Max Schiendorfer: Ain schidlichs streuen. Heilsgeschichte und Jenseitsspekulation in Oswalds...

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JAHRBUCH DER OSWALD VON WOLKENSTEIN GESELLSCHAFT Herausgegeben von Sieglinde Hartmann und Ulrich Müller Band 9 1996/97

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JAHRBUCHDER

OSWALD VON WOLKENSTEINGESELLSCHAFT

Herausgegebenvon

Sieglinde Hartmann und Ulrich Müller

Band 91996/97

lAin schidlichs streuen

Heilsgeschichte und Jenseitsspekulationin Oswalds verkanntem Tagelied Kl 40

vonMax Schiendorfer, Zürich

I

Oswalds Tagelied Kl 40 ins Zentrum einer SpezialUntersuchungzu stellen, mag auf den ersten Blick überraschen. Der bisherigen For-schung war das Lied nur ab und zu eine Randnotiz wert, etwa in denÜberblicksdarstellungen zum deutschen Tagelied oder zu OswaldsGesamtwerk. Einzig Hans Peter Treichlers Monographie zum Tageliedbei Oswald1 kam nicht darum herum, sich auch mit dem hier vorzustel-lenden Stück ein bißchen ausführlicher zu befassen.

Andererseits stößt man aber in den wenigen Forschungsäußerun-gen auf auffallend viele Aussagen, die ein spürbares Erstaunen, wo nichtBefremden angesichts unseres Textes durchblicken lassen. Als Beispieldiene Walter Rolls Oswald-Forschungsbericht von 1981:

„Im Tagelied ist der Vogelsang Zeichen des kommenden Tages,im Frühlingslied Zeichen, daß sich die Natur über die neue, wär-mere Jahreszeit freut. Im Tagelied ist das Paar in der Nacht infreu-den (Kl 16,11) allein, im Frühlingslied wird die Freude am Tag inder Gemeinschaft laut. In Kl 40 hat Oswald die beiden Liedtypenzu verschmelzen versucht. Erwach an schrick, vil schönes weib istein Tageliedeingang. Aber schon des freu dich (V. 5) paßt nichtzum Tagelied, desgleichen des maien obedach im folgenden Vers.Dann wird aber wieder der wachter genannt, allerdings nicht als

1 Hans Peter Treichler: Studien zu den Tageliedern Oswalds von Wolkenstein. Diss.Zürich 1968.

2 Präziser gesagt, nimmt Oswald kontrapunktisch auf das im Tagelied topische .Auf-schrecken' aus dem Schlafe Bezug; vgl. etwa Winterstetten KLD XIII ,2,I ; WissenloKLD 11,2,1 und 1V,1,9; Bruno von Hornberg KLD 111,2,1; Jakob von Warte SMS6.11.7; Steinmar SMS 8.1.6; Hadlaub SMS 34.1.2 und bei Oswald Kl 20,38; 33,2; 49,1;53,19.

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Vertrauter der Liebenden, sondern als Merker. Die Repetitio zeigtdurchgehend den Frühlingslied-Charakter: gailt eu gen des malengrün. Die dritte Strophe nimmt noch einmal das Motiv des Mor-gens auf: Es nahe(n)t gen des tages glänz. Der warner wirderwähnt und auf den Anfang des Tageliedes Kl 16 Bezug genom-men: Die zeit dringt her aus külem tufft, /das spür ich wol an man-gern lufft. Der übernächste, einen Strophenteil abschließende Versich furcht ain schidlichs streuen hat die typische Wendung ichfurcht und sieht im ganzen wie eine Aufnahme des Strophen-schlusses ich furcht ain kurzlich tagen im Tagelied Kl 101 aus. DasLied endet mit der offenbar als begründet zu denkenden Hoffnung,nach den Freuden der Nacht bald die Freuden des Mai zu genie-ßen: der helle Maitag siegt über den Abschied des Tagelieds."3

Kl 40 fügt sich also gut zu Oswalds übrigen Tageliedern, auf diees an zwei Stellen sogar zitierend Bezug nimmt. Umgekehrt erklären sichdie für ein Tagelied unüblichen Elemente wie das Lob der neu erblühen-den Natur und der Appell zur Demonstration kollektiver Freude aus derbesagten Gattungsfusion (wie übrigens auch in Kl 37). Was aber hat eszu bedeuten, wenn laut Roll der Wächter als Merker auftritt? Und wes-halb kann daneben der Sänger in Strophe III behaupten, daß sich derwarner seit jeher mit treuer, buchstäblich mütterlicher Fürsorglichkeitum die Liebenden gekümmert habe? Auf diesen seltsamen Widerspruchgeht Roll nicht ein. Ältere Forscher wie de Gruyter, Nicklas oder Treich-ler hatten sogar die Ansicht gewonnen, im Lied sei von zwei verschie-denen Wächterfiguren die Rede. Aber auch sie ließen es achselzuckendbeim bloßen Hinweis bewenden.5

3 Walter Roll: Oswald von Wolkenstein. Darmstadt 1981 (= Erträge der Forschung 160)S. 73.

4 Walter de Gruyter: Das deutsche Tagelied. Diss. Leipzig 1887. S. 43; Friedrich Nick-las: Untersuchungen über Stil und Geschichte des deutschen Tageliedes. Berlin 1929(=Germanistische Studien 72) S. 98; Treichler: Studien (Anm. 1) S. 49, Anm. 51.

5 Treichler verweist ebda, auf den vermeintlichen Analogiefall in Hadlaubs Tagelied 50.Die Annahme einer zweiten Wächterfigur beruht dort jedoch nicht auf dem hand-schriftlichen Wortlaut, sondern auf einer - unnötigen - Konjektur Karl Bartschs. Vgl.dagegen den Text in der Neubearbeitung: Die Schweizer Minnesänger. Nach der Aus-gabe von Karl Bartsch neu bearbeitet und herausgegeben von Max Schiendorfer. Bd. I:Texte. Tübingen 1990. S. 379f.

