Ästhetische Welterschließung bei Oswald Spengler und Walter Benjamin

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Andreas Hetzel (1993) Ästhetische Welterschließung bei Oswald Spengler und Walter Benjamin (veröffentlicht 2005 in der Sic et Non – Online Zeitschrift für Philosophie und Kultur) www.sicetnon.org

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Andreas Hetzel (1993)

Ästhetische Welterschließung

bei

Oswald Spengler und Walter Benjamin

(veröffentlicht 2005 in der Sic et Non – Online Zeitschrift für Philosophie und Kultur) www.sicetnon.org

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Inhaltsverzeichnis 0.Vorwort................................................................................................................................................................. 5 1. Ästhetische Welterschließung ........................................................................................................................ 11 1.1.Transformationen der Ästhetik .................................................................................................................... 11 1.2. Die Überbietung des Geltungsanspruchs der Kunst ............................................................................... 18 1.2.1. Jean-François Lyotard und die Ästhetik des Erhabenen...................................................................... 21 1.2.2. George Steiners Ästhetik der realen Gegenwart Gottes ...................................................................... 38 1.3. Die Entdifferenzierung des Ästhetischen.................................................................................................. 44 1.3.1. Die Entdifferenzierung der Ästhetik zu einer allgemeinen Kulturwissenschaft............................... 46 1.3.2. Die semiotische Entdifferenzierung des Ästhetischen......................................................................... 54 1.4. Stile und Bilder als Medien ästhetischer Weltweisenartikulation ........................................................... 70 2. Oswald Spengler und Walter Benjamin: Apokalyptik und Eschatologie oder vom fatalen Versuch, die Geschichte zu hintergehen ....................................................................... 89 3. Zwischen Kulturphilosophie und ästhetischer Theorie: Oswald Spengler............................................ 102 3.1. Spenglers Heraklit-Dissertation als früheste Manifestation seiner lebensphilosophischen Ästhetik.. 103 3.2. „Der Untergang des Abendlandes“ als Roman oder Spenglers „Übermaß an unbefriedigter Einbildungskraft“.................................................................... 118 3.3. Kulturkritik und physiognomische Ästhetik ........................................................................................... 130 3.4. Ansätze zu einer „Hermeneutik des Stils“ bei Spengler und in der Dilthey-Schule.......................... 153 4. Walter Benjamins Rezeption frühromantischer Denkformen in ihrer Aktualität für eine Konzeption ästhetischer Welterschließung ................................................. 165 4.1.Benjamins Romantik-Dissertation ............................................................................................................ 167 4.1.1. „Schreiben über die Romantik“ ............................................................................................................. 167 4.1.2. Walter Benjamin als Literaturkritiker .................................................................................................... 174 4.1.3. Die Entstehungskontexte der Benjaminschen Dissertation über den „Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“. ............................................................... 178 4.1.4. Die Strategie der Benjaminschen Dissertation..................................................................................... 183 4.1.5. System und Fragment: zur (Selbst-)Darstellung romantischer Philosophie.................................... 185 4.1.6. Motive einer Philosophie der Reflexion in der Frühromantik und bei Benjamin .......................... 189 4.1.7. Der Bruch zwischen Frühidealismus und Frühromantik: von der „intellektuellen Anschauung“ zur „Reflexion“...................................................................... 195 4.1.8. Der philosophische Diskurs der Romantik.......................................................................................... 208 4.2. „Steigerung“ und „Mortifikation“: Benjamins Theorie der Kunstkritik ............................................. 221 4.3. „Kritik“ und „Erfahrung“ in Benjamins Geschichtsphilosophie......................................................... 239 4.3.1. Surrealistische aisthesis als Aufklärung ................................................................................................. 241 4.3.2. Film als Welterschließung: Benjamins Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ ........................................... 252 4.3.3. Die „rettende Kritik“ der Geschichte im „dialektischen Bild“ ......................................................... 263 4.3.4. Ästhetik und Geschichtsphilosophie in Benjamins Baudelaire-Studien .......................................... 274 5. Literatur............................................................................................................................................................ 282 5.1. Primärliteratur: ............................................................................................................................................. 282 5.2 Literatur zu Spengler:................................................................................................................................... 282 5.3. Literatur zu Benjamin: ................................................................................................................................ 283 5.4. Andere Literatur: ......................................................................................................................................... 284

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Siglen

UdA1 Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Bd.1. Gestalt und Wirklichkeit. Völlig umgestaltete Ausgabe. München 531924. (≈ 11923)

UdA2 Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Bd.2.

Welthistorische Perspektiven. München 431924. (≈ 11922) UdA(A) Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Bd.1.

Gestalt und Wirklichkeit. München 31919. RuA Oswald Spengler: Reden und Aufsätze. München 1951. PuS Oswald Spengler: Preußentum und Sozialismus. München 1919. JdE Oswald Spengler: Jahre der Entscheidung. Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung. Mün-

chen 21980. MuT Oswald Spengler: Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens. München 1931. Ufr Oswald Spengler: Urfragen. Fragmente aus dem Nachlaß. München 1965. FdW Oswald Spengler: Frühzeit der Weltgeschichte. Fragmente aus dem Nachlaß. Hg. v. Anton Mirko Kokta-

nek. München 1966. Ged Oswald Spengler: Gedanken. Hg. v. Hildegard Kornhardt. München 1941. SpBr Oswald Spengler: Briefe 1913-1936. Hg. v. Anton M. Koktanek. München 1963. GS Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frank-

furt a.M. 1974. BBr Walter Benjamin: Briefe. Hg. v. Gershom Scholem u. Theodor W. Adorno. Frankfurt a.M. 1966. N Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. v. Paul Kluckhohn et al. Stuttgart 1981. KA Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe in 35 Bänden. Hg. v. Ernst Behler. Paderborn-Darmstadt-Zürich

1958f. WA Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1888-1919.

Fotomechanischer Nachdruck München 1987. KdU Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: Werkausgabe Band 10. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt

a.M. 1974. ÄT Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M. 1973.

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„Worte zu dem zu finden, was man vor Augen hat - wie schwer kann das sein. Wenn sie dann aber kommen, stoßen sie mit kleinen Hämmern ge-gen das Wirkliche, bis sie das Bild aus ihm wie aus einer kupfernen Platte getrieben haben.“

Walter Benjamin (GS4,364)

„Physiognomik ist Kunst der Gestaltung von Dingen, die in der Einbil-dung wach werden.“

Oswald Spengler (Ufr.,69)

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0. Vorwort

„Und so ist es mit dem echten Kunstwerk. Es blendet den Menschen bis zur Blindheit und macht ihn sehend.“

Hermann Broch1

In dieser Arbeit soll versucht werden, Momente einer philosophischen Theorie ästhetischer Welter-

schließung zu rekonstruieren und in eine kulturwissenschaftliche Heuristik zu überführen. Ein erster,

systematischer Teil bemüht sich im Anschluß an neuere Arbeiten Arthur C. Dantos, Paul Ricoeurs und

Martin Seels um ein Verständnis der spezifischen Rationalität ästhetischer Weltverhältnisse, die sich

kategorial von allen anderen Weltverhältnissen unterscheiden. Die Eigenart des Ästhetischen, desjeni-

gen also, was ein Kunstwerk zum Kunstwerk macht, wird sich als eine autonome, nicht substituierbare

Weise der Erschließung von Welt zu erkennen geben. Kunstwerke und ausschließlich Kunstwerke reprä-

sentieren nicht nur wie diskursive Sätze Welt, sondern darüber hinaus auch noch Sichtbarkeits- und

Repräsentationsformen von Welt. Kunstwerke drücken in einem Zug einen erfahrenen Ausschnitt der

Welt und, vermittels ihrer eigenen Ausdrucks- und Repräsentationsleistung, den Modus dieser Welterfahrung

aus.

Indem Kunstwerke einen Ausschnitt sinnhaft erfahrener Welt mit dem Modus seiner Erfahrbarkeit und

Repräsentierbarkeit konfrontieren, indem sie beide Ebenen übereinander blenden und miteinander

vermitteln, sprengen sie den Sinnhorizont der menschlichen Lebenswelt von innen und konstituieren

kategorial neue Sichtweisen und Bedeutungen. In Kunstwerken manifestiert sich Neues als Transformation

oder Umwertung eines Alten, als imaginierende Transzendenz von innen. Kunstwerke lassen sich als

entäußerte Einbildungskraft interpretieren. Einbildungskraft wiederum stellt sich dar als internalisierte

ästhetische Kompetenz.

Die ästhetische Eröffnung neuer Sichtweisen geht immer mit einem Verlust einher. Um den Menschen

sehend zu machen, muß ihn das Kunstwerk, wie uns das Motto, das diesem Kapitel voransteht, lehrt,

zunächst blenden, muß sein eingespieltes Vorverständnis von Welt einer Krise aussetzen. Die „Entde-

ckungen“, die Kunstwerke ermöglichen, gehen mit einer „Destruktion“2 einher; die „Einsichten“, die

sie gewähren, resultieren aus einer „Blindheit“3, die sie vorab erzeugen. Die Rationalität des Ästheti-

schen ist weder ausschließlich sinnsubversiv noch ausschließlich sinnkonstituierend. Subversion und

Konstitution von Sinn kommen in ästhetischer Erfahrung zur Deckung. Ästhetische Erfahrung steigert

die Strukturlogik alltäglicher Erfahrung: „Erfahrungen sind stets neue Erfahrungen und bilden ein Ge-

1 Hermann Broch: Einige Bemerkungen zum Problem des Kitsches. In: Ders.: Dichten und Erkennen. Essays. Bd.1. Zürich

1955. S. 295-309. Hier: S. 309. 2 vgl. Marianne Kesting: Entdeckung und Destruktion. Zur Strukturumwandlung der Künste. München 1970. S. 9. 3 vgl. Paul de Man: Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism. New York 1971.

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gengewicht zum Vertrauten.“4 Die Rede von der „Steigerung“ alltäglicher in ästhetischer Erfahrung soll

nicht bedeuten, daß es sich bei der Differenz zwischen beiden Erfahrungsarten nur um einen quantita-

tiven Intensitätsunterschied handelt. Durch eine noch zu explizierende Form von Selbstbezüglichkeit

hebt sich der ästhetische auch qualitativ von jedem anderen Erfahrungsmodus ab.5

Der Schnittpunkt, in dem sich Erfahrung von Welt und Erfahrung der Modi möglicher Welterfahrung

im Kunstwerk kreuzen, ist ein blinder Punkt. Er wird von der Tradition in der Regel als „Bildlichkeit“

oder „Stil“ des Kunstwerks bezeichnet. Stil und Bildlichkeit gelten als Träger der immanenten Poetolo-

gie des Werkes, als Träger seiner Reflexion auf die Weise seiner Darstellung. Stil und Metaphorizität

von Werken setzen das vom Werk „Gemeinte“ und seine „Art des Meinens“ (GS4,14), eine Erfahrung

und unsere Modi des Erfahrungserwerbs, in ein kompliziertes Verhältnis von wechselseitiger Erhellung

und Dementierung, von Bedeutungsbildung und Bedeutungssubversion, welches dem von Kant in be-

zug auf das ästhetische Urteil beschriebenen „freien Spiel“ zwischen sinnlichem Einzeldatum und Beg-

riffsvermögen entspricht.

Der Fokus des Interesses der vorliegenden Arbeit richtet sich auf die ästhetischen Kategorien „Stil“

und „Bild“ (bzw. in sprachlichen Kunstwerken „Metapher“)6. Es soll gezeigt werden, wie Kunstwerke

als „Großmetaphern“ Verständnis-Horizonte aufsprengen und auf einer höheren Ebene neu schließen,

wie sie unsere sinnhaft erfahrene Welt in Frage stellen und auf autonome Weise neu interpretieren. In

der Gleichzeitigkeit ihrer „situations-“ und „verfahrensrepräsentativen“7 Leistungen vermag es Kunst,

Sinnidentität dazu zu bringen, sich selbst hin zu einer Nichtidentität zu überschreiten. Diese Nichtiden-

tität ist nicht das „Andere der Vernunft“, sondern ein Neues, das dialektisch auf die vorverstandene

Welt bezogen bleibt. Hermeneutisch gesprochen transformieren Kunstwerke Horizonte. Sie führen zu

einer „Erleuchtung“, die, wie Benjamin wußte, „profan“ (GS2,297) bleibt.

Diese hier nur angedeutete Konzeption ästhetischer Welterschließung hat sich heute mit zwei dominan-

ten Gegenpositionen auseinanderzusetzen. Ein starker Strang der Gegenwartsästhetik versucht Kunst

als Instanz der Vergegenwärtigung einer außerweltlichen Präsenz zu interpretieren. Kunst versinnbild-

licht für die hierher gehörenden Autoren ein transdiskursives Wahrheitsgeschehen. Werke erschließen

ihnen nicht unsere, sondern eine jenseitige Welt. Für Jean-François Lyotard und George Steiner, deren

Positionen weiter unten diskutiert werden sollen, bricht in Kunstwerken das ganz Andere in unsere

4 Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken. Frankfurt a.M. 1988. S. 85. 5 „Die Kunstgeltung ist nicht ein Kompendium oder Zusammenspiel oder Integrationsphänomen oder Steigerungsmodus

anderer Arten der Geltung, sie ist eigener Art.“ Martin Seel: Kunst, Wahrheit, Welterschließung. In: Franz Koppe (Hg.): Perspektiven der Kunstphilosophie. Frankfurt a.M. 1991. S. 36-80. Hier: S. 36.

6 „Stil“ und „Bild“ sind nur zwei (wenn auch prominente) von vielen möglichen Kategorien, mit denen jener „blinde Punkt“ des Ästhetischen umkreist, aber nie völlig erfaßt werden kann.

7 Martin Seel, dessen Schriften vorliegende Untersuchung vieles verdankt, stellt „die Frage nach dem Verhältnis der verfah-rensrepräsentativen zur situationsrepräsentativen Leistung der Kunst. An dieser Frage hat sich die Behauptung zu bewähren, es sei die Form der Kunst, die eine dieser Leistungen durch die Erfüllung der anderen zu vollbringen. An dieser Frage hat sich zugleich die These zu bewahrheiten, es sei die Funktion dieser Form die der Weltweisenartikulation. Es ist ein Ge-meinplatz der modernen Ästhetik, daß Kunstwerke Zeichen sind, deren Bedeutung es ist, zu zeigen, wie sie zeigen, was sie zeigen.“ Martin Seel: Kunst, Wahrheit, Welterschließung. A.a.O.: S. 61.

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Welt ein. Diese Überbietung des Geltungsanspruchs der Kunst führt, wie sich zeigen wird, zu einer Hete-

ronomisierung des Ästhetischen. Wie in der Vormoderne wird das Kunstwerk als Verkörperung einer

heiligen Substanz, als sinnlicher Ausdruck einer transzendenten Idee verstanden. Hinter der Maske ei-

ner so verstandenen „Ästhetik“ verbirgt sich eine wiederauferstandene Metaphysik. In diesem Zusam-

menhang steht die gegenwärtige Renaissance der ästhetischen Kategorie des Erhabenen. Es wird sich

zeigen, daß diese Art von Ästhetik es schwer hat, sich gegen die Rationalitätsstandards der nachmeta-

physischen philosophischen Moderne zu behaupten.

Der zweite Strang heutiger Ästhetik, gegen den sich eine Theorie ästhetischer Welterschließung zu be-

währen hat, ist paradoxerweise antiästhetisch eingestellt. Ihm geht es um eine Entdifferenzierung der Ästhe-

tik zu einer allgemeinen Kulturwissenschaft und des Ästhetischen zu einer textuellen Qualität, die unter-

schiedslos allen Diskursen zugrunde liegt und in einer kritischen Lektüre gegen die nicht-ästhetischen

Geltungsansprüche dieser Diskurse ausgespielt werden soll. Die Ästhetik wird hier in einem Zug als un-

definierbar (im wörtlichen Sinne von unbegrenzbar) und als neue prima philosophia ausgewiesen, deren Gel-

tungsanspruch den der „rationalen“ Diskurse weit übersteige. Das Ästhetische wird komplementär dazu

als dominierender Zug aller unserer Diskurse und Weltverhältnisse eingeklagt. Ein souverän geworde-

nes Ästhetisches entdifferenziert und überbietet die autonome Kunst. Auch diese Position verwickelt

sich in ein Begründungsproblem, so daß sie sich als nicht haltbar erweisen wird.

Nach der kritischen Auseinandersetzung mit diesen beiden Hauptströmungen der gegenwärtigen

Kunstphilosophie folgt im letzten Abschnitt des ersten Teils dieser Arbeit eine Engführung des Kon-

zepts „ästhetische Welterschließung“ auf die Begriffe „Stil“ und „Metapher“. Beide Kategorien haben

in der gegenwärtigen Ästhetik Konjunktur. Bei Arthur C. Danto und Paul Ricoeur avancieren sie zu

Leitkategorien der Kunstbetrachtung und der Hermeneutik. Die stilistische und tropologische Funktion

der Werke, ihre Funktion als „Großmetaphern“, wird von diesen Autoren übereinstimmend als Instanz

der Subversion eingespielter semantischer Üblichkeiten und gleichzeitig als Instanz der Artikulation von

neuen Aussichten auf die Welt verstanden. Stile und Metaphern werden von ihnen interpretiert als

Transfigurationen des Gewöhnlichen8, als Erfahrbarmachung unserer Erfahrungen9, als außeralltägliche

Erschließung der Modi unserer alltäglichen Welterschließungen. Kunst wird somit verstanden als auto-

nomer, nichtsubstituierbarer Modus der Reflexion und Transformation unserer Weltverhältnisse, als

privilegierte Möglichkeit einer Transzendenz von innen.

Eine solche Konzeption von Kunst als Interpretation unserer alltäglichen Interpretationsleistungen fin-

det sich nicht erst bei zeitgenössischen Autoren, sondern schon in der Romantik, in der an die Roman-

tik anknüpfenden Lebensphilosophie und bei Walter Benjamin, der wiederum sowohl romantische als

auch lebensphilosophische Motive weiterführt. In den auf die systematische Einführung folgenden Tei-

8 vgl. Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Übers. v. Max Looser. Frankfurt

a.M. 1984. 9 vgl. Martin Seel: Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der Ästhetischen Rationalität. Frankfurt a.M. 1985.

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len dieser Arbeit soll der Versuch unternommen werden, Motive lebensphilosophischer und Benjamin-

scher Ästhetik aufeinander und auf die aktuelle Ästhetik-Debatte zu beziehen und für diese fruchtbar

zu machen. Der Vergleich kunstphilosophischer Versuche der Gegenwart mit solchen der ersten Hälfte

dieses Jahrhunderts soll gleichzeitig dazu dienen, die Grenzen beider Theoriestränge aufzuzeigen.

Als exemplarischer Vertreter der Lebensphilosophie wird im dritten Teil der vorliegenden Arbeit Os-

wald Spengler herangezogen, nachdem ein überleitender zweiter Teil das Verhältnis zwischen Spengler

und Benjamin beleuchtet und beide in der geistigen Landschaft ihrer Zeit verortet. Die Wahl Spenglers

mag zunächst befremden, gilt er doch primär als Geschichtsphilosoph und als politischer Denker. Seine

Schriften werden heutzutage in erster Linie von Historikern als Dokumente der Bewußtseinsgeschichte

der Zwischenkriegszeit rezipiert. Detlef Felken schreibt gleich auf der ersten Seite seines Spengler-

Buchs: „Spengler verkörpert vor allem ein Stück Bewußtseinsgeschichte vom Kaiserreich zur Diktatur.

Die Frage nach seiner geistigen Stellung ist deshalb primär historischer Natur.“10 Spenglers Rolle wird

in diesem Kontext oft auf die eines irrationalistischen Wegbereiters des Nationalsozialismus reduziert.

Ohne die offensichtliche Vorläuferschaft Spenglers für den Nationalsozialismus bestreiten zu wollen,

sollen hier Tendenzen des Spenglerschen Werks aufgezeigt werden, die dem politisierten Rezeptionsin-

teresse zu Unrecht zum Opfer gefallen sind und im Kontext ästhetischer Theorie aktualisiert zu werden

verdienen.

Die heuristische Leitkategorie der Spenglerschen Geschichtsphilosophie bildet ein aus konkreter

Kunsterfahrung entwickelter Begriff des Stils. Die jeweilige Welthaltung oder mit Dilthey der jeweilige

„Weltanschauungstyp“ einer Epoche findet für Spengler seinen Ausdruck in einem Epochenstil. Dieser

ist für den Historiker nicht unvermittelt und diskursiv rekonstruierbar, sondern läßt sich einzig über die

Betrachtung der Kunstwerke einer Epoche, die Spengler als potenzierten Ausdruck des Epochenstils

versteht, fassen. Die diesem nicht-diskursiven Stil angemessenen Erkenntnisformen nennt Spengler im

Anschluß an Goethe und die Spätaufklärung „Physiognomik“ und „Morphologie“. Spenglers in seinem

Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“ (1918f.) entfaltete Geschichtsphilosophie erweist sich

somit als implizite ästhetische Theorie, welche über die Betrachtung von Kunstwerken die grundlegen-

den, diskursiv nicht vollständig artikulierbaren Weltverhältnisse der Menschen einer Epoche zu

bestimmen versucht.

Auch für Walter Benjamin, dem der vierte Teil dieser Arbeit gewidmet ist, richtet sich das Interesse des

Kunstkritikers (als welcher sich Benjamin Zeit seines Lebens versteht) nicht einfach auf das in Kunst-

werken Gemeinte, sondern auf ihre jeweilige Art des Meinens. In Auseinandersetzung mit den Kunst-

theorien der Frühromantik entwickelt Benjamin in seiner Dissertation „Der Begriff der Kunstkritik in

der deutschen Romantik“ (1919) eine Konzeption ästhetischer Kritik, die die Eigenreflexion des

Kunstwerkes übersetzt (metaphorisiert) und potenziert. Werke werden von ihm im Anschluß an die

Autoren der Jenenser Frühromantik verstanden als Reflexion auf Reflexion. Das, was die Frühidealisten 10 Detlef Felken: Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur. München 1988. S. 9.

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als intellektuelle Anschauung unserer Weltkonstitutionsleistung einem absoluten Subjekt aufbürden,

verlegen die Frühromantiker in das Kunstwerk. Dem folgt Benjamin und entwickelt ein emphatisches

Kritik-Konzept, das die ästhetische Reflexion auf die alltägliche Reflexion in einem dritten Reflexions-

schritt einholen soll. Diese kritische Reflexion hat den Charakter einer Übersetzung oder Metaphorisie-

rung dessen, was sich im Kunstwerk über dessen diskursiven „Sachgehalt“ hinaus ausdrückt. In späte-

ren Jahren überträgt Benjamin sein ästhetisches Kritik-Konzept wie Spengler seinen Begriff des Stils

auf das Feld der Geschichtsschreibung und -philosophie. Beide Autoren versuchen mit wechselndem

Erfolg die Erschließungskraft von Kunst und Kunstkritik für die nicht primär ästhetische Sphäre der

Historiographie fruchtbar zu machen. Sie reagieren mit diesem Versuch auf eine Krise der Geschichts-

schreibung, die wiederum von einer sich in der Erfahrung des ersten Weltkriegs manifestierenden Krise

der Idee einer kontinuierlich fortschreitenden und sinnhaften Geschichte ausgeht. Der Titel „Ästheti-

sche Welterschließung bei Spengler und Benjamin“ bedeutet nicht primär „Philosophie der Kunst bei

Spengler und Benjamin“. Es soll gezeigt werden, wie beide Autoren die Strukturlogik des Ästhetischen

an Kunstwerken aufzeigen, um sie in einem zweiten Schritt in ihre geschichtsphilosophischen Entwürfe

zu transplantieren. Dieser zweite Schritt bleibt aber vom ersten abhängig. Das Bewußtsein dieser Ab-

hängigkeit unterscheidet die Konzeptionen Spenglers und Benjamins wohltuend von heute gängigen,

allzu voreiligen Entdifferenzierungen der Ästhetik zu einer Aisthetik mit kulturwissenschaftlicher Uni-

versalkompetenz.

In dieser Arbeit kann und soll es nicht darum gehen, auf die Fragen nach der Ästhetik und den Kunst-

werken grundsätzlich neue Antworten zu geben. Es geht vielmehr darum, „klassische“ Antworten (wie die

der Lebensphilosophie und Benjamins) zu verstehen und im Verstehensprozeß zu verschieben, sie

wechselseitig aufeinander und auf gegenwärtige Versuche abzubilden, sie im Sinne Apels zu „transfor-

mieren“11, sie unter möglichst weitgehender Bewahrung ihrer argumentativen Eigenständigkeit in die

„Sprache“ gegenwärtiger Philosophie zu übersetzen. Die Referenz gerade auf die Texte der Frühro-

mantik, Spenglers und Benjamins im Zusammenhang ästhetischer Fragestellungen impliziert eine Wer-

tung, die sich erst im Verlauf der Arbeit selbst zu legitimieren vermag.

Zum Schluß sei noch auf die Gefahr „schlechter“ Abstraktheit verwiesen, in die sich diese Arbeit be-

gibt, wenn sie über Theorien reflektiert, die über Kunstwerke reflektieren, die ihrerseits als Manifestatio-

nen von Reflexion über Reflexion über Welt betrachtet werden können. Wenn „Ästhetik“ zum abwä-

genden Vergleich anderer ästhetischer Theorien wird, droht sie die Fühlung zu konkreter Kunsterfah-

rung und konkreten Werkinterpretationen zu verlieren. Vor dieser konstitutiven Gefahr jeder ästheti-

schen Theorie hat schon Friedrich Schlegel in einem „Lyceums“-Fragment, welches Theodor W. A-

dorno seiner „Ästhetischen Theorie“ als Motto voranstellen wollte, gewarnt: „In dem, was man Philo-

sophie der Kunst nennt, fehlt gewöhnlich eins von beiden; entweder die Philosophie oder die Kunst.“

(KA2,148) Selbst in sich kohärente ästhetische Theorien können ihren historisch äußerst wandelbaren 11 Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie. In: Ders.: Transformation der Philosophie. Frankfurt a.M. 1976. S. 9-77.

10

Gegenstandsbereich konstitutiv verfehlen, wenn sie die Nabelschnur zur konkreten Kunsterfahrung

(und zur Kunstkritik als deren methodisierter Gestalt) durchschneiden. Kunsttheorie und Kunsterfah-

rung bedürfen einander. Sie bilden einen hermeneutischen Zirkel. Die Kritik eines einzelnen Kunst-

werkes muß sich, um dessen Gehalt nicht wesentlich zu verfehlen, auf das spezifisch Künstlerische des

Werks richten. Kunstkritik bedarf eines Begriffs von Kunst, den ihr nur Kunstphilosophie zu geben

vermag. Kunstphilosophie, die die Frage nach dem Wesen der Ästhetizität ästhetischer Phänomene

stellt, bedarf dagegen der Erfahrung konkreter Kunstwerke, die ihr die Kunstkritik bereitstellen muß.

Jeder Versuch auf dem Felde ästhetischer Theorie bleibt als Theorie notwendig fragmentarisch. Der

„Gegenstand“, um den ästhetische Theorie kreist, die Ästhetizität ästhetischer Phänomene, läßt sich

nicht unvermittelt aussagen und nicht ohne Verluste in Diskursivität übersetzen. Insofern gleicht Äs-

thetik

„dem Flug des Ikarus. Denn je näher das Denken dem generellen Begriff kommt, um so weniger haftet an ihm das Substantielle, dem es den Aufschwung verdankt. Auf der Höhe der Einsicht in die Struktur [...] fällt es kraftlos in sich zusammen.“12

12 Peter Szondi: Versuch über das Tragische. In: Schriften I. Hg. v. Jean Bollack u.a. Frankfurt a.M. 1978. S. 149-260. Hier:

S. 200.

11

1. Ästhetische Welterschließung

„Von der Philosophie sagt man, sie beginne beim Wunder und ende im Verstehen. Kunst nimmt ihren Ausgang beim Verstandenen und endet im Wunder.“

John Dewey13

1.1. Transformationen der Ästhetik

Die Geschichte der Kunst und der Ästhetik als philosophische Wissenschaft von der Kunst läßt sich

begreifen als Geschichte ständiger Auf- und Abwertungen. Schon bei Platon schwanken die Bestim-

mungen des Schönen und der Kunst eigentümlich zwischen „Dignität“ und „Defiziens“.14 Einerseits

grenzt Platon die Kunst als verwerflichen Schein des Scheins aus seinem Idealstaat aus15, andererseits

gilt ihm das Schöne als unverzichtbarer Vermittler zwischen den Sphären des Profanen und der I-

deen.16+17 Die Dignität des Schönen und die Defiziens der Kunst stehen im Denken Platons nicht un-

vermittelt nebeneinander. Die Defiziens der Kunst läßt sich vielmehr als logische Folge der Art und

Weise begreifen, in der Platon die Dignität des Schönen bestimmt. Das Schöne gilt ihm als Abglanz der

Ideen, als Stufe auf der Treppe, über die sich der Schauende zu den Ideen erhebt. Die Schönheit hat für

Platon einen medialen Charakter, sie wird als „geburtshelfende Göttin“18 in den Dienst der Ideen des

Wahren und Guten gestellt. Sie ist gleichzeitig souveräne Göttin und heteronome Dienerin. Gegenüber

den Ideen des Wahren und Guten bleibt sie minderwertig.

Aus Platons ambivalenter Bestimmung des Schönen und der Kunst ergaben sich für die Tradition

ästhetischer Theorien des Abendlandes im wesentlichen drei systematische Anknüpfungspunkte, die

hier kurz vorgestellt werden sollen. Theorien, die Platons Definition des Schönen als mittelbarer

Instanz der Anamnesis an die (endlichen Wesen verwehrte) unmittelbare Ideenschau aufgreifen, erliegen

der Dialektik von Dignität und Defiziens. Die als Mittel zur Schau transreflexiver Ideen gewürdigte Kunst

wird als Mittel gleichzeitig entwürdigt. Ein sie überprivilegierendes Verständnis von Kunst als Instanz der

weltlichen Repräsentation eines überweltlichen Ideenhimmels, Absolutums oder Gottes, muß die

Kunst gegenüber diesem Absolutum gleichzeitig abwerten. Die Überbietung des Geltungsanspruchs der

13 John Dewey: Kunst als Erfahrung. Übers. v. Christa Velten, Gerhard vom Hofe u. Dieter Sulzer. Frankfurt a.M. 1988. S.

317. 14 vgl. Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a.M. 1991. S. 91f. 15 vgl. Platon: Politeia. 10. Buch 596a ff. - Hier und im folgenden wird Platon zitiert nach der Ausgabe Sämtliche Werke in 6

Bänden. Übers. v. F. Schleiermacher. Reinbek bei Hamburg 1984. Die Ziffern beziehen sich, der allgemein üblichen Zitierweise folgend, auf Seiten- und Abschnittszahlen der Stephanus-Ausgabe (Paris 1578).

16 vgl. Platon: Phaidros 249d ff.; Hippias maior 297a ff.; Symposion 206b ff. 17 „Schönheit“ und „Kunst“ werden von Platon als voneinander unabhängige Phänomenbereiche behandelt. Der neuzeitli-

che Begriff der „Kunstschönheit“ war ihm fremd. Da sich die neuzeitlichen Philosophien der Kunst bei der Definition des für sie zentralen Begriffs des Kunstschönen oft auf ein platonisches Erbe berufen, kann das Verhältnis von Kunst und Schönheit bei Platon selbst an dieser Stelle vernachlässigt werden. Es geht weniger um eine adäquate Rekonstruk-tion der Argumente Platons als um ihre in der Rezeptionsgeschichte tradierte Gestalt.

18 Platon: Symposion 206b ff.

12

Kunst ist insofern immer auch eine Unterbietung.19

Die zweite, zur ersten komplementäre, Möglichkeit einer Anknüpfung an Platon besteht in der offenen

Entwertung der Kunst und des Ästhetischen als unangemessen gegenüber Gott, dem Absolutum oder

der Wahrheit. Ausgehend von einer platonischen Metaphysik kann Kunst als Nachahmung einer Welt

verstanden werden, die selbst schon als Nachahmung einer außerweltlichen, „göttlichen“ Wahrheit

aufgefaßt wird. Als „Schein des Scheins“ wird Kunst doppelt uneigentlich gegenüber der Welt und der

diese Welt konstituierenden außerweltlichen Wahrheit. Die historische Folge dieser Abwertung des

Ästhetischen ist der Ikonoklasmus. In der Neuzeit entspricht dieser Haltung der von einem szientifisch

verkürzten Rationalitätsbegriff ausgehende Irrationalitätsvorwurf gegenüber der Kunst und der

Ästhetik.

Ein dritter Traditionsstrang ästhetischer Theorie kehrt die Prämissen des zweiten um. Kunst wird auch

hier zunächst als „Nachahmung der Nachahmung“ oder „Schein des Scheins“ bestimmt, in dieser

doppelt supplementären Rolle jedoch nicht abgewertet, sondern gegenüber den Vorstellungen einer

substantiellen Welt und einer überweltlichen Präsenz aufgewertet. In einem umgekehrten Platonismus

wird der ästhetische Schein als das Uneigentliche gerade in seiner Uneigentlichkeit jeder eigentlichen

Wirklichkeit vorgezogen. Die doppelte Heteronomie der Kunst begründet nun ihre Souveränität.

Dieser als Kritik am Platonismus verstandene Schachzug bleibt noch von den Prämissen des

Platonismus abhängig. Die ästhetisch motivierte Kritik an der Metaphysik, wie sie von Nietzsche,

Derrida und de Man geübt wird, führt zu deren Überbietung. Die genannten Autoren entdifferenzieren

Kunst und Ästhetik (als Lehre von der Kunst) zu einem universalen Ästhetischen. „[...] nur als ästhetisches

Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“20, heißt es bei Nietzsche. Der ästhetische Schein

wird hier selbst zu einem Eigentlichen, das in seiner Uneigentlichkeit noch eigentlicher sein soll, als das,

was bisher für eigentlich gehalten wurde. Als undialektische Metaphysik-Kritik führt diese

Entdifferenzierung des Ästhetischen nicht, wie vielleicht anzunehmen wäre, zu „nachmetaphysischem

Denken“, sondern zu einer „Meta-Metaphysik“.

Erst eine Ästhetik, die Kunstwerke nicht weiter als souveränen Ausdruck eines transreflexiven

Wahrheitsgeschehens oder als heteronomes Nachbild eines Nachbilds sondern als eine autonome Weise der

Welterschließung neben anderen bestimmen würde, vermöchte den circulus vitiosus von Dignität und

Defiziens des Ästhetischen zu durchbrechen. Der Übergang vom Oszillieren zwischen

Souveränisierung und Heteronomisierung des Ästhetischen zu seiner Autonomisierung fällt zusammen

19 „Der gemeinsame Maßstab, gemessen an dem sich das Ästhetische als Überbietung des Nichtästhetischen erweisen soll,

ist [...] die Wahrheit des in ihnen artikulierten »Bewußtseins« das Ästhetische als Überbietung des Nichtästhetischen zu bezeichnen heißt, ihm an Wahrheit überlegene Einsichten zutrauen. Diese Zuschreibung überlegener Wahrheit ans Äs-thetische kann aber selbst gar nicht anders denn im Medium eben desjenig»n Diskurses vorgenommen werden, dessen Vormacht diese Zuschreibung gerade brechen sollte, der Philosophie.“ Christoph Menke: Umrisse einer Ästhetik der Negativität. In: Franz Koppe (Hg.): Perspektiven der Kunstphilosophie. Texte und Diskussionen. Frankfurt a.M. 1991. S. 191-216. Hier: S. 211.

20 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie oder Griechentum und Pessimismus. In: Werke in drei Bänden. Hg. v. Karl Schlechta. Erster Band. München 1982. S. 7-134. Hier: S. 40.

13

mit dem Übergang vom Paradigma der Nachahmung zum Paradigma der Erschließung. In diesem wären die

Kunstwerke weder bloße Supplemente der Welt oder eines außerweltlichen Absolutums, noch wäre die

Vorstellung der Welt ein sekundärer Effekt des Spieles ästhetischer Signifikanten. Es käme vielmehr

darauf an, das Ineinander von Interpretations- und Konstitutionsleistungen der Kunst herauszustellen,

in welchem weder der Kunst noch der durch sie erschlossenen Welt die Rolle eines logisch und

genetisch Ersten zukäme. Prämisse einer solchen Ästhetik wäre wiederum eine Philosophie, die auf die

Annahme einer zentralen metaphysischen Präsenz verzichten könnte, ohne im Gegenzug in einen

radikalen Hermetismus der Signifikanten, in eine „Semontologie“21 zu verfallen. Ein vielversprechender

Kandidat für eine solche Philosophie scheint die neuzeitliche Hermeneutik zu sein. Die Hermeneutik

kann die sinnhafte Konstituiertheit der Welt mit ihrer Faktizität zusammendenken, ohne in die letztlich

komplementären Extreme einer Metaphysik der vorgängigen Präsenz der Welt oder eines Relativismus

des universalen Scheins zu verfallen.

Um den historischen Einsatzpunkt der hermeneutischen Ästhetiken an der Wende vom 18. zum 19. Jh.

zu verstehen, soll nun kurz auf die Geschichte der neuzeitlichen Ästhetik eingegangen werden, die sich

als Reflex auf den oben skizzierten Kreislauf von Überbietung, Ausgrenzung und Entdifferenzierung des

Ästhetischen lesen läßt.

Die Fragen der neuzeitlichen Ästhetik als philosophischer Disziplin richten sich zur Zeit ihrer

Konstituierung in der Mitte des 18. Jhs zunächst auf die Wahrnehmung und nur an zweiter Stelle auf

die Wahrnehmung des Schönen und der Kunst. Erst später hat sich „Ästhetik“

„als Titel des Zweiges der Philosophie eingebürgert, in dem sie sich den Künsten und dem Schönen in der Allgemeinheit zuwendet, daß die Künste in ihrer gegenwärtigen Gestalt und in ihrer europäischen und außereuropäischen Geschichte gleicherweise als ästhetischer Gegenstand und die sie begleitenden Theorien Platons oder Plotins, des Mittelalters oder Kants, Schellings und Hegels als ästhetische Theorien gelten.“22

Etymologisch läßt sich „Ästhetik“ auf das griechische Substantiv aisthesis zurückführen, welches nichts

anderes als „Wahrnehmung“ bedeutet. Mit dieser etymologischen Wurzel des „Ästhetik“-Begriffes

können die vor-neuzeitlichen Kunstphilosophien nicht in Verbindung gebracht werden. In der Antike

und im Mittelalter ist die Philosophie des Schönen kein Teil einer allgemeinen Theorie der Wahrneh-

mung, sondern besteht in dem Versuch, die Sphären der Kunst und des Schönen ontologisch zu

bestimmen. Das Schöne bildet ein Kontinuum mit dem Wahren und dem Guten. Wie wir gesehen ha-

ben, ist dieses triadische Kontinuum hierarchisch strukturiert. Das Schöne erfüllt gegenüber dem Wah-

ren und Guten nur eine Zuträgerfunktion. Von „autonomer Kunst“ kann vor Beginn der Renaissance

nicht gesprochen werden.

Mit der Einführung ihres Begriffs in die philosophische Tradition durch Baumgarten, dessen

21 Zum Begriff vgl. Werner Hamacher: pleroma - zu Genesis und Struktur einer dialektischen Hermeneutik bei Hegel. In:

G.W.F. Hegel: Der Geist des Christentums. Schriften 1796-1801. Hg. v. Werner Hamacher. Berlin 1978. S. 9-333. Hier: S. 262.

22 Joachim Ritter: Artikel „Ästhetik“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter. Bd.1. Basel und Stuttgart 1971. S. 555-580. Hier: S. 555.

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„Aesthetica“ 1750 erscheint, wird die „Ästhetik“ zu einer allgemeinen Theorie der Sinne und der

Wahrnehmung, die auch eine Lehre von der Wahrnehmung des Schönen und der Kunst beinhaltet. Die

Verlagerung der Lehre vom Schönen, die bisher der Ontologie vorbehalten war, auf das Gebiet einer

generellen Wahrnehmungslehre arbeitet der Autonomisierung der ästhetischen Geltung entschieden

vor. Gleichzeitig kündigt sich auf dem Feld der zur „Ästhetik“ gewordenen Kunstphilosophie die

kopernikanische Wende aufs Subjekt an, die auf dem Feld der Erkenntnistheorie erst 1781 von Kants

„Kritik der reinen Vernunft“ vollzogen wird. Die Konstitution der philosophischen Ästhetik in der

Mitte des 18. Jhs erweist sich somit als bedeutender Modernisierungsschub. Der Autonomisierung einer

ästhetischen Geltung korrespondiert die Autonomisierung des Subjekts.

Im Vergleich zur begrifflichen Erkenntnis des Wahren gilt die Wahrnehmung des Schönen bei

Baumgarten, der noch ganz in der Tradition der Leibnizschen Schul-Metaphysik steht, zunächst als

niederes Erkenntnisvermögen, als „gnoseologia inferior“23 und als „logica facultatis cognoscitivae inferioris“.24 Das

Schöne erhebt erstmals den Anspruch auf eine eigene Geltung, bleibt gegenüber dem valorisierten

Wahren und Guten aber weiterhin profan.

In der Lehre von der „transzendentalen Ästhetik“ innerhalb der Kantschen „Kritik der reinen

Vernunft“ wird das Substantiv „Ästhetik“ im Sinne einer propädeutischen Wahrnehmungstheorie

verwendet und verliert jeden Bezug zu den Begriffen „Schönheit“ und „Kunst“. Als Lehre von der

räumlichen und zeitlichen Verfaßtheit der Sphäre des Sinnlichen kommt der „Transzendentalen

Ästhetik“ in Kants System ein zwar unverzichtbarer, nichts desto trotz aber gegenüber den nicht an

Raum und Zeit gebundenen Verstandeskategorien und Vernunftprinzipien untergeordneter Stellenwert

zu. Im §1 der „Transzendentalen Ästhetik“ heißt es: „Eine Wissenschaft von allen Prinzipien der

Sinnlichkeit a priori nenne ich die transzendentale Ästhetik“.25 Und in einer berühmten Fußnote zu

diesem Satz:

„Die Deutschen sind die einzigen, welche sich des Wortes Ästhetik bedienen, um dadurch das zu bezeichnen, was andere Kritik des Geschmacks heißen. Es liegt hier eine verfehlte Hoffnung zum Grunde, die der vortreffliche Analyst Baumgarten faßte die kritische Beurteilung des Schönen unter Vernunftprinzipien zu bringen, und die Regeln derselben zur Wissenschaft zu erheben. Allein diese Bemühung ist vergeblich.“26

Seinen Pessimismus in bezug auf die Möglichkeit einer „kritischen Beurteilung des Schönen unter Ver-

nunftprinzipien“ überwindet Kant erst in seiner 1790 erschienenen „Kritik der Urteilskraft“. Das Ver-

mögen der kritischen Beurteilung des Schönen, die „ästhetische Urteilskraft“, rückt hier als vermitteln-

des, aber gleichberechtigtes Vermögen zwischen den theoretischen Verstand und die praktische Ver-

nunft. Damit ist die „Autonomie des Schönen“ in die Welt gesetzt, obgleich das Schöne noch, dem

transzendentalphilosophischen Gesamtkonzept der Kantschen Philosophie folgend, an ein menschli-

23 A.G. Baumgarten: Aesthetica (1750). § 1. zit.n. Joachim Ritter: Artikel „Ästhetik“. a.a.O.: S. 556. 24 a.a.O.: S. 556. 25 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. In: Werkausgabe Bd. 3. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1982. S.

70. 26 a.a.O.: S. 70.

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ches Beurteilungsvermögen gebunden bleibt. Kants „Kritik der Urteilskraft“ ist primär eine Wahrneh-

mungs- (oder Urteils-) Theorie, keine Theorie der Kunst.

Zu einer solchen wird die philosophische Ästhetik bei Schiller, Schelling und Hegel. Schon bei Schiller

beginnen sich die Kategorien „Schönheit“ und „Form“ von den menschlichen Beurteilungsvermögen

abzulösen und werden dem Kunstwerk selbst attribuiert. Die „Schönheit“ wandert vom ästhetisch

wahrnehmenden Subjekt aufs ästhetisch wahrgenommene Objekt. In der Hegelschen Kunstphilosophie

wird deren Titel „Vorlesungen über Ästhetik“ (1835) vollends zum Anachronismus und von Hegel

selbst als solcher bezeichnet:

„Die Vorlesungen sind der Ästhetik gewidmet; ihr Gegenstand ist [...] die schöne Kunst. Für diesen Gegenstand freilich ist der Name Ästhetik eigentlich nicht ganz passend, denn ‘Ästhetik’ bezeichnet genauer die Wissenschaft des Sinnes, des Empfindens [...]. Der eigentliche Ausdruck jedoch für unsere Wissenschaft ist [...] Philosophie der schönen Kunst.“27

Die „Ästhetik“ wird bei Hegel wieder zu jener „Ontologie der Künste“, die sie in den Zeiten vor

Baumgarten gewesen ist. Hegel bindet die als „sinnliches Scheinen der Idee“28 verstandene Schönheit

wieder an Wahrheit an. Daraus folgt eine Heteronomisierung und Abwertung der Kunst gegenüber

dem philosophischen Begriff. Die Philosophie vermag das, was die Kunst nur mittelbar erscheinen lassen

kann (eben die Idee, die nichts anderes ist „als der Begriff, die Realität des Begriffs und die Einheit bei-

der“29), unmittelbar auf den Begriff zu bringen. Aus der Sicht Hegels ist die Kunst „nach der Seite ihrer

höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes“30, da der „Gedanke und die Reflexion“ nach dem En-

de der Antike (und vollends in der Philosophie Hegels selbst) „die schöne Kunst überflügelt.“31 Die

Kunst wird zu einer Vorform der Philosophie. Im System der Philosophie des „absoluten Geistes“

steht die Ästhetik an unterster Stelle. Letztlich wird sie wieder zu jener defizitären „gnoseologia inferior“32,

als welche sie vor ihrer Autonomwerdung in der Mitte des 18. Jhs galt.

Schon Schelling hat diese Entwicklung eingeleitet. In seinem „System des transzendentalen Idealismus“

(1800) gewährleistet die Kunst als „das einzige wahre und ewige Organon zugleich und Dokument der

Philosophie“33 deren Zugriff aufs „Absolute“. Das „Absolute“ selbst wird von Schelling als diskursiv

nicht begreifbare Identität des „theoretischen“ Vermögens der bewußten Weltwahrnehmung mit dem

„praktischen“ Vermögen der unbewußten Weltkonstitution bestimmt. Als einzig möglicher Ausdruck

dieser Identität ist das Kunstwerk zwar privilegiert aber gleichzeitig fremdbestimmt und nicht autonom.

Seine Dignität als Ausdruck des Absolutums geht wie bei Platon einher mit seiner Defiziens gegenüber

diesem Absolutum selbst. In Schellings „Philosophie der Kunst“ (erstmals vorgetragen im

Wintersemester 1802/1803; veröffentlicht postum 1859) muß die Kunst ihr Privileg des einzigen

27 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Hg. v. Friedrich Bassenge. Berlin 1985. S. 13. 28 a.a.O.: S. 117. 29 a.a.O.: S. 112. 30 a.a.O.: S. 22. 31 a.a.O.: S. 21. 32 A.G. Baumgarten: Aesthetica (1750). § 1. zit.n. Joachim Ritter: Artikel „Ästhetik“. a.a.O. S. 556. 33 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transzendentalen Idealismus. Hamburg 1957. S. 297.

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Zugangs zum Absolutum wieder an die Philosophie abtreten.

Neben den drei geschilderten Wegen der Überbietung, Ausgrenzung und Entdifferenzierung der Kunst etab-

liert sich an der Wende vom 18. zum 19. Jh. ein weiterer, vielversprechenderer Weg. Im Kreis der Je-

nenser Frühromantik zeichnet sich erstmals ein Verfahren ästhetischer Kritik und literarischer Herme-

neutik ab, welches das von Platon für die Philosophie der Kunst abgesteckte Prämissensystem ganz

verläßt. Das Neue am frühromantischen Zugang zur Kunst wird deutlich, wenn man ihn neben den

ungefähr zeitgleichen Versuch Schellings stellt, der aus noch zu erläuternden Gründen nicht zur Ro-

mantik im eigentlichen Sinne gerechnet werden darf. Das Wesen der Kunstwerke liegt für die Frühro-

mantiker in ihrer Erschließungsfunktion. Diese Erschließungsfunktion erschöpft sich nicht wie bei Schel-

ling in der Repräsentation eines transreflexiven Absolutums. Das Verhältnis des Kunstwerks zur Welt

wird von den Frühromantikern vielmehr als Ineinander von Nachbildung, Subversion und Konstitution

der Welt gedeutet. Aus der Sicht der Frühromantiker erschließen Kunstwerke kein jenseitiges Trans-

zendentum, sondern eine als immanent begriffene Welt. Im Moment der Erschließung transzendieren

Kunstwerke diese immanente Welt allerdings von innen, indem sie sie in ihrer vorgängigen Erschlossenheit

erschüttern; sie dynamisieren die Statik der Welt immer wieder neu und überführen sie in ein unendli-

ches, offenes Werden. Diese Erschütterung der Statik unserer Weltbilder wird aus der Sicht der Ro-

mantiker durch die Konfrontation einer Sicht auf die Welt mit dem ihr korrespondierenden, vorreflexi-

ven Modus der Sichtbarkeit erreicht. Kunstwerke transformieren unser Vorverständnis von Welt, in-

dem sie wie Friedrich Schlegel schreibt, mittels einer „künstlerischen Reflexion und schönen Selbstbe-

spiegelung [...] in jeder ihrer Darstellungen sich selbst mit darstellen“ (KA2,204). Auch für Clemens

Brentano liegt das Wesen des „romantischen“ und damit „modernen“ Kunstwerks darin, daß es „sei-

nen Gegenstand“ nicht „bloß darstellt“, ihn „nicht allein bezeichnet, sondern seiner Bezeichnung selbst

noch ein Kolorit giebt“, wodurch „die Gestalt der Darstellung selbst ein Kunstwerk“34 wird. Durch die

Inversion zwischen Darstellung und Dargestelltem eröffnen Kunstwerke außeralltägliche oder einfach

immer wieder neue Sichtweisen die sich gegenüber unserem Vorverständnis von Welt exorbitant ver-

halten. Das Kantsche Konzept einer Transzendentalphilosophie kann von Schlegel um das Konzept

einer „Transzendentalpoesie“ (KA2,204) ergänzt werden. Der sich in der Frühromantik ankündigende

Gedanke einer ästhetischen Welterschließung zieht sich durch die Ästhetik-Geschichte bis in unsere

Tage. Wichtige Etappen auf diesem Weg bilden die Schriften der Lebensphilosophen und Walter Ben-

jamins.

Auch im 20. Jh. läßt sich ein Pendeln der Ästhetik zwischen dem Status einer „gnoseologia inferior“ und

dem eines „einzig wahren Organons der Philosophie“ beobachten, das dem oben beschriebenen

vergleichbar ist. Seit dem Ende der großen Systeme der Ästhetik und der Philosophie in der Mitte des

34 Clemens Brentano: Godwi oder das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman von Maria (1800/1802). In: Ders.:

Werke. Bd.2. München 31980. S. 260.

17

19. Jhs kam es einerseits zu einer Inflation spät- und schlechtidealistischer Popularästhetiken35 und

andererseits zur Ausbildung von historisch ausgerichteten Kunstwissenschaften. Die Delegierung der

spezifisch ästhetischen Fragen an die Kunstwissenschaften führte zu Reduktionen. Die Kunstwerke

wurden in der historistisch orientierten Kunstwissenschaft oft zu bloßen Dokumenten eines

geschichtlichen Prozesses degradiert. Die Frage nach ihrer spezifischen Ästhetizität galt lange Zeit als

irrationalistisch. Erst mit der Einsicht in ein mögliches Scheitern der überzogenen

Rationalitätsansprüche der positiven Wissenschaften und der Philosophie in der Mitte des 20. Jhs wird

die Ästhetik wieder, so bei Heidegger und Adorno, zur ultima ratio der Philosophie.

Als Alternative zum erneut einsetzenden Alternieren zwischen „Profanisierung“ und „Valorisierung“36

formiert sich in der Lebensphilosophie des ausgehenden 19. Jhs ein an das frühromantische

anknüpfendes Verständnis von Kunst als „Auslegung des Lebens aus diesem selber“37, das Kunstwerke

weder als Manifestationen eines Transzendenten gegenüber der Welt überbewerten, noch als bloßen

Schein abwerten muß. Mit Spengler und Benjamin sollen in dieser Arbeit zwei Philosophen vorgestellt

werden, die in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts an diesen Versuch einer nachmetaphysischen

Grundlegung der Ästhetik anknüpfen und ihn weiterführen. Spengler und Benjamin eröffnen somit

einen erfolgversprechenden dritten Weg zwischen den Optionen einer metaphysischen Überlastung der

Ästhetik und der Disqualifizierung ihrer Fragen als irrational.

Vor der Erörterung der ästhetischen Konzeptionen Spenglers und Benjamins soll aber, nachdem nun

der historische Einsatzpunkt beider Autoren in der Geschichte der Ästhetik markiert wurde, ihr

systematischer Einsatzpunkt genauer umrissen werden. Dazu ist es zunächst nötig, das hier

vorgeschlagene Konzept „ästhetische Welterschließung“ im Durchgang durch eine Kritik an

überbietungs- und entdifferenzierungsästhetischen Ansätzen zu präzisieren. Als zeitgenössische

Vertreter der Überbietungsästhetik sollen Lyotard und Steiner, als Vertreter der

Entdifferenzierungsästhetik Welsch, Derrida und de Man behandelt werden.

35 Schillers ästhetisch-moralische Utopie wurde im Verlauf des 19. Jhs dem Inventar der bürgerlichen Ideologie einverleibt.

Benjamin schreibt: „So grausam das Spiel, mit dem die »Briefe über die ästhetische Erziehung« die Menschen zu freien Bürgern heranzubilden bestrebt waren, auf dem historischen Schauplatz gestört wurde, so sicher fand es sein Asyl in je-nen Bürgerstuben, die einer Pupenstube so ähnlich sehen konnten.“ (GS4,183)

36 Boris Groys führt in seinem jüngsten Buch Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. München 1992 die Begriffe „Profani-sierung“ und „Valorisierung“ als Leitkategorien eines Verständnisses kultureller und speziell künstlerischer Innovation ein. Neues ist für Groys Resultat einer Valorisierung von Profanem u.u. Als bevorzugte Medien solcher Umwertungen gelten Kunstwerke, z.B. dadaistische „ready-mades“, in denen alltägliche Gegenstände in eine außeralltägliche Konstel-lation versetzt und damit neu gewertet werden. - Oben wurde gezeigt, daß Kunstwerke und die sie begleitenden Diskur-se nicht nur Umwertungen vornehmen, sondern auch als ganze einer Ökonomie permanenter Auf- und Abwertungen un-terliegen.

37 Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing. Goethe. Novalis. Hölderlin. Göttingen 151970. S. 172.

18

1.2. Die Überbietung des Geltungsanspruchs der Kunst

„Vielleicht habe ich die Tendenz, ein prämoderner Theologe zu werden: im Augenblick kann ich nur sagen, daß es gerecht ist, sich ausdrücklich für etwas empfänglich zu halten, was immer vergessen wird.“

Jean-François Lyotard38

Martin Seel ordnet die Ästhetiken der Gegenwart zwei idealtypischen Gruppen zu, von denen er die

eine als „entzugs-“ und die andere als „überbietungsästhetisch“ definiert. „Entzugsästhetisch“ nennt

Seel Theorien,

„die eine spezifische Rationalität des ästhetischen Verhaltens bestreiten im Namen eines exklusiven Konzepts der reinen Reflexion bzw. sprachlosen Intensität, worin sich die ästhetische Wahrnehmung verliert, indem sie sich freispielt aus den Bedeutungen und Begriffen eines kognitiven Weltverständnisses.“39

Die von Seel als „entzugsästhetisch“ bezeichneten Theorien werden in Abschnitt 1.3. vorgestellt. Für

die hierher gehörenden Theorien Derridas, de Mans u.a. soll dort das den Sachverhalt besser treffende

Attribut „entdifferenzierungsästhetisch“ verwendet werden.

An dieser Stelle wird zunächst auf die „überbietungsästhetischen“ Ansätze eingegangen.

„Überbietungsästhetisch“ sind für Seel „Theorien, die eine spezifische Rationalität des ästhetischen

Verhaltens bestreiten im Namen eines integralen Konzepts von Wahrheit und Erkenntnis, für das die

gelungenen Kunstwerke unverzichtbare Instanzen sind“40. Überbietungsästhetische Theorien

entwickeln ihr Verständnis von Kunst ausgehend von Antinomien eines erkenntnistheoretischen

Systems, die sich in diesem System selbst, mit dessen eigenen Mitteln, nicht lösen lassen. Der Kunst

kommt in diesem Rahmen die Rolle eines Stellvertreters der an ihren Ansprüchen gescheiterten

Philosophie zu. Die drei prominentesten überbietungsästhetischen Ansätze der Neuzeit, diejenigen

Schellings, Heideggers und Adornos, stehen sich darin erstaunlich nah. Wie wir gesehen haben definiert

Schelling das Absolute in seinem „System des Transzendentalen Idealismus“ als ursprüngliche Identität

einer bewußten Tätigkeit der Weltwahrnehmung und einer bewußtlosen Tätigkeit der Weltkonstitution.

Diese absolute Identität kann selbst nicht „bewußt“ gemacht, d.h. diskursiv eingeholt werden. Der

Philosophie bleibt der letzte Zugang zum Absoluten verwehrt. Erst das Kunstwerk als Produkt der

ästhetischen Tätigkeit (einer zugleich bewußten und unbewußten), vermag dem konstitutiv in

Diskursivität befangenen Philosophen das transdiskursive Absolutum zu symbolisieren.

Im Anschluß an Schelling definiert Heidegger das „Wesen der Kunst als das Sich-ins-Werk-Setzen der

Wahrheit des Seienden“41, die dem Philosophen als solche nicht zugänglich ist. Die „Wahrheit des

Seienden“, die das Kunstwerk entbirgt (bewußt macht), liegt in der Verborgenheit des Seienden. Das 38 Jean-François Lyotard: Das Undarstellbare - wider das Vergessen. Ein Gespräch zwischen Jean-François Lyotard und

Christine Pries. In: Christine Pries (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim 1989. S. 319-348. Hier: S. 327

39 Martin Seel: Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität. Frankfurt a.M. 1985. S. 46. 40 a.a.O.: S. 46. 41 Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks. Stuttgart 1986. S. 30.

19

Kunstwerk eröffnet oder „lichtet“ das Sein in seiner Dunkelheit, es erhebt die „Erde“ als das Symbol

für das sich jeglicher Diskursivität entziehende Vorbewußte und Verborgene, zur „Welt“, dem

Inbegriff des diskursiv „Gelichteten“. „Indem das Werk eine Welt aufstellt, stellt es die Erde her. [...]

Das Werk rückt und hält die Erde selbst in das Offene einer Welt. Das Werk läßt die Erde eine Erde

sein“.42 Die Kunst bringt für Heidegger das vor- oder überbewußte Wesen des Seins als solchen ins

Bewußtsein. Die Wahrheit des Seins „west nur als der Streit zwischen Lichtung und Verbergung in der

Gegenwendigkeit von Welt und Erde. Die Wahrheit will als dieser Streit von Welt und Erde ins Werk

gerichtet werden“43. Im Kunstwerk und nur im Kunstwerk offenbart sich diese Wahrheit als

unendliches Wechselspiel von Diskursivität und Überdiskursivem.

In Adornos „Ästhetischer Theorie“ findet sich eine analoge Denkfigur, vorgetragen allerdings in einer

anderen Terminologie44+45. Dem „Unbewußten“ Schellings und der „Erde“ Heideggers entspricht bei

Adorno mit Einschränkungen die „Mimesis“ als Prinzip der Eröffnung einer transdiskursiven Nicht-

identität, einer nicht schon durch den instrumentellen Begriff ver- und entstellten Welt. Dem „Bewuß-

ten“ und der „Welt“ bei Schelling und Heidegger korrespondiert im Denken Adornos die „Rationali-

tät“. Adorno unterstellt dem Kunstwerk eine „immanente Dialektik von Mimesis und Rationalität“

(ÄT,86). Als welterschließendes ist das Kunstwerk der begrifflichen Rationalität analog, als mimetisch welter-

schließendes ist es aber gleichzeitig begriffsfeindlich:

„Fortlebende Mimesis, die nichtbegriffliche Affinität des subjektiv Hervorgebrachten zu seinem Anderen, nicht Gesetzten, bestimmt Kunst als eine Gestalt der Erkenntnis und insofern [...] als ‘rational’.“ Andererseits komplettiert Kunst „Erkenntnis um das von ihr Ausgeschlossene und beeinträchtigt dadurch wiederum den Erkenntnischarakter, ihre Eindeutigkeit“ (ÄT,86/87).

Sowohl Schelling als auch Heidegger und Adorno gehen von einer Inkommensurabilität der als

„empirisches Bewußtsein“, „Gestell“ oder „instrumentelle Rationalität“ disqualifizierten diskursiven

Vernunft an ein ihr Anderes, an das „Absolute“, die „Erde“ oder das „Nichtidentische“ aus. Nach dem

Scheitern der philosophischen Versuche, „über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen“46,

bleibt der Philosophie bei Schelling, Heidegger und Adorno nur noch der Umweg über die Kunst, um

ihren Anspruch auf den Zugang zum Jenseits der Begriffe einzulösen. Dem als „Absolutum“, „Erde“

oder „Nichtidentisches“ gedachten Transdiskursiven wird darüber hinaus von allen drei Autoren die

Rolle eines geschichtsphilosophischen Korrektivs der „Aporien der Moderne“47 zugedacht. Als

42 a.a.O.: S. 43. 43 a.a.O.: S. 63. 44 Über den Einfluß der Schellingschen Kunstphilosophie im „System des transzendentalen Idealismus“ auf die „Ästheti-

sche Theorie“ Adornos informieren: Günter Figal: Th. W. Adorno. Das Naturschöne als spekulative Gedankenfigur. Bonn 1977. Josef Früchtel: Mimesis. Konstellation eines Zentralbegriffs bei Adorno. Würzburg 1986.

45 Im Gegensatz zu Schelling und Heidegger geht Adornos „Ästhetische Theorie“ nicht in der Verrechnung von Kunstwer-ken auf ein die diskursive Rationalität überbietendes, transdiskursives, Wahrheitsgeschehen auf. Vgl. Albrecht Wellmer: Wahrheit, Schein, Versöhnung. Adornos ästhetische Rettung der Modernität. In: Ders.: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Frankfurt a.M. 1985. S. 9-47.

46 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt a.M. 1975. S. 27. 47 Als „Aporien der Moderne“ ließen sich im Anschluß an Weber, Horkheimer/Adorno und Habermas die Widersprüche

zwischen den weltgeschichtlich einmaligen Leistungen der okzidentalen Rationalität (autonome Wissenschaften, autono-

20

Organon dieses geschichtsphilosophischen Korrektivs48 einer einseitig instrumentellen Ratio wird die

Kunst selbst von der Philosophie instrumentalisiert. Schelling, Heidegger und Adorno bürden der

Kunst einen emphatischen (sowohl theoretischen als auch praktischen) Wahrheitsanspruch auf, der die

diskursive Wahrheit überbieten soll, die Eigenart des Ästhetischen aber letztlich verfehlt. Darin besteht die

Grundaporie aller überbietungsästhetischen Philosophien der Kunst. Der Individualität und Historizität

der Kunstwerke können überbietungsästhetische Theorien nicht gerecht werden. Sie lesen aus

Kunstwerken das immer wieder Gleiche ab: die als heilsam empfundene Überschreitung der Vernunft

hin zu ihrem ganz Anderen.

Überbietungsästhetische Theorien haben paradoxerweise in einem sich als „postmodern“ verstehenden

geistigen Klima Konjunktur. Im Folgenden sollen mit Lyotards Ästhetik des Erhabenen und George

Steiners Ästhetik der realen Gegenwart Gottes zwei stark rezipierte zeitgenössische

Überbietungsästhetiken vorgestellt werden.

me Künste, eine leistungsfähige kapitalistische Wirtschaft, demokratische Regierungsformen) und dem damit einherge-henden Sinn- und Freiheitsverlust auf Seiten der Individuen in den bürokratisierten modernen Gesellschaften definieren.

48 Zur Kritik einer geschichtsphilosophischen Fundierung der Ästhetik vgl. T. Baumeister u. J. Kulenkampff: Geschichtsphi-losophie und philosophische Ästhetik. Zu Adornos ‘Ästhetischer Theorie’. In: Neue Hefte für Philosophie. 5/1973. S. 74ff.

21

1.2.1. Jean-François Lyotard und die Ästhetik des Erhabenen

Jean-François Lyotards philosophisches Hauptwerk „Der Widerstreit“ erscheint 1983. Lyotard knüpft

hier zunächst an seine 1979 in „Das postmoderne Wissen“49 gestellte Diagnose der „Postmoderne“ an,

daß mit der ausgehenden Moderne die vereinheitlichenden abendländischen Legitimationsdiskurse (Ly-

otard nennt sie „Erzählungen“ oder „Metanarrative“, womit er sie Mythen annähert) wie z.B. Aufklä-

rung, Idealismus, Marxismus und Hermeneutik in eine Vielfalt heterogener, „paralogischer“ Sprachspie-

le zerfallen seien, die nach je eigenen Regeln funktionierten und nicht ineinander übersetzbar seien. Ly-

otard will

„das Vorurteil widerlegen, das sich [...] über Jahrhunderte von Humanismus und »Humanwissenschaften« hinweg fortgesetzt hatte: daß es nämlich »den Menschen« gibt, die »Sprache«, daß jener sich dieser »Sprache« zu seinen eigenen Zwecken bedient, daß das Verfehlen dieser Zwecke auf dem Mangel einer ausreichenden Kontrolle über die Sprache beruht, einer Kontrolle über die Sprache »mittels« einer »besseren« Sprache.“50

In Abgrenzung vom alten abendländischen Einheitsdenken möchte er „den Widerstreit bezeugen“.51

In einem entscheidenden Schritt geht „Der Widerstreit“ über diese, schon in „Das postmoderne

Wissen“ formulierten Gedanken hinaus. Jenseits der Heterogenität der Sprachspiele und des

Widerstreits der Satzuniversen nimmt Lyotard die Existenz einer allgemeinverbindlichen Gewißheit an,

die sämtliche diskursiven Gewißheiten übersteige: „Dem Zweifel entgeht, daß es zumindest einen Satz,

ganz gleich welchen, gibt.“52 Das nackte „es gibt“ des Satzes, seine Ereignishaftigkeit, sei dem Satz selbst

nicht immanent. Die Existenz des Satzes soll vom Satz selbst nicht ausgesagt werden können und dem

Widerstreit entgehen. Jedes bestimmte „etwas“ dagegen sei im Satz dargestellt. Der dem Satz

immanenten Darstellung entziehe sich nur das „das“ des Satzes, seine Ereignishaftigkeit.

„Das Es gibt findet statt, ist ein Vorkommnis (ein »Ereignis«, aber es stellt nichts für niemanden dar und ist weder das Anwesende noch die Anwesenheit. [...] Das »Geben« (?) gibt (?) nicht Seiendes, es gibt (?) Sätze, die als Verteiler von Seiendem (Instanzen in den Universen) fungieren.“53

Das postmoderne Narrenschiff geht ganz offensichtlich im bergenden Hafen des Heideggerschen „Seinsgeschicks“ vor Anker. Das im Satz Dargestellte, bloß Repräsentierte, entpuppt sich als Heideggers bloß Seiendes, Ontisches, im Gegensatz zum Ereignis des Satzes, zum Sein an sich. „Es geschieht ist nicht, was geschieht, wie sinngemäß quod nicht quid ist.“54 Seine Kategorien der „Gebung“ und des „Ereignisses“ stellt Lyotard selbst in unmittelbare Nähe zur „»Lichtung«55, der sich das Denken Heideggers gewidmet hat“:

„Man muß wohl einräumen, daß das Gegebene (donation) von einem X herrührt, das Heidegger Sein nennt. Diese 49 vgl. Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Übers. v. Otto Pfersmann. Graz/Wien 1986. 50 Jean-François Lyotard: Der Widerstreit. Übers. v. Joseph Vogl. München 1989. S. 12. 51 a.a.O.: S. 12. 52 a.a.O.: S. 117. 53 a.a.O.: S. 134. 54 a.a.O.: S. 140. 55 Jean-François Lyotard: Grundlagenkrise. In: Neue Hefte für Philosophie 26/1986. S. 1-33. Hier: S. 4

22

Gabe, die vor (vielmehr in) allem Erfassen oder Konzeptualisieren empfunden wird, gibt der Reflexion, dem Begriff Stoff (matière) und darauf, für sie, werden wir unsere Philosophie der Ästhetik und unsere Kommunikationstheorie aufbauen.“56

Das „es gibt“ des Satzes sei gleichzeitig das „Es“, das gibt, das „Sein“ im Sinne Heideggers. In seinem

Aufsatz „Grundlagenkrise“ (1986) wendet Lyotard gegen Apel und Habermas ein, daß

„die Grundlage der kritischen Vernunft [...] nicht in der Logik noch in der Pragmatik und auch nicht in der subjektiven Evidenz [besteht], sondern in der ursprünglichen Empfänglichkeit für das Ereignis, das Gegebenes ist. Ohne diese Aufnahme des Anderen, das das Geheimnis der Kritik ist, gibt es nichts zu denken.“57

Als Vermögen der „Empfänglichkeit für die Gebung des Anderen“ definiert Lyotard - und das macht

seine Grundlagenphilosophie für unsere Belange relevant - die Ästhetik, speziell die Ästhetik des Erha-

benen.58 Die Herleitung der Ästhetik erfolgt hier wie bei Schelling, Heidegger und Adorno deduktiv

und heteronom aus ontologischen bzw. metaphysischen Grundlagen.59

In seinem Essay „Das Erhabene und die Avantgarde“ (1984) bestimmt Lyotard das erhabene Kunst-

werk als den Ort, an dem sich uns das Ereignis offenbart.60 Mit dem „Erhabenen“ hat Lyotard, wie Seel

bemerkt, „dem Zeitgeist zum Bewußtsein seiner jüngsten Leidenschaft verholfen“61. Dieser Spott über

die aktuelle Erhabenheits-Diskussion ist nicht ganz unberechtigt. Symptomatisch ist die ernst gemeinte

Bemerkung von Christine Pries, daß man „über das Erhabene nichts aussagen [kann], ohne gleichzeitig

das Gegenteil behaupten zu müssen“62.

Wird unter „Ästhetik“ die philosophische Disziplin verstanden, welche nach der Eigenlogik der Kunst

und nach der Eigenlogik des Redens über Kunst fragt, dann gibt es innerhalb der Lyotardschen Philo-

sophie keine „ästhetische Theorie“ im strengen Sinne. Lyotard bestimmt die Logik des Ästhetischen

heteronom, als Offenbarung eines „Ereignisses“. Kunst gewinnt ihre Legitimität wie in der Vormoder-

ne aus ihrem Eingebundensein in einen theologischen Offenbarungszusammenhang. Für Lyotard „ist

jedes Kunstwerk, das die Existenz dessen vergißt, was immer vergessen wird [= das Ereignis], voll-

56 Jean-François Lyotard: So etwas wie: „Kommunikation ... ohne Kommunikation“. In: Ders.: Das Inhumane. Übers. v.

Christine Pries. Wien 1989. S. 189-206. Hier: S. 194. 57 Jean-François Lyotard: Grundlagenkrise. a.a.O.: S. 23. 58 a.a.O.: S. 24. 59 Eine Kritik an diesen metaphysischen Grundlagen könnte von Adornos Heidegger-Kritik ausgehen. Adornos Hauptargu-

ment gegen Heideggers Seins-Begriff ist ein sinnkritisches. Über die Kopula „ist“ heißt es in der „Negativen Dialektik“: „Die Copula erfüllt sich dem eigenen Sinn nach einzig in der Relation zwischen Subjekt und Prädikat. Sie ist nicht selb-ständig. Indem Heidegger sie als jenseits dessen verkennt, wodurch allein sie zu Bedeutung wird, übermannt ihn jenes dinghafte Denken, gegen das er aufbegehrte.“ (Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt a.M. 1975. S. 108.) Sowie es „kein Sein ohne Seiendes“ (a.a.O.: S. 139) geben kann, gibt es auch kein „das“ ohne „was“, kein Ereignis ohne ein Etwas, das sich ereignet. Adorno spricht von der „Unauflöslichkeit des Etwas“ (a.a.O.: S. 139). Die Hypostasierung des abstrakten Seins oder Ereignisses zum Absolutum versteht er als rhetorischen Kunstgriff: „Daß Sein weder Faktum noch Begriff sei, eximiert es von Kritik“ (a.a.O.: S. 84). Seine „Ungreifbarkeit wird zur Unangreifbarkeit“ (a.a.O.: S. 69). Heidegger hat „ein Verfahren praktiziert, das die Beziehung auf den diskursiven Begriff, unabdingbares Moment von Denken, opfert“ (a.a.O.: S. 77). Die „Unbestimmtheit“ seiner Kategorien „wird zum mythischen Panzer“ (a.a.O.: S. 83). Die Diskurse Heideggers und Lyotards erweisen sich aus der Sicht von Adornos Kritik als predigend-theologische; die Postmoderne fällt in den Zustand der Vormoderne zurück.

60 Jean-François Lyotard: Das Erhabene und die Avantgarde. In: Ders.: Das Inhumane. Wien 1989. S. 159-188. Hier: S. 178. 61 Martin Seel: Gerechtigkeit gegenüber dem Heterogenen? In: Merkur. Heft 9/10. 43. Jahrgang. Sept./Okt. 1989. S. 916-

922. Hier: S. 417. 62 Christine Pries: Einleitung zu dies. (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim 1989. S.

1-30. Hier: S. 11.

23

kommen uninteressant.“63 Die Frage nach dem Erhabenen ist für ihn sogar „die einzige, die im kom-

menden Jahrhundert den Einsatz von Leben und Denken lohnt“64.

Besonders deutlich wird diese Sakralisierung des Ästhetischen in seinen Interpretationen konkreter

Kunstwerke. Lyotard bevorzugt zur „Illustration“ seiner kunstphilosophischen Thesen die Gemälde

Barnett Newmans (1905-1970)65, der neben Jackson Pollock, Mark Rothko und Clyfford Still einer

Richtung der Malerei angehört, für die Bezeichnungen wie „colourfield-painting“, „abstract sublime“

oder „Abstrakter Expressionismus“ geprägt wurden. Der Kunsthistoriker Max Imdahl beschreibt ein

typisches Bild Newmans, auf dem eine riesige rote Fläche rechts von einem gelben und links von einem

blauen Streifen begrenzt wird, wie folgt:

„‘Who’s afraid of red, yellow and blue III’ [...] ist ein Riesenbild, es mißt in der Höhe 2,45m und in der Breite 5,44m. Die Farben des Bildes sind Kadmium-Rot, Kadmium-Gelb und Ultramarin-Blau. Unten links ist das Bild signiert ‘Barnett Newman 67’. [...] Newmans Bild ist eine mit Ölfarben bemalte Leinwand. Dabei spielen Operationen des Malens selbst eine Rolle. Die anonyme Homogenität des beherrschenden Rot ist das Ergebnis äußerst disziplinierter Malvorgänge, die als solche sozusagen subkutan spürbar bleiben. Das linke Blau (15cm breit) spielt dagegen in offenen, unmittelbar deutlichen Valeurs. Homogen ist wiederum das rechte Gelb (2,5cm breit). Während aber die Grenzlinie zwischen diesem homogenen Gelb und dem Rot geringfügig unregelmäßig verläuft, ist das valeurreiche Blau strenger gegen das Rot abgesetzt.“66

Derartige Beschreibungen, die die Grundlage und der erste Schritt jeder möglichen Interpretation sein

müßten, sucht der Leser bei Lyotard vergebens. Da das Ergebnis schon vor der Interpretation feststeht,

kann er auf diese selbst verzichten:

„Ein Bild Newmans [...] will selbst das Ereignis sein, der Augenblick, der geschieht.“67 „Die beste Deutung ist die Frageform: Was soll man sagen? oder ein Ausruf: Ah! eine Überraschung: Na sowas! So viele Ausdrücke für ein Gefühl, das in der modernen ästhetischen Tradition (und im Werk Newmans) einen Namen hat: das Erhabene. Es ist das Gefühl des ‘da ist es’.“68 „Der Raum Newmans ist nicht mehr triadisch in dem Sinn, daß er einen Sender, einen Empfänger und einen Referenten fordert. [...] Die Botschaft ist die Präsentation, aber von nichts, das heißt von Präsenz.“69 „Das Bild präsentiert die Präsenz, das Sein bietet sich hier und jetzt dar.“70

Die „Interpretation“ der Bilder Newmans als nackte „Präsenz“ steht der „sakralen Poetik“71 der Stei-

nerschen „Ästhetik der Anwesenheit“, die im nächsten Abschnitt vorgestellt wird, sehr nahe.

Gründe für seine „Interpretation“ vermag Lyotard an den Bildern selbst nicht aufzuzeigen. Die

immanente Gestalt der Bilder bleibt völlig unberücksichtigt. Über die Bilder soll sich per definitionem

63 Jean-François Lyotard: Das Undarstellbare - wider das Vergessen. Ein Gespräch zwischen Jean-François Lyotard und

Christine Pries. a.a.O.: S. 324. 64 Jean-François Lyotard: Vorstellung, Darstellung, Undarstellbarkeit. In: Ders.: Das Inhumane. Wien 1989. S. 207-222.

Hier: S. 221. 65 Neben einer Reihe von Aufsätzen zu Newman finden sich in Lyotards Schriften Ausführungen über Marcel Duchamp,

Daniel Buren, Gianfranco Baruchello, John Cage und Gertrude Stein. Die sehr verschiedenen Werke dieser Künstler werden auf einen identischen (Nicht-)Sinn festgelegt: „Im Verzicht auf den Sinn besteht die Deontologie des Künstlers, das es gibt zu bezeugen, der Order des Seins [sic!] zu entsprechen.“ Jean-François Lyotard: Der Augenblick, Newman. In: Ders.: Das Inhumane. Wien 1989. S. 141-158. Hier: S. 156.

66 Max Imdahl: Barnett Newman. Who’s afraid of red, yellow and blue III. In: Christine Pries (Hg.): Das Erhabene. Zwi-schen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim 1989. S. 233-252. Hier: S. 233.

67 Jean-François Lyotard: Der Augenblick, Newman. In: Ders.: Das Inhumane. Wien 1989. S. 141-158. Hier: S. 143. 68 a.a.O.: S. 144. 69 a.a.O.: S. 145. 70 a.a.O.: S. 149. 71 Botho Strauß: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Anmerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit. In: Die Zeit.

Nr.26. 22.6.1990. S. 57.

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nichts aussagen lassen. Deshalb beruft sich Lyotard auf die Tradition der Kunstphilosophie, sowie auf

Bildtitel und programmatische Schriften Newmans, deren Aussagen er unkritisch den Bildern selbst

unterlegt. Er trägt einen metaphysisch-theologischen Kontext von außen an die Bilder heran, stülpt

ihnen diesen gewaltsam auf und verstellt sich mit dem Kontext den Zugang zum Text des Bildes. „Es

verwundert nicht, den Ausdruck des Erhabenen in [...] Bildtiteln und Schriften Barnett Newmans zu

finden“.72 Lyotard listet auf: ein Bild aus den Jahren 1950/51 „nennt“ Newman

„Vir heroicus sublimis. Zu Beginn der Sechziger Jahre erhalten seine drei ersten Skulpturen die Titel Here I, Here II und Here III. Ein anderes Bild heißt Not over there, here, zwei Bilder tragen den Titel Now zwei andere Be. Im Dezember 1948 schreibt Newman einen Essay mit dem Titel: The Sublime is Now.“73

Newman „benennt“, „betitelt“, „schreibt“, - daß er auch gemalt hat, scheint Lyotard zu übersehen oder

muß es übersehen, da das, was Newman gemalt hat, kein „was“, sondern ein „das“ sein soll, „was wir

nicht zu denken vermögen“74. Bevor „man fragt: was ist das?, was bedeutet das?, vor dem quid, ist ‘zu-

nächst’ sozusagen erfordert, daß es geschieht, quod“75. Dieses quod identifiziert Lyotard mit dem „U-

nausdrückbaren“76, von dem uns Newmans Malerei Zeugnis ablege.

Für die Isotopienreihe „Ereignis“, „unausdrückbares“, „quod“ und „das Erhabene“ hält die Tradition

einen Namen bereit, den Lyotard meidet: „Gott“. Ersetzen wir die Worte „Ereignis“,

„Unausdrückbares“ usw. in Lyotards Texten durch das Wort „Gott“, dann unterscheidet sich die

Lyotardsche Theorie des Erhabenen kaum noch von der Hegelschen, für die „Gott“ und „das

Erhabene“ synonym sind:

„[...] [Das] Gestalten, welches durch das, was es auslegt, selbst wieder vernichtet wird, so daß sich die Auslegung des Inhalts zugleich als ein Aufheben des Auslegens zeigt, ist die Erhabenheit, welche wir daher nicht, wie Kant es tut, in das bloß Subjektive des Gemüts und seiner Vernunftideen hineinverlegen dürfen, sondern in der einen absoluten Substanz als dem darzustellenden Inhalt begründet auffassen müssen.“77

Diese „eine absolute Substanz“ ist Gott. Gott kann nur ex negativo, im Bilderverbot dargestellt werden.

Dieses „zweite negative Preisen der Macht und Herrlichkeit des einen Gottes treffen wir als die eigentliche

Erhabenheit in der hebräischen Poesie“78. Für Hegel muß „die Kunst der Erhabenheit die heilige Kunst

als solche, die ausschließlich heilige genannt werden, weil sie Gott allein die Ehre gibt.“79 In der hebräi-

schen Poesie sieht Hegel den einzigen und eigentlichen historischen Ort der erhabenen Kunst, der un-

wiederbringlich verloren ist. Er ordnet das Erhabene der „Symbolischen Kunstform“ zu, der historisch

frühesten, vorautonomen Form von Kunst, die er selbst als „Vorkunst“80 bezeichnet. Mit der „Klassi-

72 Jean-François Lyotard: Vorstellung, Darstellung, Undarstellbarkeit. In: Ders.: Das Inhumane. Wien 1989. S. 207-222.

Hier: S. 219. 73 Jean-François Lyotard: Das Erhabene und die Avantgarde. In: Ders.: Das Inhumane. Wien 1989. S. 159-188. Hier: S. 159. 74 a.a.O.: S. 160. 75 a.a.O.: S. 161. 76 a.a.O.: S. 164. 77 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Hg. v. Friedrich Bassenge. Berlin 1985. S. 354. 78 a.a.O.: S. 355. 79 a.a.O.: S. 363. 80 a.a.O.: S. 298.

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schen Kunstform“ der Griechen ist diese „erhabene“, hebräische Kunst endgültig und irreversibel ü-

berwunden.

Auch in der antiken Rhetorik figuriert „Gott“ als das eigentlich Erhabene. Im ersten antiken Text, der

sich explizit und ausschließlich der Diskussion des Erhabenen widmet, in der anonymen Schrift peri

hypsous (Vom Erhabenen), gilt die jähe religiöse Offenbarung als Erscheinungsform des Erhabenen. Im

Erhabenen wird das Ganze der Welt auf seinen religiösen Grund hin durchsichtig. Beispiele für

„erhabene Stellen“ findet der Autor der Schrift peri hypsous vor allem in der Mythologie der Griechen,

aber auch in der jüdischen Theologie:

„Ebenso hat auch der Gesetzgeber der Juden, gewiß nicht der erste beste, weil er die Macht des Göttlichen würdig auffaßte, diese auch sprachlich geoffenbart; indem er gleich am Beginn seiner Gesetze schrieb »Gott sprach« was? »Es werde Licht, und es ward Licht; es werde Land, und es ward.«81

Es fällt schwer, hinter dem nicht Darstellbaren, von dem Zeugnis abzulegen Lyotard die Kunst ver-

pflichten will, nicht auch jenen Gott zu vermuten, von dem die Hegelsche „Ästhetik“ und der antike

Traktat „peri hypsous“ sprechen. An diesem Punkt wird deutlich, daß die Gesamtstrategie des Lyotard-

schen Werks darin besteht, Diskursivität als „paralogisches“ Ensemble perspektivischer Einzeldiskurse

zu denunzieren, um in der Gestalt des erhabenen Ereignisses einem transdiskursiven Theologoumenon

Raum zu schaffen. Kunstwerke sind für den Protagonisten der Postmoderne Inkarnationen eines sub-

stantiell Erhabenen, Ikonen, in denen sich das substantiell Erhabene als Einbrechen einer Transzen-

denz in die Welt offenbart.

Die von Lyotard in Anspruch genommene Möglichkeit, daß ein Kunstwerk ist, was es bedeuten will, wird

schon von Adorno in Frage gestellt: „Daß zwischen der Artikulation und dem Artikulierten, der

immanenten Gestalt und dem Gehalt keine Differenz mehr sei, besticht zumal als Apologie der

modernen Kunst, ist aber kaum durchzuhalten.“ (ÄT,137) Das Erhabene ist in Newmans Bildern nicht

einfach präsent, sondern wird repräsentiert, semantisch bedeutet. Wie Imdahl schon lange vor Lyotard

gezeigt hat, entspringt die Erhabenheit des Newmanschen Bildes gerade der Differenz zwischen

„Artikulation und Artikuliertem“. Auf Newmans Bild ist nichts zu sehen, was nicht bedeutsam und

gleichzeitig bedeutet wäre. Was auf Newmans Bild dagegen „real anwesend“ ist, die Farbe als chemische

Substanz, ist ästhetisch irrelevant, gehört strenggenommen nicht zum Bild, sondern ist dessen

materieller Träger.82 Bedeutung ist auch und gerade in der Sphäre der Kunst unhintergehbar, obwohl

sich ein Kunstwerk im Gegensatz zu diskursiver Rede nie auf eine diskursive Bedeutung reduzieren läßt.

Noch die Abwesenheit von Bedeutung im Kunstwerk muß von diesem bedeutet werden. „Kunstwerke 81 Longinus [~ Pseudo-Longinus oder Dionysios]: Vom Erhabenen. Griechisch/Deutsch. Übers. u. Hg. v. Otto Schönber-

ger. Stuttgart 1988. S. 27. 82 Zum Unterschied von Bild und Bildträger schreibt Hans Jonas: „Der Unterschied zwischen Bild und Bildträger, mit des

letzteren Selbstverleugnung im ersteren, wird ergänzt durch den Unterschied zwischen Bild und abgebildetem Gegen-stand. Die vollständige Artikulation ist dreifach: Das Substratum kann für sich betrachtet werden, das Bild für sich, der Bildgegenstand für sich: das Bild oder die Bildähnlichkeit schwebt als eine dritte, ideelle Entität zwischen den beiden an-deren, reellen Entitäten, und verknüpft sie in der einzigartigen Weise der Repräsentation.“ Hans Jonas: Die Freiheit des Bildens: Homo pictor und die differentia des Menschen. In: Ders.: Zwischen Nichts und Ewigkeit. Zur Lehre vom Men-schen. Göttingen 21987. S. 26-43. Hier: S. 32.

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werden, sei es auch gegen ihren Willen, zu Sinnzusammenhängen,“ und das auch „wofern sie Sinn

negieren“ (ÄT,231), bemerkt Adorno. In bezug auf die „Erhabenheit“ der Bilder Newmans folgt

daraus:

„Die Bergkette bedeutet nicht ihre Erhabenheit, sie ist erhaben; das Bild von Newman dagegen bedeutet den Charakter des Erhabenen, der ihm zukommt, weswegen es nicht zuletzt gelungen ist. Das Bild ist außerordentlich nicht [...], weil es erhaben ist, sondern weil es Erhabenheit zeigt.“83

Die Erfahrung des Erhabenen ist in Newmans Bild nicht einfach präsent, sondern wird in ihrem Cha-

rakter als Erfahrung thematisiert. „Ästhetisch“ gilt für Seel generell „das Verhalten, das sich zur Welt

der Erfahrung erfahrend zu verhalten sucht“84. Jedes Kunstwerk reflektiert insofern auf sich selbst. Es

bezieht sich auf die Welt und auf sich selbst, seinen eigenen Weltbezug, seinen eigenen Modus der

Welterschließung. Das gilt auch für das Bild Newmans. Wie das Bild Newmans über eine Reflexion auf

seine eigenen darstellerischen Mittel „Erhabenheit“ als Bedeutungsstruktur aufbaut, hat Imdahl gezeigt:

„Wer vor Newmans ‘Who’s afraid of red, yellow and blue III’ tritt, ist überwältigt von dem beherrschenden Kontinuum des Rot als einem Wert der Fülle, der Expansion, der Energie und der prinzipiellen Indifferenz gegenüber aller Begrenztheit, Form und Bestimmtheit im Sinne der Ebene und der räumlichen Tiefe. In Newmans Bild ist diese Erscheinung des Rot bedingt durch die seitlichen blauen und gelben Randzonen links und rechts. [...] Indem das Rotkontinuum das faktische Bildkontinuum gerade nicht ausnutzt, sondern knapp unterschreitet, indem also die Farbe selbst nicht determiniert ist durch die Determination des faktischen Bildfeldes, erscheint sie unbedingt, nämlich frei vom Bild als von einem materiellen Substrat und von einer begrenzten Form. [...] Vermöge dieser [...] Differenz zwischen Rot und Bild erscheint die Farbe nicht ans Bild gebunden. [...] indem die seitlichen Randzonen das Rotkontinuum vom Bildkontinuum befreien, ist dieses selbst in das befreite Kontinuum des Rot transformiert. Das Bildkontinuum ist eine Funktion des Rotkontinuum.“85

Die erhabene „Ereignishaftigkeit“, auf die Lyotard das Bild reduziert, erkennt Imdahl als bedeutete, als

Folge einer Inkongruenz zwischen dem Kontinuum der das Bild dominierenden Farbe und der Fläche

des Bildes selbst. Durch diese Inkongruenz wird die Farbe, die in „realistischen“ Bildern in der Konsti-

tution einer gegenständlichen Bedeutung aufgeht, selbst zum Bedeuteten. Dieses Bedeutete ist nun aber

nichts anderes als der Modus der bildnerischen Bedeutungsbildung selbst, etwas Unsagbares, Unaus-

sprechliches. Das Bild inszeniert eine Inversion zwischen seiner „Bedeutung“ und seinen „bedeutungs-

generierenden Strukturen“. Es legt kein Zeugnis von einem transzendenten Ereignis ab, sondern von

seinem eigenen Verfahren sinnsubversiver Sinnkonstitution. Indem sich das Bild in der Reflexion auf

seine bildliche Bedeutungsbegründung zugleich be- und entgründet, erfährt es sein Betrachter als erha-

ben.

An Imdahls „Lektüre“ von „Who’s afraid of red, yellow and blue III“ schließt Seel eine eigene

Interpretation des Bildes an. Im Gegensatz zu Lyotard gibt Seel für seine Ergebnisse Gründe an, beruft

sich auf die Strukturen des Newmanschen Bildes und auf dessen Kontext86. Während Lyotard das Bild

unter heteronome Kategorien religiöser Offenbarung subsumiert, versucht Seel das spezifisch

83 Martin Seel: Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität. Frankfurt a.M. 1985. S. 285. 84 a.a.O.: S. 314. 85 Max Imdahl: Barnett Newman. Who’s afraid of red, yellow and blue III. A.a.O.: S. 240/241. 86 „Who’s afraid of red, yellow and blue III“ ist z.B. das dritte von vier Bildern einer Serie, die wechselseitig aufeinander Be-

zug nehmen, was Lyotard gänzlich ignoriert.

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„Künstlerische“ am Kunstwerk „Who’s afraid of red, yellow and blue III“ aufzuweisen. Newmans Bild

ist für ihn

„ein riesiges Suchbild, das einer konfigurativen Wahrnehmung das zuordnende Finden verweigert. Indem es dieses Finden verweigert, verweigert es jedoch nicht das Finden schlechthin. Es fordert heraus zu einer Erfahrung mit der ästhetischen Erfahrung, indem es dem Sehen jede Möglichkeit nimmt, sich in das Objekt einzusehen; es bezieht sich auf das Abweisende seiner bildlichen Erscheinung und macht somit die Bedingung eines ästhetisch souveränen Sehens präsent, das sich aus formalästhetischen Vorregelungen imaginativ befreit. Das Bild richtet sich gegen eine Illusion des Sehens, das sein Objekt zu vereinnahmen glaubt oder von ihm sich vereinnahmen läßt - und eines Malens, das auf die Kongruenz von Bild und Betrachtung zielt. Zu seiner dynamisch aggressiven Ausdrucksverweigerung gibt das Bild eine ästhetische Apologie der ästhetischen Differenz, indem es das beherrschende Farbkontinuum zur Erscheinung eines - nach Kantischen Begriffen zugleich mathematisch und dynamisch - Erhabenen freisetzt.“87

Die Erhabenheit des Bildes resultiert nicht aus der Repräsentation einer an sich, unabhängig vom Bild

erhabenen Substanz, sondern aus der darstellerischen Reflexion des Bildes auf die Weise seiner Darstel-

lung.

Aus diesem Ergebnis der Interpretation des Newmanschen Bildes ergibt sich eine weitreichende

Konsequenz für die Theorie des Erhabenen überhaupt: das erhabene Kunstwerk kann nicht mehr

länger als Darstellung eines ihm und der Welt jenseitigen Undarstellbaren, einer substantiell erhabenen

Entität88, interpretiert werden, sondern nur noch als Effekt der Darstellung selbst. Erhabenheit bezieht

sich nicht auf ein ex negativo Dargestelltes, sondern auf eine bestimmte Weise der Darstellung. Erhaben

wirkt das Bild Newmans, weil es die Weise seiner Darstellung so radikal betont, daß jede Referenz auf

ein jenseits des Bildes Dargestelltes unterbunden wird. Das Undarstellbare, von dem erhabene

Kunstwerke Zeugnis ablegen, wäre dann die radikalisierte Darstellung selbst. Mittels seiner Darstellung

erhebt sich das erhabene Kunstwerk über sich selbst. „Gebildet ist ein Werk“ für Friedrich Schlegel,

„wenn es überall scharf begrenzt, innerhalb der Grenzen aber grenzenlos und unerschöpflich ist, wenn

es sich selbst ganz treu, überall gleich, und doch über sich selbst erhaben ist.“ (KA2,215) Der

ästhetischen Darstellung entspricht im Kunstwerk die Ebene, auf der es sich in sich selbst abbildet, sich

verdoppelt und damit gleichzeitig von sich selbst distanziert. Auf der Seite der Vermögen des

rezipierenden Subjekts korrespondiert den erhabenen Empfindungen nicht, wie Kant glaubt, die

Vernunft, sondern die produktive Einbildungskraft als Vermögen der Darstellung. Eine solche Lesart

des Erhabenen entwickelt Eliane Escoubas. Sie zeigt, daß die Einbildungskraft, das Vermögen der

Darstellung, auf einer tieferen Ebene als das eigentlich erhabene Vermögen innerhalb des Kantschen

Systems interpretiert werden kann.

„Die Einbildungskraft ist [...] seltsamerweise das Vermögen, etwas Unvorstellbares hervorzubringen; und dieses Unvorstellbare, das die Einbildungskraft hervorbringt, ist es, was das Erhabene bezeichnet. Das Unvorstellbare oder das Erhabene ist die Auswirkung eines Spiels der Einbildungskraft.“89

87 Martin Seel: Die Kunst der Entzweiung. A.a.O.: S. 283/284. 88 Für Kant ist diese Entität das mit dem „moralischen Gesetz in mir“ identifizierte „transzendentale Ich“, für Hegel ist es

„Gott“, für Adorno die ungebändigte „Natur“ und für Lyotard das „Ereignis“. 89 Eliane Escoubas: Zur Archäologie des Bildes. Ästhetisches Urteil und Einbildungskraft bei Kant. In: Volker Bohn (Hg.):

Bildlichkeit. Frankfurt a.M. 1990. S. 502-542. Hier: S. 520.

