen zu reduzieren. Was Gott mit Wunderzeichen am Himmel oder an der Sonne kundtun wollte, war eine Frage, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts alle bewegte: die Bauern von Kleinpösna ebenso wie Sebastian Brant, den Kanzler der Freien Reichsstadt Straßburg, die Brüder des Nordhäuser Servitenkonventes ebenso wie Martin Luther und Thomas Müntzer, der wohl nicht nur durch seine Predigt in Fran-kenhausen die Teilhabe an dieser elementaren Erfahrungsebene seiner Zeit zu erkennen gab.

100 Exemplarisch darf ich auf meine Untersuchung zur Mansfeldischen Chronik des Cyriakus Spangenberg (wie Anm. 92) verweisen. Ein Blick in die Schedelsche Weltchronik von 1493 verrät auch hier ähnliche Interessen. Siegfried Bräuer (Berlin) wies mich freundlicherweise auf die Handschrift der Braunschweigischen Weltchronik Hermann Botes (Stadtbibliothek Braunschweig Signatur HVI 1, 28) hin, in der sich ebenfalls ein starkes Interesse an der Beobachtung von himmlischen Vorzeichen, besonders von Kometen und ‚Eklipsen‘ beob-achten lässt; vgl. dazu auch Siegfried Bräuer: Hermann Botes Werk aus kirchengeschicht-licher Sicht, in: Hermann Bote. Städtisch-hansischer Autor in Braunschweig 1488-1988, hg. von Herbert Blume und Eberhard Rohse, Tübingen 1991, S. 68-95, bes. S. 80ff.