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Hans Peter Treichler notiert darüber hinaus weitere Auffälligkei-ten. So weiche Oswalds Formulierung in V. 49, die zeit, statt der tagdringt her, „bewußt oder unbewußt - dem Vokabular des Tagelieds aus"(S. 26). Ferner habe Oswald in V. 12 mit dem Stichwort scheuer dieHandlung in ländliches Milieu verlegt" (S. 47). Nun glaube ich zwar, daßscheuer hier sicher im abstrakten Sinne von .Geborgenheit' aufzufassenist, oder von ,Obhut', wie Hofmeister es in seiner Übersetzung wieder-gibt.6 Gleichwohl bleibt auch diese Formulierung auffällig, zumal wennman den weiteren Kontext mit ins Auge faßt. Dort ist - um bei Hofmei-sters Text zu bleiben - die Rede von „einer, der ich mich Tag und Nachtwohlwollend in aufrechter Gesinnung zuwandte und die mich behend zusich lockt zu waghalsigem Abenteuer." Hier werden für meine Begriffedie Merkwürdigkeiten endgültig virulent. Die Geliebte des Sängers, dieer im ganzen Lied direkt anspricht, die er in den höchsten Tönen und mitden erhabensten Vergleichsbildern vorbehaltlos preist, erscheint hierplötzlich in dritter Person - ohne daß aber die direkte Adresse deswegenaufgehoben wäre! In distanzierender und fast etwas geringschätzigerWeise beschreibt Oswald sie mit dem unbestimmten Artikel als ,eine',deren verführerisches Wesen ihn in eine besorgniserregende Lage bringt.Der Sänger spricht in diesen Zeilen 13-16, so lautet meine erste These,von einer zweiten, zumindest als zwiespältig erfahrenen Liebespartner-schaft. Darauf werden wir ausführlicher zurückkommen müssen, ebensoauf jene andere Frage, ob neben der Frauenrolle tatsächlich auch dieWächterrolle in doppelter Besetzung angelegt ist.

Vorerst seien die erwähnten Verständnisklippen um einige Bei-spielfälle ergänzt. So lautet V. 5, blick durch des maien obedach, in Hof-meisters Übersetzung „Schau dir das Maienzelt an". Mit ,Maienzelt'dürfte hier das gemeint sein, was die Sänger üblicherweise als des meienwat, als das Frühlingskleid der Natur bezeichnen. Soweit, so gut, wennauch nicht recht durchsichtig wird, weshalb gerade die Betrachtung derblühenden Natur die Geliebte veranlassen sollte, den Kummer des Sän-gers zu lindern. Der weitere Kontext läßt nämlich erkennen, daß mit demungemach hier weniger der Trennungsschmerz als die Furcht vor demErtapptwerden gemeint ist. Vor allem aber heißt es bei Oswald eben nicht

6 Oswald von Wolkenstein. Sämtliche Lieder und Gedichte, ins Neuhochdeutsche über-setzt von Wernfried Hofmeister. Göppingen 1989 (= Göppinger Arbeiten zur Germani-stik 511) S. 144-146.

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schau an, sondern blick durch des malen obedach, ganz analog zu der vonihm zweimal anderswo gebrauchten Wendung blick durch die praw (Kl34,3; 101,3). Dort ist die Bedeutung klar: ,Blicke durch die Wimpern'.Aber wie hätte wohl Oswalds Geliebte die Aufforderung, durch die Blu-menpracht des Mai hindurchzublicken, konkret umsetzen sollen?

Bleiben wir beim Stichwort Mai: In V. 22 wird die Hörerschaftaufgefordert, sie solle den malen nicht vertan. Die normale, wörtlicheÜbertragung ,den Mai verlassen, vom Mai ablassen' scheint erneut kei-nen vernünftigen Sinn zu ergeben. Dem trägt Hofmeisters Äquivalent„den Mai vertrödeln" Rechnung, das durchaus passend auf ein sinnenfro-hes carpe dlem abzielt. Es fragt sich aber, ob dieser Lösungsweg sprach-lich wirklich gangbar ist. Die Wendung den malen verlan kann ich in derpostulierten Bedeutung sonst nicht nachweisen. Ebensowenig sind zuerwartende Analogieformeln wie etwa den tag, die nacht oder allgemeindie zeit verlan belegt. Nun will ich Oswalds sprachschöpferische Potenzbeileibe nicht in Zweifel ziehen. Dennoch bleibe ich skeptisch.

Hilft es vielleicht weiter, wenn wir den Mai als Personifikationauffassen, als eine Art Frühlingsgott, an den wir uns halten, von dem wirnicht ablassen sollen? In V. 18 wäre dies allenfalls denkbar: Hier tritt derMai gleichsam als Besitzer des grün auf, und er höchstselbst, notabenenicht seine wat, ist es, „der in wonnevollem Blühen erstrahlt". Ähnlichkönnte man in V. 54 den Mai als Besitzer des Waldes verstehen, wo dasStichwort grün am Exempel eines einzelnen Baumes pars pro toto wiederaufgenommen wird. Trotzdem erführe man liebend gerne Genaueres dar-über, weshalb der Sänger den Ort seines Rendez-vous ausdrücklich imWald, und zwar präzise ,beim höchsten Baum' lokalisiert. Zudem bleibtdie Frage nach dem mysteriösen Blick durch des malen obedach weiter-hin ungeklärt.

Die soeben nicht ganz zufällig resultierte Nachbarschaft derBegriffe ,Baum' und obedach führt nun allerdings auf eine neue Spur.Mit obedach kann nämlich u. a. die Krone eines Baums bezeichnet wer-den. Weiter notieren die Wörterbücher eine im Spätmittelalter gut

7 So ist etwa in einem Bispel des 13. Jahrhunderts die Rede von würze unde obedacheiner Eiche; vgl. Franz Pfeiffer: Altdeutsche Beispiele. In: ZfdA 7. 1849. S. 318-382;hier S. 380f., Zeile 10.