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Diese Interpretation deckt sich auf den ersten Blick nicht mit derjenigen, die Kant selbst dem Erhabe-

nen gibt und die hier deshalb kurz umrissen werden soll. Kant schließt sich in seiner „Analytik des Er-

habenen“ (§23-§29 der KdU) an die englische Ästhetik des 18. Jhs an, in der „the sublime“ durch die

ambivalente Empfindung eines „delightful horrour“ und einer „terrible joy“90 beschrieben wurde. Die

in dieser Empfindung implizierte Gleichzeitigkeit von Zerrüttung und Festigung der Ich-Identität gilt

auch bei Kant als das zentrale Attribut des Erhabenen. Er charakterisiert das Erhabene zunächst in Ab-

grenzung vom Schönen dadurch, daß es an „formlosen“ Gegenständen zu finden sei, sofern diese „un-

begrenzt“ seien. Während das Wohlgefallen am Schönen mit der „Qualität“ oder „Form“ einer Emp-

findung verbunden sei, ergebe sich das Wohlgefallen am Erhabenen aus der „Quantität“ eines empfun-

denen Gegenstands: „Erhaben nennen wir, was schlechthin groß ist.“ (KdU,B,107) Als Beispiele für

„schlechthin Großes“ führt Kant Naturgegenstände an:

„Kühne überhangende gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der grenzenlose Ozean, in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses u.d.gl. machen unser Vermögen zu widerstehen, in Vergleichung mit ihrer Macht, zur unbedeutenden Kleinigkeit.“ (KdU,B,105)

Diese Naturgegenstände sind für Kant nicht selbst erhaben. Sie sind an sich „gräßlich“ (KdU,B,77),

bieten aber Anlaß für erhabene Empfindungen. Vor den zitierten Naturphänomenen scheitert unsere

Einbildungskraft, unser Vermögen, „das Mannigfaltige der Anschauung in ein Bild [zu] bringen“91. Wir

empfinden diese Phänomene als schlechthin groß. Für die Idee des „schlechthin Großen“ müssen wir,

da unsere Einbildungskraft sie nicht anschauen bzw. vorstellen kann, einen Maßstab haben, der selbst

nicht sinnlich ist. Das eigentlich Erhabene könne in keiner sinnlichen Wahrnehmung enthalten sein,

sondern nur in „Ideen der Vernunft“ (KdU,B,96). Diese werden, obgleich keine ihnen angemessene

Darstellung möglich sei, durch die „negative Darstellung“ (KdU,B,124) dieser Unangemessenheit ins

Bewußtsein gerufen. Wenn wir etwas in der Natur „schlechthin groß“ nennen, könne der Maßstab für

dieses „schlechthin Große“ nicht selbst wieder in der Natur liegen, sondern nur in uns. „Das gegebene

Unendliche auch nur denken zu können, dazu wird ein Vermögen, das selbst übersinnlich ist, im

menschlichen Gemüte erfordert.“ (KdU,B,92) Dieses Vermögen sei die praktische Vernunft, das mora-

lische Gesetz in uns:

„Das Gefühl des Erhabenen ist also ein Gefühl der Unlust, aus der Unangemessenheit der Einbildungskraft in der ästhetischen Größenschätzung zu der Schätzung durch die Vernunft, und eine dabei zugleich erweckte Lust, aus der Übereinstimmung eben dieses Urteils der Unangemessenheit des größten sinnlichen Vermögens mit Vernunftideen“ (KdU,B,97). „Also heißt die Natur [...] erhaben, bloß weil sie die Einbildungskraft zur Darstellung derjenigen Fälle erhebt, in welchen das Gemüt die eigene Erhabenheit seiner Bestimmung, selbst über die Natur, sich fühlbar machen kann.“ (KdU,B,106) „Also ist die Erhabenheit in keinem Dinge der Natur, sondern nur in unserem Gemüte enthalten, sofern wir der Natur in uns, und dadurch auch der Natur [...] außer uns, überlegen zu sein uns bewußt werden können.“ (KdU,B,110)

90 John Dennis: Grounds of Criticism in Poetry (1704). Zit.n. Carsten Zelle: Schönheit und Erhabenheit. Der Anfang dop-

pelter Ästhetik bei Boileau, Dennis, Bodmer und Breitinger. In: Christine Pries (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzer-fahrung und Größenwahn. Weinheim 1989. S. 55-75. Hier: S. 63/64.

91 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Werkausgabe Bd.III. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 91986. S. 176 (~ A 120/121).

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Kants System bietet aber noch eine zweite, implizite Möglichkeit der Situierung des Erhabenen in der

Ökonomie der Vermögen, auf die französische Autoren wie Bachelard, Derrida und Escoubas hinwei-

sen. Der Ort des Erhabenen wäre nach diesen Autoren die Einbildungskraft selbst.

Bachelard, der seine eigene Philosophie als „Phänomenologie der Einbildungskraft“92 bezeichnet, faßt

diesen Gedanken schon 1957 wie folgt zusammen:

„Da die Unermeßlichkeit kein Objekt ist, würde uns eine Phänomenologie des Unermeßlichen ohne Umweg auf unser eigenes traumschöpferisches Bewußtsein zurückverweisen. Bei der Analyse der Unermeßlichkeitsbilder würden wir in uns das reine Sein der reinen Einbildungskraft realisieren.“93

Kants Konzept der Erhabenheit des Moralgesetzes wird von Bachelard durch ein Konzept der Erha-

benheit der Einbildungskraft ersetzt. Das Erhabene ist für Bachelard und seine Nachfolger nicht mehr

nur „eine Darstellung des Undarstellbaren“ sondern auch eine „undarstellbare Darstellung“. Die Ein-

bildungskraft als das Vermögen der Darstellung wird erhaben. Hier ist auch der Ort für Wittgensteins

bildtheoretische Unterscheidung dessen, was „unsagbar“ ist, sich aber doch „zeigt“, von dem, was sich

abbilden oder sagen läßt: „Seine Form der Abbildung aber kann das Bild nicht abbilden; es weist sie

auf.“94 Die Form der Abbildung, oder die Weise der Darstellung ist selbst nicht abbild- und darstellbar.

„Was sich in der Sprache spiegelt, kann sie nicht darstellen. Was sich in der Sprache ausdrückt, können

wir nicht durch sie ausdrücken.“95 Als das nicht Ausdrückbare gilt für Wittgenstein der Ausdruck. Was

sich in einem Kunstwerk über seinen propositionalen Gehalt hinaus ausdrückt und was nie wirklich

von seinem propositionalen Gehalt getrennt werden kann, ist die Weise seiner Darstellung, seine „Ma-

nier“ oder sein „Stil“. Ein Kunstwerk stellt dar, indem es zunächst die Weise seiner Darstellung dar-

stellt. Es bildet, mit Wittgenstein gesprochen, zunächst die Form seiner Abbildung ab und unterschei-

det sich somit von nicht-ästhetischen Zeichensystemen. Schon Goethe bemerkt in bezug auf das

Kunstwerk: „indem es vollkommen sich selbst darstellt, deutet es auf das Uebrige.“ (WA.IV.29,122)

In der Einbildungskraft findet Bachelard das Vermögen einer „Darstellung des Undarstellbaren“,

welche die ästhetische Tradition mit dem Erhabenen in Verbindung bringt. Kants Bestimmung des

Erhabenen als „schlechthin groß“ wird von einer räumlichen auf eine zeitliche Achse projiziert.

Unendlich ist die Einbildungskraft nicht, weil sie unendlich groß ist, sondern weil sie den Horizont der

menschlichen Lebenswelt auf eine unendliche Zukunft hin öffnet, weil sie die Welt immer wieder neu

interpretiert, in immer wieder neuen Bildern neue Aspekte der Wirklichkeit aufscheinen läßt. „Die

Einbildungskraft in ihrer Frische, in ihrer Selbsttätigkeit, macht auch das Vertraute zu etwas

Fremdem.“96 Sie bricht den Horizont unserer Lebenswelt von innen auf und verschiebt ihn. Die

Einbildungskraft konfrontiert uns immer wieder aufs neue mit einem von ihr konstituierten Fremden,

92 Gaston Bachelard: Psychoanalyse des Feuers. Übers. v. Simon Werle. Frankfurt a.M. 1990. S. 9. 93 Gaston Bachelard: Poetik des Raumes. Übers. v. Kurt Leonhard. Frankfurt a.M. 1987. S. 187. 94 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. In: Werkausgabe Bd.1. Frankfurt a.M. 1984. S. 7-85. Hier: S. 16.

(2.172). 95 a.a.O.: S. 33. (4.121). 96 Gaston Bachelard: Poetik des Raumes. A.a.O.: S. 143.

30

das unser Vorverständnis von Welt erschüttert und uns dazu anhält, uns und unsere Welt neu zu

interpretieren: „Ein einfaches Bild, wenn es nur neu ist, öffnet eine Welt.“97 Damit beschreibt die

Einbildungskraft genau jene Bewegung von Sinndissoziierung und neuer Sinnkonstitution, wie sie für

das Erhabene, aber auch für andere ästhetische Kategorien, wie die „Metapher“, das „Bild“, den „Stil“

und die „Geschichte“ beschrieben worden sind. Die Einbildungskraft folgt einer implizit ästhetischen

Logik. Davon zeugt auch ihre Geschichte. Lange bevor sie als vermittelndes Vermögen im Kantschen

System gebändigt wird, spielt sie eine zentrale Rolle in der Geschichte der Autonomisierung des

Ästhetischen im 18. Jh. So ist die Autonomisierung der Kunst für Lessing gleichbedeutend mit einer

Autonomisierung der Einbildungskraft. Im „Laokoon“ verfolgt Lessing das Ziel einer Grenzziehung

zwischen den bildenden Künsten und der Literatur, welche die Einbildungskraft in ihr Recht setzen

soll:

„Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir dazu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben. In dem ganzen Verfolge eines Affekts ist aber kein Augenblick, der diesen Vorteil weniger hat, als die höchste Staffel desselben.“98

Die „höchste Staffel“ des Vergilschen Laokoon-Mythos, der Augenblick der tödlichen Schlangenbisse,

darf nicht ins Bild (oder die Skulptur) gebracht werden, da diese Insbildsetzung die Einbildungskraft

beschneidet. Die bildende Kunst muß einen „prägnanten Augenblick“ kurz vor oder nach dem Höhe-

punkt des Ereignisses gestalten. Lessing weist die Malerei in ihre Grenzen, um der Einbildungskraft

Raum zu schaffen. Er reduziert den Geltungsbereich des Bildlichen, um es auf höherer Ebenen zu be-

freien. Damit bereitet er dem „Sturm und Drang“ den Weg, in dem die Einbildungskraft im Gewand

des „Genies“ ihren Siegeszug antritt. Schon mindestens 15 Jahre vor Erscheinen der „Kritik der reinen

Vernunft“ war der Begriff der Einbildungskraft durch Lessings „Laokoon“ ästhetisch besetzt.

Wir umkreisen an dieser Stelle in Gestalt der Einbildungskraft einen Indifferenzpunkt des Ästhetischen,

an dem traditionelle Klassifikationen wie die Unterscheidung zwischen „Schönem“ und „Erhabenem“

nicht mehr greifen. Das Erhabene läßt sich vielleicht noch am ehesten als gesteigerter (sublimer) Modus

ästhetischer Darstellung retten. Die Annahme eines substantiell Erhabenen, wie es Lyotard vorschwebt,

würde dagegen in einen schlechten Mystizismus führen und das Ende jeder Reflexion einläuten.

Kant sieht sich genötigt, der Einbildungskraft einen zentralen Stellenwert innerhalb seiner

theoretischen Philosophie einzuräumen:“Es ist daher [...] einleuchtend, daß, nur vermittels dieser

transzendentalen Funktion der Einbildungskraft [...], die Erfahrung selbst möglich werde“.99

Gleichzeitig muß er die Einbildungskraft aber immer wieder in ihre Schranken weisen. Er geht davon

97 a.a.O.: S. 143. (Hervorhebung von mir). 98 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Hg. v. Ingrid Kreuzer. Stuttgart

1987. S. 23. (Hervorhebung von mir). 99 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. A.a.O.: S. 178 (~ A 123).

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aus, daß „die Einbildungskraft natürlicherweise bis zum Äußersten zu steigern geneigt ist“100 und die

Möglichkeit der Erfahrung, die sie eröffnet, auch bedroht: „Wir spielen oft und gern mit der

Einbildungskraft; aber die Einbildungskraft (als Phantasie) spielt eben so oft und bisweilen sehr

ungelegen mit uns.“101 Die Einbildungskraft gilt Kant als Quelle der vier gefährlichsten

Gemütskrankheiten (Unsinnigkeit, Wahnsinn, Wahnwitz, Aberwitz102) und muß deshalb vom

Sittengesetz begrenzt werden. Die „Analytik des Erhabenen“ dient dieser Erniedrigung der

Einbildungskraft gegenüber der Vernunft. Statt die Einbildungskraft im Angesicht des schlechthin

Großen ihrer selbst inne und somit erhaben werden zu lassen, ersetzt Kant sie durch das Sittengesetz.

Die Möglichkeit, die Einbildungskraft als das eigentlich erhabene Vermögen zu bestimmen, liefert die

„Analytik des Erhabenen“ dagegen schon selbst. In bezug auf „schlechthin große“ Objekte schreibt

Kant:

„Hier ist nun merkwürdig: daß, wenn wir gleich am Objekte gar kein Interesse haben, d.i. die Existenz desselben uns gleichgültig ist, doch die bloße Größe desselben, selbst wenn es als formlos betrachtet wird, ein Wohlgefallen bei sich führen könne [...] an der Erweiterung der Einbildungskraft an sich selbst.“ (KdU,B,83)

Im Angesicht des schlechthin Großen „sinkt“ die Einbildungskraft „in sich selbst zurück“ (KdU,B,89)

und wird sich ihrer selbst in ihrer Unermeßlichkeit inne. Diese Unermeßlichkeit der Imagination darf

Kant aber nicht dulden: die Befreiung der Einbildungskraft, der die „Analytik des Schönen“ diente,

wird in der „Analytik des Erhabenen“ wieder rückgängig gemacht. Die Unermeßlichkeit des Gesetzes

schränkt die Imagination ein. Kant bleibt damit letztlich Klassizist. Er integriert die Ästhetik des Erha-

benen in sein System, um sie zu entschärfen. Darin wiederholt er ein wirkungsgeschichtliches Paradox,

das am Ursprung der Geschichte der Kategorie des Erhabenen in der Neuzeit steht. Diese Geschichte

beginnt 1674 mit der Übersetzung und Kommentierung der spätantiken Schrift „peri hypsous“103 durch

Nicolas Boileau-Despréaux, dem Cheftheoretiker des französischen Klassizismus, der auf Seiten der

„Anciens“ wesentlich an der „Querelle des Anciens et des Modernes“ beteiligt war. Boileau entwirft

parallel zu dieser Übersetzung in seiner ebenfalls 1674 erschienenen Hauptschrift „L’ Art poétique“104

unter vorgeblicher Berufung auf den antiken Traktat eine eigene, klassizistische Konzeption des Erha-

benen. Den Gipfel des Erhabenen sieht Boileau in der Macht sowohl über sich selbst in Form von Dis-

ziplin und Selbstbeherrschung, als auch in der Macht über andere. Das klassizistische Erhabene ist die

Erscheinung des rational gebändigten Affekts, das genaue Gegenteil des antiken „hypsos“, dessen zentra-

le Attribute der Schock der Offenbarung und der ungebändigte Affekt waren.

Auf den ambivalenten Status des Erhabenen und der Einbildungskraft im Denken Kants verweist auch

Escoubas. Sie beschreibt die Architektur des Kantschen Systems insgesamt als einen unausgetragenen 100 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Werkausgabe Bd.XII. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt

a.M. 51984. S. 474 (~ B 77). 101 a.a.O.: S. 476 (~ B 80) 102 a.a.O.: S. 530ff. (~ B 144ff.). 103 vgl. Longinus [~ Pseudo-Longinus oder Dionysios]: Vom Erhabenen. A.a.O. 104 vgl. Nicolas Boileau-Despréaux: l’ Art poétique. In: Ders.: OEuvres complètes. Introduction par Antoine Adam. Textes

établis et annotés par Francois Escal. Paris 1966.

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Konflikt zwischen dichotomischen und trichotomischen Strukturen. Zwischen den beiden zentralen

Dichotomien Sinnlichkeit/Verstand und Verstand/Vernunft vermittelt im ersten Fall die Einbildungskraft

und im zweiten Fall die Urteilskraft. Daraus ergeben sich die Trichotomien

Sinnlichkeit/Einbildungskraft/Verstand und Verstand/Urteilskraft/Vernunft. In einer an Derrida105

geschulten Lektüre zeigt Escoubas, daß die von Kant als bloße Mittelglieder eingeführten Kategorien

Einbildungskraft und Urteilskraft in den Vermögen, zwischen denen sie vermitteln sollen, selbst im Spiel

sind. Kant beschreibt die Einbildungskraft zunächst als Vermögen der Synthesis zweier Relata, die von

der Einbildungskraft unabhängig sein sollen:

„Wir haben also eine reine Einbildungskraft, als ein Grundvermögen der menschlichen Seele, das aller Erkenntnis a priori zum Grunde liegt. [...] Beide äußerste Enden, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, müssen vermittels dieser transzendentalen Funktion der Einbildungskraft notwendig zusammenhängen.“106

Um die Arbeit der Sinnlichkeit, des Verstandes und der Vernunft zu beschreiben, muß Kant ein impli-

zites Modell von Einbildungskraft voraussetzen. Die zu vermittelnden Vermögen können von den Mit-

telgliedern nicht mehr ohne weiteres isoliert werden. Kant muß z.B. behaupten, daß „die Einbildungs-

kraft ein notwendiges Ingredienz der Wahrnehmung [und damit der Sinnlichkeit] selbst“107 sei. Die

grundlegenden Dichotomien der Kantschen Philosophie brechen zusammen. Escoubas schreibt:

„Der dritte Begriff stellt [...] niemals eine bloße Querverbindung zwischen den beiden anderen Begriffen her, durch die diese beiden zwar einen stärkeren Halt finden oder in einen Zusammenhang gebracht werden, als solche aber unverändert bleiben. Der Mittelbegriff verwandelt die beiden anderen von Grund auf, so daß von dem Bauwerk durch den Übergang von Dichotomien zu Trichotomien kein Bauteil mehr dasselbe bleibt.“108

Die Einbildungskraft wird auch im Text Kants unermeßlich und „selbst erhaben oder ungeheuer, denn

sie ist unbegrenzt“.109 Nach Escoubas handelt es sich beim Erhabenen Kants

„um das Zeigen dessen, was sich im Werk allen Zeigens nicht selbst zeigt, um eine »abgezogene Dar-

stellungsart« eine »negative Darstellung« eine »Darstellung des Unendliche«110 wie Kant sagt (KU 124).

Das, was sich im Werk jedes Zeigens nicht selbst zeigt, ist die Form - ein anderer Name für den

Stil.“»Der Stil als ästhetische Weise der Darstellung ist dasjenige, was „einer Bestimmung nicht unter-

worfen werden kann und daher auch nicht Gegenstand einer Darstellung zu werden vermag, sondern

den Prozeß der Darstellung selbst konstituiert.“111 Die Darstellung und der Stil vertreten die Einbil-

dungskraft auf der Ebene des Werks. Das Erhabene erscheint von dieser Position aus nicht mehr als

ein substantielles „Etwas“, das sich im Werk darstellt, sondern als eine bestimmte Weise der Darstel-

lung. Auch Derrida schreibt unter Bezugnahme auf Kant: „Das Gefühl des Erhabenen, als Wirkung

105 vgl. Jacques Derrida: Parergon. In: Ders.: Die Wahrheit in der Malerei. Übers. v. Michael Wetzel. Wien 1992. S. 31-176. 106 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. A.a.O.: S. 179 (~ A 125). 107 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. A.a.O.: S. 176 (~ A 120/121). 108 Eliane Escoubas: Zur Archäologie des Bildes. A.a.O.: S. 502. 109 a.a.O.: S. 526. 110 a.a.O.: S. 516. 111 a.a.O.: S. 516.

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einer subjektiven Projektion, ist die Erfahrung einer Unangemessenheit der Darstellung sich selbst ge-

genüber.“112

Die Einbildungskraft ist für Kant sowohl rezeptiv (sie bringt „eine vorher gehabte empirische

Anschauung ins Gemüt zurück“113) als auch produktiv (sie ist „ein Vermögen der ursprünglichen

Darstellung“114). Damit entspricht die Einbildungskraft systematisch der Kategorie der Darstellung, die

ebenfalls sowohl rezeptiv (Darstellung von etwas) als auch produktiv (Darstellung als etwas) ist.

Darstellung als solche tendiert, wenn sie sich im Bezug auf ein Dargestelltes zunächst auf sich selbst

bezieht (indem sie „Darstellung als“ als „Darstellung von“ wird), dazu ästhetisch zu werden. Christiaan

L. Hart Nibbrig drückt diesen Sachverhalt wie folgt aus: „Ästhetische Darstellung ist subjektiv-objektiv,

wenn, was sie darstellt, Ausdruck der Sache ist, der Sache, in der Weise, wie sie in meiner Beziehung zu

ihr erscheint.“115 Und weiter: „Allein ästhetische Darstellung [...] ist ein Erkennen als Darstellen, ein

Darstellen, das erkennbar macht, was durch nichts sonst zum Vorschein kommt und was sich einzig -

medienspezifisch verschieden - am Wie der Darstellung zeigt.“116 Im Anschluß an diese Definition

ästhetischer Darstellung läßt sich erhabene Darstellung vielleicht als eine Darstellung definieren, die ihr

„Darstellen als“ so sehr betont, daß sie ihr „Darstellen von“ tendenziell überlagert: erhaben wäre dann

die bis zum Verzicht auf das Dargestellte „sublimierte“ Weise der ästhetischen Darstellung.

Der Ort des Erhabenen innerhalb der Kunstphilosophie läge somit in der Lehre von der Darstellung,

der Rhetorik und Stilistik. Schon in der Antike wurde die Diskussion über das Erhabene innerhalb der

Rhetorik-Theorie geführt. Das Erhabene galt als Trope. Gleichzeitig wurde der gelungene Gebrauch

anderer Tropen als Garant eines erhabenen Stils angesehen. In der Schrift „peri hypsous“ gilt das

Erhabene als Trope der Persuasion:

„Das Großartige nämlich überzeugt die Hörer nicht, sondern verzückt sie; immer und überall wirkt ja das Erstaunliche mit seiner erschütternden Kraft mächtiger als das, was nur überredet oder gefällt, hängt doch die Wirkung des Überzeugenden meist von uns ab, während das Großartige unwiderstehlich Macht ausübt und jeglichen Hörer überwältigt.“117

Aus der Sicht der Rhetorik könnte die Einbildungskraft wiederum als Kraft der Metaphorisierung und Sti-

lisierung definiert werden. In der Ökonomie der Kantschen Vermögen spielt sie dagegen eine zentrale

Rolle als Kraft der Synthesis und der Prädikation. Schon in der „transzendentalen Synthesis“, in der Idee

des „»ich denke« das alle meine Vorstellungen muß begleiten können“ ist die Einbildungskraft am

Werk: „Die Synthesis überhaupt ist [...] die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich

unentbehrlichen Funktion der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der wir

112 Jacques Derrida: Parergon. A.a.O.: S. 160. 113 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Werkausgabe Bd.XII. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt

a.M. 51984. S. 476 (~ B 80). 114 ebd. 115 Christiaan L. Hart Nibbrig: Vorwort zu ders. (Hg.): Ästhetik. Materialien zu ihrer Geschichte. Ein Lesebuch. Frankfurt

a.M. 1978. S. 7-25. Hier: S. 10. 116 a.a.O.: S. 11. 117 Longinus [~ Pseudo-Longinus oder Dionysios ]: Vom Erhabenen. A.a.O.: S. 5/7.

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uns aber selten nur einmal bewußt sind.“118 Dieser „blinde Fleck“ im Zentrum der Vermögen, den

Kant hier mit der „Einbildungskraft“ identifiziert, ließe sich genausogut durch die Kategorie des Stils,

dem darstellerischen Pendant der Einbildungskraft, beschreiben. Der Stil gilt traditionell als Kategorie

der Individuierung. Das, was ein Individuum zum Individuum macht, ist sein Stil. Diese These vertritt

z.B. der analytische Philosoph Danto. Wenn er das „Zentrum“ des Individuums als seinen „Stil“ defi-

niert und die Kantsche Subjekt-Philosophie damit hermeneutisch transformiert, knüpft er positiv an

eine lebensphilosophische Tradition an:

„Kurz gesagt, meine Ansicht ist eine Erweiterung der Peirceschen These, »daß der Mensch das Ganze seiner Sprache ist, weil der Mensch ein Zeichen ist« [...] Nicht nur das, was ein Mensch repräsentiert, sondern auch wie er es repräsentiert, muß herangezogen werden, um die Strukturen seines Geistes zu erklären. Diese Repräsentationsweise dessen, was auch immer er repräsentiert, ist das, was ich unter Stil verstehe. Wenn der Mensch ein System von Repräsentationen ist, ist sein Stil der Stil dieser Repräsentationen. Der Stil eines Menschen ist, nach dem schönen Gedanken Schopenhauers, »die Physiognomie der Seel«.119

Der individuelle Stil (und damit das Individuum selbst) entspringt einer über die Einbildungskraft ge-

steuerten, symbolisch vermittelten „Individuierung durch Vergesellschaftung“120. Individualität bildet

sich in einem komplizierten interaktiven Prozeß der Differenzierung und Identifizierung zwischen

Selbstbildern, Bildern die sich das Selbst von anderen macht und Bildern, die andere sich vom Selbst

machen. Die Ausdifferenzierung oder Stilisierung eines Selbstbildes ist das Resultat eines interaktiven

„role-taking“121. Das Selbstbild konstituiert sich zunächst in der Selbstdistanzierung, die die Übernahme

der Rolle eines anderen mit sich bringt. Mein eigenes Bild vermag ich überhaupt nur mit den imaginier-

ten Augen anderer zu sehen. Voraussetzung und gleichzeitig Produkt einer solchen symbolischen Inter-

aktion ist die Einbildungskraft.122 „Bilder, die Verhalten steuern, sind Bilder, die aus dem Verhalten stammen.“123

Beschreibbar wäre der Prozeß der Individuierung (und somit Individualität überhaupt) nur aus einer

zugleich „symbolischen“ und „pragmatischen“124 Perspektive, die der Einbildungskraft eine zentrale

Rolle einräumen würde.125

118 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. A.a.O.: S. 117 (~ B 103). 119 Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. A.a.O.: S. 311. 120 vgl. Georg Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. Übers. v. Ulf Pacher. Frankfurt a.M. 1973. 121 a.a.O.: S. 177ff. 122 Die Einbildungskraft erweist sich als grundlegende Kategorie nicht nur jeder Theorie des Ästhetischen, sondern auch als

unverzichtbar für jede Beschreibung von Individualität und Sozialität. Dieser Umstand spiegelt sich darin, daß die Be-griffe „Rolle“ und „Identifikation“ sowohl in der Ästhetik als auch in der Soziologie von paradigmatischer Bedeutung sind. Vgl. dazu Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a.M. 1991. S. 221ff. u. S. 244ff.

123 Ferdinand Fellmann: Symbolischer Pragmatismus. Hermeneutik nach Dilthey. Reinbek bei Hamburg 1991. S. 51. 124 Zum Programm eines „Symbolischen Pragmatismus“ vgl. Ferdinand Fellmann: Symbolischer Pragmatismus. A.a.O. 125 Auch Paul Ricoeur sieht in der Einbildungskraft die zentrale Instanz des menschlichen Bewußtseins: „Ich würde heute

sagen, daß das Phänomen, um das letztlich meine Gedanken kreisen, der Zusammenhang zwischen dem Schöpferischen und der Regel ist. Die Spur dieses Zusammenhangs ist in der Sprache zu erkennen; seine Dynamik beruht auf der Ein-bildungskraft. [...] Alles Neue hebt sich, wie Merleau-Ponty gesagt hätte, von einem sedimentierten Erwerb ab. Das be-vorzugte Medium, anhand dessen nun diese geregelte Produktion zu erkennen und zu beschreiben ist, ist die Sprache. Nicht etwa, daß alles Sprache wäre: daneben gibt es die Geste und das Gefühl [...]. Es ist jedoch immer möglich, das Nichtsprachliche zur Sprache zu bringen; die Sprache ist das universale Medium, in dem sich alles sinnvolle menschliche Tun artikulieren und mitteilen läßt. Nun ist aber die Sprache zwar ausdrücklich oder unausdrücklich das bevorzugte Aus-drucksmittel des geregelten Schaffens, doch ist sie nicht dessen Quelle: wie Kant den Schematismus für die verborgene Quelle hielt, aus der die Hauptmomente des Kategoriensystems hervorgehen, so betrachte ich die schöpferische Einbil-

35

Im Zentrum der Subjektivität steht mit der Einbildungskraft als einem „ursprünglichen

Symbolisierungsvermögen“126 ein letztlich ästhetisches Vermögen. Ferdinand Fellmann trägt diesem

Umstand Rechnung, indem er die Ästhetik als „Fundamentalwissenschaft“127 der

Bewußtseinsphilosophie bezeichnet. Menschliches Handeln zeichnet sich für Fellmann dadurch aus,

„daß es immer mit Darstellung verbunden ist“128. Handeln läßt sich für ihn „als eine Form des

Interpretierens beschreiben, deren Leitfaden die Bilder sind, die der Mensch sich von der Welt und von

sich selbst macht“129. Fellmann faßt sogar das Bewußtsein selbst als Bild auf,

„genauer: Bewußtsein kann der Form nach als Bild interpretiert werden, nach dem der Mensch sein Verhalten deutet. Zwischen Bild und Bewußtsein besteht somit Identität der Struktur, die sich aus dem Verhalten als gemeinsamem Nenner ergibt. Das Verhalten liefert das materielle Substrat, in dem sich die Bilder des Bewußtseins entfalten, und die Bilder eröffnen ihrerseits den Bedeutungsraum, in dem das Verhalten zum Ausdruck kommt. Ein Ich, das sich verhält, generiert Bilder.“130

Diese bewußtseinsphilosophische These der „Ästhetik als Fundamentalwissenschaft“131 darf nicht mit

einer Reduktion aller Phänomene auf ein numinoses und grenzenloses „Ästhetisches“ verwechselt wer-

den. Die Tatsache, daß allen unseren Lebensäußerungen mit der Einbildungskraft ein ästhetisches

Vermögen zugrunde liegt, heißt nicht, daß sich alle Lebensäußerungen ausschließlich als ästhetische

Äußerungen interpretieren ließen. Die Involviertheit bildlicher Vorstellungen in allen epistemischen

und ethischen Weltverhältnissen sabotiert noch nicht die epistemischen und ethischen Geltungsansprüche,

die mit diesen Weltverhältnissen verbunden werden.

Hinter solchen Einsichten bleibt Lyotards Ästhetik genau so weit zurück wie seine Lektüre der

Kantschen „Analytik des Erhabenen“ hinter derjenigen Escoubas’. Das erhabene Ereignis, das „es

gibt“, welches Escoubas als „Gebung“ eines Bildes durch die Einbildungskraft132 interpretiert, wird bei

Lyotard zu einer metaphysischen Gebung, in deren Angesicht die Grenzen des Individuums gesprengt

werden. Eine solche Auffassung vom Erhabenen versucht Lyotard auch dem Text Kants zu unterlegen.

Die durch die ersten beiden Kritiken Kants markierten Diskursarten (den „theoretischen“ und den

„praktischen“ Diskurs) bezeichnet Lyotard als „Archipele“133. Die „Urteilskraft“ der dritten Kritik soll

„gleichsam ein Reeder oder Admiral“ sein, „der von einer Insel zur anderen Expeditionen

dungskraft als die Quelle der Dynamik, die die Rede zum Medium jeder neuen Synthese macht. Man darf daher die de-skriptive Disziplin, die für jene Phänomene zuständig ist, die mit diesem auf Einbildungskraft und Sprache beruhenden Schaffen zusammenhängen, Poetik nennen.“ (Paul Ricoeur: Die lebendige Metapher. Übers. v. Rainer Rochlitz. München 1986. S. I/II).

126 Ferdinand Fellmann: Symbolischer Pragmatismus. A.a.O.: S. 114. 127 Ferdinand Fellmann: Ästhetik als Fundamentalwissenschaft. Typoskript. Münster 1992. S. 1. 128 a.a.O.: S. 11. 129 a.a.O.: S. 12. 130 Ferdinand Fellmann: Symbolischer Pragmatismus. A.a.O.: S. 52. 131 Ferdinand Fellmann: Ästhetik als Fundamentalwissenschaft. A.a.O.: S. 1. 132 „Die Kantsche Einbildungskraft, das Vermögen des Nichtwahrnehmbaren an der Wahrnehmung [...], ist ein anderer

Name für das Sein.“ (Escoubas: a.a.O.: S. 536) Dieses Sein ist aber nicht das Heideggersche Sein, an das Lyotard denkt, sondern eher dasjenige Paul Ricoeurs, ein Sein, „das in einem Atemzug: das ist, das ist nicht, das ist wie... sagt.“ (Paul Ri-coeur: Die lebendige Metapher. A.a.O.: S. VIII).

133 Jean-François Lyotard: Der Widerstreit. A.a.O.: S. 218.

36

ausschickt“134. Tatsächlich dient die „Urteilskraft“ bei Kant der Stiftung einer Einheit zwischen den

Vermögen der beiden ersten Kritiken (Verstand und Vernunft) und somit zur Stiftung der Einheit des

Subjekts. In der Einleitung zur KdU heißt es:

„Ob nun zwar eine unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs als dem Übersinnlichen, befestigt ist, so daß von dem ersteren zum anderen [...] kein Übergang möglich ist, gleich als ob es so viel verschiedene Welten wären, deren erste auf die zweite keinen Einfluß haben kann: so soll doch [...] der Freiheitsbegriff [...] den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen; und die Natur muß folglich auch so gedacht werden können, daß die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme. - Also muß es doch einen Grund der Einheit des Übersinnlichen, welches der Natur zum Grunde liegt, mit dem, was der Freiheitsbegriff praktisch enthält, geben, [...] ein Mittelglied zwischen dem Verstande und der Vernunft. Dieses ist die Urteilskraft [...].“ (KdU,B,XX-XXII)

Der in der Urteilskraft gefundene Übergang ist für Kant nur ein „als-ob“-Übergang; die Einheit der

Vermögen, die dieser Übergang stiftet, bleibt eine vorgestellte, nicht reale Einheit. Die KdU ist als gan-

ze eine „Philosophie des Als-Ob“. Die „als-ob“-Einheit der Vermögen soll sich erst im zweiten Teil, in

der „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ einstellen, in welcher Natur beurteilt wird, „als ob“ sie

zweckhaft und somit der Zweckhaftigkeit menschlichen Handelns kompatibel wäre. Der „Kritik der

teleologischen Urteilskraft“ kommt, wie aus der Einleitung der KdU hervorgeht, gegenüber der „Kritik

der ästhetischen Urteilskraft“ eine logische und systematische Priorität zu. Kant entwickelt seine Theo-

rie des ästhetischen Urteilsvermögens erst in Ableitung aus seiner Theorie einer teleologischen Beurtei-

lung der Natur. Diesen Sachverhalt verkennt Lyotard. Er interpretiert das „ästhetische Gefühl“ als den

„zentralen Pfeiler [...] beim Schlagen einer zweibogigen Brücke zwischen diesen beiden Vermögen [=

Verstand und Vernunft]“135. Damit schreibt er der „ästhetischen Urteilskraft“ eine Rolle innerhalb der

philosophischen Systematik Kants zu, die ihr dort nicht zukommt. Er beruft sich auf den §59 „Von der

Schönheit als Symbol der Sittlichkeit“, mit dem Kant versuchen soll, metaphysisches Einheitsdenken zu

restituieren.

„Mehr als ein von der Hast des Schließens gedrängter Denker [...] stürzt sich auf den so gebahnten Übergang, den zu überschreiten ihm [...] in der Tat gelingt, um den alten Brückenkopf wieder einzupflanzen, um das (für das abendländische Denken) archaische Argument erneut zu bekräftigen, demzufolge die Schlußfolgerung vom Schönen zum Guten richtig ist [...].“136

Im §59 der KdU konstruiert Kant aber keine „Brücke“, sondern weist nur auf eine „symbolische“ oder

„analogische“ Ähnlichkeit zwischen der „Form“ von Urteilen über das Schöne und über das Sittlich-

Gute hin, die darin besteht, das beide Arten von Urteilen „unmittelbar“, „ohne alles [den Urteilen vor-

hergehendes] Interesse“, „frei von Affekten“ und „allgemein, d.i. für jedermann gültig“ (KdU,B,259)

sind. Der von Kant angeblich errichteten „Brücke“ traut Lyotard eine nur geringe Tragkraft zu: „Wenn

zwischen den beiden Urteilen eine Verwandtschaft besteht, dann wohl nur eine um drei Ecken. Aufge-

baut auf einer unwahrscheinlichen Analogie.“137 Mit dieser Einschätzung behält Lyotard recht, nicht

134 a.a.O.: S. 218/219. 135 Jean-François Lyotard: Das Interesse des Erhabenen. In: Christine Pries (Hg.): Das Erhabene. A.a.O.: S. 95. 136 a.a.O.: S. 96. 137 a.a.O.: S. 101.

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aber mit der impliziten Unterstellung, daß Kant selbst auf die Tragfähigkeit seiner symbolischen Brücke

große Stükke hielte.

Der als metaphysischer Brückenbauer zurechtgestutzte Kant kann von Lyotard leicht einer pseudo-

dekonstruktiven Lektüre unterzogen werden. Die Brücke, welche die ästhetische Urteilskraft zwischen

theoretischem Verstand und praktischer Vernunft spannen soll, wird für Lyotard durch die Kategorie

des Erhabenen wieder eingerissen.

„Wie ein Meteor schlägt die Analytik des Erhabenen in das Werk ein, das dieser doppelten Erbauung gewidmet ist, und scheint, auch wenn sie nur ein ‘bloßer Anhang’ ist, diesen Hoffnungen [„auf eine Begründung des Subjekts als Einheit der Vermögen“] ein Ende zu setzen.“138 „Das Erhabene sagt nur: die Brücke kann auch zerstört werden, das kommt vor.“139

Die synthetisierende Funktion des Schönen innerhalb der KdU soll durch die dissoziierende Kraft des

Erhabenen unterlaufen werden. Das Erhabene ergebe sich nicht wie das Schöne aus einem „freien

Spiel“ zwischen Einbildungskraft und Verstand, sondern aus der „Unterjochung“ der Einbildungskraft:

„Die Einbildungskraft muß vergewaltigt werden, weil die Freude, das Gesetz zu sehen, nur durch ihren

Schmerz, vermittels ihrer Vergewaltigung erlangt wird.“140 Diese Aussage ist innerhalb der von Lyotard

selbst vorgeschlagenen Kant-Deutung unsinnig. Wie kommt Lyotard auf den Gedanken, das aus einem

Gefühl der Unangemessenheit zwischen Einbildungskraft und Vernunft resultierende Erhabene könne die

durch das Schöne verkörperte Brücke zwischen Verstand und Vernunft einreißen? Er übersieht zudem

völlig, daß die dissoziierende Komponente des Kantschen Erhabenen nur ein untergeordneter Teil ei-

ner umfassenderen Konzeption von „Selbsterhaltung“ (KdU,B,105) und Festigung der Ich-Identität

gerade im Moment ihrer Bedrohung ist.

Lyotards gewaltsame Verschiebung des Ortes des Erhabenen in Kants Systematik wird erst durch die

Stellung des Erhabenen in Lyotards eigener Systematik verständlich. Sein Erhabenes ist der Ort der

Offenbarung eines transzendenten „Ereignisses“ und die Kraft der Dissoziierung der Einheit der

Vermögen des Subjekts oder der Diskurse, ohne daß das Verhältnis dieser beiden Komponenten

zueinander ausreichend geklärt würde. Letztlich ist das Erhabene für Lyotard eine ethische und

religiöse Kategorie. Dazu bemerkt Seel: „Die reformulierte Norm des Erhabenen erweist sich [bei

Lyotard] als Bestandteil einer Ethik der antiunitarischen Moderne.“141 In einem klassischen

naturalistischen Fehlschluß privilegiert Lyotard implizit „Vielheit“ gegenüber „Einheit“ als ethisch

„besser“ und erklärt die ästhetische Kategorie des Erhabenen zum Anwalt und Garanten der Pluralität.

Lyotard selbst überbrückt die moderne Kluft zwischen dem Schönen und dem Guten, die überbrücken

zu wollen er Kant zu Unrecht vorwirft.

138 a.a.O.: S. 91. 139 Jean-François Lyotard: Das Undarstellbare - wider das Vergessen. A.a.O.: S. 329. 140 Jean-François Lyotard: Das Interesse des Erhabenen. A.a.O.: S. 109. 141 Martin Seel: Dialektik des Erhabenen. Kommentare zur »ästhetischen Barbarei heute« In: Willem van Reijen u. Gunzelin

Schmid Noerr (Hg.): Vierzig Jahre Flaschenpost. »Dialektik der Aufklärung

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1.2.2. George Steiners Ästhetik der realen Gegenwart Gottes

Als jüngstes Beispiel der überbietungsästhetischen Tradition, die im Grunde nichts anderes ist als die

Fortschreibung vormoderner Bestimmungen des Kunstwerks in der Moderne, kann der Kunstbegriff

George Steiners angesehen werden. Steiner versucht wie Lyotard den antiken und mittelalterlichen

„Kultwert“ der Werke gegen ihren neuzeitlichen „Ausstellungswert“142 einzuklagen. Sein kunsttheoreti-

sches Schlagwort „reale Gegenwart“ entspricht genau dem, was Arnold Gehlen in bezug auf mittelalter-

liche Werke die „ideelle Kunst der Vergegenwärtigung“143 nennt. Werke ahmen im Mittelalter nicht

primär Natur nach und artikulieren nicht primär Sichtweisen auf die Welt, sondern vergegenwärtigen

eine mit den Ideen des Wahren und Guten zusammenfallende göttliche Macht. Auf genau diese Aufga-

be wollen Lyotard und Steiner auch noch die moderne, von der Religion emanzipierte Kunst verpflich-

ten.

Steiner stellt sich in seinem, vom Feuilleton enthusiastisch als ‘Paradigmenwechsel auf dem Felde der

ästhetischen Theorien’ begrüßten144 Buch „Von realer Gegenwart“ eine „Gesellschaft vor, in der jedes

Gespräch über Kunst, Musik und Literatur verboten ist. [...] Es gäbe keine literaturkritischen

Zeitschriften; keine akademischen Seminare, Vorlesungen oder Kolloquien über diesen oder jenen

Dichter, Dramatiker, Romancier“145. Aus Steiners „Gesellschaft des Primären“ würden die

„Rezensenten und Kritiker verbannt“, in ihr wäre „Kunstkritik“ als ihren Gegenstand konstitutiv

verfehlendes „Reden über“ einzelne Werke und erst recht Ästhetik als „Reden über“ die Kunst

„untersagt“146. Um der Dignität der Kunst willen wird Platons Bannspruch über die Defiziens der

Kunst auf die Ästhetik übertragen. Die gegenwärtige Proliferation philosophischer Ästhetik gilt Steiner

als größtes Hindernis für eine gestaltprägnante, unverstellte Rezeption von Kunst, wie sie ihm unter

dem Leitbild der cortesia, der Gastfreundschaft vorschwebt147. Wir sollen die von außen kommenden

Werke vorbehaltlos in unser Leben aufnehmen wie den Fremden in unser Haus. Diese Aufnahme soll

142 Zu den Begriffen „Kultwert“ und „Ausstellungswert“ schreibt Benjamin: „Es wäre möglich, die Kunstgeschichte als

Auseinandersetzung zweier Polaritäten im Kunstwerk selbst darzustellen und die Geschichte ihres Verlaufes in den wechselnden Verschiebungen des Schwergewichts vom einen Pol des Kunstwerks zum anderen zu erblicken. Diese bei-den Pole sind sein Kultwert und sein Ausstellungswert. [...] Mit der Emanzipation der einzelnen Kunstübungen aus dem Schoße des Kultus wachsen die Gelegenheiten zur Ausstellung ihrer Produkte.“ (GS,I,443)

143 „Die ideelle Kunst der Vergegenwärtigung [...] ist diejenige, welche sich auf sekundäre Motive stützt, sie setzt stets Kon-notationen, also Vorgewußtes und gedanklich Mitgebrachtes voraus, das sie in die Anschauung hebt. Hierher gehört alle religiöse und mythologische Malerei [...]. Die ideelle und vergegenwärtigende Kunst war die der großen Repräsentation der Kirchen und Herrschaften“. Arnold Gehlen: Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei. Frank-furt a.M. 1986. S. 15.

144 vgl. z.B: Botho Strauß: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Anmerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit. In: Die Zeit. Nr.26 / 22.6.1990. S. 57. Reinhard Baumgart: Vertrauen ins Fremde. ‘Von realer Gegenwart’: George Steiners Versuch einer Metaphysik der Kunst. In: Die Zeit. Nr. 45 / 2.11.1990. S. 71. Gerhard Neumann: Essen vom Baum der Erkenntnis. In: Frankfurter Rundschau. Nr. 126 / 4.6.1991. S. 13.

145 George Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? München und Wien 1990. S. 15. 146 a.a.O.: S. 15. 147 a.a.O.: S. 232.

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unmittelbar sein und jedem begrifflichen Zugang vorausgehen. Sie erinnert an irrationalistische

Nachvollzugs- und Einfühlungshermeneutiken, wie sie nach dem zweiten Weltkrieg von Emil Staiger,

Wolfgang Kaiser und Benno von Wiese mit Erfolg vertreten wurden. Gegen die zu seiner Zeit von

Oskar Walzel praktizierte Nachvollzugshermeneutik zieht Benjamin zu Felde. Er kritisiert

„jene unmanierliche »Einfühlung« wie sie fast allen literarhistorischen Untersuchungen das Konzept besudelt. Solange die Sippe der fatalen »Miterleber« [...] nicht beseitigt ist, wird literarische Kritik häßlich und unfruchtbar wie eine alte Jungfer bleiben und der Magister ihr alleiniger Galan sein. Solche Kritik wird immer durch die »Weite« ihrer Gegenstände, durch das »synthetische« Gebaren sich verraten. Der geile Drang aufs »Große Ganze« ist ihr Unglück. Liebe zur Sache hält sich an die radikale Einzigkeit des Kunstwerks und geht aus dem schöpferischen Indifferenzpunkt hervor, wo Einsicht in das Wesen des »Schönen« oder der »Kunst« mit der ins durchaus einmalige und einzige Werk sich verschränkt und durchdringt. Sie tritt in dessen Inneres als in das einer Monade, die, wie wir wissen, keine Fenster hat, sondern in sich die Miniatur des ganzen trägt.“ (GS3,51)

Im Gegensatz zu Steiner fordert Benjamin keinen Verzicht auf ästhetische Reflexion, sondern plädiert

für ihre Anbindung an die Kritik konkreter Werke. Deren je spezifischer Gehalt erschließt sich nicht

der Einfühlung, sondern nur der methodisch reflektierten Kritik.

Steiners „antiästhetisches Utopia“ setzt sich (wie schon das gattungsstiftende Vorbild des Thomas

Morus) aus zwei Teilen zusammen: aus einer Gegenwartskritik (einer Kritik am gegenwärtigen Stand

ästhetischer Theorie) und aus einem idealisierenden Gegenentwurf. Den heutigen Stand ästhetischer

Theorie und Kritik kennzeichnet Steiner als einen „alexandrinischen“ oder „byzantinischen“, als den

einer Verfallszeit. Kritiken reihten sich an Kritiken, verdeckten, verfälschten und ersetzten die

„ursprünglichen“, „reinen“ Werke. Deren „Unmittelbarkeit“ werde erstickt durch eine „Vorherrschaft

des Sekundären und Parasitären“148, dessen „Mekka“ die „Literaturwissenschaft“149 sei. „Seminar[e]

über schwarze Romanschriftstellerinnen der frühen achtziger Jahre“150 ersetzten an unseren

„amerikanisierten“ (Kürnbergers und Spenglers Amerika steht im Hintergrund!) Universitäten das

kontemplative Sicheinlassen auf „klassische“, „große“ Kunst, Kunst, die von der realen Gegenwart

Gottes zeugte, zu zeugen hätte. Literaturwissenschaftler, Kritiker und Ästhetiker seien „sekundäre

Seelen“151. Ihr „parasitärer Diskurs zehr[e] von der lebendigen Äußerung“152 der primären Kunst. Jedes

Schreiben über Kunst oder ein Kunstwerk sei ein Sakrileg, ein depravierendes Überschreiben eines

heiligen Urtextes. Steiner denkt an Lektüreketten folgender Art: Jacques Lacan schreibt 1956 einen

psychoanalytischen Kommentar über E.A. Poes „Der entwendete Brief“153. Über diesen Kommentar

Lacans schreibt Jacques Derrida einen Text154, der zeigt, daß Poes Erzählung die Prämissen der Lektüre

Lacans selbst schon thematisiert und hinterfragt, daß der Text Poes schon a priori von demjenigen

148 a.a.O.: S. 18. 149 a.a.O.: S. 53. 150 a.a.O.: S. 52. 151 a.a.O.: S. 39. 152 a.a.O.: S. 70. 153 vgl. Jacques Lacan: Das Seminar über E.A.Poes »Der entwendete Brief« In: Ders.: Schriften I. Übers. v. Rodolphe Ga-

sché. Olten 1973. S. 7-60.» 154 vgl. Jacques Derrida: Der Facteur der Wahrheit. In: Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits. 2. Lieferung.

Autorisierte Übersetzung von Hans-Joachim Metzger. Berlin 1987. S. 183-281.

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Lacans handelt. Über Derrida über Lacan über Poe schreibt wiederum Barbara Johnson155, um zu

zeigen, daß Derridas Lektüre Lacans genau die Fehler reproduziert, die sie der Lacanschen Lektüre

Poes vorwirft. Über den Text Johnsons über Derrida über Lacan über Poe schreibt wiederum Jonathan

Culler156, um auf die prinzipielle Unabschließbarkeit von Lektüreketten hinzuweisen, die es

problematisch erscheinen läßt, weiterhin von Primärtexten zu sprechen. Jeder Text ist für Culler über

potentiell unendlich viele andere Texte.

Genau dieses unabschließbare „Schreiben über“ wird von Steiner (Steiner selbst schreibt, ohne sich der

darin liegenden Ironie bewußt zu sein, noch einmal über das „Schreiben über“) in bedenklicher Weise

dem „Jüdischen“ und dem „Häretischen“ angenähert; die Kritiker und Ästhetiker werden als

Vertriebene oder noch zu Vertreibende in die Nähe des „Jüdischen“ gestellt.

„Das Judentum ist ohne endlos fortgesetzten Kommentar und Kommentar zum Kommentar nicht denkbar. [...] Endlos fortgesetzte Hermeneutik und Überleben im Exil sind, so glaube ich, miteinander verwandt. Der Text der Thora, des biblischen Kanons und die konzentrischen Sphären von Texten über diese Texte treten an die Stelle des zerstörten Tempels.“157

Steiner möchte das „unendliche“ Gespräch über Kunst und das „unendliche Gespräch der Moderne“158

insgesamt abbrechen, aus dem „Exil“ heimkehren in den Tempel unverbrüchlichen Glaubens. Er

möchte das „Grabmal aus ephemerem Gips“, das „von Exegese und Kritik über dem Primärtext auf-

gehäuft wurde“159, einreißen und alle sekundären Ästhetiker aus seinem Tempel der Unmittelbarkeit

verdammen. Gegen die „Häresie [...] nicht endender Neudeutung“ spricht er eine „römisch-katholische

Warnung“ aus, welche besagt, daß „Interpretation ohne Ende unausweichlich [...] in historische Kritik,

dann in mehr oder weniger metaphorischen Deismus und schließlich in Agnostizismus übergeht“160.

Das Verhalten zu Kunstwerken müsse deshalb in seiner Unmittelbarkeit restituiert werden, Kritik solle

gläubiger, unreflektierter Kontemplation weichen. Ästhetik und Kritik verfallen einem Bilderverbot

zweiter Potenz und der Kritiker wird zum Opfer einer neuen Inquisition im Namen der Unmittelbar-

keit.

Als Hauptfeind des Primären im Reiche der Kunst brandmarkt Steiner „die Dekonstruktion“. In dieser

sprachlichen Form tritt „die Dekonstruktion“ als anonymes, bedrohliches und transargumentatives

Geschehen auf, eine Charakteristik, welche dem Selbstverständnis der Adepten „der Dekonstruktion“

155 vgl. Barbara Johnson: »The Frame of Reference: Poe, Lacan, Derrida« In: Geoffrey Hartman (Hg.): Psychoanalysis and

the Question of the Text. Baltimore 1978. S. 149-171. Hier: S. 154.» 156 vgl. Jonathan Culler: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Reinbek bei Hamburg

1988. S. 307. 157 a.a.O.: S. 61. Steiners Brückenschlag vom „Jüdischen“ zum „Uneigentlichen“ erinnert fatal an antisemitische Standard-

formeln. Steiner, selbst jüdischer Konfession, beginnt seine Karriere als Kulturkritiker in der Nachfolge der Hei-deggerschen Humanismus-Kritik und der „Dialektik der Aufklärung“ Horkheimers und Adornos (vgl. z.B. George Stei-ner: In Blaubarts Burg. Frankfurt a.M. 1972). Im Gegensatz zur Aufklärungskritik Adornos, für die „Selbstreflexion der Aufklärung [...] nicht deren Widerruf [ist]“ (Negative Dialektik. A.a.O.: S. 160), führt Steiners Humanismus- und Auf-klärungskritik zu einer Restituierung metaphysisch-theologischer Denkformen. Sie fällt hinter die Aufklärung zurück.

158 Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Frankfurt a.M. 1989. S. 462. 159 George Steiner: Von realer Gegenwart. A.a.O.: S. 72. 160 a.a.O.: S. 67.

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durchaus entgegenkommen dürfte161. Die historischen Wurzeln „der Dekonstruktion“ verortet Steiner

im späten 19. Jh. in den Texten Nietzsches, Mallarmés und Rimbauds. In bezug auf diese Autoren

spricht er von einem ‘Brechen des Vertrages zwischen Wort und Welt’, zwischen Zeichen und

Bezeichnetem; ihr „Skeptizismus hat den Akt semantischen Vertrauens in Frage gestellt“162. Die Texte

Mallarmés und Rimbauds werden, einem heute (besonders in „der Dekonstruktion“) etablierten Duktus

folgend, nicht als literarische Texte, sondern als metaphysisch-metaphysikkritische Programme, als

dekonstruktivistische Manifeste, gelesen. Rimbauds „Je est un autre“163 interpretiert Steiner als

„Dekonstruktion der Ersten Person Singular“164, des Ichs, und Mallarmés Diktum, daß der Sinn von

Worten „heraufbeschworen wird durch eine innere Spiegelung der Worte selber“165 und nicht durch

ihre Referenz auf etwas An-sich-Seiendes, als „Bruch des Kontraktes zwischen Wort und Welt“166. Die

Metapher des „gebrochenen Vertrages“ suggeriert an dieser Stelle wieder weniger ein bestimmtes

Argument, als vielmehr ein transargumentatives „Geschehen“. Steiner scheint uns sagen zu wollen, daß

der „Vertragsbruch“, der in einen Hermetismus der Signifikanten führe, kein ideengeschichtliches,

sondern ein unumkehrbares realgeschichtliches Ereignis sei. Insofern ließe sich gegen den

Vertragsbruch auch nicht sinnvoll argumentieren. Steiner fällt damit in den ästhetisch motivierten

Skeptizismus in bezug auf die Möglichkeit theoretischer Wahrheit ein, wie er exemplarisch in

Nietzsches Schrift „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“167 geäußert wird. Es gibt für

ihn kein rationales Argument gegen die Behauptung eines Hermetismus der Signifikanten, eines

Universalitätsanspruchs des Ästhetischen. Auch „im Bereich des Dichterischen und der Ästhetik“ ist

für ihn „keine Aussage widerlegbar“168. Steiner unterschreibt das ästhetische und ästhetisch motivierte

„anything goes“ seiner Widersacher. Sich „auf eine ‘Theorie der Kritik’ zu berufen, eine ‘theoretische

161 vgl. z.B. Barbara Johnsons Essay „Nichts mißglückt so wie Erfolg“, in dem die Autorin „die“ orginäre Dekonstruktion

vor ihren Kritikern, aber vor allem vor ihren Epigonen und Institutionalisierungen in Schutz nehmen will, ein selbst von Epigonalität zeugender Versuch. (Barbara Johnson: „Nichts mißglückt so wie Erfolg“. In: Parallax. Zeitschrift für Tanz, Theater und Kultur. Hg. v. William Forsythe. Heft 1. 1989. S. 25-34.) - Auf den ideologischen Charakter des Sprechens von „der“ Dekonstruktion verweist Boris Groys: „Die Werke der gegenwärtigen [dekonstruktiven] Kritiker leugnen ihre eigene Herkunft von einem Urheber keineswegs aus Bescheidenheit, sondern nur, um sich gewissermaßen selbst als Einzelmanifestationen der unendlichen Kräfte des Unbewußten vorzustellen. Zu einem ähnlichen Zweck leugneten die Philosophen früherer Zeiten ihre eigene Urheberschaft an ihren Gedanken und schrieben diese den Eingebungen Got-tes oder der Natur, der Stimme der Vernunft, der Kontemplation einer Idee oder ähnlichem zu.“ Groys führt weiter aus: „Niemand kann zum Beispiel die Dekonstruktion, wie Derrida sie praktiziert, fortsetzen; sie ist zu brillant, zu originell, zu idiosynkratisch, zu endlich und zu sterblich. Die Texte der Dekonstruktion, die ganz bescheiden nur die Arbeit des Textunbewußten fragmentarisch demonstrieren wollen, sind in der Tat brillante und ausgesprochen individuelle Insze-nierungen, die das miteinander koppeln, was in der Kultur gewöhnlich nicht miteinander gekoppelt wird. Diese Kopp-lungen sind überraschend, aufschlußreich und innovativ, aber sie sind keineswegs Demonstrationen des Sprach- oder Textunbewußten »an sich« Sie haben nur innerhalb der Texte von Derrida selbst einen Sinn.“ (Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. München 1992. S. 158/159.)»

162 George Steiner: Von realer Gegenwart. A.a.O.: S. 125. 163 Arthur Rimbaud: Oeuvres complètes. Edition établie, présentée et annotée par Antoine Adam. Paris: Gallimard 1972. S.

249. 164 George Steiner: Von realer Gegenwart. A.a.O.: S. 129. 165 Stéphane Mallarmé zit.n. Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Reinbek bei Hamburg 1985. S. 106. 166 George Steiner: Von realer Gegenwart. A.a.O.: S. 127. 167 Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn. In: Werke in drei Bänden. Hg. v. Karl Schlech-

ta. Bd.3. Heidelberg 1982. S. 309-322. 168 George Steiner: Von realer Gegenwart. A.a.O.: S. 96.

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Poetik und Hermeneutik’ [...] aufzustellen“ sei „eine grundsätzliche Verwechslung“, ein „kategorialer

Irrtum“169.

Steiner behauptet damit genau jene Widerständigkeit von Kunstwerken gegenüber jeder Ästhetik, die

sich auch einer seiner selbstauserkorenen Widersacher, Paul de Man, unter dem Leitwort der

„Unlesbarkeit“ auf die Fahne seiner Theorie schreibt. Anders als de Man richtet sich Steiner nicht in

der Spannung eines Theorems der konstitutiven Insuffizienz von Theorie auf dem Felde des

Ästhetischen und anderswo ein. Auf die semiotische Antinomienlehre der Dekonstruktivisten, auf die

Lehre von einer unüberbrückbaren „Kluft zwischen Zeichen und Referent“170, die die Annahme eines

Signifikats jenseits des freien Spiels der Signifikanten problematisch (aber nicht gegenstandslos) werden

läßt, reagiert Steiner wie Friedrich Heinrich Jacobi auf die Antinomienlehre Kants mit einer Flucht in

den Glauben. Steiners Hauptthese lautet, daß

„jede logisch stimmige Auffassung dessen, was Sprache ist und wie Sprache funktioniert, daß jede logisch stimmige Erklärung des Vermögens der menschlichen Sprache, Sinn und Gefühl zu vermitteln, letztlich auf der Annahme einer Gegenwart Gottes beruhen muß [...], daß insbesondere auf dem Gebiet der Ästhetik, also dem der Literatur, der bildenden Künste und musikalischer Form die Erfahrung von Sinn auf die notwendige Möglichkeit dieser ‘realen Gegenwart’ schließen läßt“171.

Da keine Verifikation ästhetischer und anderer Urteile möglich sei, müßten wir unsere Urteile durch

einen Bezug auf Gott legitimieren. „Descartes und Newton berufen sich auf göttlichen Ursprung und

göttliche Garantie. Daß wir uns ebenso darauf berufen, wo es um Bedeutung in Sprache und Kunst

geht, ist genau der Punkt, den ich hier zu erhellen suche“172. Die „Bedeutung von Bedeutung“ bleibt für

Steiner ein „transzendentales Postulat“173. Gleich Steiner selbst könnten wir an sie nur glauben oder wie

de Man und viele andere nicht an sie glauben.

Zwischen der vormodernen Skylla eines Glaubens an Gott als einzigem Garanten der Vernünftigkeit

der Vernunft und der sich selbst als „postmodern“ verstehenden Charybdis eines (komplementären)

Glaubens an die Unvernünftigkeit von Vernunft, soll hier ein dritter, in einem noch zu definierenden

Sinne „moderner“ Weg eingeschlagen werden: ein Weg rationaler Argumentation, die sich ohne Rekurs

auf „letzte“ metaphysische Instanzen den Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit zu vergewissern und

sich aus sich selbst heraus zu begründen versucht. Zwischen denjenigen philosophischen Sprachen, die

ihre Legitimität aus dem Rekurs auf einen transreflexiven Gott zu beziehen vorgeben und denen, die

sich selbst als vollkommen „rückhaltlose und unterstützungslose Sprache“174 verstehen, soll hier eine

philosophische Sprache erprobt werden, die sich selbst zu stützen und ihre Legitimität aus der

Reflexion auf die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit zu beziehen versucht, die sich zu begründen

anstrebt, ohne auf einen außerhalb der Welt liegenden, „letzten“ Grund zurückgreifen zu müssen.

169 a.a.O.: S. 101. 170 Paul de Man: Allegorien des Lesens. Übers. v. Werner Hamacher u. Peter Krumme. Frankfurt a.M. 1988. S. 40. 171 George Steiner: Von realer Gegenwart. A.a.O.: S. 12/13. 172 a.a.O.: S. 100. 173 a.a.O.: S. 282. 174 Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz. Übers. v. Rodolphe Gasché. Frankfurt a.M. 1987. S. 63.

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Zwischen den Optionen eines transzendentalen Begründungsfundamentalismus175 und eines (nicht

minder fundamentalistischen) prinzipiellen Begründungsskeptizismus176 soll hier als dritte Option eine

transformierte, hermeneutisch gewordene Transzendentalphilosophie177 den impliziten Bezugsrahmen

für die Reflexion der Eigenart des Ästhetischen abgeben. Innerhalb einer solchen transformierten

Transzendentalphilosophie wäre ein Verständnis von Kunst möglich, welches Kunstwerke nicht weiter

auf die Rolle von Repräsentanten eines überweltlichen Absolutums oder einer universellen und

differentiellen Textualität reduzierte, sondern in ihrer autonomen welterschließenden Kraft anerkennen

würde.

175 Zeitgenössiche Vertreter dieser Position wären z.B. Dieter Henrich und Vittorio Hösle. 176 Hierher gehören alle sich selbst als „postmodern“ verstehenden Autoren. 177 Einschlägig hierzu sind die Arbeiten Karl-Otto Apels. - Apels Programm einer „Transformation der Transzendentalphi-

losophie“ transformiert im übrigen den Status der Transzendentalität selbst. Es wäre daher voreilig, sein Konzept „re-flexiver Letztbegründung“ als „metaphysisch“ abzuqualifizieren.

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1.3. Die Entdifferenzierung des Ästhetischen

„Das Denken, das heute dominiert, ist ein ästhetisches Denken.“ Wolfgang Welsch178

„Ein Terror liegt über dem Land: Die Akzeptanz des Ästhetischen.“

Karl Heinz Bohrer179

Im vorigen Kapitel wurden mit Lyotard und Steiner zwei Autoren vorgestellt, die Kunstwerke in An-

knüpfung an die platonische Tradition als Inkarnationen einer außerweltlichen Instanz funktionalisieren

und in ihrer autonomen Ästhetizität konstitutiv verfehlen. Nun soll eine andere, in der gegenwärtigen

Diskussion nicht minder virulente Richtung der Ästhetik betrachtet werden, die sowohl die Wissen-

schaft der Ästhetik als auch ihren Gegenstand, die Kunst, universell entgrenzt und ihre autonome Gel-

tung damit gleichfalls verfehlt.

Der erste Teil dieses Kapitels kritisiert einen diffusen Gebrauch des Substantivs „Ästhetik“, dem zufol-

ge „Ästhetik“ als „postmoderne“ Kulturwissenschaft angesehen wird, deren Geltungsbereich sich auf alle

menschlichen Lebensäußerungen erstrecken soll, ohne daß eine Klärung der Geltungsweise des Ästheti-

schen möglich und nötig wäre. Symptomatisch für einen solchen entdifferenzierenden Gebrauch des

Substantivs „Ästhetik“ sind die Beiträge, die Wolfgang Welsch im Anschluß an die französischen Kul-

turphilosophen Foucault, Baudrillard und Virilio der gegenwärtigen Ästhetik-Diskussion beigesteuert

hat.

Ein zweiter Teil widmet sich der von Derrida und de Man verfochtenen These, daß sich „Ästhetizität“

nicht auf Kunst als einen autonomen Diskurs unter anderen beschränken ließe, sondern prinzipiell in

allen Diskursen auch gegen deren (vielleicht anderslautendes) Selbstverständnis am Werk sei. Nach der

kulturwissenschaftlichen Entdifferenzierung der Ästhetik steht hier eine semiotische Entdifferenzierung der Kunst zu

Debatte. Für Derrida und de Man ist Sprache ein referenzloses, jeden Versuch einer Referenz unterbre-

chendes Spiel. Zeichen sind für sie nicht mehr auf den Horizont einer Welt bezogen, sondern immer

nur auf andere Zeichen. Als „Nachahmung einer Nachahmung“ entsprechen alle Zeichen per se der

Platonischen Definition der Kunst. Die Kunst kann nicht weiter von anderen Diskursen abgegrenzt,

nicht definiert werden. Das ästhetische Potential aller Diskurse muß vielmehr in einer „dekonstrukti-

ven“ Lektüre gegen die realistischen Selbstmißverständnisse dieser Diskurse ausgespielt werden. Die

Dekonstruktion verhilft allen Diskursen zum Selbstbewußtsein ihrer konstitutiven Ästhetizität und zur

Verleugnung der anderen von ihnen erhobenen Geltungsansprüche. In einer Inversion zwischen Schein

und Wirklichkeit erweist sich jede Annahme einer Wirklichkeit als Schein und umgekehrt der universel-

178 Wolfgang Welsch: Zur Aktualität ästhetischen Denkens. In: Ders.: Ästhetisches Denken. Stuttgart 1990. S. 41-78. Hier: S.

41. 179 Karl Heinz Bohrer: Die Grenzen des Ästhetischen. In: Die Zeit. Nr. 37. 4.9.1992. S. 56.

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le Schein als das eigentlich Wirkliche. Diese Position verwickelt sich, wie sich bald zeigen wird, in Wi-

dersprüche. Sie bleibt, wenn auch ex negativo, der platonischen Tradition verbunden, da sie weiterhin

im Feld klassischer metaphysischer Dualismen wie „Schein“ und „Sein“, „Eigentlichkeit“ und „Unei-

gentlichkeit“ operiert. Sie setzt „Ästhetizität“ mit „Scheinhaftigkeit“ und „Uneigentlichkeit“ gleich und

wertet diese „Uneigentlichkeit“ zu einem neuen Absolutum auf. Infolgedessen kann sie den „ästheti-

schen Diskurs“ zum „Souverän“180 über alle anderen Diskurse erklären. Der zum „ursprünglichen

Supplement“, zur „Urschrift“ und zur „différance“ entdifferenzierte ästhetische Schein übersteigt die U-

niversalitätsansprüche jeder Metaphysik, die zu überwinden er seit Nietzsche ins Feld geführt wird.

180 Im Anschluß an Derrida und de Man versucht Christoph Menke neuerdings, die Bataillesche „Souveränität“ im Feld der

Kunst zu verorten. Vgl. Christoph Menke-Eggers [= Christoph Menke]: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfah-rung nach Adorno und Derrida. Frankfurt a.M. 1988.

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1.3.1. Die Entdifferenzierung der Ästhetik zu einer allgemeinen Kulturwissenschaft

Die Aktualität der Ästhetik wird heute nicht mehr bestritten. Für viele Autoren scheint diese Aktualität

auszureichen, um das Fragen nach den Verfahren, den Gegenständen und der Begründung der Rationa-

lität dieser philosophischen Disziplin zu erübrigen. Ob überhaupt von einer Rationalität des Ästheti-

schen gesprochen und die Ästhetik als eine philosophische Disziplin neben anderen definiert und in ihrem

Geltungsbereich begrenzt werden kann, scheint zweifelhaft. Die traditionellen Fragen der Ästhetik wei-

chen immer mehr der Frage nach dem Ästhetischen als einer diffusen Qualität, die allen Diskursen und

allen Lebensformen zukommen und diese sogar dominieren soll.

Eine wichtige Ursache dieser Aktualität des Ästhetischen dürfte in dem von Apel so genannten „post-

traditionalen Vernunft-Defaitismus“181 unserer Tage liegen, in einer prinzipiellen Skepsis in bezug auf

die Möglichkeit einer rationalen Begründung diskursiver Urteile, einer Privilegierung von Rhetorik und

Persuasion vor Argumentation und einer Brandmarkung jeder Erhebung eines Anspruchs auf theoreti-

sche Wahrheit oder moralische Richtigkeit als „metaphysisch“. Unsere „zeitgenössischen Philosophen

zelebrieren ihre Abschiede“182, Abschiede von jedem Konzept einer Realität oder Faktizität jenseits des

Spiels der Signifikanten, Abschiede schließlich von der Vernunft als solcher. Übrig bleibt ein Herme-

tismus der Signifikanten, denen keinerlei Signifikat, keinerlei Welt mehr entspricht. „Nach der Natur“

und „nach der Geschichte“ mündet die Welt in einen Zustand unbegrenzter Simulation, der oft mit

einem verschwommenen Begriff „des Ästhetischen“ identifiziert wird.

Jean Baudrillard, einer der einflußreichsten „postmodernen“ Autoren, beschreibt den gegenwärtigen

Zustand der Welt als „nachgeschichtlich“ und „hyperreal“, um „Hyperrealität“ in einem weiteren

Schritt mit „Ästhetizität“ gleichzusetzen183. „Welt“, „Wirklichkeit“ und „Geschichte“ als Horizonte

modernen Denkens hätten, so lautet Baudrillards These, einen toten Punkt der Vollendung, der Aus-

schöpfung ihrer immanenten Möglichkeiten überschritten und sich selbst abgeschafft. Jenseits dieses

toten Punkts münde die Welt in einen Zustand universeller Simulation, der nicht mehr rückgängig ge-

macht werden könne. Wir befänden uns in der Geschlossenheit einer weltlosen, medialen Repräsentati-

on. Baudrillard ontologisiert die soziologische Beschreibung der „Welt als Phantom und Matrize“184, die in

den 50er Jahren im Umfeld der kritischen Theorie unter dem Eindruck einer zunehmenden Überfor-

mung des Alltags durch Massenmedien geliefert wurde. Er spricht von „Simulakren“ als realen kulturel-

181 Karl-Otto Apel: Der postkantische Universalismus in der Ethik im Lichte seiner aktuellen Mißverständnisse. In: Ders.:

Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Frankfurt a.M. 1988. S. 154-178. Hier: S. 154ff.

182 Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken. Frankfurt a.M. 1988. S. 11. 183 vgl. Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. Übers. v. Gerd Bergfleth, Gabriele Ricke u. Ronald Voullié.

München 1982. S. 112ff. 184 Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd.1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revoluti-

on. 71987. S. 97ff.

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len Supplementen einer „gegennatürlichen“185 Welt: „Die Simulakren werden heute überall in ihrer rea-

listischen Version akzeptiert: es gibt Simulation.“186 Baudrillards „Simulakren“ können als geschichts-

philosophische Übersetzung des semiotischen „Supplements“ in der Theorie Derridas gelesen werden.

„Der Begriff des Supplements“ schreibt Derrida,

„birgt in sich zwei Bedeutungen [...]. Das Supplement fügt sich hinzu, es ist ein Surplus; Fülle, die eine andere Fülle bereichert, die Überfülle der Präsenz. [...] Aber das Supplement supplementiert. Es gesellt sich nur bei, um zu ersetzen. Es kommt hinzu oder setzt sich unmerklich an-(die)-Stelle-von.“187

Auch die Simulakren Baudrillards gesellen sich nicht einer an sich seienden Welt hinzu, sondern setzen

sich an deren Stelle, werden selbst zur Welt, die immer schon simuliert ist. Den geschichtlichen Prozeß,

den Max Weber und seine Nachfolger als Rationalisierungsprozeß darstellen, beschreibt Baudrillard als

Prozeß der Entrealisierung durch sich potenzierende Simulationen von Welt, die diese schließlich ganz

aufsaugen. Der Weberschen „Entzauberung“ verfällt für Baudrillard nicht nur alles Überweltliche, son-

dern in letzter Konsequenz der Begriff der Welt selbst. Ebenso macht Baudrillards „Rationalisierung“

im Gegensatz zu derjenigen Webers nicht mehr vor der „Ratio“ halt. Die Moderne, Produkt einer welt-

geschichtlichen Rationalisierung und Entzauberung, wird in der Postmoderne selbst noch einmal ratio-

nalisiert und entzaubert. Die Signatur der nachmodernen Welt sei ihre Weltlosigkeit, die Universalität

des Scheins. Dieser Welt entspreche eine „Metaphysik der DNS“, der (Selbst-) Reduplikation und der

Digitalität. Alle Inhalte, Identitäten und Präsenzen verschwänden aus einem universal gewordenen, di-

gitalen Raum. Im Zeitalter der grenzenlosen technischen Reproduzierbarkeit verflüchtige sich die aura-

tische Präsenz des Hier und Jetzt in die Profanität des Überall und Immer. Baudrillard kommt zu dem

Schluß: „die Realität selbst ist heute hyperrealistisch“188. Er setzt diese „Hyperrealität“ der posthistori-

schen Welt in einem weiteren Schritt mit „Ästhetizität“ gleich:

„Kunst ist [...] überall, denn das Künstlerische steht im Zentrum der Realität. Die Kunst ist daher tot, nicht nur weil ihre kritische Transzendenz tot ist, sondern weil die Realität selbst - vollständig von einer Ästhetik geprägt, die von ihrer eigenen Strukturalität abhängt - mit ihrem eigenen Bild verschmolzen ist.“189

Auf diese Diagnose stützt sich Wolfgang Welsch190, um zu zeigen, daß die Ästhetik in der Postmoderne

die einzige der selbst ästhetisch gewordenen Welt adäquate Erkenntnisform sein kann:

„Wir scheinen in einer Zeit zu leben, in der Nietzsches These vom Fiktionscharakter alles Wirklichen zunehmend plausibel wird. Das liegt daran, daß die Wirklichkeit selbst immer fiktionaler geworden ist. Um eine solche Wirklichkeit zu erfassen, bedarf es dann gerade eines ästhetischen Denkens. [...] Meine These lautet, daß ästhetisches Denken gegenwärtig das eigentlich realistische ist.“191

185 Zum Begriff der „Gegennatürlichkeit aller Erscheinungen“ im „Posthistoire“ vgl. Arnold Gehlen: Zeit-Bilder. Zur Sozio-

logie und Ästhetik der modernen Malerei. Frankfurt a.M. 1986. S. 176. 186 Jean Baudrillard: Cool memories. 1980-1985. Übers. v. Michaela Ott. München 1989. S. 248. 187 Jacques Derrida: Grammatologie. Übers. v. Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler. Frankfurt a.M. 1983. S. 250. 188 Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. A.a.O.: S. 159. 189 a.a.O.: S. 162. 190 Die folgende Diskussion der Thesen Welschs deckt sich weitgehend mit bisher unveröffentlichten Ausführungen Seels,

welche dieser am 19.3.1993 unter dem Titel „Ästhetik und aisthetik“ in Münster vorgetragen hat. 191 Wolfgang Welsch: Zur Aktualität ästhetischen Denkens. In: Ders.: Ästhetisches Denken. Stuttgart 1990. S. 41-78. Hier: S.

57.

48

Und an anderer Stelle:

„Wirklichkeit erwies sich immer mehr als nicht »realistisch«, sondern »ästhetisch« konstituiert. Wo diese Einsicht durchdringt - und das geschieht heute weithin -, da legt die Ästhetik den Charakter einer speziellen Disziplin ab und wird zu einem generellen Verstehensmedium für die Wirklichkeit.“192

Da unsere Wirklichkeit als ganze reflexiv und diskursiv nicht mehr eingeholt werden könne, wird die

Ästhetik zur postmodernen „Leitwissenschaft“ erklärt. Welsch bezeichnet sie sogar „als die Ontologie

oder Erste Philosophie unserer Zeit“193. Er verwickelt sich damit in einen Widerspruch hinsichtlich der

Hauptthese postmodernen Denkens, daß es einen privilegierten philosophischen Zugang zur Wirklich-

keit nicht mehr geben könne. Auch die Annahme einer, wenn auch ästhetisch konstituierten, Wirklich-

keit dürfte sich kaum mit den Prämissen „postmodernen“ Denkens vereinbaren lassen.

Den einzig legitimen Zugang zur postmodernen Pluralität der Diskursuniversen findet Welsch in der

„Aisthesis“ im alten, universalen Sinn von „Wahrnehmung“. Ihm geht es um eine „Transformation von

Ästhetik“ als Lehre von der Kunst „in Aisthetik“194, welche „in besonderer Weise zum Begreifen unse-

rer Wirklichkeit fähig ist.“195 Diese „Aisthetik“ soll für Welsch das Ende der Philosophie und der Sozi-

alwissenschaften kompensieren.

Mit der Idee ästhetischer (oder aisthetischer) Kompensation gerät Welsch in die Nähe neoaristotelischer196

Kompensationstheorien der Kunst. So spricht Odo Marquard, hierzulande einer der Vordenker eines

„Abschieds vom Prinzipiellen“, dezidiert von einer „Kompensationsfunktion“197 des Ästhetischen in

einer ansonsten sinnentleerten, restlos entzauberten Welt. Schon 1960 sieht Arnold Gehlen den „nicht

mit Phrasen aufgedonnerten Sinn der Malerei und der anderen Künste [...] in der Entlastung“198 von

dem Vakuum, das der Sturz der vormals sinnstiftenden Philosophie hinterlassen habe. Gehlens und

Marquards Konzeption von Kunst als partiellem Korrektiv zu einer blind vor sich hinlaufenden Gesell-

schaft liest sich wie eine ernüchterte, in ihrem Anspruch minimalisierte Transformation der ästhetisch-

geschichtsphilosophischen Utopie Schillers von einer „ästhetischen Erziehung des Menschenge-

schlechts“199, einer Korrektur der „Dialektik der Aufklärung“ durch Kunst. Was Gehlen und Marquard

im Anschluß an Schiller der Kunst aufbürden, überantwortet Welsch der Ästhetik als Aisthetik. Der Schil-

lerschen Utopie einer ästhetischen Kompensation der neuzeitlichen Entfremdung bleibt selbst die

nüchterne Säkularisierungstheorie Richard Rortys, eines weiteren Gewährsmannes von Welsch, ver-

pflichtet. Rorty schwebt das Ideal einer liberalen, ironisch-ästhetischen Kultur vor, welches er folgen-

dermaßen umreißt:

192 Wolfgang Welsch: Vorwort zu ders.: Ästhetisches Denken. Stuttgart 1990. S. 7-8. Hier: S. 7. 193 a.a.O.: S. 213. 194 Wolfgang Welsch: Zur Aktualität ästhetischen Denkens. A.a.O.: Hier: S. 77. 195 Wolfgang Welsch: Vorwort zu ders.: Ästhetisches Denken. Stuttgart 1990. S. 7-8. Hier: S. 7. 196 Zum Begriff des Neoaristotelismus vgl. Herbert Schnädelbach: Was ist Neoaristotelismus? In: Wolfgang Kuhlmann

(Hg.): Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik. Frankfurt a.M. 1986. S. 38-63. 197 vgl. Odo Marquard: Kompensation. Überlegungen zu einer Verlaufsfigur geschichtlicher Prozesse. In: Ders.: Ästhetica

und Anästhetica. Paderborn 1989. S. 64-81. 198 Arnold Gehlen: Zeit-Bilder. A.a.O.: S. 206. 199 vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Stuttgart 1986.

49

„Eine ästhetisierte Kultur wäre eine, die nicht darauf beharrt, daß wir die echte Wand hinter den gemalten Wänden finden, die echten Prüfsteine der Wahrheit im Gegensatz zu Prüfsteinen, die nur kulturelle Artefakte sind. Sie wäre eine Kultur, die gerade dadurch, daß sie zu schätzen weiß, daß alle Prüfsteine solche Artefakte sind, sich die Erschaffung immer vielfältigerer und vielfarbigerer Artefakte zum Ziel setzte.“200

Gegen dieses Ideal einer ästhetischen Kultur merkt Bohrer kritisch an:

„Die Dichotomie, die Rorty aufmacht zwischen einer ästhetischen, also politisch verantwortungslosen, nämlich quasi empirischen und einer philosophischen, also politisch verantwortungsvollen, nämlich letztbegründeten [Gesellschaft], läßt sich kaum auf die Gesellschaft selbst übertragen, es sei denn auf Kosten eines strengen Begriffs des Ästhetischen. Rorty diskutiert letztlich nicht ein ästhetisch-theoretisches, sondern ein gesellschaftspolitisches Problem. Danach erkennt er als Gesellschaftsphilosoph die Ästhetisierung von Diskursen als einen Säkularisierungsprozeß des Subjekts von normativen Vorgaben: Dieser vollziehe sich nicht durch Widerlegung, sondern durch sprachliche Überbietung. So sehr das [...] Argument interessant ist, so sehr hat man sich [...] vor Rortys heiterer Lebenskunst vorzusehen: Er plädiert ja für das Ästhetische nur auf Kosten des Ästhetischen, indem er es nämlich entgrenzt!“201

Von Schiller bis zu Rorty fungiert die Ästhetik als Organ und Instanz einer utopistischen Modernitäts-

kritik. Auch Welschs Entdifferenzierung der philosophischen Teildisziplin „Ästhetik“ zur „Aisthetik“

als postmoderner Leitwissenschaft enthält eine modernitätskritische Spitze. Nach der Mitte des 18. Jhs

sei es in der Geschichte der Ästhetik „zu einer Verengung vorwiegend auf die Kunst oder gar nur auf

das Schöne gekommen. Das wäre meines Erachtens heute rückgängig zu machen. Ich möchte Ästhetik

genereller als Aisthetik verstehen: als Thematisierung von Wahrnehmungen aller Art“202. Welsch liest die

Ausdifferenzierung der Ästhetik zu einer autonomen Disziplin als Verengung und Beschneidung. Die

Ausdifferenzierung autonomer, theoretischer, moralischer und ästhetischer Geltungsansprüche wird in

der Nachfolge Nietzsches und Foucaults als gewaltsamer, eine orginäre Diskursganzheit partikularisie-

render Akt interpretiert und soll durch eine Entdifferenzierung des Ästhetischen rückgängig gemacht

werden. Die Antwort auf die Frage, wie ein Ästhetisches entdifferenziert werden kann, ohne einen Begriff

des Ästhetischen vorauszusetzen, der nur in Differenzierung des ästhetischen Geltungsanspruchs gegen-

über anderen Geltungsansprüchen gewonnen werden kann, bleibt Welsch schuldig.

Die hier erhobenen Einwände gegen eine kulturwissenschaftliche Entdifferenzierung der Ästhetik

leugnen nicht die Wirklichkeitskompetenz der Ästhetik, sondern versuchen zu zeigen, daß Ästhetik

nicht unmittelbar als entgrenzte Aisthetik, ohne Reflexion ihrer eigenen Rationalität, auf die Wirklichkeit

zugreifen kann. Hinter Welschs Aisthetik läßt sich neben der geschichtsphilosophischen auch noch eine

erkenntnistheoretische Utopie eines begriffslosen, intuitiven Erfassens der Wirklichkeit vermuten.

Welsch ignoriert ein Paradox, welchem Adorno in seiner „Ästhetischen Theorie“ unübertroffen Rech-

nung trägt: „Unverhüllt ist das Wahre der diskursiven Erkenntnis, aber dafür hat sie es nicht; die Er-

kenntnis, welche Kunst ist, hat es, aber als ein ihr Inkommensurables“ (ÄT,191). Welschs „Aisthetik“

scheint die welterschließende Kraft der Kunst direkt, unter Umgehung der konkreten Erfahrung von Kunstwer-

ken für die Gesellschaftstheorie funktionalisieren zu wollen. Dieser Versuch, der freilich nur Programm

bleibt, ist zum Scheitern verurteilt. Bevor nach dem Ort des Ästhetischen in der Wahrnehmung der na- 200 Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a.M. 1989. S. 99. 201 Karl Heinz Bohrer: Die Grenzen des Ästhetischen. In: Die Zeit. Nr. 37. 4.9.1992. S. 56. (Hervorhebung von mir). 202 Wolfgang Welsch: Ästhetik und Anästhetik. In: Ders.: Ästhetisches Denken. Stuttgart 1990. S. 9-40. Hier: S. 9.

50

türlichen, geschichtlichen und sozialen Welt gefragt werden kann, muß ein Begriff des Ästhetischen er-

arbeitet werden, welcher nur auf dem genuin ästhetischen Feld, auf dem Boden der Kunsterfahrung, gewonnen

werden kann. Eine ästhetische Wahrnehmung der Natur und der Geschichte wird auch historisch erst

nach der Schulung der Wahrnehmung zu einer ästhetischen an einer autonom gewordenen Kunst mög-

lich. Als klassisches Beispiel wird in diesem Zusammenhang immer wieder auf Petrarcas Besteigung des

Mont Ventoux hingewiesen203. Der erste Mensch, der die Natur, wenn auch nur momenthaft, ästhetisch

wahrnehmen kann, gehört gleichzeitig zu den Protagonisten der Emanzipation der dichterischen Spra-

che von religiöser Indienstnahme.

Die Gedanken, die Welsch entwickelt, bleiben in ihrem Programm-Status befangen. Er zeigt nicht und

kann nicht zeigen, wie Aisthesis Wirklichkeit erschließt. Sein Konzept aisthetischer Welterschließung

bleibt darüber hinaus einem unterkomplexen Adäquationsbegriff der Wahrheit verhaftet: „Ästhetisches

scheint der heutigen Sozietät so tief eingeschrieben zu sein, daß ein ästhetischer Zugang die meisten

Erkenntnis- und Erfolgsaussichten bietet.“204 Weil die Welt ästhetisch sei, müsse sich auch die Er-

kenntnis der Welt ästhetisch machen. Die Erschließungskraft des Ästhetischen vermöchte aber, wie die

Urszene des Naturschönen bei Petrarca lehrt, nur derjenige zu nutzen, welcher sich ihrer an ihrem ei-

gentlichen Ort, der Kunst, vergewissern würde. Die ästhetischen Sichtweisen auf die Geschichte, die in

den Schriften Spenglers und Benjamins eröffnet werden, bedienen sich, wie sich unten zeigen wird, den

aus konkreter Kunsterfahrung entwickelten Kategorien des Stiles und des Bildes, ohne daß dadurch die

Betrachtung der Geschichte als ganze „aisthetisch“ würde.

Das Pendant zur Ästhetik als postmoderner Universalwissenschaft bildet die ebenso diffuse Vorstel-

lung einer „ästhetischen Lebensform“ oder einer „Ästhetik der Existenz“, die unter den Bedingungen

der Postmoderne im Begriff sei, alle anderen Lebens- und Existenzformen zu verdrängen. Das Sub-

stantiv „Ästhetik“ hat die engen Grenzen des gleichnamigen Zweigs der Philosophie gesprengt. Die

Inflation dieses Substantivs hat Züge angenommen, die es berechtigt erscheinen lassen, von einem neu-

en Schub der Kolonialisierung unserer Lebenswelt durch „Verwissenschaftlichung“ zu sprechen: nach-

dem Versatzstücke der Psychoanalyse vom Beginn des Jahrhunderts an in Selbstbilder und Lebensent-

würfe eingegangen sind und nachdem sich seit den sechziger Jahren eine zunehmende „Versozialwis-

senschaftlichung des Lebens“205 beobachten läßt, stehen wir jetzt vor (oder schon in) seiner „Verästhe-

tisierung“. Theorie, die Praxis reflektiert und kritisiert, als autonome aber nicht in die alltägliche Le-

benspraxis eingreift, mißachtet in allen drei Fällen deren Autonomie und führt zu pathologischen Ver-

zerrungen. 203 vgl. Francesco Petrarca: Brief an Francesco Dionigi von Borgo San Sepolcro vom 26.4.1336. In: Ders. Dichtungen, Brie-

fe, Schriften. Hg. v. Hanns W. Eppelsheimer. Frankfurt a.M. 1956. S. 80-89. Vgl. dazu auch Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. In: Ders.: Subjektivität. Frankfurt a.M.71989. S. 141-163.

204 Wolfgang Welsch: Einleitung zu ders. (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte zur Postmoderne-Diskussion. Wein-heim 1988. S. 1-43. Hier: S. 41.

205 vgl. Ulrich Oevermann: Versozialwissenschaftlichung der Identitätsformation und Verweigerung von Lebenspraxis: Eine aktuelle Variante der Dialektik der Aufklärung. In: B. Lutz (Hg.): Soziologie und gesellschaftliche Entwicklung. Vhdlg. d. 22. Deutschen Soziologentages in Dortmund 1984. Frankfurt a.M. 1985. S. 463-474.

51

Ein ausschließlich unter Imperativen stilistischer und dramaturgischer Stimmigkeit stehendes Leben

wird heute entweder als bereits real existierend beschrieben, so von Pierre Bourdieu, oder gegen Le-

bensentwürfe eingeklagt, die das Leben unter Maximen subjektiver Wahrhaftigkeit oder moralischer

Aufrichtigkeit stellen, so von Michel Foucault. In seiner umfangreichen Studie „Die feinen Unterschie-

de. Zur Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“206 zeigt Bourdieu, daß sich Prozesse sozialer Differen-

zierung in unseren nachindustriellen Gesellschaften primär über Mechanismen der Geschmacksbildung

und Selbststilisierung vollziehen. Historisch ist diese Diagnose sicher unzutreffend. Die stärkste ästheti-

sche Überformung des Alltags scheint sich eher in „geschlossenen“ Gesellschaften feudalistischen oder

gar archaischen Typs zu finden, in denen jede Lebensäußerung viel stärker kodiert und ritualisiert ist als

in unseren relativ „offenen“ nachindustriellen Gesellschaften.

Was Bourdieu als bereits real existierend beschreibt, wird von Foucault als noch zu realisierend einge-

klagt: eine aus rein ästhetischer Perspektive erfolgende Konstitution von Selbst- und Weltbildern, eine

„Ausarbeitung des eigenen Lebens als eines persönlichen Kunstwerks“207. Auch Welsch redet diesem

Foucaultschen Konzept das Wort, dem Konzept „einer Übersetzung von Kunstformen in Lebensfor-

men, einer Transformation von Ästhetik in Aisthetik, der Generierung aisthetisch kompetenter Le-

bensweisen“208. An die Stelle der Ethik als „Lehre vom richtigen Leben“ hat das „Design“ des Lebens-

stils zu treten: „Der Aufgabenbereich des Designs erschöpft sich nicht im Objekt-Design, sondern be-

ginnt bereits bei der Einrichtung der Lebensverhältnisse und der Prägung von Verhaltensformen.“209

Foucault und Welsch übersehen, daß dieses Konzept zu einem „ästhetischen Terrorismus“210 führen

kann, zu einem neuen Glied in der endlosen Kette abendländischer „Selbsttechniken“, welche zu

Durchbrechen die Proklamation einer „Ästhetik der Existenz“211 vorgab.212 Darüber hinaus bleibt es

unklar, wie eine Ästhetik die moralischen Ansprüche, die sich mit einem Konzept gelingenden Lebens

verbinden, einlösen kann. „Auch die beste »Ästhetik der Existenz«“, schreibt Seel, „wäre bloß eine hal-

be »Ethik der Existenz«.“213

Das Scheitern des Versuchs, ein Leben unter rein ästhetische Imperative zu stellen, hat der sogenannte

„Ästhetizismus“ eindringlich vor Augen geführt. Die übliche Kritik am Ästhetizismus als an einer rein

206 vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übers. v. Bernd Schwibs u. A-

chim Russer. Frankfurt a.M. 1987. 207 Michel Foucault: Eine Ästhetik der Existenz. Gespräch mit Alessandro Fontana. In: Ders.: Von der Freundschaft. Michel

Foucault in Gesprächen. Berlin o.J. S. 133-141. Hier: S. 135. 208 Wolfgang Welsch: Zur Aktualität ästhetischen Denkens. A.a.O.: S. 77. 209 Wolfgang Welsch: Perspektiven für das Design der Zukunft. In: Ders.: Ästhetisches Denken. Stuttgart 1990. S. 201-218.

Hier: S. 217. 210 Lambert Wiesing: Stil statt Wahrheit. Kurt Schwitters und Ludwig Wittgenstein über ästhetische Lebensformen. Mün-

chen 1991. S. 131. 211 Michel Foucault: Eine Ästhetik der Existenz. A.a.O.: 136. 212 „[...] wir sollten nicht jemandes schöpferische Tätigkeit auf die Art seines Selbstverhältnisses zurückführen, sondern die

Art seines Selbstverhältnisses als eine schöpferische Tätigkeit ansehen.“ Interview mit Michel Foucault: Zur Genealogie der Ethik. Ein Überblick über laufende Arbeiten. In: Hubert L. Dreyfus, Paul Rabinow (Hg.): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Frankfurt a.M. 1987. S. 265-292. Hier: S. 274.

213 Martin Seel: Das gute Leben. Ästhetik als Teil einer differenzierten Ethik. In: Frankfurter Rundschau. Nr. 138. 16.6.1992. S. 18.

52

ästhetischen Weltanschauung verfehlt ihren Gegenstand, weil der Ästhetizismus bei näherer Betrach-

tung selbst nichts anderes als ein Versuch ist, diese Kritik zu artikulieren. Der historische Ästhetizis-

mus, der sich um die Jahrhundertwende in den Werken Oscar Wildes, Stefan Georges und Thomas

Manns manifestiert, stellt entgegen landläufiger Vorurteile keine Apotheose des Ästhetischen dar, sondern

kann als das sich selbst inszenierende Scheitern einer Kunst gelesen werden, die sich zum Souverän des

Lebens aufschwingt. Dem Ästhetizismus geht es nicht um ein Entdifferenzieren des Ästhetischen, son-

dern um eine Entdifferenzierungskritik. Wie eingehende Analysen an dieser Stelle zeigen könnten, versu-

chen die „Helden“ des Ästhetizismus, Wildes „Dorian Gray“, Georges „Algabal“ und Manns Aschen-

bach im „Tod in Venedig“, ihr Leben nach rein ästhetischen Gesichtspunkten zu organisieren. Bei die-

sem Versuch scheitern sie. Die Werke des Ästhetizismus zeigen, daß das Ästhetische keine Lebensform

sein kann, sondern eine nicht selbst lebbare Form der Lebenskritik. Die autonome Kunst bedarf als Vor-

aussetzung und Bedingung ihrer Möglichkeit einer autonomen Praxis und qualitativ anderer ebenso auto-

nomer Formen der Praxiskritik wie der Wissenschaften und der Philosophie. Eben das besagt die The-

se von der Autonomie der Kunst: Kunst kann eine eigenständige Form der Reflexion nur dann sein, wenn

sie auf etwas ihr Anderes reflektiert und sich gleichzeitig von anderen Reflexionsformen auf dieses An-

dere, nennen wir es das Leben, die Lebenswelt oder die Praxis, unterscheidet. Die Autonomie einer Re-

flexionsform bedarf der differenzierenden Relation zu anderen ebenso autonomen Reflexionsformen.

Seine ihm eigene Identität kann ein Diskurs nur finden, wenn er sich gegenüber anderen Diskursen

ausdifferenziert. Danto schreibt: „Man kann sich wohl kaum einen Philosophen vorstellen, der aus-

schließlich über Kunst schrieb, losgelöst von den umfassenderen begrifflichen Grundmustern, in die sie

faktisch und vermutlich auch prinzipiell eingebettet ist.“214 Auch geschichtlich führt der Versuch einer

„Überführung von Kunst in Lebenspraxis“, wie er von Peter Bürger als Telos der historischen Avant-

garde-Bewegungen (Dadaismus, Surrealismus und Futurismus) beschrieben wird215, in einen real existie-

renden „ästhetischen Terrorismus“. So liest Boris Groys die stalinistische Sowjetunion als „Gesamt-

kunstwerk“, das die Verheißungen der russischen Avantgarde, das Leben als ganzes ästhetisch zu orga-

nisieren, ironisch eingelöst hat.