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belegte Sonderbedeutung von tnaie als ,Maibaum'. Eines der frühestenZeugnisse für den Brauch des Maibaumsetzens8 findet sich in HeinrichSeuses Horologlum sapienüae. Dort rät der Mystiker den Schülern undLiebhabern der göttlichen Weisheit, drei Tage des Jahres besonders zubegehen, darunter den ersten Mai. Seine Begründung lautet: Nam tuncconsuetum est [...] quod adolescentes de nocte silvas petunt et arboresvlridltate foliorum venustas praecidunt et floribus ornatas prae foribuslocant, ubi se putant habere amicas, in signum amiclüae et fidelltatls?

Wenn wir nun probeweise bei Oswald die Bedeutung male = Mai-baum ansetzen, kann der Blick durch das obedach als Blick durch dieBlätterkrone wörtlich genommen werden. Ebenso ist es dann im Wort-sinne möglich, das wir den malen nicht verlan, während das wonnevolle,farbenprächtige Erblühen wohl metaphorisch auf den Schmuck des Mai-baums mit Blumen, Früchten und bunten Zierbändern gemünzt werdenkönnte.

Gleichwohl wird man diesen Deutungsansatz mit einigem Unbe-hagen quittieren - zurecht: Wo z. B. soll man sich den Standort des Mai-baums denn nun vorstellen? In oder vor der Kammer der Geliebten (V.5), auf dem Dorfplatz (V. 18) oder gar im Wald (V. 54)? Statt jedoch deneben gewagten Interpretationsschritt kleinlaut zurückzuziehen, ergreifeich die „Flucht nach vorn".

II

Bei Heinrich Seuse ist das erwähnte Zitat natürlich nicht zweck-frei. Es dient ihm als Ausgangspunkt für eine Kontrafaktur, nämlich denbei ihm wohl erstmals literarisch greifbaren .geistlichen Maibaum'. Die-sem widmet er in seiner Vita ein eigenes Kapitel:

an der nacht des ingenden meyen vie er an gewonlich und sasteeinen geistlichen meyen [...]. Under allen den schönen zwlern, du

8 Vgl. dazu Hans Moser: Maibaum und Maienbrauch. In: Bayerisches Jahrbuch fürVolkskunde 1961. S. 115-159; Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hrsg.von Hanns Bächtold-Stäubli. Bd. 5. Berlin 1933. Sp. 1515-24.

9 Heinrich Seuses Horologium Sapienüae. Hrsg. von Plus Künzle. Freiburg/Schweiz1977 (= Spicilegium Friburgense 23) S. 601.

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ie gewuohsen, kond er nit glichers vinden dem schönen meyen,denn den wünneklichen äst des heiligen crüzes, der blüender istmit gnaden und fugenden und aller schöner gezierde, denn allemeyen ie wurden.'°

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Abb. 1: Heinrich Seuse. Exemplar-Hs. A, f. I09V, Abb. nach Bihlmeyer (Anm. 10) S. 255.

Und im ,Büchlein der ewigen Weisheit' richtet Seuse sich einmalwie folgt an Gott: du seldenzwi, du meienris, du roter rosen blüejendüstude, schlüs ufdin arme, zertuo und zerspreit die geblüemten este dinergötlichen und menschlichen nature!1' Wie man sich das Kreuz als geist-lichen Maibaum und die zum Empfang der Gerechten ausgebreitetenArme Christi bildhaft vorzustellen hat, illustriert sehr schön eine Minia-

10 Heinrich Seuse. Deutsche Schriften. Hrsg. von Karl Bihlmeyer. Stuttgart 1907. S. 32f.

11 Bihlmeyer, ebda., S. 216.

tur aus Hs. A des Seuseschen Exemplars (vgl. Abb. l ) . Sie zeigt links denDiener der göttlichen Weisheit versunken in der betrahtunge des götli-chen lidens.

Das passionsmystische Mitleiden und buchstäbliche Sich-Hinein-versenken in die Wunden des Gekreuzigten empfiehlt auch Johannes Tau-ler in einer seiner Predigten: Ir süllent [...] ufden blüejenden minneküchenbovm klimmen des wirdigen lebens und des lidens unsers herren JhesuChristi und in sine klarifizierten wunden und denne fürbas uf klimmen ufden tolden siner hoher wirdiger gotheit. Wohl ebendieses meditativeErklimmen des geistlichen Malens ist in der Nebenfigur, rechts auf Abb. l,bildlich eingefangen.

Nun wil l ich gewiß nicht behaupten, Oswald von Wolkensteinhabe sich mit dem Schrifttum der großen Mystiker befaßt und von daherdie Vorstellung des geistlichen Maibaums adaptiert. Eine solcheAnnahme ist aber auch ganz überflüssig, da das Maibaum-Motiv im wei-teren Spätmittelalter überaus populär wurde und sowohl im geographi-schen wie im gattungstypologischen Sinne unaufhaltsam um sich griff.Zu nennen sind weitere Predigten bis hin zu Geiler von Kaysersberg,aus Oswalds Lebenszeit etwa zwei komplementäre Texte, die unterRudolf Goltschlachers Namen überliefert sind. Demselben Zeitraumgehört ein .Geistlicher Mai'-Traktat des Elsässer Predigers JohannesKreutzer an.15 Ferner kennen wir eine in mehreren schwäbischen Hand-schriften erhaltene anonyme Prosa-Allegorie zum gleichen Thema.16

12 Ferdinand Vetter: Die Predigten Taulers. Berlin 1910 (= Deutsche Texte des MA 11)S. 271.

13 Johann Geiler von Kaysersberg. Sämtliche Werke. Hrsg. von Gerhard Bauer. ErsterTeil: Die deutschen Schriften; erste Abteilung: Die zu Geilers Lebzeiten erschienenenSchriften. 2. Bd. Berlin/New York 1991. S. 520.

14 Vgl . 2 VL3. 1981, Sp. 98.

15 Vgl. VL 5, 1985, Sp. 361; zu diesem und den nächstgenannten Texten vgl. auch Diet-rich Schmidtke: Studien zur dingallegorischen Erbauungsliteratur des Spätmittelalters.Tübingen 1982 (= Hermaea N. F. 43) S. 80-85.

16 Eine überarbeitete Form der Allegorie wurde zudem 1478 dem Ulmer Druck (JohannesZainer) einer .Geistlichen Auslegung des Lebens Jesu Christi' einverleibt; vgl. 2VL 2,1980, Sp. 1168f.

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Endlich sei ein kurzer niederdeutscher Reimprosatext aus Liineburgerwähnt.17

Auch die Lyrik hat sich des Motivs bemächtigt. Der Forschungseit langem gut bekannt ist das in mehreren Fassungen überlieferte Lied,Von einem geistlichen Mai'.18 Den fünfstrophigen Kernbestand desTextes hat ein Nürnberger Codex aus der 1. Hälfte des 15. Jhs. wohl inrelativ ursprünglicher Gestalt bewahrt. Diesen Kernbestand erweitertenin der Folge zwei voneinander unabhängige Bearbeitungen mit zusätzli-chen Strophen.19 Die zweite dieser Schwellredaktionen bildete ihrerseitswiederum die Grundlage für eine niederländische Bearbeitung20, womit- spätestens - das Maibaum-Motiv in den Wirkenskreis der Devotiomoderna übergetreten ist. Und gerade dort, bei den erklärten Anhängernder Imitatio Christi, ist es auf besonders fruchtbaren Boden gefallen undhat es besonders üppige Blüten getrieben.21

Nun mag man einwenden, daß von der passionsmystischen Hal-tung der genannten Maibaum-Texte in Oswalds Tagelied nichts zu ver-melden sei. Ich sehe mich daher zu einer Modifikation meiner Thesegenötigt: Oswald ging es nicht darum, ein Lied des damals offenbar modi-schen Typs,geistlicher Maien' zu verfassen. Er machte sich lediglich sehrgezielt die semantische Ambivalenz des Terminus malen zunutze. Diedoppeldeutige Chiffre dient in Kl 40 als semantische Schnittstelle oder,wenn man so will, als eine Art getarnte Verbindungsluke, welche dendafür sensibilisierten Rezipienten den Durchblick auf einen hinter demweltlichen sich eröffnenden geistlichen Vorstellungshorizont erlaubt.

17 Vgl. 2VL5, 1985, Sp. 1065.

18 Vgl.2VL2, 1980, Sp. 1167C.

19 Die genannten Texte vgl. bei Philipp Wackernagel: Das deutsche Kirchenlied. Bd. 2.Leipzig 1867. Nr. 822-825.

20 Niederländische geistliche Lieder des XV. Jahrhunderts. Aus gleichzeitigen Hand-schriften hrsg. von Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Hannover 1854 (= Horae Bel-gicaeXJNr. 103.

21 Neuveifaßte Maibaum-Lieder dieser Provenienz vgl. bei Hoffmann von Fallersleben,ebda., Nrn. 104-106; dazu z. B. die noch unpublizierten Stücke des Cod. 2273 der Hes-sischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt: f, I61 '-166' (Onx wun een lief-lickmey ontdaen), f, 167-168' (Tis lijt tlut w/j den Iwgen boem np clynimen).

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III

Kommen wir kurz auf Heinrich Seuse zurück: Ihm schien das Bilddes geistlichen Maien für seine Zwecke deshalb geeignet, weil im weltli-chen Brauch der Maibaum als signum amicitiae et fidelitatis fungiert.Ebenso möchte er der göttlichen Weisheit ein Zeichen der Liebe und Treueverehren. Damit ist die beanspruchte Analogie allerdings bereits erschöpft.Die Verkopplung des Maibaumsymbols mit dem meditativen Nachvollzugder passio Christi kann sich auf keine Entsprechungen im weltlichenBrauchtum berufen und leitet sich aus ganz ändern Wurzeln her.

Beginnen wir mit Venantius Fortunatus. Er verfaßte im 6. Jahr-hundert drei Hymnen zum Preise des heiligen Kreuzes, die während desgesamten Mittelalters überaus beliebt und gattungsgeschichtlich entspre-chend wirkungsmächtig blieben.22 Im bekannten Hymnus Vexilla regisprodeunt wird das Kreuz als arbor decora bezeichnet, iucundafructufer-tili, als ein Baum, dessen Zierde und fruchtbare Frucht der Leib Christi ist.Crux fidelis, inter omnes arbor una nobilis, heißt es ähnlich im nochberühmteren Hymnus Fange, lingua (Analecta Hymnica. Bd. 50. Nr. 67bzw. 66), wo sich auch die ebenso bedeutsame Vorstellung findet, daßGott schon beim Sündenfall der ersten Menschen jenen Baum erwählte,von dem dereinst die Erlösung ausgehen sollte. In der Übersetzung desMönchs von Salzburg lautet die Stelle: Von der triegnuß Eve mueter/wasmitlaidig got schepher gueter; / do sie von sundigs aphel pis / in todesstrikchefiel gewis, /do merkt got herre das holz gar recht, / daz er holzesschaden wider brächt^ Man malte sich demnach aus, daß das Kreuzholzvon einem Paradiesbaum herstamme. Darunter verstand man entwederden Baum des Lebens, den der Genesisbericht dem Baum der Erkenntnisvon Gut und Böse antipodisch gegenüberstellt (Gen 2,9; 3,24; vgl. Off2,7; 22,1-2). Oder man dachte an die arbor cognitionis, von der demzu-folge sowohl der Tod durch den Sündenfall wie auch das neue, ewigeLeben durch Christi Erlösungswerk ausgegangen sind. Diese auf erhöhte

22 Joseph Szöverffy (Hymns of the Holy Cross. An Annotated Edition with Introduction.Brookline/Leyden 1976) bespricht mehrere Dutzend Preisgesänge auf das heiligeKreuz, die - bis hinab ins 15. Jahrhundert - meist mehr oder weniger direkt vom Vor-bild des Venantius beeinflußt sind.

23 Die geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg. Hrsg. von Franz Viktor Spechtler.Berlin/New York 1972 (= Quellen und Forschungen N. F. 51) Nr. G 25, Str. III.