„So hat ausgerechnet die Kunst des sozialistischen Realismus (und ebenso etwa die Nazi-Kunst) eine Stellung erreicht, die die Avantgarde von Anfang an anstrebte - jenseits des Museums, jenseits der Kunstgeschichte, als das absolut Andere in bezug auf jede beliebige sozial akzeptierte kulturelle Norm.“216

Die Stalinzeit realisierte für Groys „den Traum der Avantgarde, das gesamte gesellschaftliche Leben

nach einem künstlerischen Gesamtplan zu organisieren“217. Sie erfüllte damit die Forderung der Avant-

garde-Bewegungen, „die Kunst solle von der Darstellung des Lebens zu seiner Umgestaltung im Rah-

214 Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Übersetzt von Max Looser. Frankfurt

a.M. 1984. S. 92. 215 vgl. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Frankfurt a.M. 1974. 216 Boris Groys: Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion. München/Wien 1988. S. 11. 217 a.a.O.: S. 14.

53

men eines totalen ästhetisch-politischen Plans übergehen“218. Das höchste Ziel des Sozialismus ist „ein

ästhetisches, und der Sozialismus begreift sich als die höchste Form des Schönen“219.

218 a.a.O.: S. 43. 219 a.a.O.: S. 82.

54

1.3.2. Die semiotische Entdifferenzierung des Ästhetischen

„Der Schein, was ist er, dem das Wesen fehlt? Das Wesen, wär’ es, wenn es nicht erschiene?“

Goethe (WA,I,10,296)

Ästhetik fragt, so lautet eine Ausgangsthese dieser Arbeit, nach den Bedingungen der Möglichkeit des

Sprechens über Kunst und über konkrete Kunstwerke, wobei Kunstwerke selbst als eine autonome Weise

des erschließenden Sprechens über unsere Welt begriffen werden. „Kunstwerke“ schreibt Danto „sind

typischerweise über etwas“220. Dadurch unterscheiden sie sich von reinen, realen Dingen.

Diese Annahme impliziert eine Reihe von semiotischen Vorentscheidungen, die heute auf breiter Front

in Frage gestellt werden. Eine der Hauptintentionen Derridas ist es, die Unterscheidung zwischen dis-

kursiven und literarischen Texten sowie die zwischen Text und Welt überhaupt einzuziehen. Das Spre-

chen über Kunst kann für Derrida in letzter Konsequenz nicht von Kunst unterschieden werden. Eine

begrenzte Ästhetik gilt Derrida für unmöglich, weil jeder Diskurs für ihn ein „ästhetischer“ Diskurs ist.

Gerd Bergfleth faßt Derridas Argument wie folgt zusammen:

„Gerade wer das Eigenrecht des Ästhetischen betont, desavouiert die Poesie, denn er beschränkt sie auf eine Disziplin, die mit anderen Disziplinen zu konkurrieren und sich den stärkeren unterzuordnen hat [...]. Die Autonomie des Ästhetischen ist per definitionem Heteronomie.“221

An die Stelle der Autonomie der Kunst tritt bei Derrida die Souveränität des Ästhetischen. Von einer par-

tikularen Ästhetik könne dieses souveräne Ästhetische nicht mehr begriffen werden.

Mit diesem skeptischen Einwand muß sich jede Ästhetik, die sich um einen Begriff autonomer ästheti-

scher Welterschließung bemüht, auseinandersetzen. Die Stoßrichtung, die diese Auseinandersetzung im

folgenden einschlagen soll, läßt sich vorab mit einem Zitat Benjamins umreißen, der schon 1925 vor

einem „Abgrund des Ästhetizismus“ (GS1,281) warnt, welcher ihm in Gestalt des „in den Tiefen der

bayreuther Kunstphilosophie behausten Nihilismus“ (GS1,282) Nietzsches vor Augen stand:

„Wo die Kunst dergestalt die Mitte des Daseins bezieht, daß sie den Menschen zu ihrer Erscheinung macht anstatt gerade ihn als ihren Grund - nicht als ihren Schöpfer, sondern sein Dasein als den ewigen Vorwurf ihrer Bildungen - zu erkennen, entfällt die nüchterne Besinnung überhaupt. Und ob mit der Entsetzung des Menschen aus der Mitte der Kunst das Nirwana, der entschlummernde Wille zum Leben, an seine Stelle tritt, wie bei Schopenhauer, oder die »Menschwerdung der Dissonanz« es ist, die, wie bei Nietzsche, die Erscheinungen der Menschenwelt so auch den Menschen erschaffen hat, es bleibt der gleiche Pragmatismus. Denn was verschlägt es, ob der Wille zum Leben oder zu seiner Vernichtung vorgeblich jedes Kunstwerk inspiriere, da es als Ausgeburt des absoluten Willens mit der Welt sich selbst entwertet.“ (GS1,281/282)

Die Kritik, die Benjamin an Schopenhauer und Nietzsche übt, muß heute auf Derrida und de Man er-

weitert werden. Auch diese stellen Kunst in „die Mitte des Daseins“ und entwerten gleichzeitig das

220 Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. A.a.O.: S. 20. 221 Gerd Bergfleth: Die Souveränität des Bösen. Nachwort zu Georges Bataille: Die Literatur und das Böse. Übers. v. Corne-

lia Langendorf u. Gerd Bergfleth. München 1988. S. 189-246. Hier: S. 194.

55

Kunstwerk und die Welt, indem sie beide als Ausgeburten einer absoluten, dem Schopenhauer- und

Nietzscheschen Willen analogen222, „Textualität“ entdifferenzieren.

Vor der Auseinandersetzung mit diesen (schlecht-)ästhetizistischen Konsequenzen der Derridaschen

Philosophie soll diese kurz selbst vorgestellt werden. Im Mittelpunkt der frühen Texte Derridas steht

der Versuch einer Rehabilitierung der „Schrift“223, die in ihrer doppelten Supplementarität aus dem

Diskurs der traditionellen Metaphysik ausgegrenzt wurde. Die Schrift gilt bei Platon, Rousseau, Hegel

und Husserl, mit deren Philosophien sich Derridas Arbeiten auseinandersetzen, als Transkription des

phonetischen Abbilds einer mentalen oder idealen Präsenz, als doppelt uneigentlich. Gerade in dieser

doppelten Uneigentlichkeit will Derrida sie rehabilitieren. Er faltet das vom philosophischen Diskurs an

den Rand Gedrängte wieder in dessen Zentrum zurück, ohne daß dieser Rand das Zentrum einfach

ersetzen soll. Die Situierung des Randes im Zentrum, der Uneigentlichkeit der Schrift in der Eigentlich-

keit der „Präsenz“, soll vielmehr traditionelle metaphysische Dichotomien wie „Zentrum-Rand“, „Ei-

gentlichkeit-Uneigentlichkeit“, „Signifikat-Signifikant“, „Seele-Körper“, „Leben-Tod“, „Identität-

Differenz“ usw. als solche dekonstruieren. Dekonstruktion nennt Derrida die Bewegung, welche diese in

sich hierarchischen Dichotomien (der Signifikant dient in der Metaphysik dem Signifikat) in den unhierarchi-

schen Zustand eines „freien Spieles“ versetzt; das Signifikat wird für Derrida in Umkehrung der klassi-

schen Relation zum „Signifikant des Signifikanten“224. Dieses „freie Spiel“ erinnert stark an die „reflek-

tierende Urteilskraft“ Kants, die, im Gegensatz zur ein Besonderes unter ein Allgemeines subsumieren-

den „bestimmenden Urteilskraft“, Besonderes und Allgemeines permanent ihre Rollen tauschen läßt.

„Spiel“ wäre für Derrida „der Name für die Abwesenheit des transzendentalen Signifikats als Entgren-

zung des Spiels, das heißt als Erschütterung der Onto-Theologie und der Metaphysik der Präsenz. [...]

Der Gedanke drängt sich auf, daß die Schrift das Spiel in der Sprache sei.“225 Das „freie Spiel“ zwischen

den Relata der klassischen Dichotomien der Metaphysik entsubstantialisiert diese Relata selbst:

222 Auch Derridas Philosophie gibt sich an manchen Stellen als Philosophie des „absoluten Willens“ zu erkennen: „Es geht

mir immer um die differentielle Kraft und Gewalt, um die Differenz der Gewalt, um die Kraft und die Gewalt als diffé-rance (die différance ist eine aufgeschobene-verzögerte-abweichende-aufschiebende-sich unterscheidende Kraft oder Ge-walt), die illokutionäre oder perlokutionäre Kraft (Gewalt), um die persuasive und rhetorische Kraft (Gewalt), um die Kraft (Gewalt) der Bejahung und Behauptung einer Signatur, aber auch und vor allem um all jene paradoxen Situationen, in denen die größte Kraft (Gewalt) und die größte Schwäche sich seltsam kreuzen und in einem denkwürdigen gegensei-tigen Austausch stehen. Darum geht es, das ist die ganze Geschichte.“ (Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«. Übers. v. Alexander García Düttmann. Frankfurt a.M. 1991. S. 15.)

223 Derrida unterscheidet vier „Kerneigenschaften der Schrift“: „1. der Bruch mit dem Horizont der Kommunikation als Kommunikation von Bewußtsein oder von Anwesenheiten und als linguistische oder semantische Übermittlung des Meinens; 2. das Ablösen jeder Schrift vom semantischen oder hermeneutischen Horizont, der, als Horizont des Sinns zumindest, sich von der Schrift durchbrechen läßt; 3. die Notwendigkeit, den Begriff der Polysemie von jenem, den ich an anderer Stelle Dissemination genannt habe und der auch der Begriff von Schrift ist, in gewisser Weise abzusetzen; 4. die Disqualifizierung oder Eingrenzung des Begriffs von - ‘realem’ oder ‘linguistischem’ - Kontext, dessen theoreti-sche Bestimmung oder empirische Sättigung die Schrift in aller Strenge unmöglich oder unzulänglich macht“. Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext. In: Ders.: Randgänge der Philosophie. Übers. v. Gerhard Ahrens et al. Wien 1988. S. 291-314. Hier: S. 299.

224 Jacques Derrida: Grammatologie. Übers. v. Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler. Frankfurt a.M. 1983. S. 17. 225 a.a.O.: S. 87.

56

„Das Spiel ist das Zerreißen der Präsenz. Die Präsenz eines Elementes ist stets eine bezeichnende und stellvertretende Referenz, die einem System von Differenzen und in der Bewegung einer Kette eingeschrieben ist. Das Spiel ist immerfort ein Spiel von Abwesenheit und Präsenz, doch will man es radikal denken, so muß es der Alternative von Präsenz und Abwesenheit vorausgehend gedacht werden.“226

Die philosophiegeschichtliche Wende vom „Substanzbegriff“ zum „Funktionsbegriff“227 wird von Der-

rida weitergeführt bis zum „begriffslosen“, sich selbst übersteigenden Begriff, der die Metaphysik ab-

schließt. Derrida spricht von der „clôture“228. Die Dekonstruktion versetzt metaphysische, auf ein trans-

zendentales Signifikat verweisende Texte in den Zustand eines immanenten Spiels ihrer Signifikanten,

das die Referenz des Textes auf sein Signifikat untergräbt.

Als berühmtestes Beispiel einer solchen dekonstruktiven Lektüre eines metaphysischen Textes kann

Derridas Rousseau-Lektüre in der „Grammatologie“ gelten. Bei Rousseau geht die Kritik der Kunst wie

bei Platon mit einer Kritik der Schrift, einer Kritik des Scheins und einer Kritik der Rhetorik einher.

Die Kunst, die Schrift und die rhetorischen Figuren werden von beiden Autoren als doppelt uneigent-

lich verworfen und aus ihren idealen („natürlichen“) Gesellschaftsordnungen ausgegrenzt. Derrida liest

Rousseau mit Recht als klassischen Vertreter der abendländischen Metaphysik, deren Anliegen es ist,

„zu den Sachen selbst“229 zu kommen. Rousseau versucht, hinter der kulturellen Ordnung der Signifi-

kanten den menschlichen Naturzustand aufzuspüren.

In der Schrift sieht Rousseau ein widernatürliches Supplement des gesprochenen Wortes, einen Schein,

der sich von der Ursprünglichkeit der Stimme und der noch ursprünglicheren Ursprünglichkeit der sich

in der Stimme ausdrückenden inneren Natur weit entfernt hat230. Er beschreibt die Schrift in Metaphern

der Entfremdung. Sie bildet für ihn das Instrument einer entseelten Kommunikation, die den ursprüngli-

chen und unmittelbaren Ausdruck mündlicher Rede verdrängt hat. Da sie das Wort von seinem subjek-

tiven, geographischen und historischen Ursprung löst, verkörpert die Schrift Ferne und Anonymität. Die

Stimme dagegen drückt unmittelbar Subjektivität, innere Natur, aus. Im Sprechen vernimmt sich das

Subjekt selbst, wird sich seiner selbst, seiner inneren Natur als Präsenz, inne.231

226 Jacques Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. In: Ders.: Die

Schrift und die Differenz. A.a.O.: S. 422-442. Hier:S. 440. 227 Ernst Cassirer beschreibt den philosophiegeschichtlichen Übergang vom ontologisch-mentalistischen Paradigma zum

Paradigma der Sprache und der symbolischen Formen als Übergang vom Substanz- zum Funktionsbegriff. Vgl. Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik. 1910. Re-progr. Nachdr. Darmstadt 1990.

228 Jacques Derrida: Grammatologie. A.a.O.: S. 15. 229 vgl. Husserls berühmtes Diktum: „Wir wollen auf die ‘Sachen selbst’ zurückgehen.“ Edmund Husserl: Logische Untersu-

chungen II/1. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Tübingen 1980. S. 6. 230 vgl. Jean-Jacques Rousseau: Versuch über den Ursprung der Sprachen, in dem von der Melodie und der musikalischen

Nachahmung die Rede ist. Übers. v. Hanns Zischler. In: Jean-Jacques Rousseau: Sozialphilosophische und Politische Schriften. München 1981. S. 165-221. Hier: S. 174ff.

231 Derrida übernimmt Rousseaus These, daß sich das Subjekt im Sprechen selbst affiziere, daß es im Sprechen „bei sich“ sei und deutet das „Sich-im-Sprechen-Vernehmen“ als Pendant eines (wenn auch scheiternden) vorreflexiven Selbstbewußt-seins. Gegen dieses Modell eines mit sich identischen Selbstbewußtseins kann er dann die Schrift als Prinzip der Diffe-renz aufbieten. Die Deutung der „Stimme“ als Instanz einer Selbstidentität scheint wenig überzeugend zu sein. Im Spre-chen affiziere ich mich nicht nur selbst, sondern differenziere mich auch von mir. Im Fluß der Rede entreiße ich mich ständig meinem Selbst: ich richte mein Selbst aus auf einen Anderen. Eine Berücksichtigung der kommunikativen Funkti-on jeder (sei es stimmlichen, sei es schriftlichen) sprachlichen Äußerung würde die Aufwertung der Schrift als Prinzip der Differenz gegenüber der Stimme als Prinzip der Identität überflüssig machen. Benjamin schreibt über das Gespräch:

57

Rousseaus Philosophie versucht, den Ort dieser inneren Natur als der Kultur gegenüber exorbitanten

Ort zu beziehen. Seine Kulturkritik versteht sich nicht als partikulare Kritik bestimmter Kulturformen,

sondern als eine Kritik an der Kultur als solcher. Die Natur fungiert als außerkultureller Referenzpunkt

dieser Kulturkritik. Rousseau versucht, sich mittels eines literarischen Experimentes in den Naturzu-

stand zu versetzen und den Naturzustand des Menschen von allen kulturellen Konventionen und Vor-

urteilen zu entkleiden.

Dieser Versuch muß zwangsläufig scheitern. Die Geschichte dieses Scheiterns erzählt Derridas

„Grammatologie“. Das Ergebnis der dort praktizierten, akribischen Rousseau-Lektüre ließe sich fol-

gendermaßen zusammenfassen: Es gibt keinen Naturmenschen, aber einen Diskurs über den Natur-

menschen; es gibt keinen Naturzustand außerhalb kultureller Imagination, also auch keinen außerhalb

der Rousseauschen Texte. Derridas Einwände gipfeln in der These: „Ein Text-Äußeres gibt es nicht.“232

Derrida stellt an Rousseaus Text die Frage, wie die Natur bestimmt werden könne, wenn die Schrift als

deren doppelt vermitteltes Supplement angesehen werden müsse. Die Antwort lautet: Natur kann von

Rousseau immer nur selbst als Supplement der Schrift bestimmt werden. Die Natur ist im Text Rous-

seaus immer dasjenige, was zur Schrift hinzukommt. Sie ist supplementär, in die Schrift eingeschrieben

und deshalb nicht weiter von der Schrift zu unterscheiden:

„Das Ding selbst ist ein Zeichen.“233 Und: „Das Anwesende wird zum Zeichen des Zeichens, zur Spur der Spur. Es ist nicht mehr das, worauf jede Verweisung in letzter Instanz verweist. Es wird zu einer Funktion in einer verallgemeinerten Verweisungsstruktur. Es ist Spur und Spur des Erlöschens der Spur. Der Text der Metaphysik ist damit erfaßt.“234

Diesen bedrohlichen Effekt der Schrift hat Rousseau gespürt. Er empfindet, wie das Supplement (das

Uneigentliche) die Natur (das Eigentliche) damit bedroht, selbst supplementär zu werden und grenzt es

deshalb aus. Schrift, Metaphorizität und Kunst sind für den Naturzustand gefährlich. Das für Rousseau

Gefährliche wird für Derrida gerade zum Erstrebenswerten. Das Supplement ist für ihn als Supplement

der exorbitante Punkt, von dem aus sich das Ganze der Kultur beschreiben läßt: „Das Supplement

selbst ist, in allen Bedeutungen des Wortes, exorbitant.“235 Derrida kritisiert die Rousseausche Kultur-

kritik nicht nur, sondern führt sie mit anderen Mitteln fort. Ausgehend vom Begriff des Supplements

kritisiert Derrida alle Impulse der Kultur, sich selbst hin zu einem Jenseits zu überwinden. Zu diesen

Impulsen rechnet er alle Formen der Metaphysik, der Aufklärung und der gesellschaftlichen Revoluti-

on. Er geht soweit, zu behaupten, daß sich die abendländische Kultur als solche dadurch auszeichnet,

ihre eigene Immanenz permanent überwinden zu wollen. Der Wunsch, sich selbst zu transzendieren,

sei der heimliche Motor der abendländischen Kultur. Das Begehren, hinter die Zeichen zu kommen,

werde uns von den Zeichen selbst gegeben. Versuche, wie diejenigen Rousseaus und der sich auf ihn

„Ist im Grunde nicht jedes wahre Gespräch eine Folge von Entrückungen, in der man wie im Traum mit einem Male einhält, ohne zu ahnen, wie man nun eigentlich an diese Stelle gelangt sei?“ (GS4,366)

232 Jacques Derrida: Grammatologie. A.a.O.: S. 274. 233 a.a.O.: S. 86. 234 Jacques Derrida: Die différance. In: Ders: Randgänge der Philosophie. A.a.O.: S. 29-52. Hier: S. 49. 235 Jacques Derrida: Grammatologie. A.a.O.: S. 281.

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berufenden Französischen Revolution, aus der Kultur und der Geschichte auszubrechen, treiben die

Kultur und die Geschichte aus der Sicht Derridas an. Sie verkörpern das der abendländischen Kultur

eigenste, von Spengler als „faustisch“236 bezeichnete Prinzip. Kultur konstituiert sich für Derrida durch

den paradoxen Versuch, sich als Kultur ein Ende bereiten zu wollen. Dieser abendländischen Teleolo-

gie des Endes will er selbst ein Ende bereiten: er proklamiert das „Ende des Endes“237. Als Instrument

der Überwindung der kulturellen Teleologie und damit des Abendlandes dient Derrida der Begriff des

„Supplements“, hinter dem sich die Schrift, die Kunst und die Metapher verbergen. Als Nachbild oder

Abbild kommt das Supplement zum Abgebildeten hinzu. Das Nachbild erschließt nicht das von ihm

Abgebildete, sondern verstellt es. Das Bild ist für Derrida keine Vergegenwärtigung des Abwesenden, son-

dern eine „Verabwesung“ des Gegenwärtigen. Das Supplement als das zum Eigenen hinzukommende Andere,

ist bereits in uns, im Eigenen, im Spiel. „Wie könnte es ein »Spiel des Selbst« geben, wenn die Anders-

heit nicht selbst schon im Selbst wäre, in der Bedeutung eines Hereinragens, die das Wort im zweifellos

verrät? Wie könnte, ohne die Andersheit im Selbst, das »Spiel des Selbst« stattfinden [...]?“238 Anstatt

wie z.B. Mead, Sartre oder Levinas den Anderen als Möglichkeitsbedingung des Selbst zu betrachten,

welche die Identität des Selbst nie zu einer absoluten gerinnen läßt, führt Derrida im Begriff des Supp-

lements eine abstrakte Andersheit ein, die jede sei es noch so schwache Form von Identität des Selbst

verunmöglicht. Derrida bestimmt gleich zu Beginn der „Grammatologie“ „Intersubjektivität als intenti-

onales Phänomen des Ego“239. Damit verstellt er sich bewußt eine wichtige Möglichkeit: die eines profa-

nen Anderen, eines lebensweltlichen Interaktionspartners, der die Identität des Selbst immer in einer

gewissen Schwebe hält. Derrida setzt das ganz Andere in Form einer anonymen textuellen Kraft an die

Stelle des profanen anderen Menschen240.

Indem wir die Frage nach dem menschlichen Selbst, nach seinem Naturzustand stellen, indem wir uns

interpretieren, uns ein Bild von uns machen wollen, kommen wir nicht zu uns selbst, sondern zu immer

wieder neuen supplementären Bildern, die unser Selbst unserem Zugriff entziehen, die sich dazwischen-

stellen und unsere Selbstidentität zu einer unendlich offenen, zwangsläufig scheiternden Prozessualität

entstellen. Jedes „Bei-sich-sein“ bedeutet für Derrida eine ideologische Täuschung. „Was wir Ideologie

nennen“, schreibt auch de Man, „ist genau die Verwechslung von Sprache mit natürlicher Realität, von

Bezugnahme auf ein Phänomen mit diesem selbst.“241 Wenn wir wie Rousseau die Frage nach dem Na-

236 vgl. UdA1,481ff. 237 Jacques Derrida: Apokalypse. Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie. Graz/Wien

1985. S. 55. 238 Jacques Derrida: Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Levinas. In: Ders.: Die Schrift und die Diffe-

renz. A.a.O.: S. 121-235. Hier: S. 192. 239 Jacques Derrida: Grammatologie. A.a.O.: S. 26. 240 An anderer Stelle benötigt Derrida selbst einen Begriff der Intersubjektivität und des Konsenses (der „Vereinbarung“),

um die radikale Arbitrarität der Schrift zu begründen: „Wenn »Schrift« Inschrift und vor allem dauerhafte Vereinbarung von Zeichen bedeutet (was den alleinigen, irreduziblen Kern des Schriftbegriffs ausmacht), dann deckt die Schrift im allgemeinen den gesamten Bereich der sprachlichen Zeichen.“ Jacques Derrida: Grammatologie. A.a.O.: S. 78 (Hervorhebungen von mir).

241 Paul de Man: Der Widerstand gegen die Theorie. In: Volker Bohn (Hg.): Romantik. Literatur und Philosophie. Internati-onale Beiträge zur Poetik. Bd.1. Frankfurt a.M. 1987. S. 80-106. Hier: S. 92.

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turzustand einmal gestellt haben, folgt Interpretation auf Interpretation, Text auf Text. Es bildet sich

eine Kette, die sich niemals schließt und die Antwort unendlich aufschiebt. Indem wir fragen, was ein

Text eigentlich sagt, schreiben wir einen neuen Text und entfernen uns von ihm. Selbstbewußtsein ist

unter diesen Vorzeichen per se unmöglich. Jede Art von Diskurs und Bewußtsein beinhaltet eine be-

stimmte Offenheit, einen blinden Punkt. An diesem blinden Punkt setzt das Verfahren der De-

konstruktion an.

Da alles der Logik des Supplements unterliegt, existiert das Supplement selbst für Derrida nicht. Es ent-

spricht in gewisser Weise dem Jenseits der kulturell vermittelten Welt, das Platon im Ideenhimmel und

Rousseau im Naturzustand gesucht haben. Das Supplement supplementiert den Rousseauschen Natur-

zustand im Derridaschen Text in einer unerwarteten Weise, die die Intention des Derridaschen Textes

selbst unterläuft: die doppelte Supplementarität der Schrift überbietet den Rousseauschen Naturzu-

stand. Sie wird zu einem Architext oder einer Urschrift, die natürlicher ist als die Natur. Derrida über-

sieht, daß auch die Urschrift und der Architext nur in der Imagination seines eigenen, des Derrida-

schen, Textes bestehen.

Die Kraft, die reproduziert, dupliziert und das Spiel der Supplementarität antreibt, nennt Derrida diffé-

rance. Der Neologismus différance „bezeichnet die Produktion des Differierens im doppelten Sinne dieses

Wortes [différer ¸ aufschieben / (von einander) verschieden sein].“242 Die différance erzeugt die Differenz

des Signifikanten von sich selbst, sie spaltet ihn. Gleichzeitig schiebt sie die Möglichkeit der Selbstiden-

tität des Signifikanten unendlich auf. Die différance bezeichnet den Ort einer ursprünglichen Kraft, die

das unendliche Spiel der Textualität in Gang hält. Sie wird zum „Ursprung des Ursprungs“243 der Welt,

zum „unbewegten Beweger“ des textuellen Universums. „Wenn aber die différance das ist [...], was die

Gegenwärtigung des gegenwärtig Seienden ermöglicht, so gegenwärtigt sie sich nie als solche. [...] Sie

gehört in keine Kategorie des Seienden, sei es anwesend oder abwesend.“244 Ausgehend von dieser De-

finition läßt sich Derrida als umgekehrter Idealist lesen. Die Idealisten unterscheiden einen starken und

einen schwachen Identitätsbegriff; Derrida unterscheidet demgegenüber einen starken von einen

schwachen Differenzbegriff, die différance von der différence:

„Was sich différance schreibt, wäre also jene Spielbewegung, welche diese Differenzen, diese Effekte der Differenz, durch das ‘produziert’, was nicht einfach Tätigkeit ist. Die différance, die diese Differenzen hervorbringt, geht ihnen nicht etwa in einer einfachen und an sich unmodifizierten, in-differenten Gegenwart voraus. Die différance ist der nicht-volle, nicht-einfache Ursprung der Differenzen. Folglich kommt ihr der Name ‘Ursprung’ nicht mehr zu.“245

Die différance ist ursprungslos, weil sie ursprünglicher als jeder Ursprung ist. Dem starken und schwa-

chen Begriff der Differenz entsprechen ein starker und ein schwacher Schriftbegriff, die Urschrift als

242 Jacques Derrida: Grammatologie. A.a.O.: S. 44. 243 a.a.O.: S. 108. 244 Jacques Derrida: Die différance. A.a.O.: S. 31/32. 245 a.a.O.: S. 37.

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doppelte Supplementarität und die Schrift im profanen Sinne. Auch die Urschrift trägt zumindest ex ne-

gativo idealistische Züge:

„Die Urschrift, Bewegung der différance, irreduzible Ursynthese, die in ein und derselben Möglichkeit zugleich die Temporalisation, das Verhältnis zum Anderen und die Sprache eröffnet, kann, insofern sie die Bedingung für jedes sprachliches System darstellt, nicht selbst ein Teil davon sein und kann ihm folglich nicht als ein Gegenstand einverleibt werden.“246

Strukturell läßt sich diese Konzeption durchaus auf zentrale Gedanken des „Systems des transzendenta-

len Idealismus“ abbilden. Auch Schellings „Absolutes“ ist nicht, gilt aber gleichzeitig als das, was alles

Seiende erst ermöglicht. Dem Absoluten Schellings könnte, sollte dieser Vergleich weitergeführt werden,

bei Derrida auch der Text entsprechen. Der Text - und damit gleichzeitig sein Text - ist für Derrida der

„ultra-transzendentale Text“247, transzendentaler als die einfache Transzendenz. Da alles immer schon

im Text einbegriffen ist, kann Derrida, der Philosoph der différence und différance, auch als Identitätsphilo-

soph interpretiert werden. Jochen Hörisch spricht in bezug auf die différance treffend vom „Paradox,

noch die Dekonstruktion der basalen okzidentalen Denkkategorien auf ein »ursprünglich ursprungslo-

ses« Theorem abbilden zu wollen und so zugleich die synthetisierende Geste des kritisierten wiederho-

len zu müssen“.248 Letztlich nähert sich Derridas Denken der Theologie:

„Eine solche différance, ‘älter’ noch als das Sein, hat keinen Namen in unserer Sprache. Aber wir ‘wissen bereits’, daß sie nicht nur vorläufig unnennbar ist, weil unsere Sprache diesen Namen noch nicht gefunden oder empfangen hätte, oder weil er in einer anderen Sprache außerhalb des begrenzten Systems der unseren, gesucht werden müßte. Denn es gibt keinen Namen dafür, selbst nicht den der différance, die kein Name, die keine reine nominale Einheit ist und sich unaufhörlich in eine Kette von differierenden Substitutionen auflöst.“249

Die différance ist das erhabene Bild für ein absolutes Bilderverbot. Entgegen seinen eigenen Beteuerun-

gen betreibt Derrida negative Theologie. Die différance darf nicht benannt werden, über sie läßt sich

nichts aussagen. Heideggers aussageloses Diktum, daß „die Sprache spricht“, wird durch Derridas Dik-

tum, daß „die différance differiert“250, überboten. Die Philosophie gelangt in Gestalt dieser Tautologie

an ihr Ende. Gleichzeitig eröffnet sich vor ihr ein unendlicher Horizont des Sagbaren. Die différance

muß unendlich umspielt, beschrieben und abgebildet werden, gerade weil jede Abbildung sie aufs neue

verfehlt. Die sogenannte Onto-Theologie des Abendlandes wird bei Derrida durch eine „De-Onto-

Theologie“ abgelöst und gleichzeitig in potenzierter Form fortgesetzt. Der mit diesem Diskurs verbundene U-

niversalitätsanspruch übersteigt bei weitem die in allen anderen Metaphysiken artikulierten Universali-

tätsansprüche. „Die Grammatologie“ kann für Derrida „nicht eine regionale Wissenschaft unter ande-

ren sein.“251 In der „Grammatologie“ kommt die Schrift (wie der Geist in der Hegelschen „Logik“) zu

sich selbst. Durch diesen Versuch, die Schrift zu sich selbst zu bringen, bringt Derrida die Schrift aber

246 Jacques Derrida: Grammatologie. A.a.O.: S. 105. (Hervorhebung von mir). 247 a.a.O.: S. 107. 248 Jochen Hörisch: Das Sein der Zeichen und die Zeichen des Seins. Marginalien zu Derridas Ontosemiologie. In: Jacques

Derrida: Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls. Übers. v. Jochen Hörisch. Frankfurt a.M. 1979. S. 7-50. Hier: S. 40.

249 Jacques Derrida: Die différance. A.a.O.: S. 51. 250 Jacques Derrida: Grammatologie. A.a.O.: S. 116. 251 a.a.O.: S. 148

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um sich selbst: indem er sie zum Absolutum hypostasiert, bringt er die Schrift um genau die metaphy-

sikkritische Spitze, um derentwillen er sie ins Feld geführt hat. Was als radikaler erkenntnistheoretischer

Relativismus gemeint war endet in einer Überbietung der Metaphysik, welche sich aus einer uneinge-

standenen, geschichtsphilosophisch-ästhetischen Utopie speist. Die Urschrift Derridas knüpft an die U-

topie eines mytho-poetischen Zustands an, wie er zwischen 1795 und 1800 in Tübingen und Jena er-

träumt wurde. Um eine ursprüngliche, noch nicht in partikulare Einzeldiskurse fragmentierte Textuali-

tät, einen „Naturzustand der Schrift“, wiederherzustellen, müssen für Derrida erst „viertausend Jahre

linearer Schrift Schritt für Schritt abgetragen werden.“252 Hinter den Ordnungen der okzidentalen Me-

taphysik liege eine entgrenzte Textualität, eine „fröhliche Irre des graphein“253, deren Wiedergeburt sich

für Derrida in „Pounds unabdingbar graphischer Poetik“254 und in den Werken Mallarmés255 ankündigt.

Für Derrida ist es „durchaus einsichtig, daß der Durchbruch [durch] [...] die Geschlossenheit des Sys-

tems [der Metaphysik] [...] von der Seite der Literatur und der Poetik“256 ausgehen wird. Erst vor dem

Hintergrund der Lyrik Mallarmés wird Derridas Philosophie wirklich verständlich. Menke weist mit

Recht darauf hin, daß Derridas Philosophie als Reflex auf die künstlerische Moderne zu verstehen sei:

„Allein aus dem Versuch, die zunächst nur in der Kunst erfahrene Negativität auch außerhalb ihrer

Sphäre zu artikulieren und zu begründen, können [...] die zentralen Begriffe der Philosophie von [...]

Derrida verstanden werden.“257 Derridas Philosophie wiederholt den Mallarméschen Versuch einer

Selbstauslöschung der lyrischen Sprache auf dem Felde der Philosophie. Vom Scheitern dieser Versu-

che zeugt die Kanonisierung sowohl der Mallarméschen als auch der Derridaschen Texte. Mallarmés und

Derridas Texte können die Aufhebung jeder Referenz (und damit die Eliminierung ihrer selbst) immer

nur bedeuten. Die Auslöschung wird unausweichlich selbst zu einem Signifikat, zu einer „Welt“, von der

die Texte Mallarmés und Derridas handeln. Die Abwesenheit der Welt in einem symbolistischen Gedicht

ist genauso fingiert oder wirklich wie die Anwesenheit der Welt in einem naturalistischen Roman.

Derrida erhebt sich in den Status eines Propheten, durch den sich das Nahen des „ultra-

transzendenten“ und „ultra-poetischen“ Textes ankündigt. Zumindest die „Grammatologie“ trägt stel-

lenweise latent messianische Züge:

„[...] in der strengen Erfahrung des Bereiches, der sich vorläufig noch Schrift nennt [...], äußert sich vielleicht die Irre (errance) eines Denkens, das treu und aufmerksam auf eine unaufhaltsam kommende Welt gerichtet ist, die, jenseits der Geschlossenheit (clôture) des Wissens, sich der Gegenwart kundtut. Der Vorgriff auf die Zukunft ist nur in Gestalt der absoluten Gefahr möglich.“258

Derrida wiederholt hier die von ihm in bezug auf Rousseau als „phallogozentrisch“ gerügte Geste einer

Durchdringung des Scheins hin auf ein Eigentliches. Hinter der linearen Ordnung des Abendlands 252 a.a.O.: S. 152. 253 Jacques Derrida: Ellipse. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. A.a.O.: S. 443-450. Hier: S. 443. 254 Jacques Derrida: Grammatologie. A.a.O.: S. 167. 255 a.a.O.: S. 167. 256 a.a.O.: S. 166. 257 Christoph Menke: Umrisse einer Ästhetik der Negativität. In: Franz Koppe (Hg.): Perspektiven der Kunstphilosophie.

Texte und Diskussionen. Frankfurt a.M. 1991. S. 191-216. Hier: S. 208. 258 Jacques Derrida: Grammatologie. A.a.O.: S. 15.

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sucht er die graphische Ordnung einer hieroglyphischen Urschrift. Darin reproduziert er die Schiller-

und Schellingsche Utopie eines Einmündens der „einzelnen Ströme“ der Philosophie und der Wissen-

schaften in den „Ozean der Poesie [...], von welchem sie ausgegangen waren“259. Auch Derrida steht in

der Traditionslinie einer undialektischen, „Ästhetizität“ für ihre Zwecke mißbrauchenden Modernitäts-

kritik.

Den imperialen Gestus, den Derrida der „okzidentalen Metaphysik“ vorwirft, reproduziert und poten-

ziert er selbst. Indem er alle Diskurse durch die différance für entgrenzt und entgründet erklärt, entgrenzt

er de facto seinen eigenen Diskurs. Dem Diskurs des Dekonstruktivisten ist alles schon immer assimi-

liert, denn alles ist Text und Texte dekonstruieren sich selbst, da es kein Subjekt der Dekonstruktion

geben kann. Dieser Bewegung geht der explizit dekonstruktive Text nach. Er stellt sich in den Dienst

einer unendlichen, differenziellen Textualität, wie sich der prophetische Text in den Dienst eines Got-

tes stellt.

In Derridas Philosophie der Absenz besteht die metaphysische Spannung zwischen Präsenz und Ab-

senz weiter fort. Die Dekonstruktion lebt ausschließlich von dem, was sie zu dekonstruieren vorgibt:

von der Metaphysik. Sie greift dagegen nicht mehr für eine Philosophie, die auf das Streben nach einer

Wahrheit jenseits kultureller Kodierung und Vermittlung, jenseits des Horizontes der Lebenswelt, von

vornherein verzichtet. Die Dekonstruktion kann die hermeneutische Philosophie der Neuzeit nicht treffen.

Sie muß ihr deshalb ein Streben nach einer idealen Bedeutung oder Autorintention unterstellen. Jedes

hermeneutische Sinn- und Wirklichkeitspostulat meint Derrida ohne weitere Einschränkung mit dem

Verdikt der Metaphysik belegen und abfertigen zu können. Dieses Verfahren verfällt in eine unzulässige,

letztlich selbst metaphysische Reduktion. Paul Ricoeur meint,

„daß die Zeit gekommen ist, sich die zur Gedankenträgheit gewordene Bequemlichkeitslösung zu versagen, das Ganze des abendländischen Denkens in einem einzigen Wort - Metaphysik - zusammenzufassen. [...] Die gegenwärtige Tendenz, das gesamte abendländische Denken in dem gewaltigen Nebelfleck des Wortes »représentation« [...] zusammenzufassen, fordert zu ähnlichen Bemerkungen heraus.“260

Die moderne Hermeneutik begreift das Verhältnis von „Wirklichkeit“ und „Zeichen“ nicht mehr ontolo-

gisch, als hierarchisches Verhältnis, sondern kommunikationstheoretisch. „Fiktion und Wirklichkeit“, schreibt

Wolfgang Iser, „können daher nicht mehr als ein Seinsverhältnis, sondern müssen als ein Mitteilungs-

verhältnis begriffen werden.“261 Die Platonische Abwertung der Fiktion gegenüber der Wirklichkeit

kann mit der Derridaschen Abwertung der Wirklichkeit gegenüber der Fiktion nicht wirklich überwun-

den werden, da die hierarchische Grundstruktur des Platonismus von Derrida, wenn auch unter umge-

kehrten Vorzeichen, einfach reproduziert wird. Eine Überwindung der Metaphysik von Schein und

Sein vermöchte erst eine Philosophie zu leisten, die von einem wechselseitigen Konstitutionsverhältnis

zwischen Realem und Imaginärem ausginge. Karlheinz Stierle schließt sich diesem Gedanken Isers an

259 F.W.J. Schelling: System des transzendentalen Idealismus. Hamburg 1957. S. 298. 260 Paul Ricoeur: Die lebendige Metapher. A.a.O.: S. 300. 261 Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. München 1976. S. 87.

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und erläutert ihn durch die hermeneutische Metapher des Horizonts: „Welt der Fiktion und reale Welt

sind einander in wechselseitiger Horizonthaftigkeit zugeordnet: Die Welt erscheint als Horizont der

Fiktion, die Fiktion erscheint als Horizont der Welt.“262 Auch für Danto muß es „noch etwas anderes

als die Wörter geben, worüber zu kommunizieren Wörter gebraucht werden: das mag man »die Welt«

nennen.“263 Ein solches, unverzichtbares Postulat einer Wirklichkeit als Sinn-Horizont aller Diskurse

läßt sich nicht mehr mit dem Verdikt des Metaphysischen belegen. Im Gegenteil: Von hier aus kann der

Verzicht auf das Postulat jeder Wirklichkeit selbst als latente Form von Metaphysik entlarvt werden.

Der Text, der jede Wirklichkeit außerhalb seiner eigenen leugnet, erklärt sich selbst zu einer „Überwirk-

lichkeit“. De Man faßt diesen Sachverhalt in folgende Worte: „Indem er das Subjekt einen Text nennt,

ernennt der Text sich selbst, in gewissem Umfang, zum Subjekt.“264 Das klassische Kriterium metaphy-

sischen Denkens, die Reduktion der Gesamtheit der Welt auf ein ursächliches Prinzip, wird von dieser

Bestimmung des Textes erfüllt.

Zu klären bleibt die Frage, welche Implikationen sich aus der Derridaschen Philosophie für die philo-

sophische Ästhetik ergeben. Den Schlüssel zu einer Antwort liefern aufs neue die Begriffe der Schrift

und des Supplements. Der Status der Schrift korrespondiert bei Derrida wie bei Platon mit dem Status

des Metaphorischen sowie der Kunst. Beiden Autoren gelten Schrift, Kunst und Metapher als doppelt

uneigentlich und werden, wenn auch aus jeweils entgegengesetzter Wertperspektive, einander genähert.

„Die Schrift“, schreibt Derrida, „ist nicht Zeichen der Zeichen, es sei denn, was in einem tieferen Sinne

wahr wäre, man behauptet dies von jedem Zeichen“265. Da jedes Zeichen immer nur Zeichen eines an-

deren Zeichens ist, kann umgekehrt jede Art von Zeichen als Schrift angesehen werden:

„Es gibt kein Signifikat, das dem Spiel aufeinander verweisender Signifikanten entkäme, welches die Sprache konstituiert, und sei es nur, um ihm letzten Endes wieder anheimzufallen. Die Heraufkunft der Schrift ist die Heraufkunft des Spiels; heute kommt das Spiel zu sich selbst, indem es die Grenze auslöscht, von der aus man die Zirkulation der Zeichen meinte regeln zu können, indem es alle noch Sicherheit gewährenden Signifikate mit sich reißt, alle vom Spiel noch nicht erfaßten Schlupfwinkel aufstöbert und alle Festen schleift, die bis dahin den Bereich der Sprache kontrolliert hatten“266.

Indem das Spiel die Grenzen der Repräsentation auslöscht, wird es sinnlos, weiterhin mit dem Begriff

des „Zeichens“ zu operieren. Die semiotische Ordnung des Zeichens muß durch eine ästhetische Ord-

nung des freien Spiels der Signifikanten ersetzt werden. Die Metapher des „Spiels“ der Signifikanten

konnotiert ein ästhetisches Modell, dessen Vorbild in Kants „reflektierender Urteilskraft“ zu suchen ist.

Für Derrida wird damit die Eigenart ästhetischer Phänomene, die Kant auf einen umgrenzten Bereich

beschränkt wissen wollte, universalisiert. Er meldet ganz explizit Skepsis in bezug auf die Möglichkeit

an, „eine formale Spezifität des Literarischen zu isolieren“ und bekundet „gegenüber dem Motiv des

262 Karlheinz Stierle: Text als Handlung. München 1975. S. 378. 263 Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. A.a.O.: S. 129. 264 Paul de Man: Allegorien des Lesens. Übers. v. Werner Hamacher und Peter Krumme. Frankfurt a.M. 1988. S. 155. 265 Jacques Derrida: Grammatologie. A.a.O.: S. 75. 266 a.a.O.: S. 17/18. (Hervorhebungen von mir).

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‘Literarischen’ ein gewisses Mißtrauen“267. Weiter stellt er die Frage, ob die Befreiung der Schrift von

ihrem Verweisungscharakter nicht Gefahr läuft, das Kunstwerk „mit der ursprünglichen Sprache im

allgemeinen gleichzusetzen. Den Begriff der Kunst und den Wert des ‘Schönen’ aufzulösen, vermittels

derer man gewöhnlich das Literarische vom Schriftzeichen im allgemeinen scheidet?“268 Die Antwort,

die er sich selbst gibt, lautet: „Vielleicht befreit man aber im Gegenteil gerade das Schöne, wenn man

den ästhetischen Wert seiner Spezifität entkleidet. Gibt es überhaupt eine Spezifität des Schönen, und

würde dieses dadurch gewinnen?“269 „Schrift“ und „Literatur“ fallen für Derrida zusammen, so daß sei-

ne Philosophie insgesamt als ästhetische Theorie, aber auch als Dichtung gelesen werden kann. „Dich-

ter zu sein, heißt“ für Derrida „die Rede sein zu lassen. Sie ganz von allein sprechen zu lassen, was sie

nur in der Schrift zu tun imstande ist“270.

Wesentlich weniger vorsichtig als Derrida selbst verfechten seine Schüler einen Universalitätsanspruch

von Literatur. Jonathan Culler z.B. schreibt: „Andere Diskurse können [...] als Fälle einer verallgemei-

nerten Literatur oder Archi-Literatur angesehen werden.“271 Auch Paul de Man identifiziert Sprache

überhaupt mit literarischer Sprache; er setzt „die rhetorische, figurative Macht der Sprache mit der Lite-

ratur selber gleich“272+273 und behauptet gleichzeitig: „Die figurative Struktur ist nicht ein Sprachmodus

unter anderen, sondern sie zeichnet die Sprache insgesamt aus“274.

Diese Entdifferenzierung des Literarischen zum dominanten Zug von Sprache überhaupt ebnet für

Derrida und de Man auch die Unterscheidung zwischen wörtlichem und übertragen-figurativem

Sprachgebrauch ein. Beide räumen der Rhetorik und den rhetorischen Tropen noch vor jeder Argu-

mentation eine exponierte Stellung ein:

„Was geschieht mit der Metapher? Nun ja, alles, es gibt nichts, was nicht mit der Metapher und durch die Metapher geschähe. [...] Wenn sie aber auf alles verzichtet, was nicht ohne sie geschieht, so verzichtet sie vielleicht - eine ungewöhnliche Tatsache - auf sich selbst; sie hat keinen Namen mehr.“275

Die Sprache, die in jeder ihrer Äußerungen figurativ ist, ist ein in sich geschlossenes, gleichzeitig aber

auch grenzenloses System. Ihre Äußerungen bedeuten nichts mehr als sich selbst, ihre Wörtlichkeit.

Absolute Metaphorizität verwandelt selbst die Metapher zur Metapher und schlägt deshalb in absolute

267 Jacques Derrida: Positionen. Gespräch mit Jean-Louis Houdebine und Guy Scarpetta. In: Ders.: Positionen. Graz/Wien

1986. S. 137. 268 Jacques Derrida: Kraft und Bedeutung. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. A.a.O.: S. 9-52. Hier: S. 26. 269 a.a.O.: S. 26. 270 Jacques Derrida: Edmond Jabbes und die Frage nach dem Buch. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. A.a.O.: S. 102-

120. Hier: S. 109. 271 Jonathan Culler: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Aus dem Amerikanischen von

Manfred Momberger. Reinbek bei Hamburg 1988. S. 201. 272 Paul de Man: Allegorien des Lesens. A.a.O.: S. 40. 273 Dieser Gedanke geht auf Nietzsche zurück. In seiner Rhetorik-Vorlesung aus dem Sommersemester 1874 schreibt er:

„Die Kraft, die Aristoteles Rhetorik nennt, an jedem Dinge das herauszufinden und geltend zu machen, was wirkt und was Eindruck macht, ist zugleich das Wesen der Sprache“. Und weiter: „Die Sprache ist Rhetorik, denn sie will nur eine doxa, keine episteme übertragen“. Zit.n. Hans-Martin Gauger: Nietzsches Auffassung vom Stil. In: Hans Ulrich Gum-brecht und K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt a.M. 1986. S. 200-214. Hier: 208/209.

274 Paul de Man: Allegorien des Lesens. A.a.O.:S. 148. 275 Jacques Derrida: Der Entzug der Metapher. In: Volker Bohn (Hg.): Romantik. A.a.O.: S. 317-355. Hier: S. 319.

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Wörtlichkeit um, in die „bedeutungslose“ Wörtlichkeit der schwarzen Druckerschwärze auf weißem

Papier, in die von de Man immer wieder neu beschworene „Materialität“ des Signifikanten. Diese Mate-

rialität des Signifikanten macht jede „Bedeutung“ zu einer ideologischen Illusion. Menke versucht im

Anschluß an de Man, ästhetische Erfahrung als Erfahrung eines scheiternden Versuchs des Verstehens

eines Textes zu deuten, der sich im Prozeß des Verstehens immer wieder neu in seiner Materialität her-

stellt und sich dem verstehenden Zugriff verweigert:

„Pluralität der Bestimmbarkeit kommt den ästhetischen Zeichen deshalb zu, weil sie sich gegenüber jedem Identifizieren wieder als Material herstellen. [...] Die unselegierte Materialität am Zeichen als ästhetische zu erfahren heißt, sie als im ästhetischen Vollzug von Verstehensversuchen gegen ihren Automatismus sich herstellende zu erfahren.“276

Zwischen der Materialität des Signifikanten und dem Versuch, ihm einen Sinn zuzuschreiben, besteht

für die Negativitätsästhetik277 ein permanenter Konflikt, der für de Man und Menke immer zugunsten

der Materialität entschieden werden muß. Texte sind prinzipiell unlesbar. Der nicht zu schlichtende

Widerstreit zwischen Wörtlichkeit und „übertragener“ Bedeutung in literarischen (und somit in allen)

Texten unterminiert jede Möglichkeit einer Textbedeutung. Metaphern wirken zerstörerisch. Dem hält

Ricoeur entgegen:

„Muß man nicht sagen, daß die Metapher eine Ordnung nur auflöst, um eine andere zu erfinden? Daß die Kategorienverwechslung nur die Kehrseite einer Logik der Entdeckung ist? [...] Denkt man diesen Vorschlag zu Ende, so muß man sagen, daß die Metapher einen Informationsgehalt hat, weil sie die Wirklichkeit »neu beschreibt«. Die Kategorienverwechslung wäre damit das dekonstruktive Zwischenspiel zwischen Beschreibung und Neubeschreibung.“278

Ricoeur wendet gegen das dekonstruktivistische Metaphernverständnis ein, „daß die »Metaphorik«, die

die Kategorienordnung verletzt, auch diejenige ist, die sie hervorbringt.“279

Das Thema jedes (literarischen) Textes ist für de Man identisch mit der Weise der Thematisierung, die kein

eigentliches Thema mehr zuläßt. Jeder Text reflektiert seine eigene Textualität und ist von seiner ihm im-

manenten Poetologie nicht zu unterscheiden. Da der Text gleichzeitig jeden Versuch einer Referenz auf

ein Textäußeres scheitern läßt, thematisiert er nichts anderes als sein eigenes Scheitern. Jeder Text de-

konstruiert sich selbst. De Man geht davon aus, daß man „von allen Texten, als Texte, stets sagen kann,

daß sie Niederlagen sind, Fehlschläge“280. Dieses „Ergebnis“, zu dem jede dekonstruktive Lesart eines

beliebigen Textes führt, macht die Methode der Dekonstruktion auf Dauer langweilig.

De Man stellt die generelle Frage, „ob ein literarischer Text von dem handelt, was er beschreibt, dar-

stellt oder aussagt“281 und verneint sie. Positiv gewendet heißt das, daß ein literarischer Text vom Schei-

tern des Versuchs handelt, von etwas zu handeln. Prousts „recherche“ liest de Man z.B. als „allegorische

276 Christoph Menke-Eggers: Die Souveränität der Kunst. A.a.O.: S. 84. 277 vgl. zu diesem Begriff: Christoph Menke: Umrisse einer Ästhetik der Negativität. A.a.O. 278 Paul Ricoeur: Die lebendige Metapher. A.a.O.: S. 28. 279 a.a.O.: S. 30/31. 280 Paul de Man: Der Widerstand gegen die Theorie. A.a.O.: S. 100. 281 Paul de Man: Allegorien des Lesens. A.a.O.: S. 91.

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Erzählung [ihrer] eigenen Dekonstruktion“.282 Er verdeutlicht diese Behauptung mittels der Lektüre

einer Szene im ersten Band der „recherche“, welche den jungen Marcel selbst während einer Lektüre

zeigt.283 De Mans Lektüre dieses Passus’ kommt zu folgendem Ergebnis:

„In einem Passus, der reich ist an gelungenen und verführerischen Metaphern und der überdies ausdrücklich die Überlegenheit der Metapher über die Metonymie behauptet, wird Überzeugungskraft durch ein figurales Spiel erreicht, in dem kontingente Figuren des Zufalls [Metonymien] trügerisch vorgeben, Figuren der Notwendigkeit [Metaphern] zu sein. Eine wörtliche und thematische Lektüre, die die Wertvorstellungen des Textes beim Wort nähme, müßte die Metapher der Metonymie [...] vorziehen [...]. Eine derartige Lektüre wird in Frage gestellt, wenn man die rhetorische Struktur des Textes in Betracht zieht.“284

Der Text Prousts stellt für de Man „zwei Weisen, die Erfahrung des Sommers zu evozieren, einander

gegenüber“285, eine metonymische (durch die Melodie, die man „zufällig“ im Sommer gehört hat), und

eine metaphorische (durch das „notwendige Band“, das das Summen der Fliegen mit dem Sommer

verknüpft). Der Passus behauptet, so de Man, mit metonymischen Mitteln einen Vorrang der Metapher vor der

Metonymie und widerspricht sich in diesem Punkt selbst.

„Es bedarf keines besonderen Scharfblicks, um zu erkennen, daß der Text nicht praktiziert, was er predigt. Eine rhetorische Lektüre der Passage enthüllt, daß seine figurative Praxis und seine metafigurative Theorie nicht konvergieren und daß die Behauptung der Vorherrschaft der Metapher über die Metonymie ihre Überzeugungskraft dem Gebrauch metonymischer Strukturen verdankt.“286

Die angeblichen Aussagen des Proustschen Textes über Metaphern werden von de Man mit der metapho-

rischen Praxis des Textes konfrontiert. Zwischen beiden Ebenen soll sich ein Widerspruch zeigen, der es

unmöglich mache, dem Text eine Bedeutung zuzuschreiben. Die Differenz der Ergebnisse einer „wört-

lichen“ und einer „rhetorischen“ Lektüre „bezeichnet“ für de Man als eigentliches Thema des Textes

„das unwiderrufliche Eintreten zumindest zweier sich einander gegenseitig ausschließender Lektüren

282 a.a.O.: S. 105. 283 vgl. Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Übers. v. Eva Rechel-Mertens. Frankfurt a.M. 51979. Bd.1.

In Swanns Welt. S. 114f. Ich zitiere den von de Man diskutierten Passus: „Während das Küchenmädchen [...] den Kaffee servierte [...], streckte ich mich mit einem Buch in der Hand auf dem Bett in meinem Zimmer aus, das zitternd seine durchsichtige, zerbrechliche Kühle gegen die Nachmittagssonne hinter festgeschlossenen Fensterläden verteidigte, durch die ein Lichtstrahl dennoch seine gelben Flügel hatte schieben können, der nun wie ein ruhender Schmetterling unbeweglich zwischen dem Holz der Jalousien und der Fensterscheibe hing. Es war kaum hell genug zum Lesen, und ein Feingefühl von dem Glanz des Lichtes draußen sandten mir nur die von der Rue de la Cure heraufkommenden Hammerschläge zu, die Camus [...] auf staubige Kisten niederfallen ließ und die in der tönenden Atmosphäre der Schönwettertage in der Ferne scharlachrote Funken aufsprühen zu lassen schienen; außerdem auch die Fliegen, die mit ihrem Summkonzert eine Art sommerlicher Kammermusik vollführten, die freilich nicht die Erinnerung an den Sommer zurückruft, wie menschliche Musik es tut, die man zufällig in der schönen Jahreszeit ange-hört hat; sie ist mit dem Sommer vielmehr durch ein echteres Band verknüpft: in den schönen Tagen entstanden, nur mit ihnen wiedererstehend und mit etwas von ihrer Substanz getränkt, führt sie nicht nur die Vorstellung davon in unse-rem Gedächtnis herauf, sondern bestätigt vielmehr ihre Wiederkehr als tatsächliche, unmittelbar uns umwebende, greif-bare Gegenwart. Die dunkle Kühle meines Zimmers verhielt sich zur besonnteren Straße wie der Schatten zum Licht, das heißt, ihre In-tensität war genauso groß; sie schenkte mir in der Phantasie das volle Schauspiel des Sommers, von dem meine Sinne auf einem Spaziergang zum Beispiel nur jeweils Teilaspekte hätten genießen können; dadurch paßte sie so gut zu meiner Art von Ruhe, die (dank den in meinen Büchern erzählten, mich im Innern bewegenden Abenteuern), wie eine Hand, die man regungslos in fließendes Wasser hält, den tobenden Anprall eines Stromes von lebhafter Handlung aushielt.“

284 Paul de Man: Allegorien des Lesens. A.a.O.: S. 100. 285 a.a.O.: S. 44. 286 a.a.O.: S. 45.

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und behauptet die Unmöglichkeit wirklichen Verstehens sowohl auf der Ebene der Figuration wie auf

der der Themen“287.

De Man konstruiert hier mit szientivistischem Objektivitätsanspruch zwei voneinander unabhängige

Textbedeutungen, eine figurative und eine wörtliche, die zu „dekonstruieren“ ihm natürlich sehr leicht

fällt. Eine Textbedeutung kann zu einer anderen Textbedeutung erst dann in einen Widerspruch treten,

wenn beide Bedeutungen gegenüber der jeweils anderen einen Objektivitäts- und Auschließlichkeit-

sanspruch stellen. Solche Ansprüche erheben Bedeutungsebenen in literarischen Texten aber gerade

nicht. Jede noch so heterogene Teilbedeutung eines Textes bleibt (auch und gerade in ihrer Heterogeni-

tät) auf das Textganze als seinen Sinnhorizont verwiesen. Indem de Man die „figurative“ Bedeutungs-

ebene des Textes als eine von der „wörtlichen“ separierbare hypostasiert, überzieht er die Semantik bis

ins Sinnlose, um ihr dann selbst jeden Sinn abzusprechen. Das Vorhandensein von Metonymien in einem

literarischen Text darf nicht mit einer Aussage über Metonymien verwechselt werden. De Man macht

aus einem literarischen Text eine Literaturtheorie, um dieser dann in einem zweiten Schritt einen per-

formativ-pragmatischen Selbstwiderspruch zu unterstellen. Die Bedeutung eines literarischen Textes

darf aber nicht in eine wörtliche und eine poetologische Bedeutung zerlegt werden. Ein literarischer

Text ist weder identisch mit einer diskursiven Aussage über die Welt noch mit einer Theorie über Lite-

ratur, sondern wird zu einem literarischen Text erst dadurch, daß er sich vermittels einer Reflexion auf

seine eigene Gemachtheit auf die Wahrnehmbarkeit einer Welt als ganzer bezieht. Für die Ebene dieser

Reflexion auf die Welt vermittels der Reflexion auf sich selbst sollen in dieser Arbeit die Begriffe Stil und Bild-

lichkeit in Anschlag gebracht werden. Als im Ganzen metaphorische gehen literarische Texte weder in

der „Nachahmung“ noch in der substituierenden „Neutralisierung“ der Realität auf, sondern im er-

schließenden „Erfinden“288 einer „Realität“, die in ihrer ästhetischen Darstellung in einem neuen Licht

erscheint. Seine immanente Poetologie ist der Bedeutung eines literarischen Textes nicht äußerlich,

sondern macht sie als literarische erst aus. Ein literarischer Text bezieht sich mittels eines selbstbezügli-

chen, stilistisch-figurativen Verfahrens auf eine Welt als auf einen im Moment dieses Bezugs transfor-

mierten Horizont.

Ein Text kann nicht, wie von de Man unterstellt, zwei sich wechselseitig negierende Bedeutungen ha-

ben. Diese würden zu einer neuen zusammenschiessen. Ein Rezipient kann einen Text nicht in zwei

Weisen lesen, ohne daß sich ihm aus diesen zwei Bedeutungsmöglichkeiten eine übergreifende dritte

ergäbe und sei es die einer Spannung oder Differenz. De Man übersieht, daß ein metaphorischer Text

stets auf seine Wörtlichkeit und Metaphorizität rekurriert. Im metaphorischen Sprechen wird „der ein-

gebettete Satz [...] in einem einzigen Sprechakt zugleich erwähnt und gebraucht.“289 Die Metapher „prä-

287 a.a.O.: S. 105. 288 zu den drei Optionen der „Nachahmung“, „Neutralisierung“ und „Erfindung“ von Realität durch ästhetische Imaginati-

on vgl. Bernhard Waldenfels: Fiktion und Realität. In: Willi Oelmüller (Hg.): Kolloquium Kunst und Philosophie Bd.2. Ästhetischer Schein. Paderborn/München/Wien/Zürich 1982. S. 94-102.

289 Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. A.a.O: S. 285.

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sentiert also ihr Sujet und darüber hinaus die Weise, in der sie es präsentiert“.290 Metaphorizität enthält

eine wörtliche Bedeutung, in deren Transformation sie sich artikuliert. Die Metapher ist eine „sprach-

immanente Spracherweiterung“, ein „Entdeckungs- und Verwandlungsvermögen“291 im Medium der

Begriffe. Eine bedeutungslose Wörtlichkeit oder Materialität des Signifikanten bleibt demgegenüber ein

abstraktes Konstrukt. Ein Text existiert per se nur als bedeutender. Es gibt keinen Text vor seiner Be-

deutung.

Die hier vorgetragene Kritik an der Negativitätsästhetik darf nicht dahingehend mißverstanden werden,

daß Kunstwerke keine bedeutungs- und sinnsubversiven Prozesse in Gang bringen würden. Jede ästhe-

tische Welterschließung beinhaltet eine Destruktion:

„Bringt der Dichter nicht die Sprache in Gefahr? Spricht er nicht das gefährliche Wort aus? Hat die Dichtkunst nicht, indem sie das Echo der inneren Dramen wurde, die reine Stimmung des Dramatischen angenommen? Ein dichterisches Bild erleben, wirklich erleben, heißt in einer seiner feinen Fasern eine Seinsmöglichkeit erkennen, die das Bewußtsein einer Verwirrung des Seins ist. Das Dasein ist hier dermaßen empfindlich, daß ein Wort es in Bewegung setzt.“292

Bei dieser Destruktion bleibt das Kunstwerk nicht stehen. Die andere Seite der Medaille, die Sichtbarma-

chung eines Neuen, die mit der Blendung durch das Kunstwerk einhergeht, verschweigt die Negativitätsäs-

thetik. Die Differenz verschiedener Bedeutungsmöglichkeiten in einem Text unterbindet nicht die

Möglichkeit einer Textbedeutung, sondern konstituiert sie. Aus jeder Subversion von Bedeutung ent-

springt eine neue Bedeutung. Nur neue Erfahrungen sind in der Lage, alte zu erschüttern. Die Diffe-

renz zweier Bedeutungsebenen in einem Kunstwerk bleibt immer auf einen Sinnhorizont als Bezugs-

rahmen und Möglichkeitsbedingung verwiesen. Ferdinand Fellmann bringt diesen Zusammenhang auf

den Punkt, wenn er schreibt: „Die menschliche Welt, die einzige, in der wir leben können, ist sinnhaft

aufgebaut. Das besagt natürlich nicht, daß es in der Welt immer sinnvoll zugeht. Aber daß das Sinnlose

als solches formuliert werden kann, gehört zum sinnhaften Aufbau der Welt.“293

Ohne der Frage nach der Differenz von ästhetischen gegenüber anderen Weisen der Zeichenverwen-

dung hier in ihrer Komplexität gerecht werden zu können, sei noch auf ein weiteres, von Habermas

vorgeschlagenes Argument gegen den von Derrida erhobenen „Universalitätsanspruch der Literatur“294

verwiesen. Die Behauptung einer Indifferenz von diskursiver und literarischer Sprache verwickelt sich,

so Habermas, unausweichlich in einen performativ-pragmatischen Selbstwiderspruch. Als einen solchen

definieren Habermas und Apel den „Widerspruch zwischen [...] performativ vorgetragenen Geltungs-

ansprüchen und der propositionalen Verleugnung aller universalen Geltungsansprüche“295. Als diskur-

sive Behauptung erhebt die Derridasche Behauptung einer Indifferenz diskursiver und literarischer

290 a.a.O.: S. 287. 291 Paul Ricoeur: Die lebendige Metapher. Übers. v. Rainer Rochlitz. München 1986. S. II. 292 Gaston Bachelard: Poetik des Raumes. A.a.O.: S. 219. 293 Ferdinand Fellmann: Phänomenologie als ästhetische Theorie. Freiburg/München 1989. S. 9. 294 Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken. Frankfurt a.M. 1988. S. 256. 295 Karl-Otto Apel: Kann der postkantische Standpunkt der Moralität noch einmal in substantielle Sittlichkeit ‘aufgehoben’

werden? Das geschichtsbezogene Anwendungsproblem der Diskursethik zwischen Utopie und Regression. In: Ders.: Diskurs und Verantwortung. Frankfurt a.M. 1988. S. 103-153. Hier: S. 114.

69

Texte, um sinnvoll sein und verstanden werden zu können, auf ihrer sprachpragmatischen Ebene einen

Anspruch auf theoretische Wahrheit, auf universelle Konsentierbarkeit, der sie radikal von literarischer

Sprache unterscheidet. Auf der propositionalen Ebene wird eine Spezifität des Literarischen dagegen

geleugnet. Der Inhalt der Behauptung widerspricht den sprachpragmatischen Bedingungen der Mög-

lichkeit von Behauptungen überhaupt. Die Behauptung eines universellen und freien Spiels der Signifi-

kanten wäre innerhalb dieses Spiels als Behauptung sinnlos und unmöglich. In dem Moment, in dem

Derridas Diskurs anhebt zu argumentieren, kann er nicht mehr als literarischer Diskurs bezeichnet wer-

den. Ein literarischer Text erhebt nicht primär einen Anspruch auf theoretische Wahrheit296. „Überdem

sind wir gar nicht berechtigt, wissenschaftliche Wahrheit von dem Dichter zu erwarten“ (KA1,324),

schreibt schon Friedrich Schlegel in seinem ‘Studium’-Aufsatz. Und Adorno läßt sein erstes Buch mit

dem Satz beginnen: „Wo immer man die Schriften von Philosophen als Dichtungen zu begreifen trach-

tet, hat man ihren Wahrheitsgehalt verfehlt.“297

Derrida würde auf den Habermasschen Einwand mit dem Argument kontern, daß die dem Einwand

zugrundeliegende Sprachpragmatik generell von metaphysischen Annahmen wie der Autorintention, der

Wahrheit und Wahrhaftigkeit ausgehen müsse, die unter den Bedingungen der Moderne nicht aufrechtzu-

erhalten seien. Zur Erörterung der sich hier ankündigenden Fragen wäre eine umfangreiche Untersu-

chung über das Verhältnis von Pragmatik und Persuasion, von Sprechakttheorie und Rhetorik notwen-

dig, die gleichzeitig eine Untersuchung über die Bedingungen der Möglichkeit der Moderne wäre und

im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden kann. Historisch könnte eine solche Untersuchung bei

Nietzsche und Peirce ansetzen, in denen sich zwei exemplarische Positionen nachidealistischen Den-

kens ankündigen, die heute noch die philosophische Diskussion polarisieren.

296 Detailliertere Ausführungen zur Differenz zwischen literarischen und diskursiven Texten finden sich bei Habermas in

folgenden Texten: Exkurs zur Einebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie und Literatur. In: Ders.: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a.M. 1985. S. 219-247 und ders.: Philosophie und Wissenschaft als Lite-ratur? In: Ders.: Nachmetaphysisches Denken. A.a.O.: S. 242-263.

297 Theodor W. Adorno: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen. Frankfurt a.M. 1979. S. 9.

70

1.4. Stile und Bilder als Medien ästhetischer Weltweisenartikulation

„Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“

Paul Klee298

Dem von Derrida und de Man gegen die Ästhetik erhobenen Einwand, sie partikularisiere eine univer-

sell-poetische Qualität unserer Sprache und Welt, konnte im vorigen Kapitel begegnet werden. Gegen

die heute übliche „Entrationalisierung des Ästhetischen“299 wurde mit Seel die These verfochten, daß

„die Sprache ästhetisch artikulierter Zeichen [...] weder das eigentliche Sprechen noch wider die Spra-

chen der Vernunft gesprochen“300, sondern eine autonome Weise des Sprechens ist, der eine eigene Ra-

tionalität zugrunde liegt. Diese „Rationalität des Ästhetischen“301 entzieht sich weder konstitutiv dem

Zugriff der Vernunft, noch darf sie als deren „Souverän“ betrachtet werden. Die ästhetische Rationali-

tät bildet einen unverzichtbaren Teil einer nicht auf „instrumentelle Machbarkeit“ und „theoretische

Wahrheit“ reduzierbaren „vollen Rationalität“ (ÄT,487). Adorno definiert Kunst als „Rationalität, wel-

che diese kritisiert, ohne ihr sich zu entziehen.“ (ÄT,87) Diesen Gedankengang führt Seel fort, wenn er

schreibt: „Vernunft, die nicht ästhetisch ist, ist noch keine; Vernunft, die ästhetisch wird, ist keine

mehr“302. Die Rationalität des Ästhetischen unterscheidet sich von anderen rationalen Zugängen zur

Welt prinzipiell dadurch, daß sie nicht nur Situationen, sondern auch „Aspekte unseres in den jeweili-

gen Situationen unverfügbaren Inderweltseins zur Sprache“303 bringt. „Permanenz und Persistenz der

Kunst liegen“ für Seel „in ihrer Funktion der mehrdimensionalen und reflexiven Weltweisenartikulati-

on.“304 Ein Kunstwerk sei „ein zeichenhaftes Medium der Anschauung bedeutungsbildender und dar-

um bedeutsamer Horizonte der Welt. Alle Kunst, die ihren Namen verdient, erfindet einen Zugang zur

Welt, indem sie bildhafte Darstellungen solchen Zugangs schafft.“305

Aus der Möglichkeit einer heuristischen Trennung des Ästhetischen von allen anderen Arten des

Zeichengebrauchs folgt noch nicht die Möglichkeit des diskursiven Sprechens über ästhetische Sprache.

Können Theorie und Kritik der Ästhetizität ästhetischer Gebilde in irgendeiner Weise gerecht werden?

Gibt es einen möglichen Übergang zwischen dem „Sprachspiel“ der Kunst und den „Sprachspielen“

der (Kunst-)Philosophie und der (Kunst-)Kritik? Diese Arbeit möchte u.a. versuchen, Argumente für

eine Bejahung dieser Frage zu liefern. Kunstwerke sind nicht das ganz Andere der Vernunft, das sich

298 Paul Klee: Das bildnerische Denken. Hg.u.bearb.v. J. Spiller. Basel/Stuttgart 21964. 299 Martin Seel: Die Kunst der Entzweiung. A.a.O.: S. 10. 300 ebd. 301 ebd. 302 a.a.O.: S. 29. 303 Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt a.M. 1991. S. 150. 304 Martin Seel: Kunst, Wahrheit, Welterschließung. A.a.O.: S. 47. 305 Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur. A.a.O.: S. 260. (Hervorhebung von mir).

71

jeder diskursiven Annäherung entzieht, sondern bleiben auf Diskursivität verwiesen. „Nur im Prozeß

der Werkerschließung kommt die durch es geleistete Welterschließung zu Bewußtsein.“306 Im Anschluß

an Benjamin und die Frühromantik wird sich im Kapitel 4 zeigen, daß Kunsttheorie und Kunstkritik

ihren „Gegenständen“ nicht äußerlich bleiben müssen. Sie könnten ihre „regulative Idee“ darin finden,

im kritisierten Werk selbst am Werk zu sein, dessen immanente Reflexion aufzugreifen und über die

Grenzen des Werks hinaus fortzuführen. Ästhetik und Kritik rekonstruieren, indem sie die immanente

Poetik oder das „Konzept“307 eines Kunstwerks entfalten, die Welten, die uns dieses Kunstwerk

erschließt, die Sicht, die es eröffnet. Daraus und nicht aus einer intuitiven Einsicht in das Wesen der

Dinge ergibt sich die Wirklichkeitskompetenz der Ästhetik. Ästhetische Kritik schreibt nicht nur über

Kunstwerke, sondern schreibt gleichzeitig mit ihnen und in ihnen, ohne sie zu vergegenständlichen und

ohne selbst künstlerische Texte zu produzieren. Die ästhetische Interpretation „ist gezwungen, nicht

nur über das Wort, sondern auch mit dem Wort zu sprechen, um zu dessen [...] Sinn vorzudringen,

einem Sinn, der einzig dem dialogischen [...] Verstehen zugänglich ist.“308 Da „jedes vortreffliche Werk,

von welcher Art es auch sei, mehr weiß als es sagt, und mehr will als es weiß“ (KA2,140), muß der

Kritiker, so Friedrich Schlegel, „die Darstellung von neuem darstellen, das schon Gebildete noch

einmal bilden wollen; er wird das Werk ergänzen, verjüngen, neu gestalten“ (KA2,140). Für Novalis

gehört sogar „zur ächten Kritik [...] die Fähigkeit das zu kritisierende Produkt selbst hervorzubringen“

(N2,534). Diese „Hervorbringung“ besteht weder in einer einfachen Wiederholung des kritisierten

Kunstwerks noch in einer (nie möglichen) vollständigen Überführung seines Gehalts in

Begriffssprache. Kritik muß weder, wie Steiner meint, etwas im Vergleich zum Werk ontologisch

Minderwertiges bleiben, noch wie de Man glaubt, vom Werk ununterscheidbar sein. Kunstkritik ist

weder ein seinen Gegenstand konstitutiv verfehlendes, noch ein selbst künstlerisches, sondern ein

erschließendes Sprechen. „Der Kritiker nimmt“, so lautet Oscar Wildes berühmte Definition, „gegenüber

dem Kunstwerk, das er kritisiert, dieselbe Stellung ein wie der Künstler zur sichtbaren Welt der Formen

und Farben oder der unsichtbaren Welt der Leidenschaften und Ideen.“309 Ein Kunstwerk zu kritisieren

306 Martin Seel: Kunst, Wahrheit, Welterschließung. A.a.O: S. 68. 307 Zum Begriff des „Konzepts“ in der bildenden Kunst vgl. Arnold Gehlen: Zeit-Bilder. A.a.O. - Bei allen entscheidenden

Ereignissen der modernen Malerei, für Gehlen sind das der Kubismus, Klee und Kandinsky, „gehört die systematische theoretische Reflexion unmittelbar in den Prozeß der Bildentstehung hinein, sie ist in keinem Sinne sekundär und keine nachherige Zutat“ (S. 74). Dieses Sich-Selbst-Reflektieren des Malens im Malen definiert Gehlen als „peinture conceptu-elle“. Den Terminus übernimmt er von Daniel-Henry Kahnweiler, welcher ihn wiederum Guillaume Apollinaire zu-schreibt. Nach Gehlen soll „peinture conceptuelle eine Bildauffassung bedeuten [...], in die eine Überlegung eingegangen ist, welche erstens den Sinn der Malerei, ihren Daseinsgrund, gedanklich legitimiert und zweitens aus dieser bestimmten Konzeption heraus die bildeigenen Elementardaten definiert“ (S. 75). Die konzeptuelle Malerei reflektiert über ihren „Daseinssinn“ und über die Mittel, die ihr zur Realisierung desselben zur Verfügung stehen; Gehlen nennt sie die „kunsteigenen Ausdrucksmittel“ (S. 75).

308 Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Hg. v. Rainer Grübel. Übers. v. Rainer Grübel u. Sabine Reese. Frankfurt a.M. 1979. S. 238.

309 Oscar Wilde: Der Kritiker als Künstler. In: Ders.: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Hg. v. Norbert Kohl. Bd. 7. Essays II. Frankfurt a.M. 1982. S. 69-148. Hier: S. 97.

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bedeutet auch für Benedetto Croce, „es in sich zu reproduzieren.“310 Der Kritiker erschließt in zweiter

Potenz die „Erschließung der Welterschließung“311, die sich in Kunstwerken manifestiert. Umgekehrt

entfaltet ein Kunstwerk seine welterschließende Kraft erst in seinem eigenen Erschlossenwerden, in

einer aktiven Rezeption, die sich dem Nichtdiskursiven, Nichtidentischen oder Neuen, das sich im

spezifisch ästhetischen Moment des Kunstwerks ausdrückt, diskursiv nähert, ohne dieses spezifisch

Ästhetische einfach durch Begriffe zu ersetzen. Eine solche kritische Rezeption bedarf, um zu gelingen,

nicht unbedingt eines ästhetisch-theoretischen Fachwissens. Im Gegenteil: In einer von kontextuellem

Vorwissen freien Rezeption eines Kunstwerks liegt die Chance einer hohen Gestaltprägnanz. Im

Wissen um sozial- und mentalitätsgeschichtliche oder wahrnehmungspsychologische Hintergründe des

Impressionismus liegt die Gefahr, ein konkretes Bild als bloßen Ausdruck dieser Hintergründe

aufzufassen und damit in seiner Einmaligkeit zu verfehlen. Zu einer gestaltprägnanten

Kunstwahrnehmung gehört mehr noch als Kontextwissen die Fähigkeit, eine „Attitüde der künstlichen

Dummheit“312 einnehmen zu können, sich gegenüber jedem Farbfleck eines Gemäldes oder jedem

Wort eines Gedichts „dumm“ machen und nichts für selbstverständlich nehmen zu können. Eine

gelungene Kunstkritik methodisiert eine gestaltprägnante, nicht durch dem Werk heterogene

Begriffsraster verstellte Kunstwahrnehmung. Die Kontexte, in denen ein Kunstwerk steht, eröffnen

sich erst im Durchgang durch seinen „Text“. Dieser schafft sich seine eigenen Kontextbezüge. Nach

Peter Szondi wird nur die Betrachtungsweise einem Kunstwerk gerecht, „welche die Geschichte im

Kunstwerk, nicht aber die, die das Kunstwerk in der Geschichte zu sehen erlaubt.“313 Dieses Postulat

wird, wie wir sehen werden, von Spengler und Benjamin in vorbildlicher Weise erfüllt.

Ästhetik und Kritik verhalten sich zu ihren „Gegenständen“ (zumindest idealiter) verstehend wie zu

einem gleichberechtigten Gegenüber. Um diesem Anspruch gerecht werden zu können, müssen sie Teil

einer Hermeneutik sein, Spezifikationen von hermeneutischem Verstehen, welches sich zunächst nicht

spezifisch auf ästhetische Gegenstände bezieht. Daraus, daß „Verstehen“ ein allgemeines, den Men-

schen als solchen auszeichnendes Vermögen ist314, folgt nicht, wie es die Hermeneutik-Kritik behauptet,

daß Hermeneutik die besondere Verfaßtheit ästhetischer Gebilde konstitutiv verfehlen muß. „Kunst-

werke sind nicht von der Ästhetik als hermeneutische Objekte zu begreifen“, lautet Adornos bekanntes

Verdikt, „zu begreifen wäre, auf dem gegenwärtigen Stand, ihre Unbegreiflichkeit“ (ÄT,179). In diesem

310 Benedetto Croce: Ästhetik als Wissenschaft vom Ausdruck und allgemeine Sprachwissenschaft. Theorie und Geschichte.

Nach der 6. erw. ital. Aufl. übertr. v. Hans Feist u. Richard Peters. Tübingen 1930. S. 126. 311 Martin Seel: Kunst, Wahrheit, Welterschließung. A.a.O.: S. 53. 312 vgl. Ronald Hitzler: Die Attitüde der künstlichen Dummheit. Zum Verhältnis von Soziologie und Alltag. In: SOWI 15.

1986. S. 58. 313 Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis. In: Ders.: Hölderlin-Studien. Frankfurt a.M. 51989. S. 9-34. Hier: S. 22. 314 Zum „Universalitätsanspruch der Hermeneutik“ vgl. Heideggers Definition des menschlichen „Daseins“ als „Sein zu sich

selbst“, als sich verstehendes Selbstverhältnis, das den Menschen als Menschen ausmacht: „Das Dasein ist ein Seiendes, das nicht nur unter anderem Seienden vorkommt. Es ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet, daß es diesem Seien-den in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. [...] Diesem Seienden eignet, daß mit und durch sein Sein dieses ihm selbst erschlossen ist. Seinsverständnis ist selbst eine Seinsbestimmtheit des Daseins. Die ontische Auszeichnung des Daseins liegt darin, daß es ontologisch ist“. (Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1984. S. 12).

73

Sinne unterstellen Kritiker der Hermeneutik315, sie subsumiere das Nichtidentische, das sich im Werk

ausdrücke, unter Begriffe und reduziere dessen orginäre Vieldeutigkeit auf einen Sinn. „Prozesse des

Verstehens [...] immanentisieren notwendiger Weise jedes Außen und jedes heteron“316, schreibt Jochen

Hörisch, die Logik hermeneutischen Verstehens gänzlich mißverstehend. „Verstehen“ substituiert nicht

Fremdes durch Eigenes, sondern ergibt sich aus einem reziproken „role-taking“, aus einem Sich-selbst-

fremd-machen. Dieser Gedanke war schon den Romantikern geläufig: „Wir verstehen natürlich alles

Fremde nur durch Selbstfremdmachung - Selbstveränderung“ (N3,429) notiert sich Novalis in seinen „Mate-

rialien zur Enzyklopädistik“. Bei Gadamer heißt es ungefähr 180 Jahre später: „Verstehen ist ‘für je-

manden stehen’. [...] Wer versteht, muß anders verstehen, wenn er überhaupt verstehen will“317. Und im

gleichen Sinne schreibt Ricoeur:

„Ich würde eher sagen, daß der Leser sich selbst angesichts des Textes, angesichts der Welt des Werkes versteht. Sich selbst angesichts einer Sache, angesichts einer Welt zu verstehen, ist das Gegenteil von Selbstprojektion mitsamt den eigenen Ansichten und Vorurteilen; es bedeutet, durch das Werk und seine Welt, den Horizont des eigenen Selbstverständnisses zu erweitern.“318

Das Verstehen der Hermeneutik zeichnet sich durch einen „inneren Plural“319 aus. Wer versteht, ist be-

reit, das Eigene im Angesicht des Fremden einer Revision zu unterziehen, das Fremde in seiner

Fremdheit anzuerkennen. Hermeneutik, die Lehre vom Verstehen, ist per se nichtidentifizierend. Aus

diesem Grund eignet sie sich besonders gut als Ausgangspunkt für eine ästhetische Theorie, die es mit

irreduzibel Nichtidentischem und Neuem zu tun hat. Hermeneutik behandelt, wie es einer ihrer bedeu-

tendsten Vertreter in unserem Jahrhundert formuliert, Kunstwerke „als Individuen, nicht als Exempla-

re.“320

Auch die Dekonstruktivisten, die vorgeben, literarische Texte im Gegensatz zur Hermeneutik nicht auf

einen Sinn zu reduzieren, bedienen sich, wie wir gesehen haben, ihrer radikalen Hermeneutik-Kritik

zum Trotz unausgewiesener hermeneutischer Verfahren. Das dekonstruktivistische Unternehmen

besteht aus dem paradoxen Versuch, zu zeigen, wie Texte die Abwesenheit von Bedeutung bedeuten.

Die poststrukturalistische Philosophie der Kunst läßt sich generell als Mißverständnis des ästhetischen

Grundtheorems des Strukturalismus auffassen. Für Roman Jakobson, den bedeutendsten

strukturalistischen Ästhetiker, unterscheidet sich der ästhetische Zeichengebrauch von anderen Weisen

des Zeichengebrauchs durch seine Ausrichtung auf sich selbst: „Die Einstellung auf die BOTSCHAFT

als solche, die Ausrichtung auf die Botschaft um ihrer selbst willen, stellt die POETISCHE Funktion

315 Von der Hermeneutik kann im Grunde nicht gesprochen werden, da Hermeneutik per definitionem dazu genötigt ist,

auch sich selbst immer wieder neu zu verstehen. 316 Jochen Hörisch: Der Mittler und die „Wut des Verstehens“. In: Ernst Behler und Jochen Hörisch (Hg.): Die Aktualität

der Frühromantik. Paderborn 1987. S. 19-32. Hier: S. 25. 317 Hans-Georg Gadamer: Frühromantik, Hermeneutik, Dekonstruktivismus: In: Ernst Behler und Jochen Hörisch (Hg.):

Die Aktualität der Frühromantik. A.a.O.: S. 254. 318 Paul Ricoeur: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik. In: Anselm Haverkamp (Hg.): Theorie der Meta-

pher. Darmstadt 1983. S. 356-375. Hier: S. 372. 319 Willy Michel: Der „innere Plural“ in der Hermeneutik und Rollentheorie des Novalis. In: Ernst Behler und Jochen Hö-

risch (Hg.): Die Aktualität der Frühromantik. A.a.O.: S. 33. 320 Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis. A.a.O.: S. 21.

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der Sprache dar.“321Diese „Botschaft als solche“, auf die sich literarische Sprache richtet, darf nicht wie

im Poststrukturalismus mit einer „Materialität der Signifikanten“ oder einer abstrakten „Sprachlichkeit“

verwechselt werden. Jakobson geht es vielmehr um die Einstellung auf die Botschaft als Botschaft, d.h.,

um die Zeichen gerade in ihren mehrfachen Relation zu einem Zeichensystem, einer Welt, einem

Sender und einem Empfänger. Die poetische Sprache bezieht sich nicht auf sich selbst als auf eine

referenzlos-abstrakte Textualität, sondern auf sich als auf einen kommunikativen Akt. Die poetische

Sprache bricht ihre Weltbezüge nicht ab, sondern verdoppelt und verschiebt sie im Verlauf ihres

Selbstbezugs. Ästhetische Welterschließung geht immer einher mit einem Parallelismus, mit einem

Sich-Verdoppeln im Sich-auf-sich-selbst-Beziehen322. Die Gesamtheit selbstbezüglicher Strukturen läßt

sich am ehesten als „Stil“ eines Kunstwerks beschreiben. Der oft zu Unrecht mit „Vagheit“ und

„Irrationalität“ konnotierte Stil-Begriff feiert im Rahmen der analytischen Ästhetik eine Renaissance.

Die analytische Ästhetik formiert sich in den angelsächsischen Ländern zu Beginn der 50iger Jahre als

Versuch, die Frage nach dem Wesen der Kunst an die Frage nach den Geltungsbedingungen

ästhetischer Urteile zurückzubinden. Über diese erste Phase analytischer Ästhetik gehen Nelson

Goodman und Arthur C. Danto in einem entscheidenden Schritt hinaus. Sie interpretieren nicht mehr

unsere sprachlichen Äußerungen über Kunstwerke, sondern Kunstwerke selbst als sprachliche

Äußerungen.323 In seinen „Sprachen der Kunst“324 bestimmt Goodman den ästhetischen

Zeichengebrauch als eine bestimmte Form der Abweichung von einem (hypothetischen) idealen

Zeichengebrauch. Dieser sei durch maximale „Notationalität“ charakterisiert. Die Gestalt des idealen

Zeichens ist für Goodman „disjunkt“ und „artikuliert“, seine Semantik bestimmt er als „eindeutig“,

„disjunkt“ und „differenziert“325. Ästhetisch verwendete Zeichen wichen von diesem idealen

Zeichencharakter ab. Sie bezeichneten weniger eindeutig, gewönnen dafür aber „Dichte“ und „Fülle“.

Diese noch recht vage Annäherung an das Ästhetische wird von Danto weitergeführt und präzisiert.

Dantos kunstphilosophische Kernthese lautet, daß Kunstwerke „zusätzlich zu dem, daß sie über

irgendetwas sind, auch darüber sind, wie sie über dieses Etwas sind - , daß sie sozusagen Inhalte erster

und zweiter Ordnung haben.“326 Die Trennung dieser beiden Klassen von Inhalten ist nur heuristisch

möglich. „Metapher, Ausdruck und Stil“327, die drei Leitkategorien der Dantoschen Ästhetik, zeichnen

sich durch die Tatsache aus, daß die „Inhalte erster und zweiter Ordnung“ in ihnen in komplizierter

321 Roman Jakobson: Linguistik und Poetik. In: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971. Hg. v. Elmar Holenstein

und Tarcisius Schelbert. Frankfurt a.M. 21990.S. 83-121. Hier: S. 92. 322 Kein Kunstwerk erschöpft sich andererseits in seinem Selbstbezug. Jedes ist immer auch weltbezüglich, wie Danto sagt,

„über etwas“. Es kann durchaus auch Geltungsansprüche in bezug auf theoretische Wahrheit (so in einem Hi-storienroman oder -gemälde) oder moralische Richtigkeit (in einem Lehrstück von Brecht) erheben, darf von diesen Gel-tungsansprüchen aber nie, wenn es ein Kunstwerk bleiben will, dominiert werden.

323 Zu Goodman und Danto vgl. Franz Koppe: Kunst als entäußerte Weise, die Welt zu sehen. Zu Nelson Goodman und Arthur C. Danto in weitergehender Absicht. In: Ders. (Hg.): Perspektiven der Kunstphilosophie. A.a.O.: S. 81-103.

324 Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Ein Ansatz zu einer Symboltheorie. Übers. v. Jürgen Schlaeger. Frankfurt a.M. 1973.

325 a.a.O. Kap.IV. 326 Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. A.a.O.: S. 227. 327 a.a.O.: S. 252.

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Weise miteinander vermittelt sind. „Stil“ beschreibt, so ließe sich in Anknüpfung an Gedanken

Adornos formulieren, sowohl eine Identität als auch eine Differenz zwischen der Form und dem Inhalt

eines Kunstwerks: „Gegen die banausische Teilung der Kunst in Form und Inhalt ist auf deren Einheit

zu bestehen, gegen die sentimentalische Ansicht von ihrer Indifferenz im Kunstwerk darauf, daß ihre

Differenz in der Vermittlung zugleich überdauert.“ (ÄT,221/222)

Im Stil verdoppelt sich die Darstellung. „Es ist die Darbietungsform der Kunst, die Wahrnehmung des

Dargestellten durch die Wahrnehmung der Form der Darstellung zu leiten.“328 Diese interne

Verdoppelung führt nicht zu einer Auslöschung sondern zu einer Steigerung des semantischen Gehalts.

Das Kunstwerk verkörpert über seinen „einfachen“ Gehalt hinaus immer auch noch eine Weise, sich

zu diesem Gehalt zu verhalten329, es „präsentiert die Form, in der es seinen Inhalt präsentiert.“330 Jedes

Kunstwerk bildet sich mittels seines Stils in sich selbst ab. Statt vom „Stil“ ließe sich auch von der

„Bildlichkeit“ als Konstituens des Ästhetischen sprechen, die als eine rein interne Relation von

Kunstwerken aufzufassen wäre. Kunstwerke bilden nicht primär etwas in der Welt ab, sondern sich

selbst in einer internen Spiegelung. Die tropologische Ebene als die des Stils und der Bildlichkeit

verkörpert die immanente Poetologie des Werkes. Flaubert schreibt: „Jedes zu schaffende Werk hat

seine Poetik in sich, die eben gefunden werden muß.“331 Als Träger dieser immanenten Poetologie gibt

Flaubert den Stil an. Dieser mache die Verfahren des Künstlers transparent. Stilus bezeichnet in der

römischen Antike das Schreibgerät, mit dem auf Wachstafeln geschrieben wurde. Bereits im ersten

vorchristlichen Jahrhundert tritt stilus auch in der metonymischen Verwendung für die Verfaßtheit von

Texten auf, für die „Spur“, die das Schreibgerät im Text hinterlassen hat.332 Der Stil als Reflex und

Reflexion der „Gemachtheit“ bleibt spätestens den modernen Kunstwerken nicht äußerlich. Er kommt

nicht zum propositionalen Gehalt des Kunstwerks als Ornament hinzu, sondern wird selbst zu dessen

Gehalt. Für Benjamin „heißt »dichten« einen Stoff zur Auseinandersetzung mit sich selbst bringen

(GS3,29). Als Schauplatz und Produkt dieser Auseinandersetzung kann der Stil angesehen werden. In

der „stilistischen“ Reflexion auf ihre Verfahren sieht Flaubert die Aufgabe der modernen Kunst. Aus

seiner Sicht gibt es „keine schönen oder häßlichen Themen, und man könnte fast als Axiom aufstellen,

wenn man sich auf den Standpunkt der reinen Kunst stellt, daß es überhaupt keines gibt, daß der Stil

für sich allein eine absolute Art und Weise ist, die Dinge zu sehen.“333 Flaubert schwebt als

schriftstellerisches Ideal ein Roman vor, der ganz Stil sei:

328 Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur. A.a.O.: S. 148. 329 Für Fellmann zeichnen sich ästhetische (aber auch alle anderen) Bilder dadurch aus, daß sie nicht von „Zuständen“, son-

dern von „Zuständlichkeiten“ sprechen. Bilder, Geschichten und Stile gelten Fellmann als „Kategorien“ der Hermeneu-tik, an welchen sie der Zuständlichkeit des Bewußtseins habhaft zu werden vermag. Vgl. Ferdinand Fellmann: Symboli-scher Pragmatismus. A.a.O.: S. 109ff.

330 Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur. A.a.O.: S. 147. 331 Gustave Flaubert: Briefe. Hg.u.übers. v. Helmut Scheffel. Zürich 1977. S. 320. 332 Zur Geschichte des Stilbegriffs vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Schwindende Stabilität der Wirklichkeit. Eine Geschichte

des Stilbegriffs. In: Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kul-turwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt a.M. 1986. S. 726-788. Hier: S. 735.

333 Gustave Flaubert: Briefe. A.a.O.: S. 182.

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„Was mir schön erscheint und was ich machen möchte, ist ein Buch über nichts, ein Buch ohne äußere Bindung, das sich selbst durch die innere Kraft seines Stils trägt, so wie die Erde sich in der Luft hält, ohne gestützt zu werden, ein Buch, das fast kein Sujet hätte, oder bei dem das Sujet zumindest fast unsichtbar wäre, wenn das möglich ist.“334

Dieses Buch über nichts sei gleichzeitig ein Buch über alles, über eine Welt, eine „absolute“ d.h. unhin-

tergehbare „Art und Weise, die Dinge zu sehen“. Ein Stil mache sichtbar, was sonst nie gesehen wer-

den kann: eine Welt als Horizont und Inbegriff von Sichtbarkeit. Bergson greift Flauberts Gedanken

auf, wenn er schreibt:

„Der Stil ist keineswegs, wie manche glauben, ein Mittel der Verschönerung, ja er ist nicht einmal ein technisches Problem, er ist vielmehr - genau wie die Farbe für die Maler - eine Art des Sehens und Imaginierens, die Enthüllung des partikularen Universums, das jeder von uns sieht, und das die anderen nicht sehen. Das Vergnügen, welches uns ein Künstler schenkt, liegt darin, daß er uns ein weiteres Universum kennenlernen läßt.“335

Die ästhetische Sichtbarmachung durch Stile geht nicht soweit, daß Stile in einem schlecht idealisti-

schen Sinne Welten erschaffen. Erschlossen werden kann nur etwas, das schon vor seiner Erschließung

existiert, wenn es auch in seiner Erschließung erst aktualisiert wird. Die Heuristik des Stils bleibt auf

den regulativen Horizont einer natürlichen Welt verwiesen. Maurice Merleau-Ponty bezeichnet diese

natürliche Welt sehr treffend als „Stil der Stile“ und „Horizont aller Horizonte“, als die „meinen Erfah-

rungen im Untergrunde aller Brüche meines persönlichen und geschichtlichen Lebens gegebene und

nicht gewollte Einheit [...], deren Korrelat mir selbst die gegebene, allgemeine und vorpersönliche Exis-

tenz aller Sinnesfunktionen ist [...].“336 Nicht alles am Menschen ist, wie man vorschnell im Anschluß an

Buffons berühmtes Diktum „le style, c’est l’homme même“337 glauben könnte, Stil. Die Grenzen des

Stils liegen in der unhintergehbaren Leiblichkeit der menschlichen Existenz, der die unhintergehbare

Faktizität der natürlichen Welt entspricht. Stile sind wie Kunstwerke keine idealistisch zu denkenden

„ways of worldmaking“, um eine Formulierung Goodmans aufzugreifen338, sondern Instanzen einer

„Weltweisenwahrnehmung und Weltweisenartikulation. [...] Kunst erfindet Darstellungen von Sichtweisen der Welt in ihrer Bedeutung für das Dasein und Handeln in einer so erschlossenen Welt. Ihre gelungenen Werke erlauben es, Weisen der Welt- und Lebenserfahrung, die sonst im Rücken der Handelnden oder in ihrer sprachlosen Erinnerung verbleiben, wiederum als Gegenstände der Erfahrung zur Wahrnehmung zu bringen.“339

Jedes Kunstwerk bildet sich in sich selbst ab und verweist gerade in dieser Selbstbezüglichkeit auf eine

ihm äußere Welt. Dieses Äußere ist nicht identisch mit der uns im alltäglichen Umgang vertrauten Welt,

sondern eine im Kunstwerk als neu erfahrene Welt, ein „Nicht-Identisches“ (Adorno) oder ein „Vor-

schein“ (Bloch) im profanen Sinn, das sich am ehesten als „Neuheit“ beschreiben ließe. Das unendliche

Kontinuum von Sprachen und Bildern, das unsere sinnhaft erschlossene Welt bildet, wird von den

334 a.a.O.: S. 181. 335 Henri Bergson zit.n. Hans Ulrich Gumbrecht: Schwindende Stabilität der Wirklichkeit. Eine Geschichte des Stilbegriffs.