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typologische Stringenz abzielende Umdeutung oder „Synthese" beiderParadiesbäume begegnet bereits wiederholt in patristischer Literatur24

und entspricht offenbar auch der Auffassung des Venantius Fortunatus.Die Gedankenkette Paradiesbaum-Kreuzbaum-Christus reicht aber bis indie Spätantike zurück. Sie findet sich ansatzweise im für das Mittelalter sowichtigen Evangelium Nicodemi, das später u. a. von Jacobus de Vora-gine ausgewertet wurde.25 Das Nikodemus-Evangelium seinerseitsschöpfte bereits aus einem älteren apokryphischen Bericht über das Lebender ersten Menschen, der sogenannten Vita Adae et Evae.26 Auf die kom-plexe Textgeschichte dieser Adamslegende brauche ich hier nicht einzu-gehen und fasse nur die für uns relevanten Erzählmotive zusammen.

Über Adams letzte Lebenstage berichtet die Vita folgendes:Gepeinigt von unerträglichen Schmerzen schickt Adam seinen Sohn Seth

24 Nachweise bei Ferdinand Piper: Der Baum des Lebens. In: Evangelischer Kalender. Jahr-buch für 1863.Jahrgang 14.S. 17-94, hier S. 54-56. Zum Lebensbaum und der Kreuzholz-legende allgemein vgl. weiter Wilhelm Meyer: Die Geschichte des Kreuzholzes vor Chri-stus. In: Abhandlungen der königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften, philo-sophisch-philologische Klasse XVI. S. 103-165; August Wünsche: Die Sage vomLebensbaum und Lebenswasser. Leipzig 1905 (= Ex Oriente Lux l); Romuald Bauerreiss:Arbor vitae. Der .Lebensbaum' und seine Verwendung in Liturgie, Kunst und Brauchtumdes Abendlandes. München 1938; Lenz Kriss-Rettenbeck: Lebensbaum und Ährenkleid.Probleme der volkskundlichen Ikonographie. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde1956. S. 42-56; Urs Kamber: Arbor amoris - Der Minnebaum. Ein Pseudo-Bonaventura-Traktat. Berlin 1964 (= Philologische Studien und Quellen 20) bes. S. 129-140.

25 Edgar Hennecke/Wilhelm Schneemelcher: Neutestamentliche Apokryphen in deutscherÜbersetzung. Bd. I: Evangelien. Tübingen 4I968. S. 330-358, hier S. 349t.; TheodorGraesse (Hrsg.): Jacobi a Voragine .Legenda aurea'. Dresden/Leipzig 1846. S. 303-305;Das Evangelium Nicodemi des Heinrich von Hesler. Hrsg. von Karl Helm. Tübingen1902 (= Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 224); Das Evangelium Nico-demi in spätmittelalterlicher deutscher Prosa. Hrsg. von Achim Masser und Max Silier.Heidelberg 1987; vgl. ferner Konrad von Heimesfurt. Diu urstende. Hrsg. von KurtGärtner und Werner J. Hoffmann. Tübingen 1991 (= Altdeutsche Textbibliothek 106)V. 1868-2020; Das Redentiner Osterspiel. Übersetzt und kommentiert von BrigittaSchottmann. Stuttgart 1975 (= Reclams Universal-Bibliothek 9744-47) V. 339-362.

26 Wilhelm Meyer: Vita Adae et Evae. In: Abhandlungen der königlich Bayerischen Aka-demie der Wissenschaften, philos.-philol. Klasse XIV/3. 1878. S. 185-250, Die Apo-kryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments. Übersetzt und hrsg. von EmilKautzsch. Bd. II. Tübingen 1900. S. 506-528; Brian Murdoch: Hans Folz and theAdam-Legends. Texts and Studies. Amsterdam 1977 (= Amsterdamer Publikationenzur Sprache und Literatur 28) S. 3-45.

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zum Paradies, um dort das Öl der Barmherzigkeit zu erbitten, von dem ersich Heilung verspricht. Seth trifft bei der Paradiespforte auf den ErzengelMichael, der ihm die Bitte für den Moment zwar abschlägt, ihm jedochzugleich eröffnet, daß sie nach 5500 Jahren erfüllt werde. Dann werde dermenschgewordene Gottessohn unter die Erde steigen, Adam mit dem Ölder Barmherzigkeit salben und zu ewigem Leben auferwecken.

Spätere Interpolatoren der Vita kennen weitere Details. So habeMichael dem Seth als Unterpfand seiner Verheißung einen Zweig mitge-geben, den dieser beim Haupt des verstorbenen Adam einpflanzte undaus dem - über abenteuerliche Zwischenstationen - endlich das Holz desKreuzes Christi heranwuchs. Andere Redaktionen der Adamsvita spre-chen statt dessen von drei Kernen, die Seth unter die Zunge des totenAdam legte. Aus ihnen entsprossen je ein Zedern-, ein Zypressen- undein Palmtrieb, die sich - als Trinitätssymbol - zu einem einzigen Stammvereinten. Beide Varianten sind verschiedentlich in die deutsche Dich-tung eingegangen.27

Uns interessieren jene des zweiten Typs, repräsentiert etwa durchdie Kreuzholzlegenden Heinrichs von Freiberg und Helwigs von Waldir-stet oder auch durch zwei Rätselstrophen des Wartburgkriegs.28 DieseLegendenredaktion informiert uns nämlich genauer über die besondereBeschaffenheit des Paradiesbaums. Wir erfahren, daß der als Wächteramtierende Cherub dem Seth drei Mal gebietet, einen Blick ins Inneredes Paradieses zu werfen. Das erste Mal erblickt Seth die Quelle derParadiesflüsse und darüber einen mächtigen Baum, der seiner Rinde undBlätter vollkommen beraubt ist. Seth merkt sogleich, daß es sich um denBaum der Erkenntnis handelt, den die Schuld seiner Eltern absterbenließ. Das zweite Mal gewahrt er unter dem dürren Baum jene Schlange,

27 Zur ersten Variante vgl. etwa Lutwin: Adam und Eva. Hrsg. von Konrad Hofmann undWilhelm Meyer. Tübingen 1881 (= Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 153).