A.a.O.: S. 765. 336 Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966. S. 381. 337 zit.n. Lambert Wiesing: Stil statt Wahrheit. Kurt Schwitters und Ludwig Wittgenstein über ästhetische Lebensformen.

A.a.O.: S. 117. 338 vgl. Nelson Goodman: Ways of Worldmaking. Indianapolis 1978. 339 Martin Seel: Kunst, Wahrheit, Welterschließung. A.a.O.: S. 44.

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künstlerischen Sprachen und Bildern in immer wieder neuer Weise auf sich bezogen und in diesem

Selbstbezug verschoben. Im ästhetischen Bild überschreitet ein Sprach- oder Zeichensystem seine

Grenzen. Rainer Maria Rilke schreibt am 24.6.1907 an Clara Rilke: „Kunstdinge sind ja immer Ergeb-

nisse des In-Gefahr-gewesen-Seins, des in einer Erfahrung Bis-ans-Ende-gegangen-Seins, bis wo kein

Mensch mehr weiter kann.“340 Auf „dem Kulminationspunkt“ eines ästhetischen Bildes „ist immer ein

Exzeß“341. Indem sich Sprache im sprachlichen Bild von sich selbst distanziert, gelangt sie zu einer Welt

im neuen Licht. Darin liegt die per se politische Dimension jedes gelungenen Kunstwerks. „Kunst

heißt“ für Benjamin „die Wirklichkeit gegen den Strich bürsten.“ (GS3,154) Kunst „widerspricht un-

aufhörlich dem Faktum, anders wäre sie nicht.“342 Gerade dadurch, daß es sich in sich selbst zurück-

zieht, verhält sich das Kunstwerk gegenüber der Gesellschaft exorbitant und kritisch. Erst als autonome

wird Kunst, wie Adorno weiß, zur „fait social“ (ÄT,6). Diejenigen Werke, die sich einer expliziten Be-

zugnahme auf die gesellschaftliche Praxis verweigern, werden zur „gesellschaftlichen Antithesis zur Ge-

sellschaft“ (ÄT,19). Was sie der Gesellschaft entgegenhalten, ist die irreduzible Neuheit ästhetischer I-

magination. Aus dichterischer Sprache „laufen Wellen von Neuheit über die Oberfläche des Seins. Und

die Sprache trägt in sich die Dialektik des Geschlossenen und des Offenen. Durch die sachliche Bedeu-

tung schließt sie sich, durch den dichterischen Ausdruck öffnet sie sich.“343

Jedes Kunstwerk bildet eine Schwelle, einen Zwischenraum zwischen Alt und Neu. Im Werk

transzendiert sich eine alte Welt in eine neue. Das Kunstwerk gleicht einer Membran, die eine wirkliche

von einer möglichen Welt trennt und gleichzeitig zwischen beiden vermittelt. Es verkörpert die

stillgestellte Form eines Übergangs vom Wirklichen zum Möglichen. Diese immanente Rationalität der

Kunstwerke wird in der neueren Ästhetik als „metaphorisch“ im wörtlichen Sinne bestimmt: Kunst

überträgt Bekanntes in Unbekanntes und Unbekanntes in Bekanntes. Sie ist Statthalter eines Fremden,

das alles Vertraute zu revidieren nötigt. So formuliert Michail M. Bachtin:

„Die gewaltige Arbeit des Künstlers am Wort hat letztlich die Überwindung des Wortes zum Ziel, denn das ästhetische Objekt wächst an den Grenzen der Wörter, der Sprache als solcher. Diese Überwindung des Materials ist jedoch rein immanent; der Künstler befreit sich von der Sprache [...] nicht durch Negation, sondern kraft ihrer immanenten Vervollkommnung: der Künstler besiegt die Sprache gleichsam mit ihrer eigenen sprachlichen Waffe, zwingt die Sprache, indem er sie [...] vervollkommnet, dazu, über sich selbst hinauszuwachsen. [...] Das ästhetische Objekt ist [...] eine neue Seinsbildung.“344

Im Werk kommt eine neue Welt zu sich selbst, indem sich eine alte von sich distanziert. Diesem Um-

stand muß jede Interpretation von Kunstwerken Rechnung tragen. Gestaltprägnante Interpretation ist

ein Prozeß,

„bei dem die Erschließung neuer Seinsmodi - oder wenn man statt Heidegger lieber Wittgenstein nimmt: neuer Lebensformen - jemandem eine neue Fähigkeit des Selbstverständnisses verleiht. Wenn es irgendwo Entwurf und

340 Rainer Maria Rilke: Briefe 1904-1907. S. 336. Zit.n. Gaston Bachelard: Poetik des Raumes. A.a.O.: S. 219. 341 Gaston Bachelard: Poetik des Raumes. A.a.O.: S. 96. 342 Charles Baudelaire: Pierre Dupont. In: Ders.: Der Künstler und das moderne Leben. Essays, »Salons« intime Tagebücher.

Hg. v. Henry Schumann. Leipzig 1990. S. 105-116. Hier: S. 115.» 343 Gaston Bachelard: Poetik des Raumes. A.a.O.: S. 220. 344 Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. A.a.O.: S. 133.

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Projektion gibt, so ist es die Referenz des Werks, die der Entwurf einer Welt ist; folglich wird der Leser reicher in seiner Fähigkeit, sich selbst zu entwerfen, indem er vom Text selbst eine neue Seinsweise erhält.“345

Die Erschließung des Neuen steht ganz explizit im Mittelpunkt der Bemühungen der modernen Kunst

seit der Mitte des 19. Jhs Moderne Kunst ist ihrem eigenen Anspruch nach avantgardistische Kunst. In

Hinsicht auf Géricault und Delacroix, mit deren Werk die Moderne in der Malerei anhebt, schreibt

Oevermann:

„Mit der sozialen Institutionalisierung der Sezessionskunst, mit der die Professionalisierung künstlerischen Handelns, d.h. auch: die Normalisierung der Autonomie des Künstlers und der Autonomie des künstlerischen Textes, historisch ihren Abschluß findet, ist die den Inhalt des Avantgarde-Selbstverständnisses bildende unbedingte Innovationsverpflichtung des Künstlers zum Konstitutivum künstlerischen Handelns schlechthin geworden. Es macht nun keinen Sinn mehr, innerhalb der Künstlerschaft zwischen Avantgarde und Nicht-Avantgarde typologisch unterscheiden zu wollen; der Künstler ist jetzt per se, per definitionem gesellschaftliche Avantgarde“346.

In Rimbauds zweitem Lettre-Voyant heißt es programmatisch: „Fordern wir von den Dichtern Neues - I-

deen und Formen.“347 Der moderne Dichter werde wieder zum Seher, allerdings nicht zum Seher des

Transzendenten, sondern des Neuen, des bisher Unvordenklichen: „Ich sage, daß man ein Seher wer-

den, sich zum Seher machen muß. Der Dichter macht sich zum Seher durch eine langdauernde, unerhör-

te und wohlüberlegte Entgrenzung aller Sinne. [...] Denn er kommt an im Unbekannten!“348 Den dichteri-

schen „Entgrenzungen der Sinne“ oder „Synästhesien“, denen Baudelaire in seinem Gedicht „Cor-

respondances“ in unvergleichlicher Weise Ausdruck verliehen hat, entsprechen auf der Ebene der Dar-

stellung Metaphern. Metaphern oder sprachliche Bilder349 entgrenzen die Sprache und lassen sie im

Unbekannten ankommen. Damit verkörpern sie die Transformationslogik von Kunstwerken. Danto

spricht aus diesem Grunde von „Transfiguration und nicht [von] Transformation“350 als Eigenart des Äs-

thetischen. Kunstwerke können auch nach Ricoeur generell als eine Weise metaphorischen oder bildli-

chen Zeichengebrauchs bestimmt werden. In seinen Arbeiten zur Metapher verfolgt Ricoeur zwei Aus-

gangsfragen:

„Inwieweit dürfen wir die Metapher als ein Werk en miniature behandeln?“ Und: „Inwieweit kann man das hermeneutische Problem der Textinterpretation als die im großen Maßstab betriebene Erweiterung der Probleme ansehen, die sich in gedrängter Form bei der Erklärung einer lokalen Metapher innerhalb eines gegebenen Textes

345 Paul Ricoeur: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik. A.a.O.: S. 372. 346 Ulrich Oevermann: Papier zur Einführung in das Forschungsseminar „Dialektik der Aufklärung und gesellschaftliche

Rationalisierung. - Die Romantik in ihrer Rationalisierungsbedeutsamkeit innerhalb des Prozesses der Entfaltung der Moderne“. Typoskript. Frankfurt a.M. 1986. S. 17

347 Arthur Rimbaud: Gedichte. Französisch und Deutsch. Hg. v. Karlheinz Barck. Leipzig. 1991. S. 156. 348 a.a.O.: S. 155. 349 Das Substantiv „Metapher“ wird hier wie im folgenden in einem weiten Sinn verwendet. „Bilder“ und „Figuren“ können

als Synonyme von „Metaphern“ gelten. Eindeutige Definitionen der Metapher sind nicht möglich. Die Philosophie kann nicht „die Metapher selbst benennen, was darauf hinauslaufen würde, sie im stillen Horizont der Nicht-Metapher: im Sein - zu denken.“ (Jacques Derrida: Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Levinas’. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. A.a.O.: S. 121-235. Hier: S. 171). Auch für Ricoeur ist es „unmöglich, von der Metapher me-taphernfrei zu sprechen [...]. Einen metaphernfreien Ort, von dem aus man die Metapher und alle sonstigen Redefiguren wie ein dem Blick vorliegendes Spiel betrachten könnte, gibt es nicht“. (Paul Ricoeur: Die lebendige Metapher. A.a.O.: S. 23).

350 Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. A.a.O.: S. 256. (Hervorhebungen von Danto).

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stellen?“351

Beide Fragen beantwortet Ricoeur positiv. Auch für Danto heißt „das Kunstwerk verstehen [...], die

Metapher erfassen, die immer da ist.“352 Das Kunstwerk verstößt wie die Metapher gegen semantische

Gepflogenheiten. Die Metapher verändert das Gefüge der normalen paradigmatischen Beziehungen

eines Sprachsystems.353 Das Kunstwerk transfiguriert in ähnlicher Weise den Sinnhorizont einer gesam-

ten Lebenswelt.

Die Metapher bildet gleichsam einen „Reflexbogen“ auf dem Felde der Sprache. Sie verschiebt eine

prädikative Zuordnung354, so wie das Bewußtsein die Zuordnung einer Reaktion zu einem Reiz reflexiv

verschiebt. Die Metapher unterminiert die konventionelle Bedeutung, um im gleichen Atemzug an ihrer

Stelle eine neue zu konstituieren. Sie vollzieht eine „»impertinente« Prädikation, also eine solche, die die

gewöhnlichen Kriterien der Angemessenheit oder der Pertinenz in der Anwendung der Prädikate ver-

letzt.“355 Erst in der Erzeugung einer neuen paradigmatischen Relation,

„in einem Akt unerhörter Prädizierung, entsteht die lebendige Metapher wie ein Funke, der beim Zusammenstoß zweier bisher voneinander entfernter semantischer Felder aufblitzt. In diesem Sinne existiert die Metapher nur im Augenblick, in dem das Lesen dem Zusammenstoß der semantischen Felder neues Leben verleiht und die impertinente Prädikation erzeugt.“356

Metaphern und Kunstwerke schaffen Neues, indem sie Altes in bisher ungeahnte Konstellationen ver-

setzen. Sie „sagen, was mehr ist als das Seiende, einzig, indem sie zur Konstellation bringen, wie es ist.“

(ÄT,201) Es kann nie etwas absolut Neues entstehen, dieses wäre ein Mysterium. „Das Neue ist also im-

mer motiviert; komplementär dazu ist das Bekannte [...] zur Generierung des Neuen befähigt.“357 In

einem bisher unveröffentlichten Aufsatz bringt der Frankfurter Soziologe Ulrich Oevermann die Ent-

stehung des Neuen mit der Produktion „innerer Bilder“ in Verbindung, mentaler Korrelate sprachlicher

Metaphern, die er als eine Form von Krisenbewältigung interpretiert. Der Entstehung des Neuen geht

351 Paul Ricoeur: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik. A.a.O.: S. 358. 352 Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. A.a.O.: S. 262. 353 Auf die Zugehörigkeit der Metapher zur „paradigmatischen Achse“ des Sprachsystems (im Sinne Saussures) hat Jakobson

hingewiesen: „Als ich [...] zu Beginn der Fünfziger Jahre damit beschäftigt war, die linguistischen Syndrome der ein-zelnen Aphasieformen, das heißt der verschiedenen Arten der Sprachzerstörung aufgrund von Gehirnverletzungen zu bestimmen, entdeckte ich plötzlich, daß die beiden Haupttypen der Aphasie dadurch charakterisierbar sind, daß ent-weder die Ähnlichkeits- oder aber die Berührungsassoziationen in unterschiedlichem Maße gestört sind. Entweder ver-ringert sich die Fähigkeit zur metaphorischen Verknüpfung in der Sprache, oder die Fähigkeit zur metonymischen Ver-kettung ist gestört. Im Hinblick auf die beiden sprachlichen Grundoperationen wird im ersten Fall die Selektion (auf der paradigmatischen Achse), im zweiten Fall die Kombination (auf der syntagmatischen Achse) beschädigt.“ Roman Jakob-son und Krystyna Pomorska: Poesie und Grammatik. Dialoge. Frankfurt a.M. 1982. S. 114.

354 „Die Metapher gibt die Möglichkeit, die[..] vor dem begrifflichen Erfassen liegende Stufe zu erhaschen, weil im meta-phorischen Prozeß die Bewegung zur Gattung hin durch den Widerstand der Differenz aufgehalten und durch die rheto-rische Figur sozusagen abgefangen wird. Auf diese Art und Weise legt die Metapher die Dynamik bloß, die in der Kon-stitution der semantischen Felder am Werke ist, jene Dynamik, die Gadamer die fundamentale »Metaphorik« nennt und die mit der Genese des Begriffes durch die Ähnlichkeit zusammenfällt. Bevor die Einzeldinge durch die Regel einer logi-schen Klasse beherrscht werden, besteht zwischen ihnen eine Familienähnlichkeit. Die Metapher als Redefigur stellt den Prozeß, der verdeckt durch Verschmelzung der Differenzen in der Identität die semantischen Felder hervorbringt, offen durch einen Konflikt zwischen Identität und Differenz dar.“ Paul Ricoeur: Die lebendige Metapher. A.a.O.: S. 189.

355 a.a.O.: S. VI. 356 ebd. 357 Ulrich Oevermann: Genetischer Strukturalismus und das sozialwissenschaftliche Problem der Erklärung der Entstehung

des Neuen. Typoskript. Frankfurt a.M. Januar 1989. S. 37.

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für Oevermann immer eine Krise eingeschliffener Handlungs- und Deutungsmuster voraus. Erst in der

außeralltäglichen Situation einer Krise werde ein Individuum, eine soziale Praxis oder eine Kultur dazu

gezwungen, Selbstbilder zu aktualisieren und zu revidieren.

„[...] die konkrete Lebenspraxis erfährt sich als je konkrete Lebenspraxis erst in der Krise. Entsprechend ist die Erzeugung von Neuem, die Transformation, aus der der geschichtliche Prozeß besteht, an die Bedingung der Krise gebunden. Krise und Neuerung bedingen sich einander, u.a. deshalb, weil die Autonomie der Lebenspraxis sich erst in der Krise manifestiert und materialisiert, denn einer Krise kann die Lebenspraxis nicht entgehen: sie kann sich nicht nicht entscheiden, weil auch das strukturell eine Entscheidung wäre.“358

Die Bewältigung der Krise beginnt für Oevermann mit der Produktion eines „inneren Bildes“ im Sinne

des Meadschen „image“, eines „vor- und außersprachlichen, begrifflich und sprachlich unvermittelten

»Entwurfes« oder »Impulses«.“359 Die Lösung der Krise bestehe darin, diese ontologisch sehr fragilen

„inneren Bilder“ zu einem Prädikat zu stabilisieren, das wesentlich „neu“ sei:

„Diesen Prozeß der Stabilisierung des »inneren Bildes« zum Prädikat, also zum Begriff, müssen wir uns als spiralförmig sich steigernden kontinuierlichen Prozeß der Rekonstruktion vorstellen, in dem einerseits »Bilder« produziert, andererseits rekonstruiert werden, so daß als Endergebnis des jeweiligen Rekonstruktionsschrittes neue, artikulierte Bilder entstehen, bis eine »Äquilibration« der Akkommodation an die »brute facts« der Krise und eine Assimilation der davon zurückbehaltenen »Bilder« an die inneren Schemata gelungen ist, die einen sprachlich zu bezeichnenden Begriff ausmacht. [...] Das »erste« Bild ist schon als Keim im unmittelbaren Verhältnis zu den objektiven Bedingungen derKrisenkonstellation erhalten. Es ist das unmittelbare Bild von der Lebenspraxis in der Handlungskrise.“360

Ausgehend von diesen bildtheoretischen Überlegungen definiert Oevermann die Rationalität künstleri-

schen Handelns als „gesteigerte Form der Krisenbewältigung und [...] Erzeugung des Neuen.“361 Er

schlägt vor, „im gelungenen Kunstwerk eine Ausdrucksgestalt zu sehen, deren angemessene Dechiffrie-

rung die Produktion und die Lösung der Krise in einem bedeutet.“362 Die gestaltadäquate Rekonstrukti-

on der Bedeutungsstruktur von Kunstwerken werde somit zu einer eminent politischen Angelegenheit.

Sie setze die in Kunstwerken inszenierten Krisen frei. „Ein Kunstwerk, daß in der Rezeption nicht

zugleich in die Krise des Erhabenen führte, würde in der Tat nur noch hedonistisch genossen oder i-

deologisch kommentiert.“363 Auch Derrida und de Man weisen immer wieder auf die a priori politische

Dimension ästhetischer Gebilde und ästhetischer Kritik hin. Im Gegensatz zu Oevermann leugnen sie

generell jede Differenz zwischen den Sphären des Ästhetischen und des Politischen. Für Oevermann

sind Kunstwerke demgegenüber politisch, weil sie sich monadisch in sich abdichten. Kunst wird für

Adorno, dem sich Oevermann anschließt, „zum Gesellschaftlichen durch ihre Gegenposition zur Ge-

sellschaft, und jene Position bezieht sie erst als autonome.“ (ÄT,335)

Ästhetische Bildlichkeit erscheint in den hier konsultierten Theorien als „Geburtshelfer“ des Neuen,

weil sie Krisen etablierter Lebens- und Reflexionsformen inszeniert. Die Produktion des Neuen in der

bildlichen Imagination und in potenzierter Form in der Kunst vollzieht sich als eine Transfiguration des

358 a.a.O.: S. 47. 359 a.a.O.: S. 49. 360 a.a.O.: S. 49. 361 a.a.O.: S. 50. 362 a.a.O.: S. 51. 363 a.a.O.: S. 51.

81

Alten. Kunstwerke protokollieren eine Praxis, die noch nicht existiert, ein Mögliches, das sich vom

Wirklichen distanziert. Sie erobern einen zum Etablierten exorbitanten Standpunkt, der es ermöglicht,

unsere diskursiv nicht verfügbaren Weisen des In-der-Welt-Seins reflexiv zu erschließen: „Zwar sehen

wir die Welt so, wie wir sie sehen, aber wir sehen sie nicht als eine Weise, die Welt zu sehen: wir sehen

einfach die Welt. Unser Bewußtsein der Welt ist nicht Teil von dem, dessen wir uns bewußt sind.“364

Nur Kunstwerke eröffnen uns diese Möglichkeit, unsere Weisen, die Welt zu sehen, zu erschließen.

Diese Welterschließung in zweiter Potenz bezieht sich bei Ricoeur, Danto und Seel auf unsere konkrete

Lebenswelt und nicht wie bei Heidegger auf eine abstrakte „Welthaftigkeit der Welt“ jenseits unserer

konkreten Lebenswelten.

Nicht nur jedes Verstehen von Kunstwerken, sondern auch diese selbst lassen sich als eine Form

hermeneutischer Welterschließung begreifen. In einem nichtidealistischen Sinne wird „Welt“ durch

Kunst erschlossen. Das Werk „funktioniert“ nach der Art eines sprachlichen Bildes. Die sowohl de- als

auch konstruktive sowie gleichzeitig erschließende Logik sprachlicher Bilder wird von Blumenberg am

Beispiel der Metapher „pratum ridet“ vorgeführt:

„Was in den Eigenschaften einer Wiese unter objektivem Aspekt nicht vorkommt, wird von der Metapher festgehalten. Sie leistet dies, indem sie die Wiese dem Inventar einer menschlichen Lebenswelt zuweist, in der nicht nur Worte und Zeichen, sondern die Sachen selbst ‘Bedeutungen’ haben.“365

Das Sinn-Inventar der Lebenswelt wird durch die „Wiese“ nicht nur ergänzt, sondern auch bedroht:

„Die Metapher [...] ist zunächst [...] ‘Widerstimmigkeit’. Diese wäre tödlich für das seiner Identitätssor-

ge anheimgegebene Bewußtsein.“366 Auch für Ricoeur ist die Transformationslogik der Metapher zu-

nächst widerstimmig und mit „dem vergleichbar, was Gilbert Ryle einen category mistake, einen Katego-

rienfehler nennt, der darin besteht, daß »Tatsachen, die zu einer bestimmten Kategorie gehören, in ei-

ner zu einer anderen Kategorie gehörigen Ausdrucksweise« dargestellt werden.“367 Metapher das Frem-

de gleichzeitig sich an. Anstatt das eine unter das andere zu subsumieren, erweist sich die Metapher als

eine Synthesis, die beide Relata transformiert. Sie „hat ihren Platz genau da, wo Sinn im Un-sinn ent-

steht“368 und vermittelt zwischen Identität und Differenz, ohne den Prozeß dieser Vermittlung jemals

stillzustellen. Die Metapher

„ist nicht die Abweichung selbst, sondern die Abweichungsreduzierung. Eine Abweichung gibt es nur, wenn man die Wörter in ihrem buchstäblichen Sinne nimmt. Die Metapher ist das Verfahren, durch das der Sprecher die Abweichung reduziert, indem er den Sinn eines Wortes verändert. Wie es die rhetorische Tradition lehrt, ist die Metapher durchaus ein Tropus, also eine Veränderung des Wortsinnes, doch die Sinnveränderung ist die Antwort der Rede auf die Destruktionsdrohung der semantischen Impertinenz. Und diese Antwort besteht ihrerseits in der Erzeugung einer weiteren Abweichung, nämlich innerhalb des lexikalischen Codes selbst.“369

364 Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. A.a.O.: S. 249. 365 Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt a.M. 1979. S. 79. 366 a.a.O.: S. 78. 367 Paul Ricoeur: Die lebendige Metapher. A.a.O.: S. 187. 368 Jacques Lacan: Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud. In: Anselm Haverkamp

(Hg.): Theorie der Metapher. Darmstadt 1983. S. 175-215. Hier: S. 192. 369 Paul Ricoeur: Die lebendige Metapher. A.a.O.: S. 87.

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Der „Kategorienfehler“, den die Metapher begeht, kann ein Sprachspiel oder eine Lebensform nie zer-

stören wie Derrida und de Man glauben, sondern nur erweitern. Die vermeindliche Bedrohung einer

Sprache durch die Metapher entpuppt sich als eine Erweiterung ihrer Ausdrucksmöglichkeiten: „Es gibt

[...] keine Sprache, die dem, was den Geist zunächst zerreißt, nicht einen Sinn verliehe. Manchmal ist

ein ganzes Gedicht notwendig, damit der Geist einen Sinn erfindet oder findet; immer jedoch verbindet

der Geist.“370 Wie der Stil erscheint auch die Metapher als „eine Redestrategie, die zugleich die schöpfe-

rische Kraft der Sprache und das heuristische Vermögen, das die Fiktion entfaltet, bewahrt und entwi-

ckelt.“371 Benjamin faßt diese Wirkung der bildlichen Kraft poetischer Sprache in die Begriffe „Gestal-

tung“, „Entstaltung“ und „Umgestaltung“. In bezug auf das Werk Jean Pauls schreibt er:

„Nicht die Gestalt, der Wandel ist’s, dessen Geschöpfe unerschöpflich sich der Dichtung aus diesem Fundus [dem Werk Jean Pauls] zur Verfügung stellen. Sein Wesen ist das der Phantasie, die die Gestalt der Umgestaltung zuführt. Dies nicht ohne sie dabei zu entstalten. Entstaltendes Geschehen ist der Stoff Jean Paulscher Dichtung. Es ist die Stelle, an der sie mit der Traumwelt sich berührt.“ (GS3,416)

Den Ort der Ent- und Umgestaltung in den Romanen Jean Pauls bezeichnet Benjamin nicht als „Stil“

oder „Metapher“, sondern als den „wolkigen Kern“ (GS3,416) seiner Dichtungen. Dieser „wolkige

Kern“ ist der auch mit den Begriffen „Stil“ und „Bild“ nie vollständig benennbare Indifferenzpunkt des

Ästhetischen.

Auf Grund dieser Unbenennbarkeit faßte die philosophische Tradition schon in ihren Anfängen die

Strukturlogik des Metaphorischen und der Einbildungskraft selbst in ein sprachliches Bild, in das Bild

des Feuers.

„Es mag die erste absolute Metapher der Philosophie gewesen sein, daß Heraklit372 das Denken als Feuer beschrieb, nicht nur weil Feuer das göttliche Element für ihn war, sondern weil es die Eigenschaft hat, ständig Fremdes aufzunehmen und in sich zu verwandeln.“373

Da es in ausgezeichneter Weise die Funktionsweise unserer Einbildungskraft zu symbolisieren vermag,

ist das Feuer für Bachelard „eher eine soziale als eine natürliche Wesenheit“374. Die Einbildungskraft „arbei-

tet an ihrem äußersten Ende wie ein Flamme“375. (Sprachliche) Bilder der Flamme führen umgekehrt in

die „Zone der Metapher der Metapher“, wo der Traum „der Versuch eines Experiments ist und in der

die Träumerei schon umgewandelte Formen noch ein zweites Mal umwandelt.“376 Im Feuer sieht Ba-

chelard ein „Lieblingselement der Träumerei“377, denn durch das Feuer „ändert sich alles.“378 In der My-

thologie und Literatur aller Völker erscheine das Bild des Feuers an zentralen Stellen. Im alttestamenta-

rischen Gleichnis vom brennenden Dornbusch versinnbildlicht es den Geist Gottes. Im Prometheus-

370 a.a.O.: S. 142. 371 a.a.O.: S. 10. 372 Eine „Poetik des Feuers“ wird uns in Spenglers Heraklit-Dissertation im Kapitel 3.1 begegnen. 373 Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. A.a.O.: S. 90. 374 Gaston Bachelard: Psychoanalyse des Feuers. Aus dem Französischen von Simon Werle. Frankfurt a.M. 1990. S. 17. 375 a.a.O.: S. 143/144. 376 a.a.O.: S. 143/144. 377 a.a.O.: S. 28. 378 a.a.O.: S. 77.

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Mythos379 überbringt Prometheus den Menschen das von den Göttern gestohlene Feuer, ein Attribut

der Göttlichkeit, welches die Menschen erst zu Menschen macht. Das Feuer ist

„ein einzigartiges Phänomen, das alles zu erklären vermag. Wenn alles, was sich langsam ändert, sich durch das Leben erklären läßt, so läßt sich alles, was sich schnell ändert, durch das Feuer erklären. Das Feuer ist überlebendig. [...] Unter allen Phänomenen ist das Feuer wahrhaft das einzige, dem sich mit der gleichen Bestimmtheit die beiden entgegengesetzten Werte zusprechen lassen: das Gute und das Böse. Es erstrahlt im Paradies. Es brennt in der Hölle. Es ist Labsal und Qual. Es ist das Feuer des Herdes und der Brand der Apokalypse. [...] Es kann zu sich selbst in Widerspruch stehen: es ist also ein Prinzip universeller Deutungsmöglichkeit.“380

Schon in der Romantik gilt das Feuer als Symbol des Lebens. Das Leben ist wie das Feuer ein Trans-

formations- oder Transfigurationsprozeß. Organisches Leben schiebt den Prozeß der Verbrennung in

Form von Atmung auf. „Der Act des sich selbst Überspringens ist“ für Novalis „überall der höchste -

der Urpunct - die Genesis des Lebens. So ist die Flamme nichts als ein solcher Act“ (N2,561). Darin

gleicht ihr das Kunstwerk. Die Flamme kann nicht nur als Metapher für die Metapher, sondern auch als

Metapher für das Kunstwerk gelten. Im Kunstwerk konstituiert sich ein Neues, ein Nichtidentisches,

aber nicht als Transmundanes, sondern als Transformation des Mundus, als Ausbrechen einer Trans-

zendenz aus der Immanenz, einer neuen Bedeutung aus dem Horizont des vorinterpretierten Seienden,

als „Genesis des Lebens“. Kunst legt Feuer an die Fundamente unserer Welt. „Also ist der Poet wahr-

haftig ein Dieb des Feuers“381, Nachfolger des Prometheus, so Rimbaud.

Das Kunstwerk, das Fremdes und Eigenes ineinander transfiguriert, läßt sich als Flamme beschreiben.

Feuer leuchtet oder scheint. Sein Licht macht Gegenstände im Dunkeln sichtbar. Nicht umsonst kleidet

sich die Metapher des Schönen in Bilder des Scheins. Der „schöne Schein“ der ästhetischen Tradition

kann als der „energetische Überschuß“ der metaphorischen Bedeutungstransformation interpretiert

werden. Für diese Lesart des „schönen Scheins“ läßt sich das Zentralstück der Benjaminschen

Kunstphilosophie, die Theorie der „Aura“, starkmachen. Als „Aura“382 definiert Benjamin in seinem

Kunstwerk-Aufsatz, dessen erste Fassung auf das Jahr 1935 zurückgeht, die „einmalige Erscheinung

einer Ferne, so nah sie sein mag“ (GS1,440). Das erste Beispiel, das Benjamin für die Erfahrung der

„Aura“ anführt, stammt aus dem Bereich des Naturschönen: „An einem Sommernachmittag ruhend

einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft

379 „In der mythologischen Figur des unglückseligen Prometheus ist beides zusammengefaßt: der zivilisatorische Segen und

der schreckliche Fluch. In der Tragödie des Aischylos verschafft der Titanensproß Prometheus den Sterblichen das Feu-er allerdings gegen den Willen der Götter. Zur Strafe wird er ans Ende der Welt geschafft, an einen Felsen geschmiedet und sich selbst überlassen - beziehungsweise einem Adler, der maliziöserweise den Wehrlosen täglich aufsucht, um des-sen Leber zu zerfleischen. Der geplagte Prometheus hat Zeit zu einem langen Rechenschaftsbericht in dem er erzählt, wie er den Menschen das vormals elende Leben erleichterte, indem er sie allerlei lehrte: Zeitrechnung, Schiffahrt, Acker-bau und Schrift. Denn sein Feuer ist das Feuer des Geistes, der Zivilisation.“ Ralf Hoppe: Feuer. In: Zeit-Magazin. Nr. 23. 29.5.1992. S. 39.

380 Gaston Bachelard: Psychoanalyse des Feuers. A.a.O.: S. 13. 381 Arthur Rimbaud: Gedichte. A.a.O.: S. 155/156. 382 Auch in Spenglers Philosophie findet der Begriff der „Aura“ Verwendung. „Die Seele (Flamme und Funke sind ihr Sym-

bol) strahlt. Das ist Aura. Man spricht von Strahlung, strahlender Persönlichkeit, strahlender Seele.“ (Ufr.,168)

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- das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.“ (GS1,440)383 Eine „Aura“ kommt nicht nur

dem in diesem Satz Dargestellten, sondern auch diesem Satz als Darstellung selbst zu. Erst die

sprachliche Darstellung vereint das Ferne, den Berg, mit etwas Nahem, dem Zweig zu einem

„auratischen“ Bild. Die Vergegenwärtigung eines Fernen in der Nähe (oder eines Fernen als Nahem)

leistet auf dem Feld der Sprache die Metapher. Sie überträgt etwas Unvertrautes, Fernes auf etwas

Vertrautes, Nahes. Dieser Übertragung entspringt der ästhetische Überschuß, den Benjamin als „Aura“

beschreibt. Er selbst parallelisiert die Erfahrung der Aura mit dem sprachlichen Bild des

Anthropomorphismus:

„Die Erfahrung der Aura beruht [...] auf der Übertragung einer in der menschlichen Gesellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebten oder der Natur zum Menschen. Der Angesehene oder angesehen sich Glaubende schlägt den Blick auf. Die Aura einer Erscheinung erfahren heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.“ (GSI,646)

Erscheint die „Aura“ im ersten Beispielsatz weitgehend als Produkt der kontemplativen Erfahrung eines

Zweigs oder Gebirgszugs, kommt hier zum Aspekt der Kontemplation derjenige der Reziprozität hinzu.

Mit Worten, die selbst „den Blick aufschlagen“, hat Rilke diesen Aspekt ästhetischer Erfahrung gestal-

tet: „denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht“384, heißt es im „Archaïschen Torso Apollos“. Der Au-

ra liegt eine metaphorische Inversion zwischen Vertrautem und Unvertrautem oder zwischen Mensch-

lichem und Natürlichem zugrunde. Diese Inversion entspricht en miniature der Logik mythischen Den-

kens. Auf Affinitäten zwischen Mythos und Metapher hat schon Vico hingewiesen, für den „jede [...]

Metapher zu einem kleinen Mythos“385 wird. Umgekehrt zeichnet sich die Welt des Mythos dadurch

aus, das in ihr alles für alles andere zur Metapher werden kann. Die Frage nach dem Verhältnis vom

Mythos zur Kunst wird uns im Rahmen der Diskussion der Benjaminschen Ästhetik an entscheidender

Stelle wiederbegegnen.386

Die auratische Erscheinung eines Fernen im Nahen bringt Benjamin auch mit der Erfahrung des

Neuen zusammen. Nähe und Ferne vereinigten sich im „frühesten Bild“, das sich ein Betrachter von

383 An anderer Stelle bemüht sich Benjamin darum, seine „Aura“ vom „geleckten spiritualistischen Strahlenzauber“

(GS6,588) abzuheben, „als den die vulgären mystischen Bücher sie [...] beschreiben“ (GS6,588) und gibt Gemälde van Goghs als privilegierte Beispiele für die Erfahrung der „Aura“ an: „Nichts gibt vielleicht von der echten Aura einen so richtigen Begriff wie die späten Bilder van Gogh’s, wo an allen Dingen - so könnte man diese Bilder beschreiben - die Aura mit gemalt ist.“ (GS6,588) Auch Heidegger interpretiert an prominenter Stelle ein Bild van Goghs, um seine These vom Wesen der Kunst als Spiel zwischen „Verbergung“ und „Entbergung“ zu „bebildern“*. Die „fort/da“-Struktur** dieses Spiels ähnelt dem Ineinander von Ferne und Nähe in der Benjaminschen Bestimmung der „Aura“. * Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks. A.a.O.: S. 27f. ** Zum „fort/da“ in Heideggers Kunstphilosophie vgl. Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei. Übers. v. Michael Wetzel. Wien 1992. S. 414f.

384 Rainer Maria Rilke: Archaïscher Torso Apollos. In: Werke Bd.I-2. Gedicht-Zyklen. Frankfurt a.M. 31984. S. 313. 385 Giovanni Battista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker. Übers. v. Vittorio

Hösle u. Christoph Jermann. Hamburg 1990. Teilband 2. S. 191. 386 In neuerer Zeit ist dieses Verhältnis von Jakobson analysiert worden: „Etwas vereinfacht läßt sich das Verhältnis von

Dichtung und Mythos folgendermaßen resümieren: Es handelt sich um zwei eng miteinander verbundene, aber gegen-einander wirkende Elementarkräfte. Ihr gegensätzliches Verhältnis äußert sich darin, daß die Dichtung auf Variation ge-richtet ist, während der Mythos nach Invarianz strebt.“ Roman Jakobson und Krystyna Pomorska: Poesie und Gramma-tik. Dialoge. Frankfurt a.M. 1982. S. 131. Dieser auch Benjamin geläufige Gedanke wird sich als Schlüssel für das Verständnis seiner gesamten Philosophie erweisen!

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einer irreduzibel neuen, noch nicht durch „Gewohnheit“ bewältigten Situation mache, zu einer

„unvergleichlichen“ und „unwiederbringlichen“ Erfahrung:

„Was den allerersten Anblick eines Dorfes, einer Stadt in der Landschaft so unvergleichlich und so unwiederbringlich macht, ist, daß in ihm die Ferne in der strengsten Bindung an die Nähe mitschwingt. Noch hat Gewohnheit ihr Werk nicht getan. Beginnen wir erst einmal uns zurechtzufinden, so ist die Landschaft mit einem Schlage verschwunden wie die Fassade eines Hauses wenn wir es betreten. Noch hat diese kein Übergewicht durch die stete, zur Gewohnheit gewordene Durchforschung erhalten. Haben wir einmal begonnen, im Ort uns zurechtzufinden, so kann jenes früheste Bild sich nie wieder herstellen.“ (GS4,119\120)

Das „früheste Bild“ ist hier gleichzeitig ein „Bild der Frühe“, eine „Idylle“, welche etymologisch auf

„eidyllion“ zurückgeht, was „kleines Bildchen“ bedeutet. Bereits Herder verlegte den Begriff des „Idylli-

schen“, der traditionellerweise zur Bezeichnung eines Frühstadiums der Natur (Frühling), der Mensch-

heit (Schäferleben) oder des einzelnen Menschen (Kindheit) dient, ins Innere der menschlichen Einbil-

dungskraft. Die Idylle im Sinne Herders schildert „ein geistiges Arkadien, ein Paradies unsrer Hoffnun-

gen und Wünsche [...], das in unserem Herzen wohnt [...]. Es ist ein Land, das nie war, schwerlich auch

je sein wird, in welchem aber [...] unsre dichterische Einbildung und Empfindung lebt.“387 Die Einbil-

dungskraft schafft neue Bilder so wie umgekehrt die Konfrontation mit Neuem die Einbildungskraft auf

den Plan ruft.

Benjamins Beschreibung der Aura als Erscheinen einer Ferne in der Nähe entspricht strukturlogisch

der oben zitierten Blumenbergschen Definition der Metapher, die ein Nichtidentisches oder

Natürliches „dem Inventar einer menschlichen Lebenswelt zuweist“388. Der von Benjamin als Aura

aufgefaßte „schöne Schein“ resultiert aus einer anthropomorphisierenden oder metaphorischen

Übertragung. Eine so verstandene Schönheit, die an Prozesse der Bedeutungsbildung zurückgebunden

wäre, könnte in Begriffen Kants nur noch als „anhängende Schönheit“ (KdU,B,49) gerettet werden,

wäre dafür aber weniger abstrakt als der formalistische Schönheitsbegriff Kants, dem Adorno einen

„kastrierten Hedonismus“ (ÄT,25) vorwirft.

Das Bild der „Flamme“ als Symbol des Kunstwerks findet sich in Benjamins Aufsatz über „Goethes

Wahlverwandtschaften“ aus dem Jahre 1922 an einer Stelle, an der er sein Selbstverständnis als Kritiker

artikuliert. Dort heißt es:

„Will man, um eines Gleichnisses willen, das wachsende389 Werk als den flammenden Scheiterhaufen ansehn, so steht davor der Kommentator wie der Chemiker, der Kritiker gleicht dem Alchimisten. Wo jenem Holz und Asche allein die Gegenstände seiner Analyse bleiben, bewahrt für diesen nur die Flamme selbst ein Rätsel: das

387 Johann Gottfried Herder: Idyll. In: Sämtliche Werke Bd. XXIII. Hg. v. Bernhard Suphan. Zweite reprografische Nach-

druckauflage der Ausgabe Berlin 1879. Hildesheim/New York 1967. S. 298-306. Hier: S. 301/302. 388 Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. A.a.O.: S. 79. 389 Benjamin meint an dieser Stelle mit „Wachsen“ das Reifen der Werke im Verlauf ihrer Rezeptionsgeschichte. In dieser

träten der „Sachgehalt“ und der „Wahrheitsgehalt“ eines Werkes immer weiter auseinander. Der „Sachgehalt“ werde durch die historische Distanz verfremdet, sterbe ab und setzte so den „Wahrheitsgehalt“, der für Zeitgenossen des Wer-kes noch ununterscheidbar an den „Sachgehalt“ gebunden sei, frei. „In diesem Sinne bereitet die Geschichte der Werke ihre Kritik vor und daher vermehrt die historische Distanz deren Gewalt“ (GS1,125/126). Benjamin nimmt an dieser Stelle einen dezidiert rezeptionsästhetischen Standpunkt ein.

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des Lebendigen.“ (GS1,126)390

Im Bild der Flamme erscheint das Kunstwerk als Prozeß der Transformation, als Prozeß wechselseiti-

ger, reflexiver Übersetzung des Eigenen in das Fremde und des Fremden in das Eigene. Diesem refle-

xiven Prozeß hat sich die Kunstkritik, so Benjamin, anzubilden. Sie hat ihn zu potenzieren und über die

Grenzen des Werkes hinauszutreiben. Der Kritiker analysiert nicht das „Holz“, das verbrennt, den

propositionalen Gehalt des Kunstwerks, sondern den Prozeß des Verbrennens selbst, die Transfigura-

tionsleistung.

Das Bild des Kunstwerks als Flamme eröffnet den Blick auf die „pragmatische“ oder

„anthropologische“ Dimension ästhetischer Erfahrung. Kunsterfahrung bietet die einmalige Chance,

im interpretativen Nachvollzug der erfindenden Erschließung einer Welt sich selbst entäußernd zu

erfahren und im Vollzug dieser Erfahrung zu verändern. In jedem großen Kunstwerk verbirgt sich ein

Appell, der nur in einem Kunstwerk ausgesprochen werden konnte: „Du mußt Dein Leben ändern.“391

Die Rezeption eines Kunstwerks entspricht in säkularisierter Gestalt der Erfahrung des Ritus. Riten

lassen sich als pragmatisch-anthropologisches Pendant zu Kunstwerken interpretieren. Als

Grundrhythmus archaischer Initiationsriten hat Walter Burkert

„eine Dreiheit festgestellt: Trennung von der bisherigen Lebensgemeinschaft, Leben in der Absonderung - en marge -, Rückgliederung in die neue Gemeinschaft. [...] Der Übergang in ein neues Leben ist fast überall in einer überaus wirkungsmächtigen Symbolik gestaltet: Tod und Wiedergeburt.“392

Im Ritus und in der Kunstrezeption entäußert sich ein Individuum, um gewandelt zu sich, zu einem

anderen Ich, zurückzukehren. „Alle Poësie“, schreibt Novalis, „unterbricht den gewöhnlichen Zustand

- das gemeine Leben [...], um uns zu erneuern.“ (N2,568) Im Ritus und in der Kunsterfahrung gehen wir

durch ein Feuer, das uns vom Alten reinigt. In diesem Feuer „ist der Tod nicht der Tod.“393 Die „Zer-

störung“ durch das Feuer des Ritus und der Kunst bedeutet „mehr als eine Veränderung, sie wird zur

Erneuerung“394. Der (symbolische) Tod wird zu einer Bedingung des Lebens. Von dieser Einsicht legt

Goethes Gedicht „Selige Sehnsucht“ Zeugnis ab:

„Sagt es niemand, nur den Weisen, Weil die Menge gleich verhöhnet, Das Lebend’ge will ich preisen Das nach Flammentod sich sehnet. [...] Und solang Du das nicht hast Dieses: stirb und werde Bist Du nur ein trüber Gast

390 Benjamin entlehnt diese Metaphorik von Croce. Dieser unterscheidet ästhetische Kritik von historischer Exegese: „die

Exegese liefert dem Geist jene Voraussetzungen an historischen Kenntnissen, die er nötig hat als das Holz, das im Feuer der Phantasie verbrannt werden muß.“ Benedetto Croce: Grundriß der Ästhetik. A.a.O.: S. 73.

391 Rainer Maria Rilke: Archaïscher Torso Apollos. In: Werke Bd.I-2. Gedicht-Zyklen. Frankfurt a.M. 31984. S. 313. 392 Walter Burkert: Wilder Ursprung. Opferritual und Mythos bei den Griechen. Berlin 1990. S. 48. 393 Gaston Bachelard: Psychoanalyse des Feuers. A.a.O.: S. 27. 394 a.a.O.: S. 25.

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Auf der dunklen Erde.“ (WA,I,6,28)

Neuere Untersuchungen zur Entstehung der Kunst verweisen auf eine enge Nachbarschaft zwischen

Mythos und Kunst einerseits sowie Riten andererseits. Schon vor einem Jahrhundert versuchten Mit-

glieder der »Cambridge school of anthropology« so W. Robertson Smith, Jane Ellen Harrison und Ja-

mes George Frazer Mythen genealogisch auf Riten zurückzuführen. Heute wird diese Tradition vom

Altphilologen Walter Burkert fortgesetzt und auf Kunstwerke ausgedehnt. In seinen Aufsätzen ver-

sucht Burkert, die Entstehung der griechischen Tragödie aus rituellen Vollzügen abzuleiten, denen wie-

derum Mythen zugrunde liegen sollen. Für Burkert gibt es „Übereinstimmungen zwischen Ritual und

Mythos, die über gelegentliche Berührungen oder sekundäre Überlagerungen hinausgehen.“395 Mythen

bilden für Burkert „symbolische“ oder narrative Gegenstücke zu Riten und diese wiederum „pragmati-

sche“ Entsprechungen zu Mythen:

„Die Peripetien des Mythos spiegeln rituelle Akte wieder. [...] Das religiöse Ritual ist [...] in der menschlichen Gesellschaft in ungebrochener Folge übermittelt worden. Durch seine Wichtigkeit im Zusammenleben hat es nicht nur Erzählungen angeregt, sondern eine Art »Behälter« geliefert, der die Stabilität, die festen Strukturen der mythischen Tradition garantiert. Um Mythen zu verstehen, ist darum das Ritual ein nicht zu unterschätzender Faktor. [...] Noch wichtiger als die Bedeutung des Rituals fürs Verständnis des Mythos ist die Bedeutung des Mythos für die Rekonstruktion und Interpretation des Rituals und damit der Religionswissenschaft überhaupt.“396

Michael Neumann hat unlängst gezeigt, wie sich die Pragmatik von Initiationsriten im klassischen

Bildungsroman der Neuzeit, so in Goethes „Wilhelm Meister“ und Kellers „Grünem Heinrich“,

semantisch gespiegelt findet.397 Auch im Bildungsroman zieht ein Held aus in die Ferne, ins Fremde,

um am Ende geläutert wieder an seinen Ausgangsort zurückzukommen. Die geometrische Figur, mit

der die Entwicklung des Romans verglichen werden könnte, gleicht weniger einem Kreis als einer

Spirale. Die Rückkehr zu sich selbst ist immer auch eine Ankunft in einem anderen Selbst. Das im

Bildungsroman verkörperte Geschehen wiederholt die Rezeptionsbedingungen des Romans. Auch der

lesende Nachvollzug des Textes bedeutet für den Leser eine Entäußerung, die ihn dazu nötigt, sein

Selbst- und Weltbild zu revidieren.

Der Versuch, nach den Bedingungen der Möglichkeit des diskursiven Schreibens über Kunst und

konkrete Kunstwerke zu fragen, soll im folgenden in Auseinandersetzung mit zwei Gruppen von

Texten erfolgen, die sich für diese Fragestellung anbieten: die Texte Benjamins und die Texte der

Lebensphilosophie, als deren Exponent Spengler herangezogen wird. Diese beiden Gruppen von

Texten lassen sich wiederum einer bestimmten philosophischen Tradition zuordnen, die um 1800 in

den Werken Goethes und der Frühromantiker ihren Ausgang nimmt. Die Antworten, die diese Texte

auf unsere Frage bereit halten, können heute weder einfach ignoriert, noch unreflektiert übernommen

werden. Sie liegen auch nicht offen zutage, sondern müssen zunächst interpretatorisch erarbeitet, in die

Sprache heutiger ästhetischer Theoriebildung umformuliert werden. Die Antworten auf die ästhetische 395 Walter Burkert: Wilder Ursprung. A.a.O.: S. 69. 396 a.a.O.: S. 70. 397 vgl. Michael Neumann: Roman und Ritus. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Frankfurt a.M. 1992.

88

Frage, die im ausgehenden 20. Jh. gegeben werden, unterscheiden sich, wie sich zeigen wird, strukturell

oft kaum von denen der Romantik, der Lebensphilosophie und denjenigen Benjamins. Der Unterschied

der Antworten besteht weniger in der Argumentationsstruktur, als in der „Sprache“, in der sie zum

Ausdruck gebracht werden, im philosophischen Paradigma.

Spengler und Benjamin knüpfen insofern in systematischer (natürlich nicht in historischer) Hinsicht an

die im ersten Teil dieser Arbeit häufig zitierten Autoren an, als sie das Konzept „ästhetische

Welterschließung“ umsetzen. Die Texte Dantos, Ricoeurs, Bachelards, und Seels lassen sich postum als

Begründungsdiskurse jener Praxis interpretieren, die von Spengler und Benjamin ausgeübt wurde.

Während „ästhetische Welterschließung“ bei den bisher behandelten Autoren Programm blieb, wird sie

bei Spengler und Benjamin zu einer Praxis. Indem sie Kunstwerke interpretatorisch erschließen,

eröffnen Spengler und Benjamin historische „Welten“. Sie vereinigen Ästhetik und

Geschichtsphilosophie zu einer fruchtbaren Konstellation, ohne die Eigenarten ästhetischen und

geschichtsphilosophischen Denkens zu nivellieren. Für Benjamin ist es „rücksichtslos einzuräumen,

daß es nur in vereinzelten Fällen gelungen ist, den geschichtlichen Gehalt eines Kunstwerks so zu

erfassen, daß es als Kunstwerk für uns transparenter wurde.“ (GS2,469)

89

2. Oswald Spengler und Walter Benjamin: Apokalyptik und Eschatologie oder vom fatalen Versuch, die Geschichte zu hintergehen

„Schauplatz des Schicksals ist die Geschichte.“

Oswald Spengler (Ufr.,346)

„Wo Schicksal ist, da ist ein Stück Geschichte Natur geworden.“

Walter Benjamin (GS2,249/250)

Oswald Spengler und Walter Benjamin auch nur in einem Satz zu nennen, mag zunächst befremden.

Spengler und Benjamin sind sich weder persönlich begegnet, noch läßt sich ein Konsens in ihren politi-

schen Überzeugungen aufzeigen. Kaum zwei andere Philosophen der Zeit zwischen den beiden Welt-

kriegen hätten sich, wäre es zu einer Begegnung gekommen, weniger zu sagen gehabt. Eine Kenntnis-

nahme Benjaminscher Texte von Seiten Spenglers kann nicht nachgewiesen werden und ist auch wenig

wahrscheinlich. Benjamin dagegen rezipierte zumindest Spenglers Hauptwerk „Der Untergang des

Abendlandes“, welches er zweimal in seinem „Passagen-Werk“ zitiert398. Werner Kraft berichtet über

ein Gespräch, das er mit Benjamin im Jahre 1933 in Paris geführt hat: „In einem kleinen Ausschank

irgendwo fragte ich ihn nach Spengler, was er von ihm halte. Zwischen den Zähnen kam die leise, er-

barmungslose Antwort: »Was soll ich von ihm halten? Ein trivialer Sauhund.«“399 Wie Benjamin zu die-

sem vernichtenden Urteil kommt, läßt sich unschwer zeigen.

Im Jahre 1930 rezensiert Benjamin unter der Überschrift „Theorien des deutschen Faschismus“ die von

Ernst Jünger herausgegebene Aufsatzsammlung „Krieg und Krieger“. Im Rahmen dieser Rezension

geht Benjamin indirekt auf Spengler ein. Was er Jünger und seinen der „Konservativen Revolution“400

Moeller van den Brucks401 nahestehenden Gesinnungsgenossen vorwirft, ist ihr Festhalten am Ideal ei-

nes heroischen Einzelnen, der sich innerlich über den moralischen und kulturellen Verfall der Zeit er-

hebt, sich aber äußerlich in ihn fügt. Der „heroische Nihilismus“402 Jüngers findet eine seiner wesentli-

chen Quellen in den Schriften Spenglers. Für Hermann Lübbe besteht die rhetorisch-politische Intenti-

on aller Spenglerschen Texte in einer „politischen Existenzialisierung des Bewußtseins durch Eröff-

nung globaler Düster-Perspektiven mit der Provokation einer zu sich selbst entschlossenen Tat- 398 vgl. GS5,487. 399 Werner Kraft: Über Benjamin. In: Siegfried Unseld (Hg.): Zur Aktualität Walter Benjamins. Frankfurt a.M. 1972. S. 59-

69. Hier: S. 66. 400 Zum Begriff und zur Geschichte der „Konservativen Revolution“ vgl. Hans-Helmuth Knütter: Die Weimarer Republik

in der Klammer von Rechts- und Linksextremismus. In: Karl Dietrich Bracher et al. (Hg.): Die Weimarer Republik 1918-1933. Bonn 21988. S. 387-406. Hier: S. 393f.

401 Spengler traf sich im Juli 1920 persönlich mit Arthur Moeller van den Bruck, dem Autor der antiparlamentarischen Streitschrift „Das Dritte Reich“. Auf Einladung Moeller van den Brucks referierte er im Berliner „Juni-Klub“, dem u.a. auch Otto Strasser u. Heinrich von Gleichen angehörten, über die Hauptthesen seiner kurz vorher erschienen Schrift „Preußentum und Sozialismus“. Das gegenseitige Einverständnis war so groß, daß Spengler anschließend zum Leiter ei-ner Münchner Zweigstelle des „Juni-Klubs“ avancierte. Vgl. Detlef Felken: Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur. A.a.O.: S. 135f.

402 Zum Begriff des „heroischen Nihilismus“ vgl. H.-P. Schwarz: Der Konservative Anarchist. Politik und Zeitkritik Ernst Jüngers. Freiburg i.Br. 1962.

90

Bereitschaft“403. Spengler prophezeit eine Apokalypse. Er verkündet den „Untergang des Abendlandes“

und verbreitet im gleichen Zuge einen „Appell zur heroischen Dennoch-Haltung“404. Spengler, „der

nach meßbarer Publizität erfolgreichste Philosoph seiner Jahre“405, wird damit zum wichtigsten „Ideo-

logen eines polit-existenzialistischen Erweckungsprogramms“406 zwischen den beiden Weltkriegen. Sei-

ne „Philosophie intensivierte die Misere, deren Reflex sie ist.“407 Er ist gleichzeitig Initiator und Aus-

druck einer Ideologie, die das Abendland zwischen 1933 und 1945 tatsächlich an den Rand des Unter-

gangs bringen sollte. Sein Hauptwerk entpuppt sich nach der politischen Katastrophe als eine „selfful-

filling prophecy“. Auch für Ernst Troeltsch ist Spenglers Hauptwerk in diesem Sinne „selbst ein aktiver

Beitrag zum Untergang des Abendlandes“408.

Spenglers und Jüngers Ideal eines heroischen Einzelnen wird, so Benjamins Einwand, unter den techni-

schen Bedingungen der modernen Vernichtungswaffen ad absurdum geführt. Friedrich Georg Jünger

beschwört diesen heroischen Einzelnen in seinem Beitrag zur Textsammlung seines Bruders als jenen

„soldatischen Typus, den die hart, nüchtern, blutig und pausenlos abrollenden Materialschlachten

durchbildeten. Ihn kennzeichnet die nervige Härte des geborenen Kämpfers, [...] der Ausdruck der ein-

samen Verantwortung, der seelischen Verlassenheit.“ (zit.n. GS3,246) Dieser Typus entspricht dem des

preußisch-faustischen Menschen Spenglers. In „Der Mensch und die Technik“ entwirft Spengler ein

Bild, das die Welthaltung aller „heroischen Nihilisten“ und „inneren Emigranten“409, die sich in ihrem

Sich-Fügen ins Verhängnis implizit auf seine Untergangsphilosophie berufen, auf den Punkt bringt:

„Wir sind in diese Zeit geboren und müssen tapfer den Weg zu Ende gehen, der uns bestimmt ist. Es gibt keinen andern. Auf dem verlorenen Posten ausharren ohne Hoffnung, ohne Rettung, ist Pflicht. Ausharren wie jener römische Soldat, dessen Gebeine man vor einem Tor in Pompeji gefunden hat, der starb, weil man beim Ausbruch des Vesuvs vergessen hatte, ihn abzulösen. Das ist Größe, das heißt Rasse haben. Dieses ehrliche Ende ist das einzige, das man dem Menschen nicht nehmen kann.“ (MuT.,61)

Das Idealbild des Einzelnen, der heroisch auf seinem Posten verharrt und sich in den Untergang fügt,

wird für Benjamin in Anbetracht des Vernichtungspotentials des vollautomatisierten Kriegs zur Farce.

Der kollektive Tod durch Giftgas schafft jeden „Heroismus“ und jede „Haltung“ restlos ab. Spengler,

Jünger und ihre Gefolgsleute stilisieren sich aus der Perspektive Benjamins in die Rolle von letzten

Repräsentanten des deutschen Geistes in einer ansonsten „ungeistig“ gewordenen Zeit. Ästhetisierende

Technik-Verklärung - man denke nur an Jüngers programmatischen Titel „In Stahlgewittern“ - gehe in

der Aufsatzsammlung „Krieg und Krieger“ eine paradoxe Liaison mit dem Subjekt- und Freiheitspa-

thos des deutschen Idealismus ein. Benjamin karikiert diese Liaison mit den Mitteln der Groteske:

403 Hermann Lübbe: Historisch-politische Exaltationen. Spengler wiedergelesen. In: Peter Christian Ludz (Hg.): Spengler

Heute. München 1980. S. 1-24. Hier: S. 6. 404 a.a.O.: S. 18. 405 a.a.O.: S. 9. 406 a.a.O.: S. 3. 407 a.a.O.: S. 7. 408 Ernst Troeltsch: Rezension »Der Untergang des Abendlandes« Bd.1. In: Ders.: Gesammelte Schriften Bd.4. Hg. v. H.

Baron. Tübingen 1925. S. 685-691. Hier: S. 684. 409 Zum Begriff der „inneren Emigration“ vgl. Gottfried Benn: Doppelleben. In: Gesammelte Werke in vier Bänden. Hg. v.

Dieter Wellershof. Bd.4. Autobiographische und vermischte Schriften. Wiesbaden 1966. S. 69-172.

91

„Man soll es mit aller Bitternis aussprechen: Im Angesicht der total mobil gemachten Landschaft hat das deutsche Naturgefühl einen ungeahnten Aufschwung genommen. Die Friedensgenien, die sie so sinnlich besiedeln, sind evakuiert worden und so weit man über den Grabenrand blicken konnte, war alles Umliegende zum Gelände des deutschen Idealismus selbst geworden, jeder Granattrichter ein Problem, jeder Drahtverhau eine Antinomie, jeder Stachel eine Definition, jede Explosion eine Setzung, und der Himmel darüber bei Tag die kosmische Innenseite des Stahlhelms, bei Nacht das sittliche Gesetz über dir. Mit Feuerbändern und Laufgräben hat die Technik die heroischen Züge im Antlitz des deutschen Idealismus nachziehen wollen. Sie hat geirrt. Denn was sie für die heroischen hielt, das waren die hippokratischen, die Züge des Todes.“ (GS3,247)

Die Freiheit des Subjekts, die der Idealismus erträumte, finde auf den Schlachtfeldern der Weltkriege

seine fatale Einlösung: „Im Führer eines einzigen Flugzeugs mit Gasbomben vereinigen sich alle

Machtvollkommenheiten, dem Bürger Licht und Luft und Leben abzuschneiden, die im Frieden unter

tausend Bürovorstehern verteilt sind.“ (GS3,249) Der Gaskampf, führt Benjamin an anderer Stelle aus,

„verspricht dem Zukunftskrieg ein Gesicht zu geben, das die soldatischen Kategorien endgültig zu-

gunsten der sportlichen verabschiedet, den Aktionen alles Militärische nimmt und sie sämtlich unter das

Gesicht des Rekordes stellt.“ (GS3,239) Schon für die von Friedrich Georg Jünger beschworenen Ma-

terialschlachten des Ersten Weltkriegs dürfte es sehr zweifelhaft sein, ob der Einzelne oder das Indivi-

duum in ihm noch eine Rolle spielte. Angesichts der Millionen von Toten wird die Idee eines sich in

„Stahlgewittern“ härtenden Soldaten-Heros zum blanken Zynismus. Bereits in einem kurzen Text aus

dem Jahre 1925 über „Die Waffen von Morgen“ kündigt sich die Kritik Benjamins an diesem Zynismus

an:

„Der kommende Krieg wird eine geisterhafte Front haben. Eine Front, die gespenstisch bald über diese, bald über jene Metropole, in ihre Straßen und vor jede ihrer Haustüren vorgerückt wird. Dazu wird dieser Krieg, der Gaskrieg aus den Lüften, in nie gekanntem Sinne dieses Wortes, ein wahrhaft »atemberaubender« Hasard sein. Denn seine schärfste strategische Eigenart liegt darin: bloßer und radikalster Angriffskrieg zu sein.“ (GS4,473)

Ritterliche Krieger-Ideale würden angesichts des sich abzeichnenden Gaskriegs zu Anachronismen.

Nicht die heroische Tat, sondern der „Hasard“, die brutale Willkür, werde dem kommenden Krieg, den

Benjamin schon 1925 prophezeit, seinen Stempel aufdrücken. Ernst Jünger dagegen behauptet, daß es

„eine nebensächliche Rolle spielt, in welchem Jahrhundert, für welche Ideen und mit welchen Waffen

gefochten wird.“410 In dieser Auffassung stimmt er mit Spengler überein, für den „Krieg [...] die ewige

Form höheren menschlichen Daseins“ (Ged.,61) überhaupt darstellt. Für den Einzelnen ergibt sich

daraus mit den Worten Spenglers die Forderung, sich „als Material für große Führer [zu] erziehen, in

stolzer Entsagung, zu unpersönlicher Aufopferung bereit.“ (Ged.,74) Gegen diese Gesinnung, die die

Grenze zum Faschismus bereits überschritten hat, kämpft Benjamin Zeit seines Lebens an. Günther

Anders, in einem Interview nach seinem Verhältnis zu seinem Großvetter Benjamin befragt, bemerkt:

„Ich kann nicht sagen, daß wir in Paris miteinander philosophiert hätten. Denn wir waren in erster Li-

nie Antifaschisten, in zweiter Linie Antifaschisten, in dritter Linie Antifaschisten und außerdem mögen

wir auch philosophiert haben.“411 Für die der „Konservativen Revolution“ nahestehenden, dem Fa-

410 Ernst Jünger: Vorwort zu ders.: Krieg und Krieger. Zit.n. GS3,239. 411 Günther Anders: Günther Anders antwortet. Interviews & Erklärungen. Berlin 1987. S. 102.

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schismus vorarbeitenden Autoren Spengler, Jünger, von Salomon u.a konnte Benjamin nur tiefste Ver-

achtung, ja offenen Haß aufbringen.

„Sie haben den Kultus des Krieges noch zelebriert, wo kein wirklicher Feind mehr stand. Sie waren den Gelüsten des Bürgertums, das den Untergang des Abendlandes herbeisehnte wie ein Schüler an die Stelle einer falsch gerechneten Aufgabe einen Klecks, gefügig, Untergang verbreitend, Untergang predigend, wohin sie kamen.“ (GS3,243)

Der Untergang des wilhelminischen Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg wäre durch die Spenglersche

Ideologie eines „Untergangs des Abendlandes“ rationalisiert worden. Spengler habe dem Bürgertum die

ideologische Legitimation seines Scheiterns geliefert. Der Untergang Deutschlands werde seiner histori-

schen Einmaligkeit entkleidet und zu einer weltgeschichtlichen Tendenz überhöht. Die Autoren, die

sich auf diese Ideologie beriefen, „haben die große Chance des Besiegten, die russische, den Kampf in

eine andere Sphäre zu verlegen, versäumt, bis der Augenblick verpaßt war und in Europa die Völker

wieder zu Partnern von Handelsverträgen gesunken waren.“ (GS3,243) Wegen dieses Versäumnisses ist

der „kommende Krieg“ für Benjamin unvermeidlich. Der kommende Krieg kündige sich bereits in der

institutionalisierten Gewalt der bürokratisierten und von Klassengegensätzen gespaltenen Gesellschaft

der Weimarer Republik an. Die institutionalisierte Gewalt der Ministerien, Ämter und Konzerne müsse

früher oder später ausbrechen. Auch Benjamin prophezeit den Untergang. Er läßt allerdings offen, wie

sich dieser Untergang vollziehen werde; ob als Vernichtungskrieg zwischen den Staaten oder als revolu-

tionärer Bürgerkrieg nach russischem Vorbild. Im Gegensatz zu Spengler und Jünger empfiehlt Benja-

min kein heroisches Sich-Fügen des Einzelnen unter unentrinnbare geschichtliche Gesetze, unter das

„Schicksal“. Er fordert dazu auf, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, die Geschichte zu aktiv

zu gestalten:

„Nicht ehe Deutschland das medusische Gefüge der Züge, die ihm hier [= in Jüngers Sammelschrift] entgegentreten, gesprengt hat, kann es eine Zukunft erhoffen. Gesprengt - besser vielleicht gelockert. Das soll nicht heißen, mit gütigem Zuspruch oder mit Liebe, die hier nicht am Ort sind; es soll auch nicht der Argumentation, dem überredungsgeilen Debattieren den Weg bereiten. Wohl aber hat man alles Licht, das Sprache und Vernunft noch immer geben, auf jenes »Urerlebnis« zu richten, aus dessen tauber Finsternis diese Mystik des Weltentods mit ihren tausend unansehnlichen Begriffsfüßchen hervorkrabbelt. Der Krieg, der sich in diesem Licht enthüllt, ist der »ewige«, zu welchem diese neuen Deutschen beten, sowenig wie der »letzte«, von welchem die Pazifisten schwärmen. Er ist in Wirklichkeit nur dies: Die eine, fürchterliche, letzte Chance, die Unfähigkeit der Völker zu korrigieren, ihre Verhältnisse untereinander demjenigen entsprechend zu ordnen, das sie durch ihre Technik zur Natur besitzen. Mißglückt die Korrektur, so werden zwar Millionen Menschenkörper von Gas und Eisen zerstückt - sie werden es unumgänglich - aber selbst die Habitués chthonischer Schreckensmächte, die ihren Klages im Tornister führen, werden nicht ein Zehntel von dem erfahren, was die Natur ihren weniger neugierigen, nüchterneren Kindern verspricht, die an der Technik nicht einen Fetisch des Untergangs, sondern einen Schlüssel zum Glück besitzen. Von dieser ihrer Nüchternheit werden sie den Beweis im Augenblick geben, da sie sich weigern werden, den nächsten Krieg als einen magischen Einschnitt anzuerkennen, vielmehr in ihm das Bild des Alltags entdecken und mit eben dieser Entdeckung seine Verwandlung in den Bürgerkrieg vollziehen werden in Ausführung des marxistischen Tricks, der allein diesem finsteren Runenzauber gewachsen ist.“ (GS3,249/250)

Benjamin spricht in diesem Zitat von der „proletarischen Revolution“. Diese denkt er sich als Umorga-

nisation des Verhältnisses der Menschen zur Technik. Die Technik stellt für Benjamin keine Bedro-

hung dar, sondern bietet die einmalige Chance, zur „Physis“ einer neuen, befreiten Menschheit zu wer-

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den. In einem kurzen Text mit dem Titel „Zum Planetarium“, dem letzten Stück seiner 1928 bei Ro-

wohlt erschienenen „Einbahnstraße“, führt Benjamin diesen Gedanken näher aus:

„Naturbeherrschung, so lehren die Imperialisten, ist Sinn aller Technik. Wer möchte aber einem Prügelmeister trauen, der Beherrschung der Kinder durch die Erwachsenen für den Sinn der Erziehung erklären würde? Ist nicht Erziehung vor allem die unerläßliche Ordnung des Verhältnisses zwischen den Generationen und also, wenn man von Beherrschung reden will, Beherrschung des Generationsverhältnisses und nicht der Kinder? Und so auch Technik nicht Naturbeherrschung: Beherrschung vom Verhältnis von Natur und Menschheit. Menschen als Spezies stehen zwar seit Jahrzehntausenden am Ende ihrer Entwicklung; Menschheit als Spezies aber steht an deren Anfang. Ihr organisiert in der Technik sich eine Physis, in welcher ihr Kontakt mit dem Kosmos sich neu und anders bildet als in Völkern und Familien.“ (GS4,147)

In späteren Texten spricht Benjamin vom revolutionären Potential moderner Kommunikationstechno-

logien wie Radio und Film, welche für die befreite Menschheit zu einem „Bild-“ und „Leibraum“

(GS2,309) werden könnten, zu einer vollkommen transparenten, „absoluten Öffentlichkeit“ (GS2,743).

Eine „Literarisierung der Lebensverhältnisse“ (GS2,688) durch die Techniken der Kommunikation sol-

le die traditionelle Hierarchie zwischen Produzenten und Konsumenten in der Ökonomie der gesell-

schaftlichen Kommunikation und Produktion aufheben. Spengler teilt diese Technik-Euphorie nicht.

Nach seiner Prognose wird die gesamte Technik des Abendlandes mit diesem selbst untergehen.

Ein weiterer Punkt, an dem sich eine grundlegende Differenz zwischen Spengler und Benjamin aufzei-

gen läßt, ist die Verwendung des Substantivs „Schicksal“. Beide Autoren räumen dem „Schicksals“-

Begriff eine bedeutende Rolle ein: Für Spengler ist er ein Identifikationsbegriff, für Benjamin eine nega-

tive Größe. Spengler verwendet „Schicksal“ als positiv konnotierten Oppositionsbegriff zu „Natur“, die

er als das dem Menschen Andere abqualifiziert. „Schauplatz des Schicksals ist die Geschichte.“

(Ufr.,346) Geschichte wiederum „ist das Unsystematische an sich, das Einmalige, das Persönliche, das

Unvorhergesehene. Geschichte ist Schicksal.“ (RuA,161) „Schicksal“ steht bei Spengler für dasjenige an

der menschlichen Geschichte, was nicht durch naturwissenschaftliche Begriffsbildung, durch Kausali-

tätsdenken, eingeholt werden kann. Es kann mit Vorbehalten in die Nähe dessen, was in der Herme-

neutik „Sinn“ heißt, gerückt werden. Das „Schicksal“ eines Menschen identifiziert Spengler mit seiner

„Kultur“, mit der Weise, wie der Mensch sich und seine Umwelt erleben muß. Kultur gilt ihm als ein

„Urphänomen“. Jede Kultur besitze ihre eigene Schicksalsidee. Das „Schicksal [erscheint] als die eigent-

liche Daseinsart des Urphänomens, in welchem vor dem Schauenden sich die lebendige Idee des Wer-

dens unmittelbar entfaltet.“ (UdA1,157) In Kulturen würden wir „geworfen“. Auf die Nähe des

Spenglerschen „Schicksals“ zu Heideggers „Geworfenheit“ macht Erich Rothacker aufmerksam: „Bei

Spengler ist schicksalsvoll vor allem die Tatsache, daß eine bestimmte Kultur ihren Stil unweigerlich

hat. Es ist eine Überspannung der Einsicht, welcher Heidegger mit seinem Begriff der »Geworfenheit«

Ausdruck gegeben hat.“412 Von unserer Kultur werde uns in unhintergehbarer Weise vorgegeben, wie

wir uns und unsere Welt verstehen können. Kulturen seien transzendental. Wir könnten uns nicht von

ihnen distanzieren. Als Inbegriff des schlechthin Unverfügbaren könnten sie darum mit dem „Schick- 412 Erich Rothacker: Geschichtsphilosophie. In: Handbuch der Philosophie. Hg. v. Alfred Baeumler und Manfred Schröter.

Abteilung IV. Staat und Geschichte. München und Berlin 1934. S. 111.

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sal“ gleichgesetzt werden. „Leben, Sein und ein Schicksal haben - das fließt zusammen, [...] mag es sich

um einen Schmetterling oder eine Kultur handeln.“ (UdA(A)1,171)

Im Gegensatz zum hermeneutischen „Sinn“ wird das „Schicksal“ Spenglers nicht von Menschen ge-

macht. Im Gegenteil, die Menschen seien dem „Schicksal“ vollständig ausgeliefert. Aus dem „Schick-

sal“ gebe es kein Entrinnen. „Was der Einzelne nicht tun will, wird die Geschichte mit ihm tun.“

(JdE.94) Rothacker wirft Spengler vor, „daß seine Geschichtsauffassung mit apriorischer Notwendig-

keit die Tat entwerte.“413 Die mit „Schicksal“ identifizierte Geschichte unterliege invarianten Gesetzen

der Kulturentwicklung. Spengler denkt Geschichte organizistisch, nach Art der Entwicklung natürlicher

Organismen. Eduard Spranger kann von einer „Spenglerschen Kulturbiologie“414 sprechen. Die sich

um eine „Schicksalsidee“ formierenden Kulturen werden zu monadisch in sich geschlossene Organis-

men, zu einer zweiten, invariablen Natur. Darin liegt die Grundaporie der Philosophie Spenglers. Ge-

schichte wird als Gegenbegriff zum Begriff der Natur stark gemacht, um schließlich wieder natürlichen

Abläufen unterstellt zu werden. Kulturen werden für Spengler nicht vom Menschen gestaltet, sondern

gestalten die Menschen. Er verkennt die Wechselseitigkeit der Relation. „Schicksal“, das Spengler gegen

Natur und Kausalität aufbietet, tendiert dazu, zu einer zweiten Natur zu werden. „Das Erwachen einer

Kultur ist [für Spengler] ein Ereignis, das jeder menschlichen Einflußnahme entzogen bleibt.“415

Auch für Benjamin ist der Begriff des „Schicksals“ mit unausweichlicher Notwendigkeit verknüpft. Im

Gegensatz zu Spengler identifiziert er „Schicksal“ deshalb mit Natur und stellt ihm den Begriff der Ge-

schichte entgegen: „Wo Schicksal ist, da ist ein Stück Geschichte Natur geworden.“ (GS2,249/250)

Noch deutlicher zeigt sich die Differenz, wenn der Terminus „Charakter“ hinzugezogen wird. Spengler

identifiziert „Schicksal“ und „Charakter“ miteinander:

„Der einmalige Charakter jedes Einzelwesens ist Schicksal, durch die Zeugung gesetzt [...]. Die Geburt entscheidet über den Ort, die Zeit (das Jahrhundert), die Kultur, den Stand, die Familie, wo sich das Leben abspielen wird. Dieser Charakter (Prägung durch Geburt und Zeugung) ringt mit den Lebensumständen. Er kann sich entfalten, verkümmern, gebrochen werden - aber er ändert sich nicht. Geschichte ist das Einmalige: Biographie ist Privatgeschichte des Einzelnen.“ (Ufr.,142)

In seinem Aufsatz „Schicksal und Charakter“ aus dem Jahr 1919 lehnt Benjamin diese Identifikation

von „Schicksal“ und „Charakter“ ab. Schicksal und Charakter werden aus Benjamins Sicht „gemeinhin

als kausal verbunden angesehen und der Charakter wird als eine Ursache des Schicksals bezeichnet“

(GS2,171) Gegen diese auch von Spengler vertretene Position wendet sich Benjamin ganz entschieden:

„wo Charakter ist, da wird mit Sicherheit Schicksal nicht sein und im Zusammenhang des Schicksals

Charakter nicht angetroffen werden.“ (173) Schicksal ist, so lautet Benjamins Definition, „der Schuld-

zusammenhang des Lebendigen. Dieser [= der Schuld] entspricht die natürliche Verfassung des Leben-

digen.“ (GS2,175) „Schicksal“, „Natur“ und „Lebendiges“ sind für Benjamin Synonyme für ein vorbe-

413 a.a.O.: S. 35. 414 Eduard Spranger: Die Kulturzyklentheorie und das Problem des Kulturverfalls. In: Ders: Gesammelte Schriften Bd.5.

Hg. v. H. Wenke. Tübingen 1969. S. 1-29. Hier: S. 10. 415 Eberhard Gauhe: Spengler und die Romantik. Berlin 1937. S. 59.

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wußtes, passives und entscheidungsloses Dasein. „Schicksal“ betreffe nicht den Menschen als Men-

schen, sondern den Menschen als Kreatur. „Der Mensch wird niemals hiervon [= Schicksal] getroffen,

wohl aber das bloße Leben in ihm, das an natürlicher Schuld und dem Unglück Anteil kraft des Scheins

hat.“ (GS2,175) Der Charakter dagegen sei die erhabene „Antwort des Genius“ (GS2,178) auf den

Scheinzusammenhang des Schicksals:

„Dem Dogma von der natürlichen Schuld des Menschenlebens, von der Urschuld, deren prinzipielle Unlösbarkeit die Lehre, und deren gelegentliche Lösung den Kultus des Heidentums bildet, stellt der Genius die Vision von der natürlichen Unschuld des Menschen entgegen.“ (GS2,178)

Als diesen Genius bestimmt Benjamin in seinem Buch über das barocke Trauerspiel den Helden der

griechischen Tragödie. Der Held der attischen Tragödie bricht aus dem durch eine göttliche Ordnung

sanktionierten Schuldzusammenhang des Lebendigen aus. In der griechischen Tragödie kündigt sich

der Übergang von der Ordnung des Schicksals und des Mythos, Benjamin spricht von der „Sage“

(GS1,285), zur Ordnung der Geschichte an. Der sich opfernde Held verleihe dem Jenseits des Mythos

in seinem Opfertod schweigend Ausdruck. Im Anschluß an Franz Rosenzweig spricht Benjamin in be-

zug auf die attische Tragödie vom „Paradoxon der Geburt des Genius in moralischer Sprachlosigkeit,

moralischer Infantilität“, welches „das Erhabene der Tragödie“ (GS1,289) bewirke. Dem Genius als

„Erstling einer neuen Menschheitsernte“ (GS1,285/286) fehle noch die Sprache, um die erlöste Welt

jenseits des Mythos darzustellen. Ihm bleibe nur das Schweigen, welches die Erhabenheit der Tragödie

ausmache. In anderen Texten spricht Benjamin auch von dem „Ausdruckslosen“ (GS1,181), das sich in

hoher Literatur als Statthalter einer erlösten Welt jenseits des Mythos ankündige, wie beispielsweise in

den „Wahlverwandtschaften“ Goethes. Die Dichotomie, welche Goethes „Wahlverwandtschaften“

strukturiert, könnte im Anschluß an Benjamins Interpretation als Dichotomie zwischen Metapher und

Metonymie beschrieben werden. Die Wahlverwandtschaften zwischen Eduard und Ottilie, dem

Hauptmann und Charlotte sind metonymisch. Eduard träumt, während er mit Charlotte schläft, von

Ottilie, Charlotte träumt währenddessen vom Hauptmann. Keine Person kann sich eindeutig für oder

gegen eine der anderen entscheiden, keine ist vollständig individuiert, keine vollständig vergesellschaf-

tet. Ihre wechselseitigen Verstrickungen spiegeln sich in den Namen: der Hauptmann heißt, wie auch

Eduard (Eduard ist Zweit- und Rufname) Otto, die Frauen heißen Charlotte und Ottilie416. Die Ehe zwi-

schen Eduard und Charlotte wird durch die Figur des „Mittlers“ aufrechterhalten, hinter dem neuere

Interpretationen eine Allegorisierung Schleiermachers vermuten417. Das Geschehen der dem Roman

wie ein Gegenmodell eingefügten „Novelle“ ist gegenüber diesen partiellen Berührungen und Wahl-

verwandtschaften bestimmt durch einen absoluten Austausch oder eine absolute Metapher. Die nicht

füreinander bestimmten Verliebten entziehen sich in einem kühnen, rettenden Sprung vom Boot ihrem

vorgesehen Schicksal und finden in der Todesgefahr zueinander. Das metonymische Prinzip der

416 vgl. Heinz Schlaffer: Namen und Buchstaben in Goethes »Wahlverwandtschaften«. In: Bolz, Norbert W. (Hg.): Goethes

Wahlverwandtschaften: kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur. Hildesheim 1981. S. 211-229. 417 vgl. Jochen Hörisch: Der Mittler und die Wut des Verstehens. A.a.O.

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„Wahlverwandtschaften“ bleibt dem „Schicksal“, dem „Mythos“ und dem „Schein“ verhaftet, aus dem

die absolute Metapher befreit. Nach Benjamins „Interpretation übernimmt der Roman an seinem Ende

schon das Werk der Kritik. Indem er den Schein in sich zerstört, sagt er die Wahrheit, die darin besteht,

daß nur im Untergang des Scheins die Wahrheit im Kunstwerk sich zeigt.“418 In Gestalt der „Entschei-

dung“ der Nachbarskinder gegen ihr Schicksal in der Binnennovelle und in Gestalt des den Tod der

Ottilie begleitenden „fallenden Sterns“ am Romanende breche etwas „Ausdrucksloses“ (GS1,181) in

Goethes Roman ein und „zerschlägt, was in allem schönen Schein als die Erbschaft des Chaos noch

überdauert: die falsche, irrende Totalität - die absolute.“ (GS1,181) Den Begriff des „Ausdruckslosen“

bildet Benjamin in Analogie zu Hölderlins Theorie der „Cäsur“ (GS1,181). Indem das „Ausdruckslose“

den schönen Schein der organischen Geschlossenheit des Romans „zum Stückwerk zerschlägt“, werde

dieser „zum Fragmente der wahren Welt“ (GS1,181). „Wahrheit“ wird für Benjamin „dadurch im

Kunstwerk zur Darstellung gebracht, daß der falsche Schein des natürlichen Lebens als solcher entlarvt

wird im Kunstwerk selbst, das damit seine eigene Kritik schon in sich enthält.“419 Hohe Kunst, der

Goethes „Wahlverwandtschaften“ zugerechnet werden dürfen, verleihe einem noch Ausdruckslosen

Ausdruck. Die „Cäsur“, die dieses Ausdruckslose darstelle, trenne den „Sachgehalt“ vom „Wahrheits-

gehalt“ des Werkes. Die Aufgabe des Kritikers bestehe darin, den Ausdruck des Ausdruckslosen freizu-

legen. „Nur das Kunstwerk, in dem der Schein zerstört wird, der es selber ist, spricht die Wahrheit.“420

Auf Benjamins schwer zugänglichen Aufsatz über die „Wahlverwandtschaften“ Goethes, von dem Hu-

go von Hofmannsthal schreibt, er habe „in [s]einem inneren Leben Epoche gemacht“421, wird im Kapi-

tel 4.3. näher eingegangen. An dieser Stelle sollte nur auf die Kritik am Begriff des Schicksals hingewie-

sen werden, die Benjamin in seinem Aufsatz übt. Benjamins Kunstbetrachtung richtet sich nicht wie

diejenige Spenglers auf die historischen Welten, die ein Werk erschließt, sondern auf das Moment, in

dem historische Welten im Kunstwerk überschritten werden. Im Gegensatz zu Spengler, für den

Kunstwerke im Dienst des Schicksals stehen, dessen Idee sie vergegenwärtigen, formieren sich bedeu-

tende Kunstwerke für Benjamin immer als Kritik am Schicksal.

Schon die attische Tragödie überwindet aus der Sicht Benjamins den Mythos, die „Sage“, die „ihrer Na-

tur nach tendenzlos“ (GS1,285) ist. „Das Mysterium ist im Dramatischen dasjenige Moment, in dem

dieses aus dem Bereiche der ihm eigenen Sprache in einen höheren und ihr nicht erreichbaren hinein-

ragt. Es kann daher niemals in Worten, sondern einzig und allein in der Darstellung zum Ausdruck

kommen.“ (GS1,200/201) Was einzig und allein in der Darstellung zu Ausdruck komme, sei erhaben.

Als „Unsagbares“, „Ausdrucksloses“ erhebe es sich über die „Sage“. Diese, der „Mythos“, sei demge-

418 Bernd Witte: Walter Benjamin - Der Intellektuelle als Kritiker. Untersuchungen zu seinem Frühwerk. A.a.O.: S. 74. 419 a.a.O.: S. 71. 420 a.a.O.: S. 72. 421 Hugo von Hofmannsthal: Brief an Florens Christian Rang vom 20.11.1923. In: Hugo von Hofmannsthal u. Florens

Christian Rang: Briefwechsel 1905-1924. In: Die neue Rundschau. 70. Jg. Heft 3 1959. S. 440.

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genüber das, was immer schon ist, dasjenige an unserer Welt, was uns als ihre invariante „Natur“ er-

scheint. Das „Verhältnis von Mythos und Wahrheit“ bestimmt Benjamin als

„das der gegenseitigen Ausschließung. Es gibt keine Eindeutigkeit und also nicht einmal Irrtum im Mythos. Da es aber ebensowenig Wahrheit über ihn geben kann [...] so gibt es, was den Geist des Mythos angeht, von ihm einzig und allein eine Erkenntnis. Und wo Gegenwart der Wahrheit möglich sein soll, kann sie das allein unter der Bedingung der Erkenntnis des Mythos, nämlich der Erkenntnis von seiner vernichtenden Indifferenz gegen die Wahrheit.“ (GS1,162)

Die Wahrheit, von der Kunst zeuge, bleibe auf das Mythische als ihren Gegenpol konstitutiv verwiesen.

„Das Strahlende ist nur wahr, wo es sich im Nächtlichen bricht, nur da ist es groß, nur da ist es aus-

druckslos“ (GS2,130) schreibt Benjamin in bezug auf Grünewalds Isenheimer Altar, auf dem die „Glo-

rie aus dem grünsten Schwarz taucht“ (GS2,130). Gelungene Kunst steht für Benjamin im Dienst einer

strikt antimythischen Wahrheit. Der Heros der attischen Tragödie sei derjenige, der die „natürlich-

mythische“ Welt immer wieder von sich selbst erlöst. Für Spengler stellt die Kunst eine „Schicksals-

idee“ (UdA1,153) dar, für Benjamin geht sie immer über das Schicksal hinaus. Spengler betrachtet

Kunst, so ließe sich als vorläufige Arbeitshypothese formulieren, als eine Verkörperung, Benjamin als

eine Transzendenz einer invarianten, in bestimmter Weise vorverstandenen Welt. Das Erhabene der

griechischen Tragödie und jeder anderen anspruchsvollen Kunst liegt für Benjamin im Sich-Erheben

des Helden über die göttliche (oder natürliche) Ordnung des Mythos. „Das tragische Schweigen weit

mehr noch als das tragische Pathos wurde zum Hort einer Erfahrung vom Erhabenen des sprachlichen

Ausdrucks, die soviel intensiver im antiken Schrifttum zu leben pflegt als in dem späteren.“ (GS1,288)

Das „sprachlose Leiden“ des Helden „wandelt sich zur Verhandlung über die Olympischen“ (GS1,288)

und deren Weltordnung, in der der Einzelne seinem Schicksal ausgeliefert und von Geburt an, ohne

eigenes Zutun, schuldig ist.

„Schicksal ist die Entelechie eines Geschehens, in dessen Mitte der Schuldige steht. Außerhalb des Bereiches der Schuld verliert es alle Kraft. Der Schwerpunkt, nach welchem die Schicksalsbewegung dergestalt abrollt, ist der Tod. Der Tod nicht als Strafe, sondern als Sühne: als Ausdruck der Verfallenheit des verschuldeten Lebens an das Gesetz des natürlichen.“ (GS2,267)

Gegen diese Verfallenheit lehne sich der Held der Tragödie auf.

Heroisch ist für Benjamin nicht wie für Spengler das Sich-Fügen in das Schicksal, sondern der Aufstand

gegen es. Der „Mythos“ wird, so Benjamin, in hohen Kunstwerken durch „Geschichte“ überwunden.

Diese tendiert für Benjamin allerdings selbst immer wieder dazu, in den Stand des Mythos zurückzufal-

len. Die letztliche Überwindung des Mythos, die Benjamin erhofft, geschähe erst durch eine Erlösung

von der Geschichte. An diesem Punkt vereinigen sich in Benjamins Denken marxistische Motive mit

solchen eines jüdischen Messianismus. So wie Marx alle vorrevolutionäre Geschichte, die durch Leid

und Unterdrückung geprägt sei, als bloße „Vorgeschichte“ betrachtet, sieht Benjamin in der Geschichte

eine zu überwindende Größe. In seiner 1920 im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ er-

98

schienenen kleinen Schrift „Zur Kritik der Gewalt“ (GS2,179f.)422, die ihm die Anerkennung Carl

Schmitts423 einbrachte, schließt sich Benjamin George Sorels Theorie des „proletarischen General-

streiks“ an und amalgamiert diese mit jüdisch-messianischem Gedankengut. Sorels „proletarischer Ge-

neralstreik“ richtet sich im Gegensatz zum „politischen Generalstreik“ nicht nur gegen bestimmte Ver-

hältnisse in einem Staat, sondern gegen die Idee des Staates als solche. Diesen „proletarischen General-

streik“ erachtet Benjamin für unausweichlich, weil alle staatliche Gewalt und alles staatliche Recht auf

einem „mythischen Grund“ fußten. In der argumentativen und institutionellen Begründung staatlicher

Macht meint Benjamin einen performativen Selbstwiderspruch aufdecken zu können. Er folgt Gedan-

ken Montaignes und Pascals, wenn er schreibt:

„Die Funktion der Gewalt in der Rechtsetzung ist nämlich zwiefach in dem Sinne, daß die Rechtsetzung zwar dasjenige, was als Recht eingesetzt wird, als ihren Zweck mit der Gewalt als Mittel erstrebt, im Augenblick der Einsetzung des Bezweckten als Recht aber die Gewalt nicht abdankt, sondern sie nun erst im strengsten Sinne und zwar unmittelbar zur rechtsetzenden macht, indem sie nicht einen von Gewalt freien und unabhängigen, sondern notwendig und innig an sie gebundenen Zweck als Recht unter dem Namen der Macht einsetzt. Rechtsetzung ist Machtsetzung und insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation der Gewalt. Gerechtigkeit ist das Prinzip aller göttlichen Zwecksetzung, Macht das Prinzip aller mythischen Rechtsetzung.“ (GS2,198)424

Jede Art von weltlicher Autorität bleibt für Benjamin letztlich in mythischer Gewalt fundiert. Gerech-

tigkeit sei dagegen nur von göttlicher Seite zu erwarten. Benjamins Marxismus kleidet sich schon in die-

sem frühen Text in das Gewand der Theologie. In der ersten seiner Thesen „Über den Begriff der Ge-

schichte“ faßt er das Verhältnis von Marxismus und Messianismus in ein berühmt gewordenes Bild:

„Bekanntlich soll es einen Automaten gegeben haben, der so konstruiert gewesen sei, daß er jeden Zug eines Schachspielers mit einem Gegenzuge erwidert habe, der ihm den Gewinn der Partie sicherte. Eine Puppe in türkischer Tracht, eine Wasserpfeife im Munde, saß vor dem Brett, das auf einem geräumigen Tisch aufruhte. Durch ein System von Spiegeln wurde die Illusion erweckt, dieser Tisch sei von allen Seiten durchsichtig. In Wahrheit saß ein buckliger Zwerg darin, der ein Meister im Schachspiel war und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte. Zu dieser Apparatur kann man sich ein Gegenstück in der Philosophie vorstellen. Gewinnen soll immer die Puppe, die man »historischen Materialismus« nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.“ (GS1,693)

Nur eine göttliche Gewalt vermöge den Katastrophenzusammenhang der Geschichte (GS1,697) zu un-

terbrechen. Dieser Gedanke zieht sich durch Benjamins gesamtes Denken. Angesichts der Erfahrung

des Ersten Weltkriegs bricht er mit dem Begriff eines historischen „Fortschritts“, welcher der idealisti-

schen Konzeption von Geschichte als einem in sich kohärenten, teleologischen Kontinuum zugrunde

liegt. Dem Fortschrittsbegriff, dessen Ort Benjamin im 20. Jh. vor allem im sozialdemokratischen „Ide-

al der befreiten Enkel“ (GS1,700) sieht, setzt er als einfaches und schlagkräftiges Argument entgegen,

422 vgl. zu diesem schwer verständlichen Text die aufschlußreichen Ausführungen von Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der

»mystische Grund der Autorität«. Übers. v. Alexander García Düttmann. Frankfurt a.M. 1991. 423 Benjamins Verhältnis zum konservativen Staatstheoretiker Carl Schmitt beleuchten Bernd Witte: Walter Benjamin.

A.a.O.: S. 58f. sowie Werner Fuld: Walter Benjamin. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 1990. S. 138ff. 424 Ein Vorbild für diese Argumentation findet Benjamin in Montaigne, der sich seinerseits auf Pascal bezieht: „Die Gesetze

genießen ein dauerhaftes Ansehen und verfügen über einen Kredit, nicht etwa, weil sie gerecht sind, sondern weil sie Gesetze sind: das ist der mystische Grund der Autorität; es gibt keinen anderen [...]. Wer immer auch den Gesetzen ge-horcht, weil sie gerecht sind, folgt ihnen nicht auf angemessene Weise, so, wie er ihnen folgen soll und muß.“ (Montaigne: Essais II, XIII (»De l’expériennce« - Von der Erfahrung). In: Oeuvres Complètes. Hg. v. A. Thibaudet. Pa-ris 1950. S. 1203. Hier zit.n. Jacques Derrida: Gesetzeskraft. A.a.O.: S. 25.)

99

daß er „sich nicht an die Wirklichkeit [hält], sondern einen dogmatischen Anspruch“ (GS1,700) erhebt.

Auch Spengler sieht „keinen Fortschritt, kein Ziel, keinen Weg der Menschheit, außer in den Köpfen

abendländischer Fortschrittsphilister.“ (RuA,73/74) Angesichts der Grauen des Ersten Weltkriegs wird

die Rede vom geschichtlichen Fortschritt für Benjamin zur ideologischen Phrase. Mit Blanqui und

Nietzsche setzt er gegen das idealistische Fortschrittskonzept ein Verständnis von Geschichte, die er als

eine Wiederkehr des Immergleichen begreift. Wie Spengler vertritt er eine zyklische Geschichtsauffas-

sung. Der Übergang vom Mythos zur Geschichte steht für Benjamin noch aus. Seine Bemerkung im

Baudelaire-Essay: „Das Immer wieder von vorn Anfangen ist die regulative Idee des Spieles wie der

Lohnarbeit“ (GS1,636) ließe sich demnach ergänzen um ein „und der Geschichte“. Auf den Zusam-

menhang, in dem dieses Bild von Geschichte mit der Erfahrung industrieller Lohnarbeit steht, verweist

H.D. Kittsteiner: „Angesichts des um 1840/50 auch in Deutschland erfahrbar gewordenen Kapitalis-

mus schwindet der ideale geschichtsphilosophische Zusammenhang des historischen Prozesses. Die

Zurüstungen für das Glück überwuchern den versprochenen Ertrag“425 sowohl in der Arbeit, als auch

in der Geschichte. Die eigentliche Kontinuität der Geschichte bestehe wie die der Industriearbeit in

ihrer Diskontinuität. Im Konvolut J des „Passagen-Werks“ schreibt Benjamin: „Der Gedanke der ewi-

gen Wiederkehr macht das historische Geschehen selbst zum Massenartikel.“ (GS5,429)

Sei der Schein eines Fortschritts in der Geschichte erst einmal verloschen, so erweise sich diese als ein

Katastrophenzusammenhang. „Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine

einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft“ (GS1,697) schreibt Benjamin von

seinem „Engel der Geschichte“. Die Struktur der Geschichte erscheint aus dieser Perspektive als iden-

tisch mit der Struktur des Mythos. „Die Essenz des mythischen Geschehens ist Wiederkehr. Ihm ist als

verborgene Figur die Vergeblichkeit einbeschrieben.“ (GS5,178) Gleichzeitig sei „die »ewige Wieder-

kunft alles Gleichen« [...] das Zeichen des Schicksals“ (GS1,137). Auch Benjamin identifiziert auf einer

höheren Ebene Schicksal mit Geschichte und nähert sich auf diesem Wege dem Spenglerschen Fata-

lismus. Innerhalb einer nicht fortschreitenden, schicksal- und naturhaften Geschichte gibt es für Ben-

jamin keine begründete Hoffnung auf Erlösung. Erlösung vermöchte sich nicht geschichtsimmanent,

sondern nur als Erlösung von der Geschichte zu vollziehen. „Das Kontinuum der Geschichte aufzu-

sprengen“ (GS1,701), das Fortschreiten der ewigen Wiederkehr zu unterbrechen, bezeichnet für Ben-

jamin das eigentliche Ziel der Revolution.