28 Heinrich von Freiberg. Hrsg. von Alois Bernt. Halle 1906. S. 213-238; Paul Heymann:Helwigs Märe vom heiligen Kreuz. Berlin 1908 (= Palaestra 75); Der Wartburgkrieg.Hrsg. von T. A. Rompelmann. Diss. Amsterdam 1939. Str. 67-70. Eigene Wegebeschreitet, wie gewohnt, Heinrich Frauenlob, in dessen Kreuzleich beide Variantennebeneinander hergehen; vgl. Frauenlob (Heinrich von Meissen). Leichs, Sangsprüche,Lieder. Auf Grund der Vorarbeiten von Helmuth Thomas hrsg. von Karl Stackmann undKarl Beitau. Bd. I. Göttingen 1981. S. 292-329; vgl. insbesondere Str. 11,15 mit Str. 11,17.

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die der Menschheit das Verderben gebracht hat. Beim dritten Blick aberhat der Baum sich verwandelt: Er ist jetzt zu so gewaltiger Höhe empor-geschossen, daß seine Krone in den Himmel ragt, während die Wurzelndurchs Erdreich bis in die Hölle hinab dringen. Auf den Zweigen erblicktSeth ein kleines, weinendes Kind. Der Cherub erklärt ihm, dies sei derGottessohn, der über das Elend der verdammten Menschheit weine. Ersei jenes Öl der Erbarmung, von dem das Heil einst wiederkommenwerde. Daraufhin überreicht er dem Seth die besagten drei Kerne vonebendiesem wundersamen Baum.

Das Kreuz Christi wird also aus dem Baum des Sündenfalls her-anwachsen, der in der Mitte des Paradiesgartens über der Quelle derParadiesflüsse steht, abgedorrt, bis die Zeit der Erlösung gekommen ist.Dann wird er neu erblühen und die Frucht des menschgewordenen Got-tessohns hervorbringen. Als Baum des neuen Lebens wird er in seinerweltenumspannenden Höhe den Himmel mit den Reichen der Lebendenund der Toten verbinden.

Daß diese Vorstellungswelt den mittelalterlichen Christen keineexegetische Spitzfindigkeit, sondern eine allbekannte, typologisch abge-sicherte Heilstatsache war, bezeugt auch ihre Popularität in den Bilden-den Künsten. Aus der Legion aussagekräftiger Belege kann ich nur einpaar wenige in aller Kürze vorstellen:

Abb. 2: Caedmons Paraphrase. Oxford, Bodleian Library. Ms. Junius 11 (2. Viertel 11. Jh.),Abb. nach Sigrid Esche: Adam und Eva. Sündenfall und Erlösung. Düsseldorf 1957. Taf. 12.

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Abb. 2 (verkleinert) zeigt oben den Sündenfall und den Baum derErkenntnis, dessen Blattwerk, unten, nach begangener Tat sogleich ver-welkt.

Ein Fresko des Giovanni da Modena in Bologna von 1421 hat dieVerwandlung vom Baum des Todes zum Baum des neuen Lebens gleich-sam synchron zur Darstellung gebracht: Nur die - von Christus aus gese-hen - rechte Seite der Kreuzbaumkrone ist belaubt. Unter ihr stehenMaria und weitere Vertreter der erlösten Christenheit, denen der Gekreu-zigte sich zuwendet. Maria fängt mit einem Kelch das Blut aus ChristiSeitenwunde auf. Ihr gegenüber greift Eva nach der verbotenen Frucht,die sie an ihr Gefolge weiterreicht. Auf diese Seite richtet die mit einemMädchenkopf dargestellte Schlange ihren tödlichen Blick.29

Abb. 3 zeigt das Triumphkreuz Christi (vgl. die dorische InschriftIC XC NIKA) als dritten Baum, der bis in den Sternenhimmel emporragtund dem die beiden Paradiesbäume sich demütig zuneigen. Die fünf Roset-ten stehen für die Wunden Christi, und die Symbolik der Bildanordnung istauch hier die übliche: Rechts der Baum des Lebens, an dem die bekannteTraubenrebe emporwächst, links der Baum der Erkenntnis, den eine - ausanthropozentrischer Optik unfruchtbare - Schlingpflanze umrankt.

Abb. 3: Mitteltäfelchen eines byzantinischen Elfenbeintriptychons (Mitte 10. Jh.), Abb.(verkleinert) nach Franz X. Kraus: Geschichte der christlichen Kunst. Bd. I. Freiburg/Br.1896. Fig. 440 (zu S. 559).

29 Vgl. Robert L. Füglister: Das Lebende Kreuz. Einsiedeln 1964. Abb. IV a.

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Damit korrespondiert in Abb. 4 die vertraute Anordnung der bei-den Schacher: der rechte wird gerettet, der linke verdammt. Das KreuzChristi wächst aus dem Strunk des stilisierten Paradiesbaums empor.Dieser wurzelt seinerseits in Adams Grab, wo Seth ihn ja einst einge-pflanzt hatte.

Abb. 4: Beatushandschrift. Gerona (vom Jahre 975), Abb. (verkleinert) nach Sigrid Esche (wieAbb. 2) S. 38.

IV

Damit sind hoffentlich die Materialien hinreichend ausgebreitet,und ich kann dazu übergehen, die von mir postulierte geistliche Lesartam Text von Kl 40 auszuführen. Wie schon bemerkt, legt Oswald es mitdem doppeldeutigen Terminus malen darauf an, daß seine Hörer dasKreuz Christi bzw. den Baum des neuen Lebens konnotieren. Diesermaien ist es, für den wir uns - wie es im Refrain heißt - freudig bereit-halten sollen. Er ist es, der - wie bei Seuse - in wonnevollem Blühen alleFarben weit überstrahlt. Und von ihm, dem Gekreuzigten,30 dürfen wiruns nicht abwenden, wenn wir denn mit ihm dereinst auferstehen sollen.

Dementsprechend ist mit Oswalds Geliebter, der nie geleicht keinierdisch leib (V. 2), Maria gemeint. Von ihr erhofft sich der Sänger jenentröstlichen Blick durch des maien obedach. Plötzlich wird das seltsame Bildtransparent: Von ihrem an höchster Stelle befindlichen Thron aus kannMaria gar nicht anders, als durch die Laubkrone des in den Himmel hinauf-ragenden Maibaums auf ihren Diener hinabzublicken. Und es ist schließlich(V. 53-56) dieser nämliche, höchste Baum des Paradieswaldes - der sich,

30 Auch die unmittelbare Gleichsetzung des Baum-Kreuzes mit Christus selbst findetsich, anknüpfend an PS 1,3 oder Spr 3,18. schon hei den Kirchenvätern; vgl. Piper(Anm. 24) S. 40-43.

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wie wir im übrigen nun wissen, durch Christi Heilstat grünlich tett neuere1^-, unter dem Oswald seine himmlische Geliebte anzutreffen hofft.32

Gemäß dieser geistlichen Lesart ist ferner der im Aufgesang vonStrophe III beschriebene warner natürlich Christus, und zwar in seinerFunktion als Guter Hirte, der sich mit mütterlicher Fürsorge um seineSchäfchen kümmert. Allerdings gilt es, wachsam zu sein und seinenWarnruf nicht zu überhören. Ansonsten würde er sich tatsächlich, wieRoll festhielt, als Merker erweisen und es nicht ungeahndet lassen, wenneiner zu lange in der Verblendung des gemächlichen Schlafs, in verslauff-ner scheuer, gelegen hat. Es ist also nicht eine zweite Wächterfigur, dieuns in den Zeilen 9-12 entgegentritt. Auch hier ist Christus gemeint, dies-mal aber unter Betonung seiner richterlichen Gewalt. Das Neue Testamentund die Apostelbriefe sind bekanntlich reich an solchen Warnrufen, wach-sam zu sein, um die Wiederkunft des Menschensohns nicht zu verschlafen(z. B. Mt 24,42-44; Mk 13,33; Lk 12,37-40; Rö 13,11 f.; l Th 5,2-6; l Pt5,8). Und noch viel reicher ist die Dichtung des Mittelalters an Gebetstex-ten, welche die Fürbitte Mariens in der Stunde des Todes erflehen (beiOswald vgl. Kl 34,31-36 und 109b,IIb). Denn am Ende wird es unweiger-

31 Vgl. den 32. Gesang des Purgatoriums von Dantes Divina Comedia: Christus, in derDoppelnatur eines Greifs, zieht einen Wagen (die Christenheit) durch den ödenHochwald des Paradieses und bindet ihn am höchsten, ebenfalls blätter- und bliitenlo-sen Baum fest. Sogleich beginnt dieser zu knospen und in neuer Farbenpracht zuerblühen.

32 Wenn Oswald übrigens dieses Treffen schon kurzlich erwartet, so dürfte darin ein bio-graphischer Reflex zu erblicken sein. Werner Marolds Datierung von Kl 40 auf 1402/9,also in Oswalds früheste Werkperiode, ist nämlich völlig unbegründet (Kommentar zuden Liedern Oswalds von Wolkenstein. Bearbeitet und hrsg. von Alan Robertshaw.Innsbruck 1995. S. 295). Die Überlieferung im gegen 1430 aufgezeichneten Schlußteilvon Hs. A sowie die Verbindungen zu zwei ändern Liedern des gleichen Tons legenweit eher eine Entstehung um ca. 1428 nahe: Das Weihnachtslied Kl 126, das mit Kl40 auffallende Textberührungen zeigt (vgl. 126,36 mit 40,16 oder 126,48 mit 40,12;auch hier handelt es sich um „kontrapunktische" Bezüge) und mit einem Ausblick aufdas himmlische Paradies endet, steht ebenfalls im Schlußteil von A. Und Kl 116 läßtsich sogar mit einiger Sicherheit dem Frühjahr 1428 zuweisen (vgl. Anton Schwob:Oswald von Wolkenstein. Bozen. 1977. S. 208). Interessanterweise wird auch in die-sem weltlich-bodenständigen „Heimatlied" der ausgiebige Preis des irdischen Früh-lings in der Schlußstrophe durch eine Vision des Weltengerichts abgelöst und über-höht. Oswald zählte um 1428 gute 50 Jahre und hatte somit die Schwelle zum letztenLebensabschnitt überschritten.

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lieh an den Tag kommen, daß man den Verlockungen der Frau Welt durchsorgklich aubenteuer allzu lange und willfährig nachgegeben hat.33

Auch das Ende meines Beitrags rückt näher, und noch immer binich ausgerechnet auf die im Referatstitel zitierte Zeile ich furcht ainschidlichs streuen nicht eingegangen.34

33 Auch dieser Gedanke ist literarisch seit dem 13. Jahrhundert vorgebildet. Vgl. etwa zweianonyme geistliche Wecklieder (KLD namenlos 234D. S. 263; bzw. Karl Baitsch: DieErlösung. Quedlinburg und Leipzig 1858. S. 216), in denen der Wächter Christus zurrechtzeitigen Trennung von Frau Welt mahnt. Frau Welt in der bekannten Gestalt mit dervon Schlangen und Kröten zerfressenen Rückseite ist eine erst bei Konrad von Wiirzburgauftretende Weiterentwicklung älterer Allegorien, besonders der Fortuna und der Luxu-ria, wobei aber immer auch die naheliegende Verbindung mit der Urmutter Eva mit hin-einspielt: Beide sind die Menschenverführerinnen par excellence, beiden eignet dasSchlangenattribut, und beider „Lohn" ist letztlich der Tod (Marianne Skowronek: For-tuna und Frau Welt. Zwei allegorische Doppelgängerinnen des Mittelalters. Diss. Berlin.1964. S. 66, 80, 96; zur Rolle der Luxuria vgl. Werner Weisbach: Religiöse Reform undmittelalterliche Kunst. Einsiedeln 1945. S. 81, 135-140). Hinter Oswalds zwei „rivalisie-renden" Geliebten blickt somit implizit das bekannte typologische Bezugspaar Eva-Maria hervor. Das schwesterliche Verhältnis Eva-Luxuria-Frau Welt bezeugt übrigensauch die 1477 ausgemalte 8. Arkade im Kreuzgang des Brixener Doms: „Im nördlichenGewölbefeld sind die von der Schlange verführten Stammeltern Adam und Eva darge-stellt, mit dem Titel Luxuria-Sinnlichkeit." Damit korrespondiert „im südlichen Feld [...]die Darstellung des christlichen Streiters als Ritter mit der Fahne Christi," den - heuteleider nicht mehr erkennbar - Frau Welt erfolglos mit dem Becher der Lust zu verführensucht (Karl Wolfsgruber: Dom und Kreuzgang von Brixen. Bozen 1988. S. 37f.).