Gerade die Moderne, die sich über ihren Fortschritt hinsichtlich der Antike und des Mittelalters sowie

über ihre stetige Progression definiere, sei durch Prozesse ewiger Wiederkunft geprägt. „Moderne“ be-

deutet für Benjamin insofern ein Selbstmißverständnis. Er beruft sich auf Hegel und bezeichnet „He-

gels große Entdeckung: der Geist sei im historischen Verlaufe niemals, was er sich glaubt,“ als „magna

charta der wahren Geschichtsschreibung“ (GS3,87). Die Moderne bleibt für Benjamin in einer Illusion

425 H.D. Kittsteiner: Walter Benjamins Historismus. In: Norbert Bolz und Bernd Witte (Hg.): Passagen. Walter Benjamins

Urgeschichte des XIX. Jahrhunderts. München 1984. S. 163-197. Hier: S. 167.

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befangen, ihr „Fortschritt“ trete auf der Stelle. Dieser Stagnation will Benjamin einen „Fortschritt“ im

höheren Sinne entgegensetzen, ein Ende der Geschichte als Geschichtslosigkeit. Erlösung könne sich

nicht geschichtsimmanent vollziehen, sondern nur als Erlösung von Geschichte. Benjamin leugnet die

Immanenz der Geschichte, ohne ein „ganz Anderes“, ein theologisches Jenseits, anzuvisieren. Das

„entstellte Leben“ werde verschwinden, „wenn der Messias kommt, von dem ein großer Rabbi gesagt

hat, daß er nicht mit Gewalt die Welt verändern wolle, sondern nur um ein Geringes sie zurechtstellen

werde.“ (GS2,432)426 In einem Text der „Denkbilder“ mit dem Titel „In der Sonne“ überantwortet

Benjamin dieses „um ein Geringes Zurechtstellen“ der Welt, das sie vom Mythos erlösen soll, der

menschlichen Einbildungskraft und somit indirekt der Kunst:

„Es gibt bei den Chassidim einen Spruch von der kommenden Welt, der besagt: es wird dort alles eingerichtet sein wie bei uns. Wie unsre Stube jetzt ist, so wird sie auch in der kommenden Welt sein; wo unser Kind jetzt schläft, da wird es auch in der kommenden Welt schlafen. Was wir in dieser Welt am Leibe tragen, das werden wir auch in der kommenden Welt anhaben. Alles wird sein wie hier - nur ein klein wenig anders. So hält es die Phantasie. Es ist nur ein Schleier, den sie über die Ferne zieht. Alles mag da stehen wie es stand, aber der Schleier wallt, und unmerklich verschiebt sich’s drunter. Es ist ein Wechseln und Vertauschen; nichts bleibt und nichts verschwindet.“ (GS4,419)

Der metaphorischen Kraft der Kunst wird die Fähigkeit zugeschrieben, die entstellte Welt neu zurecht-

zurücken, sie zu erlösen. Kunst fungiert als Organon einer „Apokatastasis“, einer „Wiederzurechtbrin-

gung alles dessen, was durch Adam in Sünde, Todt, Hölle und ewige Verdammniß gerathen“, wie in

einem bei Kittsteiner zitierten pietistischen Traktat zu lesen ist427. Der Begriff der Apokatastasis, welcher

in der Antike für das Wiedereintreffen bestimmter planetarischer Konstellationen steht, wird seit Origi-

nes in einem eschatologischen Sinne gebraucht. Benjamin ist das Apokatastasis-Konzept aus Hermann

Lotzes „Mikrokosmos“428 vertraut, auf den er mehrfach positiv Bezug nimmt. In seinem Spätwerk ent-

wickelt Benjamin im Anschluß an seine im Frühwerk erarbeitete Theorie der Kunstkritik eine Konzep-

tion kritischer Geschichtsphilosophie, die am Dokumenten-Material des Historikers die Apokatastasis,

die Erlösung der in den Mythos entstellten Geschichte, vollziehen soll. Durch die Konstruktion „dia-

lektischer Bilder“ werden den unterdrückten Massen vom historisch-materialistischen Geschichts-

schreiber Erfahrungen zur Verfügung gestellt, die es ihnen ermöglichen sollen, das Kontinuum der Ge-

schichte von innen aufzusprengen, sich selbst zu erlösen. Wie für die Kabbala gilt der Messias also auch

für Benjamin „bloß als das Siegel auf ein Dokument, das die Menschen selber schreiben müssen.“429

Der Philosophie muß „die universale Geltung geistiger Lebensäußerungen“ aus der Sicht Benjamins

„an die Frage gebunden sein, ob sie auf einen Ort in werdenden religiösen Ordnungen Anspruch zu erheben vermögen. Nicht als ob solche Ordnungen absehbar wären. Wohl aber ist absehbar, daß nicht ohne sie zum Vorschein kommen wird, was in diesen Tagen als den ersten eines Zeitalters nach Leben ringt. Eben darum aber scheint es an der Zeit, weniger denen Ohr zu leihen, die das arcanum selbst gefunden zu haben meinen, als denen, welche am sachlichsten, am ungerührtesten und unaufdringlichsten Drangsal und Not aussprechen.“ (GS2,244)

426 Schon Novalis schreibt: „In der künftigen Welt ist alles, wie in der ehemaligen Welt - und doch alles ganz Anders.“

(N3,280/281) 427 H.D. Kittsteiner: Walter Benjamins Historismus. A.a.O.. S. 169. 428 vgl. Hermann Lotze: Mikrokosmos. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Leipzig 51909. 429 Jürgen Habermas: Theorie und Praxis. Neuwied 1963. S. 125.

101

Ausgehend von einer schier unüberbrückbar scheinenden Kluft zwischen Spengler und Benjamin, sind

wir am Ende dieses kurzen Vergleichs beider Autoren bei einem Gemeinsamen angekommen: bei ih-

rem Verfehlen der Geschichte. Dem einen wird Geschichte zu genau der Natur, gegen die er sie abhe-

ben wollte, dem anderen zu einem Katastrophenzusammenhang, den es zu durchbrechen gilt. Beide

gehören, wenn auch in unterschiedlichem Maße, jener „großen anti-parlamentarischen und gegen-

aufklärerischen Welle an, an deren Oberfläche dann der Nazismus auftaucht und - in den zwanziger

und zu Beginn der dreißiger Jahre - sogar »surft«.“430

430 Jacques Derrida: Gesetzeskraft. A.a.O.: S. 62.

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3. Zwischen Kulturphilosophie und ästhetischer Theorie: Oswald Spengler

„Wenn ich mein Leben betrachte, ist es ein Gefühl, das alles, alles beherrscht hat: Angst. Angst vor der Zukunft, Angst vor Verwandten, Angst vor Menschen, vorm Schlaf, vor Behörden, vor Gewitter, vor Krieg, Angst, Angst. Ich habe nie den Mut ge-habt, das anderen zu zeigen. Sie hätten mich auch nicht verstanden. Ich glaube, daß niemand in einer so ungeheuren inneren Vereinsamung lebte (ich erinnere mich an mein sechstes Jahr, wo es auch schon so war). Und so begann ich zu lügen, weil ich mich fürchtete, weil ich mich nicht verraten wollte, denn ich wagte es nicht, über mein Inneres zu reden.“

Oswald Spengler431

Spenglers Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“ vereinigt geschichts- und kulturphilosophi-

sche Motive mit solchen der Ästhetik. Kunstwerke zeichnen sich für Spengler durch einen Doppelcha-

rakter vor anderen Zugängen zur Welt aus: sie seien gleichzeitig Teile von Kulturen und Instanzen einer

Reflexion über Kulturen. In der Kunst findet Spengler eine Instanz, mittels der fremde Kulturen ver-

standen werden können. Auf jeder anderen Ebene leugnet Spengler ein Verstehen fremder Kulturen

und vertritt einen radikalen Kulturrelativismus. Er teilt die Weltgeschichte in acht sich nicht über-

schneidende Hochkulturen ein. Diese Hochkulturen bildeten völlig heterogene Welten. Zwischen ihren

Angehörigen sei keinerlei Kommunikation möglich. Nur in Kunstwerken überschritten sich Kulturen

in gewisser Weise selbst. Kunstwerke seien Instanzen, mittels derer sich Kulturen von sich distanzieren,

selbst reflektieren und als Kulturen erst begründen könnten. Mit dieser These steht Spengler neueren

Kunsttheorien wie derjenigen Dantos nahe. Für diesen „veräußerlicht das Kunstwerk eine Weise, die

Welt zu sehen, [es] drückt das Innere einer kulturellen Epoche aus.“432 Spengler bemüht sich um eine

praktische Umsetzung dieser Einsicht, also darum, die „Formwelt der Künste für eine Durchdringung

des Seelischen ganzer Kulturen nutzbar zu machen, indem man sie durchaus physiognomisch und

symbolisch auffaßt“ (UdA1,276). „Physiognomik“ im Sinne Spenglers richtet sich nicht auf eine plato-

nisch gedachte „Idee“ einer Kultur, sondern auf die kollektiven Weltbilder der Menschen einer Epoche,

welche diese Menschen zu den Angehörigen einer Kultur vereinigten. Spenglers „Physiognomik“, be-

merkt Fellmann, „steht für eine Hermeneutik der Kulturen [...].“433 Die Leitkategorie dieser Hermeneu-

tik bildet der Begriff des Stils. Alle Lebensäußerungen der Menschen einer Kultur würden von einem

bestimmten Stil geprägt. Direkt anschaubar werde dieser Stil nur in Kunstwerken.

Spengler betreibt Geschichtsschreibung als Kunstgeschichtsschreibung, ohne Kunstwerke zu bloßen

Dokumenten eines historischen Prozesses zu degradieren. Kunstwerke verkörperten das Wesen einer

431 Oswald Spengler: Eis Heauton. Zit.n. Anton Mirko Koktanek: Oswald Spengler in seiner Zeit. München 1968. S. 13. 432 Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. A.a.O.: S. 315. 433 Ferdinand Fellmann: Lebensphilosophie. Elemente einer Theorie der Selbsterfahrung. Reinbek bei Hamburg 1993. S.

151.

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Kultur, die sich in ihren ästhetischen Gestaltungen in einer je bestimmten Weise zu sich selbst verhalte,

sich in diesem Selbstdeutungsprozeß als Kultur individuiere.

104

3.1. Spenglers Heraklit-Dissertation als früheste Manifestation seiner lebensphilosophischen Ästhetik

„Leben - das heißt für uns Philosophen alles, was wir sind, beständig in Licht und Flamme verwandeln“.

Friedrich Nietzsche434

Nach einem Studium der Mathematik, Naturwissenschaften und Philosophie in Halle, Berlin und Mün-

chen promoviert Spengler 1904 bei Alois Riehl435 mit der Arbeit „Heraklit. Eine Studie über den ener-

getischen Grundgedanken seiner Philosophie“.436 Sein Studium nimmt Spengler nie sonderlich ernst437.

Statt Vorlesungen zu besuchen, konzipiert er Dramen und Romane. Mit großem Enthusiasmus liest er,

wie sich Briefen dieser Zeit entnehmen läßt438, klassische und neuere Literatur, so z.B. Herder, Lessing,

Kleist, Heine, Liliencron, Hebbel, Platen, Mörike, Dostojewski, Tolstoi, Gorki, Stendhal, Flaubert, Ib-

sen, Strindberg, George, Shaw und besonders Nietzsche, der ihn zu seiner Heraklit-Studie angeregt ha-

ben dürfte. Neben Nietzsche kann Goethe für Spengler als wichtigster Vermittler Heraklits gelten.

„Goethes [...] Ansichten über die Natur“ sind für Spengler „von einem ähnlichen Geist getragen“

(RuA,4) wie diejenigen des Vorsokratikers.

In seinen autobiographischen Aufzeichnungen notiert Spengler auf sein Studium rückblickend lapidar:

„Wie ich ohne jede Vorarbeit in die Prüfungen stieg. Sieben Fächer angemeldet, keines studiert.“439 Sei-

ne Aversion gegenüber dem akademischen Betrieb konnte Spengler Zeit seines Lebens nicht überwin-

den. Auch seine Dissertation bewegt sich außerhalb des im akademischen Rahmen Üblichen. Der un-

konventionelle Text findet bei seinen Gutachtern nur wenig Gegenliebe. Spengler

„wollte das Doktorexamen vor der Staatsprüfung ablegen, um die Dissertation als eine der beiden Zulassungsarbeiten vorlegen zu können. Die Arbeit [...] wurde angenommen und für Herbst 1903 die mündliche Prüfung anberaumt. »Am Tage vor seiner Abreise fuhr er fleißig auf dem Blankenburger Jahrmarkt Karussell und hatte nicht die geringste Examensangst, aber - er fiel durch.« Er hatte keinen seiner Professoren gekannt, sein Thema ohne Rücksprache mit irgendeinem von ihnen gewählt und nach dem Urteil der Prüfer zu wenig Fachliteratur zitiert. Am 6.4.1904 wiederholte und bestand er das Rigorosum mit der Note rite - genügend, und

434 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. In: Ders.: Werke in drei Bänden. Hg. v. Karl Schlechta. Zweiter Band.

München 1982. S. 12/13. 435 Bei Riehl studierte auch Benjamin. Gegenüber Scholem zitiert er „das Witzwort, das über die beiden Ordinarien Stumpf

und Riehl umging: »In Berlin ist die Philosophie mit Stumpf und Riehl ausgerottet worden.«„ (Gershom Scholem: Wal-ter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt a.M. 1975. S. 32.) Carl Stumpf, dem zweiten Berliner Ordi-narius, wirft Benjamin vor, er betreibe „Seelenmessung“ (GS4,441).

436 Oswald Spengler: Heraklit. Eine Studie über den energetischen Grundgedanken seiner Philosophie. In: RuA. S. 1-47. 437 Alle biographischen Angaben zur Person Spengler sind hier wie im folgenden den Büchern Anton Mirko Koktaneks*,

der seine Darstellung auf Tagebuchaufzeichnungen Spenglers und seiner Schwester stützt, Detlef Felkens** und Jürgen Nähers*** entnommen. * Anton Mirko Koktanek: Oswald Spengler in seiner Zeit. München 1968. ** Detlef Felken: Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur. München 1988. *** Jürgen Naeher: Oswald Spengler. Reinbek bei Hamburg 1984.

438 vgl. Sp.Br.,45/55/61/64/67. 439 Oswald Spengler: Eis Heauton. Unveröffentlichte Materialien zu einer Autobiographie. Zit.n. Anton Mirko Koktanek:

Oswald Spengler. A.a.O.: S. 69.

105

seine Dissertation wurde als eine der beiden für das Staatsexamen erforderlichen Arbeiten angenommen. Die Facharbeit mit dem Titel Die Entwicklung des Sehorgans bei den Hauptstufen des Tierreiches ist nachmals leider verlorengegangen.“440

Eine Lektüre der Spenglerschen Dissertation als Beitrag zur Geschichte der vorsokratischen Philoso-

phie würde ihren Gegenstand mißverstehen. In die Heraklit-Forschung hat sein Text keine Aufnahme

gefunden. Spengler strebt in seiner Dissertation wie später auch Benjamin keine philologische Prägnanz

an, sondern bemüht sich um die Formulierung eines eigenen philosophischen Standpunkts. „Der Hera-

klit ist ein Selbstzeugnis [...], viel eher Schlüssel zur Erfahrungsweise Spenglers, als zu Heraklits Erfah-

ren, Denken.“441 Heraklits Texte fungieren nicht als Gegenstand, sondern als Anlaß der Spenglerschen

Reflexionen. Die Überlieferungsprobleme der nur in wenigen, ungesicherten Fragmenten erhaltenen

Texte Heraklits erlauben ihm „ein freies Spiel der philosophischen Spekulation, das sich nicht selten

den Vorsokratiker nach eigenen Vorstellungen zurechtmachte.“442 Dennoch führt Spenglers „freies

Spiel der philosophischen Spekulation“ zu interessanten Ergebnissen, die seinen gesamten weiteren

Denkweg vorzeichnen. In der Dissertation liegen keimhaft einige Hauptgedanken des „Untergangs des

Abendlandes“ beschlossen. Eine Eröffnung der Diskussion Spenglers mit einem Blick in sein Heraklit-

Buch bietet sich daher an. Die Ausgangsthese der Dissertation lautet:

„Der Gedanke, in dem Heraklit eine neue Auffassung des kosmischen Daseins gab, ist ein energetischer: der eines reinen (stofflosen), gesetzmäßigen Geschehens. Die Entfernung dieser Idee von der Anschauung anderer, und zwar gleichmäßig der Jonier, Eleaten und Atomisten, ist eine außerordentliche. Heraklit ist mit ihr unter den Griechen völlig einsam geblieben; es gibt keine zweite Konzeption dieser Art. Alle andern Systeme enthalten den Begriff der substantiellen Grundlage (archae, apeiron, to pleon, hylae, to plaeres [...]).“ (RuA,2)

Für Spengler verkörpert Heraklit innerhalb des vorsokratischen Denkens eine Wende des Naturver-

ständnisses, die dem 1910 von Ernst Cassirer nachgezeichneten Übergang vom Substanz- zum Funkti-

onsbegriff443 in den Naturwissenschaften und der Philosophie des späten 19. Jhs strukturell entspricht.

Spengler stellt die „nichtsubstantielle Vorstellungsweise Heraklits“ (RuA,19) in die Nähe der Theorien

Wilhelm Ostwalds, Begründer der physikalischen Chemie und Wegbereiter der Thermodynamik, und

des subjektkritischen Positivisten Ernst Machs. Beide Autoren definieren im ausgehenden 19. Jh. „die

Natur als eine Summe von Energien“ (RuA,15) und können auf die Begriffe „Substanz“ und „Materie“

bei der Beschreibung der Natur weitgehend verzichten. Sie stehen damit - bewußt oder unbewußt - in

einer romantischen Tradition. Der Goethe und Novalis nahestehende, romantische Naturforscher Jo-

hann Wilhelm Ritter444 entwirft auf der Schwelle vom 18. zum 19. Jh. ein energetisches Naturmodell, in

440 Anton Mirko Koktanek: Oswald Spengler. A.a.O.: S. 67/68. 441 Jürgen Naeher: Oswald Spengler. A.a.O.: S. 38. 442 Detlef Felken: Oswald Spengler. A.a.O.: S. 20. 443 vgl. Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. A.a.O. 444 Johann Wilhelm Ritter schrieb Wissenschaftsgeschichte als Entdecker der ultravioletten Strahlen, der Elektrolyse, der

elektrokapillaren Erscheinungen des Quecksilbers und der Ladungssäule, einer Vorform des Akkumulators. Gleichzeitig war er ein bedeutender Schriftsteller. Benjamin bezeichnet seine »Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers« „als die bedeutendste persönliche Prosa der deutschen Romantik“ (GS4,394). Ritter, der u.a. mit Herder, Franz von Baader und Schelling befreundet war, vermittelt in eigentümlicher Weise zwischen Naturmystik und neuzeitlicher Na-turwissenschaft. Seine zerfetzte Kosmologie liest sich wie eine Koproduktion von Goethe und Gertrude Stein. Novalis sagte von Ritter in einem Brief an Caroline Schlegel: „Ritter ist Ritter und wir sind nur die Knappen.“ (N4,275)

106

dessen Rahmen er jeden Substanzbegriff als „Grab der Identität“445 disqualifiziert. In Ritters Natur wird

„Identität“ und „Harmonie“ durch „Differenz“ und „Störung“ ersetzt. „Alles stört sich“446, schreibt er

programmatisch und führt weiter aus: „Ein rein dynamisches System wird gar nicht nach Stof-

fen....fragen dürfen, alle Chemie und Physik wird bloß Bewegungsgrößen zu messen haben. Denn was

sind chemische Zerlegungen und dgl. anders, als Bewegungen?“447

Heraklit verhält sich, so lautet Spenglers provozierende These, zu Ostwald und Mach wie ein „Zeitge-

nosse“; im „Untergang des Abendlandes“ würde er von einer „Gleichzeitigkeit“448 sprechen. Einen Er-

kenntnisfortschritt der Physik des 19. Jhs gegenüber dem im 5. Jh.v.Chr. lebenden Epheser leugnet

Spengler. Fortschritte erkennt er, wenn überhaupt, nur innerhalb der implizit verglichenen Denktraditio-

nen der griechischen Naturphilosophie und der Naturwissenschaft des 19. Jhs an. Schon in diesem frü-

hen Text kündigt sich die im Hauptwerk zentrale Vorstellung separater Kulturmonaden an, die es un-

möglich machten, von einer kontinuierlichen Weltgeschichte zu sprechen. Innerhalb jeder Kulturmona-

de setze deren jeweilige Geschichte immer wieder neu an. So wie Heraklits energetische Philosophie die

(ungefähr zeitgleiche) parmenideische Ontologie übertreffe, stelle auch der Naturbegriff Machs und

Ostwalds einen relativen „Fortschritt“449 im Vergleich zum vorher dominierenden substantialistischen

Naturbegriff dar. Sowohl Heraklit als auch Ostwald und Mach markierten innerhalb ihrer Denktraditi-

onen einen Übergang von einem substantialistischen zu einem funktionalistischen Weltverständnis. He-

raklit stehe Ostwald und Mach näher als seinem Zeitgenossen Parmenides. Im Rahmen einer gänzlich

anderen, mit der griechischen nicht zu vergleichenden Kultur wiederholten Ostwald und Mach eine

strukturelle Wende des Weltverständnisses, wie sie sich innerhalb jeder Kultur von einem bestimmten

Punkt ihrer Entwicklung an zwangsläufig einstelle. Dieser Gedanke kündigt bereits Spenglers im „Un-

tergang des Abendlandes“ entfaltetes zyklisches Geschichtsmodell an. Schon in der Dissertation wird

etwas von der Spannweite, aber auch von der Gewaltsamkeit jenes kulturmorphologischen Vergleichs-

verfahrens spürbar, mit dem Spengler in seinem Hauptwerk alle weltgeschichtlichen Ereignisse im Ras-

ter eines unveränderlichen Gesetzes der Kulturentwicklung einträgt und disparateste Fakten paralleli-

siert. Heraklit stehe innerhalb seiner Kultur an genau der Stelle, an der Ostwald und Mach innerhalb

der ihren stünden. Das Denken des Vorsokratikers lasse sich strukturell demjenigen der beiden Natur-

445 Johann Wilhelm Ritter: Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers. Heidelberg 1810. Faksimiledruck der Aus-

gabe von 1819. Hg. v. Arthur Henkel. Heidelberg 1969. S. 93. 446 a.a.O.: S. 50. 447 a.a.O.: S. 11. 448 vgl. UdA1,149f. 449 Der „Fortschritt“ des energetischen gegenüber dem substantialistischen Naturverständnis darf nicht als Erkenntnisfort-

schritt im traditionellen Sinn verstanden werden. Er beruht in Spenglers Darstellung auf keiner größeren Angemessen-heit des Energie-Begriffs an eine kulturunabhängige Natur. „Natur“ ist für Spengler ein Teil einer Kultur, Teil eines Selbstverständigungsprozesses der Menschen einer bestimmten Epoche. Der „Fortschritt“ der Auffassung einer Natur als Funktion gegenüber einer Natur als Substanz liege auf der Ebene der Kulturen als Formen kollektiver Selbst- und Weltbilder. Kulturen, die sich eine Natur als Substanz entgegensetzen, seien weniger „kultiviert“ als solche, die die Natur nach dem kulturellen Modell geschichtlichen Werdens denken und somit den Natur-Kultur-Dualismus partiell überwin-den. Kulturen, die Natur nicht mehr substantialistisch denken, hätten einen höheren „Selbstbewußtseins-“ oder einfach Kultiviertheitsgrad erreicht.

107

philosophen des 19. Jhs analogisieren; nicht aber substantiell: die Kulturen als ganze blieben unver-

gleichbare Monaden. Ihre Entwicklungsgeschichte denkt sich Spengler als eine feste Form, in die sich

immer wieder neue, gänzlich heterogene „Kultursubstanzen“ ergießen.

Aus der Sicht Spenglers entsubstantialisiert Heraklit den Begriff eines selbstidentischen Seins und über-

führt ihn in die Idee eines ursprungs- und ziellosen Werdens: „Es soll hier lediglich eine Entwicklung

des Prinzips versucht werden, das dieser Denker zur Grundlage seines Weltsystems machte und das mit

wenigen Worten in eine Formel zu bringen ist: panta rhei, die Idee eines reinen gesetzmäßigen Wer-

dens.“ (RuA,5) Für Heraklit ist es wie für Ostwald und Mach

„möglich, den Begriff eines Substrats überhaupt, sei es als das im Wechsel der Erscheinungen Beharrende [...], sei es als eigentliche Materie, fallen zu lassen, wodurch der Begriff der Veränderung (des Werdens, Fließens) einen neuen und reichern Inhalt erhält.“ (RuA,14)

Spengler selbst verabschiedet im Anschluß an die Naturwissenschaft seiner Zeit jede substantialistische

Ontologie. Die Absicht seiner Dissertation besteht darin, „die Seinslehre in eine Werdenslehre zu verwan-

deln, die Weltbilder zu dynamisieren.“450 Durch eine Dynamisierung des Weltbilds, durch eine Über-

führung allen Seins in ein Werden, „erfolgt eine Auflösung aller älteren Probleme ins Genetische“

(UdA(A)2,446), heißt es in der ersten Auflage des „Untergangs des Abendlandes“. Spengler schließt

sich der geistesgeschichtlichen Wende, die Cassirer als Wende vom Substanz- zum Funktionsbegriff

bezeichnet, an. Im Gegensatz zu Cassirer sieht Spengler in der beschriebenen Wende aber kein einmali-

ges ideengeschichtliches Ereignis, sondern den Ausdruck überhistorischer Entwicklungsgesetze von Kul-

turen. Seine Dissertation handelt in gleichem Maße von der Naturphilosophie um die Jahrhundertwen-

de wie von Heraklit. Sie stellt sich in die durch Nietzsche und Bergson vorbereitete Tradition einer Le-

bensphilosophie, die Leben nicht substantialistisch denkt, sondern als ein nie mit sich selbst identisches

Werden, als unentwegten Vollzug. Heraklits

„Versuche, eine neue Anschauung des Geschehens zu gewinnen, entspringen aus der Leugnung des beharrenden Seins. Alles ist nicht etwa im Fluß begriffen - »alles« wäre immer noch ein Sein -, sondern der Hintergrund der Erscheinung ist ausschließlich als reines Wirken, wenn man will, als Summe von Spannungen zu denken.“ (RuA,20)

Mit diesem fast schon poststrukturalistisch klingenden Verweis auf Tendenzen in den Naturwissen-

schaften seiner Zeit bricht Spengler mit der Linearität der traditionellen Wissenschaftsgeschichte. Diese

zerfalle in ein Ensemble von „Wissenschaftsgeschichten“, deren Wege sich niemals kreuzten, aber doch

identischen Linien folgten. Heraklit, Mach und Ostwald werden zu gleichwertigen Marksteinen dessel-

ben Abschnitts auf unterschiedlichen Wegen:

„Ein körperlicher Träger der Bewegung ist nicht zur Vorstellung des Wirkens im Raume, der ‘Wirklichkeit’, notwendig. Die von Mach und Ostwald aufgestellte energetische Theorie steht darin der Idee Heraklits weit näher [als die substantialistische Philosophie der anderen Vorsokratiker]. Nachdem bereits die kritischen Philosophen des 18. Jahrhunderts die Dinge für zusammengeordnete Komplexe von Empfindungen erklärt und damit das Endziel beinahe aller philosophischen Forschung, das Begreifen der Dinge an sich, als unmöglich und irrtümlich nachgewiesen hatten, konnte man die Substanz nicht mehr material auffassen. Die Energetik erkennt

450 Anton Mirko Koktanek: Oswald Spengler in seiner Zeit. A.a.O.: S. 77.

108

diese Kritik wenigstens für den Begriff der Materie an und definiert die Natur als eine Summe von Energien“ (RuA,15).

Spengler zitiert in diesem Zusammenhang aus Ostwalds Buch „Chemische Energie“ folgendes Resü-

mee der neuen Naturauffassung, die in Einsteins „Relativitätstheorie“ und Heisenbergs „Unschärferela-

tion“ ihren Höhepunkt findet: „[...] die Materie verschwindet bei dem Versuch, sie für sich zu denken.“

(RuA,15) Des weiteren verweist er auf Ostwalds „Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus“,

wo ausgeführt wird: „Somit ist Materie nichts als eine räumlich zusammengeordnete Gruppe verschie-

dener Energien und alles, was wir von ihr aussagen wollen, sagen wir nur von diesen Energien aus.“

(RuA,15/16) Ostwalds Kritik am Substanzbegriff findet Spengler in den Fragmenten des Vorsokrati-

kers vorweggenommen. Derselbe „Begriff der Substanz ist es, den Heraklit leugnet“ (RuA,16). Dieser

„gebraucht den Substanzbegriff, der ihm aus der Philosophie der Zeit hätte geläufig sein müssen (archae,

apeiron), niemals“ (RuA,18). Heraklit ersetze die Idee der Substanz durch die Vorstellung eines ununter-

brochenen Werdens und Fließens.

„Es ist für die Existenz des Kosmos notwendig, daß sich unaufhörlich differente Spannungen gegenü-

berstehen, widerstreben, aneinander messen; es darf kein Augenblick der Ruhe eintreten, fortwährend

muß ein Minimum des Unausgeglichenen im Raume vorhanden sein.“ (RuA,19)

Der Heraklitäische Kosmos ist für Spengler „ein ungeheurer und ewiger agon, der sich nach strengen

Kampfregeln abspielt.“ (RuA,33) Eines der berühmtesten Heraklit zugeschriebenen Fragmente sieht im

„Krieg“ (polemos) den „Vater“ und „König von allem“451. Substanz als Prinzip der Identität weicht einer

allumfassenden, nie endenden Wandlung (tropae), einem agonalen Prinzip der Nichtidentität oder Diffe-

renz. „Ohne vorhandene Differenzen ist ein Geschehen“ für Heraklit „undenkbar.“ (RuA,31) Das

Prinzip der tropae sei antidualistisch und an-archisch. Es unterlaufe jede hierarchisierende Spaltung der

Welt in eine göttliche und eine profane Sphäre. „Der moderne Dualismus stammt“ für Spengler (wie

später für Foucault) erst „aus der christlichen Weltanschauung“ (RuA,37). Durch die Aufhebung pola-

rer Gegensätze im Spiel unentwegter Wandlungen wird Heraklit für Spengler, der sich von der Heraklit-

Deutung Hegels abgrenzt, zu keinem dialektisch denkenden Identitätsphilosophen:

„Es wird irrtümlich behauptet, Heraklit habe die Gegensätze geleugnet oder für identisch erklärt. Im Gegenteil, Heraklit hat die Gegensätze betont, schon weil er ein Aristokrat war, der das »Pathos der Distanz« im höchsten Maße besaß und dem es gar nicht einfiel, Unterschiede abschwächen oder bestreiten zu wollen. Er redet nicht von einer Identität der Gegensätze - eine contradictio in adjecto -, sondern von einer Identität der Herkunft und des relativen Charakters der Gegensätze. Nicht der Gegensatz, sondern seine objektive Realität wird bestritten.“ (RuA,29)

Spengler fährt fort:

„Die Absicht Heraklits ist nicht zu verkennen: Die gegensätzlichen Tatsachen sind insofern identisch, als jede erst im Hinblick auf die andere, durch das Dasein der andern vorhanden ist. In dieser wechselseitigen

451 Heraklit: DK 22 B 53. - Die Fragmente Heraklits werden hier wie im folgenden nach den Nummern der in der For-

schung gebräuchlichen Ausgabe H. Diels u. W. Kranz (Hg.): Die Fragmente der Vorsokratiker. 3 Bde. Berlin 101961. zitiert. Die Übersetzung folgt der zweisprachigen Ausgabe von Jaap Mansfeld (Hg.): Die Vorsokratiker. Gr./Dt. Stuttgart 1983. Von Spengler im griechischen Original zitierte Heraklit-Fragmente werden in allen Spengler-Zitaten stillschweigend an obige Übersetzung angeglichen.

109

Abhängigkeit sind sie einander gleich. Deutlich liegt dieser Gedanke in folgendem Aphorismus: »Dasselbe ist: lebendig und tot und wach und schlafend und jung und alt. Denn dieses ist umschlagend in jenes und jenes umschlagend in dieses.«[DK 22 B 88].“ (RuA,30)

Spengler deutet Heraklit nicht dialektisch, sondern relationalistisch. Polare Gegensätze höben sich im

Denken des Vorsokratikers nicht positiv in einem Dritten auf, sondern bedingten sich in ihrer Gegen-

sätzlichkeit wechselseitig.

Mit dem Gedanken des Übergangs von einem substantialistischen zu einem energetischen Deutungs-

rahmen von Natur sowohl in der Antike als auch im 19. Jh. antizipiert Spengler Thomas Kuhns Para-

digmenbegriff452. Er beschreibt den Übergang von der Substanz zur Funktion, vom Sein zum ge-

schichtlichen Werden, als einen Paradigmenwechsel:

„Die allgemeinsten Grundbegriffe, die zur schematischen Veranschaulichung von Naturvorgängen, zu der jeder denkende Mensch neigt, unerläßlich sind, unterliegen im Laufe der Jahrhunderte einer Entwicklung, die von dem jeweiligen Standpunkt der Wissenschaft bestimmt wird, so daß sie inhaltlich nur noch dem Denken einer begrenzten Zeit vollkommen genügen, diesem aber so notwendig sind, daß es nicht ohne Schwierigkeiten möglich ist, sich von ihrem Einfluß zu befreien, um die andersgearteten Begriffe einer früheren Epoche [...] richtig und objektiv aufzufassen.“ (RuA,14)

Die „allgemeinsten Grundbegriffe“ oder Paradigmen, die die Weltverhältnisse und Selbstbilder be-

stimmter Kulturen konstituieren, sind für Spengler unhintergehbar und können nicht ineinander über-

setzt werden. Daraus folgt ein radikaler Relativismus in bezug auf die Möglichkeit der Verständigung

zwischen Angehörigen verschiedener Paradigmen. Zwischen Parmenideern und Heraklitäern sei ein

Diskurs über die Natur bereits genauso unmöglich, wie er prinzipiell zwischen dem 19. Jh. und dem 5.

Jh.v.Chr. unmöglich sei, da es sich bei den jeweiligen „Naturen“ um heterogene kulturelle Produkte

handele. „Natur ist eine Funktion der jeweiligen Kultur.“ (UdA1,219) Mit seiner

„Relativierung unseres geschichtlichen Selbstverständnisses ist er [= Spengler] damit neben Freud und

Einstein der dritte der großen Relativierer unseres Weltverständnisses aus der ersten Hälfte dieses Jahr-

hunderts. Spengler weist darauf hin, daß der Denkvorgang des Relativierens der der Kultur des Abend-

landes spezifische Denkvorgang ist, der gleichzeitig Ungeheures zur Gestaltwerdung unserer Kultur

und unserer Zivilisation beigetragen hat und gleichzeitig die Denkansätze für die Zerstörung eben die-

ser Kultur und Zivilisation enthält.“453

Dieser historistische Kontextualismus, der selbst noch einmal als typisch für das Abendland in seiner

Spätzeit kontextualisiert wird, verwickelt sich in das Dilemma, über seinen eigenen theoretischen Status

keine Rechenschaft ablegen zu können. Der kulturelle Relativismus müßte auch für den historistischen

Wissenschaftstheoretiker gelten, der die Parmenideische mit der Heraklitäischen oder die Ostwald- 452 vgl. Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a.M. 21979. - Auf Analogien zwischen der

Spenglerschen Kulturmorphologie und der Wissenschaftstheorie Kuhns verweist Tracy B. Strong: „Gegenwärtige Meta-historiker wie Michel Foucault gebrauchen den Begriff ‘epistème’ in ziemlich ähnlicher Weise wie Spengler den der ‘Kul-tur’. Ferdinand Braudel und der ‘mentalités’-Ansatz, der heute in Frankreich und anderswo vorherrschend ist, offenba-ren eine sehr an Spengler erinnernde Beschäftigung mit Situationen und Zusammenhängen. Vielleicht kann auch etwas von Spenglers grundlegenden Fragestellungen in dem Begriff des ‘Paradigma’, wie ihn Thomas Kuhn in den letzten siebzehn Jahren verteidigt hat, aufgespürt werden.“ Tracy B. Strong: Oswald Spengler - Ontologie, Kritik und Enttäu-schung. In: Peter Christian Ludz (Hg.): Spengler Heute. München 1980. S. 74-99. Hier: S. 185/186 (¸ Anmerkung 3).

453 Hans-Karl Glinz: Atemberaubende Voraussagen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.04.1977. Nr.89. S. 9.

110

/Machsche mit der Haeckelschen Naturauffassung vergleicht. Außerdem übersieht Spengler, daß neue

Paradigmen, indem sie vorhergehende hinterfragen, sich auf diese zumindest ex negativo beziehen oder

daß sie, mit anderen Worten, in einen Dialog mit ihnen treten müssen. Der Naturbegriff Ostwalds und

Machs entspringt nicht aus dem Nichts, sondern entsteht in der Aktualisierung bisher unaktualisierter

Prämissen des vorhergehenden Naturverständnisses. Das Universum Einsteins und Heisenbergs löst

das Universum Newtons nicht einfach ab, sondern kritisiert und transformiert es. Die Gesetze der

Newtonschen Mechanik werden von Einstein nicht vollständig außer Kraft gesetzt, sondern uminter-

pretiert und in einem neuen Deutungsrahmen auf eine neue Grundlage gestellt. Die prinzipielle Hete-

rogenität der Kulturen erweist sich als ebenso konstruiert wie ihr Korrelat, die strukturelle Identität der

Entwicklungsgesetze des Denkens in allen Kulturen. Dem Relativismus der Kulturen entspricht bei

Spengler unvermittelt ein Objektivismus ihrer Entwicklungsgesetze. Die untereinander scheinbar nicht

zu vergleichenden Kulturen entwickelten sich nach ewig gleichen Gesetzen. Dieses ungelöste Paradox

zieht sich durch das gesamte Werk Spenglers. Sein Kulturrelativismus hat einen sprachphilosophischen

Kern. Er knüpft an Gedanken Humboldts an, wenn er bemerkt:

„Die Sprache ist ein widerstrebendes Element, ein herrschsüchtiges, das seine eigne innere Form besitzt und sie dem aufdrängt, der sie verwendet. Das Nachdenken über etwas vollzieht sich anders, je nachdem man deutsch, japanisch, arabisch denkt. Das Gesetz der Sprache - die Grammatik - zwingt dem Denkenden seine Methode auf.“ (Ufr.,85)

Heraklit faßt seine Kosmologie in zwei bedeutenden Fragmenten in das Bild eines Flusses. „In diesel-

ben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind und wir sind nicht.“454 Für den Fluß gilt, was Der-

rida in bezug auf seinen Ursprung, die Quelle sagt. Sie „entsteht gerade aus diesem Sich-Entziehen [...],

[e]he man sie sucht, ist sie nichts, lediglich ein von der Struktur einer Bewegung hervorgebrachter Ef-

fekt. Die Quelle ist also nicht der Ursprung, sie ist weder beim Aufbruch noch bei der Ankunft.“455

Wenn das Sein als nie mit sich identischer Fluß gedacht wird, kann auch der Mensch, der sich in diesen

Fluß begibt, nie mit sich identisch sein. Für Heraklit ist es „unmöglich, zweimal in denselben Fluß hin-

einzusteigen“456, weil der Fluß nicht zweimal derselbe sein kann und weil auch das Ich, nachdem es

einmal im Fluß war, nicht mehr dasselbe ist. Der Fluß „zerstreut und bringt wieder zusammen und geht

heran und geht fort.“457 Der Mensch gewinnt seine paradoxale Identität in deren permanenter Über-

schreitung. Er wird er selbst, indem er „im Fluß ist“, indem er sich von sich entfernt. Damit gleicht er

selbst einem Fluß oder einer Quelle:

„Als solche ist die Quelle in der Reinheit ihres Wassers immer in die Fremde ihrer selbst disseminiert und ohne Beziehung zu sich selbst als Quelle. Wenn das reine Bewußtsein und das reine Ich wie die Quelle sind, dann insofern, als sie nicht zu sich zurückkehren können.“458

454 Heraklit: DK 22 B 49 a. 455 Jacques Derrida: Qual Quelle. Die Quellen Valérys. In: Ders.: Randgänge der Philosophie. A.a.O.: S. 272. 456 Heraklit: DK 22 B 91. 457 ebd. 458 Jacques Derrida: Qual Quelle. Die Quellen Valérys. A.a.O.: S. 267.

111

Die Auffassung des Seins als Fluß ohne Ursprung und Ziel führt Heraklit, so Spengler, in letzter Kon-

sequenz zu einer zyklischen Geschichtsauffassung. „Heraklit will einer teleologischen Auffassung des

Seins widersprechen. Er sieht den »Lauf der Welt« ewig gleich, ohne Anfang und Ende.“ (RuA,26) In

der absoluten Immanenz, die keinen Ursprung und kein Ziel kennt, könne nie etwas wirklich Neues

entstehen und nur das immer wieder Gleiche geschehen. Spengler verweist hinsichtlich dieses Sachver-

halts auf folgendes Fragment:

„Die gegebene schöne Ordnung (Kosmos) aller Dinge, dieselbe in allem, ist weder von einem der Götter noch von einem der Menschen geschaffen worden, sondern sie war immer, ist und wird sein: Feuer, ewig lebendig, nach Maßen entflammend und nach (denselben) Maßen erlöschend.“459

Heraklit spricht davon, daß auf „der Peripherie des Kreises [...] Anfang und Ende zusammen[fallen]“460.

Der Kreis wird zum Sinnbild der Immanenz eines anfangs- und endlosen Seins. Der Fluß dieses Seins

gleicht eher einer Spirale als einer Gerade. Im Fortschreiten kehrt er immer wieder an einen imaginären

Ausgangspunkt zurück und dreht sich so endlos um sich selbst. „Der Weg der Walkerschraube (Spira-

lenschraube der Walkerpresse), gerade und gekrümmt, ist ein und derselbe.“461 Für Heraklit bleibt der

Wechsel der Erscheinungen

„immer derselbe, immer sich wiederholend; diese Vorstellung verdichtet sich zu einer Lehre der ewigen Wiederkunft. Jeder Versuch eines Entwicklungsgedankens, wie ihn bereits Anaximander hat (biologisch), fehlt hier gänzlich, ebenso jede Heranziehung des Kausalitätsbegriffes. Es gibt für diese Vorstellung kein besseres Bild als das von Heraklit selbst gewählte: »Denen, die in dieselben Flüsse hineinsteigen, strömen immer neue Gewässer zu.«[DK 22 B 12]“ (RuA,26).

Der Fluß des Werdens sei nicht amorph, sondern in sich rhythmisch und gegliedert. „Nach Heraklit ist

der Kosmos ein reines und ewiges Geschehen. Die einzig Konstante in diesem Prozeß ist das Maß.“

(RuA,35) Synonyme für das Maß sind nach Spengler auch der Takt, das Metrum, der Rhythmus und die

Melodie. „Heraklit faßt die Welt als reine Bewegung auf. Der logos ist demnach ihr Rhythmus, der Takt

der Bewegung.“ (RuA,38) Heraklits Fluß des Werdens sei ein zwar anfangs- und endloser, aber den-

noch organischer oder gar schöner Fluß.

„In einer Welt ohne jede stoffliche Qualität, die nichts ist als ein unaufhörliches Entgegenstreben von Differenzen innerhalb des Verlaufs einer Bewegung, gibt es nichts Bleibendes als das Maß. Suchen wir das Verhältnis des Maßes zur Bewegung genau zu bestimmen, so erhalten wir seinen Charakter als Form der Bewegung.“ (RuA,40)

Wie für Nietzsche ist die immanent gedachte Welt für Spengler nur noch als ästhetisches Phänomen zu

rechtfertigen. Diesen Gedanken Heraklit zu unterlegen und dessen logos als Rhythmus zu deuten, ent-

behrt jedoch jeder philologischen Redlichkeit. „Um sich in Heraklits Vorstellung des rhythmischen

Fließens zu versetzen, könnte man sich etwa den rhapsodischen Vortrag homerischer Verse vergegen-

wärtigen.“ (RuA,40) Spengler geht noch einen Schritt weiter und unterlegt Heraklit jene, die gesamte

459 Heraklit: DK 22 B 30. 460 Heraklit: DK 22 B 103. 461 Heraklit: DK 22 B 59.

112

Weltgeschichte zu einem „Großkunstwerk“ stilisierende Kulturmorphologie, die sein eigenes Denken

auszeichnet. Spätestens an dieser Stelle bekommt seine Dissertation etwas Gewaltsames.

„Statt des einzelnen Lebewesens, nimmt er [= Heraklit] die ganze Folge eines Geschlechts als Individuum, dessen Phasen (das Leben des Einzelnen) nur Augenblicke und Abschnitte einer großen und ununterbrochenen Metamorphose sind. Nach dieser mehr morphologischen als physiologischen Anschauung hat man sich das Leben als Wechsel von Jugend und Alter, von Zunahme und Abnahme an Kraft zu denken.“ (RuA,26/27)

Äußerungen zur Entwicklung von Kulturen oder gar zur Geschichte im neuzeitlichen Sinne sucht der

Leser in Heraklits Fragmenten vergeblich. Alfred Baeumler bemerkt: „In der Dissertation Spenglers

steht ein Beispiel vor uns, wie man etwas zurechtmacht. Das Dramatisieren fremder Begriffe ist aber

schließlich doch nur schlechte Poesie.“462

Spengler kommt zu dem Urteil, daß Heraklits Philosophie relativistisch sei. „Eine Konsequenz der be-

ständigen Veränderung der Sinnenwelt - die folgerichtig auch auf den erkennenden Menschen ausge-

dehnt werden muß - ist der Zweifel an der Erkenntnis.“ (RuA,27) In Heraklits Philosophie hätten wir

„ein vollkommen zu Ende gedachtes System des Relativismus vor uns. In der Tat: wo es keinen Stillstand und Ruhepunkt gibt, können die Begriffe der Ethik und Ästhetik nur für den einzelnen geltend und nur von Fall zu Fall angewandt werden.“ (RuA,28)

Heraklits Skepsis richte sich allerdings nur „gegen eine Wissenschaft, die bleibende Verhältnisse

zugrunde legt“ (RuA,27). Sie sei eher als relationalistisch, denn als relativistisch zu werten.

Die innere Widersprüchlichkeit eines reinen Relativismus oder Relationalismus ist Spengler nicht ver-

borgen geblieben. Heraklit muß sich mit der These, daß Sein sei ein nie mit sich identischer Fluß,

zwangsläufig in eine Aporie begeben, in eine Aporie der Darstellung oder diskursiven Repräsentation

dieses Flusses, in ein Begründungsdilemma, auf das Spengler unter Bezugnahme auf Lichtenbergs

Sprachkritik hinweist:

„Die unbedingte Skepsis dem Substanzbegriff gegenüber ist schwer. Parmenides bemerkte mit Recht, daß alles Denken sich auf ein Sein bezieht, daß alles, was gedacht wird, in diesem Augenblick die Eigenschaft der Substantialität erhält. Da das griechische Denken keine Trennung von Bewegendem und Bewegtem kennt, und Heraklit die Einheit im Weltgeschehen ausdrücklich betont [...], so muß die Annahme eines reinen, einheitlichen, unaufhörlichen ‘Werdens’, das die Eleaten leugnen, den Substanzbegriff in jedem Sinne ausschließen. In der Ausführung des Gedankens treten die äußersten Schwierigkeiten der sprachlichen Darstellung auf; einer der Fälle, wo wir bemerken, daß die Sprache selbst philosophische Grundsätze enthält. Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs, bemerkte Lichtenberg; »es wird also immer von uns wahre Philosophie mit der Sprache der falschen gelehrt«. Wir können die Leugnung des Seins sprachlich nicht genau ausdrücken. [...] Die Sprache ist eleatische Philosophie.“ (RuA,17)463

Die diskursive Formulierung des universellen Werdens verwickele sich in einen Selbstwiderspruch. Der

Begriff stelle das Werden fest und mache es zu einem Sonderfall von Sein. Heraklit müsse, um das nie

mit sich identische Werden darzustellen, mit dem Begriff über den Begriff hinausgelangen. Möglich

werde ihm dieses nur mittels einer poetischen Darstellungsform. Der Versuch, seinen „abstrakten Er-

wägungen in einem dem Auge verständlichen und gefälligen Bilde Gestalt zu geben“, sei nicht nur „ei-

462 Alfred Baeumler: Kulturmorphologie und Philosophie. In: Anton Mirko Koktanek (Hg.): Spengler-Studien. Festgabe für

Manfred Schröter zum 85. Geburtstag. München 1965. S. 99-124. Hier: S. 115. 463 Hervorhebung von mir.

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ne Neigung, der Heraklit am leichtesten und liebsten nachgibt“ (RuA,19), sondern wesentlicher Be-

standteil seiner Erwägungen. Heraklit bevorzugt, so Spengler, die literarischen Darstellungsformen

„Spruch“ und „Metapher“. In diesem Vorgehen wird Spengler Heraklit folgen: „Wenn man die Sprache

bildhaft beschreibend, dichterisch also verwendet, wie Farben und Töne, macht man sich von ihrer ge-

heimen Philosophie bis zu einem gewissen Grade frei.“ (Ufr.,86)

Im Mittelpunkt des Heraklitäischen Denkens stehe das Bild des Feuers, welches als Metapher der Me-

tapher gelten könne: „Alles ist austauschbar gegen Feuer und Feuer gegen alles, wie Waren gegen Gold

und Gold gegen Waren.“464 Heraklit bestimme pyr, das Feuer, als tropos, als Wendung und Verwandlung.

Die Trope pyr oder pyr als Trope löse jedes Sein darstellerisch in ein Werden auf.

„Feuer ist für Heraklit nicht in demselben Sinne Ursache (arché) wie für Thales das Wasser oder für Anaximenes die Luft. Es ist im dauernden Wandel, in der Metamorphose des Kosmos, das Feuer nur die unserem Denker liebste und bedeutendste Art (tropé).“465

Die Sprache der Metaphern, deren sich Heraklit bediene, sei in Umkehrung des Lichtenbergschen Dik-

tums die Berichtigung der Philosophie durch den (poetisch gewordenen) Sprachgebrauch. Der „Ge-

halt“ der Heraklitäischen Philosophie verlagere sich von der Ebene des Propositionalen auf die des

Rhetorischen. Heraklit ist für Spengler in erster Linie Künstler. „Heraklit stellte das Feuer unter den an

sich gleichberechtigten Arten der Erscheinung in den Mittelpunkt. Der Grund dieser Wahl ist in dem

weniger wissenschaftlichen als künstlerischen Charakter seines Denkens zu finden.“ (RuA,23) Das Feu-

er der „tropischen“ Wandlung habe eher eine ästhetische als eine physikalische Qualität. Das Urelement

„Feuer“ denken die Vorsokratiker strikt antielementar und antisubstantialistisch. „Die Flamme“,

schreibt Spengler in einem Nachlaßfragment, „ist rätselhaft. Jedes der anderen Elemente, Wasser, Erde

und Luft - fest, flüssig, gasförmig - »ist« etwas. Die Flamme aber ist nicht, sondern wird. Sie ist in der

äußeren Welt das Lebenssymbol, fressend, verzehrend.“ (Ufr.,10) Die das Feuer substantialisierende

Gleichsetzung von Feuer und Weltseele erfolge erst in der Stoa. Heraklits Feuer dagegen verzehre jede

Substanz einschließlich seiner eigenen. Darin gleiche es dem „Fluß“. Für Spengler bleibt es „unver-

ständlich, wie die Vorstellung und Bezeichnung des Feuers als archae von Aristoteles an üblich sein

konnte.“ (RuA,22) Trotz einiger Unterschiede „hat die archae die begrifflichen Merkmale eines Stoffes.“

(RuA,22) Für Heraklit gelte das Feuer dagegen

„nicht als Stoff, sondern als tropae (antamoibae). Dieser Begriff ist wertvoll. Tropae und archae sind die stärksten Gegensätze, archae eine Substanz, etwas an sich Bestehendes und Beharrendes, tropae eine Metamorphose, eine Form. Als archae kann immer nur einer der vorhandenen Stoffe angenommen werden, der aus irgendwelchen Gründen zuerst vorhanden ist; die übrigen sind von ihm abhängig. Tropae ist das Feuer und jede andere Erscheinung gleichmäßig.“ (RuA,22/23)

Die Trope des Feuers sei nicht die einzige, deren sich Heraklit bediene. „Die tropai sind in fortwähren-

der gegenseitiger Ablösung begriffen; es macht dies eine Seite ihres Wesens aus.“ (RuA,23) Es gebe

nicht ausschließlich eine Metapher oder Darstellungsform zur Beschreibung der Welt.

464 Heraklit: DK 22 B 90. 465 Anton Mirko Koktanek: Oswald Spengler in seiner Zeit. A.a.O.: S. 81/82.

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„Die augenblickliche Vorherrschaft der einen Form bedingt bereits eine Machtsteigerung der andern, die endlich einen Grad erreicht, der einen Wechsel herbeiführen muß. Dabei gilt das Feuer - wie gesagt nicht physikalisch, sondern ästhetisch - als die vollkommenste der denkbaren Formen.“ (RuA,24)

Der Wandel selbst sei unsichtbar, das Feuer die privilegierte Form seiner Sichtbarkeit. „Die Verwand-

lung selbst entgeht niemandem, nur ihr Gesetz ist verborgen.“ (RuA,25) Für dieses verborgene Gesetz

stehe in den Fragmenten Heraklits das Bild des Feuers. Das Feuer als unentrinnbare Form der Ver-

wandlung alles Seienden bedeutet für Heraklit das, was seit der Romantik als „Leben“ bezeichnet wird.

Bachelard resümiert seine Untersuchung des Sinngehaltes der Feuermetaphorik:

„Wir haben [...] beim Untersuchen der Psychoanalyse des Feuers bemerkt, daß alle ‘Bilder’ des internen Feuers, des versteckten Feuers, des unter der Asche glimmenden Feuers, kurz, des Feuers, das man nicht sieht und das folglich nach Metaphern verlangt, ‘Bilder’ des Lebens sind. Die projektive Verbindung ist also so ursprünglich, daß man mühelos [...] die Bilder des Lebens in Bilder des Feuers übersetzen kann und umgekehrt.“466

Es wäre im Anschluß an Bachelards den vier „Urelementen“ gewidmeten Büchern467 zu überlegen, ob

die vorsokratischen „Urelemente“ eher als vier Metaphern denn als physikalische Prinzipien gelten

können. Für Heraklit scheint „Feuer“ keine Substanz, sondern ein Darstellungsprinzip, ein Bild zu sein.

Dieses repräsentiert nicht einfach eine Welt, sondern eine Weise, die Welt zu sehen. Spengler führt aus:

„Das Volk, dessen Erzieher Gymnastik, Musik und Homer waren, das für die Welt das Wort kosmos erfand, weil es in ihr vor allem den Sinn der Ordnung und Schönheit sah, behandelte die Philosophie nicht eigentlich als Wissenschaft [...], sondern als den Weg, ein Weltbild zu schaffen, das ihm seine Stellung im All zu übersehen erlaubte, und als eine Gelegenheit, seine Freude am Formen zu betätigen. [...] Dem Hellenen der klassischen Zeit ist die Philosophie bildende Kunst, Architektonik der Gedanken. Die plastische Kraft der Hellenen, ihre Fähigkeit, alles Erlernte und Selbstgeschaffene einem einheitlichen Stil zu unterwerfen, ist eine ungeheure, und diesem Gefühl für Form entspringt die Neigung, philosophische Systeme als Kunstwerke zu konzipieren. Heraklit ist der bedeutendste Künstler unter den Vorsokratikern.“ (RuA,10/11)

Spengler betrachtet die Philosophie der Griechen als geformte Weltweisenartikulation, als Kunstwerk in

dem Sinne, der in Teil 1 dieser Arbeit vorgeschlagen wurde. Die Philosophie konstituiere den Griechen

ihre Welt, forme ihnen ihre Kultur und nähere sich dem Mythos und der Kunst. Heraklits Feuer-

Metaphorik biete den Angehörigen der griechischen Kultur einen Leitfaden der Interpretation ihrer

selbst und ihrer Welt. Kulturen lassen sich mit Cassirer generell als Formen des „Weltbegreifens und

Weltverstehens“468 definieren, die auf „symbolische Formen“ wie Sprachen, Mythen und Stile verwie-

sen sind. Als Stifter einer „symbolischen Form“ des Weltbegreifens und Weltverstehens ist Heraklit für

Spengler einer der bedeutendsten Philosophenkünstler der Griechen. „Heraklits Gedankenwelt, als

Ganzes angesehen, erscheint als eine großgedachte Dichtung, eine Tragödie des Kosmos, den Tragö-

dien des Äschylos in ihrer kraftvollen Erhabenheit ebenbürtig.“ (RuA,46) Damit verschiebt sich der

Schwerpunkt vom Was auf das Wie seiner Philosophie, auf ihren Stil. Die Heraklitäische Philosophie ist

aus der Sicht Spenglers sowohl Philosophie als auch Kunst. Physik und Mythos, Weltverstehen und

466 Gaston Bachelard: Lautréamont. Paris 1939. S. 54f. Zit.n. Jacques Derrida: Die Weiße Mythologie. Die Metapher im phi-

losophischen Text. In: Ders.: Randgänge der Philosophie. A.a.O.: S. 205-258. Hier: S. 252. 467 vgl. Gaston Bachelard: L’eau et les rêves. Paris 1942. Ders.: L’air et les songes. Paris 1943. Ders.: La terre et les rêveries

de la volonté. Paris 1948.Ders.: Psychoanalyse des Feuers. A.a.O. 468 Ernst Cassirer: Zur Logik des Symbolbegriffs. In: Ders.: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Darmstadt 1983. S.

203-230. Hier S. 209.

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Dichten seien in ihr noch nicht voneinander getrennt. Auch neuere, strenger philologisch arbeitende

Heraklit-Forscher würden Spengler in der Einschätzung, daß die Heraklitäischen Fragmente Dichtung

seien, folgen.469 Heraklit steht an der Schwelle vom Mythos zu einer ersten Kritik des Mythos durch

eine Naturphilosophie. Die Vorsokratiker vermitteln zwischen dem mythischen Denken in Bildern und

dem sokratischen Versuch, Bilder systematisch in Begriffe zu überführen. So unternimmt es Anaxi-

mander im 6. Jh.v.Chr., die mythische Götterwelt durch die Rekonstruktion eines „natürlichen Prozes-

ses“ zu ersetzen:

„Der Begriff des natürlichen Prozesses, der bei Thales nur in embryonaler Form auftritt, wurde von ihm voll entwickelt und auf den gesamten von der mythologischen Kosmogonie und Kosmologie bestrittenen Fragenkomplex ausgedehnt. Dabei zeigte er, daß es der überkommenen Götter nicht bedarf, weil der natürliche Prozeß autonom fortschreitet und sich gesetzmäßig vollzieht, d.h. nicht in einer anderen Weise vor sich gehen kann, als er nun einmal vor sich geht.“470

Bei Anaximander und Heraklit kommt es zu Entwürfen, welche die Genese des Kosmos immanent

erklären wollen und dadurch letztlich ganz auf jede Kosmogonie verzichten. Die Gestalt des Kosmos

ergibt sich aus immanenten Konstellationen von Kräften, ihren Verhältnissen und Wirkungen. Diese

universalen Kräfte tendieren immer dazu, selbst transzendent und damit numinos zu werden. Aus heu-

tiger Sicht erscheint uns die vorsokratische Philosophie insofern als vorwissenschaftlich und in diesem

Sinne „mythisch“. Numinose Kräfte wie das Feuer, die das ganze natürliche und gesellschaftliche Le-

ben bestimmen, werden schon von Aristoteles als „Projektionen von Haß und Liebe auf die Natur“471

gedeutet. Mit der Ausbildung systematischer Begriffe bei Anaximander und Heraklit beginnt gleichzei-

tig ein Rationalisierungsprozeß, der aus dem Mythos herausführt: „Es ist gerade dieses begriffliche In-

strumentarium, das im Mythos fehlt, welches die weitere Entwicklung des philosophischen und wissen-

schaftlichen Denkens bestimmt hat.“472 Der Mythos wird bei Heraklit nicht überwunden, sondern

vielmehr das mythische Bild in ein ästhetisches überführt. Als Dichtungen stehen seine Texte zwischen

den Mythen und der Philosophie. Die ästhetische Dimension der vorsokratischen Texte leistet eine

prekäre Vermittlung zwischen Mythos und Ratio.

An dieser „ästhetischen“ Ausrichtung der Heraklitäischen Philosophie, die um den Preis mangelnder

begrifflicher Eindeutigkeit erkauft wird, übt schon Platon Kritik. Im Theaitetos schreibt er über die He-

raklitäer:

„wenn du einen etwas fragst, so ziehen sie wie aus einem Köcher rätselhafte kleine Sprüchlein hervor und schießen diese ab; und willst du dann darüber wieder eine Erklärung, wie es gemeint gewesen, so wirst du von einem andern ähnlichen getroffen mit ganz neuer Wortverfertigung. Zu Ende bringen wirst Du aber niemals etwas mit einem von ihnen, noch auch sie selbst untereinander. Sondern sehr genau beobachten sie dieses, daß ja nichts fest bleibe weder in der Rede noch auch in ihren eignen Seelen, indem sie, wie mich dünkt, besorgen, dies

469 „Wie der Anblick der monumentalen Ruinen der griechischen Tempel von Paestum oder Girgenti in uns die Empfin-

dung des Schönen und unmittelbar Zugänglichen auslöst [....], ebenso fühlen wir uns von den erhaltenen Fragmenten Heraklits sofort angesprochen und innerlich erregt. [...] Der Stil war vermutlich aufzählend und erzählend [...], ähnlich der explizierenden Darstellungsweise der Dichtung [...].“ Jaap Mansfeld: Heraklit. In: Ders. (Hg.): Die Vorsokratiker. Bd.1. Gr./Dt. Stuttgart 1983. S. 231-243. Hier: S. 231/232.

470 Jaap Mansfeld: Einführung zu ders. (Hg.): Die Vorsokratiker. Bd.1. Gr./Dt. Stuttgart 1983. S. 16. 471 A. Graeser: Die Vorsokratiker. In: Ottfried Höffe (Hg.): Klassiker der Philosophie I. München 1985. S. 13-37. Hier S. 27. 472 Jaap Mansfeld: Einführung. A.a.O.: S. 17.

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möchte etwas Beharrliches sein, wogegen sie eben so gewaltig streiten und es überall, wo sie nur können, vertreiben.“473

Spengler folgt Heraklit auf seinem ästhetischen Lösungsweg, um dem radikalen Relativismus zu entrin-

nen. Lebensphilosophie wird für Spengler gleichbedeutend mit ästhetischer Theorie. „Mit Heraklit und

Nietzsche bekennt sich Spengler zur artistischen statt zur moralischen, zur ästhetischen statt zur ethi-

schen Welt und Wertung.“474 Seine eigene Lebensphilosophie wird zu einer ästhetischen Theorie, wel-

che sich die Exorbitanz der Kunstwerke, die ein Teil der Welt sind und doch von einer Außenposition

auf die Welt reflektieren, heuristisch fruchtbar macht, und zwar auf zwei Ebenen: einmal dadurch, daß

seine Geschichtsphilosophie selbst narrative und damit ästhetische Züge annimmt, zum anderen da-

durch, daß Spengler Geschichte in erster Linie als Kunstgeschichte schreibt.

Heraklits Bild der Flamme inspiriert Spengler zu seiner eigenen Lebensphilosophie, die er expressis verbis

nicht im Hauptwerk, sondern in nachgelassenen Fragmenten zu einem geplanten Werk über die Ur-

und Frühgeschichte, die 1965 unter dem Titel „Urfragen“ veröffentlicht worden sind, entwickelt hat.

Die Wahl Heraklits als Bezugspol ist nur innerhalb des zyklischen Geschichtsmodells zu verstehen.

Spengler selbst situiert sich innerhalb seiner Kultur an der Stelle, die Heraklit in der griechischen Kultur

innehat. „Was ist das Leben?“ fragt Spengler und antwortet: „Ein Geheimnis, verwandt der Tatsache

»Flamme«, die rätselhaft im Bild unserer Welt erscheint. Sie ist reine Wandlung, kein »Ding«. [...] das

Leben ist Flamme.“ (Ufr.,7) Das Leben ist „wie die Flamme“ ein „bewegtes Dasein“, also „»Geschich-

te«. Bewegung ist Geschichte: das was geschieht. »Sein« ist Abstraktion. Flamme ist reine Bewegung.“

(Ufr.,18) Das Leben gilt in diesem Zusammenhang nicht nur in einem metaphorischen, sondern auch

in einem wörtlichen Sinne als Flamme, als eine unendlich verzögerte Verbrennung, als ein Atmen. So-

wohl die Flamme als auch die Atmung sind Formen der Oxydation.

„Alles Lebendige atmet. Es steht damit zur Wärme, zur »Verbrennung«, zum Feuer in Beziehung. Das Leben ist wie eine Flamme, die genährt wird und lodert. Ob Pflanze oder Tier: der Kreislauf warmer Säfte, besonders das Blut, ist ein Sinnbild des Feuers.“ (Ufr.,4)

Das Leben bildet für Spengler einen Reflexbogen auf dem Felde der chemischen Energie. Es zögert

den schnellen Verbrennungsprozeß der Flamme unendlich hinaus und läßt ihn zu einer fest umrissenen

Gestalt gerinnen. „Die Flamme ist rein und unmittelbar das, was das Leben in verschleierter Gestalt

ist.“ (Ufr.,22) Auch genetisch stammt das Leben für Spengler vom Feuer ab. „Die Erde war einst ein

Glutball: Feuer. Das Leben ist ein Rest des Feuers“ (Ufr.,3), dessen Sublimat. Das bewußte, geschichtli-

che Leben des Menschen sublimiere wiederum das organische Leben. Das Leben ist für Spengler ver-

zögertes, aufgeschobenes Feuer (Atmung), die Reflexion ist verzögertes, aufgeschobenes Leben (Ge-

schichte). Sowohl das Leben als auch die Geschichte zeichneten sich durch eine innere Differenz aus,

die es dem Philosophen verwehre, Leben und Geschichte als metaphysische, letzte Prinzipien zu veran-

schlagen. „Geschichte heißt, daß etwas geschieht, anders wird, als es war: das bedeutet, daß Wider- 473 Platon: Theaitetos. 180a. 474 Anton Mirko Koktanek: Oswald Spengler in seiner Zeit. A.a.O.: S. 81.

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spruch und Widerstand vorhanden ist, der überwunden werden soll und neuen wirkt. [...] Wo nicht Wi-

derstand ist, da geschieht nichts.“ (Ged.,59) Die Einsicht in den Primat des Lebens und der Geschichte

nötigt die Reflexion zu einem Verzicht auf Versuche, letzte Prinzipien zu finden, die der Reflexion vo-

rausgehen oder zugrundeliegen. Sowohl Benjamin als auch Spengler sind material orientierte Kulturphi-

losophen. Im Mittelpunkt ihrer Erwägungen stehen keine streng philosophischen Rationalitäts- und

Begründungsprobleme, sondern Probleme der Kultur, der Geschichte und der Kunst. Die philosophi-

sche Reflexion Spenglers und Benjamins richtet sich nachträglich auf Geschichte, Kultur und Kunst als

vorgängige Manifestationen von Reflexion. Diesen Gestus „konstitutiver Nachträglichkeit“475 teilen beide

Autoren mit der Hermeneutik.

475 Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff abso-

luter Selbstreflexion. Frankfurt a.M. 1987. S. 86.

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3.2. „Der Untergang des Abendlandes“ als Roman oder Spenglers „Übermaß an unbefriedigter Einbildungskraft“

„Spenglers Buch [...] ist [...] über alle Maßen faszinierend: nicht als Philosophie, sondern als Roman der Weltgeschichte; nicht als Gedankensystem, sondern als Sprachkunstwerk, das seine Form weniger der begrifflichen Erkenntnis verdankt, als vielmehr einer »un-mittelbaren Gewißheit«, einer poetischen Intuition. Es ist der unerreichte Versuch, His-torie als schöne Kunst zu betreiben. Für den ästhetischen Sinn, für Sprach- und Stilge-fühl ist das Buch ein Fest. Für den Verstand ist es Gift.“

Andreas Kilb476

Spenglers Schriften behandeln die Fragen der Kunst und der Ästhetik nicht nur als Themen, sondern

versuchen sich ästhetischer Darstellungsmittel auch als formaler Organisationsprinzipien zu bedienen.

Sein Hauptwerk, „Der Untergang des Abendlandes“, gleicht in vielen Punkten einem Roman. Spengler

erzählt Geschichte. Die späteren Versuche zur Ur- und Frühgeschichte sowie zur Anthropologie greifen

auf die literarischen Formen des Aphorismus und des Fragments, die Spengler aus seiner Lektüre von

Heraklit und Nietzsche vertraut sind, zurück. Der irreduziblen Individualität der Ereignisse in der ge-

schichtlichen Welt unangemessen, weckt die systematische Philosophie in Spengler eine „geheime Sehn-

sucht nach künstlerischem Ausdruck: poetische Beschreibung, dramatische Konzeption, Bild, Vision,

Andeutung durch blitzartige Aphorismen (die das Mittel der Sprache nur berühren)!“ (FdW.,19/20)

„Der Untergang des Abendlandes“ ist die Frucht eines gescheiterten Romanprojekts, mit dem Spengler

die künstlerische Erschließung der geschichtlichen Welt zu Beginn des 20. Jhs anstrebte. Nachdem ihm

das Erbe seiner 1910 verstorbenen Mutter zugefallen ist, gibt er seine Stellung als Gymnasiallehrer in

Hamburg auf und zieht 1911 mit dem Ziel, Schriftsteller zu werden, nach München. Schon als Acht-

zehnjähriger plant er Dramen mit hochtrabenden Titeln wie Montezuma, Menschenfrühling, Malstrom, Cä-

sar, Sokrates und Tiberius. Montezuma wird als einziger Entwurf 1897 vollendet. Er legt das Stück einem

Onkel, der Oberregisseur am Kasseler Hoftheater ist, vor. Dieser lehnt den Montezuma ab.

Spengler scheint München ganz bewußt und aus primär „literarischen“ Gründen als Wohnsitz gewählt

zu haben. In einem Brief begründet er seine Wahl mit der besonderen geistigen Atmosphäre der Stadt:

„Denn München ist in Deutschland die altmodische Stadt par excellence, die heute Berlin gegenüber

von der letzten Künstlerromantik zehrt.“ (Sp.Br.,35) In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg war

München, wie Felken treffend bemerkt, „ein Stück Lebensphilosophie.“477 In der Isar-Metropole resi-

diert George. Spengler wohnt in seinem ersten Münchner Jahr in der Kaulbachstraße in unmittelbarer

Nachbarschaft des Hauses, in dem der George-Kreis regelmäßig zusammentraf. Obwohl er Georges

Dichtung wie Benjamin sehr schätzte478, hatte Spengler scheinbar keinen Kontakt zum George-Kreis.

476 Andreas Kilb: Anschwellende Geistesfinsternis. Einiges über die Wiederkehr einer alten Epochenstimmung, den „Bocks-

gesang“ von Botho Strauß und Oswald Spenglers Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“. In: Die Zeit. Nr.14 vom 2. April 1993. S. 57/58.

477 Detlef Felken: Oswald Spengler. A.a.O.: S. 26. 478 „In deutscher Sprache ist der überhaupt erreichbare Gipfel Stefan George, der ganze Gedichtbücher als artistische Ein-

heiten komponierte, unter sorgfältiger Auswahl der Versmaße, und das Einzelgedicht daraufhin mit bewußter Strenge entwarf.“ (RuA,153)

119

In München lebten zu dieser Zeit auch Thomas Mann, dessen Werke sich für Spengler durch eine

„Biedermeierempfindsamkeit, ins Großstädtisch-Homosexuelle projiziert,“ (Sp.Br.,24) auszeichnen,

und Rainer Maria Rilke, dessen Lyrik er kurz und bündig als „Brei“479 beschimpft. Auch bedeutende

bildende Künstler tragen zu Münchens Ruf als Kulturmetropole bei, so die Malergruppe „Blauer Rei-

ter“. 1903 hält Lenin sich in München auf, während zehn Jahre später „der Schneidermeister Popp den

Wiener Maler Adolf Hitler als neuen Untermieter“480 begrüßt. Zur gleichen Zeit propagieren Erich

Mühsam, Gustav Landauer und Ernst Toller ihren Anarcho-Sozialismus.481 „Avantgarde und Rassen-

mystik, anarchistische und rechtsradikale Utopien stießen in diesem München der Vorkriegszeit wie

wohl nirgendwo sonst aufeinander und gaben der Stadt eine unvergleichliche Atmosphäre vieldeutiger

Modernität.“482 Vor dem Hintergrund dieser historischen Kulisse wird deutlich, warum Spengler in den

Jahren zwischen 1910 und 1920 eine Gegenwartsdiagnose erstellen konnte, die in vielen Details heutige

Bestimmungen der „Postmoderne“ vorwegnimmt. Die Münchner Atmosphäre wird von Spengler

mehrfach geschmäht, übt aber doch eine so große Faszinationskraft auf ihn aus, daß er bis an sein Le-

bensende in München wohnhaft bleibt. Unbewußt einen gängigen literarischen Topos reproduzierend,

diffamiert er die Literatur seiner Zeit pauschal als dekadente Verfallserscheinung. Spengler geißelt ge-

nau die „Décadence“ (Sp.Br.,24), deren geschichtsphilosophischer Protagonist er werden sollte. Déca-

dence und Décadence-Kritik liegen in seinem Werk so nah beieinander, daß sie nicht unterschieden

werden können. Trotz seiner Kritik an der Gegenwartsliteratur betrachtet Spengler die Literatur, im

besonderen den Roman, als letzte Möglichkeit, das Ganze der Epoche nach der Blütezeit der Philoso-

phie auf den Begriff zu bringen. Eine der dringlichsten Aufgaben seiner Zeit sieht er in der Abfassung

eines großen Romans. Seinem Freund Hans Klöres teilt er während des Krieges mit:

„Wenn ich die dichterischen Möglichkeiten überblicke, welche die sehr unkünstlerische Zukunft Deutschlands uns noch aufhebt, so erwarte ich wenig von der Lyrik und noch weniger vom Drama. Aber ein Roman großen Stils, wie ihn Paris 1750-1850 besaß, könnte aus den neuen ungeheuren Verhältnissen nach diesem Kriege hervorgehen, vorausgesetzt, daß es Köpfe gibt, welche die Überlegenheit besitzen, um die ganze späte, an das Imperium Romanum mahnende Welt des reifenden 20. Jahrhunderts zu überblicken, mit ihrem Reichtum neuer Probleme, neuer Menschen, neuer Formen der weltstädtischen Zivilisation. Bis jetzt haben wir nur die Romane von Goethe, der Rest ist Plunder. Ein Roman soll die Summe des Daseins einer Epoche ausschöpfen (Goethe gestaltete die Epoche der Aufklärung von 1749 bis zum Ende Napoleons) [...]. Ein Roman kann nur durch Reichtum Gehalt erlangen, und wir hatten seit 80 Jahren keinen innerlich reichen Menschen mehr in unsrer Literatur.“ (Sp.Br.,34/35)

Dieser „innerlich reiche“ Mensch wollte Spengler selbst sein. Zeit seines Lebens war er von einem star-

ken Sendungsbewußtsein geprägt. Schon als Kind trägt er die Idee in sich, er „müßte eine Art Messias

werden. Eine neue Sonnenreligion stiften, ein neue Weltanschauung - das war zu neun Zehnteln der

Inhalt meiner Träume“483. Auch an seinen Roman knüpft Spengler große Hoffnungen und stellt ihn in

479 Oswald Spengler: Poetica 55, 127. Spengler-Archiv. Zit.n. Detlef Felken: Oswald Spengler. A.a.O.: S. 27. 480 Detlef Felken: Oswald Spengler. A.a.O.: S. 26. 481 Auch Benjamin studiert von 1915 bis 1917 in München und lernt dort in einem Mexikanistik Seminar Rainer Maria Rilke

kennen. 482 Detlef Felken: Oswald Spengler. A.a.O.: S. 27. 483 Oswald Spengler: Eis Heauton. A.a.O.: S. 36.

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die direkte Nachfolge der Romane Goethes. Spenglers Biograph Koktanek bemerkt in bezug auf die

ersten Münchner Jahre:

„Mit was für Entwürfen trug er sich in den ersten Münchner Jahren? [...] Ein Lieblingsprojekt tauchte unter dem Titel Der Münchner Roman auf (Varianten: Der komische, der große, der bizarre, der groteske Roman), als stärkere Titel erwog Spengler: Der sterbende Faun oder Der Tod des Dionysos.“484

Spengler verfolgt mit dem Projekt eines „großen Romans“ wie alle bedeutenden Romanschriftsteller

seiner Zeit eine geschichtsphilosophische Intention. Die Gattung des Romans nähert sich seit der Mitte

des 19. Jhs dem geschichtsphilosophischen Diskurs an. Besonders deutlich äußert sich diese Tendenz

in Tolstois „Krieg und Frieden“, dessen letzten Bände fast ausschließlich geschichtsphilosophischen

Reflexionen gewidmet sind. Tolstoi führt am Beispiel der Napoleonischen Kriege vor, daß die Ge-

schichte der Neuzeit keinen Gesetzen folgt und nicht durch bewußte Entscheidungen Einzelner

beeinflußt werden kann, sondern ein sinnloses, von Zufällen diktiertes und katastrophisches Gesche-

hen ist, dem die offizielle Geschichtsschreibung post festum einen seine Sinnlosigkeit verklärenden Sinn

zuspricht. Tolstoi antizipiert Theodor Lessings Deutung der „Geschichte als Sinngebung des Sinnlo-

sen“485. Auch in Hermann Brochs „Die Schlafwandler“, einem Zyklus dreier Romane, die mittels dreier

verschiedener Formprinzipien (romantisch, realistisch, modern) die drei Jahrzehnte vor dem Ersten

Weltkrieg thematisieren, löst sich das Romangeschehen nach und nach in geschichtsphilosophische

Theoreme auf. Der letzte „Roman“ des Zyklus zerfällt in Essays und disparate Handlungsstränge. Dem

Zerfallen der Form entspricht auf der Ebene des Inhalts ein Zerfall der Werte, der Biographien und

letztlich sogar der Menschen in ihrer körperlichen Integrität. Andere große Romane der Zeit wie Tho-

mas Manns „Zauberberg“ und Musils „Mann ohne Eigenschaften“ versuchen mit den Mitteln literari-

scher Reflexion Antworten auf die geschichtliche Lage zu geben, die zum Ersten Weltkrieg führte. Im

„Zauberberg“ gehen diese Reflexionen in die Dialoge zwischen Naptha und Settembrini ein, im „Mann

ohne Eigenschaften“ in die Überlegungen Ulrichs zur „Parallelaktion“. Beide Romane erzählen Ver-

lustgeschichten. Sie berichten vom Verlust des Subjekts, der Geschichte und des Subjekts der Ge-

schichte. „Seinesgleichen geschieht“486, heißt es in Musils Roman lakonisch von der Geschichte. Für

Ulrich, den „Mann ohne Eigenschaften“, liegt „im Verlauf der Weltgeschichte ein gewisses Sich-

Verlaufen“487. An die Stelle der modernen Forderung, der Mensch „sollte Geschichte machen“, tritt für

Ulrich die postmoderne Maxime, er „müßte sie erfinden“488. Erfindung von Geschichte bezeichnet ü-

ber weite Strecken auch Spenglers Verfahren.

Die geschichtsphilosophische Reflexion, die diese Romane ausstellen, bleibt gebrochen. Der große

Roman des 20. Jhs rückt nicht an die Stelle der Geschichtsphilosophie, sondern reflektiert darstellerisch

das Ende der Möglichkeit, Geschichte zu erzählen und somit das Ende der Geschichte. Angesichts von

484 Anton Mirko Koktanek: Oswald Spengler in seiner Zeit. A.a.O.: S. 121. 485 vgl. Theodor Lessing: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. München 1983. 486 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg 51986. S. 357. 487 a.a.O.: S. 361. 488 a.a.O.: S. 362.

121

Döblins „Berlin Alexanderplatz“ prägt Benjamin im Jahre 1933 das Schlagwort einer „Krisis des Ro-

mans“ (GS3,230). Aus der Sicht Benjamins zeugt Döblins Roman mittels der Montage vom Ende ko-

härenter, narrativ reproduzierbarer Biographien unter den Bedingungen der ausgehenden Moderne.

Wie alle anderen großen Romane dieser Zeit führe auch Döblins „Berlin Alexanderplatz“ die Zerset-

zung des Romans vor. Spenglers Romanprojekt, das die Unmöglichkeit narrativer Repräsentation in der

ausgehenden Moderne nicht reflektiert, ist zum Scheitern verurteilt. Spengler will die von ihm als „de-

kadent“ mißbilligte Auflösungsbewegung des Bildungsromans nicht mitvollziehen, sondern hält an der

klassischen epischen Aufgabe fest, narrativ „die Summe des Daseins einer Epoche aus[zu]schöpfen“

(Sp.Br.,34/35). Nur noch der Roman sei in der Lage, einer entfremdeten Gesellschaft zum Bewußtsein

einer kulturellen Identität zu verhelfen. Dieses Postulat enthält einen inneren Widerspruch. Einerseits

gilt die integrative Kraft des Epischen als Korrelat einer geschlossenen Welt. Der geschichtliche Ort

des Epos liegt für Spengler - wie für den jungen Georg Lukács - in der Antike. Andererseits wird vom

Roman gefordert, er solle die offene Welt der Moderne mit sich selbst versöhnen, die moderne Welt

wieder in eine geschlossene Welt verwandeln. Ein solcher integrativer Roman könnte unter den Bedin-

gungen einer mit sich entzweiten Menschheit unmöglich geschrieben werden.

Spengler fordert, daß „ein großer Roman eine Epoche erschöpfen muß. Das tun Wilhelm Meister, die

Liaisons dangereuses und Rouge et Noir.“ (Sp.Br.,68) Nur der große, heroisch der zivilisatorischen Er-

starrung widerstehende Geist vermöchte noch einmal, in einem gewaltigen Entwurf, die „Summe“ der

Epoche zu ziehen und ihr darin gleichzeitig zu trotzen. Die großen Romane, die dem Ersten Weltkrieg

folgen, zeigen die Unerfüllbarkeit der von Spengler an den Roman gestellten Forderung. Der Roman

als „Summe des Daseins einer Epoche“ wird von Thomas Mann ironisiert, von Broch, Musil, Kafka und

Döblin zerbrochen.

Der gescheiterte Romanschriftsteller Spengler wendet sich der Geschichtsschreibung zu. Als Historiker

bewahrt er sein künstlerisches Selbstverständnis. Spengler möchte Geschichte erzählen. „Geschichte a-

ber ist Erzählung des Lebens, nicht Aufzählung seiner Spuren.“ (FdW.,17) Gleichzeitig erfindet er Ge-

schichte. In einem Fragment aus dem unvollendeten Buch über die „Frühzeit der Weltgeschichte“ gibt

Spengler die Erzählung als genuines Formprinzip der Geschichtsschreibung an.

„Geschichte als der Strom einzelner, unwiderruflicher, einmaliger Taten und Täter ist das, was erzählt und nur erzählt werden kann. Geschichtsschreibung ist also Dichten, epische oder tragische Dichtung, mit dem Auge für Schicksale: andernfalls bleibt man in dem Hilfswissen und Vorwissen der Datensammlung stecken. Aber erzählen läßt sich nur das, was man lebendig vor sich sieht, nicht die Form des Tuns, sondern die Tatsache der Tat. Und wo die Daten verschollen sind, läßt sich die tatsächlich gewesene, aber vergessene Geschichte nur ahnen. Die Form ist erhalten, nicht das Wesen. Es ist wenig: aber je tiefer der Dichter das Unvergessene sieht, desto deutlicher ahnt er an den Resten das Vergessene.“ (FdW.,3)

Spengler setzt den konkreten und übertragenen Sinn des Substantivs „Geschichte“ gleich. Der Ge-

schichtsschreiber erzähle Geschichten. „Über Geschichte soll man dichten. Und deshalb behält Ge-

schichtsschreibung hohen Ranges immer etwas vom Heldensang.“ (FdW.,26)

122

Für Benjamin steht im Gegensatz zu Spengler fest, daß die Zeit der „Erzählung“ und des „Erzählers“

und damit auch die Zeit der epischen Geschichtsschreibung seit der Mitte des 19. Jhs abgelaufen ist.

„Der Erzähler - so vertraut uns der Name klingt - ist uns [...] etwas bereits Entferntes und weiter noch

sich Entfernendes.“ (GS2,438). Die Bindungskraft der Tradition habe in den industrialisierten Gesell-

schaften Europas ihre Kraft verloren. Auch die Biographie des Menschen zerfalle unter den Bedingun-

gen der Lohnarbeit zunehmend in diskontinuierliche, nicht mehr miteinander zu vermittelnde Einzel-

momente. Die Rezeptionshaltung des modernen Menschen richte sich dementsprechend ganz auf Zer-

streuung und momenthafte Erlebnisse, nicht dagegen auf Kontinuität erfordernde Erfahrungen, wie sie

der Erzähler vermittele. Als eine Folge der gesellschaftlichen Modernisierung gibt Benjamin an,

„daß es mit der Kunst des Erzählens zu Ende geht. Immer seltener wird die Begegnung mit Leuten, welche rechtschaffen etwas erzählen können. Immer häufiger verbreitet sich Verlegenheit in der Runde, wenn ein Vermögen, das uns unveräußerlich schien, das Gesichertste unter dem Sicheren, von uns genommen würde. Nämlich das Vermögen, Erfahrungen auszutauschen. Eine Ursache dieser Erscheinung liegt auf der Hand: die Erfahrung ist im Kurs gefallen.“ (GS2,439)

Ein wichtiger Grund für das Ende des Erzählens liegt nach Benjamin in der Expansion der Informati-

onstechnologien. „Wenn die Kunst des Erzählens selten geworden ist, so hat die Verbreitung der In-

formation einen entscheidenden Anteil an diesem Sachverhalt.“ (GS2,444) Informationen unterschie-

den sich von Erfahrungen dadurch, daß sie den direkten Bezug zum Leben des Einzelnen verloren hät-

ten. Sie vermittelten uns nur noch momenthafte „Erlebnisse“, die keine Chance hätten, unserem Erfah-

rungsschatz assimiliert und somit erzählbar zu werden: „[...] beinah nichts mehr, was geschieht, kommt

der Erzählung, beinah alles der Information zugute.“ (GS2,445) Die Information unterscheide sich von

der Erzählung durch die Distanz zum Leben des Informierten und des Informierenden. Informationen

erreichten die Menschen über Massenmedien. „Jeder Morgen unterrichtet uns über die Neuigkeiten des

Erdkreises.“ (GS2,444) Informationen hätten keine Chance, in unser Leben einzugehen. Anders dage-

gen Erzählungen, deren Quelle Erfahrungen seien, „die von Mund zu Mund“ (GS2,440) gehen:

„Die Erzählung, wie sie im Kreis des Handwerks - des bäuerlichen, des maritimen und dann des städtischen - lange gedeiht, ist selbst eine gleichsam handwerkliche Form der Mitteilung. [...] Sie senkt die Sache in das Leben des Berichtenden ein, um sie wieder aus ihm hervorzuholen.“ (GS2,447)

Der Erzählung liege ein anderer Umgang mit der Welt der Dinge zugrunde als der Information. Der

Erzählung entsprächen Erfahrungen, wie sie mit dem handwerklichen Verhältnis zu den Dingen ein-

hergingen, der Information bloße Erlebnisse, sensomotorische „Chocks“ (GS1,613), wie sie die indust-

rialisierte Lebenswelt nach sich ziehe. Der Zusammenhang von Industriearbeit und Erfahrungsarmut

ist auch Spengler nicht entgangen:

„Jetzt aber, seit dem 18. Jahrhundert, arbeiten die zahllosen »Hände« an Dingen, von deren tatsächlicher Rolle im Leben, auch im eigenen, sie gar nichts mehr wissen und an deren Gelingen sie gar keinen inneren Anteil nehmen.“ (MuT.,51/52)

Das Ende der Erzählung gilt für Benjamin unter diesen Umständen als unwiderruflich. Nichts wäre aus

seiner Sicht

123

„törichter, als in ihm lediglich eine »Verfallserscheinung«, geschweige denn eine »moderne«, erblicken zu wollen. Vielmehr ist es nur eine Begleiterscheinung säkularer geschichtlicher Produktivkräfte, die die Erzählung ganz allmählich aus dem Bereich der lebendigen Rede entrückt hat und zugleich eine neue Schönheit dem Entschwindenden fühlbar macht.“ (GS2,442).

Benjamin plädiert für ein Anerkennen des Modernisierungsprozesses und weist auf die Chancen hin,

welche die neuen Weltverhältnissen in sich bergen. Die Geschichtsschreibung solle der Erzählung inso-

fern nicht nachtrauern, sondern sich um neue Ausdrucksformen bemühen. Den höchsten Ausdruck

erzählerischer Historiographie findet Benjamin in Herodots „Historien“ (GS2,445) verwirklicht. Ge-

genüber dieser antiken Form von Geschichtsschreibung müsse der moderne Historiograph „das epi-

sche Element der Geschichte preisgeben. Sie wird ihm Gegenstand einer Konstruktion.“ (GS2,468)489

Spengler hält im Gegensatz zu Benjamin an einer narrativen Geschichtsschreibung fest. Lücken im Ge-

schichtsbild meint er durch Analogieschlüsse und erzählerische Imagination füllen und so die Kontinui-

tät der Geschichte in ihrer Darstellung wahren zu können. „Der Untergang des Abendlandes“ hat die

Weltgeschichte zum Thema. Spenglers relativistische Grundthese, „daß eine widerspruchslose Einsicht

in die letzten Gründe des Daseins uns nicht gegeben ist“ (UdA1,VII), steht in einem seltsamen Wider-

spruch zu den Objektivitäts- und Erstreckungsansprüchen, die er mit seiner Universalhistorie verbin-

det. Nicht nur die Kulturen aller Zeiten bilden den Gegenstand seiner Geschichtsschreibung, sondern

auch die Zukunft. Das erste Kapitel des Hauptwerks beginnt mit dem Satz: „In diesem Buche wird

zum ersten Mal der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen.“ (UdA1,3) Möglich ist Spengler

dieser überzogene Anspruch nur aufgrund seines Mangels an methodologischem Bewußtsein. „Niemals

hätte Spengler die erstaunlichen Massen seiner historischen Analogiebildungen [...] literarisch aufzuhäu-

fen vermocht, wenn er sich im Fluß seiner Sätze von Bedenklichkeiten über ihre methodologische Va-

lidität hätte hemmen lassen.“490 Spengler verabscheut die Arbeit mit Dokumenten und betreibt keine

Quellenkritik. Historiker, die mit Quellen und Dokumenten arbeiten, diffamiert er als „Scherbenord-

ner“ (FdW.,12). Er fällt damit hinter ein methodologisches Grundpostulat moderner Geschichtsfor-

schung zurück, welches Droysen in aller Schärfe formuliert hat:

„Dies ist der erste große Fundamentalsatz unserer Wissenschaft, daß, was sie über die Vergangenheiten erfahren will, sie nicht in diesen sucht, denn sie sind gar nicht und nirgend mehr vorhanden, sondern in dem, was von ihnen noch, in welcher Gestalt auch immer, vorhanden und damit der empirischen Wahrnehmung zugänglich ist.“491

Dem Postulat, „daß die Geschichte beginnt, wo Urkunden vorliegen“ (FdW.,16), hält Spengler entge-

gen: „Nein, mein Herr, da beginnt der Zettelkasten, nicht die Geschichte selbst!“ (FdW.,16) Spenglers

methodologisches Selbstverständnis ist von erschreckender Simplizität: „Ich erzähle und lasse die Be-

weise für später.“ (FdW.,6)

Der „Untergang des Abendlandes“ ist oft und nicht ganz zu unrecht als Kunstwerk interpretiert wor-

den. Thomas Mann nennt Spenglers Hauptwerk in einen Interview aus dem Jahre 1922 einen „intellek- 489 zu Benjamins Theorie der Geschichtsschreibng vgl. Kapitel 4.3.3. 490 Hermann Lübbe: Historisch-politische Exaltationen. Spengler wiedergelesen. A.a.O.: S. 9. 491 J.G. Droysen: Historik. Hg. v. R. Hübner. Darmstadt 31958. S. 20.

124

tuellen Roman“492 und stellt ihn als solchen neben seine eigenen „Betrachtungen eines Unpolitischen“

sowie Hermann Graf Keyserlings „Reisetagebuch eines Philosophen“. Auch für Armin Baltzer verdie-

nen Spenglers Bücher „schon als eine Art von Kunstwerk eingehende Würdigung und aufgeschlossene

Betrachtung“493. Nur aus diesem Blickwinkel läßt sich die breite Wirkung von Spenglers Schriften an-

gemessen verstehen. Eduard Spranger führt aus:

„So erklärt es sich endlich auch, daß ein Buch einen beispiellosen Erfolg erringen konnte, das selbst mehr Dichtung als Wissenschaft sein will: Spenglers »Untergang des Abendlandes«. Es wäre ein Irrtum, wenn man annähme, daß die zahllosen Leser dieses Werkes ausschließlich durch den Gegenstand gefesselt worden wären, den der Titel ausdrückt. Denn sehr bald hätte man ja wohl merken müssen, daß von diesem Problem im Text wenig oder gar nicht die Rede ist. Die Wirkung des Buches liegt vielmehr darin, daß es [...] einen künstlerischen Blick für das Geistige besitzt, der sich keineswegs in allen philologischen, historischen und geistesphilosophischen Werken unserer Tage findet.“494

Die „Geschichte“, die Spengler entwirft, ist ein ästhetisches Gebilde, ein Geschichtskunstwerk. Speng-

lers lobenswerte und bis zu diesem Zeitpunkt noch nie so radikal vollzogene Abkehr von der europa-

zentrierten Geschichtsschreibung verfällt dem gegenteiligen Extrem einer Beschwörung der Überfülle

vermeintlicher „Fakten“ der „fremden“ Kulturen Indiens, Chinas, Altamerikas, Babylons, Ägyptens

usw. Spengler jongliert mit Dynastien und Jahrtausenden. Angesichts der vielen Exotismen und Super-

lative, deren er sich zur Beschreibung „ganz anderer“ Kulturen bedient, relativiert sich die Bedeutung

des okzidentalen Europa zu einem unbedeutenden Kap am Rande der Weltgeschichte. Der Horizont

der Geschichte wird über Gebühr erweitert. Vor den Augen des Lesers eröffnen sich unermeßliche

Reiche. Felken spricht in diesem Zusammenhang von „Spenglers Persuasionsstil“495, der dem „Unter-

gang des Abendlandes“ eine „ideologische Form“496 gebe. Die falsche Erhabenheit dieser Form verrät

sich in der Flut von Namen, die Spengler wie selbstverständlich verwendet. Seine Geschichte wird, um

nur einige Völker und Religionsgemeinschaften zu nennen, von Mamertinern, Markomannen, Messe-

niern, Mongolen, Mandäern, Manichäern und Marcioniten bewohnt und nicht wie in der konventionel-

len Geschichtswissenschaft von Ägyptern, Griechen, Römern und Germanen. Die schier unendliche

Fülle von Völkern und Personen wird vom Erzähler Spengler scheinbar souverän durchdrungen. Kurt

Tucholsky nennt Spengler aufgrund seines Hangs zu Exotischen den „Karl May der Philosophie“497.

An anderer Stelle beschimpft er ihn als „gipsernen Groschen-Napoleon“498 und „Heros des Füllfeder-

halters. Und Menschen leiden, leiden... Was weiß dieser Möchte-Attila davon! Nichts weiß er davon.