34 Auf eine weitere aufschlußreiche Textstelle kann ich nur noch stichwortartig hinwei-sen: auf den Vogelsang, den Oswald, auffäll ig genug, in meinem houbt erklingen hört(V. 26). Oswalds Formulierung ist auch hier in allegorischem Sinne ernstzunehmen:Offenbar teilt er einen imaginierten Vorgang mit. Die Vögel stehen für die erlöstenSeelen, die „israelischen Gäste" die - laut Eph 2,12-22 - durch Christi Erlösungswerkzu Mitbürgern der himmlischen Gemeinschaft geworden sind und sich nun in immer-währendem Lobgesang Gottes hervortun; vgl. etwa den Abgesang von Str. 67 desWartburgkriegs (Anm. 28) und dazu Tomas Tomasek: Das deutsche Rätsel im MA.Tübingen 1994 (= Hermaea N. F. 69) S. 238f, oder die ausführlichere Beschreibung inder erwähnten Maibaum-Allegorie (Anm. 16). Dieser paradiesische Vogelsang ist es,der - nur oberflächlich tageliedkonform - als Weckruf fungiert, indem er von OswaldsHaupt f-ar m rul in sein Herz hinab dringt. Nicht der Sänger, sondern sein Herz wirdaufgeweckt, und zwar gen dir, also Maria „entgegen". Damit dürfte Oswald auf dievielleicht überhaupt geläufigsten Sinnbilder Mariens anspielen, auf die Morgenröteoder den Morgenstern, welche der aufgehenden Sonne Christus unmittelbar voraufge-hen und somit den letztmöglichen Termin eines zeitgerechten Erwachens markieren.

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Schauen wir uns nochmals Abb. 4 an, die uns auf eine letzte iko-nographische Dimension des Baum-Kreuzes hinleiten soll. So wie es inder Adamsvita eine Brücke zwischen den drei Welten schlägt, so auchzwischen den drei prominentesten Ereignissen der Heilsgeschichte: Sün-denfall, Erlösung und Weltengericht. Schon Augustinus deutete die Kon-figuration der drei Gekreuzigten wie folgt: Inter duos latrones crucifixuserat: hinc et inde facinorosi confixi, in medio ipse. Et tamquam illudlignum tribunal esset, insultantem damnavit, confitentem coronavit. 'Das Baum-Kreuz war der erste Richterstuhl Christi, folglich muß er,typologischem Erfüllungszwang gehorchend, auch am Ende der Zeitenauf ebendiesem Stuhl zu Gericht sitzen.

Auch Oswald hat sich die letztmögliche, eschatologische Dimen-sion des geistlichen malen nicht entgehen lassen. Denn dies ist wohlunter jener „Zeit" zu verstehen, die er in seinen Alpträumen heraufziehenspürt (V. 49-52). So ungewöhnlich die Formel die zeit dringt her, gemäßTreichler, für ein Tagelied ist, so ganz und gar geläufig ist sie im Zusam-menhang mit der Ankündigung des Jüngsten Gerichts (z. B. Mth 8,29;Mk 13,33; Off 1,3; l Kor 4,5). Und hierzu fügt sich wiederum überauspassend die Wendung des schidlich streuen. Während sie im weltlichverstandenen Tagelied tautologisch das .scheidende Sich-Zerstreuen' desLiebespaares meint, erhält sie unter endzeitlichem Blickwinkel die beiweitem furchteinflößendere Bedeutung jenes .schiedsrichterlichen Tren-nens'36 der Gerichteten in Verdammte und Gerettete.

Eine letzte Bemerkung muß ich der Deutlichkeit halber nochanfügen. Wenn ich für einen geistlichen Hintergrund von Kl 40 plädiere,so nicht in der Meinung, die vordergründig-weltliche Lesart sei imGegenzuge bedingungslos zu verwerfen. Zwar weist der Text, rein welt-lich aufgefaßt, diverse Ungereimtheiten auf, die ich nicht als dichterischeSchwächen, sondern als einschlägige Interpretationssignale des Autorszu deuten versucht habe. Dennoch: „Unmißverständlich" wollte Oswaldoffenbar gerade nicht sein, sonst wäre ihm dies durch monosemierendeWort- und Bildwahl gewiß ein leichtes gewesen. Es muß ihm im Gegen-teil daran gelegen haben, daß seine Hörerschaft beide Deutungshorizonte

35 Zitiert nach Robert L. Füglister (Anm. 29) S. 180; vgl. ebd. S. 210f.

36 Zu schidlich vgl. Kl 112,325: schidlich man =(weltlich-juristischer) .Schiedsrichter'.

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zugleich wahrnahm und aufeinander bezog. Ebenso wie der von Sethgeschaute Paradiesbaum im Makrokosmos, versucht Oswalds weltlich-geistliches Tagelied-Frühlingslied-Wecklied-Maibaumlied Kl 40 dieKluft zwischen Diesseits und Jenseits gleichsam mikrokosmologisch zuüberbrücken.

37 Auch andernorts ist er so verfahren, besonders in den umstrittenen Liebesliedern Kl 12und Kl 78. Auch dort führt m.E. der sattsam bekannte Gelehrtenzank darüber, ob dieGeliebte nun mit Margarete von Schwangau oder mit Maria zu identifizieren sei, am Zielschlichtweg vorbei.

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