Ein Mann, der überhaupt kein Gefühl für das Einzelwesen hat, aber mit dem Kosmos herumwirtschaf-

tet.“499 Alles Einzelne wird von Spengler einer beschränkten Gruppe von „Kulturseelen“ zugeordnet,

492 Thomas Mann zit.n. Detlef Felken: Oswald Spengler. A.a.O.: S. 84. 493 Armin Baltzer: Philosoph oder Prophet? Oswald Spenglers Vermächtnis und Voraussagen. Neheim-Hüsten 1962. S. 78. 494 Eduard Spranger: Der gegenwärtige Stand der Geisteswissenschaften und die Schule. o.O. 21925. S. 14. 495 Detlef Felken: Oswald Spengler. A.a.O.: S. 81. 496 a.a.O.: S. 82. 497 Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke Bd.10. Hg. v. Mary Gerold-Tucholsky u. Fritz J. Raddatz. Reinbek bei Hamburg

1985. S. 109. 498 a.a.O.: Bd.9. S. 225. 499 a.a.O.: Bd.9. S. 226.

125

die zu den eigentlichen „Helden“ der geschichtlichen Entwicklung avancieren. Einsicht in die Gesetze

dieser Entwicklung hat nur der „visionäre“ Historiker vom Schlage Spenglers.

„Geschichte ist im Gegensatz zum unmittelbar gegenwärtigen Geschehen das intuitive Bild des Vergangenen und Künftigen; es gehört eine besondere visionäre Begabung dazu, die Epochen deutlich optisch vor sich ablaufen zu sehen (meine Begabung). In dichterischer Form erscheint sie bei Goethe und Shakespeare. Ursprünglich war aber Intuition allgemein verbreitet.“ (Ufr.,298)

Einen weiteren ästhetisch-rhetorischen Reiz üben in Spenglers Werk die sogenannten „Gleichzeitigkei-

ten“ aus. Historische Gestalten wie „Pythagoras, Mohamed und Cromwell“ (UdA2,321) können von

Spengler in einem Satz erwähnt und metaphorisch als „Zeitgenossen“ bezeichnet werden, weil sie in-

nerhalb ihrer sich nach einem Gesetz entwickelnden Kulturen an den gleichen Entwicklungspunkten

ständen. Spengler suggeriert, einen Überblick über die Geschichte als ganze zu haben und alle Punkte

sämtlicher Kulturen mit „entsprechenden“ Punkten anderer Kulturen vergleichen zu können. Auf den

drei „Tafeln »gleichzeitiger« Geistesepochen“ (UdA1,67f.) im ersten Band des „Untergangs des Abend-

landes“ entwirft Spengler drei Landkarten des Weltgeistes, auf denen alle „wichtigen“ Ereignisse der

Geistes-, Kunst- und politischen Geschichte versammelt und nach „Gleichzeitigkeiten“ geordnet sind.

Dieses Tafeln dürften Musil zu dem Kapitel über „General Stumms Bemühung, Ordnung in den Zivil-

verstand zu bringen“ im „Mann ohne Eigenschaften“ angeregt haben. Um der „Parallelaktion“, die ih-

ren Namen der Tatsache verdankt, daß die Vorbereitungen der Festlichkeiten zum Thronjubiläum des

deutschen sowie des österreichischen Kaisers „parallel“ verlaufen, die fehlenden Ideen zu verschaf-

fen500, entwirft General Stumm von Bordwehr einen geistigen Generalstabsplan:

„Ulrich betrachtete das Blatt mit Staunen. Es war nach der Art eines Meldezettels oder eben der militärischen Verzeichnisse durch Kreuz- und Querlinien in Felder geteilt, deren Eintragungen aus Worten bestanden, die einer solchen Anlage einigermaßen widerstrebten, denn er las in ärarischer Schönschrift die Namen Jesus Christus; Buddha, Gautama auch Siddharta; Laotse; Luther, Martin; Goethe, Wolfgang; Ganghofer, Ludwig; Chamberlain und viele weitere, die offenbar noch auf einem anderen Blatt ihre Fortsetzung fanden; sodann in einer zweiten Spalte die Worte Christentum, Imperialismus, Jahrhundert des Verkehrs und so weiter, an die sich in anderen Spalten andere Wortsäulen schlossen.“501

Im Gegensatz zu Spengler gibt Musils General Stumm seinen Plan, den Weltgeist zu inventarisieren,

nach kurzer Zeit wieder auf. Ordnung in geschichtlichen Dingen bedeutet für ihn nun einen „Kältetod,

die Leichenstarre, eine Mondlandschaft, eine geometrische Epidemie“502. Der General muß bekennen:

„Irgendwie geht Ordnung in das Bedürfnis nach Totschlag über.“503

Spengler hält an der Utopie, Ordnung in die Geschichte zu bringen, fest. Er fordert von der Ge-

schichtswissenschaft eine „Technik der Vergleiche“ (UdA1,5). Diese Technik der Vergleiche bedient

sich der beiden der „Morphologie“ Cuviers und Goethes entlehnten Prinzipien „Analogie“ und „Ho-

mologie“. „Homologien“ lägen vor, wenn Erscheinungen in zwei verschiedenen Kulturen auf einen

500 Die „fehlende Idee“ führt die Protagonisten der „Parallelaktion“ gegen Ende des Romans dazu, einen Krieg auszurufen:

den Ersten Weltkrieg. 501 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. A.a.O.: S. 372. 502 a.a.O.: S. 464. 503 a.a.O.: S. 465.

126

identischen Einfluß einer dritten Kultur zurückgehen. Von „Analogien“ spricht Spengler, wenn sich

aus unterschiedlichen Ursprüngen strukturell gleiche Phänomene ausgebildet haben. Spengler nennt die

Analogien auch „Gleichzeitigkeiten“. Er führt ein Beispiel aus der Kunst an, um den Unterschied zwi-

schen „Analogie“ und „Homologie“ zu verdeutlichen: „Der Abstand zwischen zwei Arten von Malerei

kann unendlich viel größer sein als der zwischen einer gleichzeitigen Malerei und Musik.“ (UdA1,284)

Die Impressionistische Malerei stehe der Musik Wagners und Liszts wesentlich „näher“, als der Malerei

Rembrandts. Über diese sofort einsichtige These geht Spengler noch einen Schritt hinaus: Die Gemälde

Manets und Monets stünden auch der „hellenistischen Malweise“ und der „Prunkarchitektur der Dia-

dochenstädte“ (UdA1,67f.) kulturgeschichtlich „näher“ als der Malweise von Watteau, Goya oder gar

Delacroix. Musil hat dieses allzu gewagte „Analogisieren“ in seinem Aufsatz über den „Untergang des

Abendlandes“ karikiert:

„Es gibt zitronengelbe Falter, es gibt zitronengelbe Chinesen, in gewissem Sinn kann man also sagen: Falter ist der mitteleuropäische geflügelte Zwergchinese: Falter wie Chinese sind bekannt als Sinnbilder der Wollust. Zum ersten Mal wird hier der Gedanke gefaßt an die noch nie beachtete Übereinstimmung des großen Alters der Lepidopterenfauna und der chinesischen Kultur. Daß der Falter Flügel hat und der Chinese keine, ist nur ein Oberflächenphänomen. Hätte ein Zoologe je auch nur das geringste von den letzten und tiefsten Gedanken der Technik verstanden, müßte nicht erst Ich die Bedeutung der Tatsache erschließen, daß die Falter nicht das Schießpulver erfunden haben; eben weil das schon die Chinesen taten. Die selbstmörderische Vorliebe gewisser Nachtfalterarten für brennendes Licht ist ein dem Tagverstand schwer zugänglich zu machendes Relikt dieses morphologischen Zusammenhangs mit dem Chinesentum.“504

Schon in seiner Jugend beschäftigt Spengler das Erfinden von Geschichte. Koktanek berichtet von

„Traumreichen“, die der junge Spengler in seinen Tagebüchern imaginiert: „Afrikasien“ etabliert sich

als neue Großmacht und unterwirft in Koalition mit Deutschland die anderen Weltmächte. Spengler

gesteht sein „leidenschaftliches Interesse für Geographie. [...] Ich zeichnete Märchenreiche auf, politi-

sche Karten von Großdeutschland, statistische Tabellen meines afrikasischen Reiches“505. Später

„verwandelte das Traumreich seine Gestalt. Jetzt tauchte es aus dem Meer auf, ein Archipel aus sieben Inseln, deren mittelste etwa den Umfang Deutschlands hatte. Eine andere hieß Seeland; ihre Hauptstadt Seeburg am Nerthasee schmückt ein Palast und ein Tempel des Sonnengottes. Oswald zeichnete Landkarten seines neuen Imperiums, Skizzen des Tempels wie des Altars. Er entwarf eine zweitausendjährige »Geschichte«: eine Abfolge von Dynastien - Oriser, Adriantonen, Tarposier - und Königen - Ardeis, Anesa, Keotho ...- mit einer Swifts würdigen Kraft der Namensschöpfung. Aber diese erdachte Geschichte sieht gegen Ende auch eine Revolution und eine Diktatur vor.“506

Spengler selbst bringt seinen Hang zur „History-Fiction“ mit seinem Hang zum Lügen in Verbindung.

„Das große Laster meines Lebens ist das Lügen. Ich habe immer die Unwahrheit gesagt, aus tausend Gründen und noch viel öfter ohne jeden Grund, unzählige Male auch ohne mir der Absicht überhaupt bewußt zu sein, aus Instinkt. Und wenn ich es wagen darf, für diese Schwäche einen Entschuldigungsgrund anzuführen, so scheint mir der letzte Grund ein Übermaß an unbefriedigter Einbildungskraft zu sein. Ich war immer Träumer, alle Erlebnisse verschwammen mir zu Phantasien, und wo ich ging und stand, dachte ich mir andre Erlebnisse aus.“507

504 Robert Musil: Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind.

In: Ders.: Gesammelte Werke II. Reinbek bei Hamburg 1978. S. 1042-1059. Hier: S. 1044. 505 Oswald Spengler: Eis Heauton. A.a.O.: S. 33. 506 Anton Mirko Koktanek: Oswald Spengler in seiner Zeit. A.a.O.: S. 29. 507 Oswald Spengler: Eis Heauton. A.a.O.: S. 26.

127

Sein Laster versteht Spengler in eine Tugend zu verwandeln:

„Wie mir scheint, ist die primitive Freude am Lügen, wie sie ursprünglichen Menschen [...] nachgesagt wird, eine Urform künstlerischer Schöpfung, stets eine [...] instinktive Abwehr des Verstandes, der einem lästig ist, eine Erholung, ein bequemes Sichstrecken.“508

Spengler versteht sich zeitlebens als Künstler. Während einer Podiumsdiskussion mit Max Weber, „bei

der dieser ihn gar nicht gut hatte aussehen lassen“509, zog sich der argumentativ in die Enge getriebene

Spengler auf den Standpunkt zurück, daß er Künstler sei und daß Argumente ihn insofern nicht treffen

könnten. Über sein Verständnis von Geschichtsschreibung äußert Spengler:

„Die große Geschichtsschreibung aber ist überhaupt keine »Wissenschaft« - so wenig echte Philosophie Wissenschaft ist -, sondern eine Kunst, schöpferische Dichtung, Verschmelzung der Seele des Schauenden mit der Seele der Welt. Sie ist mit der großen Epik und Tragödie und der großen Philosophie in der Tiefe identisch. Sie ist Metaphysik.“ (RuA,160)

Als Beispiel par excellence für Spenglers Fiktionalismus kann sein „magischer“ Kulturkreis gelten, der un-

gefähr das erste Jahrtausend unserer Zeitrechnung umfaßt. Spengler lehnt die traditionelle Periodisie-

rung der Geschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit, die auf die Historia tripartita des Christoph

Cellarius510 zurückgeht, ab:

„Altertum - Mittelalter - Neuzeit: das ist das unglaubwürdig dürftige und sinnlose Schema, dessen unbedingte Herrschaft über unser geschichtliches Denken uns immer wieder gehindert hat, die eigentliche Stellung der kleinen Teilwelt, wie sie sich seit der deutschen Kaiserzeit auf dem Boden des westlichen Europa entfaltet, in ihrem Verhältnis zur Gesamtgeschichte des höheren Menschentums nach ihrem Range, ihrer Gestalt, ihrer Lebensdauer vor allem richtig aufzufassen.“ (UdA1,20)

Spengler vereinigt Spätantike und Frühmittelalter zu einem eigenständigen, als „magisch“ definierten

Kulturkreis. Der Aufwertung dieser beiden Epochenabschnitte korrespondiert eine Abwertung der Re-

naissance als Epochenschwelle (UdA1,300ff.). Das „faustische“ Abendland beginnt für Spengler bereits

um das Jahr 1000. Dem magischen Kulturkreis widmet er im zweiten Band seines Hauptwerks ein fast

zweihundertseitiges Kapitel mit dem Titel „Probleme der arabischen Kultur“ (UdA2,225ff.). Zur magi-

schen Kultur, die er auch als „arabische“ bezeichnet, rechnet er so heterogene Erscheinungen wie das

Urchristentum, Byzanz, die jüdische, syrische und koptische Kultur sowie den Islam. Bezeichnender-

weise beginnt das Kapitel über die magische Kultur mit einem Abschnitt über „historische Pseudo-

morphosen“ (UdA2,227f.). Mit diesem Begriff versucht Spengler dem Debakel, daß es keine Nation

und keine Sprache gibt, die sich mit der „magischen“ Kultur decken, zu begegnen. „Um die kulturelle

Einheit zu retten, bedient er sich der aus der Mineralogie entlehnten Metapher der Pseudomorpho-

se.“511 Gesteinsbildungen, bei denen ein Mineral in der Kristallform eines anderen auftaucht, werden in

der Mineralogie als „Pseudomorphosen“ bezeichnet. Die Spätantike und das Frühmittelalter sind für

Spengler äußere Formen, in denen sich eine andere, eigenständige Substanz verbirgt, die magische Kul-

508 ebd. 509 Detlef Felken: Oswald Spengler. A.a.O.: S. 116. 510 vgl. Detlef Felken: Oswald Spengler. A.a.O.: S. 41. 511 Alexander Demandt: Spengler und die Spätantike In: Peter Christian Ludz (Hg.): Spengler Heute. München 1980. S. 25-

48. Hier: S. 36.

128

tur. Dieses Modell zweier Schichten erinnert stark an idealistische Versuche, geschichtliche Vollzüge als

oberflächlichen Ausdruck eines verborgenen Tiefengeschehens zu interpretieren, zu dem nur ein enger

Kreis von Erleuchteten Zugang habe. Koktanek paraphrasiert Spenglers Gedankengang folgenderma-

ßen:

„Die erwachende arabische Kultur wurde durch die greisenhafte antike Zivilisation überlagert, sie konnte ihre Formwelt nicht frei entfalten, bildete sich vielmehr den abgelebten antiken Formen ein. So herrscht ein Widerspruch zwischen ihrem inneren Wollen und ihrer äußeren Gestalt. Spengler nennt diese Truggestalt mit einem aus der Mineralogie hergeholten Begriff Pseudomorphose.“512

Der Althistoriker Alexander Demandt merkt zu Spenglers Entwurf einer „magischen Kultur“ an:

„Spenglers Grenzmarken der magischen Kultur überzeugen nicht.“513 Demandt fährt fort: „das magi-

sche Seelentum ist ein schwacher Kitt dieser polyzentrischen Welt. Die Geschichte des magischen Jahr-

tausends besitzt nicht dieselbe Geschlossenheit wie die antike Periode zuvor und die abendländische

Periode danach.“514 Mit dem Scheitern der Behauptung einer eigenständigen magischen Kultur wird für

Demandt dem gesamten Anliegen des „Untergangs des Abendlandes“ die Grundlage entzogen:

„Die Einbeziehung der magischen Kultur wird zum experimentum crucis für die ganze Theorie, weil dann, wenn eine Subsumierung unter das Grundschema mißlingt, dieses selbst zerbricht. Denn in einem solchen Falle müßte entweder für das Geschehen des ersten Jahrtausends ein abweichender Kulturtypus geschaffen werden oder aber dieses Geschehen aufgeteilt und den räumlich und zeitlich angrenzenden Kulturen zugeschlagen werden. Das wiederum brächte diese aus der Fasson.“515

Die Frage nach der Seriosität der Spenglerschen Deutung des ersten Jahrtausends unserer Zeitrech-

nung, die für die Seriosität seines gesamten Projekts einzustehen hätte, könnte nur im Zuge einer Dis-

kussion von Detailfragen geklärt werden. Auf diese Diskussion läßt sich Demandt ein und kommt zu

einem vernichtenden Ergebnis. Ein anderer Historiker, Eduard Meyer, schreibt am 25.6.1922 an Speng-

ler:

„Im allgemeinen kann ich nur sagen, daß mir, bei dem Streben nach einer einheitlichen universalen Auffassung der Geschichte, viel zu viel konstruiert und oft aus Analogien und Parallelerscheinungen zu viel gefolgert ist und dadurch Begriffe geschaffen sind, mit denen ich nichts anzufangen vermag, wie z.B. der der »arabischen Kultur«, die bei Ihnen eine so große Rolle spielt. Für meine Denkweise kommt dabei die unendliche Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit aller Geschichte und die Besonderheit des Einzelfalles zu sehr zu kurz.“ (Sp.Br.,202/203)

Nicht verschwiegen werden darf in diesem Zusammenhang, daß es auch Fachleute gibt, die für Speng-

lers Seriosität Partei ergreifen. Hans Jonas z.B. schreibt in seinem Hauptwerk „Gnosis und spätantiker

Geist“: „Was er [= Spengler] über unsern Gegenstand [= die Gnosis] in den ‘Problemen der arabischen

Kultur’ im Band II des ‘U.d.A.’ schreibt, ist m.E. das beste und schlagenste, was überhaupt darüber ge-

schrieben worden ist.“516

Die breite Wirkung der Spenglerschen Philosophie kann zusammenfassend als Resultat ihres relativisti-

schen Charakters interpretiert werden. Der Relativismus Spenglers richtet sich zunächst gegen die Drei-

512 Anton Mirko Koktanek: Oswald Spengler in seiner Zeit. A.a.O.: S. 157. 513 Alexander Demandt: Spengler und die Spätantike. A.a.O.: S. 33. 514 a.a.O.: S. 34. 515 a.a.O.: S. 35/36. 516 Hans Jonas: Gnosis und spätantiker Geist. Göttingen 21954. S. 73.

129

teilung der Geschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit. Dieses Schema suggeriere eine Kontinuität,

die realiter nicht bestehe. Zwischen den apollinischen Kulturkreis der Antike und den faustischen Kul-

turkreis der Neuzeit schiebt Spengler den magischen Kulturkreis und bricht die traditionelle Chronolo-

gie der Geschichte auf. Des weiteren richtet sich Spenglers Kulturrelativismus gegen den in den Ge-

schichtswissenschaften seiner Tage üblichen Eurozentrismus. „Das Wort Europa sollte aus der Ge-

schichte gestrichen werden. Es gibt keinen ‘Europäer’ als historischen Typus.“ (UdA1,21) Europa er-

scheint aus dieser Sicht als ein „Kap“, zu dem es auch Derrida heute in polemischer Absicht gegen ei-

nen allzu blauäugigen Euro-Utopismus degradiert517. Spengler nennt

„dies dem heutigen Westeuropäer geläufige Schema, in dem die hohen Kulturen ihre Bahnen um uns als den vermeintlichen Mittelpunkt alles Weltgeschehens ziehen, das ptolemäische System der Geschichte und ich betrachte es als die kopernikanische Entdeckung im Bereich der Historie, daß in diesem Buche ein System an seine Stelle tritt, in dem Antike und Abendland neben Indien, Babylon, China, Ägypten, der arabischen und mexikanischen Kultur - Einzelwelten des Werdens, die im Gesamtbilde der Geschichte ebenso schwer wiegen, die an Großartigkeit der seelischen Konzeption, an der Gewalt des Aufstiegs die Antike vielfach übertreffen - eine in keiner Weise bevorzugte Stellung einnehmen.“ (UdA1,23)

Spengler stellt sich in die Tradition von Kopernikus, Darwin, Nietzsche und Freud, den großen „Rela-

tivierern“ des neuzeitlichen Menschenbildes. Wie seine Vorgänger wird er in erster Linie weltanschau-

lich rezipiert. Mit seiner Kritik am Eurozentrismus verwickelt er sich in die Aporie jedes Antiokzidenta-

lismus (und jeder Vernunftkritik), nur mit okzidentalen Mitteln gegen den Okzident argumentieren zu

können. Spenglers berechtigte Kritik an der Perspektivität der Historiker führt ihn indirekt zum unbe-

rechtigten Anspruch, nichtperspektivische Historie betreiben zu können: „Es ist jetzt endlich möglich,

den entscheidenden Schritt zu tun und ein Bild der Geschichte zu entwerfen, das nicht mehr vom zu-

fälligen Standort des Betrachters in irgendeiner - seiner - ‘Gegenwart’ abhängig ist.“ (UdA1,125) Als die

Absicht seines Hauptwerks bezeichnet es Spengler, die „Geschichte [...] vom Vorurteil des Betrachters

zu lösen.“ (UdA1,126) Vorurteilsfreie Historie dürfte aber unter der Bedingung des Kulturrelativismus

nicht möglich sein. Spengler fällt hinter Nietzsche auf den Stand eines vulgarisierten Hegelianismus zu-

rück. Die Pointe der Geschichtsphilosophie Nietzsches besteht in der Anerkennung der konstitutiven

Perspektivität jeglicher Geschichtsschreibung. Spengler verkündet die Relativität dagegen nur, um selbst

einen Ort jenseits alles Relativen einnehmen zu können. Sein strategisch-rhetorisches Vorgehen ent-

spricht demjenigen Lyotards, welches in Kapitel 1.2. erläutert wurde. Spenglers historiographischer Ob-

jektivismus widerspricht seiner eigenen Definition von Geschichte als einer unberechenbaren Entwicklung:

„Natur ist das Zählbare. Geschichte ist der Inbegriff dessen, was zur Mathematik kein Verhältnis hat.“

(UdA1,77)

517 vgl. Jacques Derrida: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa. Übers. v. Alexander García

Düttmann. Frankfurt a.M. 1992.

130

3.3. Kulturkritik und physiognomische Ästhetik „Allein einen klaren Satz der Physiognomik will ich dich lehren, es ist Physiognomik des Stils.“

Georg Christoph Lichtenberg518

Spengler interpretiert die Geschichte als eine Abfolge acht isolierter Hochkulturen, der indischen, chi-

nesischen, ägyptischen, babylonischen, antiken, arabischen, altamerikanischen und abendländischen

Kultur. Der altamerikanischen Kultur kommt eine Sonderstellung zu: „Denn diese Kultur ist das einzi-

ge Beispiel für einen gewaltsamen Tod. Sie verkümmerte nicht, sie wurde [...] zerstört wie eine Sonnen-

blume, der ein Vorübergehender den Kopf abschlägt.“ (UdA2,51) Eine neunte, die russische Kultur, sei

in der Entstehung begriffen und werde die abendländische ablösen. Formen menschlicher Gemein-

schaften, die sich keiner dieser Hochkulturen zuordnen lassen, rechnet Spengler zur Vor- oder Nachge-

schichte der Hochkulturen. „»Weltgeschichte« im engeren Sinne ist die Geschichte der Hochkulturen.“

(FdW.,3) Daraus folgt, daß

„der Mensch nicht nur vor dem Entstehen einer Kultur geschichtslos ist, sondern wieder geschichtslos wird, sobald eine Zivilisation sich zu ihrer vollen und endgültigen Gestalt herausgebildet und damit die lebendige Entwicklung der Kultur beendet, die letzten Möglichkeiten eines sinnvollen Daseins erschöpft hat.“ (UdA2,58)

Jede Kultur hat in der Darstellung Spenglers ihre eigene Geschichte und Nachgeschichte. Diese belegt

er mit dem Begriff der „Zivilisation“. Seine eigene Gegenwart deutet er als den Beginn einer solchen

Zivilisation, als Beginn des „Untergangs des Abendlandes“, der dem „Untergang der antiken Welt“519

im Alexandrinismus und Byzantinismus korrespondiere, mit ihm logisch „gleichzeitig“ sei. Die „Welt-

geschichte“ zerfällt nach Spengler in mehrere, separate Kulturgeschichten.

Die acht Hochkulturen entwickeln sich in analoger Weise. Spengler beschreibt ihre Entwicklung mit

Metaphern der Jahreszeiten, des Menschenalters und der Metamorphose der Pflanzen. Kulturen wer-

den geboren, reifen heran, erreichen eine Blütezeit, um daraufhin langsam zu zerfallen und schließlich

ganz abzusterben. In dieser Auffassung gleicht die Spenglersche Geschichtsphilosophie derjenigen Vi-

cos, welcher in seiner „Neuen Wissenschaft“ den „Plan einer ewigen idealen Geschichte entdeckt, nach

der die Geschichte aller Völker in der Zeit abläuft“520. Die „Begebenheiten aller Völker“ nehmen aus

der Sicht Vicos „ihren Lauf [...] in deren [= der Völker] jeweiligem Entstehen, deren Fortschritt, Höhe-

punkt, Niedergang und Ende“521. An keiner Stelle wird im „Untergang des Abendlandes“ Vicos Name

erwähnt. Spengler gibt stattdessen Goethes Schrift „Geistesepochen“ (WA,I,41.1,148ff.) als Vorbild

seiner zyklischen Geschichtsauffassung an: „Goethe hat in seinem kleinen Aufsatz »Geistesepochen«

eine Charakteristik der vier Abschnitte jeder Kultur, der Vorzeit, Frühzeit, Spätzeit und Zivilisation,

von solcher Tiefe gegeben, daß sich heute noch nichts hinzufügen läßt.“ (UdA2,43) Spengler versteht 518 Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Hg. v. Wolfgang Promies. München 1968ff. Bd.1. Fragment Nr. F

802. 519 Otto Seecks „Geschichte des Untergangs der antiken Welt“ (Berlin 1897f.) hat Spengler zu seinem Hauptwerk inspiriert.

Vgl. Detlef Felken: Oswald Spengler. A.a.O.: S. 39. 520 Giovanni Battisa Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker. A.a.O.: S. 8. 521 a.a.O.: S. 596.

131

seine gesamte Geschichtsschreibung als Applikation des Goetheschen Schemas. Was Goethe auf drei

Seiten über die Entwicklungsgesetze von Kulturen sagt, überträgt Spengler auf 1200 Seiten auf die ge-

samte Weltgeschichte. Das implizite Muster, das Goethe bei seiner Theorie der Kulturentwicklung ge-

leitet haben dürfte, ist seine Theorie der Metamorphose der Pflanzen. Goethe transponiert eine organo-

logische Metaphorik in den Bereich der Geschichte und Kultur. In seinem Werk zeichnen sich „Umris-

se eines großen evolutiven Kontinuums ab, das von der Geologie über die Biologie zur menschlich-

gesellschaftlichen Welt hinüberführt“522. In einem Brief an Georg Misch vom 5.1.1919 äußert Spengler:

Von Goethe „und seinem Urphänomen habe ich denn auch den Gedanken der selbständigen, pflan-

zenhaften Kulturindividuen“ (Sp.Br.,116). Für Spengler wie für Goethe bringt sich ein Leben in allen

biologischen und geschichtlichen Tatsachen zur Geltung:

„Die Idee des Lebens ist überall von verwandter innerer Form: Zeugung, Geburt, Wachstum, Welken, Vergehen, identisch vom kleinsten Infusor bis zur gewaltigen Kultur. Das organische Leben auf der Erdrinde ist eine tiefe Einheit, als ganzes entstanden und vergehend. Alle Sonderbildungen wiederholen den großen Vorgang bis ins Einzelleben hinein, das am stärksten im Kulturmenschen geprägt ist.“ (Ufr.,1)

„Geschichte“ und „Entwicklung“ treten in Spenglers Werk als Synonyme für „Leben“ auf. Dieses inter-

pretiert er keineswegs durchgehend in einem vitalistischen Sinne. „Leben“ bezeichnet an vielen Stellen

seines Werks die spezifische Seinsweise von Kulturen, das geschichtliche Sein im bewußten Gegensatz

zum natürlichen Sein. Geschichte existiert für Spengler nur innerhalb von Kulturen. Mit Abschluß des

Entwicklungsprozesses treten die einzelnen Kulturen in den nachgeschichtlichen Zustand der Zivilisation

ein. Vor- und Nachgeschichte ähneln sich. Sie zeichnen sich durch einen „Kampf um die bloße Macht,

um den animalischen Vorteil an sich“ (UdA2,59) aus, durch ein Leben im biologischen Sinne, welches

mit „Leben“ im „hohen“ Sinne nicht verwechselt werden dürfe. Jede Nachgeschichte werde zur Vorge-

schichte eines neuen Kulturkreises. Die „Untergänge“ von Kulturen seien insofern keine Katastrophen:

„Aber es gibt Menschen, welche den Untergang der Antike mit dem Untergang eines Ozeandampfers verwechseln. Der Begriff einer Katastrophe ist in dem Worte nicht enthalten. Sagt man statt Untergang Vollendung, ein Ausdruck, der im Denken Goethes mit einem ganz bestimmten Sinn verbunden ist, so ist die »pessimistische« Seite einstweilen ausgeschaltet, ohne daß der eigentliche Sinn des Begriffs verändert worden wäre.“ (RuA,63/64)

Spenglers zyklisches Geschichtsmodell darf nicht im Sinne der von Nietzsche postulierten „ewigen

Wiederkehr des Gleichen“ verstanden werden. Im Gegenteil, jede neue Kultur sei gegenüber der vo-

rangehenden so neu, daß es keine Möglichkeit einer Verständigung zwischen Angehörigen beider Kul-

turen geben könne. Innerhalb der jeweiligen Kulturen herrschten sich absolut ausschließende Welthal-

tungen vor. Spengler vertritt einen radikalen Kulturrelativismus. Er leugnet sämtliche überhistorischen

Größen und historisiert selbst die Geschichte, die ein besonderes Attribut des faustischen Menschen in

seiner Spätzeit sein soll:

„Unser Blick für Geschichte, unsere Fähigkeit, Geschichte zu schreiben, ist ein verräterisches Zeichen dafür, daß sich der Weg abwärts senkt. Nur auf dem Gipfel hoher Kulturen, bei ihrem Übergang zur Zivilisation, tritt für

522 Alfred Schmidt: Goethes herrlich leuchtende Natur. Philosophische Studie zur deutschen Spätaufklärung. Mün-

chen/Wien 1984. S. 60.

132

einen Augenblick diese Gabe durchdringender Erkenntnis auf.“ (MuT.,8/9)

Spengler selbst stellt sich auf diesen Gipfel, in dem er gleichzeitig den Rand eines Abgrunds sieht. Nach

ihm werde es nur noch abwärts gehen, dem Ende des Abendlandes entgegen.

Seinem zyklischen Geschichtsdenken liegt implizit eine dualistische Metaphysik523 des Werdens und des

Gewordenen, des Wirklichen und Möglichen, des Lebens und des Todes, der Zeit und des Raums

zugrunde, die hier in groben Zügen nachgezeichnet werden soll. Das Werden und das Mögliche auf

Seiten der Kultur ständen dem Gewordenen und Wirklichen auf Seiten der Zivilisation gegenüber. Zivi-

lisationen seien auskristallisierte Kulturen, die ihre immanenten Möglichkeiten durchgespielt, sich „voll-

endet“ hätten. Das Symbol der Kultur sei die Zeit, das der Zivilisation der Raum. Auf Seiten der Kultur

stehe das Leben, auf Seiten der Zivilisation der Tod. Kulturen unterlägen einem Schicksal, Zivilisatio-

nen einer Kausalität. Kulturen und Zivilisationen hätten unterschiedliche Weltbegriffe. Die Menschen

in Kulturen begriffen ihre Welt als Geschichte, die Menschen in Zivilisationen als Natur. Spenglers

dualistische Metaphysik wird von Musil satirisch zusammengefaßt:

„Die Gegensätze Leben und Tod, Anschauen und Erkennen, Gestalt und Gesetz, Symbol und Formel wurden bereits erwähnt; ich füge hinzu die Paare Werden-Gewordenes, Bewegung-Ruhe, Eignes-Fremdes, Seele-Welt, Richtung-Raum, Zeit-metrische Zeit, Wille-Erkennen, Schicksal-Kausalität, organische Logik-Logik (auch als Logik der Zeit und Logik des Raums gegeneinandergesetzt), Physiognomik-Systematik: es sind damit fast vollzählig die konstruktiven Ideen beisammen, mit deren Hilfe Spengler Profile durch das Grundfaktum legt, welches im Wesen das gleiche bleibt, von welcher Seite er es anpackt. Ich widerstehe der Versuchung, das darzustellen, weil es mich in die Schwierigkeiten verwickeln würde, an denen Spengler vorübergegangen ist. Übrigens kann jedermann nach einem bitter einfachen Schema Spenglers Philosophie nacherzeugen. Man nehme die Prädikate »ist in gewissem Sinne«, »wird in gewissem Sinne« und »hat in gewissem Sinne«, vernachlässige unwesentliche Unterschiede der Ausdrucksformen, und kombiniere nun jeden der angeführten Begriffe mit allen andren, bejahe die Kombination aller an erster Stelle in ihrem Paar stehenden Begriffe und ebenso die aller an zweiter Stelle stehenden untereinander, verneine jede Kombination eines an erster Stelle stehenden mit einem an zweiter Stelle stehenden Begriff: bei gewissenhafter Befolgung ergibt sich Spenglers Philosophie von selbst und noch einiges mehr.“524

Für Spengler verläuft nicht die gesamte Weltgeschichte zyklisch, sondern das Leben eines bestimmten

Kulturkreises, das immer wieder konstant von einer Geburt, über ein Reifen und eine Blütezeit zu ei-

nem Verfall fortschreitet, um schließlich einer neuen Kultur zu weichen. Der Gesamtverlauf der Ge-

schichte gliche eher einer Spirale - der Heraklitäischen „Walkerschraube“ - als einem Kreis, wobei das

Bild der Spirale nicht dahin gehend mißverstanden werden dürfe, daß es einen generellen Fortschritt in

der Geschichte gebe. „Ich sehe keinen Fortschritt, kein Ziel, keinen Weg der Menschheit, außer in den

Köpfen abendländischer Fortschrittsphilister.“ (RuA,73/74) Jede Kultur fange bei „Null“ an, um nach

Erreichen ihres Höhepunkts wieder einem neuen Nullpunkt entgegen zu streben und eine kulturelle

tabula rasa zu hinterlassen. Auch den Unterschied von Kulturen und Zivilisationen faßt Spengler in eine

organische Metaphorik:

„Eine Hochkultur ist ein Gewächs, dessen lebendige Elemente Stände, Nationen und Individuen sind, wie Stamm,

523 vgl. David H. Brown: Metaphysical Presuppositions in Spengler’s Untergang des Abendlandes. Ph.D. Dissertation. Mc Mas-

ter University. 1979. 524 Robert Musil: Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind.

In: Ders.: Gesammelte Werke II. Reinbek bei Hamburg 1978. S. 1042-1059. Hier: S. 1052-1053.

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Zweige und Blätter den Baum bilden, ein Gewächs, das den Rhythmus alles Organischen: Geburt, Jugend, Alter und Tod in sich trägt. Zivilisation ist ein Kostüm, eine Summe äußerer Lebensformen von unbestimmter Dauer, die erstarren, zerfallen, abgestreift, gewechselt werden können. Kultur ist ein Leib, der eine triebhafte, nur zum geringsten Teil ihrer selbst bewußte Seele besitzt, Zivilisation ein System verstandesmäßiger zweckbewußter Züge. Zivilisation kann deshalb gelernt werden525 wie eine fremde Sprache; Kultur hat man von Geburt an als Möglichkeit in sich oder hat sie nicht. Sie ist ein Erbe.“ (RuA,256/257)

Mit dieser Diagnose, daß seine eigene, durch den Ersten Weltkrieg geprägte Zeit eine Zivilisation sei,

befindet sich Spengler mit vielen Kulturkritikern seiner Zeit, unter anderem Benjamin, im Einklang.

Zwar bekundet dieser in seinem „Passagen-Werk“ es „gibt keine Verfallszeiten“ (GS5,571) und be-

zeichnet das „Passagen-Werk“ als „Versuch, das neunzehnte Jahrhundert [...] durchaus positiv anzuse-

hen“ (GS5,571). Das Vokabular, dessen er sich zur Beschreibung der Zeit seit der Mitte des 19. Jhs be-

dient, spricht jedoch eine andere Sprache. Benjamin faßt die Moderne ähnlich wie Spengler als Korres-

pondenzzeit des Alexandrinismus und Byzantinismus auf. Dieser Vergleich ist von Nietzsche inspiriert

worden, der in seiner „Geburt der Tragödie“ ausführt:

„Unsere ganze moderne Welt ist in dem Netz der alexandrinischen Kultur befangen und kennt als Ideal den mit höchsten Erkenntniskräften ausgerüsteten, im Dienste der Wissenschaft arbeitenden theoretischen Menschen, dessen Urbild und Stammvater Sokrates ist.“526

Kulturgeschichtlich läßt sich die deutsche Lebensphilosophie des frühen 20. Jhs und die Philosophie

Benjamins als Reaktion auf den Prozeß gesellschaftlicher Modernisierung verstehen, welcher seinen

bedeutendsten Interpreten in Max Weber gefunden hat. Für Hermann Lübbe ist „Spenglers Philoso-

phie [...] das Dokument einer sich verschärfenden Selbstdistanzierungstendenz der technisch-

industriellen Zivilisation“527. Sein Werk wird auch heute noch in erster Linie als „kulturkritisch“528 ein-

gestuft. Spenglers Name gilt „bis heute als Chiffre für Kulturpessimismus und Zivilisationskritik.“529

Spengler praktiziert wie Benjamin eine Kritik an der Moderne, die im Gegensatz zu derjenigen vieler

anderer Kulturkritiker auf die Zukunft gerichtet bleibt. Spengler spricht von einer „Vollendung“

(UdA1,140) der Moderne. Die Moderne gehe unausweichlich ihrem Ende entgegen. Diesem Ende hät-

ten sich die Menschen zu fügen. Einen Weg zurück zu vormodernen Denk- und Lebensformen kann es

aus der Sicht Spenglers nicht geben. In der

„uns noch vorbehaltenen Zukunft [wird] die Geschichte des westeuropäischen Menschen endgültig schließen [...]. Wer nicht begreift, daß sich an diesem Ausgang nichts ändern läßt, daß man dies wollen muß oder gar nichts, daß man dies Schicksal lieben oder an der Zukunft, am Leben verzweifeln muß [...], wer mit dem Idealismus eines Provinzialen herumgeht und den Lebensstil verflossener Zeiten sucht, der muß es aufgeben, Geschichte verstehen, Geschichte durchleben, Geschichte schaffen zu wollen.“ (UdA1,51)

Auch Benjamin sieht keinen Weg, der den Rationalisierungsprozeß umkehren könnte und fordert des-

halb „Rationalität bis ans Ende“ (GS2,244), eine Formulierung, die zweideutig bleibt.

525 Als Beispiel für eine „erlernte“ Zivilisation gibt Spengler das Japan des 20. Jhs an, das er auch als „Mondlichtzivilisation“

(UdA2,129) bezeichnet. 526 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie oder Griechentum und Pessimismus. In: Ders.: Werke in drei Bänden. Hg.

v. Karl Schlechta. Bd.1. München 1982. S. 99. 527 Hermann Lübbe: Historisch-politische Exaltationen. Spengler wiedergelesen. A.a.O.: S. 18. 528 vgl.: Karin Erika Eckermann: Oswald Spengler und die moderne Kulturkritik. Bonn 1980. 529 Detlef Felken: Oswald Spengler. A.a.O.: S. 246.

134

Die als weltgeschichtliche Rationalisierung gedachte Moderne führt für Weber nicht nur zur Ausdiffe-

renzierung verschiedener Rationalitätstypen, sondern auch zur Ausdifferenzierung voneinander unab-

hängiger gesellschaftlicher Teilsysteme. Staat, Wirtschaft und Kultur begännen, sich im Laufe der Neu-

zeit zunehmend voneinander und vom „Metasystem“ Religion zu emanzipieren. Der Staat vermöge

sich in der Moderne nicht mehr wie noch die Feudalgesellschaft des Mittelalters aus einer universal

konsentierten theologisch-metaphysischen Ordnung zu legitimieren, sondern nur aus sich selbst. Die

von sinnstiftenden, ethisch-religiösen Legitimationsdiskursen und Mythen abgekoppelten gesellschaftli-

chen Institutionen funktionierten zunehmend nach dem Modell sich selbst erhaltender Systeme. Die

Kehrseite dieser Entwicklung faßt Weber in seiner berühmten Diagnose vom „Sinn-“ und „Freiheits-

verlust“ des modernen Individuums zusammen530. Die gesellschaftlichen Teilsysteme erstarrten zu

„stahlharten Gehäusen“531, zu Systemen, die nach dem biologischen Imperativ der Selbsterhaltung

funktionierten und die Lebenswelten der Individuen mit Habermas „kolonialisieren“532. Die Einsicht in

die von Weber beschriebenen „Aporien der Moderne“533 steht, als Erfahrung einer Entzweiung, auch

am Anfang der Philosophie Spenglers und Benjamins.

Im Gegensatz zu Weber universalisieren Spengler und Benjamin die Entzweiungserfahrung. Webers

Theorie betont die Einmaligkeit und Besonderheit der okzidentalen Entwicklung. Spenglers Ge-

schichtsphilosophie dagegen versucht Webers „Aporien der Moderne“ zu „Aporien der Zivilisation“ zu

relativieren, wie sie jede Kultur in ihrer Spätzeit kenne. Er integriert sie in ein unabänderliches und zyk-

lisches Geschichtskonzept. Da jede Kultur ihrem Tod entgegen strebe, interpretiert Spengler Geschich-

te als ein „Meer von Leiden“ (Ged.,43/44). Prägend für diese Haltung war die Erfahrung des Ersten

Weltkriegs. Spengler rückt in diesem Zusammenhang die Erfahrung der deutschen Niederlage in den

Vordergrund, Benjamin betrachtet die Erfahrung des Krieges an sich als Katastrophe. Spenglers und

Benjamins Diagnose, daß ihre Gegenwart eine Verfallszeit sei, stimmt in ihren Detailbeschreibungen

weitgehend überein. In Spenglers „Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Le-

bens“, einem aus seinem Vortrag zur Eröffnung des deutschen Museums in München hervorgegange-

nen technikskeptischen Traktat, steht zu lesen:

„Aber das gehört zur Tragik dieser Zeit, daß das entfesselte menschliche Denken seine eigenen Folgen nicht mehr zu erfassen vermag. [...] Die Mechanisierung der Welt ist in ein Stadium gefährlichster Überspannung eingetreten. Das Bild der Erde mit ihren Pflanzen, Tieren und Menschen hat sich verändert. In wenigen Jahrzehnten sind die meisten großen Wälder verschwunden, in Zeitungspapier verwandelt worden und damit Veränderungen des Klimas eingetreten, welche die Landwirtschaft ganzer Bevölkerungen bedrohen; unzählige Tierarten sind wie der Büffel ganz oder fast ganz ausgerottet, ganze Menschenrassen wie die nordamerikanischen Indianer und die Australier beinahe zum Verschwinden gebracht worden. Alles Organische erliegt der um sich greifenden Organisation. Eine künstliche Welt durchsetzt und vergiftet die natürliche. Die Zivilisation ist selbst eine Maschine geworden, die alles maschinenmäßig tut oder tun will. Man denkt nur noch in Pferdekräften. Man erblickt keinen Wasserfall mehr, ohne ihn in Gedanken in elektrische Kraft umzusetzen. Man sieht kein Land voll weidender Herden, ohne an die Auswertung ihres Fleischbestandes zu denken, kein schönes altes Handwerk einer urwüchsigen Bevölkerung ohne den Wunsch, es durch ein modernes technisches Verfahren zu ersetzen.

530 Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hg. v. J. Winckelmann. Tübingen 1968. S. 603f. 531 Max Weber: Die protestantische Ethik. Hg. v. J. Winckelmann. Bd.1. Heidelberg 1973. S. 187ff. 532 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd.2. Frankfurt a.M. 1987. S. 470ff. 533 vgl. Jürgen Habermas: a.a.O.: Bd.1. S. 461ff.

135

Ob es einen Sinn hat oder nicht, das technische Denken will Verwirklichung.“ (MuT.,54/55)

Das technische Denken der Zivilisation funktioniere „systemisch“, es strebe in erster Linie seine

Selbsterhaltung an. Die in diesem Zitat artikulierte Erfahrung des Verlustes dürfte am Beginn des

Spenglerschen Denkwegs stehen. Die Geschichtsphilosophie Spenglers muß als Antwort auf die Frage

nach der Entstehung dieser Situation gelesen werden. Da Spengler die Situation als Effekt invarianter

geschichtlicher Gesetze deutet, bleibt dem Individuum aus seiner Perspektive nur, sich zu fügen.

Spengler beschreibt die abendländische Zivilisation dennoch in kritischer Absicht. Seiner abwertenden

Diagnose müssen Kriterien zugrunde liegen, die er selbst verleugnet. Spengler müßte sich eine nicht-

mechanisierte, befriedete Welt zumindest vorstellen können. Diese Möglichkeit gesteht er aber nicht zu,

er opfert sie seinem Objektivismus in bezug auf den Geschichtsverlauf. Damit verwandelt er die Ge-

schichte, die ihm als Hort des Lebens und des Individuellen gilt, selbst in einen systemischen Vollzug.

Auch Benjamin deutet seine Gegenwart als von systemischen Zwängen und technischem Machbar-

keitswahn beherrscht. In seiner „Einbahnstraße“ findet sich ein Spenglers Diagnose analoger Gedan-

kengang.

„Naturbeherrschung, so lehren die Imperialisten, ist Sinn aller Technik. Wer möchte aber einem Prügelmeister trauen, der Beherrschung der Kinder durch die Erwachsenen für den Sinn der Erziehung erklären würde? Ist nicht Erziehung vor allem die unerläßliche Ordnung des Verhältnisses zwischen den Generationen und also, wenn man von Beherrschung reden will, Beherrschung des Generationsverhältnisses und nicht der Kinder? Und so auch Technik nicht Naturbeherrschung: Beherrschung vom Verhältnis von Natur und Menschheit. Menschen als Spezies stehen zwar seit Jahrzehntausenden am Ende ihrer Entwicklung; Menschheit als Spezies aber steht an deren Anfang. Ihr organisiert in der Technik sich eine Physis, in welcher ihr Kontakt mit dem Kosmos sich neu und anders bildet als in Völkern und Familien.“ (GS4,147)

Auch für Benjamin hat sich die Technik zu einer „zweiten Natur“ entwickelt, welcher der Mensch

fremd gegenüberstehe. Im Gegensatz zu Autoren wie Heidegger oder Jonas zieht Benjamin aus diesem

Befund keine maschinenstürmerischen Konsequenzen. Auch in Spenglers Forderung, sich in die Ent-

fremdung zu fügen, sieht Benjamin keine Lösung. Er schlägt deshalb im Anschluß an Marx eine Umor-

ganisierung des Verhältnisses zwischen Mensch und Technik vor. Die Menschen, die unter den Bedin-

gungen des Kapitalismus zu Sklaven der Maschine geworden seien, hätten sich die Maschinen anzueig-

nen und in ihren Dienst zu stellen.

Den Prozeß der weltgeschichtlichen Rationalisierung beschreibt Benjamin erfahrungstheoretisch. „Eine

ganz neue Armseligkeit ist mit [der] ungeheuren Entfaltung der Technik über die Menschen gekommen“

(GS2,214), eine Erfahrungsarmut, wie sie sich am deutlichsten angesichts des Ersten Weltkriegs zeige:

„Nein, soviel ist klar: die Erfahrung ist im Kurse gefallen und das in einer Generation, die 1914-1918 eine der ungeheuersten Erfahrungen der Weltgeschichte gemacht hat. [...] Konnte man damals nicht die Feststellung machen: die Leute kamen verstummt aus dem Felde? Nicht reicher, ärmer an mitteilbarer Erfahrung. [...] Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die körperlichen durch den Hunger, die sittlichen durch die Machthaber.“ (GS2,214)

Den Verlust der Tradition, der mit der Erfahrungsarmut einhergehe, hält Benjamin für unwiderruflich.

Die Erfahrungsarmut „ist Armut nicht nur an privaten, sondern an Menschheitserfahrungen überhaupt.

136

Und damit eine Art von neuem Barbarentum. Barbarentum? In der Tat. Wir sagen es, um einen neuen,

positiven Begriff des Barbarentums einzuführen.“ (GS2,215) Das humanistische „Bildungsgut“

(GS2,215) habe die Fühlung zum Erfahrungshorizont des modernen Menschen verloren und damit

seine Legitimation verwirkt. Das positive Barbarentum, das Benjamin vorschwebt, eröffne die Mög-

lichkeit eines kulturellen Neubeginns: „Denn wohin bringt die Armut an Erfahrung den Barbaren? Sie

bringt ihn dahin, von vorn zu beginnen; von Neuem anzufangen; mit Wenigem auszukommen.“

(GS2,215) Um der Krise der abendländischen Kultur zu entrinnen, sei ein Neubeginn nötig, eine radi-

kale Revolte, die sich gegen den „Humanismus“ (GS2,216) zu richten habe. Als Beispiel eines solchen

Neuanfangs führt Benjamin Descartes, „der zunächst einmal von der ganzen Philosophie nichts haben

wollte als die eine einzige Gewißheit: »Ich denke, also bin ich«“ (GS2,215) und Einstein, „den plötzlich

von der ganzen weiten Welt der Physik gar nichts mehr interessierte, als eine einzige kleine Unstimmig-

keit zwischen den Gleichungen Newtons und den Erfahrungen der Astronomie“ (GS2,215), an. Auch

Künstler wie Kandinsky, Klee und Brecht sowie Architekten vom Schlage eines Adolf Loos würden

ihren kulturellen Innovationen radikale Vernichtungsakte vorausgehen lassen. Das bedeutendste Bei-

spiel „positiven Barbarentums“ auf der politischen Ebene stelle die sowjetische Oktoberrevolution dar.

In der russischen Gepflogenheit, Kinder nach dem Revolutionsmonat und dem Fünfjahresplan zu be-

nennen, in der jede Privatsphäre aufhebenden Glasarchitektur des Bauhauses und in der wohltuenden

Banalität der Micky-Maus-Filme sieht Benjamin „ein Stück des Menschheitserbes [...] dahingegeben“

(GS2,219), dem er nicht nachtrauert. Wie Spengler fordert Benjamin einen „Untergang des Abendlan-

des“, auf den etwas gänzlich Neues folgen solle. Mit dieser Form von Kulturkritik treibt Benjamin die

kritisierte Kultur an. Er erkennt nicht, daß das Streben nach Selbstüberschreitung das der Kultur eige-

ne, zerstörerische Prinzip ist. Derrida wirft Benjamin vor, daß seine Forderung nach einer radikalen

Zerstörung der überkommenen Kultur und einem radikalen Neubeginn strukturlogisch der „Endlö-

sung“ vorarbeite. Auch der Faschismus wolle einen radikalen Einschnitt um eines Neubeginns willen.

Benjamins Denken ist aus der Sicht Derridas „zu messianisch-marxistisch oder archeo-eschatologisch

gefärbt“534. Wenn man „an die Gaskammern und die Brennöfen denkt, läßt einen [die] Anspielung auf

eine Vernichtung [...] erschaudern.“535 Die selbstauferlegte Blindheit gegenüber den Stalinistischen

Greueltaten läßt Benjamins Kulturkritik ebenfalls suspekt erscheinen. Spengler und Benjamin führen

die Verfallserscheinungen ihrer Zeit auf allgemeine Gesetze der Geschichte und der Kulturentwicklung

zurück. Sie weisen auf eine der Aufklärung und Technisierung immanente Dialektik hin, die zur geisti-

gen und realen Verelendung führe. Aufklärung, die den Menschen aus dem Bann mythischer Mächte

befreien solle, schlage, werde sie sich nicht ihrer Grenzen bewußt, selbst in mythische Denkformen um.

Für Spengler ist „jede naturwissenschaftliche Theorie ein Mythus des Verstandes von den Mächten der

Natur“ (MuT.,46). Spengler und Benjamin sind sich einig, daß die Technik den Menschen um die er-

534 Jacques Derrida: Gesetzeskraft. A.a.O.: S. 124. 535 a.a.O.: S. 124.

137

hoffte Befreiung aus der Natur betrügt. Die technische Entwicklung verlaufe eigendynamisch und wer-

de zerstörerisch. Spengler bezeichnet das Perpetuum mobile als uneingestandenes Telos der abendländi-

schen Technik:

„Selbst eine Welt erbauen, selbst Gott sein - das war der faustische Erfindertraum, aus dem von da an alle Entwürfe von Maschinen hervorgingen, die sich dem unerreichbaren Ziel des Perpetuum mobile so sehr als möglich näherten.“ (MuT.,48)

Benjamin veranschaulicht diese Eigendynamik der Technik am Beispiel der Rüstungsspirale: „Ab und

zu erfährt man Dinge, wie die Erfindung eines empfindlichen Fernhörers, der das Surren der Propeller

auf große Entfernungen hin registriert. Und einige Monate später dann wieder die Erfindung eines laut-

losen Flugzeuges.“ (GS4,474) Für beide Autoren liegt diese Tendenz im Wesen der Kultur selbst. Ben-

jamin interpretiert jede kulturelle Manifestation als Ausdruck von Herrschaft und Gewalt:

„Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Dem Grundsätzlichen dieses Tatbestandes ist noch keine Kulturgeschichte gerecht geworden, und sie kann das auch schwerlich hoffen.“ (GS2,477)

Spengler deutet Kulturen prinzipiell als Formen der Entfremdung von Natur.

„Der schöpferische Mensch ist aus dem Verband der Natur herausgetreten, und mit jeder neuen Schöpfung entfernt er sich weiter und feindseliger von ihr. Das ist seine »Weltgeschichte«, die Geschichte einer unaufhaltsam fortschreitenden, verhängnisvollen Entzweiung zwischen Menschenwelt und Weltall, die Geschichte eines Empörers, der dem Schoße seiner Mutter entwachsen die Hand gegen sie erhebt. Die Tragödie des Menschen beginnt, denn die Natur ist stärker. Der Mensch bleibt abhängig von ihr, die trotz allem auch ihn selbst, ihr Geschöpf, umfaßt. Alle großen Kulturen sind ebenso Niederlagen. Ganze Rassen bleiben, innerlich zerstört, gebrochen, der Unfruchtbarkeit und geistigen Zerrüttung verfallen, als Opfer auf dem Platze. Der Kampf gegen die Natur ist hoffnungslos, und trotzdem wird er bis zum Ende geführt werden.“ (MuT.,24/25)

Spengler und Benjamin stehen geistesgeschichtlich zwischen der Marxschen Entfremdungskritik und

der ohne lebensphilosophische Impulse undenkbaren „Dialektik der Aufklärung“ Horkheimers und

Adornos. Wie für Horkheimer und Adorno das Verhängnis des modernen Menschen mit der Über-

windung mythischer Gewalten in der „Odyssee“ beginnt, verlegt auch Spengler seine moderne Erfah-

rung der Entfremdung und Entzweiung an den Beginn der Geschichte.

„Als in dunkler Urzeit menschliches Verstehen das Feuer erfand, war das Verhängnis im Marsch, das sich einst erfüllt: das Heraustreten aus der allebendigen Natur, der Trotz gegen sie, der Wille, anders, stärker zu sein als sie, und das erhob sich bis zur Unterwerfung der Natur, Hybris. Denn trotz allem blieb die menschliche Seele Natur. Im Menschen selbst brach der Kampf aus zwischen der Natur hier und dem andren dort, in dem er [...] das Bild der Erde verwüstete, um endlich zu erliegen: der späte Mensch ist wieder eins mit der Natur, ein Rest, ein Leichnam.“ (FdW.,4)

Die Technik als Schöpfung des Menschen verliert ihren dienenden Charakter und tendiert bereits seit

ihrer Geburtsstunde, der Entdeckung des Feuers, zum Imperativ der Selbsterhaltung. Das Mittel über-

wuchert den Zweck und bringt die Menschen um den versprochenen Ertrag. Was den Menschen vom

Bann der Natur befreien sollte, verdichtet sich zu einer neuen Natur.

„Die Schöpfung erhebt sich gegen die Schöpfer: Wie einst der Mikrokosmos Mensch gegen die Natur, so empört sich jetzt der Mikrokosmos Maschine gegen den [...] Menschen. Der Herr der Welt wird zum Sklaven der Maschine. Sie zwingt ihn, uns, und zwar alle ohne Ausnahme, ob wir es wissen und wollen oder nicht, in die Richtung ihrer Bahn. Der gestürzte Sieger wird von dem rasenden Gespann zu Tode geschleift.“ (MuT.,52)

138

Der Mensch domestiziere mit der Technik nicht nur die äußere Natur, sondern auch sein Innenleben:

„Das unternehmende Denken greift immer stärker in das Seelenleben ein. Der Mensch ist Sklave seines

Gedankens geworden.“ (MuT.,32) Der Mensch instrumentalisiere sich selbst, verwandle sich in sein

eigenes Haustier. Er nehme seinesgleichen gegenüber ein objektivierendes Verhältnis ein. „Das Raub-

tier, das andere Wesen zu Haustieren machte, um sie für sich auszubeuten, hat sich selbst gefangen.

Das Haus des Menschen ist das große Symbol dafür.“ (MuT.,39) Die künstliche Heimstätte, die der

Mensch sich schuf, werde mehr und mehr zu seinem Gefängnis. Die Stadt potenziere diesen Gefäng-

nischarakter des Hauses. Sie sei „das Gehäuse des ganz künstlichen, von der mütterlichen Erde ge-

trennten, vollkommen gegennatürlich gewordenen Lebens“ (MuT.,42/43). In seiner Analyse der Groß-

stadt greift Benjamin auf diese Diagnose Spenglers zurück. Im „Passagen-Werk“ zitiert er den an ande-

rer Stelle geschmähten Spengler zustimmend im Zusammenhang von Ausführungen zu den Mietska-

sernen im Paris des 19. Jhs:

„Die Mietskasernen Roms wie die berüchtigte Insula Feliculae erreichten bei einer Straßenbreite von 3-5 Metern Höhen, die im Abendland noch nirgends und in Amerika nur in wenigen Städten vorkommen. Beim Kapitol hatten die Dächer unter Vespasian schon die Höhe des Bergsattels erreicht. Ein grauenvolles Elend, eine Verwilderung der Lebensgewohnheiten, die schon jetzt zwischen Giebeln und Mansarden, in Kellern und Hinterhöfen einen neuen Urmenschen züchten, hausen in jeder dieser prachtvollen Massenstädte.“ (UdA2,120)536

Diese Schilderung Spenglers setzt Benjamin mit der Verelendung der proletarischen Massen in den Pa-

riser Faubourgs Mitte des 19. Jhs in Beziehung. Unter den Bedingungen der Kapitalakkumulation wer-

den Städte für Benjamin zu „Schlachtfeldern“ (GS2,556) des Eigennutzes, auf denen die geschichtli-

chen Kräfte den Menschen als neue Naturgewalten gegenübertreten.

Sowohl Benjamin als auch Spengler dehnen das Dilemma einer bestimmten geschichtlichen Situation

auf die gesamte Geschichte aus. Damit bereiten sie den Untergang und die Katastrophe, die sie be-

schwören, vor. Horkheimer und Adorno folgen ihnen auf diesem Weg. Sie universalisieren Macht zu

einem Konstituens von Rationalität. Daraus folgt für Horkheimer und Adorno eine Abwertung der

theoretischen und praktischen Vernunft. Sie mißtrauen der Möglichkeit, „aus der Vernunft ein grund-

sätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen“537. Gegenüber der diskursiven Rationalität veran-

schlagen die Autoren der „Dialektik der Aufklärung“ ein an ästhetischer Erfahrung geschultes Modell

mimetischer Rationalität, wie es sich bei Spengler und Benjamin vorgebildet findet. Die Abwertung der

begrifflichen Rationalität und Argumentation auf dem Felde der Ethik leistet dem Morden, gegen das

sich die „Dialektik der Aufklärung“ richten will, Vorschub. Heute vertreten Lyotard und Derrida eine

vergleichbare Position, die zumindest in bezug auf die Ethik als irrationalistisch bezeichnet werden

dürfte. Für Derrida ist Gewalt weniger ein ethisches, denn ein semiotisches Phänomen. Gewalt im poli-

tischen Sinne definiert er als das Resultat einer orginären Gewalt der Signifikanten, so wie Horkheimer 536 Bei Benjamin zitiert in der französischen Übersetzung Oswald Spengler: Le déclin de l’Occident II. Paris 1933. In:

GS5,487. 537 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M. 1984. S. 107.

139

und Adorno Gewalt als Effekt der Vernunft und Benjamin und Spengler Gewalt als Folge der Kultur

definieren. Ausgehend von einer solchen ursprünglichen Gewalt, läßt sich das erschütternde Gesche-

hen der Kriege unserer Tage nicht adäquat verstehen, geschweige denn kritisieren.

Der zivilisatorischen Erstarrung entspricht für Benjamin und Spengler ein depravierter Erkenntnismo-

dus, der sie zur Ausarbeitung einer alternativen Epistemologie veranlaßt. Unter der Ägide von Zivilisa-

tionen seien die Wissenschaften subsumtionslogisch und kausalistisch ausgerichtet. Sie erklärten die

Geschichte nach dem Modell der Natur. Seine Verkörperung finde dieser Erkenntnismodus im Willen

zum System, dem alles integriert werde. Spengler und Benjamin lehnen jede Systemphilosophie als un-

angemessen ab und halten ihr Konzeptionen von „Physiognomie“ und „Kritik“ entgegen, die sich auf

das je Besondere geschichtlicher Ereignisse richten. Physiognomie und Kritik sind Modi nichtidentifi-

zierender Erkenntnis. Ihr Vorbild finden sie in der immanenten Heuristik der Kunstwerke. Kausalitäts-

denken richtet sich aus Spenglers Sicht auf eine als Natur, Physiognomik dagegen auf eine als Ge-

schichte verstandene Welt. Kausalität sei das Grundprinzip des Weltverständnisses von Zivilisationen.

Kulturen faßten Welt als „Geschichte“ und „Schicksal“ auf.

„Kausalität ist das Verstandesmäßige, Gesetzhafte, Aussprechbare, das Merkmal unseres gesamten verstehenden Wachseins. Schicksal ist das Wort für eine nicht zu beschreibende innere Gewißheit. [...] Man teilt die Idee eines Schicksals nur als Künstler mit, durch ein Bildnis, durch eine Tragödie, durch Musik. Das eine fordert eine Unterscheidung, also Zerstörung, das andere ist durch und durch Schöpfung. Darin liegt die Beziehung des Schicksals zum Leben, der Kausalität zum Tode.“ (UdA1,153)

Wie Spengler Zivilisationen als Verfallsformen von Kulturen begreift, interpretiert er „Kausalität“ als

Verfallsform des „Schicksals“. „Kausalität ist [...] gewordenes, entorganisiertes, in Formen des Verstan-

des erstarrtes Schicksal.“ (UdA1,154) Kausalität sei ein Erklärungsmechanismus zur Abwehr des Be-

sonderen, des Schicksals, das die Identität des Bewußtseins und der Welt bedrohe. „[...] durch das Kau-

salitätsprinzip [...] sucht [...] die Lebensangst sich des Schicksals zu erwehren [...], indem sie ihm zum

Trotz eine andere Welt begründet.“ (UdA1,156) Schicksal sei Leben im Stadium der Entwicklung: „Das

Einmalige, Unwiderrufliche, Niewiederkehrende alles Geschehens ist die Form, in welcher das Schick-

sal vor das menschliche Auge tritt.“ (RuA,68) Das Schicksal ist im „Untergang des Abendlandes“ ein

Synonym für den geschichtlichen Entwicklungsfluß, der in unberechenbarer Weise zu Neuem führe. Es

steht an der Stelle, die im Denken Goethes durch die „Natur“, im Denken Adornos durch das „Nicht-

identische“, im Denken Meads durch das „I“, im Denken Webers durch das „Charisma“ und im Den-

ken Peirces durch die „firstness“ eingenommen wird. Alle diese Prägungen dienen der Umschreibungen

eines Quellpunkts der Kontingenz und bezeichnen Orte der Entstehung des Neuen. Spengler delegiert

diesen Quellpunkt in Gestalt des Schicksals an eine anonymes, überindividuelles Geschehen. Es ließe

sich fragen, ob nicht die ersten Kapitel dieser Arbeit in Anschlag gebrachte Kategorie der Einbildungs-

kraft eine profanere und ideologisch weniger belastete Erklärung des Problems der Entstehung des

Neuen und des Problems der geschichtlichen Entwicklung darstellen könnte. Die Schöpfungen der

140

Einbildungskraft lassen sich wie Spenglers „Schicksal“ weder kausalistisch noch systematisch erklären,

weil jede Schöpfung der Einbildungskraft irreduzibel neu ist.

Nichts Substantielles kehrt für Spengler in der Geschichte wieder. „Es gibt nicht nur individuelle We-

sen, sondern auch individuelle Lagen und Ereignisse. Das »historische« Ereignis ist das, das sich für

unser schauendes Erleben aus dem Strom der Ereignisse als einzig abhebt.“ (Ged.,50) Der Kontingenz

des Individuellen der Geschichte müsse eine bestimmte Erkenntnisform entsprechen, die Spengler un-

ter Berufung auf Goethe als „Physiognomik“ oder „Morphologie“ bezeichnet. Physiognomik und

Morphologie begriffen Phänomene nicht als seiend, sondern als werdend. Sie identifizierten nicht, son-

dern vollzögen die den Phänomenen immanente Entwicklung verstehend nach. Physiognomisches und

morphologisches Erkennen seien spezifisch geisteswissenschaftliche Formen der Erkenntnis. In dieser

Hinsicht trifft sich Spenglers Theorie unterschiedlicher Weisen der Erkenntnis von Natur und Ge-

schichte mit Diltheys Unterscheidung von „Erklären“ und „Verstehen“. Spengler verwendet die Ter-

mini „Erklären“ und „Verstehen“ in Diltheys Sinne. „Erklären“ setzt er mit systematischer Naturer-

kenntnis gleich, „Verstehen“ mit physiognomischer Geschichtserkenntnis: „Was nennen wir »erklä-

ren«? Etwas für die Art unseres Sehens und die Form unseres Denkens formulieren, d.h. subjektiv ma-

chen, sich aneignen, beherrschen wollen, etwas sich ähnlich machen.“ (Ufr.,78) Die Physiognomik da-

gegen bringe den Betrachter dem betrachteten Phänomen näher. Die Physiognomie eines Phänomens

sei identisch mit seinem geschichtlichen So-Sein, dem nur ein Verstehen gerecht werden könne, wel-

ches das Besondere nicht als Exemplar unter allgemeine Regeln subsumiere:

„Statt »so-sein« besser »Charakter«, Physiognomie sagen. Alles, was ist, hat sein besonderes Gesicht. Nie kommt zweimal dasselbe vor. Die Abstraktion des Beständig-Möglichen, die Formel des Identischen ist nicht Wirklichkeit, sondern Verstandeserzeugnis, das dem Bild der Wirklichkeit aufgeprägt wird.“ (Ufr.,142)

Im Gegensatz zur „Natur“, dem Inbegriff des Identischen und Gesetzmäßigen, vollziehe sich die Welt

der Geschichte in permanenten Transformationen und Überschreitungen. Aus dieser Tatsache folgt für

Spengler: „Die Welt als Natur und die Welt als Geschichte haben ihre eigenen Arten des Erfassens.“

(UdA1,134) Als Vorbild der Besonderheit aller geschichtlichen Erscheinungen gilt Spengler die Spra-

che: „Wir gebrauchen nie ein Wort zweimal in derselben Bedeutung; niemand versteht je ein Wort ge-

nau wie der andere.“ (UdA2,11/12) An anderer Stelle fährt er fort: „Kein Zeichen, und sei es noch so

bekannt und gewohnt, wird je in genau derselben Bedeutung wiederholt.“ (UdA2,161) Der Schwer-

punkt der Spenglerschen Sprachbetrachtung liegt auf der Sprachentwicklung, nicht auf dem Sprachsys-

tem. Auch seine Kulturphilosophie beleuchtet Kulturen als Formen institutionalisierter Entwicklung im

Gegensatz zu Zivilisationen, in denen sich die Entwicklung abgewickelt habe. Als weiterer Inbegriff der

Besonderheit geschichtlicher Ereignisse in Spenglers Philosophie kann der Begriff des „Lebens“ gele-

sen werden. „Das Leben besitzt nichts Allgemeines und nichts Wissenschaftliches.“ (RuA,64) Im Ge-

gensatz zur Natur seien Leben, Geschichte und Schicksal unberechenbar. Auch Benjamin rückt „Le-

ben“ und „Geschichte“ in unmittelbare Nachbarschaft:

141

„Nur wenn allem demjenigen, wovon es Geschichte gibt und was nicht allein ihr Schauplatz ist, Leben zuerkannt wird, kommt dessen Begriff zu seinem Recht. Denn von der Geschichte, nicht von der Natur aus, geschweige von so schwankender wie Empfindung und Seele, ist zuletzt der Umkreis des Lebens zu bestimmen. Daher entsteht dem Philosophen die Aufgabe, alles natürliche Leben aus dem umfassenderen der Geschichte zu verstehen.“ (GS4,11)

Leben, Schicksal und Geschichte könnten weder definitorisch noch systematisch erfaßt werden. Sie

entzögen sich dem identifizierenden Begriff und erforderten andere Erkenntnisformen als „Natur“.

„Schicksal ist das Unberechenbare. Was berechnet wird und werden kann, ist damit kausal geworden -

eine gedachte Wirklichkeit, nichts Wirkliches mehr.“ (Ufr.,347) Der Berechnung des Systematikers liege

eine Angst vor der Nichtidentität und ein Wille zur Macht zugrunde. Wer begreifen wolle, wolle be-

herrschen. „Die Angst des Systematikers will Daten und Regeln entdecken, um dem Schicksal zu ent-

gehen. Der Physiognomiker hat Ehrfurcht vor dem Schicksal. Er will es bildhaft andeuten, nicht umge-

hen.“ (FdW.,22)

Die Entstehung der „Physiognomik“ in der Spätaufklärung geht wie bei Spengler mit der Fragestellung

nach der Erkennbarkeit des Individuellen einher. Die 1775 in erster Auflage erschienenen „Physiogno-

mischen Fragmente“ des Züricher Theologen Johann Caspar Lavater richten den Blick auf das Indivi-

duum. Lavaters methodologischer Grundgedanke läßt sich mit folgenden Worten Spenglers paraphra-

sieren: „Der Leib [...] ist der Ausdruck der Seele.“ (UdA1,135) Dies ist die Grundannahme jeder Physi-

ognomik. Das Verhältnis von Leib und Seele wird bei Lavater kausalistisch gedacht. Das Individuelle,

auf das sich seine Erkenntnisintention richtet, wird jedoch verfehlt und allgemeinen Charakterzügen

untergeordnet. Lavater entwickelt eine Typologie der Charaktere, denen er bestimmte Gesichtsausdrü-

cke zuordnet. Durch dieses systematisch-starre und kausalistische Vorgehen verfehlt er das Individuel-

le, dessen Erkenntnis die „Physiognomik“ anstrebte. Auch ethisch erweist sich Lavaters Vorgehen als

höchst bedenklich. Lichtenberg bemerkt zwei Jahre nach Erscheinen der „Physiognomischen Fragmen-

te“: „Wenn die Physiognomik das wird, was Lavater von ihr erwartet, so wird man die Kinder aufhän-

gen ehe sie die Taten getan haben, die den Galgen verdienen, es wird also eine neue Art von Firmelung

jedes Jahr vorgenommen werden. Ein physiognomisches Auto da Fe.“538 In weltgeschichtlichem Aus-

maß führte der Nationalsozialismus zu einem solchen „physiognomischen Auto da Fe“. Lichtenberg

schlägt vor, die Physiognomik auf das Feld der Sprache zu beschränken und postuliert eine „Physi-

ognomik des Stils“539, die nicht Gefahr laufe, natürliche und sinnhaft konstituierte Bereiche der Welt zu

verwechseln. Spengler überträgt die Lavatersche Variante der Physiognomie in ihrer ganzen Zweideu-

tigkeit auf das Feld der Geschichte. „Alles, was überhaupt geworden ist, alles, was erscheint“, ist ihm

„Symbol, ist Ausdruck einer Seele“ (UdA1,136). Auf diesen Ausdruck richte sich die Physiognomik:

„Seele (Leben) ist nur im Ausdruck faßbar, physiognomisch also. Die sämtlichen »Funde« an Keramik, Waffen und Gräbern sind also nicht als solche, sondern als Ergebnisse physiognomischer Ausdruckshandlung zu begreifen: als das Formen, Schlagen, Bauen früherer Menschen: das ist die Graphologie der Funde.“ (Ufr.,161)

538 Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Bd.1. A.a.O.: Fragment Nr. F 521. 539 a.a.O.: F 802.

142

Wie Lavater typologisiert Spengler die Formen der „Seelen“, die in der Kulturgeschichte auftreten. Er

ordnet sämtliche Dokumente der Weltgeschichte einem streng umrissenen Fundus von „Kulturseelen“

zu. Damit verfehlt Spengler „das Einmalige“ (Ufr.,194), das es physiognomisch zu verstehen galt und

subsumiert es, zu seiner Kritik an subsumtionslogischem Denken in Widerspruch geratend, in ein inva-

riantes System.

In seiner Kritik am logisch-systematischen Denken folgt Spengler Nietzsches Genealogie der Logik,

welche „Identität“ als Form des Selbstbetrugs interpretiert, die das Überleben in einer überkomplexen

Umwelt vereinfache:

„Herkunft des Logischen. - [...] Wer zum Beispiel das »Gleiche« nicht oft genug aufzufinden wußte, in betreff der Nahrung oder in betreff der ihm feindlichen Tiere, wer also zu langsam subsumierte, zu vorsichtig in der Subsumtion war, hatte nur geringere Wahrscheinlichkeit des Fortlebens als der, welcher bei allem Ähnlichen sofort auf Gleichheit riet. Der überwiegende Hang aber, das Ähnliche als gleich zu behandeln, ein unlogischer Hang - denn es gibt an sich nichts Gleiches -, hat erst alle Grundlage der Logik geschaffen. Ebenso mußte, damit der Begriff der Substanz entstehe, der unentbehrlich für die Logik ist, ob ihm gleich im strengsten Sinne nichts Wirkliches entspricht, - lange Zeit das Wechselnde an den Dingen nicht gesehen, nicht empfunden worden sein.“540

In jeder Subsumtion oder Identifizierung sehen Nietzsche und Spengler einen Akt der Gewalt. Die Lo-

gik verwandle Ähnliches in Gleiches und tilge eine ursprüngliche Differenz zwischen allem Seienden.

Bereits für Goethe, der neben Nietzsche als zweites Vorbild Spenglers gelten kann, leben alle Dinge „in

einer unaufhörlichen Entzweiung mit sich selbst und mit anderen, die sich unaufhörlich versöhnt, um

sich wieder zu spalten“541. Georg Simmel zitiert und kommentiert eine diesbezügliche Ausführung Goe-

thes, die für Nietzsches Lehre vom „Übermenschen“ Pate gestanden haben könnte:

„»Alles Vollkommene in seiner Art muß über seine Art hinausgehen, es muß etwas anderes, unvergleichbares werden. In manchen Tönen ist die Nachtigall noch Vogel; dann steigt sie über ihre Klasse hinüber und scheint jedem Gefiederten andeuten zu wollen, was eigentlich Singen heiße. - Wer weiß, ob nicht der ganze Mensch wieder nur ein Wurf nach einem höheren Ziele ist?« Hier also ist die Bewegung, mindestens nach einer Seite hin, in den Typus selbst hineingelegt: indem er in sich vollendet ist, geht er selbst über sich hinaus, die höchste Stufe innerhalb seiner ist zugleich die höchste Stufe jenseits seiner.“542

Kulturen und Zivilisationen unterscheiden sich aus Spenglers Sicht durch ihr jeweiliges Verhältnis zur

Identität und Differenz. Der differentiellen, sich ständig selbst überschreitenden Welt der Geschichte

entsprächen auf Seiten der Kultur die Erkenntnisformen Physiognomie und Morphologie. Der Welt als

identischer Natur entspreche auf Seiten der Zivilisation die Systematik. Aus Verwechslungen zwischen

Morphologie und Systematik bzw. Geschichte und Natur resultierten pathologische Verzerrungen. Die

Zivilisationsphase der faustischen Kultur werde durch diese Verzerrungen überformt. Die Angehörigen

einer Zivilisation verhielten sich zur Welt der Geschichte wie zur Welt der Natur. Diese Einsicht

Spenglers ließe sich gegen seine eigene Kulturmorphologie kehren, welche die Entwicklung von Kultu-

ren Gesetzen unterstellt. Spenglers Philosophie verkörpert den Geist, gegen den sie sich wendet. Ein

540 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. In: Ders.: Werke in drei Bänden. Hg. v. Karl Schlechta. Zweiter Band.

München 1982. S. 118/119. 541 Georg Simmel: Goethe. Leipzig 41921. S. 83. 542 a.a.O.: S. 141.

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System der Geschichte entwerfend, polemisiert sie gegen das „System“ und entwirft gleichzeitig ein Sys-

tem der Geschichte. „Der Verstand, das System, der Begriff töten, indem sie ‘erkennen’“ (UdA1,136)

bemerkt Spengler und führt weiter aus: „Der Wille zum System ist der Wille, Lebendiges zu töten.“

(UdA2,15/16) Er bemerkt nicht, daß seine eigenen Gesetze der Kulturentwicklung die Geschichte töten.

Wie die zeitgenössische Hermeneutik Diltheys bemüht sich Spengler um die Bestimmung der Differenz

zwischen Geistes- und Naturwissenschaften sowie um die Abwehr von Versuchen, die Welt der Ge-

schichte nach Art der Welt der Natur zu behandeln. Im Gegensatz zu Dilthey fällt Spengler jedoch

wieder hinter seine eigenen Einsichten zurück. Auf ihn selbst trifft zu, was er seiner Zeit vorwirft:

„Menschenkenntnis und Naturerkenntnis sind dem Wesen nach ganz unvergleichbar. [...] niemand fühlte - inmitten später, städtischer, an kausalen Denkzwang gewöhnter Geister - die tiefe Absurdität einer Wissenschaft, welche ein organisches Werden durch methodisches Mißverstehen als den Mechanismus eines Gewordenen begreifen wollte. [...] Umgeben von einer Maschinentechnik, die er [= „der Geist unsrer großen Städte“] selbst geschaffen hat, indem er der Natur ihr gefährlichstes Geheimnis, das Gesetz, ablauschte, will er auch die Geschichte technisch erobern, theoretisch und praktisch.“ (UdA1,196)

Spengler artikuliert in diesem Zitat die Autonomie geisteswissenschaftlichen Denkens. Gegenstände der

sinnhaft aufgebauten, geschichtlichen Welt der Menschen können nicht unter kausalistischen, der Na-

turforschung entlehnten Maximen erforscht werden. Eine solche Kategorienverwechslung führe zu

Entfremdungserscheinungen.

Die „Physiognomik“ Spenglers wie auch die organologische Geschichtsbetrachtung schwebt in der Ge-

fahr, dem Biologismus zu verfallen. Die Physiognomik führt, so ließe sich vermuten, zu einer Betrach-

tung von Kulturen nach Art von Organismen. Geschichte scheint bei Spengler wieder in Natur umzu-

schlagen. Seine organologische Kulturtheorie läßt sich auch anders interpretieren. Die der Sphäre des

Organischen entlehnten Metaphern bleiben an vielen Stellen des Spenglerschen Werks Metaphern, die

nicht wörtlich verstanden werden dürfen. „Spenglers Naturvorstellung ist [...] bereits vor ihrer Anwen-

dung auf Geschichte vermenschlicht.“543 Sein Begriff des Organischen entspricht weniger dem der Na-

turwissenschaften seiner Zeit als demjenigen Goethes. Auch sein physiognomisches und morphologi-

sches Verfahren entlehnt Spengler der Naturbetrachtung Goethes. „Was er [= Goethe] die lebendige

Natur genannt hat, ist genau das, was hier Weltgeschichte im weitesten Umfange, die Welt als Ge-

schichte genannt wird.“ (UdA1,33) Goethes Naturbegriff übt auf die Lebensphilosophie eine sehr star-

ke Wirkung aus. Bereits Nietzsche verdankt der Naturauffassung Goethes weit mehr als der idealisti-

schen Philosophie. Für Dilthey und Simmel wird Goethes implizite Lebensphilosophie zur Offenba-

rung. Dilthey sieht Goethes große Leistung gegenüber dem Idealismus in der „Bejahung der Bedeutung

des diesseitigen Daseins“544. Diese Lehre gewinnt Goethe „an den Grabstätten von Mignon und Ottilie

so gut als am hellen Lichte des Tages. [...] Goethe bedeutet für uns heute dies Verständnis des Lebens

aus ihm selbst und dessen freudige Bejahung.“545 Goethes Nachdenken über das Leben erfaßt für Dil-

543 Alexander Demandt: Metaphern für Geschichte. A.a.O.: S. 100. 544 Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. A.a.O.: S. 176. 545 ebd.

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they „zugleich den erlebten Zusammenhang und den Wert jedes Zustandes, jeder Persönlichkeit und

jedes Lebensverhältnisses - ihre Bedeutsamkeit. Es ist eine Auslegung des Daseins aus ihm selbst, un-

abhängig von aller Religion und Metaphysik.“546 Goethe intendiert in seinen naturwissenschaftlichen

Schriften keine positive Naturforschung, sondern eine Betrachtung der Natur nach Art von Kunstwer-

ken. Seine „naturwissenschaftlichen“ Kategorien sind poetologisch aufgeladen. Zentrale Begriffe der

„Farbenlehre“ wie das „Trübe“ oder die „Grenze“ werden von Goethe Jahre vor der Beschäftigung mit

den Farben in poetologischen und poetischen Kontexten eingeführt. Die „Natur“ Goethes ist weniger

die meßbare Natur Newtons als jene „innere Natur“ des „Genies“, dem das Neue entspringt. In seinem

für die „Große Sowjet-Enzyklopädie“ geschrieben Goethe-Artikel weist Benjamin darauf hin, daß es

sich bei Goethes Naturphilosophie um eine verkleidete Ästhetik handele: „Goethes naturwissenschaft-

liche Studien stehen im Zusammenhang seines Schaffens an der Stelle, die bei geringeren Künstlern oft

die Ästhetik einnimmt.“ (GS2,719) Goethe untersucht nicht die Natur an sich, sondern die Natur in

ihrer Gegebenheit für den Menschen. Diesen Zusammenhang verdeutlicht das Projekt seiner Farben-

lehre, welche sich als ein Stück materialer Lebensweltphänomenologie interpretieren ließe. Sie behan-

delt die Farben in ihrer Gegebenheit für die menschlichen Sinne. Goethes Farbenlehre ist das erste

Buch, das die Farbe als Farbe, behandelt und nicht als Supplement einer Physik, Psychologie oder Mal-

kunst. Als Supplemente werden Farben für die Theorien, die sie behandeln, „gefährlich“547:

„Denn es hatte von jeher etwas Gefährliches, von der Farbe zu handeln, dergestalt daß einer unserer Vorgänger gelegentlich gar zu äußern wagt: Hält man dem Stier ein rothes Tuch vor, so wird er wüthend; aber der Philosoph, wenn man nur überhaupt von Farbe spricht, fängt an zu rasen.“ (WA,II,1,XXXIII)

Goethe dürfte an Kant denken, welcher die Farben in seiner „Kritik der Urteilskraft“ als Ausdruck der

Sinnlichkeit gegenüber „verstandesmäßigen“ Formen abwertet. Goethe behandelt die Farben nicht als

supplementären Teil einer Physik oder Wahrnehmungspsychologie, sondern in ihrer unmittelbar sinnli-

chen Gegebenheit für den Menschen. Seine Kritik an Newton darf nicht als physikalische Theorie miß-

verstanden werden. Goethe will zeigen, daß Farben mehr sind als ein physikalisches Phänomen. Die

erlebte Farbe wird in der „Farbenlehre“ von der physikalischen Farbe abgezogen. Die „Farbenlehre“

hätte das Etikett „Phänomenologie“ weit eher verdient, als die sich des Terminus „Phänomenologie“

bedienenden Schriften Hegels oder Husserls, die besser als „intellektologisch“ charakterisierbar wären.

Goethe „erfährt, als ein sich liebend ins Detail versenkender Naturbetrachter, das andere in sich, sich

selbst im anderen.“548 Er subsumiert die Farben nicht unter Gesetze, sondern versucht, sie aus sich

selbst zu verstehen, ihnen einen „Sinn“ zuzusprechen. „Wie die Kunst sich immer ganz in jedem ein-

zelnen Kunstwerk darstellt, so sollte die Wissenschaft sich auch jedesmal ganz in jedem einzelnen Be-

handelten erweisen.“ (WA,II,3,121) Goethe versteht seine Methode als ein „gegenständliches“ Denken.

546 a.a.O.: S. 162 547 Zur „Gefährlichkeit des Supplements“ vgl. Derridas Ausführungen zur Rolle des Supplements in der Philosophie Rous-

seaus. Jacques Derrida: Grammatologie. A.a.O.: S. 244ff. 548 Alfred Schmidt: Goethes herrlich leuchtende Natur. Philosophische Studie zur deutschen Spätaufklärung. Mün-

chen/Wien 1984. S. 51.

145

In bezug auf Heinroths „Anthropologie“ (1822), in der seine Methodologie diskutiert wird, schreibt

Goethe: Heinroth bezeichnet

„meine Verfahrungsart als eine eigentümliche: daß nämlich mein Denkungsvermögen gegenständlich tätig sei, womit er aussprechen will: daß mein Denken sich von den Gegenständen nicht sondere, daß die Elemente der Gegenstände, die Anschauungen in dasselbe eingehen und von ihm auf das innigste durchdrungen werden, daß mein Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen sei.“ (WA,II,11,58)

Diesem „gegenständlichen“ Verfahren fühlt sich auch Spengler verpflichtet. Von typisch „philosophi-

scher“ Reflexion des Denkens nimmt er bewußt Abstand und wendet sich geschichtlichen Gegenstän-

den zu: „Wenn [...] im Denken über die Wirklichkeiten der Natur und Geschichte ein Blick auf die Art

des Denkens fällt, gut! Wenn man aber glaubt, daß man vom Denken über das Denken aus die Welt

verstehen werde, so ist das magisterhaft.“ (Ufr.,66) Seine Morphologie der Kulturen sucht keine We-

senheiten hinter den Kulturen, sondern bemüht sich darum, die Selbstdeutungen der jeweils untersuch-

ten Kulturkreise anschauend zu erfassen und begrifflich zu reproduzieren. Nur auf diesem Weg glaubt

er den Entwicklungscharakter von Kulturen heuristisch einholen zu können. Spenglers Definition der

Kulturen als kontinuierliche Entwicklungsprozesse entspricht dem Goetheschen Bild von Natur. Im

„Tobler-Fragment“ führt Goethe aus: Die Natur „schafft ewig neue Gestalten; was da ist war noch nie,

was war kommt nicht wieder - Alles ist neu und doch immer das Alte. [...] Es ist ein ewiges Leben,

Werden und Bewegen in ihr und doch rückt sie nicht weiter. Sie verwandelt sich ewig und ist kein Mo-

ment Stillestehen in ihr.“ (WA,II,11,5-6) Dieser ewig wandelbaren und alles verwandelnden Natur ge-

genüber bleibt jeder Versuch einer Reduktion einzelner ihrer Momente auf Gesetze unangemessen.

Simmel bemerkt in seinem „Goethe“: „Der Systematik gegenüber, für die »alles fertig« ist, die »nur ein

Versuch ist, viele Gegenstände in ein gewisses faßliches Verhältnis zu bringen, das sie, streng genom-

men, untereinander nicht haben« - ist es seine Denkweise »das Ewige im Vorübergehenden« zu schau-

en.“549 Auch das Denken Spenglers und Benjamins richtet sich auf das Konkrete und Vorübergehende.

Auf die Frage nach der philosophischen Tradition, in der er sein Hauptwerk ansiedeln wolle, antwortet

Spengler: „Ich bin von keiner philosophischen Schule irgendwie ausgegangen; vielmehr haben sich die-

se Gedanken von der Mathematik, der Geschichte, der Malerei und Literatur her gewissermaßen von

selbst zu einer metaphysischen Gesamtanschauung verdichtet.“ (Sp.Br.,118) Beide bekunden Skepsis in

bezug auf ewige Gesetze. Während Spengler diese durch die Hintertür invarianter Entwicklungssche-

mata von Kulturen wieder einführt, bleibt Benjamin dem Konkretismus Goethes treu und behauptet,

„daß das Ewige [...] eher eine Rüsche am Kleid ist als eine Idee“ (GS5,578).

Der Gedanke einer Morphologie oder Physiognomik als einem nicht diskursiven, nicht identifizieren-

dem Erkennen von Welt führt Spengler automatisch zu einem Erkenntnisprivileg der Kunst. „Das

Weltgefühl des höheren Menschen hat seinen symbolischen Ausdruck [...] am deutlichsten in den bil-

denden Künsten gefunden, deren es unzählige gibt. Auch die Musik gehört dazu.“ (UdA1,283) Die

549 Georg Simmel: Goethe. A.a.O.: S. 80.

146

wortlosen Künste werden von Spengler als reine Ausdruckssprachen gegenüber der Dichtung bevorzugt.

Die Dichtung stehe als Wortkunst noch zu sehr auf der Seite des Begriffs. Am reinsten drücke sich die

Welthaltung einer Kultur in ihrer Architektur, bildenden Kunst und Musik aus. Das 4. Kapitel des „Un-

tergangs des Abendlandes“, in dem Spenglers Ästhetik entfaltet wird, trägt den Titel „Musik und Plastik“

(UdA1,211) In einem Brief an den Kunsthistoriker Albert Erich Brinkmann vom 23.5.1918 weist Speng-

ler auf den zentralen Stellenwert ästhetischer Fragestellungen in seinem Hauptwerk hin:

„Ich erlaube mir, Ihnen gleichzeitig mit diesem Brief ein Exemplar meines Buches »Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte« zu senden, in der Annahme, daß die in ihm niedergelegten kunstphilosophischen Anschauungen Ihr Interesse und im wesentlichen auch ihre Zustimmung finden werden. Obwohl mit einer Geschichtsphilosophie im allgemeinen beschäftigt und deshalb im Grunde abstrakt und selbst metaphysisch, ist das Werk doch infolge der neuen Methode und Problemstellung stets mit den konkretesten Tatsachen in enger Berührung und hat insbesondere die Kunst in Einzelheiten ihrer Form und Entwicklung stärker herangezogen, als dies bisher üblich und möglich war. Meiner Überzeugung nach ist damit eine entscheidende Wendung eingeleitet worden. Sie werden sich überzeugen, daß die einfachen Tendenzen, die seit Jahren alle Gebiete der Kunstforschung in Bewegung erhielten und in einer geahnten, aber noch nicht verifizierten Theorie der Form ihren Schwerpunkt hatten, hier in größerem Rahmen einer Synthese unterworfen sind, die, wie ich glaube, der geistigen Lage der Zeit entspricht und also, soweit das Wort angewendet werden darf, unbedingt »richtig« ist.“ (Sp.Br.,102/103)

Nur die Kunst könne die Idee des Schicksals, die jeder Kultur zugrunde liege, ausdrücken. Die Er-

kenntnis, die Kunstwerke verkörpern, sei selbst schon eine physiognomische und morphologische.

Spengler bringt den physiognomischen Blick mit der Einbildungskraft in Verbindung und stellt ihn der

systematischen Betrachtung entgegen, die nicht durch „Einbildung“, sondern durch „Repräsentation“

ausgezeichnet sei. „Physiognomisch: Schauen, Fantasie, Einbildung. Systematisch: Präsentes Gedächt-

nis von Daten, Vorstellung.“ (Ufr.,195) Kunstwerke repräsentierten keine Fakten, sondern drückten

„Haltungen“ (Ufr.,331) aus. Diese „Haltungen“ seien keine einfachen „Urideen“, die aus einer Tiefe

heraus die Oberfläche der geschichtlichen Ereignisse generierten, sondern Oberflächen- und Tiefen-

strukturen in einem, sicht- und unsichtbar zugleich. Darin gleichen sie dem „Stil“, dessen Rolle im

Werk Spenglers im folgenden Kapitel untersucht wird. Die „Physiognomie“ einer Kultur entspricht für

Spengler sowohl einer Erkenntnisform als auch einem zu Erkennenden. Kulturen gäben sich als Wei-

sen des Erkennens zu erkennen. Ein Mensch oder eine individuelle Epoche habe eine Physiognomie,

die das Resultat ihrer speziellen Weise, die Dinge zu sehen, sei. Nur die Kunst vermöge es, diese Sicht-

weise, die interne Verfaßtheit eines geschichtlichen oder menschlichen Individuums, auszudrücken.

Felken weist darauf hin, „daß Spengler die Evidenz des Weltgefühls bevorzugt in der Kunst-, Musik-

und Literaturgeschichte entdeckt“550. Die begriffliche Diskursivität bleibe gegenüber der Singularität,

der unhintergehbaren Faktizität einer Kultur defizient. Etwas begreifen oder benennen

„heißt Macht darüber gewinnen: dies ist ein wesentlicher Teil urmenschlicher Zauberkünste. Man bezwingt die bösen Mächte durch Nennung ihres Namens. Man schwächt oder tötet seinen Feind, indem man mit dessen Namen gewisse magische Prozeduren vornimmt. [...] Man nennt irgendetwas »das Absolute« und fühlt sich ihm schon überlegen. ‘Philosophie’, die Liebe zur Weisheit, ist im tiefsten Grunde Abwehr des Unbegreiflichen.“ (UdA1,160)

550 Detlef Felken: Oswald Spengler. A.a.O.: S. 47.

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Spengler nimmt auch an dieser Stelle vorweg, was Jahrzehnte nach ihm von Horkheimer und Adorno

„Kritik der instrumentellen Vernunft“ genannt wird. Die Macht archaischer Magie finde sich noch in

den reinsten Denkgebäuden okzidentaler Philosophie wieder. Philosophien und Wissenschaften wehr-

ten sich gegen das Besondere, indem sie es einem Allgemeinen unterordneten und damit entschärften.

Indem Philosophie definiere und begrenze, grenze sie gleichzeitig aus. „Aus Angst forschen, zum

Zweck der Abwehr oder Überwältigung des Unbekannten und Unvorhersehbaren, ist das Grundmotiv

der Naturwissenschaften (gegenüber den Naturgewalten) und der Kulte (gegenüber den übersinnlichen

Mächten).“ (Ufr.,325/326) Subsumierendem Denken liege eine Urangst vor dem Nichtidentischen und

Fremden zugrunde. Fast schon wie Sätze Adornos oder Foucaults klingen folgende Bemerkungen aus

Spenglers nachgelassenen Fragmenten:

„Aus Angst kommt das Wissenwollen, das Bedürfnis der Fixierung des Unfixierbaren durch Zahl und Gesetz, Formel, kausale und finale Festlegung. [...] Was man kennt oder zu kennen glaubt, hat man sich unterworfen. Wissen ist ein Sieg über das Geheimnis - ein eingebildeter, aber wirksamer.“ (Ufr.,325/326)

Nur Kunst und sich an die künstlerische Rationalität anschmiegende, narrative Historie, vermöchten es,

das Besondere als Besonderes zu erfassen. „Nur echte, unmittelbare Kunst [...] enthält [...] das Geheim-

nis der Zeit.“ (Ufr.,108)

Der Kunst kommt innerhalb der Spenglerschen Kulturphilosophie eine herausragende Rolle zu, weil sie

sich von diskursiven Weisen des Weltzugangs fundamental unterscheidet. Als „Ursymbole“ der Kultu-

ren sieht Spengler Kunstwerke oder im Anschluß an Hegel „Kunstformen“ an. Die Welthaltung der

apollinischen Kultur der Griechen drücke sich in der griechischen Skulptur aus, die faustische Kultur

des Abendlandes in gotischen Kathedralen, der Kunst der Fuge und Wagners Musik. Spenglers Be-

zeichnung des Abendlandes als „faustische Kultur“ wäre nicht ohne Goethes „Faust“ zu formulieren.

Ein Kunstwerk rückt an die Stelle des „Ursymbols“ des Abendlandes. Goethes „Faust“ erschließt für

Spengler das Abendland als Abendland, es drückt seine Welthaltung in unerreichbarer Weise aus.

Auf dem Boden der Geschichtsschreibung allein läßt sich aus der Sicht Spenglers das Problem der Dar-

stellbarkeit von Geschichte nicht lösen, da der Begriff der „Geschichte“ dem geschichtlichen Relati-

vismus unterliege. Spengler sieht sich mit dem Problem der Möglichkeit von Geschichtserkenntnis auf

dem Boden eines radikalen, historistischen Relativismus konfrontiert. Dieses für seine Philosophie kon-

stitutive Erklärungsdefizit versucht er durch die Einbeziehung der Kunst zu kompensieren. Kunstwer-

ke haben Anteil an einer Kultur, ohne jedoch eine kritische und reflektierende Haltung ihr gegenüber

aufzugeben. Kunstwerke seien den Kulturen immanente Formen der Reflexion. In ihnen drücke sich

die Welthaltung einer Kultur aus, in ihnen komme die Kultur zur Welt. Kunstwerke zeigten die Welt

nicht so, wie sie ist, sondern als das, was sie den Angehörigen einer Kultur bedeute. „Es wird hier also

nicht davon die Rede sein, was eine Welt ‘ist’, sondern was sie dem lebendigen Wesen bedeutet, das

von ihr umgeben ist.“ (UdA1,212) Als Beispiel für den Unterschied von „Sein“ und „Bedeuten“ gibt

Spengler die Differenz zwischen der Zeit, die die Uhren messen, und der subjektiv erlebten Zeit an.

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„Erlebte, wirkliche Zeit steht im Gegensatz zu Uhrenzeit. Die Uhr gibt lediglich Streckenmessung. Die

Grenze der erlebten Zeit ist das Leben.“ (Ufr.,113) Kulturen seien kollektive Medien der Bedeutsam-

keit. „Die Dinge sind nicht nur wirklich innerhalb der Umwelt, sondern sie haben, so wie sie ‘erschei-

nen’, innerhalb der Welt’anschauung’ auch einen Sinn.“ (UdA1,217) Weil die Kultur mit dem Bild, das

sie sich von der Welt macht, zusammenfalle, könne sie sich nie vollständig über sich klar werden. Ihre

Selbsterkenntnis sei notwendig fragmentarisch und perspektivisch, da sie immer auf symbolische Ver-

mittlungen angewiesen bliebe. Wie das Individuum könne sich die Kultur nicht vollständig und vor je-

der Reflexion ihrer selbst gewiß sein.

„Wir kennen nur unser Bild der Welt, in dem sich Eigenes und Fremdes, unser Empfinden und etwas Fremdes verweben. [...] Dies Bild der Welt ist der Mensch [...] noch einmal. Es hängt mit ihm zusammen, Seele von seiner Seele, es schläft und wacht, entsteht und stirbt mit ihm. Wie er die Welt sieht - das ist der Mensch noch einmal.“ (Ufr.,51/52)

Spengler postuliert als Grundlage von Kulturen eine kollektive Einbildungskraft, den Versuch einer E-

poche, sich Bilder ihrer selbst zu schaffen, ein Versuch freilich, der die Epoche über sich selbst hinaus-

zuführen droht. Kulturen sind, so Spengler, auf ihre eigene Weiterentwicklung ausgerichtet. Kunstwer-

ke symbolisierten keine feste Uridee einer Kultur, sondern ein Werden, welches die Kulturen sind.

„Das Bild der Welt, das wir erschaffen, sind wir selbst. Deshalb ist es von innerer Notwendigkeit. Wir können nichts entdecken außer in uns. Indem wir von der Welt reden, sprechen wir von uns. Aber nur wenigen ist es gegeben, dieses Bild zu zeichnen. Die meisten unter den wenigen, die für Tiefen in Betracht kommen, brauchen die Schöpfer solcher Bilder, um zu erkennen, was sie selbst sind. Das ist der Sinn der großen Philosophie“ (Ufr.,51)

und Kunst. Diese „erschließt den sehnsüchtigen, aber unschöpferischen Geistern deren eigenes We-

sen.“ (Ufr.,51) Zivilisationen zeichneten sich durch die Tatsache aus, daß es den Menschen nicht mehr

möglich sei, sich ein stimmiges Bild ihrer Lage zu entwerfen. Spengler gibt der Marxschen Entfrem-

dungskritik eine hermeneutische Wendung. Entfremdung von sich selbst heiße, kein Bild mehr von

sich haben zu können, sich selbst als natürlich und identisch zu betrachten. Zivilisationen seien unher-

meneutische Zeiten. Dieser zivilisatorische und entfremdete Zustand könne wiederum nur ästhetisch

vergegenwärtigt werden, durch Kunstwerke, die ihre eigene Unmöglichkeit reflektierten, wie diejenigen

Baudelaires (UdA1,369). Auch Benjamin wird Baudelaire in diesem Sinne deuten.

Der ungeschichtliche Mensch einer Zivilisation nimmt die Welt unreflektiert hin. Der geschichtliche

Mensch in einer Kultur stellt sie in einen Bedeutungshorizont.

„Die Wirklichkeit - die Welt in bezug auf eine Seele - ist für jeden einzelnen [...] das Eigne, das sich am Fremden spiegelt; sie bedeutet ihn selbst. Durch einen ebenso schöpferischen als unbewußten Akt - nicht ‘ich’ verwirkliche das Mögliche, sondern ‘es’ verwirklicht sich durch mich - wird die Brücke des Symbols geschlagen zwischen dem lebendigen Hier und Dort; es entsteht plötzlich und mit vollkommenster Notwendigkeit aus der Gesamtheit sinnlicher und erinnerter Elemente ‘die’ Welt, die man begreift, für jeden einzelnen ‘die’ einzige.“ (UdA1,212)

Spengler vertritt eine dezidiert hermeneutische Philosophie. Die Welt ist für ihn das, „was sie dem le-

bendigen Wesen bedeutet“ (UdA1,212), sie existiert nur „in bezug auf eine Seele“. Näher entdeckt im

„Untergang des Abendlandes“ Bezüge „zur Erfahrungsweise der »Hermeneutik« vor und gerade zu

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Spenglers Zeit“551. Seine Erkenntnistheorie will Spengler nicht als „Methode“ verstanden wissen, son-

dern als „Methodisierung“ unserer alltäglichen Erkenntnisweisen:

„Ich will durchaus keine »neue« Erkenntnismethode schaffen. Das gibt es nicht. Ich will nur jeden einzelnen an Erkenntnisweisen erinnern, die jeder täglich gebraucht, ohne es zu merken. Der ganze Schatz von Erfahrungen, den wir haben, beruht auf solchen »unentdeckten« Methoden.“ (FdW.,14)

Hans-Georg Gadamers Methodenkritik wird in diesem Postulat vorweggenommen. Das hermeneuti-

sche Verstehen von Geschichte potenziert unser alltägliches Verstehen. Methoden setzen ihre eigenen

Prämissen an die Stelle der zu untersuchenden Phänomene. Aus diesem Grund lehnt Spengler jede

„Methode“ ab.

„Die Methode kann zur Tyrannei werden. In ihr liegt schon das Resultat. Sie ist die Form, in welche die Tatsachen gepreßt werden. Heute sind die Methoden des 19. Jahrhunderts, z.B. der Archäologie, Ethnologie und Prähistorie so verfeinert, daß sie den Durchschnittsgelehrten in ihr Gewebe einwickeln. Die Ergebnisse sind nicht Tatsachen, sondern die Methode noch einmal.“ (Ufr.,64)

Nicht nur in der Kritik an starren Methoden, sondern auch in der Prämisse der jeder Erkenntnis

zugrunde liegenden Zirkularität von Induktion und Deduktion folgt Spengler der Hermeneutik. Welt

und Ich konstituierten sich wechselseitig:

„»Die Welt ist meine Vorstellung« - nein, aber: das Bild der Welt ist meine Schöpfung. Ich sehe mich selbst in ihr. Sie ist ein Teil meines Wesens. Aber ich bin eine Schöpfung der Welt. Der Zusammenhang läßt sich nicht lösen. Was »hinter dem Schein«...ist, ist eine Frage ohne Sinn, materialistisch gedacht wie Kants Ding an sich.“ (Ufr.,49)

An Kants Philosophie kritisiert Spengler ihre Subjektlastigkeit und hält ihr Goethes materialistischeres

Naturverständnis entgegen. „Ich neige zum Sehen. Zu Goethe, nicht zu Kant.“ (Ufr.,63) Goethes Phi-

losophie trage mehr als diejenige Kants dem Umstand der unhintergehbaren Faktizität der Welt Rech-

nung und werde somit zu einem wichtigen Vorläufer der materialistischen Philosophie des 19. Jhs

„Das Draußen, das Fremde, gewinnt Gestalt, indem ich es ergreife oder es mich ergreift. Es erscheint mir als »Bild der Welt« [...], jedem seine eigene Welt, die sein Eigentum ist. Und trotzdem - das hat Kant vergessen - ist mein Sinn, der diese Welt bildet, nur Sklave des Draußen. Das hat Goethe gesehen. »Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt’ es nie erblicken«. Zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos steht die Erscheinung, aus beiden gewebt, keines einzigen Besitz.“ (Ufr.,47/48)

Für Kulturen bedeuten die Dinge nur etwas in bezug auf ihre jeweilige „Kulturseele“ (Ufr.,121). Die

„unbewußte“ Schicht dieser Zuständlichkeit ließe sich nicht diskursiv repräsentieren, sondern nur

künstlerisch ausdrücken. Nur die Kunst vermag es für Spengler, Welthaltungen im Gegensatz zu einer

objektivistisch verstanden Welt als Natur zu erschließen.

„Was war es aber, das am Eindruck des Menschen auf seinesgleichen den Rang eines Symbols beanspruchen, sein Wesen und den Sinn seines Daseins in sich sammeln und greifbar vor Augen stellen durfte? Die Antwort gibt die Kunst. Aber die Antwort mußte jeder Kultur eine andere sein. Jede hat einen anderen Eindruck vom Leben, weil jede anders lebt.“ (UdA1,330)

Als Natur im Sinne Spenglers könnte gelten, was wie Kants „Ding an sich“ vor jeder Erschließung Be-

stand habe. „Natur“ wäre, da alles nur in seiner Erschlossenheit existieren könne, das Produkt eines Irr-

551 Jürgen Näher: Oswald Spengler. Reinbek bei Hamburg 1984. S. 55

150

tums, einer zivilisatorischen Trägheit. Kultur gelte demgegenüber als Inbegriff von Erschlossenheit. Da-

mit entspricht die Spenglersche „Natur-Kultur“- der Benjaminschen „Natur-Geschichte“-Dichotomie.

Für Spengler ist „alle Kunst [...] Ausdruckssprache“ (UdA1,245). Er unterscheidet als zwei historische

Weisen des künstlerischen Ausdrucks die Imitation und das Ornament. „Ausdruck ist entweder Orna-

ment oder Imitation.“ (UdA1,246) Die Imitation gehöre der Kultur, das Ornament der Zivilisation an.

Die Kunstgeschichten seiner acht Kulturen faßt Spengler als eine jeweils dreistufige Folge von Imitati-

on, Ornament und Imitation der früheren Imitation. Kunst sei in ihren Anfängen mimetisch, werde

dann ornamental und letztlich sentimental im Schillerschen Sinne, so im Klassizismus und der Roman-

tik. Klassizismus und Romantik versuchten, wieder imitierend an die erste Stufe, die Imitation, anzu-

knüpfen, und würden dadurch sentimental. Die Imitation sei „unbedingt das ursprünglichere, der Rasse

näherstehende. Die Imitation geht von dem physiognomisch erfaßten Du aus, das unwillkürlich zum

Mitschwingen im Lebenstakte lockt.“ (UdA1,246) Die Imitation sei ein Werk der Einbildungskraft und

das Resultat eines interaktiven Umgangs mit der Welt. Mittels der Imitation tausche sich der Mensch

mit der ihn umgebenden Welt aus:

„Alle Nachahmung will täuschen, und täuschen kommt von Tausch. Dieses Sich-hinein-versetzen in ein fremdes ‘es’, das Vertauschen des Ortes und Wesens, wonach der eine nun im andern lebt, ihn darstellend oder schildernd, weckt ein Vollgefühl des Einklangs, das sich vom schweigenden Selbstvergessen bis zu ausgelassenstem Gelächter steigert und bis in die letzten Gründe des Erotischen hinabgreift, das von künstlerischer Schöpferkraft nicht zu trennen ist.“ (UdA1,247)

Als Prinzip der Selbstüberschreitung korrespondiere die Imitation dem Leben. „Nachahmung [ist] Le-

ben“ (UdA1,248) bemerkt Spengler. Im imitatorischen Kunstwerk lege sich das Leben aus, überschreite

sich gleichzeitig. Mimesis, Nachahmung eines anderen, mache anders, verwandele das Selbst. Imitatori-

sche Kunst drücke insofern das Wesen geschichtlicher Entwicklung aus und treibe sie an. Imitatorische

Kunst sei aus diesem Grunde die Kunst der Kulturen. Die Kunstform der beginnenden Zivilisationen

dagegen sei das Ornament. Dieses habe sich vom Leben entfernt und bilde eine invariante, selbstbezüg-

liche Formensprache aus:

„Von der Imitation hebt sich nun deutlich das Ornament ab, das dem Flusse des Lebens nicht folgt, sondern starr entgegentritt. Statt physiognomischer Züge, die dem fremden Dasein abgelauscht werden, gibt es feststehende Motive, Symbole, die man ihm aufprägt. Man will nicht täuschen, sondern beschwören. Das Ich überwältigt das Du. [...] die Ornamentik [...] bedient sich einer vom Sprechen abgelösten Sprache, eines Formenschatzes, der Dauer besitzt und der Willkür des einzelnen entzogen ist.“ (UdA1,247)

Die Imitation gehöre der „Zeit“ an, das Ornament der Ausdehnung, dem „Raum“. Die Imitation

„werde“, das Ornament „sei“. Die Imitation entspreche dem lebendigen Fluß der Rede und dem Ge-

spräch, das Ornament der „Schrift“ (UdA1,250). Auf die Kunstform des Ornaments folge in letzter

Instanz eine „Imitation der früheren Imitation“, deren Ausdruck Spengler in Klassizismus und Roman-

tik sieht. In diesen Bewegungen habe die Kunst des Abendlandes ihr Ende erreicht:

„Mit dem Anbruch der Zivilisation endlich erlischt das echte Ornament und damit die große Kunst überhaupt. Den Übergang bilden, und zwar in irgendeiner Form in jeder Kultur, ‘Klassizismus und Romantik’. Jener bedeutet Schwärmerei für ein Ornament - Regel, Gesetze, Typen -, das längst altertümlich und seelenlos geworden ist, diese eine schwärmerische Imitation - nicht des Lebens, sondern einer früheren Imitation. An Stelle

151

des Baustils tritt ein Baugeschmack. Malweisen, literarische Manieren, alte, moderne, einheimische und fremdartige Formen wechseln mit der Mode. Die innere Notwendigkeit fehlt. Es gibt keine ‘Schule’ mehr, weil jeder die Motive wählt, wie und wo er will. Die Kunst wird zum Kunstgewerbe.“ (UdA1,254)

Eine letzte Nachblüte, ein letztes Aufflackern vor dem endgültigen Verlöschen sei der Kunst noch

einmal in den großen Städten der Spätzeit beschieden, in der Dichtung Baudelaires, den Bildern der

Impressionisten und der Musik Wagners. Ihre Kunst sei eine „gefährliche Kunst, peinlich, kalt, krank,

für überfeinerte Nerven, aber wissenschaftlich bis zum äußersten, energisch in allem, was die Bewälti-

gung technischer Widerstände angeht“ (UdA1,369). Spengler knüpft hier an Hegels These vom mögli-

chen Ende der Kunst an. Im Gegensatz zu Hegel glaubt Spengler nicht an eine Aufhebung der Kunst

in der Philosophie, sondern nimmt Hegels These wörtlich. Kunst gehe mit der Kultur, auf die sie ver-

wiesen war, unter. „Von einer großen Malerei und Musik wird für den westeuropäischen Menschen

nicht mehr die Rede sein. Seine architektonischen Möglichkeiten sind seit hundert Jahren erschöpft.“

(UdA1,53) An die Stelle der Kunst trete eine „kunstgewerbliche Weltanschauung“ (RuA,77). Unter ex-

pliziter Berufung auf Spengler wird Arnold Gehlen diese Diagnose später im Begriff der „Posthistoire“

zusammenfassen: „Mit einer irgendwie sinnlogischen Kunstgeschichte ist es vorbei [...], die Entwick-

lung ist abgewickelt, und was nun kommt ist bereits vorhanden: der Synkretismus des Durcheinanders

aller Stile und Möglichkeiten, das Posthistoire“552. Als Symptom der weltgeschichtlichen Rationalisie-

rung diagnostizieren sowohl Spengler als auch Benjamin einen posthistorischen Zustand, in dem alle

substantiellen Werte und humanistischen Traditionen ihre Bindungskraft verloren haben und in dem

„alles möglich“ wird. Der Verlust einer übergreifenden metaphysischen Ordnung führt auch aus der

Sicht Webers zu einem „neuen Polytheismus“553, einem Pluralismus der Stile und Welthaltungen, zwi-

schen denen keine übergeordnete Instanz mehr vermitteln kann. Webers „neuer Polytheismus“ und

seine Konsequenzen werden von Spengler und Benjamin an vielen Stellen beschrieben. Benjamin deu-

tet den ästhetischen und weltanschaulichen „Polytheismus“ seiner Tage als „Kehrseite“ einer neuen

Erfahrungsarmut. Ihre Folge

„ist der beklemmende Ideenreichtum, der mit der Wiederbelebung von Astrologie und Yogaweisheit, Christian Science und Chiromantie, Vegetarismus und Gnosis, Scholastik und Spiritismus unter - oder vielmehr über - die Leute kam [...]. Nicht echte Wiederbelebung findet hier statt, sondern eine Galvanisierung.“ (GS2,215)

Auch Spengler spricht in bezug auf die Religion seiner Zeit von einer „zweiten“, die ursprüngliche

nachahmenden „Religiösität“ (MuT.,3). Den Begriff der „kunstgewerblichen Weltanschauung“ dehnt er

auf alle gesellschaftlichen Teilbereiche seiner Zeit aus:

„Ich nenne dies die kunstgewerbliche Weltanschauung. Bauen, Malen und Dichten als Kunstgewerbe, Politik als Kunstgewerbe, die Weltanschauung selbst als Kunstgewerbe - das stinkt aus all diesen Kreisen und Bünden, Cafés und Vortragssälen, Ausstellungen, Verlagen und Zeitschriften zum Himmel.“ (RuA,77)

In der universalen „Imitation der Imitation“ - Benjamin wird vom Zeitalter der „technischen Reprodu-

zierbarkeit“ (GS1,435ff.) sprechen - löse sich die abendländische Kultur auf. Robert Musil, ein auf- 552 Arnold Gehlen: Zeit-Bilder. A.a.O.: S. 206. 553 Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hg. v. J. Winckelmann. Tübingen 1968. 603f.

152

merksamer Leser Spenglers, faßt diesen Zustand in das Bild eines „babylonischen Narrenhauses“: „Aus

tausend Fenstern schreien tausend verschiedene Stimmen, Gedanken, Musiken gleichzeitig auf den

Wanderer ein, und es ist klar, daß das Individuum dabei der Tummelplatz anarchischer Motive wird,

und die Moral mit dem Geist sich zersetzt.“554 Spengler, Benjamin und Musil unterscheiden sich von

anderen Kulturkritikern ihrer Zeit insofern, als sie keine Rückkehr zu substantiellen Werten als Rezept

gegen den mit dem neuen Polytheismus einhergehenden Sinn- und Freiheitsverlust einklagen. Benjamin

und Musil, deren Verhältnis bisher kaum untersucht wurde, bemühen sich um eine Umformulierung

theologischer Traditionselemente, welche diese mit der Moderne in Einklang bringen soll. Musil spricht

von einer „profanen Religiösität“555, Benjamin von einer „profanen Erleuchtung“ (GS2,298). Beide su-

chen den „heiligen Weg“, sehen sich diesen allerdings im Hinblick auf die „Frage an, ob man wohl auch

mit einem Kraftwagen auf ihm fahren könnte!“556 Musil gibt als Ziel dieses Weges einen „anderen Zu-

stand“557 an, in dem „die Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich weniger scharf ist als sonst“558 und Ben-

jamin definiert als Aufgabe der „kommenden Philosophie“, eine „Sphäre totaler Neutralität in Bezug

auf die Begriffe Objekt und Subjekt zu finden“ (GS2,163). So bescheiden und abstrakt sich diese Be-

mühungen um eine Antwort auf die Situation des Menschen in der Posthistoire auch ausnehmen mö-

gen, so heben sie sich wohltuend von der Antwort Spenglers ab, der seinen Zeitgenossen davon abrät,

Auswege zu suchen und ihnen empfiehlt, sich in die Situation zu fügen:

„Härte, römische Härte ist es, was jetzt in der Welt beginnt. Für etwas anderes wird bald kein Raum mehr sein. Kunst ja, aber in Beton und Stahl, Dichtung ja, aber von Männern mit eisernen Nerven und unerbittlichem Tiefblick, Religion ja - aber dann nimm dein Gesangbuch, nicht den Konfuzius auf Büttenpapier - und gehe in die Kirche, Politik ja, aber von Staatsmännern und nicht von Weltverbesserern. Alles andere kommt nicht in Betracht. Und man sollte nie vergessen, was hinter uns und was vor uns Menschen dieses Jahrhunderts liegt. Zu einem Goethe werden wir Deutschen es nicht wieder bringen, aber zu einem Cäsar.“ (RuA,79)

Spengler huldigt einem Kult des Tatsächlichen, der ihn selbst kulturlos, zivilisatorisch erscheinen läßt.

„Nur Tatsachen stehen fest, Urteile schwanken und wechseln.“ (JdE,22). Er fordert in seinen politi-

schen Texten eine „Ehrfurcht vor den Tatsachen des Weltgeschehens [...], die praktisch nur durch

Menschen von starker Rasse, die selbst historische Tatsachen sind, gemeistert werden können“ (JdE,9).

Wir ständen „im Sturm der Tatsachen“ (JdE,22). Weiter stellt er fest: „Tatsachen sind wichtiger als

Wahrheiten.“ (RuA,67) Man könnte diese Haltung auch einen Existential-Positivismus nennen, der

Heideggers Seins-Geschick vorwegnimmt. Spengler selbst historisiert diese Haltung als die einer Zivili-

sation. Da er in einer Zivilisation lebe, sei seine Haltung ohne Alternative. „Der Skeptizismus ist Aus-

druck einer reinen Zivilisation; er zersetzt das Weltbild der voraufgegangenen Kultur.“ (UdA1,61)

Spengler identifiziert sich mit dem Angreifer.

554 Robert Musil: Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste. In: Ders.: Gesammelte Werke II. Rein-

bek bei Hamburg 1978. S. 1075-1093. Hier: S. 1088. 555 Robert Musil: Der deutsche Mensch als Symptom. In: Ders.: Gesammelte Werke II. A.a.O.: S. 1353-1399. Hier: S. 1398. 556 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg 41986. S. 751. 557 Robert Musil: Der deutsche Mensch als Symptom. A.a.O.: S. 1392. 558 a.a.O.: S. 1393.

153

3.4. Ansätze zu einer „Hermeneutik des Stils“ bei Spengler und in der Dilthey-Schule

„[...] so ruht der Stil auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntniß, auf dem We-sen der Dinge, in so fern uns erlaubt ist es in sichtbaren und greiflichen Gestal-ten zu erkennen.“

Goethe (WA,I,47,80)

Die implizite Methode der Spenglerschen Geschichtsphilosophie ließe sich am ehesten als „Hermeneu-

tik des Stils“ kennzeichnen. Unter dem Vorzeichen des Kulturrelativismus sieht sich die Geschichts-

schreibung Spenglers mit dem Problem der Darstellbarkeit von Kulturen konfrontiert. Wie lassen sich

Kulturen beschreiben, die der Kultur des jeweiligen Historikers vollkommen fremd gegenüberstehen?

Spengler versucht diesem Dilemma zu entrinnen, indem er sein Interesse auf Stile richtet, mittels derer

sich Kulturen selbst darstellen. Kulturen begreift Spengler als Formen symbolisch vermittelter Selbstin-

terpretationen von Menschen einer räumlich und zeitlich begrenzten Sphäre. Stile seien die Verdich-

tungszentren solcher Selbstinterpretationsprozesse. Auch für den Dilthey-Schüler und späteren Be-

gründer der Sozialpädagogik Hermann Nohl ist „der Stil in diesem Sinn [...] die Form der Weltanschau-

ung“.559

Aus den Dokumenten der zu untersuchenden Kulturen liest Spengler deren sich über den Stil vermit-

telnden Selbstinterpretationen ab. Der Stil einer Kultur bildet für ihn sowohl den Gegenstand als auch

den heuristischen Leitfaden der Untersuchung, die „hermeneutische Kategorie“ seiner Historiographie.

Die von Fellmann im Anschluß an Dilthey vorgenommene Bestimmung von Metaphern, Geschichten

und Stilen als „Kategorien“560 der Hermeneutik, findet sich bereits bei Spengler auf dem Gebiet der

Geschichtsschreibung angelegt. Aus der Sicht Fellmanns vermag die Hermeneutik an Stilen und Meta-

phern der Zuständlichkeit des Bewußtseins habhaft zu werden. Spengler analysiert in seinem Haupt-

werk Zuständlichkeiten kulturellen Kollektivbewußtseins. Zuständlichkeiten zeichnen sich gegenüber

bloßen Zuständen durch eine reflexive Struktur aus. Ein Zustand und ein auf diesen Zustand reagie-

rendes Verhalten gelangen im Begriff der Zuständlichkeit zur Deckung. Ihren objektivierbaren Aus-

druck finden Zuständlichkeiten von Individuen und Gemeinschaften in Stilen. „Stil des Lebens heißt“

für Spengler „Ethos, Instinkt, Haltung; sich so bewegen und halten [...]. Das ist der Ursinn der Sitte.“

(Ufr.,331) Erich Rothacker, ein Schüler Diltheys, der sich in seiner „Geschichtsphilosophie“ aus dem

Jahre 1934 eng an Spenglers Hauptwerk anschließt, bezeichnet „die grundsätzliche Voraussetzung, die

Auseinandersetzung menschlicher Gruppen mit der Welt vollziehe sich in einem vieldimensionierten

Bündel von »Verhaltensweisen«“561 als „ontologische Fundamentalthese“ seiner Philosophie. Rothacker

definiert diese Verhaltensweisen weiter als „besondere Weisen einer Gesamtlebenshaltung, einer Ge- 559 Hermann Nohl: Stil und Weltanschauung. Jena 1920. S. 21/22. 560 Ferdinand Fellmann: Symbolischer Pragmatismus. A.a.O.: S. 111. 561 Erich Rothacker: Geschichtsphilosophie. A.a.O.: S. 40.

154

samtlebensführung und Lebensform“562, die sich in einem bestimmten Stil niederschlagen. „Handlun-

gen erfolgen in einer Haltung, und solche Haltungen erkannten wir als das Kerngebilde von Lebenssti-

len.“563 Stile vermitteln zwischen natürlichen Gegebenheiten und Haltungen, die Menschen in bezug auf

diese Gegebenheiten einnehmen.

„Meere, Inseln, Gebirge, Ebenen, Wälder, Steppen, eine bestimmte Flora und Fauna sind für den Menschen nicht allein kausale Kräfte, welche sein Verhalten objektiv bedingen, sondern diese objektiven Bedingungen sind in »Personalunion« zugleich »Lagen«, auf welche er antwortet, und zwar antwortet, nicht allein mit Handlungen, sondern zugleich und in der pulsierenden Folge des handelnden Antwortens mit »Haltungen«, mit dem ganzen Sein, mit Lebensstilen.“564

Die Deutungs- und Integrationskraft von Stilen erstreckt sich für Spengler und Rothacker bis in den

Bereich der Natur. Den Angehörigen einer Kultur werde die sie umgebende Natur zur Landschaft. Sie

bezögen die natürlichen Gegebenheiten auf ihr Weltverständnis, auf ihren Stil. Spengler unterscheidet

in diesem Sinne ein bloßes „Dasein“ (UdA2,8) in der „Natur“ von einem „Wachsein“ (UdA2,8) in der

„Landschaft“. In dieser überschneiden sich für Spengler die Welten der „Natur“ und der „Geschichte“.

Deshalb kann er das Projekt einer „Geschichte der Landschaft“ (UdA2,45) fordern. Landschaften seien

immer auf eine sich in ihr spiegelnde, sie beobachtende Kultur verwiesen. „Landschaft“ bedeutet für

Spengler das Pendant des Stils im Bereich der Natur. Als Landschaft präsentiere sich Natur dem ästhe-

tischen Blick der Angehörigen einer Kultur. Gleichzeitig präformierten Landschaften den spezifischen

Charakter kultureller Blicke auf die Natur. Landschaften, Formen ästhetisch erlebter Natur, erfüllen

nach Seel565 eine dreifache kulturelle Funktion: in ihrer natürlichen Kontingenz werden sie erstens An-

laß einer Kontemplation. Am radikal Kontingenten, an der Natur als dem anderen und Menschenfrem-

den, individuiert sich die menschliche Gesellschaft als menschliche. In ihrer gestaltlosen Gestalt wird

die Landschaft zweitens Projektionsfläche für Entwürfe gelungenen Lebens. Drittens aktualisiert die

ästhetisch erfahrene Landschaft vorgängige Kunsterfahrungen. Der Montagne Sainte-Victoire kann

nach Cézannes gleichnamigen Gemäldezyklus nicht mehr ohne dessen spezielle Sichtweise wahrge-

nommen werden. „Das ästhetische Verhältnis zur Natur ist ein Umweg der Kultur zu einem freieren

Verhältnis zu sich selbst.“566 Ästhetisch erfahrene Landschaft erscheint aus der Sicht Seels, Spenglers

und Rothackers als Projektion des Stils einer Kultur auf die sie umgebende Natur. Seel führt weiter aus:

„Das Besondere am Kunstschein der Natur ist, daß wir an ihm die Darstellung der menschlichen Welt wiederum als Teil dieser Welt erfahren. Im Kunstschein der Natur erscheint die äußere Wirklichkeit so, als ob die imaginative Entfaltung weltbildender Sinnzusammenhänge ihr Werk wäre. Inmitten der Lebenswirklichkeit tut sich die Möglichkeit der imaginativen Begegnung mit möglichen Lebenswirklichkeiten auf. Im Gelingen der projektiven Imagination der Natur wird die äußere Welt zur Variation unserer Bilder vom wirklichen und möglichen Sein der Welt.“567

562 a.a.O.: S. 40. 563 a.a.O.: S. 83. 564 a.a.O.: S. 52. 565 vgl. Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur. A.a.O.: S. 38ff. 566 a.a.O.: S. 365. 567 a.a.O.: S. 159.

155

Diese imaginative Projektion weltbildender Sichtweisen auf die Natur begründet das Interesse Speng-

lers und Rothackers an der Landschaft. Spengler faßt den Unterschied von Natur und Landschaft in die

Begriffe des „Ausgedehnten“ und des „Gerichteten“. Im Gegensatz zur bloß ausgedehnten Natur sei

eine Landschaft auf die Zuständlichkeit des menschlichen Bewußtseins gerichtet. Der Mensch präge

der Natur seinen Stil auf, indem er sie als Landschaft auf sich ausrichte. Im Gegenzug prägten Land-

schaften Menschen und Kulturen. Jede Kultur gruppiere sich um ein „Ursymbol“, welches die sie um-

gebende Landschaft vorgebe. Dieses „Ursymbol“ soll das in einem gewissen kulturellen Rahmen Mög-

liche regeln und entspricht dem hermeneutischen „Horizont“.

„Das Ursymbol [...] ist im Formgefühl jedes Menschen, jeder Gemeinschaft, Zeitstufe und Epoche wirksam und diktiert ihnen den Stil sämtlicher Lebensäußerungen. [...] Folglich ist es auch durch Worte nicht begrifflich darstellbar, denn Sprachen und Erkenntnisformen sind selbst abgeleitete Symbole. Jedes Einzelsymbol redet von ihm, aber zum inneren Gefühl, nicht zum Verstand.“ (UdA1,227)

Das „Ursymbol“ steuere die Verwirklichung des innerhalb einer Kultur Möglichen. Den Horizont des

Möglichen setzt Spengler in einem weiteren Schritt mit dem Begriff der „Zeit“, das Wirkliche dagegen

mit dem „Raum“ gleich. Der Verwirklichung des Möglichen, die durch das „Ursymbol“ koordiniert

werde, entspreche immer eine Verräumlichung der Zeit. Die jeweils spezifische Weise dieser Verräum-

lichung, das Raumgefühl einer Kultur, drücke deren „Ursymbol“ aus. Dieses könne nicht begrifflich

ausgesprochen, sondern nur künstlerisch dargestellt werden. Für die ägyptische Kultur gibt Spengler

den „Weg“ als Ursymbol an, der sich in der landschaftlichen Struktur der Pharaonenreiche gespiegelt

finde: „Es ist der Nil selbst, der mit dem Ursymbol der Richtung eins wird. Der Geist der mütterlichen

Landschaft vereinigt sich mit der aus ihr entsprungenen Seele.“ (UdA1,261) Das Leben des Ägypters

„ist das eines Wanderers in einer und immer der gleichen Richtung; die gesamte Formensprache seiner

Kultur dient der Versinnlichung dieses einen Motivs“ (UdA1,242). Der Nil werde für die Ägypter zum

Spender einer Bilderwelt, mittels derer sie ihr gesamtes Universum deuteten. Künstlerisch drücke sich

die ägyptische Welthaltung in Reihen von Flachreliefs, Pylonentempeln und Labyrinthen aus.568 Auch

die attische Kultur der Polis korrespondiere landschaftlichen Gegebenheiten. „Ganz ebenso knüpft sich

das [...] Dasein der antiken Kultur in geheimnisvoller Weise an die vielen kleinen Inseln und Vorgebirge

des ägäischen Meeres.“ (UdA1,261) Die auf Inseln und Vorgebirgen vereinzelten Stadtstaaten im klassi-

schen Griechenland fänden ihr Ursymbol im Einzelkörper, der künstlerisch in der „Bildsäule des nack-

ten Menschen“569 ausgedrückt werde. Die Hügellandschaft Chinas führe wie von selbst zur chinesi-

schen „Gartenarchitektur“ (UdA1,261). Bei den Chinesen sei „die Landschaft zum eigentlichen Stoff

der Architektur geworden“ (UdA1,244). Diese Durchdringung von Landschaft und Architektur liest

Spengler als Sinnbild des „Tao“, eines Prinzips der Einheit von Mensch und Natur. Die „Gartenkunst“

der Chinesen sei insofern „eine religiöse Kunst großen Stils“ (UdA1,245). Die „stets im unendlichen

schweifende Leidenschaft des Abendlandes“ bindet sich aus der Sicht Spenglers eng „an die weiten

568 vgl. dazu die „Tafel »gleichzeitiger« Kunstepochen“ in UdA1,68f. 569 ebd.

156

fränkischen, burgundischen, sächsischen Ebenen“ (UdA1,261). Das „Ursymbol“ des Abendlandes sei

die Unendlichkeit, wie sie gestalterisch in den „Strebesystemen“ der gotischen Dome und in der baro-

cken Fuge570 verwirklicht werde. In der Musik Wagners, in der Lyrik Baudelaires und im Impressionis-

mus kündige sich bereits die Auflösung der abendländischen Kultur an: „Der Impressionismus ist die

zu Ende geführte Entkörperung der Welt im Dienste des Raumes.“ (UdA1,236) Was im Rahmen des

Abendlandes kulturell möglich gewesen sei, sei mit den Impressionisten, Baudelaire und Wagner ver-

wirklicht worden. Das Abendland habe sich „vollendet“ (UdA1,140). Eine neue Kultur, die russische,

ist für Spengler demgegenüber im Entstehen begriffen. Das „Russentum“ werde sich nach dem Unter-

gang des Abendlandes zu einer neuen Hochkultur entfalten. „Das Ursymbol des Russentums, die un-

endliche Ebene, findet wie religiös, so auch architektonisch noch keinen sicheren Ausdruck.“

(UdA1,258). Die russische Kirchenarchitektur „ist noch kein Stil, aber das Versprechen eines Stils, der

erst mit der eigentlichen russischen Religion erwachen wird.“ (UdA1,259)

Daß in der Anbindung kultureller an landschaftliche Strukturen die Gefahr eines Umschlagens in krude

„Blut und Boden“-Ideologien angelegt ist, verdeutlicht das Beispiel Rothackers, dessen „Geschichtsphi-

losphie“ in einer Apotheose der nationalsozialistischen Rassenmystik gipfelt:

„Ein rassisch befriedigender Bevölkerungsdurchschnitt ist in dem Rassegemisch einzelner deutscher Stämme erreichbar nur durch die energischste Unterstützung aller eugenischen Maßnahmen durch Formung und Zucht des im äußeren und inneren noch knetbaren jugendlichen Menschenmaterials im Geiste der rassisch besten Bestandteile seiner Erbmassen.“571

Auch Spengler setzt sich dieser Gefahr aus, wenn er sich des Begriffs „Stil“ in einem normativen Sinne

als Synonym für Sitte, Ethos und Haltung bedient und „Stil“ auf bestimmte Eliten beschränkt wissen

will.

„Ethos einer Art von Leben, gepflegt und repräsentiert durch Tradition und Sitte, ist überindividuell. Es gehört zum Fluß der Generationen und steht dem Einzelnen als schweigendes, unbegriffenes, gefühltes Gebot, als Takt des Lebens gegenüber. Wer sich nicht in den Takt einfügen kann oder will, zeigt damit, daß er ein verfehltes Individuum ist.“ (Ufr.,331)

Dem Stil oder Ethos habe sich das Individuum ohne Reflexion zu fügen. „Man wählt das Ethos nicht.

Man wird in seine Form hineingeboren.“ (Ufr.,339) Wenn er behauptet, „Ethik ist Lebensstil, Gestalt

und innere Form des Sichverhaltens“ (Ufr.,335), funktionalisiert Spengler den Stil-Begriff für eine neo-

aristotelische Ethik, wie sie in unseren Tagen von politisch konservativen Philosophen wie Odo Mar-

quard und Richard Rorty vertreten wird. Diese Autoren berufen sich auf in bestimmten Traditionen

übliche, eingespielte Handlungsnormen als ethisch verbindlichen Maßstab. Sie leugnen wie Spengler

universal verbindliche ethische Maximen und verweisen im Anschluß an Hegel auf die „substantielle

Sittlichkeit“ konkreter Kulturen. Auch Spengler vertritt auf dem Gebiet der Ethik einen vergleichbaren

Kulturalismus. Seine „morphologische Formenlehre mündet als politische Philosophie in eine Apo-

570 ebd. 571 Erich Rothacker: Geschichtsphilosophie. A.a.O.: S. 147/148.

157

theose des Staates.“572 Darin nähert sich Spenglers Ethik derjenigen Hegels. In „Preußentum und Sozia-

lismus“ heißt es: „Wenn man Hegels Metaphysik beseitigt, so erscheint ein Staatsdenker von so starkem

Wirklichkeitssinn, wie die neuere Philosophie keinen zweiten aufweist.“ (PuS,84) Spengler erkennt als

Subjekte ethischen Handelns keine „Menschen“ an, sondern angehörige bestimmter Kulturen, Bürger

bestimmter Staaten. Er bekundet „eine tiefe Skepsis gegenüber der Tatsache »Mensch«“ (RuA,159), die

eine Erfindung des Abendlandes sei. In dieser Skepsis gibt sich Spengler als Epigone Nietzsches und

Vorläufer Foucaults zu erkennen. Er arbeitet einem ethischen Relativismus und Antiuniversalismus vor,

den Apel für den Nationalsozialismus mitverantwortlich macht. „Es gibt so viele Moralen, als es Kultu-

ren gibt“ (UdA1,402) schreibt Spengler und fährt fort: „Es gibt keine allgemein menschliche Moral.“

(UdA1,437) Träfe diese Behauptung zu, gäbe es auch keine allgemein verbindlichen Maßstäbe, die für

die Bewertung ethnischer Progrome oder interkultureller Konflikte herangezogen werden könnten. Für

Spengler lassen sich moralische Maximen nur durch einen Rekurs auf eingespielte Üblichkeiten oder

Formen substantieller Sittlichkeit ermitteln: „Es handelt sich darum, aus dem praktischen Leben der

Gegenwart dessen tiefste Prinzipien zu entwickeln und sie zu grundlegenden Rechtsbegriffen zu erhe-

ben. [...] Dies ist eine Aufgabe, welche dem deutschen Denken der Zukunft vorbehalten ist.“

(UdA1,95) Spengler appelliert an den „nationalen Tatsachensinn“ (UdA2,223) und formuliert als

höchste Maxime der Ethik: „right or wrong, my country!“ (UdA2,223) Apel hielt Rorty, der auf einer Podi-

umsdiskussion anläßlich des Frankfurter Wittgenstein-Symposions 1989 auf die Frage nach seinen ethi-

schen Grundsätzen antwortete „I’m just an American“, entgegen, daß auch ein Nazi seine Verbrechen

legitimieren könne, wenn er sagen würde „I’m just a German.“ Gegen den Rekurs auf „das praktische

Leben der Gegenwart“ als letzter Entscheidungsinstanz ethischer Fragen wendet Apel ein, „daß die

»Üblichkeiten« der konventionellen Moral unter Umständen auch im Sinne des »gesunden Volksemp-

findens« der Nazis oder im Sinne eines restaurativen religiösen Fundamentalismus verstanden werden

können“573. Postkonventionelle Kriterien bleiben für jede Form von Ethik, die sich nicht selbst wider-

sprechen will, unverzichtbar. Apel meint diese Kriterien in einer Reflexion der pragmatischen Möglich-

keitsbedingungen von sprachlicher Kommunikation begründen zu können, ein Gedanke, der schon

Benjamin vertraut war. 1917 berichtet dieser seinem Freund Ernst Schoen brieflich von einem „ver-

zweifelten Nachdenken über die sprachlichen Grundlagen des kategorischen Imperativs“ (BBr.,165).

Die Ergebnisse dieser Überlegungen gehen später in die „Kritik der Gewalt“ ein. In diesem Text wird

„die Unterredung als eine Technik ziviler Übereinkunft betrachtet. In ihr ist nämlich gewaltlose Einigung nicht allein möglich, sondern die prinzipielle Ausschaltung der Gewalt ist ganz ausdrücklich an einem bedeutenden Verhältnis zu belegen: an der Straflosigkeit der Lüge. Es gibt vielleicht keine Gesetzgebung auf der Erde, welche sie ursprünglich bestraft. Darin spricht sich aus, daß es eine in dem Grade gewaltlose Sphäre menschlicher Übereinkunft gibt, daß sie der Gewalt vollständig unzugänglich ist: die eigentliche Sphäre der »Verständigung«, die Sprache.“ (GS2,192)

572 Detlef Felken: Oswald Spengler. A.a.O.: S. 127. 573 Karl-Otto Apel: Der postkantische Universalismus in der Ethik im Lichte seiner aktuellen Mißverständnisse. In: Ders.:

Diskurs und Verantwortung. A.a.O.. S. 154-178. Hier: S. 161.

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Der heuristische Nutzen von Rothackers und Spenglers Stil-Begriff wiegt seine ethisch-politisch restau-

rative Färbung auf. Zwar spielen Stile auch in ethischen Entscheidungssituationen eine nicht zu leug-

nende Rolle, dürfen diese aber nicht dominieren. Als Instrument der kulturwissenschaftlichen Be-

schreibung kann das Stil-Konzept Rothackers und Spenglers auch heute noch wichtige Dienste leisten.

Rothacker vertritt im Anschluß an Spengler die These, daß der Begriff

„des Lebensstils und der Totalantwort des Menschen auf seine Lage oder, bescheidener formuliert, die Tatsache, daß es der »ganze Mensch« ist, der jeweils mit seinem Sein auf Lagen antwortet, genügt, allem Verhalten menschlicher Gemeinschaften einen einheitlichen physiognomischen Charakter zuzusprechen.“574

Kulturgeschichte wird für Spengler und Rothacker zur Stilgeschichte. Stile vermitteln zwischen Fakten

und Mentalitäten, zwischen Individuellem und Allgemeinem. Der Stil ist eine Antwort, den sich eine

Kultur auf die Frage nach ihrer Lage gibt:

„Die großen weltgeschichtlichen Kulturen sind vielfältig aufgespaltene und differenzierte, aber in ihrer jeweiligen Grundhaltung mit einem stilistischen Kerne jeweils zusammenhängende Dauerantworten, mit denen menschliche Gemeinschaften mit ihrem ganzen Sein auf den Druck des Alls antworten.“575

Der Stil eignet sich als Leitfaden der Analyse von kollektiven „Zuständlichkeiten“, die sich für Spengler

in allen Lebensäußerungen einer Kultur, bevorzugt aber in Kunstwerken manifestieren. Aus dem Er-

kenntnisprivileg des Stils folgert Rothacker, „daß eine ästhetische Komponente aller wahrhaft universa-

len Welt- und Wertbetrachtung notwendig innewohn[t]“576. Aus diesem „Innewohnen einer ästheti-

schen Komponente“ resultiert weder für Rothacker noch für Spengler, daß jede „Welt- und Wertbe-

trachtung“ notwendig ästhetisch sei. Beide Lebensphilosophen bemühen sich vielmehr um eine Heuris-

tik des Ästhetischen. Das welterschließende Potential von Stilen wird in der Lebensphilosophie für die

Kultur- und Geschichtserkenntnis fruchtbar gemacht. Damit nimmt die Lebensphilosophie vorweg,

was heute im Umkreis der analytischen Ästhetik als „ästhetische Welterschließung“ bezeichnet wird.

„Ein Werk interpretieren heißt die Welt entfalten, auf die es sich kraft seiner »Disposition«, seiner »Gat-

tung« und seines »Stiles« bezieht“577, schreibt Ricoeur und skizziert damit exakt das Programm, das die

lebensphilosophischen Geschichts- und Kulturtheorien verfolgen. Der Begriff der „Welterschließung“

findet sich explizit in Rothackers Geschichtsphilosophie. Rothacker behandelt „Welterschließung“

nicht nur als geisteswissenschaftliche Methode, sondern kennt im Anschluß an Scheler und Heidegger

eine fundamentale „Welterschließung“, die allen unseren Weltverhältnissen zugrunde liegt:

„Vom Biologischen bis ins Höchstgeistige erkennen wir so einen Motor des Welteingangs, Welterschließens, Weltöffnens, Welterweiterns und Vernichtigens [sic!] in einer vitalen, emotionalen und existenzialen Anteilnahme, ohne welche Wissen, Erlebnisinhaltehaben, Kennen überhaupt nicht zustande kommt, und deren erkenntnistheoretische Bedeutung in einem »Satz der Bedeutsamkeit«, als Analogon zu dem traditionellen »Satz des Bewußtseins« (in sensualistischer Bedeutung) und »Satz der Logizität« (in rationalistischer Bedeutung) formuliert werden kann.“578

574 Erich Rothacker: Geschichtsphilosophie. A.a.O.: S. 55. 575 ebd. 576 a.a.O.: S. 49. 577 Paul Ricoeur: Die lebendige Metapher. A.a.O.: S. 214. 578 Erich Rothacker: Geschichtsphilosophie. A.a.O.: S. 99.

159

Im Gegensatz zur „phänomenologischen Reduktion“ Husserls579 vertritt Rothacker „das Programm

einer, die gesamte menschliche Welt umfassenden anthropologischen Reduktion, als Organon aller be-

sonderen Reduktionen in besondere Haltungen und Lagen, unter der Leitidee des Satzes der Bedeut-

samkeit“580. Bedeutung ergibt sich für Rothacker immer nur aus einem Zusammenspiel des Symboli-

schen mit dem Pragmatischen, der „Handlung“ mit der „Haltung“. „Auf die erlebte Lage als Ganzes

antwortet das Ich mit Handlungen, die ihrerseits wieder in bestimmten Haltungen erfolgen.“581 „Hal-

tungen“ verwendet Rothacker synonym zu „Stilen“. Er spricht von „Weltbildern“ und „Lebenshaltun-

gen“ als den „Ursprungsorten aller Bedeutsamkeiten“582. Der Ort der Vermittlung zwischen „Hand-

lung“ und „Haltung“ und das „eigentliche Subjekt aller dieser Funktionen des Welthabens ist die Ein-

bildungskraft.“583

Spengler definiert Kulturen und Stile als unbewußte Sinnhorizonte der Menschen einer Epoche: „Das

Unbewußte ist u.a. das, was die Einzelwesen untereinander [...] mit Klima, Landschaft und Sternen ver-

bindet. In der Kultur liegt also die unbewußte Einheit zugrunde: Stil ist das Unbewußte.“ (Ufr.,304)

Auch für Fellmann ist „Stil [...] ein Indikator von Einstellungsaffinitäten, die noch vor der begrifflichen

Formulierung liegen.“584 Dieses Unbewußte wird durch Kunstwerke bewußt gemacht oder erschlossen.

Darum eignen sich Kunstwerke in herausragender Weise dazu, fremde Kulturen und Epochen zu ver-

stehen. Spenglers Einsicht läßt sich ohne große Mühe nachvollziehen. Über das 19. Jh. z.B. vermittelt

uns eine Lektüre Flauberts oder Baudelaires weit mehr, als jedes Geschichtswerk. Diesem Sachverhalt

tragen Sartre und Benjamin Rechnung, wenn sie sich bemühen, das 19. Jh. über Lektüren Flauberts

(Sartre) und Baudelaires (Benjamin) zu erschließen.

Stile und Metaphern stehen für den Geschichtsforscher sowohl auf der Seite des Beobachtenden, als

auch auf der Seite der untersuchten Epoche. Dieser Doppelcharakter empfiehlt sie der Aufmerksamkeit

auch neuerer methodologischer Diskussionen in der Geschichtsforschung.585 Stil im Sinne Spenglers

erstreckt sich auf alle Lebensäußerungen einer Kultur. Schon Nietzsche definiert die Einheit von Kul-

turen als Stilphänomen: „Kultur ist vor allem Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerun-

gen eines Volkes.“586 Mittels eines Stils stellt sich eine Kultur gegenüber anderen Kulturen und gegen-

über ihren eigenen Angehörigen dar und formiert sich somit erst zu einer Kultur, einer, wie Cassirer

definiert, Form des „Weltbegreifens und Weltverstehens“587.

579 vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Tübingen 41980. S.

108f. 580 Erich Rothacker: Geschichtsphilosophie. A.a.O.: S. 130. 581 a.a.O.: S. 139. 582 a.a.O.: S. 101. 583 a.a.O.: S. 105. 584 Ferdinand Fellmann: Stile gelebter Philosophie und ihre Geschichte. In: Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer

(Hg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt a.M. 1986. S. 585. 585 Zum Stil in der Geschichtsschreibung vgl. Peter Gay: Style in History. London 1975. Zur Metapher vgl. Alexander De-

mandt: Metaphern für Geschichte. München 1978. 586 Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauss. Der Bekenner und der Schriftsteller In:

Werke in drei Bänden. Hg. v. Karl Schlechta. Erster Band. München 1982. S. 140. 587 Ernst Cassirer: Zur Logik des Symbolbegriffs. A.a.O.: S. 209.

160

Selbst die Mathematik unterstellt Spengler unterschiedlichen Stilen. Das erste Kapitel seines Haupt-

werks trägt den Titel „Vom Sinn der Zahlen“ (UdA1,69). Bereits dieser Titel ist eine Provokation, gilt

doch die Mathematik im Abendland als kulturell invariantes, letztes Fundament aller Einzelwissenschaf-

ten, dessen Geltung überzeitlich und unabhängig von der Existenz geschichtlicher Menschen sei. Die

Elemente dieser Fundamentaldisziplin, die Zahlen, werden von Spengler von vornherein als „sinnhaf-

te“ Gebilde interpretiert; ihre Geltung wird an geschichtliche Lebensvollzüge zurückgebunden. Speng-

ler ordnet die Mathematik einer umfassenden Kulturgeschichte unter, in der ihr kein privilegierter Ort

zukommt. „Mathematik ist also auch eine Kunst. Sie hat ihre Stile und Stilperioden.“ (UdA1,83) Die

traditionelle Hierarchie zwischen Logik und Ästhetik verschiebt sich in der Lebensphilosophie zuguns-

ten der Ästhetik. Für Spengler geben „nicht Mathematik und abstraktes Denken, sondern die großen

Künste [...] den Schlüssel zum Problem der Zeit, das sich auf dem Boden der Geschichte allein kaum

erschließen läßt.“ (UdA1,167/168) Logik bleibt auf Ästhetik als Medium ihrer Erkennbarkeit verwiesen

und nicht umgekehrt.

Spenglers Reduktion mathematischer Geltung auf ihre historische Genesis geht zu weit. Die Gleichung

2 + 2 ergibt ganz unabhängig davon, welcher „Sinn“ dem Zahlenbegriff einer jeweiligen Kultur

zugrunde liegt, 4. Felken führt als treffendes Beispiel gegen Spenglers Relativierung der Mathematik

chinesische Physiker an, die in der Lage sind, nach den gleichen mathematischen Prinzipien wie ihre

westlichen Kollegen Nuklearwaffen zu bauen.588 Musil kritisiert Spenglers Umgang mit dem Problem

der Mathematik als rhetorisch und unseriös:

„Mathematische Kapitel aber haben vor andren den Vorzug, daß sie diese bei belletristischen Geistern sich auf jedem Wissensgebiet rasch einstellende imitatorische Belesenheit von Sachlichkeit leicht unterscheiden lassen. Spengler schreibt: irgendetwas »mag in den populären Teilen einer Mathematik weniger hervortreten, aber die Zahlengebilde höherer Ordnung, zu denen jede von ihnen...alsbald aufsteigt, wie das indische Dezimalsystem, die antiken Gruppen der Kegelschnitte, der Primzahlen und der regelmäßigen Polyeder, im Abendlande der Zahlkörper, die mehrdimensionalen Räume, die höchst transzendenten Gebilde der Transformations- und Mengenlehre, die Gruppe der nichteuklidischen Geometrien...« usw. und das klingt so gewiegt, daß ein Nichtmathematiker sofort durchschaut, so kann nur ein Mathematiker reden. Aber in Wahrheit ist, wie Spengler da Zahlengebilde höherer Ordnung aufzählt, nicht fachkundiger als ob ein Zoologe zu Vierfüßlern die Hunde, Tische, Stühle und Gleichungen vierten Grades zusammenfassen würde!“589

Spengler erkennt nicht, daß mathematische Geltungskriterien von nicht ästhetischer Natur sind. Durch

diesen naheliegenden Einwand wird der „Sinn“ seiner Rede vom „Sinn der Zahlen“ und vom „Stil der

Mathematik“ noch nicht vollständig entkräftet. Die Geltung mathematischer Regeln findet eine Grenze

in ihrer Anwendbarkeit. Regeln können, wie wir seit Wittgenstein wissen590, nicht gleichzeitig ihre eige-

ne Anwendbarkeit regeln. An dieser Stelle setzt für Spengler der Stil an. Er betrachtet den Stil als eine

Metaregel. Darin folgt er der romantischen Theorie des Stils, wie sie exemplarisch bei Schleiermacher

588 Detlef Felken: Oswald Spengler. A.a.O.: S. 64. 589 Robert Musil: Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind.

In: Ders.: Gesammelte Werke II. Reinbek bei Hamburg 1978. S. 1042-1059. Hier: S. 1042/1043. 590 vgl. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. In: Werkausgabe Bd.1. Frankfurt a.M. 71990. S. 288 (Nr.85)

u. S. 350 (Nr.217).

161

formuliert ist. Dieser versteht „unter Stil nur die Behandlung der Sprache“591, nicht also die einfache

Befolgung sprachlicher Regeln, sondern die je individuelle Weise, wie Regeln befolgt werden. In dieser

sich im Stil ausdrückenden Weise der Regelbefolgung sieht Schleiermacher das Residuum von mensch-

licher Individualität. Der Stil der Mathematik regelt für Spengler in ähnlicher Weise die kulturelle An-

wendung der mathematischen Regeln. Insofern hat Spenglers Ästhetik der Mathematik durchaus ihre

Berechtigung, wenn auch Mathematik nicht vollständig auf Ästhetik reduziert werden darf. Spengler

spricht von einem „den Zahlen zugrunde liegenden Urgefühl“ (UdA1,77), welches von Kultur zu Kul-

tur schwanke. „Eine Zahl an sich gibt es nicht und kann es nicht geben. Es gibt mehrere Zahlenwelten,

weil es mehrere Kulturen gibt.“ (UdA1,78) Der Stil bestimmt, was Zahlen für bestimmte Kulturen be-

deuten. „Es ist der Stil einer Seele, der in einer Zahlenwelt, aber nicht in ihrer wissenschaftlichen Fas-

sung allein zum Ausdruck kommt.“ (UdA1,78) Unter der Prämisse einer Unhintergehbarkeit der Stile

könne die Mathematik zu einer Reihe von unterschiedlichen Mathematiken relativiert werden. „Es gibt

demnach mehr als eine Mathematik.“ (UdA1,79) Dieser Relativismus weist schon auf den Sprachspiel-

Pluralismus Wittgensteins voraus. Wittgenstein hat Spenglers Hauptwerk im übrigen gelesen und ge-

schätzt592. Als Beispiel für die Relativität der Mathematiken gibt Spengler die Differenz zwischen der

griechisch-antiken und der abendländisch-modernen Mathematik an. „Der antike Mathematiker kennt

nur das, was er sieht und greift. [...] Deshalb sucht die antike, ganze körperhafte Zahl unwillkürlich eine

Beziehung zur Entstehung des leiblichen Menschen, des soma.“ (UdA1,110) In der Antike sei die Zahl

eine körperlich gedachte Größe, die den Ideen der Polis und der Skulptur entspräche. Im Abendland

werde die Zahl dagegen als „Beziehung“ (UdA1,121) aufgefaßt. Der antiken Endlichkeit stehe eine a-

bendländische Unendlichkeit gegenüber. Das Abendland kenne im Gegensatz zur Antike „irrationale

Zahlen wie ¹2“ (UdA1,103) und „den Begriff der Unbekannten“ (UdA1,103). Den drei Dimensionen

der Antike halte das Abendland eine unendliche Zahl möglicher Dimensionen entgegen. Letztlich ver-

tritt Spengler hier einen versteckten Klassizismus auf dem Felde der Mathematik. Die antike Mathema-

tik sei eine Mathematik des Eigentlichen und Substantiellen, die neuzeitliche Mathematik dagegen eine

des Uneigentlichen und Abstrakten.

Spengler bleibt nicht bei der historistischen Relativierung der Mathematik, der Fundamentalwissen-

schaft der abendländischen Rationalität, stehen. Er relativiert alle Grundbegriffe der abendländischen

Philosophie. Unter Berufung auf Spengler fordert Rothacker vom Historiker,

„nicht nur jedes Drama überhaupt als griechisch zu erkennen, sondern auch »die« Vernunft als Derivat des griechischen Logos, Seele überhaupt als christliche Innerlichkeit, Willensmacht als römische Willensmacht - Spengler meint sogar erst als faustische -, Freiheit als protestantische Freiheit, Freude [...] als die geistesgeschichtlich langsam gewordene »Freude« des Schillerschen Liedes und der Beethovenschen Musik anzusprechen. [...] Alles Allgemeine überhaupt verwandelt sich so in historisch Individuelles.“593

591 F.D.E. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik. Hg. v. Manfred Frank. Frankfurt a.M. 41990. S. 168. 592 vgl. Garth Hallett: A Companion to Wittgenstein’s Philosphical Investigations. Ithaca 1978. S. 216-218. 593 Erich Rothacker: Geschichtsphilosophie. A.a.O.: S. 27.

162

Das Vorbild dieser heute wieder im Werk Foucaults zu Ehren gekommenen Argumentationsform stellt

Nietzsches Genealogie der Moral dar.

Spenglers Hermeneutik des Stils richtet sich wie die der Romantik auf Individualität. Nach Rothacker

stoßen wir bei Spengler

„auf eine neue klassische Verbindung des Lebens und Entwicklungsgedankens [...] mit dem romantischen Begriff der unvergleichlichen Individualität. Daß Spengler diese Verbindung überspannt, daß er die Rolle der von Kultur zu Kultur wandernden und wirkenden geprägten Formen unterschätzt [...], muß bei der Würdigung seiner philosophischen Position aufgewogen werden durch die theoretische Schärfe, mit welcher er den Individualitätsgedanken [...] verknüpft mit der zu Ende gedachten Idee des schöpferischen Lebens.“594

Seine „Entdeckung und Verehrung der Individualität“595 verbindet Spengler mit den Romantikern, so

daß Eberhard Gauhe dem Verhältnis Spenglers zur Romantik ein ganzes Buch widmen konnte. Leo-

pold von Ranke versuchte als erster Geschichtsdenker, die romantische Individualitätsidee auf Staaten

zu übertragen. „Die Staaten sind Individualitäten, eine der anderen analog; [...] sie sind erfüllt von be-

sonderen, ihnen eigenen Tendenzen. Jeder Staat hat sein eigenes selbständiges Leben.“596 In diesem

Punkt folgt Spengler Ranke; „das von Humboldt bis Ranke geforderte Einfühlungsvermögen in das

Individuelle bildet eine Grundvoraussetzung seines [= Spenglers] physiognomischen Stils.“597 Spenglers

Intention auf Individualität muß aufgrund seines starren Kulturentwicklungsschemas scheitern. „Stil“

wird ihm in letzter Hinsicht zu einem Subsumtionsbegriff, dem Individuelles untergeordnet wird. Damit

fällt Spengler hinter den Stil-Begriff der Romantik zurück. Besonders deutlich wird sein Verfehlen von

Individualität, wenn er von einem einheitlichen „Stil des Abendlandes“ (UdA1,264) spricht, dem sich

alle kulturellen Manifestationen vom Jahre 1000 bis zum Ersten Weltkrieg zuordnen ließen. „Romanik,

Gotik, Renaissance, Barock, Rokoko“ sind für Spengler „nur Stufen ein und desselben Stils“

(UdA1,260). Stile entwickeln und transformieren sich aus der Sicht Spenglers nicht, sondern entstehen

plötzlich, bleiben ein Jahrtausend konstant, um dann genauso plötzlich wieder zu verschwinden und

einem neuen Stil Platz einzuräumen: „Das Erwachen erfolgte im faustischen Abendlande kurz vor

1000. Mit einem Schlage ist der romanische Stil fertig.“ (UdA1,259) Auch der „ägyptische Stil“ mit sei-

nen „Ursymbol des Weges ist plötzlich ins Leben getreten, mit dem Beginn der 4. Dynastie (2930

v.Chr.).“ (UdA1,259) Stil drückt für Spengler nichts Individuelles, sondern etwas Allgemeines aus.

Rothacker spricht sogar von einem „Schienensystem der geschlossenen Stile“598. Für die Romantik ge-

hört ein Kunstwerk dagegen keiner „Stilepoche“ an, sondern hat einen eigenen Stil. Der „Stil“ be-

schreibt für Schleiermacher den Ort einer irreduziblen Besonderheit eines Kunstwerks oder einer Le-

bensäußerung. Schleiermacher definiert „Stil“ als einen „divinatorischen“ Begriff, als Quellpunkt des

Unvordenklichen. Im Anschluß an Schlegels Behauptung, daß „jedes vortreffliche Werk, von welcher

Art es auch sei, mehr weiß als es sagt, und mehr will als es weiß“ (KA2,140), bezeichnet Schleiermacher 594 a.a.O.: S. 33. 595 Eberhard Gauhe: Spengler und die Romantik. A.a.O.: S. 20. 596 Leopold von Ranke: Das politische Gespräch. Halle 1925. S. 25. 597 Detlef Felken: Oswald Spengler. A.a.O.: S. 66 598 Erich Rothacker: Geschichtsphilosophie. A.a.O.: S. 75.

163

als die Aufgabe der Hermeneutik, „die Rede zuerst ebensogut und dann besser zu verstehen als ihr Ur-

heber“599. Einen Text besser zu verstehen, als er sich selbst versteht, nennt Schleiermacher „objektiv

divinatorisch“: „Objektiv divinatorisch heißt ahnden, wie die Rede selbst ein Entwicklungspunkt für die

Sprache werden wird“600, wie ein Sprachsystem sich in einem konkreten Kunstwerk selbst überschreitet.

Als Ort dieses Übergangs zum Neuen gibt Schleiermacher den „Stil“601 an. Frank faßt Schleiermachers

Stil-Theorie folgendermaßen zusammen:

„Unter »Stil« versteht Schleiermacher die »Behandlung der Sprache«, und zwar unter dem Gesichtspunkt, inwiefern der Sprecher die ihm »eigentümliche Art, den Gegenstand aufzufassen, in die Anwendung und somit auch in die Sprachbehandlung« mit einbringt. Es handelt sich wohlbemerkt um ein mit der metaphorischen »Neu-Beschreibung« wesentlich identisches Ereignis, insofern die stilistische Modifikation den allgemeinen Schematismus der Sprache durch einen vorerst noch unübertragbaren »Gedanken« des Sprechers herausfordert. Das poetische »Bild«, welches das allgemeine »Schema« überlagert, ist [...] als »ein schlechthin einzelnes bestimmt« [...]. Die Dichtung [...] hat im Medium der Sprache etwas zu geben, »was sich eigentlich nicht durch die Sprache geben läßt, denn die Sprache gibt immer nur das Allgemeine«.“602

Der Stil ist für Schleiermacher der Ort, an dem sich im Allgemeinen des Sprachsystems ein Individuel-

les, Ausdruck verschafft. Für Schleiermacher gibt es genausoviel Stile wie Kunstwerke und Individuen.

Spengler unterscheidet demgegenüber nur acht Stile, die seinen acht Hochkulturen entsprechen. Diese

Stile heben sich deutlich voneinander ab, folgen aber gleichen Entwicklungsgesetzen. „Der Kunstge-

schichte steht die Aufgabe bevor, die vergleichenden Biographien der großen Stile zu schreiben. Sie

haben alle, als Organismen derselben Gattung, eine Lebensgeschichte von verwandter Struktur.“

(UdA1,265) Diese Aufgabe wurde bereits 1908 von Nohl im Anschluß an Dilthey in Angriff genom-

men. Nohl unternimmt den Versuch, „die Stilgegensätze [der bildenden Kunst] zu interpretieren als die

verschiedenen möglichen Auseinandersetzungen des Menschen mit der Welt auf dem Boden der An-

schauung, als die Typen malerischer Weltanschauung“.603 Auch für Nohl ist uns unsere Wirklichkeit

immer nur „in einem Lebensverhältnis gegeben, das vor aller begrifflichen Auseinandersetzung schon

über ihren Sinn entschieden hat.“604 Unsere Lebensverhältnisse, in denen „uns die Wirklichkeit über-

haupt gegeben ist“605 können nicht mit den Mitteln des Begriffs, sondern nur künstlerisch vergegenwär-

tigt werden: „Insofern vermag jedes Bild die Totalität der sichtbaren Welt und ihren Sinn zu repräsen-

tieren, weil es eben die Struktur der Sichtbarkeit zeigt [...]. Der Stil in diesem Sinn ist die Form der

Weltanschauung“.606

599 F.D.E. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik. A.a.O.: S. 94. 600 ebd. 601 a.a.O.: S. 168. 602 Manfred Frank: Der Text und sein Stil. Schleiermachers Sprachtheorie. In: Ders: Das Sagbare und das Unsagbare. Stu-

dien zur deutsch-französischen Hermeneutik und Texttheorie. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt a.M. 1989. S. 15-37. Hier: S. 31.

603 Hermann Nohl: Stil und Weltanschauung. A.a.O.: S. 11. 604 a.a.O.: S. 13. 605 a.a.O.: S. 21/22. 606 a.a.O.: S. 21/22.

164

Nohl unterscheidet nur drei Typen von Weltanschauungen: Naturalismus/Positivismus, objektiven I-

dealismus und subjektiven Idealismus607. Diesen drei Weltanschauungstypen, die sich nebeneinander in

allen Epochen finden, ordnet er bestimmte künstlerische Individualstile zu. Der Komplexität der

Kunstgeschichte und der Individualität einzelner Werke kann dieses im Ansatz durchaus überzeugende

Verfahren nicht gerecht werden. Den drei Weltanschauungstypen entsprechen genau drei verschiedene

Welten, verschiedene Werte, verschiedene Ideale und verschiedene künstlerische Stile.

„Der einen sichtbaren Welt gegenüber sehen wir die Maler drei verschiedene Standpunkte einnehmen, die ihre Wurzel letztlich in einem metaphysischen Realitätsgefühl dreifacher Art haben und zu drei ganz verschiedenen Bildgestaltungen führen, von denen jede, bis ins Einzelne anders organisiert, eine eigene Ästhetik hat.“608

Seine Theorie der Weltanschauungstypen führt Nohl auf Dilthey zurück. Für Nohl war es ein bedeu-

tender Fortschritt, daß

„Dilthey von seinem Irrationalismus aus, der an eine systematische Lösung der metaphysischen Probleme durch einen endgültigen Begriffszusammenhang nicht mehr glaubte, die Mannigfaltigkeit der philosophischen Systeme zu deuten vermochte aus einer beschränkten Anzahl letzter Stellungen des Menschen zur Welt, die unaufhebbar nebeneinander stehen und aus denen dann die Struktur dieser Systeme bis ins Einzelne hinein zu verstehen war.“609

Die Beschränktheit der Zahl der Weltanschauungstypen bei Dilthey und Nohl folgt aus der Befangen-

heit ihrer Philosophie in einem mentalistischen Paradigma. Die Weltanschauungstypen entsprechen den

möglichen Relationen zwischen Subjekt und Objekt. Im Naturalismus wird das Subjekt, frei nach Feuer-

bach, immer vom Objekt überwältigt, im objektiven Idealismus hebt das Subjekt das Objekt in sich auf

und im subjektiven Idealismus besteht ein wechselseitiges Konstitutionsverhältnis zwischen Subjekt und

Objekt. Mit diesen drei Optionen erschöpfen sich für Nohl die grundsätzlichen Möglichkeiten, das

Verhältnis des Menschen zur Welt zu begreifen. Für eine nach-mentalistische, von Wittgenstein ausge-

hende Philosophie müßte dagegen eine unendliche Vielfalt von Weltanschauungstypen möglich sein,

ohne daß daraus ein radikaler Relativismus folgen müßte. Von ihrem typologischen Schematismus ent-

kleidet, bieten sich die Theorien Spenglers, Rothackers und Nohls auch heute noch als Ausgangspunkt

für eine Theorie ästhetischer Welterschließung an. Die „Struktur der Sichtbarkeit“, die das Kunstwerk

Nohl zufolge zeigt, wird im Prozeß dieses Zeigens selbst immer wieder transformiert und läßt sich in-

sofern nicht typologisieren. Jedes gelungene Kunstwerk macht die Welt in einer gänzlich neuen Weise

sichtbar, es öffnet und verschiebt den Horizont der Sichtbarkeit in eine Richtung, die nicht vorausbe-

rechnet werden kann.

607 a.a.O.: S. 16. 608 a.a.O.: S. 39. 609 a.a.O.: S. 91/92.

165

4. Walter Benjamins Rezeption frühromantischer Denkformen in ihrer Aktualität für eine Konzeption ästhetischer Welterschließung

„Ich kann nicht umhin, an eine Kritik zu denken, die nicht versuchte zu richten, son-dern die einem Werk, einem Buch, einem Satz, einer Idee zur Wirklichkeit verhilft; sie würde Fackeln anzünden, das Gras wachsen sehen, dem Winde zuhören und den Schaum im Fluge auffangen und wirbeln lassen. Sie häuft nicht Urteil auf Urteil, son-dern sie sammelt möglichst viele Existenzzeichen; sie würde sie herbeirufen, sie aus ih-rem Schlaf rütteln. Mitunter würde sie sie erfinden? Umso besser, umso besser. Die Kritik durch Richterspruch langweilt mich; ich möchte eine Kritik mit Funken der Fan-tasie. Sie wäre nicht souverän, noch in roter Robe. Sie wäre geladen mit den Blitzen al-ler Gewitter des Denkbaren.“

Michel Foucault610

Den Ausgangspunkt dieses Kapitels bildet Benjamins Dissertation „Über den Begriff der Kunstkritik in

der deutschen Romantik“. Die von Benjamin auf die romantische Theorie der Kunstkritik eröffneten

Perspektiven sollen rekonstruiert und weiter verfolgt werden. Als Leitkategorien zur Erörterung roman-

tischer Kunstphilosophie und Erkenntnistheorie bieten sich die auch von Benjamin in den Mittelpunkt

seines Projekts gestellten Kategorien „Reflexion“ und „Kritik“ an. „Reflexion“ und „Kritik“ können als

die paradigmatischen Artikulationsformen der philosophischen Moderne betrachtet werden. Als „Re-

flexion“ im weitesten Sinne läßt sich im Anschluß an Benjamin und seine romantischen Vorläufer ein

produktives Nachdenken über das Denken und seine Möglichkeitsbedingungen definieren. Reflexion ist

immer sowohl selbstbezüglich als auch auf ein ihr Vorgängiges verwiesen. Sie ist ein Erkenntnismodus

innerhalb eines sinnhaft vorstrukturierten Raumes. Nicht das Selbstbewußtsein, sondern das Kunst-

werk liegt dem frühromantischen Begriff der Reflexion als Modell zugrunde. „Kritik“ bedeutet für die

Romantiker ein produktives Schreiben über konkrete, in sich reflexive Gegenstände, z.B. Kunstwerke.

Kritik wird als konkrete Reflexion verstanden und ist nicht kategorial von dieser unterschieden. „Kritik“

und „Reflexion“ stellen nicht nur Themen von Texten der Frühromantiker und Benjamins, sondern

auch Modi der Organisation dieser Texte, Schreib- und Denkformen, dar. Auch in dieser Rolle sollen

sie hier untersucht werden. Es geht nicht nur darum, was bestimmte Texte über Reflexion und Kritik

aussagen, sondern auch darum, wie sie etwas als Reflexion und Kritik aussagen.

Dieses Kapitel gliedert sich in drei Teile. Ein, auf diese Einleitung folgender erster Teil sichtet,

kommentiert und ergänzt Benjamins unter dem Leitbegriff „Reflexion“ erfolgende Darstellung der

frühromantischen Erkenntnistheorie und Philosophie. In diesem Zusammenhang wird die Differenz

zur Philosophie des frühen Idealismus hervorgehoben. Die Denkfiguren von Friedrich Schlegel und

Novalis werden sich in vielen Punkten als „moderner“ erweisen, als die gleichzeitigen Entwürfe Fichtes

und Schellings. Auf dieser Erörterung der frühromantischen Erkenntnistheorie fußend soll, der

Gliederung der Benjaminschen Dissertation folgend, in einem zweiten Teil die von Benjamin im

Anschluß an die frühromantische Kritik entwickelte Theorie der Kunsterkenntnis behandelt werden. 610 Michel Foucault: Der maskierte Philosoph. Gespräch mit Christian Delacampagne (Le Monde). In: Ders.: Von der

Freundschaft. Berlin o.J. S. 14.

166

Über die Erörterung der Dissertation hinaus soll in diesem zweiten Teil auch gezeigt werden, inwieweit

Benjamin frühromantische Denkformen für seine eigene Theorie und Praxis künstlerischer Kritik hat

nutzen können. In einem dritten Teil schließlich wird thematisiert, wie Benjamin sein ästhetisch

begründetes Konzept der Kritik auf dem Feld der Geschichtsphilosophie und Geschichtsschreibung

fruchtbar gemacht hat. „Literaturkritik als Methode geschichtsphilosophischer Erkenntnis bezeichnet

[...] Benjamins Eigenart von Anfang an.“611 Im Mittelpunkt dieser Ausführungen steht eine Erörterung

seines „Passagen-Werks“, einer materialen Geschichtsphilosophie des 19. Jhs Als heuristischer

Leitbegriff dieser Geschichtsphilosophie wird sich der Begriff des „Bildes“ herausstellen, dem in

Benjamins Denken ein ähnlicher Stellenwert zukommt, wie dem „Stil“ im Denken Spenglers. Benjamin

spricht in polemischer Abgrenzung zu C.G. Jung und Klages von „dialektischen“ im Gegensatz zu

„archaischen“ Bildern. Diese „dialektischen Bilder“ setzen historische Erfahrungen mit solchen der

„Jetztzeit“ in Beziehung und führen so zu einer wechselseitigen Erhellung zweier Epochen.

611 Bernd Witte: Walter Benjamin - Der Intellektuelle als Kritiker. Untersuchungen zu seinem Frühwerk. Stuttgart 1976. S. 5.

167

4.1.Benjamins Romantik-Dissertation

4.1.1. „Schreiben über die Romantik“

„Bloße Spekulation (müßiges Denken) endigt sich mit Ruhe - Unthätigkeit. Man muß immer einen Gegenstand bearbeiten - und während dieser Bearbeitung und - durch ihre Wiederbearbeitung fortzuschreiten suchen.“

Novalis (N3,363/364)

Benjamins Philosophie der Kunst und Kunstkritik formiert sich in Auseinandersetzung mit der Roman-

tik. Er gelangt „in der Auseinandersetzung mit der Romantik zu einem Kritikbegriff, der mit einigen

wenigen Modifikationen auch für seine eigenen Arbeiten verbindlich wurde“612. Jede Erörterung Ben-

jamins hat sich zunächst auf den Begriff der Romantik zu richten. Doch was ist die Romantik? Die

„Stimme der Romantik“ mutet Benjamin äußerst vielstimmig an:

„Die Stimme der Romantik [...] kommt aus dem Wunderhorn, auf dem Clemens Brentano blies, und aus der Impertinenz, welche Friedrich Schlegel seine tiefsten Erkenntnisse schenkte, aus dem Gedankenlabyrinth, das Novalis in seinen Taschenbüchern nachzeichnete, aus dem Gelächter, das aus Tiecks Komödien den Spießer aufschreckte, und aus der Finsternis, in der Bonaventura seine Nachtwachen hielt. Darum hat die Stimme der Romantik keinen Namen.“ (GS4,658/659)

Es existiert nichts, was als die Romantik jenseits der uns überlieferten romantischen Texte bezeichnet

werden könnte. Diese Texte sind in gewissem Sinne unhintergehbar. Ihre Interpretation kann sie nicht

auf eine jenseitige, geistige „Entität“ hin überschreiten. Diese Entität, „die Romantik an sich“, bleibt

dem interpretatorischen Zugriff verstellt. Die Interpretation romantischer Texte kann, was trivial klin-

gen mag, immer nur eine Interpretation von Texten sein. Und doch scheint es nicht sinnlos zu sein,

heuristisch von der Romantik zu sprechen. Die „Romantik“ definiert sich nicht nur durch mehr oder

weniger zufällige Epochengrenzen, sondern kann auch qualitativ bestimmt werden. Als „romantisch“

kann ein bestimmtes Ensemble von textuellen Qualitäten oder Verfahren, die einem umreißbaren Kor-

pus von Texten zugesprochen werden können, definiert werden. Die frühromantische Literatur diver-

giert in entscheidenden Punkten von der zeitgleichen klassischen Literatur Goethes und Schillers. E-

benso unterscheidet sich die frühromantische Philosophie in vielerlei Hinsicht von der zeitgleichen

frühidealistischen Philosophie.

Die philosophischen Texte der Frühromantiker artikulieren in der Regel ein Bewußtsein ihrer eigenen

Textualität, ihrer Sprachlichkeit. Damit heben sie sich von den frühidealistischen Texten Fichtes und

Schellings ab, die um das Problem eines mentalistisch oder ontologisch gedachten Selbstbewußtseins

kreisen, ohne ihre eigene Sprachlichkeit zu reflektieren. Idealistische Denkformen wie das „absolute

Ich“, das „Absolute“, das „Seyn“ und der „Weltgeist“ erweisen sich vom Standpunkt einer sinnkritisch

612 Momme Brodersen: Spinne im eigenen Netz. Walter Benjamin. Leben und Werk. Bühl-Moos 1990. S. 114.

168

gewendeten Sprachphilosophie als leere Worthülsen. Den Erkenntnistheorien Kants, Fichtes,

Schellings und Hegels halten Novalis, Schleiermacher und die Gebrüder Schlegel Theorien des

„Textverstehens“ entgegen, Theorien der Hermeneutik und Kritik.

In Friedrich Schlegels ‘Studium’-Aufsatz formiert sich zu Beginn der deutschen Romantik ein

Verständnis moderner Poesie als „autonom“ und „progressiv“. Im Gegensatz zur „alten“ Literatur, die

innerhalb eines „geschlossenen“ theologischen Kosmos’ außerzeitliche Ideale (das Schöne, Wahre und

Gute) repräsentierte, steht die „neue“ Literatur in einer „offenen“ Welt, in der sie sich in einer

Bewegung ständiger Selbstüberschreitung immer wieder aus sich selbst, aus der Reflexion auf ihren

eigenen literarischen Status, begründen muß. „Die moderne Poesie“, schreibt Schlegel, „wird sich also

immer verändern“ (KA1,255). Im Anschluß an Kant definiert er Kunst generell als „freies Spiel ohne

bestimmten Zweck“ (KA1,241/242), als „autonom“. Der Begriff der Autonomie fällt bei Schlegel

selbst:

„Die Schönheit ist ein ebenso ursprünglicher und wesentlicher Bestandteil der menschlichen Bestimmung als die Sittlichkeit. Alle diese Bestandteile sollen unter sich im Verhältnisse der Gesetzesgleichheit (Isonomie) stehn, und die schöne Kunst hat ein unveräußerliches Recht auf gesetzliche Selbständigkeit (Autonomie)“ (KA1,325).

Indem sich die moderne Literatur ihrer selbst bewußt wird, entsteht das Problem der Verstehbarkeit

der nicht-modernen Literatur und ganz generell das Problem der Verstehbarkeit des Fremden. Die „al-

te“ Literatur der Antike und besonders des Mittelalters, das die Romantik neu entdeckt, entsteht in ge-

wisser Weise erst im Moment der Differenzierung zwischen „alt“ und „neu“. Novalis wendet sich an

einer von Benjamin zitierten Stelle gegen das Antike-Bild Goethes, wenn er schreibt:

„Natur und Natureinsicht entstehen zugleich, wie Antike und Antikenkenntnis; denn man irrt sehr, wenn man glaubt, daß es Antiken gibt. Erst jetzt fängt die Antike an zu entstehen [...]. Der klassischen Literatur geht es wie der Antike; sie ist uns eigentlich nicht gegeben - sie ist nicht vorhanden - sondern sie soll von uns erst hervorgebracht werden. Durch fleißiges und geistvolles Studium der Alten entsteht erst eine klassische Literatur für uns - die die Alten selbst nicht hatten.“ (zit.n. GS1,116)

Vom Standpunkt der „neuen“ Poesie aus muß die „alte“ Poesie neu gelesen werden, und zwar erstmals

als (autonome) Poesie und nicht als Manifestation übergeschichtlicher Ideen oder historisches Doku-

ment. Ziel dieser Relektüre ist die „absolute Identität des Antiken und Modernen“ (KA2,189), mit der

die „Querelle des Anciens et des Modernes“ ad acta gelegt wird. Die „Progression“ der „progressiven

Universalpoesie“ (KA2,182), als die sich die „neue“ Dichtung versteht, richtet sich nicht nur in die Zu-

kunft, sondern auch in die Vergangenheit. Die moderne (oder romantische) Poesie ist bestrebt, „alle

getrennten Gattungen [und Epochen] der Poesie wieder zu vereinigen“ (KA2,182), denn „in einem ge-

wissen Sinn ist oder soll alle Poesie romantisch sein“ (KA2,183). Auch die außereuropäischen Literatu-

ren werden erstmals von den Frühromantikern umfassend rezipiert. Die Romantik bildet Altes und

Neues, Fremdes und Eigenes, aufeinander ab. Sie initiiert zwischen beiden Polen einen Dialog, der ihre

Polarität aufhebt. Clemens Brentano faßt diesen Sachverhalt in seinem 1801 veröffentlichten Roman

„Godwi“ sehr treffend in die folgenden Worte: „Alles, was zwischen unserem Auge und einem entfernt

zu Sehenden als Mittler steht, uns dem entfernten Gegenstand nähert, ihm aber zugleich etwas von

169

dem Seinigen mitgibt, ist romantisch“613. Das Romantische als textuelles Prinzip gilt an dieser Stelle als

das Prinzip einer hermeneutischen Metaphorizität, einer Übertragung, die nicht die fremde Sprache in die

eigene überträgt, sondern beide einander nähert und dadurch verändert. Jakobson hat mehrfach auf die

Affinitäten zwischen dem „Romantischen“ und dem „Metaphorischen“ hingewiesen.614 Was Brentano

als „romantisch“ definiert, deckt sich weitgehend mit dem, was später bei Benjamin „Aura“ heißt. Nähe

und Ferne, Fremdes und Eigenes, sind in beiden Begriffen zur Deckung gebracht, ohne einfach nivel-

liert zu werden. Benjamin spricht an anderer Stelle auch von einer „Grundform jüdischen Denkens [...],

in der [...] einander Fremdes und Abgelegenes als in einem geselligen geistigen Raum miteinander

kommuniziert.“ (GS3,106)

Die romantischen Texte kreisen in der Regel um andere Texte, drängen sich zwischen sie, schließen sich

ihnen an und schreiben sie um. Sie sind Sekundär- und Primärliteratur in einem. Die Romantik stellt

nicht nur eine philosophisch-literarische Doppelerscheinung dar, sondern eine weit umfassendere

Erscheinung von Textkritik, -auslegung, -übersetzung und -edition615. Sie ist nicht nur ein „Gespräch

über Poesie“ , so der Titel eines der bedeutendsten Texte Friedrich Schlegels, sondern ein Gespräch der

Poesie, ein Dialog der Texte über alle Gattungsgrenzen hinaus. Programmatisch formuliert der Beginn

des 116. „Athenäums“-Fragments:

„Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen [...].“ (KA2,182).

Friedrich Schlegel verfaßt in der Zeit der Jenenser Frühromantik (~ 1795-1804), abgesehen von seinem

kurzen Roman „Lucinde“, bedeutende Texte „Über Lessing“, „Über Goethes Meister“, „Über die Un-

verständlichkeit“, ein „Gespräch über die Poesie“, „Kritische Fragmente“ u.ä., vor allem also Literatur

über Literatur. Sein Bruder August Wilhelm arbeitet als Übersetzer, Kritiker und Literaturtheoretiker.

Für Schillers „Horen“ und die „Jenaer allgemeine Literaturzeitung“ schreibt A.W. Schlegel über 300

Rezensionen616. 1797/1798 hält er in Jena und 1802/1803 in Berlin seine „Vorlesungen über schöne

Literatur und Kunst“, die als erste dezidierte Philosophie der Kunst gelten.617 1797 beginnt er mit der

Übersetzung von Shakespeares „Romeo und Julia“ und leitet damit das Großprojekt der Schlegel-

Tieckschen Shakespeareübersetzung ein. Mit seiner Übersetzung des „Rasenden Roland“, der Dramen

Calderons und mit Tiecks Übersetzung des „Don Quichotte“ tragen die Frühromantiker so wesentlich

613 Clemens Brentano: Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman von Maria. In: Ders.: Werke

Bd.2. München 31980. S. 258. 614 vgl. z.B. Roman Jakobson: Aufsätze zur Linguistik und Poetik. Hg. v. Wolfgang Raible. München 1974. S. 134. 615 Ganz abgesehen sei hier von den Leistungen der Romantik auf anderen Gebieten wie Malerei, Musik, Natur- und Geis-

teswissenschaften. 616 vgl. Ernst Behler: Athenäum. Die Geschichte einer Zeitschrift. In: Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm

Schlegel und Friedrich Schlegel. Berlin 1798-1800. Reprographischer Nachdruck Darmstadt 1983. Bd.3. S. 10. 617 Schelling trägt seine „Philosophie der Kunst“, zu der ihn A.W. Schlegel wesentlich angeregt hat, erstmals im Winterse-

mester 1802/1803 in Jena vor.

170

zur Bildung eines modernen, noch heute gültigen Literaturkanons bei. Auch als Literaturkritiker haben

die Romantiker für Benjamin „die Grundeinschätzung der historischen Werke Dantes, Boccaccios,

Shakespeares, Cervantes’, Calderons ebenso wie die der ihnen gegenwärtigen Erscheinung Goethes bis

auf die Gegenwart bestimmt.“ (GS1,80)

Novalis erarbeitet sich sein philosophisches Selbstverständnis in den Jahren um 1795 in einer

kommentierenden und kritisierenden Lektüre der „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“ von

1794, die in den sogenannten „Fichte-Studien“ protokolliert ist. 1797 folgen dann „Kant-“ und

„Hemsterhuisstudien“. Schleiermacher übersetzt Platon und formuliert um 1805 erstmals eine

Hermeneutik im modernen Sinne, die Theorie eines methodisierten, im Kern dialogischen

Textverstehens618. Schon in ihrem Beginn formiert sich die „Romantik“ als Arbeit im und am Text, als

Prozeß universeller Textauslegung und -transformation. „Das Romantische selbst ist eine

Übersetzung“619 heißt es in Brentanos „Godwi“. „Übersetzung“ gilt in der Romantik nicht nur als

Überführung eines Textes von einer Sprache in eine andere, sondern als Grundprinzip jeder geistigen

Tätigkeit. Damit nähert sich die romantische Philosophie des Bewußtseins neueren Ansätzen, wie

denjenigen Ricoeurs oder Fellmanns:

„Wie der Stoffwechsel den elementaren Vorgang des organischen Lebens bildet, so läßt sich das Übersetzen als die Grundfunktion des bewußten Lebens bezeichnen, die auf verschiedenen Stufen auftritt: Übersetzung von Reizen in Empfindungen, von Empfindungen in Vorstellungen oder Bilder, von Vorstellungen in Handlungen.“620

Kristallisationspunkt der verschiedenen frühromantischen Textprojekte ist eine Zeitschrift: das

„Athenäum“.

„Die Zeitschrift war [...] die romantische Form der Enzyklopädie, sie war der Ausdruck des gesprengten, des ‘offenen’ Systems. Das ‘Athenäum’ leitete den Zyklus der romantischen Zeitschriften ein und bestimmte die nachfolgenden Blätter“621.

Friedrich Schlegel schreibt in der Planungsphase der Zeitschrift an seinen Bruder August Wilhelm:

„Was mich besonders dabei interessieren würde, wäre die Symphilosophie“622 und Novalis notiert sich:

„Journale sind eigentlich schon gemeinschaftliche Bücher. Das Schreiben in Gesellschaft ist ein interessantes Symptom - das noch eine große Ausbildung der Schriftstellerey ahnden läßt. Man wird vielleicht einmal in Masse schreiben, denken, handeln - Ganze Gemeinden, selbst Nationen werden Ein Werck unternehmen“ (N2,645).623

618 „Von 1805 sind seine frühesten Notizen zum Gegenstand datiert, 1829 hielt er in Berlin die beiden Reden über den Beg-

riff der Hermeneutik“ Peter Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik. Frankfurt a.M. 1975. S. 135. 619 Clemens Brentano: Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. A.a.O.: S. 260. 620 Ferdinand Fellmann: Lebensphilosophie. Elemente einer Theorie der Selbsterfahrung. Reinbek bei Hamburg 1993. S.

234. 621 Ernst Behler: Athenäum. Die Geschichte einer Zeitschrift. A.a.O.: S. 13. 622 zit.n. Ernst Behler: Athenäum. Die Geschichte einer Zeitschrift. A.a.O.: S. 7. 623 Von diesem Zitat führt eine direkte (logische, nicht wirkungsgeschichtliche) Linie über Benjamins soziologische These

einer Veröffentlichung der Schrift (in der „Einbahnstraße“ und in „Der Autor als Produzent“) zu Derridas sem-ontologischer These vom „Ende des Buches und Anfangs der Schrift“ (in der „Grammatologie“). - In der „Einbahn-straße“ heißt es: „Nun deutet alles darauf hin, daß das Buch in [seiner] überkommenen Gestalt seinem Ende ent-gegengeht. Mallarmé [...] hat zum ersten Male im ‘Coup de dés’ die graphischen Spannungen der Reklame ins Schriftbild verarbeitet. [...] Die Schrift, die im gedruckten Buche ein Asyl gefunden hatte, wo sie ihr autonomes Dasein führte, wird unerbittlich von Reklamen auf die Straße hinausgezerrt und den brutalen Heteronomien des wirtschaftlichen Chaos un-

171

Die Symphilosophie, das Gespräch, wird zum Movens der frühromantischen Bewegung und höher ge-

wichtet als die Gesprächsteilnehmer selbst. Hardenberg zeichnet seine Beiträge zum „Athenäum“ mit

„Novalis“624, die Person weicht einem Programm. Die Autoren sind nur noch sekundäre Pole eines

vorgängigen Reflexionsprozesses. Besonders deutlich zeigt sich diese Entwicklung an den Athenäums-

Fragmenten, Fragmenten Schleiermachers, Novalis’ und der Gebrüder Schlegel, die im „Athenäum“

ohne Kennzeichnung der Autorschaft nebeneinander abgedruckt werden. Friedrich Schlegel spricht in

einem Brief von einer „großen Symphonie“625 der Fragmente und gibt drei Hauptziele fragmentarischen

Schreibens an: „1) die größte Masse von Gedanken in dem kleinsten Raum; 2) epideixis von Universali-

tät...; 3) fraternaler Potenzismus und gigantische Synfonierung“626.

Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis des „Athenäums“ zeigt, daß auch hier Übersetzung, Kritik,

Rezension und Kunsttheorie überwiegen. 1803 unterscheidet Friedrich Schlegel rückblickend drei

Haupttendenzen des „Athenäums“627, deren beiden erste Behler so paraphrasiert: An erster Stelle steht

„die Kritik, nicht nur in der polemischen Bedeutung ‘vom Kranken ganz zu scheiden das Gesunde’, sondern eher noch in dem Sinne der Errichtung eines neuen literarischen Ideals nachkonstruierender und verstehender Hermeneutik, das in einigen klassischen Mustern der romantischen Literaturkritik exemplifiziert wird. Die zweite Stufe dient der Entfaltung eines universalen Bildungsprogrammes, das sich auf [...] die Philosophie, die Moral und die gesellschaftlichen Bezirke erstreckt [...].“628

Die dritte Tendenz läßt sich mit Friedrich Schlegels eigenen Worten kennzeichnen als „die Verkündi-

gung der Mysterien der Kunst und Wissenschaft [...], vor allem aber die kräftige Verteidigung der sym-

bolischen Formen und ihrer Notwendigkeit, gegen den profanen Sinn.“ (KA3,10) Was er mit „symboli-

schen Formen“ an dieser Stelle meint, erläutert Schlegel nicht weiter. Vielleicht versteht er die Roman-

tik als Strategie der „Übersetzung“ selbst als „symbolische Form“. Das „Athenäum“ ist in erster Linie

ein Organ der Übersetzung und Kritik; einer Kritik freilich, die nicht Gutes von Schlechtem scheidet,

terstellt. [...] Und ehe der Zeitgenosse dazu kommt, ein Buch aufzuschlagen, ist über seine Augen ein so dichtes Gestö-ber von wandelbaren, farbigen, streitenden Lettern niedergegangen, daß die Chancen seines Eindringens in die archai-sche Stille des Buches gering geworden sind“ (GS4,102/103). In „Der Autor als Produzent“ wird von dieser Diagnose ausgehend die Forderung nach einem Ende der „Autonomie des Dichters“ (GS2,683) erhoben und die Rolle des Autors als die eines Schrift-Organisators neu bestimmt. - Auch Derrida spricht von einem „Tod der Buchkultur“ als „neuer Mu-tation in der Geschichte der Schrift“ (Jacques Derrida: Grammatologie. A.a.O.: S. 20), meint damit aber keinen sozio-logischen, sondern einen semiotisch-ontologischen Sachverhalt: die sich seit Nietzsche durchsetzende Einsicht in die Universalität und Geschlossenheit der Signifikanten.

624 Hardenberg verwendet das Pseudonym „Novalis“ erstmals 1798 für seine im „Athenäum“ erscheinende Fragmenten-sammlung „Blütenstaub“. „Novalis“ wird in der römischen Antike derjenige genannt, der Neuland bebaut, der neue Ge-biete urbar macht, indem er dort sät. Die erste Saat des romantischen „Novalis“ ist „Blütenstaub“, „flores orationis“, rhe-torische Blumen, in statu nascendi. Im „Ofterdingen“ wird die im ganzen Werk zentrale „Blumen“-Metapher mit der e-benso zentralen des „Feuers“ in Verbindung gebracht: „»Ich brauche« sagte Fabel, »Blumen, die im Feuer gewachsen sind. Ich weiß, du hast einen geschickten Gärtner, der sie zu ziehen versteht« - »Zink« rief der König, »gib uns Blumen« Der Blumengärtner trat aus der Reihe, holte einen Topf voll Feuer und säete glänzenden Samenstaub hinein. Es währte nicht lange, so flogen die Blumen empor.“* Bachelard bemerkt in bezug auf die enge Verwandtschaft von „Blumen“- und „Feuer“-Metaph»rik bei Novalis: „Sie ist rot, die kleine blaue Blume!“** *Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Hg. v. Jochen Hörisch. Frankfurt a.M. 1982. S. 142. ** Gaston Bachelard: Psychoanalyse des Feuers. A.a.O.: S. 57.

625 zit.n. Behler: Athenäum. Die Geschichte einer Zeitschrift. A.a.O.: S. 9. 626 a.a.O.: S. 35. 627 Friedrich Schlegel: Europa. Eine Zeitschrift Hg. v. Friedrich Schlegel. Bd.I.1. Frankfurt a.M. 1803. S. 41-63 (~ KA3,3-

16). Hier: S. 52. 628 Ernst Behler: Athenäum. Die Geschichte einer Zeitschrift. A.a.O.: S. 26.

172

sondern die die einem Kunstwerk immanente, spezifisch ästhetische Reflexion potenziert. Das Parade-

beispiel für diese Form von literarischer Kritik stellt Friedrich Schlegels 1798 im Band 1 des „Athe-

näum“ veröffentlichter Aufsatz „Über Goethes Meister“ dar. Der Autor nennt seinen Aufsatz in einem

Brief an Schleiermacher den „Übermeister“629, womit gesagt ist, daß die Dignität der Kritik über der des

Kritisierten liege.

Über die Romantik zu schreiben bedeutet, über einen ‘Gegenstand’ zu schreiben, der selbst schon über

die Bedingungen des „Schreibens über...“ reflektiert. Reflexion über die Romantik schwebt in der

Gefahr, von ihrem Gegenstand eingeholt zu werden und nötigt zur Selbstreflexion. Gibt es Kriterien,

die unser heutiges Reflektieren über die Bedingungen des Schreibens über Texte, unsere heutigen

Texttheorien und Hermeneutiken, kategorial von denjenigen der Romantiker unterscheiden? Sind wir

(noch) Romantiker? Oder, andersherum, sind die Romantiker (schon) Moderne? „Romantik“,

behauptet Bohrer, „ist Moderne“630. Was aber ist die „Moderne“? Sie definiert sich vielleicht gerade

durch diese Frage, durch ihr „Bedürfnis nach Selbstvergewisserung“631, durch eine konstitutive

Unsicherheit, durch das Fehlen letzter Fundamente, die durch ein ewiges Gespräch, eine ewige

Selbstkritik und Selbstauslegung kompensiert werden müssen. „Die Moderne schreibt sich selbst,

schreibt sich in einem immerwährenden Redigieren über sich selbst ein“632. Vielleicht besteht das

paradoxe „Wesen“ der Moderne in Reflexivität und Dialogizität, in Kritik an jedem „Wesentlichen“.

Über die Romantik erfahren wir nur dann etwas, wenn wir in einen Dialog mit ihr treten, bei welchem es offen bleibt, ob sich die „Moderne“ ganz in romantischen Positionen wiederfinden oder ob sie sich als etwas über die Romantik Hinausgewachsenes, von dieser Distanziertes erkennen wird. Es ist unbestimmt, ob sich der Dialog zwischen Romantik und Moderne schon innerhalb des „philosophischen Diskurses der Moderne“ oder noch innerhalb eines „philosophischen Diskurses der Romantik“ abspielt. Auf die Modernität der Romantik, auf ihre Rolle im von Weber analysierten Prozeß der weltgeschichtlichen Rationalisierung, wurde in jüngster Zeit von einer Reihe von Autoren hingewiesen633. Silvio Vietta z.B. versteht die Romantik als „Selbstkritik der Aufklärung“634.

Die Romantik muß,

„wenn man ihrem kritischen Potential gerecht werden will, als eine Selbstkritik der neuzeitlichen Aufklärung begriffen werden, als Kritik an der Verengung von Rationalität auf die Herrschaft ökonomischer,

629 zit.n. GS1,67 630 Karl Heinz Bohrer: Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne. Frankfurt

a.M. 1989. S. 23. 631 Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. A.a.O.: S. 9. 632 Jean-François Lyotard: Die Moderne redigieren. In: Wolfgang Welsch (Hg.): Wege aus der Moderne. Weinheim 1988. S.

193-203. Hier: S. 208. 633 vgl. Karl Heinz Bohrer: Die Kritik der Romantik. A.a.O. - Bohrer liest in seiner Studie die Geschichte der Romantikkritik

von Hegel über Carl Schmitt und Georg Lukács bis hin zur literatursoziologisch orientierten Germanistik nach 1968 als Geschichte des paradoxen Versuchs einer Ausgrenzung spezifisch moderner Denkmotive aus dem Diskurs der Moder-ne. Das frühromantische Denkmotiv der ‘unendlichen Reflexion’ und das spätromantische Motiv des ‘Phantastischen’ wurden, so Bohrer, erst zu Beginn des 20. Jhs wiederentdeckt. Benjamin hat die frühromantische Reflexionsphilosophie wiederentdeckt und der Surrealismus (Apollinaires Anknüpfung an Brentano!) das spätromantische Motiv des ‘Phantas-tischen’. Mit Benjamin und den Surrealisten versucht Bohrer „die beiden zentralen Figuren des romantischen Bewußt-seins, die Reflexivität [...] und das Phantastische“ (S. 11) als rationale und spezifisch moderne Denkformen zu reaktuali-sieren und einem „komplexen Begriff der Moderne“ (S. 8) vorzuarbeiten, der über denjenigen Max Webers hinausgeht, ohne freilich dessen Grundlage, den Rationalitätsbegriff, zu verabschieden.

634 Silvio Vietta: Frühromantik und Aufklärung. In: Ders. (Hg.): Die literarische Frühromantik. Göttingen 1983. S. 7-84. Hier: S. 13.

173

zweckutilitaristischer, mechanistischer Denkformen, an der heraufkommenden Technologie und Ökonomie in der frühbürgerlichen Gesellschaft, die Adornos Begriff der ‘Dialektik der Aufklärung’ meint“635.

Mit ihrer Vernunft- und Aufklärungskritik, mit ihrer Einsicht in eine „Dialektik der Aufklärung“,

schreiben sich die romantischen Texte in die Traditionen der Vernunft und der Aufklärung selbst ein.

„Selbstreflexion der Aufklärung“, heißt es bei Adorno, „ist nicht deren Widerruf“636+637. Auch Hauke

Brunkhorst versucht die Romantik gegen Irrationalismusvorwürfe zu verteidigen und möchte „auf der

Linie der Modernismusthese und über sie hinaus, sogar ein gesellschaftlich bedeutsames Rationalisie-

rungspotential des romantischen Impulses behaupten“638. Im Gegensatz zu den Aufklärern, die das

Fremde „ent-fremden“, erhellen, klassifizieren und entzaubern wollten, streben die Romantikern ein

Verstehen des Fremden in seiner konstitutiven Fremdheit an. Die Antwort auf die Frage nach einem nicht-

identifizierenden Verstehen des Fremden finden sie in der Hermeneutik. Ein autonomes Kunstwerk

wie Goethes „Wilhelm Meister“ nach

„einem aus Gewohnheit und Glauben, aus zufälligen Erfahrungen und willkürlichen Forderungen zusammengesetzten und entstandenen Gattungsbegriff beurteilen: das ist [für Friedrich Schlegel], als wenn ein Kind Mond und Gestirne mit der Hand greifen und in sein Schächtelchen packen will“ (KA2,133).

Der aufklärerischen Klassifikation und Subsumtion von Kunstwerken unter „Gattungsbegriffe“ setzt

Friedrich Schlegel ein Verfahren von Kritik entgegen, das „jedes Gebildete in seiner Sphäre [beläßt],

und [...] es nur nach seinem eigenen Ideale [beurteilt]“ (KA2,295). Dieser Maxime folgt Benjamin: „Die

Kritik weist ihr Recht an das Kunstwerk heranzutreten erst darin aus, daß sie den ihm eigenen Boden

respektiert, ihn zu betreten sich hütet.“ (GS2,237)

635 a.a.O.: S. 21. 636 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. A.a.O.: S. 160. 637 Zum Einfluß der Romantiker auf das Denken Adornos vgl. Jochen Hörisch: Herrscherwort, Geld und geltende Sätze.

Adornos Aktualisierung der Frühromantik und ihre Affinität zur poststrukturalistischen Kritik des Subjekts. In: Burk-hardt Lindner und W. Martin Lüdke (Hg.): Materialien zur ästhetischen Theorie. Theodor W. Adornos Konstruktion der Moderne. Frankfurt a.M. 1980. S. 397-414 sowie Klaus Peter: Friedrich Schlegel und Adorno. Die Dialektik der Aufklä-rung in der Romantik und heute. In: Ernst Behler und Jochen Hörisch (Hg.): Die Aktualität der Frühromantik, Pa-derborn 1987. S. 219-235.

638 Hauke Brunkhorst: Romantik und Kulturkritik. Zerstörung der dialektischen Vernunft? In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Hg. v. Karl Heinz Bohrer. Jahrgang 1985. Heft 435. S. 485.

174

4.1.2. Walter Benjamin als Literaturkritiker

Bernd Wittes Buch „Walter Benjamin - der Intellektuelle als Kritiker“ geht von der richtigen Feststel-

lung aus,

„daß im Gesamtwerk Benjamins die direkten theoretischen Äußerungen die Ausnahme darstellen. In der Regel sind seine Werke der äußeren Form nach Interpretationen anderer Autoren. ‘Als er noch jung war’, erinnert sich Theodor W. Adorno in der Einleitung zu Benjamins Schriften (6), ‘in den frühen zwanziger Jahren, hat er einmal als seine Maxime formuliert, niemals freiweg, oder wie er es nannte amateurhaft, drauflos denken zu wollen, sondern stets und ausschließlich im Verhältnis zu bereits vorliegenden Texten.’ Dieser Bezug auf den fremden Text ist nicht nur, wie Adorno meint, für die Stoffschicht der Benjaminschen Werke kennzeichnend, sondern mehr noch für ihren Gehalt und ihre Methode. Benjamin hat sich seit seinen Studienjahren, in denen ihm die Unmöglichkeit eines geschlossenen philosophischen Systems in der Moderne zum Bewußtsein gekommen war, stets als Kritiker verstanden“639.

Die Texte Benjamins lassen sich größtenteils dem Genre „Kritik“ zuordnen. Für Benjamins philoso-

phisches Verfahren gilt, was er vom literarischen Verfahren Prousts sagt. Dieses bestehe in

„Mimikry. Seine genauesten, evidentesten Erkenntnisse sitzen auf ihren Gegenständen wie auf Blättern, Blüten und Ästen Insekten, die nichts von ihrem Dasein verraten, bis ein Sprung, ein Flügelschlag, ein Satz dem erschreckten Betrachter zeigen, daß hier ein unberechenbares eigenes Leben unscheinbar sich in eine fremde Welt geschlichen hatte.“ (GS2,318)

Benjamins Sätze sind schwer zu zitieren, weil sie sich immer schon auf andere Sätze beziehen, die ihnen

ihren Sinn geben und gleichzeitig vorenthalten. Das Zitat als Instrument einer „Insight“ führt im Falle

Benjamins gleichzeitig zur „Blindness“, um de Mans Terminologie zu „zitieren“.

Bereits vor seiner Auseinandersetzung mit der frühromantischen Theorie der Kunstkritik finden sich in

Benjamins Schriften Belege für den Versuch, einen eigenen Begriff und eine eigene Praxis von Kritik zu

entwickeln. In seinem 1915 erschienenen Aufsatz „Das Leben der Studenten“ bestimmt er „Kritik“ als

Vermögen, „das Künftige aus seiner verbildeten Form im Gegenwärtigen erkennend zu befreien“

(GS2,75). Diese Definition enthält die beiden wichtigsten Eigenschaften, die dem Begriff „Kritik“ in

allen weiteren Schaffensperioden Benjamins zukommen: die Intention der Kritik auf „Erkenntnis“ und

die „Befreiung“ oder „Rettung“ eines verborgenen utopischen Gehalts aus seiner profanen Hülle.

Benjamins Kritik erhebt einen doppelten Geltungsanspruch: ein Anspruch auf theoretische Wahrheit

(„erkennend...“) und auf moralische Richtigkeit („...zu befreien“). „Kritiker“ in diesem zweifachen

Selbstverständnis ist Benjamin von den Zeiten seiner durch die Jugendbewegung Gustav Wynekens

geprägten Frühschriften bis zu den Thesen „Über den Begriff der Geschichte“, die am Ende seines

Lebenswegs stehen, geblieben. Seine Konzeption von Kritik unterzieht sich auf diesem Weg einem

Prozeß permanenter Selbstreflexion. Benjamin bemüht sich Zeit seines Lebens um eine im Kantischen

Sinne „kritische“ Kritik, um eine über die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit aufgeklärte Kritik.

Einen ersten und entscheidenden Schritt auf dem Weg zu einer fundierten, sich ihrer eigenen 639 Bernd Witte: Walter Benjamin - Der Intellektuelle als Kritiker. Untersuchungen zu seinem Frühwerk. Stuttgart 1976. S.

XIII/IX.

175

Grundlagen gewissen Kritik stellt Benjamins Dissertation über den „Begriff der Kunstkritik in der

deutschen Romantik“ (1917) dar. Weitere explizite Ausführungen zur Theorie der Kritik entstehen um

1929 in den Studien und Fragmenten zu einem projektierten, aber nie fertiggestellten Essay unter den

Arbeitstiteln „Programm der literarischen Kritik“ und „Die Aufgabe des Kritikers“, die im Band 6 der

„Gesammelten Schriften“ abgedruckt sind. Auch in der kritischen Praxis Benjamins wird immer wieder

der Versuch unternommen, auf die Theorie der Kritik zu reflektieren. Gleich zu Beginn des Aufsatzes

über „Goethes Wahlverwandtschaften“ (1923) definiert Benjamin seinen Text als „Kritik“ und

bestimmt deren Wesen in Abgrenzung zum Kommentar: „Die Kritik sucht den Wahrheitsgehalt eines

Kunstwerks, der Kommentar seinen Sachgehalt“ (GS1,125). Der den Verblendungszusammenhang des

Mythos durchbrechende „Wahrheitsgehalt“ der Goetheschen „Wahlverwandtschaften“ liegt für den

Kritiker nicht offen zu Tage, sondern erfordert zunächst eine völlige Versenkung in den „Sachgehalt“

des Romans: „Der Wahrheitsgehalt eines Werkes, je bedeutender es ist, [ist] desto unscheinbarer und

inniger an seinen Sachgehalt gebunden“ (GS1,125). Aufgabe des Kritikers ist es auch hier, etwas

‘Wahres’ aus seiner „verbildeten Form“ im ‘Sachlichen’ „erkennend zu befreien“. Sogar sein großes

Buch über den „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ (1925) begreift Benjamin als „Kritik“. Im

Abschnitt über „die Ruine“ schreibt er: „Kritik ist Mortifikation der Werke. Dem kommt das Wesen

dieser mehr als jeder anderen Produktion entgegen“ (GS1,357). Und weiter formuliert er im gleichen

Kapitel unter Wiederaufnahme der Terminologie der „Wahlverwandtschaften“-Arbeit: „Es ist der

Gegenstand der philosophischen Kritik, zu erweisen, daß die Funktion der Kunstform eben dies ist:

historische Sachgehalte, wie sie jedem bedeutenden Werk zugrunde liegen, zu philosophischen

Wahrheitsgehalten zu machen“ (GS1,358). Die „Mortifikation“, die die Kritik leiste, töte den

Sachgehalt des Werkes ab, um seinen Wahrheitsgehalt aufscheinen zu lassen. Diese Abtötung oder

Mortifikation tue den Werken keine Gewalt an, sondern folge deren eigener Logik, der „Funktion der

Kunstform“. Der Kritiker rekonstruiere und potenziere die Selbstdestruktion oder -mortifikation des

Werks, seine, wie es heute heißt, „Auto-Hetero-Dekonstruktion“640, aus welcher der „Wahrheitsgehalt“

entspringt. Den zweideutigen Begriff des „Wahrheitsgehaltes“, der Kunstwerke in klassizistischer

Manier auf die Versinnbildlichung einer ihrer Ästhetizität heterogenen, invarianten „Wahrheit“

festzulegen scheint, ersetzt Benjamin später durch den glücklicheren Begriff des „Bedeutungsgehaltes“.

1933 schreibt er,

„daß der Bedeutungsgehalt der Werke, je entscheidender sie sind, um desto unscheinbarer und inniger, an ihren Sachgehalt gebunden ist. [...] Denn, wenn sich als die bedeutungsvollsten gerade jene Werke erweisen, deren Leben am verborgensten in ihre Sachgehalte eingegangen ist, [...] so stehen im Verlaufe ihrer Dauer in der Geschichte diese Sachgehalte einem Forscher um so viel deutlicher vor Augen, je mehr sie aus der Welt verschwunden sind.“ (GS3,367)

Daß sich nicht nur der Literaturwissenschaftler, sondern auch der Historiker Benjamin primär als Kriti-

ker versteht, zeigen die nachgelassenen Fragmente des „Passagen-Werks“. Mit diesem wollte Benjamin

640 Jacques Derrida: Gesetzeskraft. A.a.O.: S. 68.

176

„die ‘Kritik’ des 19ten Jahrhunderts“ (GS5,493) schreiben. „[D]as kommende Erwachen“ der das Kon-

tinuum der Geschichte sprengenden Revolution steht für ihn „wie das Holzpferd der Griechen im Tro-

ja des Traumes“ (GS5,495), den das 19. Jh. träumte, und muß ‘erkennend befreit’ werden. Das kritische

Verfahren hat beim späten Benjamin sowohl marxistische („Ideologiekritik“) als auch psychoanalyti-

sche („Traumdeutung“) Konnotationen.

Diese Liste ließe sich fortsetzen, soll hier aber nur kurz den Stellenwert andeuten, der dem Begriff

„Kritik“ im Gesamtwerk Benjamins zukommt und kann eine in 4.2. noch zu leistende inhaltliche

Interpretation des kritischen Verfahrens Benjamins nicht ersetzen. Die Grundstruktur der Kritik als

„erkennend“ und „befreiend“ darf nicht über die ständigen Verschiebungen und Transformationen des

Kritik-Begriffs in Benjamins Werk hinwegtäuschen, die es schwierig machen, überhaupt von einem

Kritik-Konzept Benjamins zu sprechen. Die Disparatheit des Benjaminschen Werks im Ganzen

spiegelt sich auch in den ständig neu einsetzenden Bemühungen, den Begriff „Kritik“ zu fassen. Eine

Vorabdefinition dessen, was „Kritik“ etwa bei Benjamin insgesamt oder auch nur innerhalb seiner

Dissertation meint, ist nicht möglich. In dieser Schwierigkeit drückt sich eine qualitative Eigenheit aus,

die dem Begriff „Kritik“ zusammen mit dem zweiten zentralen Begriff, um den sich Benjamins

Dissertation gruppiert, dem Begriff „Reflexion“, zukommt. Beide sind durch eine „konstitutive

Nachträglichkeit“641 bestimmt, beide lassen sich nicht vorab oder „an sich“ fixieren. Eine erste

qualitative Verschiebung, die auch im Hinblick auf die Dissertation von Belang ist, erfährt der frühe

Benjaminsche „Kritik“-Begriff im Entstehungskontext des Aufsatzes „Über Sprache überhaupt und

über die Sprache des Menschen“. Die Herausgeber datieren diesen Text auf das Ende des Jahres 1916.

In einem Brief an seinen Jugendfreund Herbert Belmore bestimmt Benjamin zu genau dieser Zeit die

Sprache als den eigentlichen Ort der Kritik.

„Die Sprache beruht allein im Positiven, ganz in der Sache die die innigste Einheit mit dem Leben anstrebt; [die] den Schein der Kritik, des krion, des Unterscheidens von Gut und Schlecht nicht aufrecht hält; sondern alles Kritische nach innen, [...] in das Herz der Sprache verlegt. Die wahre Kritik geht nicht wider ihren Gegenstand: sie ist wie ein chemischer Stoff der einen anderen nur in dem Sinne angreift, daß er ihn zerlegend dessen innere Natur enthüllt, nicht ihn zerstört“ (BBr.131/132).

„Kritik“ als Instrument des „Unterscheidens von Gut und Schlecht“ gilt in diesem Zitat pejorativ als

„Schein der Kritik“ und wird mit der Idee einer „wahren Kritik“ konfrontiert, die in der Sprache selbst

tätig sei. Diese „wahre“ Kritik zerstöre ihren Gegenstand nicht, sondern „enthülle“ seine „innere Na-

tur“. Noch einmal potenziert taucht dieses Konzept „nicht zerstörender“ Kritik im „Wahlverwandt-

schaften“-Aufsatz wieder auf, in dem die einfache Enthüllung des Gegenstandes, die „Entbergung“

seines Wahrheitsgehaltes, seiner Zerstörung gleichkäme. „Die Kunstkritik hat nicht die Hülle zu heben,

vielmehr durch deren genaueste Erkenntnis als Hülle erst zur wahren Anschauung des Schönen sich zu

erheben“ (GS1,195). Der Kritiker vermag die „Hülle“ des Werkes, seinen „Sachgehalt“, nur ex negativo

641 Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff abso-

luter Selbstreflexion. Frankfurt a.M. 1987. S. 86.

177

zu durchdringen, indem er sie als Hülle reflektiert und anerkennt, ein Verfahren, das an die Novalissche

Lehre vom „ordo inversus“642 erinnert.

Analog zur „bürgerlichen Auffassung der Sprache“ (GS2,144), die Benjamin in seinem Sprachaufsatz

kritisiert und die darin bestehe, daß ein Sprecher A einem Sprecher B vermittels eines Wortes X einen

Sachverhalt Y mitteile643, scheint er auch eine „bürgerliche Auffassung von Kritik“ abzulehnen, in der

sich ein Subjekt der Kritik als eines Instruments bemächtige, um „Gut“ von „Schlecht“ zu

unterscheiden. Der „wahren“ Auffassung von Sprache, die darin liege, daß „jede Sprache [...] sich in

sich selbst mitteilt“ (GS2,142) entspreche eine „wahre“ Auffassung von Kritik, in welcher diese

Organon einer sprachimmanenten Erkenntnis sei, die ihren Gegenstand gerade durch die Anerkennung

seiner Verhülltheit enthülle, die seinen Wahrheitsgehalt durch radikalste Versenkung in seinen

Sachgehalt entberge. Benjamins Konzeption „nichtbürgerlicher Kritik“ und „Sprache“ erweisen sich als

Bausteine einer umfassenderen Theorie nichtinstrumenteller Erkenntnis, wie er sie am detailliertesten in

der „Erkenntniskritischen Vorrede“ (GS1,207ff.) seines Trauerspiel-Buches entfaltet hat.

642 vgl. N2,128. 643 vgl. z.B. Karl Bühlers Organon-Modell der Sprache: Karl Bühler: Sprachtheorie. Jena 1934. S. 28. Zu Benjamins Ausein-

andersetzung mit Bühler vgl. seinen Aufsatz „Probleme der Sprachsoziologie“ (GS3,452ff.).

178

4.1.3. Die Entstehungskontexte der Benjaminschen Dissertation über den „Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“.

Theoretische Nahrung und Anstöße für die Transformation und Erweiterung seiner Kritik-Konzeption

findet Benjamin in der Lektüre frühromantischer Texte. Im Juni 1917 schreibt er an Gershom Scholem:

„Ich gerate erfreulicherweise zum ersten Male tief in das Studium der Romantik hinein. - Kant, der in

gewisser Weise höchst dringlich wäre, muß ich immer noch liegen lassen und auf eine bessere Zeit war-

ten“ (BBr.,137). Dringlicher wäre eine Lektüre Kants zu diesem Zeitpunkt vor allem deshalb, weil Ben-

jamin zunächst über Kant zu promovieren gedenkt. Diesen Entschluß teilt er Scholem erstmals im Ok-

tober 1917 mit (BBr.,151). Ungefähr zeitgleich mit diesem Entschluß beginnt eine Art frühromanti-

scher Gegenlektüre zu Kant. Als „Zentrum der Frühromantik“ bezeichnet er „Religion und Geschichte

[...]. In einem Sinne, dessen Tiefe man erst darzulegen hätte, sucht die Romantik das an der Religion zu

leisten, was Kant an den theoretischen Gegenständen tat: ihre Form aufzeigen“ (BBr.,138). Religion

und Geschichte sind für Benjamin die Erfahrungsräume, an denen die Kantische Philosophie scheitert.

Im 1917 entworfenen „Programm der kommenden Philosophie“ spricht er von der „religiösen und

historischen Blindheit der Aufklärung“ (GS2,159), die für die mangelnde Dignität des Kantischen Er-

fahrungs-Begriffs verantwortlich zu machen sei. Der „einseitig mathematisch-mechanisch orientierte

Erkenntnisbegriff“ (GS2,168) Kants führte historisch zu einer Ausschließung aller lebensweltlich rele-

vanten, „historischen“ und „religiösen“ Erfahrungen aus dem Diskurs der Philosophie. „Die große

Umbildung und Korrektur“ der Kantischen Philosophie kann für Benjamin „nur durch eine Beziehung

der Erkenntnis auf die Sprache, wie sie schon zu Kants Lebzeiten Hamman versucht hat, gewonnen

werden“ (GS2,168). Das unterstellte Scheitern der Kantischen Philosophie vor religiöser und geschicht-

licher Erfahrung führt in einem übertragenen Sinne zum Scheitern von Benjamins Plan einer Disserta-

tion über „Kant und die Geschichte“ oder „Die unendliche Aufgabe bei Kant“. „Was Kants Ge-

schichtsphilosophie angeht“, heißt es im Dezember 1917,

„so bin ich durch die Lektüre der beiden speziellen Hauptschriften (Ideen zu einer Geschichte..., Zum ewigen Frieden) auf die Enttäuschung meiner hochgespannten Erwartung geraten. [...] Es handelt sich bei Kant weniger um die Geschichte, als um gewisse geschichtliche Konstellationen von ethischem Interesse“ (BBr.,161).

Kant interpretiert „Geschichte“ nicht hermeneutisch als sinnhaft strukturierten Zusammenhang, son-

dern subsumiert sie unter heteronome, moralisch-teleologische Kategorien. Im System der drei Ver-

nunftkritiken Kants findet die Geschichte ihren Ort am Ende der „Kritik der Urteilskraft“, in der „Me-

thodenlehre der teleologischen Urteilskraft“ (§82-§84), wo sie ausschließlich unter dem normativen As-

pekt einer Verwirklichung des „Weltbürgerlichen Ganzen“ (KdU,B,393), welches gleichzeitig „letzter

Zweck der Natur als eines teleologischen Systems“ (KdU,B,388) ist, beurteilt wird. Unter der heuristi-

179

schen Leitkategorie „Teleologie“ wird hier der spezifische Unterschied von Naturerkenntnis und Ge-

schichtserkenntnis, der sowohl für Spengler, als auch für Benjamin entscheidend ist, eingeebnet.

Von diesen „Defiziten“ im Denken Kants ausgehend, stößt Benjamin auf die Frühromantiker, die für

ihn die „Lücken“ in Kants System auszufüllen vermögen. Benjamins eigene Denkbewegung folgt von

nun an der Bewegung der Philosophie, die in den letzten Jahren des 18. Jhs kritisch an Kant anknüpft.

Am 30.3.1918 schreibt er Scholem: „Ich erwarte den Vorschlag eines Themas von meinem Professor

[= Richard Herbertz]; indessen bin ich selbst auf eines verfallen. [...] Die Aufgabe wäre, Kants Ästhetik

als wesentliche Voraussetzung der romantischen Kunstkritik [...] zu erweisen“ (BBr.,180). Bei der

nächsten Erwähnung des Dissertations-Projekts, in einem Brief an Ernst Schoen vom Mai 1918,

verschwindet Kant ganz: „Ich habe mir von meinem Ordinarius [...] das Thema meiner Dissertation

genehmigen lassen. Etwa: die philosophischen Grundlagen der romantischen Kunstkritik“ (BBr.,165).

Dabei mag es zunächst verwunderlich erscheinen, daß „Religion“, eine der Kategorien, die Benjamins

Interesse an der Frühromantik wesentlich mitbegründet hat, im Plan der Dissertation nicht mehr

erscheint. Im Verlaufe der Untersuchung soll gezeigt werden, daß Benjamin während seiner

Beschäftigung mit den frühromantischen Texten auf Tendenzen derselben gestoßen sein könnte, die

ihn dazu bewogen haben, den Stellenwert der „Religion“ für das frühromantische Denken neu zu

gewichten.

In der Phase des Übergangs vom Kant-Projekt zur Romantik-Dissertation, Ende Dezember 1917,

schreibt Benjamin an Schoen: „Mir erschließen sich gegenwärtig Zusammenhänge von der weitesten

Tragweite, und ich darf sagen, daß ich jetzt zum ersten Mal zur Einheit dessen, was ich denke,

vordringe“ (BBr.,165). Seine Dissertation scheint mehr zu sein, als eine akademische Pflichtübung. Er

bezeichnet es sogar als „eine heilsame und mögliche Fixierung meines Geistes“, die „Dissertation [...]

gerade in diesen Zeitläuften abfassen zu müssen“ (BBr.,204). Dies am 9.11.1918, dem Tag, an dem Karl

Liebknecht in Berlin die Räterepublik ausruft, und zwei Tage nach der Waffenruhe an der Westfront.

Hinweise auf diese Zeitläufte finden sich in den Briefen und Schriften Benjamins aus dieser Epoche

nur sehr vereinzelt. Diese Abwesenheit der Realgeschichte dürfte kaum auf mangelnde Betroffenheit

des in der Schweiz angeblich gesichert lebenden Intellektuellen (Bernd Witte644) oder auf mangelnde

Einsicht in das Ausmaß der weltgeschichtlichen Katastrophe zurückzuführen sein. Gerade dieses

Ausmaß wird ihn zum Schweigen genötigt, ihm die Notwendigkeit vor Augen geführt haben, „seinen

Geist zu fixieren“, vor dem geschichtlichen Hintergrund ein intellektuelles Selbstverständnis zu

artikulieren.

Dieses Selbstverständnis ist das des künftigen Kritikers, welches er sich im wiederum kritischen

Durchgang durch die frühromantische Theorie der Kunstkritik zu sichern hofft. In Anknüpfung an

diese versucht Benjamin gegen die von ihm gegeißelte depravierte Praxis zeitgenössischer Kritik

(GS1,708) ein „starkes“ Konzept von Kritik zu restituieren. „[...] die Kritik des 19. und 20. 644 Bernd Witte: Walter Benjamin. Reinbek bei Hamburg 1985. S. 35.

180

Jahrhunderts [ist] durchaus wieder von seinem [= Friedrich Schlegels] Standpunkt herabgesunken“

(GS1,71). Auch in der „Selbstanzeige der Dissertation“ (1920) heißt es in bezug auf die

frühromantische Theorie der Kunstkritik, daß sie sich „von der heutigen depravierten und

richtungslosen Praxis der Kunstkritik nicht nur durch ein hohes Niveau, sondern zugleich durch

methodische Besinnung unterscheidet“ (GS1,708). An dieses hohe Niveau und an diese methodische

Fundiertheit anzuschließen, bleibt Benjamins lebenslanges Ziel. Besonders deutlich spricht er seinen

Wunsch in einem Brief an Scholem vom 20.1.1930 aus:

„Das Ziel, das ich mir gesteckt hatte, ist noch nicht ganz erreicht, aber, immerhin, ich bin ziemlich nahe daran. Es ist, daß ich als der erste Kritiker der deutschen Literatur angesehen werde. Die Schwierigkeit dabei ist, daß seit mehr als fünfzig Jahren die literarische Kritik in Deutschland nicht mehr als ernsthafte Gattung betrachtet wird. Sich innerhalb der Kritik eine Position zu erarbeiten, heißt also im Grunde: sie als Gattung von neuem schaffen“ (BBr.,505)645.

Ein weiterer Grund, der Benjamin dazu bewogen haben dürfte, sich um ein „starkes“ Konzept von

Kritik zu bemühen, liegt im von ihm konstatierten Ende der „philosophischen Ästhetik“, durch das ein

anderer Zugang zur Kunst nötig geworden sei. „Die Kritik hat keine Notiz davon genommen, daß die

Zeiten der Ästhetik in jedem Sinne [...] vorüber sind“ (GS6,164). Mit den Waffen der Kritik konkreter

Werke kämpft Benjamin gegen „die Hydra der Schulästhetik mit ihren sieben Köpfen: Schöpfertum,

Einfühlung, Zeitentbundenheit, Nachschöpfung, Miterleben, Illusion und Kunstgenuß“.(GS3,286)

Schon in der Frühromantik bahnt sich eine Wendung der Perspektive von der Kunst auf das konkrete

Werk an, die das Ende der traditionellen philosophischen Ästhetik einläutet. Im Brief vom 30.3.1918 an

Scholem bemerkt Benjamin:

„Seit der Romantik erst gelangt die Anschauung zur Herrschaft, daß ein Kunstwerk an und für sich, ohne seine Beziehung auf Theorie oder Moral, in der Betrachtung erfaßt und ihm durch den Betrachtenden Genüge geschehen könne. Die relative Autonomie des Kunstwerkes gegenüber der Kunst oder vielmehr seine lediglich transzendentale Abhängigkeit von der Kunst ist die Bedingung der romantischen Kunstkritik geworden“ (BBr.,180).

Der romantischen „Autonomie des Kunstwerkes gegenüber der Kunst“ trägt Benjamin in seinem Werk

durch das Fehlen einer dezidierten „Kunstphilosophie“ Rechnung. Ausführungen über das Wesen der

Kunst finden sich nur in den materialen Arbeiten, in den Kritiken einzelner Werke, z.B. im „Wahlver-

wandtschaften“-Aufsatz. Die dort getroffenen Bestimmungen des Schönen werden eng an das Ergeb-

nis der Interpretation des Romans angeschlossen und in einer Metaphorik formuliert, die dem Roman

selbst entlehnt ist. In einem Rückblick auf sein bisheriges Schaffen schreibt Benjamin 1928:

„Wie Benedetto Croce durch Zertrümmerung der Lehre von den Kunstformen den Weg zum einzelnen konkreten Kunstwerk freilegte, so sind meine bisherigen Versuche bemüht, den Weg zum Kunstwerk durch Zertrümmerung der Lehre vom Gebietscharakter der Kunst zu bahnen“ (GS6,218).

Auf Croce, den „Zertrümmerer“ des zweiten Teils der Hegelschen Ästhetik („Entwicklung des Ideals

zu den besonderen Formen des Kunstschönen“), folgt Benjamin als „Zertrümmerer“ des ersten Teils

645 im Original französisch. Die deutsche Übersetzung zit.n. Werner Fuld: Walter Benjamin. Eine Biographie. (V. Autor

überarb. u. erw. Neuausgabe v. ders.: Walter Benjamin. Zwischen den Stühlen). Reinbek bei Hamburg 1990. S. 201/202.

181

der Hegelschen Ästhetik („Die Idee des Kunstschönen oder das Ideal“). Croce kritisiert das „Vorurteil

von der Möglichkeit, mehrere oder viele besondere Kunstformen zu unterscheiden, von denen jede in

ihrem besonderen Begriff und in ihren Grenzen bestimmbar und mit eigenen Gesetzen versehen ist.“646

Er übt Kritik an der Theorie künstlerischer Gattungen, unter die einzelne Werke als Exemplare zu sub-

sumieren seien:

„Jedes wahre Kunstwerk hat eine festgelegte Gattung verletzt und auf diese Weise die Ideen der Kritiker verwirrt, die dadurch gezwungen wurden, die Gattung zu erweitern, ohne daß sie damit im übrigen es verhindern konnten, daß auch die so erweiterte Gattung sich nicht als zu eng erwiese, wenn neue Kunstwerke entstehen, denen natürlich neue Skandale, neue Verwirrungen und - neue Erweiterungen der Gattung folgten.“647

Zwischen Kunstwerken bestehen für Croce nur „Familienähnlichkeiten“ in einem fast schon Witt-

gensteinschen Sinne,

„Ähnlichkeiten, auf die man nicht die Identifizierung, Unterordnung, Beiordnung oder alle die anderen Beziehungen und Begriffe anwenden kann, Ähnlichkeiten, die nur in dem bestehen, was man »Familien-Atmosphäre« nennt; Ähnlichkeiten, die von historischen Bedingungen abhängen, unter denen die Verschiedenen Werke entstehen oder von Verwandtschaften in den Seelen der Künstler. Und in derartigen Ähnlichkeiten besteht die relative Möglichkeit der Übersetzungen.“648

Die einzige „Gattung“ oder „Klasse“, der einzelne Werke subordiniert werden können, sei „die Kunst

selbst oder die Intuition, während die einzelnen Kunstwerke im übrigen zahllos sind: alle original, kei-

nes ins andere übersetzbar.“649 An dieser Stelle geht Benjamin über Croce hinaus, indem er auch „den

Gebietscharakter der Kunst“ (GS6,218) in Frage stellt. Mit dieser Infragestellung huldigt Benjamin kei-

nem unreflektierten Panästhetizismus. Es kommt ihm vielmehr darauf an, den Zugang zu Kunstwerken

in ihrer irreduziblen Singularität nicht vorab durch einen in abstrakter Spekulation konzipierten Kunst-

begriff zu verstellen. An jedem Werk muß sich für Benjamin immer wieder neu zeigen, was Kunst ist.

Jenseits des Kompositums „Kunstwerk“ wird der Begriff der Kunst problematisch. „Mit den Gestalten

und Problemen“ ringen Literaturwissenschaftler wie Oskar Walzel und Walter Muschg, „das mag rich-

tig sein. Wahr ist, daß [sie] vor allem mit den Werken ringen sollte[n].“ (GS3,290) Benjamin kann sich

zur Stützung seines Standpunkts auf die Frühromantik affirmativ berufen. Er weist darauf hin, daß die

Romantiker

„einen Grundbegriff sicherten, der theoretisch vordem mit Bestimmtheit nicht eingeführt werden konnte: den des Werkes. Denn nicht nur die Freiheit von heteronomen ästhetischen Doktrinen errang Schlegels Kritikbegriff - vielmehr ermöglichte er diese erst dadurch, daß er ein anderes Kriterium des Kunstwerks aufstellte, als die Regel, das Kriterium eines bestimmten immanenten Aufbaues des Werkes selbst.“ (GS1,71)

Friedrich Schlegel schreibt in seinem 123. „Lyceums“-Fragment: „Es ist eine unbesonnene und unbe-

scheidene Anmaßung, aus der Philosophie etwas über die Kunst lernen zu wollen“ (KA2,163). Nicht

646 Benedetto Croce: Grundriß der Ästhetik. Vier Vorlesungen. Autorisierte deutsche Ausgabe von Theodor Poppe. Leipzig

1913. S. 43. 647 Benedetto Croce: Ästhetik als Wissenschaft vom Ausdruck und allgemeine Sprachwissenschaft. Theorie und Geschichte.

Nach der 6. erw. italienischen Aufl. übertr. v. Hans Feist u. Richard Peters. Tübingen 1930. S. 40. 648 A.a.O.: S. 78 649 Benedetto Croce: Grundriß der Ästhetik. A.a.O.: S. 46.

182

aus philosophischer Spekulation, sondern aus interpretatorischer Erschließung einzelner Werke erfahre

der Interpret etwas über Kunst.

Soviel zu einigen offenen und verdeckten Motiven, welche in die Romantik-Dissertation münden.

Deren Niederschrift erfolgt vom November 1918 bis zum Juni 1919. Der Fundus der Vorarbeiten gilt

als „im ganzen verschollen“ (GS7,731). Benjamins Arbeitsweise läßt sich aber anhand einer Briefstelle

rekonstruieren:

„Ich richte mich zunächst auf die Frühromantik, Friedrich Schlegel vor allem, dann Novalis, August Wilhelm auch Tieck und später, wenn möglich, Schleiermacher. Von einer Zusammenstellung Friedrich Schlegelscher Fragmente nach ihren systematischen Grundgedanken gehe ich aus: es ist eine Arbeit, an die ich schon lange dachte. [...] Dazu fertige ich eine Harmonie aus entsprechenden Fragmenten des Novalis an, die viel spärlicher ausfällt, als man nach deren großer Anzahl [...] vermuten sollte“ (BBr.,137/138).

Benjamin beginnt, Fragmente zu selektieren, in Konstellation zueinander zu setzen, sie nach systemati-

schen Gesichtspunkten zu klassifizieren und um diese Fragmentensammlung herum seinen eigenen

Text zu konstruieren. Auf ähnliche Weise entsteht später auch das Trauerspiel-Buch. Fuld bemerkt:

„Sein Trauerspiel-Buch war noch nicht begonnen, er besaß dafür noch keinen theoretischen Rahmen [...] und er schreibt [...] an Scholem, daß er »diese Sache...etwas von oben herab und presto« absolvieren will, charakterisiert sie auch selbst mit dem Wort »einer tollkühnen Eskapade« – und doch verkündet er mit einigem Stolz, welches Material er zur Vorbereitung der Niederschrift gesammelt habe: »ich verfüge allein über ca. 600 Zitate«“650.

Einen Einblick in Benjamins Arbeitsweise gewähren am eindringlichsten die umfangreichen Vorstudien

zum „Passagen-Werk“, das aufgrund des frühen Todes von Benjamin nie vollendet wurde.

650 Werner Fuld: Walter Benjamin. A.a.O.: S. 144.

183

4.1.4. Die Strategie der Benjaminschen Dissertation

Benjamins Dissertation behandelt nicht die Geschichte der Kunstkritik, sondern auf die Geschichte

ihres „Begriffs“. Diese Aufgabe bezeichnet er als eine „philosophische“, genauer „problemgeschichtli-

che“ und noch genauer „philosophieproblemgeschichtliche“ (GS1,11). Der Frühromantik kommt in-

nerhalb dieser Untersuchung eine besonders exponierte Stellung zu, „denn die Begründung der Kritik

der Kunstwerke [...] ist eine ihrer bleibenden Leistungen gewesen“ (GS1,13). Da es Benjamin gerade

auf eine Begründung der Kunstkritik ankommt, schränkt er seine Fragestellung auf den frühromantischen

Begriff der Kunstkritik ein. Die diesem korrespondierende Praxis gilt ihm als weniger relevant:

„Die Kunsturteile der Romantiker als literargeschichtliche Fakten interessieren in diesem Zusammenhang nicht. [...] Friedrich Schlegel selbst hat seinem Ideal der Kritik nur in jener Rezension des ‘Wilhelm Meister’ völlig entsprochen, die ebensosehr Theorie der Kritik wie Kritik des Goetheschen Romans ist“ (GS1,14).

Für die „Theorie der Kritik“ steht Benjamin deren „Begriff“ als Synonym ein. Der Begriff der romanti-

schen Kunstkritik „besteht, wie letzten Endes jeder Begriff, der mit Grund so bezeichnet wird, auf er-

kenntnistheoretischen Voraussetzungen“ (GS1,11). Kritik selbst enthält für Benjamin „ein erkennendes

Moment“ (GS1,12). Auf die Fundierung dieses Momentes kommt es ihm in seiner Dissertation an. Mit

dieser verfolgt er zwei strategische Ziele: zum einen richtet sie sich gegen die „depravierte Praxis“ zeit-

genössischer Kunstkritik, zum andern aber auch gegen das zeitgenössische Romantik-Bild. Winfried

Menninghaus bemerkt:

„Die strenge Betonung eines bewußten verstandesmäßigen Charakters des romantischen Denkens und Dichtens [...] hat bei Benjamin auch offenkundig polemische Funktion: seine Arbeit versucht, durch ihre inhaltlichen Akzente wie durch ihre rigide philosophische Form, so schroff wie möglich mit depravierten Vorstellungen des ‘Romantischen’ - im Sinne einer formlosen Poesie des Unbewußten oder der dunklen Nachtbereiche der Erfahrung - zu brechen“651.

Die hier angesprochenen „inhaltlichen Akzente“ liegen in der zentralen Stellung der „Reflexions“-

Kategorie, die mit dem frühidealistischen Begriff der „Intellektuellen Anschauung“ opponiert, im Beg-

riff der „Form“, in der von Menninghaus so genannten „polemischen Abwesenheit Schellings“652, im

Versuch, frühromantisches Denken auf ein ihm implizit zugrundeliegendes „System“ zu beziehen, so

wie in der Übertragung der Hölderlinschen Kategorie der „Nüchternheit“ (GS1,104f.) auf frühromanti-

sches Denken. Benjamins Beharren auf der Rationalität des romantischen Philosophierens wird vor

dem Hintergrund einer Äußerung seines Lehrers Hermann Cohen verständlich, der die Romantik in

seiner „Ästhetik des reinen Gefühls“ als „schwerste Gefahr der reinen Menschenvernunft“653 denun-

ziert.

Das Interesse an den erkenntnistheoretischen Grundlagen der frühromantischen Kunstkritik drängt das

Interesse an dieser selbst im Verlauf der Dissertation so weit in den Hintergrund, daß ihre anfängliche 651 Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung. A.a.O.: S. 52. 652 a.a.O.: S. 54. 653 Hermann Cohen: Ästhetik des reinen Gefühls. System der Philosophie, Dritter Teil. Erster Band. Berlin 1912. S. 30.

184

Zweiteilung in „1. Reflexion“ und „2. Kunstkritik“ nicht wirklich vom Text gedeckt wird.

„Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik - so lautet der Titel von Walter Benjamins Dissertation. Richtiger, angemessener wäre ein anderer Titel: Die Theorie poetischer Reflexion in der deutschen Romantik. Denn der Kern, der Brennpunkt der ganzen Arbeit ist der romantische Reflexionsbegriff, und der Begriff der Kritik figuriert nur als eine der systematischen Konsequenzen dieses Reflexionsbegriffs.“654

654 Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung. A.a.O.: S. 30.

185

4.1.5. System und Fragment: zur (Selbst-)Darstellung romantischer Philosophie

Benjamins Buch über den „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ hebt mit der These an: „Es ist dem

philosophischen Schrifttum eigen, mit jeder Wendung von neuem vor der Frage der Darstellung zu

stehen.“ (GS1,208) Die „Frage der Darstellung“ sei philosophischen Texten nicht äußerlich. Im Gegen-

teil, Philosophie, die auf die Reflexion des Darstellungsproblems verzichte, leiste einen „Verzicht auf

den Bereich der Wahrheit, den die Sprachen meinen“ (GS1,208). Philosophie, die sich ihres Sprachcha-

rakters bewußt werde, könne nicht mehr zwischen dargestellten Thesen und diesen gegenüber kontin-

genten Darstellungsweisen unterscheiden. Fellmann argumentiert in vergleichbarer Weise: „Insofern

gehört die Form, in der Philosophien in ihrer Zeit auftreten, durchaus mit zur objektiven Seite des phi-

losophischen Gedankens.“655

Benjamins Interesse an der Romantik richtet sich in gleichem Maße auf die Philosopheme der

Romantiker wie auf deren Darstellungsform. Die darstellerischen Pole, zwischen denen die

frühromantischen Texte schweben, sind das „System“ und das „Fragment“. Das von Benjamin zitierte

53. „Athenäums“-Fragment Friedrich Schlegels drückt diese „Mittel“-Stellung frühromantischen

Schreibens schön aus: „Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er

wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden.“ (KA2,173) Benjamin behauptet, daß

Schlegel und Novalis zur „Athenäums“-Zeit kein System hatten, daß sich ihrem Denken dagegen schon

„ein methodisches Gradnetz“ (GS1,40) oder ein „richtig gewähltes Koordinatensystem“ (GS1,41)

unterlegen lasse, „daß ihr Denken sich auf systematische Gedankengänge beziehen läßt“ (GS1,41). In

dieser „systematischen Beziehbarkeit“ (GS1,41) liegt die Legitimation des Benjaminschen

Interpretationsverfahrens in der Dissertation. Er bezieht Denkfiguren und Textstellen auf

„Tendenzen“. Damit verweist er auf Zusammenhänge und Analogien, erhebt aber nicht den Anspruch,

im nachhinein ein frühromantisches „System“ zu rekonstruieren. Die disparate äußere Gestalt des

frühromantischen Textkorpus stellt für Benjamin kein Hindernis auf der Suche nach verborgenen

systematischen Tendenzen dar. Ein ausgeführtes System wäre ihm genausowenig Garant für

systematisches Denken, wie ein äußerlich unzusammenhängender Textkorpus noch nicht von der

Abwesenheit philosophischer Systematik zeugt. Als Beispiel für die Vereinbarkeit dieser beiden Seiten

führt Benjamin Nietzsche an, von dem er sagt: „Die Tatsache, daß ein Autor sich in Aphorismen

ausspricht, wird niemand letztlich als Beweis gegen seine systematische Intention gelten lassen“

(GS1,42). Mehr noch als die aphoristische läßt sich die von den Frühromantikern bevorzugte

fragmentarische Weise des Schreibens mit systematischem Denken vereinbaren. Der Aphorismus ist

ein geschlossenes Ganzes, das für sich gelesen werden kann. Fragmente dagegen sind Bruchstücke,

655 Ferdinand Fellmann: Stile gelebter Philosophie und ihre Geschichte. A.a.O.: S. 579.

186

Teile eines übergeordneten Zusammenhangs, auf den sie verweisen und sei es nur ein Zusammenhang

aus anderen Fragmenten. Das Fragment steht vermittelnd zwischen geschlossenen Denksystemen und

gänzlich inkohärentem Denken, zwischen Dogmatismus und Skeptizismus. Das Fragment, das einen

dritten Weg zwischen Dogmatismus und Skeptizismus geht, kann Benjamin als „kritisch“ im Sinne

Kants interpretieren. Benjamin zitiert aus Friedrich Schlegels Briefen an seinen Bruder: „jedes

Fragment sei kritisch“ und „kritisch und Fragment wäre tautologisch“ (GS1,51). Wie das Fragment

kritisch sei, sei auch die Kritik fragmentarisch. Benjamin spricht von der „notwendigen

Unvollständigkeit der Unfehlbarkeit“ der Kritik und davon, daß sie „das Abschließende nicht sein

kann“ (GS1,52). Fragmentarizität und Kritik bedingten sich wechselseitig. Kritik könne nie zu einer

positiven Metaphysik werden, kann nie „letzte Fragen“ beantworten.

Im Fragment werden Sätze aus festen, linearen Kontexten befreit und können deshalb in viel stärkerer

Weise kontextualisiert werden als Sätze innerhalb fester Textgefüge. Ein Satz ohne eindeutig

bestimmten Kontext bezieht sich auf unendlich viele Kontexte, er bietet unendliche

Anknüpfungsmöglichkeiten. Der isolierte, gerahmte Satz wird zu einem kleinen Kunstwerk, einem Bild.

Die gekappte Denotationskette entbindet ein Potential neuer, konnotativer

Verknüpfungsmöglichkeiten. Beziehungen werden durch Beziehungsmöglichkeiten substituiert.

Sammlungen von Fragmenten sind höchst artikulierte Gebilde, in denen den Zwischenräumen, den

Leerstellen eine ebenso wichtige Bedeutung zukommt, wie den Texten selbst.

Die Fragmentsammlungen der Frühromantiker haben einen sehr unterschiedlichen Status. Die Fichte-

Studien von Novalis sind hochgradig diskursiv, nehmen erkennbar aufeinander Bezug und umkreisen

wenige definierte Probleme. Die „Athenäums„-Fragmente, die ohne Autorenkennzeichnung publiziert

wurden, sind dagegen deutlich ästhetisch gestaltet. Die von Friedrich Schlegel aus dem Nachlaß von

Novalis herausgegebenen „Blütenstaub“-Fragmente werden sogar vom Herausgeber zusätzlich

fragmentiert. Schlegel hat ihren Fragmentcharakter verstärkt, indem er ursprünglich vollständige Sätze

zu Ellipsen verkürzt hat. Das Fragment in diesem Sinne ist eine Kunstform.

Wie sehen die „systematischen Tendenzen“ aus, die Benjamin aus den frühromantischen

Fragmentzusammenhängen herauspräpariert? Schlegels Philosophie seit 1796 stellt Benjamin zunächst

unter den Titel einer „zyklischen Philosophie“ (GS1,43). Als Nukleus der „zyklischen Philosophie“ gibt

er das 43. „Athenäums„-Fragment Schlegels an: „Die Philosophie geht noch zusehr gradeaus, ist noch

nicht zyklisch genug“ (KA2,171). In der Bewegung der zyklischen Philosophie schließen sich, so

Benjamin, zwei Pole der „Reflexion“, eine „einfache Urreflexion“ (GS1,43) (der „Sinn“ als einfache

sinnliche Wahrnehmung) und die „absolute Reflexion“ (GS1,43) (die höchste Form des

Selbstbewußtseins), wieder zusammen. Deshalb ist es sinnlos, weiter von einer „einfachen Urreflexion“

und einer letzten, „absoluten Reflexion“ zu sprechen. Das romantische „Reflexionsmedium“ hat weder

Anfang noch Ende, in ihm steht alles der Mitte gleich nah. Benjamin zitiert Schlegel aus den

„Windischmannschen Vorlesungen“: „Daher muß die Philosophie [...] in der Mitte anfangen, und es ist

187

unmöglich, dieselbe so vorzutragen und Stück für Stück hinzuzählen, daß gleich das erste für sich

vollkommen begründet und erklärt wäre“ (zit.n. GS1,43). Diese Charakterisierung der

frühromantischen Philosophie als zyklisch und in der Mitte anfangend deutet auf ein hermeneutisches

Selbstverständnis hin, das im Begriff ist, sich vom idealistischen Deduktionismus zu trennen. Nicht

zufällig liegt der Ausgangspunkt der modernen Hermeneutik in den Schriften des Frühromantikers

Schleiermacher. Das Denken der Hermeneutik verläuft nicht monokausal. Die Phänomene stellen sich

ihr als ein nicht stillzustellender Prozeß sich wechselseitig oder zyklisch bedingender Ursachen und

Folgen dar. Auf diesen zyklischen Prozeß läßt sich die Hermeneutik ein. Sie vollzieht ihn verstehend

nach.

Der zyklische Charakter der frühromantischen Philosophie hat zur Folge, daß sie nicht mehr von einem

obersten Grundsatz ausgehen kann, sondern von mindestens zweien. Zwei oberste Grundsätze müssen

aber in einem nicht zu schlichtenden Widerspruch zueinander stehen, letzte Gewißheiten können mit

ihnen nicht vereinbart werden. Benjamin zitiert wieder die „Windischmannschen Vorlesungen“: „Das

Ganze der Grundwissenschaft muß aus zwei Ideen, Sätzen, Begriffen...ohne allen weiteren Stoff

abgeleitet sein“ (zit.n. GS1,43). Die zyklische Philosophie Schlegels beschreibt, wie Menninghaus

bemerkt, keinen geometrisch exakten Kreis, sondern eine „Ellipse“656. Die Ellipse ist eine runde,

geschlossene Figur, die im Gegensatz zum Kreis nicht einen, sondern zwei Mittelpunkte hat. Eine

Theorie der „zwei Centra“ (KA16,269), wie sie Schlegel angedeutet hat, läßt sich bis in seine

literaturkritische Praxis verfolgen. Im „Gespräch über Poesie“ von 1800 hält die Figur Marcus eine

Rede mit dem Titel „Versuch über den verschiedenen Stil in Goethes früheren und späteren Werken“.

Vom „Wilhelm Meister“ behauptet Marcus, „daß das eine unteilbare Werk in gewissem Sinne doch

zugleich ein zwiefaches, doppeltes ist. [...] das Werk ist zweimal gemacht, in zwei schöpferischen

Momenten, aus zwei Ideen“ (KA2,346). Als diese zwei Ideen bestimmt Marcus zum einen den

„Künstlerroman“ und zum anderen die „Bildungslehre der Lebenskunst“ (KA2,346). Auch von

Cervantes „Don Quichotte“ behauptet Schlegel, „daß der Roman zwei Centra wünscht“ (KA16,269),

sich in sich zu verdoppeln trachtet. Schlegels Theorie der „zwei Centra“ liegt auch Benjamins Arbeit

über „Goethes Wahlverwandtschaften“ zugrunde. Der Roman Goethes hat, für Benjamin, zwei

„Centra“, das mythische Romangeschehen selbst und seine entmythologisierte Gegenwelt in der

Binnennovelle. Auch in den Werken Kafkas findet Benjamin zwei „Centra“. In einem Brief an Scholem

heißt es: „Kafkas Werk ist eine Ellipse, deren weit auseinanderliegende Brennpunkte von der

mystischen Erfahrung [...] einerseits, von der Erfahrung des modernen Großstadtmenschen

andererseits, bestimmt sind“ (BBr.,760). Hinter diesen Bestimmungen literarischer Werke als in sich

doppelt verbirgt sich die Einsicht in konstitutive interne Verdopplung aller ästhetischen Phänomene,

wie sie hier in Kapitel 1.4. aufgewiesen wurde.

Neben dem Fragment kennt Schlegel noch eine andere Form der Vermittlung zwischen Dogmatismus 656 Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung. A.a.O.: 155ff.

188

und Skeptizismus, die zugleich eine Vermittlung zwischen intellektueller Anschauung und diskursivem

Denken ist. Diese doppelte Vermittlungsleistung findet Benjamin in der Denkfigur der „mystischen

Terminologie“ (GS1,47). Er zitiert aus einem Brief A.W. Schlegels an Schleiermacher:

„Die Randglossen meines Bruders rechne ich auch zu dem Gewinn; denn sie gelingen ihm weit besser als ganze Briefe, sowie Fragmente besser als Abhandlungen und selbstgeprägte Wörter besser als Fragmente. Am Ende beschränkt sich sein ganzes Genie auf mystische Terminologie“ (zit.n. GS1,47).

Schlegels Denken ist für Benjamin „ein absolut begriffliches, d.h. sprachliches“ (GS1,47). Sprache ver-

einigt schon für den Benjamin des Sprachaufsatzes von 1916 die Unendlichkeit der Reflexion mit der

Unmittelbarkeit der intellektuellen Anschauung. Diesen Doppelcharakter bezeichnet er im Sprachauf-

satz als „Magie“ (GS2,143) der Sprache. Auch Friedrich Schlegel findet sich, so Benjamin, vor das

Problem gestellt, „zwischen dem diskursiven Denken und der intellektuellen Anschauung eine Vermitt-

lung zu suchen, da das eine seiner auf intuitives Begreifen gerichteten Intention, die andere seinem sys-

tematischen Interesse nicht genügte“ (GS1,47). Schlegels Denken, sein „System“, zieht sich, um dieses

Vermittlungsproblem zu lösen, in Sprache zurück, verdichtet sich zu Termini, zu „ständig erneuerten

Benennungen des Absoluten“ (GS1,48), welche dieses immer wieder neu verfehlen und schließlich un-

endlich aufschieben. Die mystische Terminologie Schlegels stellt für Benjamin den Versuch dar, „das

System beim Namen zu nennen“ (GS1,48). Sprache und Reflexion fallen als identisch zusammen. In

bezug auf die „mystische Terminologie“ Schlegels spricht Benjamin von der „Voraussetzung eines ste-

tigen medialen Zusammenhanges, eines Reflexionsmediums der Begriffe“ (GS1,49). Als Beleg für die

Autonomisierung der Sprache in der Frühromantik führt er Schlegels Aufsatz „Über die Unverständ-

lichkeit“ von 1800 an. Schlegel behauptet dort,

„daß die Worte sich selbst oft besser verstehen, als diejenigen, von denen sie gebraucht werden, [...] daß es unter den philosophischen Worten [...] geheime Ordensverbindungen geben muß, [...] daß man die reinste und gediegenste Unverständlichkeit gerade aus der Wissenschaft und der Kunst erhält, die ganz eigentlich aufs Verständigen und Verständlichmachen ausgehen, aus der Philosophie und Philologie“ (KA2,364).

Benjamins eigene Kritik an der „bürgerlichen Auffassung der Sprache“657 ist hier schon präfiguriert.

Deutlicher noch drückt diese Auffassung von Sprache Novalis aus:

„Es ist eigentlich um das Sprechen und Schreiben eine närrische Sache; das rechte Gespräch ist ein bloßes Wortspiel. Der lächerliche Irrthum ist nur zu bewundern, daß die Leute meinen - sie sprächen um der Dinge willen. Gerade das Eigenthümliche der Sprache, daß sie sich bloß um sich selbst bekümmert, weiß keiner. Darum ist sie ein so wunderbares und fruchtbares Geheimniß, - daß wenn einer bloß spricht, um zu sprechen, er gerade die herrlichsten, orginellsten Wahrheiten ausspricht. Will er aber von etwas Bestimmten sprechen, so läßt ihn die launige Sprache das lächerlichste und verkehrteste Zeug sagen. [...] Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, daß es mit der Sprache wie mit mathematischen Formeln sei - Sie machen eine Welt für sich aus - Sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll - eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnißspiel der Dinge.“ (N2,672)

Die Philosophie ist für Schlegel und Novalis, aber auch für Benjamin, nicht zu trennen von der Spra-

che, in der sie sich artikuliert.

657 vgl. GS2,144.

189

4.1.6. Motive einer Philosophie der Reflexion in der Frühromantik und bei Benjamin

„In der Welt muß man mit der Welt leben.“

Novalis (N2,395)

Benjamin behandelt die Reflexionsphilosophie der Frühromantik als etwas durchaus Eigenständiges,

das für sich ernst genommen werden soll und nicht nur als sekundäre Vorstufe zur Theorie der Kunst-

kritik. Im Motiv der Reflexion kulminieren einige zentrale Kategorien des Benjaminschen Frühwerks.

Mit der Dissertation stehen die meisten anderen frühen Texten Benjamins in einem wechselseitigen

Verweisungsverhältnis. Zusammen bilden sie eher ein reflexives Feld als einen linearen Strang sich ab-

lösender Denkfiguren. Diese reflexive Feldstruktur des Benjaminschen Frühwerks legitimiert ein von

der Chronologie der Textgenesen absehendes Interpretationsverfahren, das Erklärungsdefizite einzel-

ner Texte mit Hilfe von Argumentationsstrukturen anderer Texte kompensiert. Die interpretatorische

Situierung der Texte in einem Feld wechselseitiger Verweisungen tut den Texten als konkreten Einzel-

gestalten insofern keine philologische Gewalt an, als diese weniger zur Publikation als vielmehr zur the-

oretischen Selbstverständigung bestimmten Texte jeweils nur einzelne Aspekte des nie in toto formulier-

ten theoretischen Selbstverständnisses des jungen Benjamin zum Ausdruck bringen, das in allen Texten

als unartikulierter Hintergrund präsent ist.

Benjamins Interesse am Begriff der Reflexion läßt sich zunächst auf die immanente Logik seines

eigenen Denkens zurückführen. Die Verortung eines Reflexionskonzepts im und als Zentrum

frühromantischen Denkens mag dagegen auf den ersten Blick befremden, verbinden sich doch mit der

Philosophie der Frühromantik eher Begriffe wie „intellektuelle Anschauung“, „Absolutum“, „Seyn“,

„Tathandlung“ u.ä. und mit diesen Begriffen die Nähe zur Philosophie Fichtes und Schellings bis

ungefähr 1800658. Der zeitlichen und räumlichen Nähe von Friedrich Schlegel und Novalis zu Fichte

und Schelling im Jena vor der Jahrhundertwende läßt Benjamin keineswegs jene „gedankliche Nähe“

korrespondieren, die sich in der Romantik-Rezeption von Hegel bis Frank als Topos etabliert hat.

Benjamin behauptet, daß der „Reflexionsbegriff [...] Schlegels erkenntnistheoretische Grundkonzeption

ist“ (GS1,16). Die „Reflexion“ sei „der häufigste Typus im Denken der Frühromantiker“ (GS1,18).

Den Begriff der „Reflexion“ hätten die Romantiker zwar von Fichte entlehnt, inhaltlich jedoch ganz

anders besetzt.

Die Behauptung einer zentralen Stellung des „Reflexions“-Begriffs wird vom Benjamin bekannten

Korpus frühromantischer Texte659 auf den ersten Blick nicht gedeckt. Explizite Erörterungen der

658 Von dieser Philosophie werde ich im folgenden als „frühidealistischer Philosophie“ sprechen. 659 vgl. Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung. A.a.O.: S. 39/40.

190

„Reflexion“ bilden in ihnen die Ausnahme. Menninghaus fragt sich:

„Was [...] mag Benjamin auf die Fährte seiner begrifflichen Extrapolationen gebracht haben? Es fällt schwer zu glauben, daß dies allein die Lektüre der frühromantischen Schriften war. Denn mit ihnen steht es so: der Begriff der Reflexion spielt nicht annähernd die prominente Rolle, die er fast ohne Vorbereitung in Benjamins Arbeit [...] zugewiesen bekommt. [...] direkte Äußerungen zum Reflexionsbegriff sind bei den Romantikern [...] äußerst spärlich, und wo es sie gibt, verweisen sie keineswegs eindeutig auf eine systematische Führungsrolle der Reflexion.“660

Auch in der Romantik-Literatur vor Benjamin wird die Kategorie „Reflexion“ kaum thematisiert.661

Benjamin hat die Problematik seines Unternehmens selbst geahnt. Schon in der „Einleitung“ schränkt

er die Stellung der Reflexion als Zentrum frühromantischen Denkens dahingehend ein, daß sie nur im-

plizit als Zentrum in den frühromantischen Texten angelegt sei. „[...] in der Fülle seiner Bestimmungen

erscheint er [der Reflexionsbegriff] zum ersten Male in den [Windischmannschen] Vorlesungen explizit

entwickelt“ (GS1,17). Diese nach ihrem ersten Herausgeber benannten Privatvorlesungen hat Schlegel

in den Jahren 1804 bis 1806 in Paris und Köln gehalten. Sie gehören im strengen Sinne nicht zur Früh-

romantik. Benjamin unterstellt eine Kontinuität der erkenntnistheoretischen Prämissen Schlegels von

der „Athenäums“-Zeit - das „Athenäum“ wurde 1798 gegründet - bis zu den Windischmannschen Vor-

lesungen, welche er als ausgeführtes „System“ Schlegels liest, um rückblickend von diesem das implizite

System der „Athenäums“-Zeit zu rekonstruieren. Gegen diesen Versuch erhebt Menninghaus Ein-

spruch:

„Wer von den Windischmannschen Vorlesungen nur die von Benjamin zitierten Passagen kennt, der muß annehmen, daß wenigstens in diesen Vorlesungen der Reflexion annähernd die Ehre zukommt, die Benjamin rückwirkend für die ganze frühromantische Phase reklamiert. Um so erstaunlicher ist dann die Entdeckung, wie bescheiden auch hier, selbst im Rahmen der erkenntnistheoretischen Kapitel, die Reflexion und ihre Theorie sich ausnimmt.“662

In der Tat handelt es sich bei den Windischmannschen Vorlesungen weniger um ein „philosophisches

System“, als um Vorlesungen zur Philosophiegeschichte, die schon ganz im Zeichen der sich ankündi-

genden Konversion Schlegels663 stehen. Als „einzige Quellen der Erkenntnis“ bestimmt Schlegel nicht

die Reflexion, sondern „Hoffnung, Liebe und Glaube“ (KA12,357).

Die Antwort auf die rhetorische Frage von Menninghaus, wieso Benjamin vor dem Hintergrund dieser

Textlage gerade der Reflexion im Denken der Romantiker einen so zentralen Stellenwert einräumt,

liegt, wie bereits erwähnt, in der Entwicklung seines eigenen Denkens beschlossen. Benjamins Resümee

seiner ersten Versuche, die romantische Kategorie „Reflexion“ inhaltlich zu bestimmen, lautet wie

folgt: „In der Reflexion aber liegen, wie sich ergab, zwei Momente: die Unmittelbarkeit und die

Unendlichkeit“ (GS1,25). Diese beiden Momente sind „eine genaue Wiederaufnahme des

‘Grundproblems’ der Benjaminschen Sprachphilosophie, wie es in dem Sprachaufsatz von 1916 unter

dem nur scheinbar konträren und gleichfalls den Romantikern entlehnten Terminus der Magie

660 a.a.O.: S. 39 . 661 a.a.O.: S. 230ff. 662 a.a.O.: S. 40. 663 am 18.4.1808.

191

exponiert wurde“664. Benjamin schreibt in seinem Sprachaufsatz:

„[...] jede Sprache teilt sich in sich selbst mit, sie ist im reinsten Sinne das ‘Medium’ der Mitteilung. Das Mediale, das ist die Unmittelbarkeit aller geistigen Mitteilung, ist das Grundproblem der Sprachtheorie, und wenn man diese Unmittelbarkeit magisch nennen will, so ist das Urproblem der Sprache ihre Magie. Zugleich deutet das Wort von der Magie der Sprache auf ein anderes: auf ihre Unendlichkeit“ (GS2,142/143).

Wie die Sprache so bestimmt er auch die Reflexion als „Medium“ (GS1,37) und spricht von einer

„Einheit von Reflexion und Medialität“ (GS1,38).

Benjamins Konzept eines sprachlichen Reflexionsmediums richtet sich gegen einige, im „Programm

der kommenden Philosophie“ kritisierte Prämissen der Philosophie Kants. In der Philosophie Kants

verhält sich für Benjamin ein Subjekt, der Mensch, vermittels bestimmter Begriffe oder Kategorien

„erkennend“ zu einem Objekt, zur Welt. Das Subjekt bediene sich der Begriffe, wie sich der

Naturwissenschaftler bei Newton seiner Instrumente bediene. Erfahrung überhaupt denke Kant sich

insofern immer nach Art naturwissenschaftlicher Erfahrung, worin Benjamin wie Spengler eine

unzulässige, instrumentalistische Verkürzung sehen. Benjamin betrachtet es als die Hauptaufgabe der

„kommenden Philosophie“, „unter der Typik des Kantischen Denkens“ unter Beibehaltung des

kritizistischen Anspruchs, „die erkenntnistheoretische Fundierung eines höheren Erfahrungsbegriffes

vorzunehmen“ (GS2,160). Dieser höhere Erfahrungsbegriff läßt sich für Benjamin nur durch die

Überwindung der Kantischen „Auffassung der Erkenntnis als Beziehung zwischen irgendwelchen

Subjekten und Objekten“ (GS2,161) gewinnen: „Es ist die Aufgabe der kommenden Erkenntnistheorie,

für die Erkenntnis die Sphäre totaler Neutralität in Bezug auf die Begriffe Objekt und Subjekt zu

finden“ (GS2,163). Die Intention einer Aufhebung der Differenz von Subjekt und Objekt scheint das

Projekt Benjamins in die Nähe frühidealistischer Versuche der Reaktion auf die Kantische

Antinomienlehre zu stellen. Doch dieser Schein trügt. Die frühidealistische Aufhebung der Differenz

von Subjekt und Objekt ist eine Aufhebung des Objekts ins Subjekt, das sich zum „absoluten Ich“

aufspreizt. Aus dem „absoluten Ich“ wird im Verlauf der weiteren Entwicklung zunächst das

„Absolute“, dann das „Seyn“ und schließlich der „Weltgeist“, die äußerste Überbietung der ohnehin

schon hypertrophen Subjektvorstellungen des deutschen Idealismus. Benjamin konzipiert die

Aufhebung der Differenz von Subjekt und Objekt dagegen als eine Aufhebung dieser Kategorien

selbst. Er wertet sie zu „metaphysischen Entitäten“ (GS2,163) ab. Sein Interesse richtet sich auf eine

partielle Aufhebung der bei Kant für sich seienden Subjekte und Objekte in das Reflexionsmedium

Sprache, eine Forderung, die schon Hamann gegenüber Kant erhoben hat, auf den sich Benjamin

zustimmend beruft:

„Die große Umbildung und Korrektur die an dem einseitig mathematisch-mechanisch orientierten Erkenntnisbegriff vorzunehmen ist, kann nur durch eine Beziehung der Erkenntnis auf die Sprache, wie sie schon zu Kants Lebzeiten Hamann versucht hat, gewonnen werden. [...] Ein in der Reflexion auf das sprachliche Wesen der Erkenntnis gewonnener Begriff von ihr wird einen korrespondierenden Erfahrungsbegriff schaffen, der auch Gebiete, deren wahrhafte systematische Einordnung Kant nicht gelungen ist, umfassen wird.“ (GS2,168)

664 Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung. A.a.O.: S. 41.

192

Subjekt und Objekt sind für Benjamin nicht mehr der Sprache vorgängige Entitäten, sondern konstitu-

ieren sich erst im Sinnhorizont der Sprache. Aus der Einsicht in die sprachliche Bedingtheit von Sub-

jekt und Objekt folgt keine einfache Verabschiedung dieser Kategorien. Benjamin vertritt keinen „se-

montologischen“ Relativismus im Sinne Derridas oder Nietzsches. Seine Position läßt sich am besten

mit einer Äußerung John Searles illustrieren: „Der Nachweis dafür, daß ein Phänomen X nur relativ zu

einem anderen Phänomen Y identifiziert werden kann, ist kein Nachweis dafür, daß X nicht exis-

tiert.“665 Aus der Prämisse einer sprachlichen Bedingtheit der Welt folgt noch keine Leugnung der Welt,

kein Signifikantenhermetismus, sondern die Notwendigkeit, das Verhältnis von Sprache und Welt neu

zu denken. Hierin sieht der junge Benjamin die „Aufgabe der kommenden Philosophie“. Eine Lösung

für diese Aufgabe kann er noch nicht geben. Seine Frühschriften haben einen programmatischen Cha-

rakter, sie wollen Fragen oder besser Fragehorizonte aufwerfen und keine Antworten geben.

Die Sprache wird für Benjamin von der bloß instrumentellen Vermittlerin zwischen Mensch und Welt

zur Bedingung der Möglichkeit von Mensch und Welt. In der Sprache ist das Verhältnis von Mensch

und Welt ein unmittelbares. Wenn das, was bis dato als Organ der Vermittlung zwischen zwei

unmittelbaren Polen (Subjekt und Objekt) galt, diese beiden Pole plötzlich in sich einbegreift, in seinem

Anspruch universalisiert wird, entbehrt es jeden Sinnes, das Verhältnis vom Subjekt zum Objekt weiter

als ein vermitteltes zu denken.

„Das Dasein der Sprache erstreckt sich aber nicht nur über alle Gebiete menschlicher Geistesäußerung, der in irgendeinem Sinn immer Sprache innewohnt, sondern es erstreckt sich auf schlechthin alles. Es gibt kein Geschehen oder Ding weder in der belebten noch in der unbelebten Natur, das nicht in gewisser Weise an der Sprache teilhätte“ (GS2,140/141).

Die Erstreckung der Sprache sei eine unendliche, sie habe kein ihr zugewiesenes, begrenztes Gebiet.

Benjamin unterstellt eine „Sprache überhaupt“ (GS2,140), eine Formulierung, die sich auch in Speng-

lers Schriften findet:

„Es ist der Grundfehler der Sprachwissenschaft, daß sie Sprache überhaupt und menschliche Wortsprache verwechselt. [...] Die Wortsprache [...] ist weder etwas erstes, noch etwas einziges. [...] Mit dem Menschen darf eine Untersuchung der Sprache sicherlich nicht beginnen.“ (UdA2,157)

„Sprache überhaupt“ müsse sowohl unmittelbar als auch unendlich sein. Sie könne nicht als Mittel die-

nen, weil es keinen Standpunkt außerhalb ihrer selbst gebe, von dem aus eine solche Indienstnahme

möglich wäre. Die Einsicht in die Sprachlichkeit der Welt eröffne dem Erkenntnistheoretiker gleichzei-

tig Erfahrungsbereiche, die einer in einem mentalistischen Paradigma befangenen Philosophie notwen-

dig verstellt bleiben müssen. Der Übergang zum Paradigma der Sprache stelle einen ebenso entschei-

denden geistesgeschichtlichen Einschnitt dar wie die kopernikanische Wende auf das Subjekt.

Wie die Sprache bestimmt Benjamin auch die Reflexion als „Medium“ (GS1,37) und spricht von einer

„Einheit von Reflexion und Medialität“ (GS1,38). Die Reflexion, das Denken oder besser Nach-

Denken, faßt Benjamin als wesentlich sprachlich auf. Den historischen Punkt, an dem Philosophie, ein

665 John Searle: Ausdruck und Bedeutung. Frankfurt a.M. 1982. S. 154.

193

sich der Bedingung seiner Möglichkeit bewußtes und methodisiertes Nachdenken, sich ihrer eigenen

Sprachlichkeit bewußt wird, legt Benjamin in die Romantik. „Schlegels Denken ist ein absolut begriffliches,

d.h. sprachliches.“ (GS1,47) Schlegels „mystische Terminologie“ (GS1,48) habe als Voraussetzung

einen „stetigen medialen Zusammenhang, ein Reflexionsmedium der Begriffe“ (GS1,49). In der

Philosophie Schlegels begännen die Begriffe, nach ihren eigenen Möglichkeitsbedingungen zu fragen

und verdichteten sich zu einem „Reflexionsmedium“.

Die Rekonstruktion der philosophischen Anfänge Benjamins haben sein Interesse am Begriff der

Reflexion verdeutlicht. An dieser Stelle könnte sich die Frage anschließen, wozu Benjamin in diesem

Kontext die Romantik braucht, oder zumindest, ob er sie für seine eigenen Belange ge- bzw.

mißbraucht. Der letzte Punkt dieser Frage ist entschieden zu verneinen. Im folgenden soll gezeigt

werden, daß Benjamins Dissertation über den frühromantischen Begriff der Kunstkritik selbst ein

Stück gelungener Kritik im Sinne seiner eigenen Definition ist: das erkennende Befreien einer

verborgenen, aber wesentlichen Tendenz frühromantischen Denkens. Auf einer ersten Ebene läßt sich

in bezug auf Benjamins Umgang mit seinem Quellenmaterial, wie bereits dargelegt, von einer „Methode

der Verkennung“666 sprechen. Der Text zeichnet sich zunächst durch eine „Gewaltsamkeit der

Durchdringung eines sich geradezu verweigernden Textmaterials“667 aus. Das Benjamin-Kapitel in

Menninghaus’ Buch „Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie

im Begriff absoluter Selbstreflexion“ liest sich auf dieser Ebene wie ein Katalog Benjaminscher

Fehllektüren668. Trotz mancher „Gewaltsamkeiten in der Durchdringung des Textmaterials“ trifft

Benjamin mit seiner Akzentuierung der Reflexion auf eine entscheidende Grundtendenz

frühromantischen Denkens. Mit Recht kann er zentrale frühromantische Denkfiguren wie „erfüllte

Unendlichkeit des Zusammenhangs“, „Kunst“, „zyklische Philosophie“, „Kritik“, „Terminologie“,

„Ironie“, „Transzendentalpoesie“, „Universalpoesie“ usw. zu einer semantischen Isotopienreihe

vereinen, deren Anfang und Ende durch die Denkfigur „Reflexion“ gebildet wird. Diese „Reihe“

gleicht eher einem Kreis oder einem reflexiven Feld, das Benjamins Dissertation in verschiedene

Richtungen abschreitet. Ihm ist es gelungen, „Stellvertreter-Begriffe für die Thematisierung der

Reflexion [...] bei den „Athenäums“- und „Lyceums„-Fragmenten ausfindig zu machen“669, deren Struktur

reflexiv ist. Daß Benjamin mit der Akzentuierung der Kategorie „Reflexion“ tatsächlich am Innersten

des frühromantischen Denkens rührt, zeigen paradoxerweise am deutlichsten die Teile der

umfangreichen Fragmentsammlungen seiner Hauptgewährsmänner Friedrich Schlegel und Novalis, die

zu Benjamins Lebzeiten noch nicht ediert waren670. Auch von der Sprachphilosophie Johann Wilhelm

Ritters, die Benjamin erst in den Zwanziger Jahren kennenlernte, erfahren seine Versuche, die

666 Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung. A.a.O.: S. 32. 667 a.a.O.: S. 33. 668 vgl. Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung. A.a.O.: S. 60. 669 a.a.O.: S. 40. 670 a.a.O.: S. 39/40.

194

Philosophie der Frühromantik als Philosophie der Reflexion zu begreifen, Bestätigung. Eine noch viel

weitergehende Plausibilität scheinen Benjamins Überlegungen zur Stellung der Reflexion in der

Frühromantik zu gewinnen, wenn unter „Reflexion“, wie schon angedeutet, nicht mehr nur ein

philosophischer Topos oder ein philosophisches Thema verstanden wird, sondern eine philosophische

Denkform. In einer Lektüre frühromantischer Philosopheme als Reflexion soll im folgenden gezeigt

werden, daß Benjamins Darstellung trotz einiger Gewaltsamkeiten durchaus ins „Herz“

frühromantischen Denkens vorstößt.

195

4.1.7. Der Bruch zwischen Frühidealismus und Frühromantik: von der „intellektuellen Anschauung“ zur „Reflexion“.

„Wir sind aus der Zeit der allgemein geltenden Formen heraus.“

Novalis (N2,649)

Die Philosophie der letzten Jahre des 18. Jhs muß wesentlich als Reaktion auf den Beginn der philoso-

phischen Moderne verstanden werden, als Reaktion auf das Werk Kants. Bei Kant findet sich bereits

angelegt, was Habermas im Anschluß an Webers Theorie der weltgeschichtlichen Rationalisierung als

zentrales Signum eines modernen Weltverständnisses definiert: die Ausdifferenzierung verschiedener

Rationalitätstypen, diskursiver „Welten“ und Geltungsansprüche menschlicher Rede, die sich nicht

mehr auf ein zentrales, übergreifendes metaphysisches Prinzip zurückführen lassen.

„Kants drei ‘Kritiken’ sind bereits eine Reaktion auf eine Verselbständigung verschiedener Rationalitätskomplexe. Die auf objektivierende Erkenntnis, moralisch-praktische Einsicht und ästhetisches Urteil spezialisierten Formen der Argumentation sind seit dem 18. Jahrhundert auseinandergetreten, und zwar im Rahmen von Institutionen, die widerspruchslos die Definitionsgewalt über die jeweiligen Kriterien der Gültigkeit an sich ziehen konnten.“671

Kants Konzeption einer Vernunftkritik richtet sich historisch gegen das metaphysische Einheitsdenken

der Leibniz-Wolffschen Schule. An Kants Kritizismus, an sein Projekt der (Selbst-)Aufklärung der Ver-

nunft über die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit, wollten auch seine Nachfolger zunächst an-

knüpfen. Sie wollten seinen Kritizismus auf eine gesichertere Grundlage stellen, wollten dem Projekt

der philosophischen Hinterfragung der Fundamente der Philosophie auf ein neues, tieferes Fundament

stellen. Dieses Unternehmen ist in seinem Ansatz paradox. Was als progressive Transformation des

von Kant bezogenen, spezifisch modernen Standpunkts antrat, fiel schon bald hinter die Position

Kants zurück. Ein in metaphysischen, transmundanen Prinzipien fundierter Erkenntniskritizismus wird

ganz und gar unkritisch.

Auch die Erfahrung einer Entzweiung in den frühbürgerlichen europäischen Gesellschaften, die

dämmernde Einsicht in die später von Weber aufgewiesenen „Aporien der Moderne“ steht als initiales

Ereignis am Anfang des deutschen Idealismus. In dessen „Ältestem Systemprogramm“ wird der „Staat

als etwas mechanisches [...] als mechanisches Räderwerk“ und als „Maschine“672 charakterisiert, die sich

von den Menschen entzweit habe. Nicht nur gegen die Kantische Ausdifferenzierung verschiedener

Rationalitätstypen und die Kantischen Erkenntnisantinomien, sondern auch gegen gesellschaftliche

Antinomien formiert sich der frühe Idealismus als Philosophie der „Identität“ und „Vereinigung“. Im

Anschluß an Schillers Versuch, die um sich greifende Entzweiung durch eine „ästhetische Erziehung

671 Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken. Frankfurt a.M. 1988. S. 23. 672 Das sogenannte ‘Älteste Systemprogramm’. In: Manfred Frank u. Gerhard Kurz (Hg.): Materialien zu Schellings philoso-

phischen Anfängen. Frankfurt a.M. 1975. S. 110-112. Hier: S. 110.

196

des Menschengeschlechts“ zu kompensieren, setzt auch das „Älteste Systemprogramm“ eine

„ästhetische Mythologie“ gegen die aufklärerische Entzauberung der Welt. Diese „ästhetische

Mythologie“ muß „im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden“673.

Kunst wird an dieser Stelle zum Organon des Ausdrucks von „Ideen der Vernunft“, einer Vernunft

freilich, die sich in Abgrenzung von der Kantischen Vernunft zum alles versöhnenden Absolutum

aufzuschwingen im Begriff ist. Habermas vermutet, daß es persönliche Krisenerfahrungen verbunden

mit einer „Diagnose des Aufklärungszeitalters“ waren, die Schelling und Hegel „zur Voraussetzung des

Absoluten“ führten, „also dazu, die Vernunft (anders als die Reflexionsphilosophie) als Macht der

Vereinigung anzusetzen“674. Das alle Widersprüche aufhebende, transreflexive Absolutum, welches der

frühe Idealismus als Korrektiv zur Entzweiung von Individuum und Staat konzipiert, wird im späten

Idealismus, in der Hegelschen „Rechtsphilosophie“, mit diesem Staat selbst, mit der in ihm angeblich

verwirklichten „substantiellen Sittlichkeit“ gleichgesetzt. Die idealistische Kritik an der Moderne führt

nicht nur philosophisch, sondern auch politisch in die Regression. Benjamin steht der Philosophie

Hegels eher ablehnend gegenüber. Scholem berichtet:

„Am nächsten Tag gerieten wir auf Hegel, das erste Gespräch mit mir über Hegel, an das ich mich erinnere. Er hatte offenbar nur einige Stücke von ihm kursorisch gelesen und war damals kein großer Verehrer von Hegel. Noch ein Jahr später schrieb er mir: »Von Hegel hat mich das, was ich bisher las, durchaus abgestoßen.« Seine »geistige Physiognomie« sei »die eines intellektuellen Gewaltmenschen, eines Mystikers der Gewalt, die schlechteste Sorte, die es gibt: aber auch Mystiker« (BBr.I,171).“675

Wie bereits erwähnt, begriffen sich Kants Nachfolger zunächst als Erben und Vollender des

kritizistischen Projekts. Die in stärkerem Maße gesicherte Grundlage, auf die sie die Kantische

Vernunftkritik stellen wollten, sollte durch eine Transformation des Status’ des „transzendentalen Ich“

und der diesem korrespondierenden Ideen der „intellektuellen Anschauung“ und des „intellectus

archetypus“, die Kant nur als „regulative Ideen“ kennt, zu „konstitutiven Ideen“ erreicht werden. Die

Anschauungsart des Menschen ist für Kant „nicht intellektuelle Anschauung [...], als welche [...] allein

dem Urwesen, niemals aber einem, seinem Dasein sowohl als seiner Anschauung nach (die sein Dasein

in Beziehung auf gegebene Objekte bestimmt), abhängigen Wesen zuzukommen scheint“676.

Die „intellektuelle Anschauung“, die zu einer zentralen Kategorie frühidealistischen Philosophierens

aufrücken soll, wird bei Kant im zweiten Teil der „Kritik der Urteilskraft“, in der „Kritik der teleologi-

schen Urteilskraft“ rein heuristisch als hypothetischer „übersinnlicher Realgrund“ von „Natur“ und

„Freiheit“ (KdU,B,352) eingeführt. Den von Kant hypothetisch unterstellten „übersinnlichen Realgrund

von Natur und Freiheit“ als realen erkennbar zu machen, die intellektuelle Anschauung ihres hypotheti-

schen Charakters zu entkleiden, bildet das Hauptanliegen der auf Kant folgenden Philosophie. Sie stellt

sich diesem Anliegen auf verschiedene Weise. Benjamin schreibt:

673 Das sogenannte ‘Älteste Systemprogramm’. A.a.O.: S. 111/112. 674 Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a.M. 1988. S. 34. 675 Gershom Scholem: Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt a.M. 1975. S. 43. 676 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. A.a.O.: S. 95 (B,72).

197

„Sobald die Geschichte der Philosophie in Kant, wenn auch nicht zum ersten Male, so doch explizit und nachdrücklich, zugleich mit der Denkmöglichkeit einer intellektuellen Anschauung ihre Unmöglichkeit im Bereich der Erfahrung behauptet hatte, tritt ein vielfältiges und beinahe fieberhaftes Bestreben hervor, diesen Begriff für die Philosophie als Garantie ihrer höchsten Ansprüche wieder zurückzugewinnen. Es ging von Fichte, Schlegel, Novalis und Schelling in erster Reihe aus.“ (GS1,19)

Auch Benjamins eigene Anknüpfung an Kant ist, ohne explizite Bezugnahme auf die Frühidealisten,

durch die Intention einer „granitenen Festlegung und universalen Ausbildung [...] des Kantischen Sys-

tems“ (BBr.,150) in einer „Sphäre totaler Neutralität in Bezug auf die Begriffe Objekt und Subjekt“

(GS2,163) gekennzeichnet, einer Sphäre, die Benjamin mit Hamann in der Sprache gefunden zu haben

glaubt.

Für den vom Frühidealismus anvisierten übersinnlichen Einheitsgrund von Freiheit und Natur entwirft

die Philosophie um 1800 eine Vielfalt von Bestimmungen. Jacobi nennt ihn das „Unbedingte“, Fichte

„absolutes Ich“ oder „erste Tathandlung“, Schelling das „Absolute“, die „Identität“ oder das „Seyn“

und Solger spricht, alle diese Bestimmungen auf einen Nenner bringend, von der „unbestreitbaren

Tatsache, daß das Bewußtseyn auf einem reinen Seyn beruht“677. Die frühidealistische und zum Teil auch

frühromantische Grundlegung der Reflexivität oder des Bewußtseins hatte mit einem Problem zu

kämpfen, auf das zuerst Jacobi aufmerksam gemacht hat. Manfred Frank bemerkt dazu:

„Jacobi hatte die Unerkennbarkeit des Absoluten, des archimedischen Punkts außer allen Bedingtheiten, damit begründet, daß alle ‘Ableitungen’ - also Schlüsse, Deduktionen, Argumentationen - sich im Bereich des bedingten, des nicht-unbedingt-gewissen Bewußtseins abspielten. Alles Erkennen, das wir auf dem Wege vernünftiger Ableitungen aus Gründen erwerben können, ist mittelbar - denn begreifen heißt: einer Sache vermittels eines Begriffs habhaft werden, wobei das Begriffene dem Begriff stets äußerlich ist. In solcher Äußerlichkeit bleibt das Unbedingte dem Wissen verborgen.“678

Aus der gleichzeitigen Unverzichtbarkeit und Unableitbarkeit des Unbedingten ergibt sich für Jacobi

ein Paradoxon, dessen Lösung er im Glauben finden zu können meint. Jacobis Paradoxon, die Gleich-

zeitigkeit der Unverzichtbarkeit und reflexiven Uneinholbarkeit eines transreflexiven Absolutums, steht

als Problem am Anfang des Denkwegs sowohl der drei Tübinger Stiftsschüler Schelling, Hegel und

Hölderlin679, als auch der Jenenser Fichte, Schlegel und Novalis, von denen Schelling eine Vermittlerrol-

le zukommt.

Der Einfluß des frühidealistischen Grundproblems auf die Frühromantik wird deutlich, wenn Schlegel

von der „Unmöglichkeit, das Höchste durch Reflexion positiv zu erreichen“ (KA19,25) spricht. Analog

dazu lautet das erste „Blüthenstaub“-Fragment des Novalis: „Wir suchen überall das Unbedingte, und

finden immer nur Dinge.“ (N2,413) In beiden Zitaten kündigt sich bereits eine Verschiebung des

Akzentes innerhalb der philosophischen Problemstellung im Vergleich zum Frühidealismus an. Nicht

mehr das „Höchste“ oder das „Unbedingte“ selbst steht im Mittelpunkt des Interesses von Schlegel

677 Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Nachgelassene Schriften und Briefwechsel. Hg. v. Ludwig Tieck u. Friedrich von Rau-

mer. 2 Bd. Leipzig 1826. Faksimile-Neudruck Heidelberg 1973. Bd.II. S. 247. 678 Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Frankfurt a.M. 1989. S. 241. 679 Über den Einfluß Jacobis auf Schelling, Hegel und Hölderlin informiert Dieter Henrich: Philosophisch-theologische

Problemlagen am Tübinger Stift zur Studienzeit Hegels, Hölderlins und Schellings. In: Hölderlin Jahrbuch 1986-1987. S. 60-92.

198

und Novalis, sondern die Suche nach ihm, die eine konstitutiv vergebliche bleibt. Frank bezeichnet es als

die „Initialidee [...] der Frühromantik“, daß „Sein - als einfache fugenlose Einerleiheit [...] - nicht aus der

urteilsmäßigen und reflexiven Beziehung verständlich gemacht werden [könne]“680. Aus dieser

„Initialidee“ müßte eine radikale systematische Abwertung der ihr Ziel konstitutiv verfehlenden

Reflexion folgen, wie Frank sie der Frühromantik tatsächlich unterstellt. Im folgenden wird versucht,

mit Benjamin das genaue Gegenteil zu zeigen. Aus dem von Jacobi aufgeworfenen Paradox zogen die

Frühromantiker zumindest phasenweise die dem Idealismus konträre Konsequenz eines Verzichtes auf

die Annahme eines transreflexiven Seins. An Stelle dieses vormodernen Konzepts räumten sie der in sich

differentiellen Reflexion, dem konstitutiv bedingten Denken selbst, die Rolle einer für die Philosophie

unhintergehbaren Größe ein. Die Reflexion ist ihnen nicht mehr einfach nur Mittel zur Erlangung eines

transreflexiven Absolutums, sondern wird sich selbst zum Zweck, versucht die Transzendenz innerhalb

ihrer eigenen Immanenz zu verwirklichen. Der frühidealistische Versuch einer Restituierung

transmundaner, metaphysischer Prinzipien wird von der Frühromantik insofern wieder

zurückgenommen, als sie die bedingte Reflexion selbst als transreflexiv begreift.

Die Trennungslinie zwischen frühromantischen und frühidealistischen Versuchen der Reaktion auf das

von Jacobi 1785 in seinen „Briefen an Moses Mendelssohn“ formulierte Paradoxon verläuft nicht

immer so scharf, wie es an dieser Stelle erscheinen mag. Und doch bleibt es wichtig, die spezifischen

Differenzen herauszuarbeiten, die die frühromantische Antwort auf die Hauptfrage der Nach-

Kantischen Philosophie von der frühidealistischen unterscheidet. Die Frühidealisten und

Frühromantiker unternahmen eine Reihe von einander teils ergänzenden und teils ausschließenden

Lösungsversuchen. Der Jacobischen Wendung zum Glauben wollten sie nicht folgen. Einen dieser

Versuche, der auf der Schwelle zwischen beiden Denkbewegungen steht, stellt die Novalissche Ordo-

inversus-Lehre681 dar, die in den „Fichte-Studien“ von 1795/1796 entwickelt wird. Novalis konzipiert

dort eine Semiotik des Seins. Das Seiende sei dem Menschen nicht als solches zugänglich, sondern nur

in seiner Darstellung. Das Darstellen des Seienden, das Bild, sei aber ein Nicht-Seiendes. Nur vermittels

dieses Nicht-Seienden wäre dem Menschen ein Zugang zum Seienden möglich. Wenn er sich des

Nicht-Seienden Charakters seiner Bilderwelt, in der er konstitutiv befangen bleibe, bewußt werde,

könne er ex negativo Einsicht in das Sein des Seienden gewinnen: „Nähere Erklärung des

Bildes./Zeichen/Theorie des Zeichens./Theorie der Darstellung oder des Nichtseyns im Seyn, um das

Seyn für sich auf gewisse Weise da seyn zu lassen.“ (N2,106) In bezug auf die Problematik des bedingten

und unbedingten Ich bei Fichte kann Novalis von einem „Ordo inversus des mittelbaren Ich“ (N2,127)

sprechen, denn „was vom absoluten Ich gilt, gilt auch vom mittelbaren Ich, nur, ordine inverso.“ (N2,128)

Für die Reflexion sei das Absolute (Ich) uneinholbar, für sie existiere das Absolute nicht. Diese

680 Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. A.a.O.: S. 140. 681 vgl. generell: Manfred Frank u. Gerhard Kurz: Ordo inversus. Zu einer Reflexionsfigur bei Novalis, Hölderlin, Kleist und

Kafka. In: Herbert Anton, Bernhard Gajek u. Peter Pfaff (Hg.): Geist und Zeichen. Festschrift für Arthur Henkel. Hei-delberg 1977. S. 75-97.

199

Verfehlung könne sie korrigieren, indem sie sich selbst nochmals spiegele. Das naturgemäß

spiegelverkehrte Bild der ersten Spiegelung werde in der zweiten Reflexion wieder ins rechte Lot

gerückt, das Absolute (Ich) erscheine, wenn auch ex negativo, als das wirklich Seiende, die Reflexion

dagegen als das Nicht-Seiende.

„Das eigentliche Object, zu dessen Untersuchung wir nunmehr vorschreiten ist das Bild des analytischen Ich. Unsere jetzige Betrachtung wird das Bild, als Bild, angehn i.e. als Object - Das analytische Ich, als Object betrachtet. Das Bild an und für sich ist, wie gesagt, die verkehrte Oberfläche des Gegenstandes - unsere Beschreibung des Bildes wird aber, weil wir sie, als analytisches Ich, anstellen, wieder rechts ausfallen, wenn jene im Verhältniß zum Gegenstande links ist - wir müssen also, um den reinen Character des Bildes als Bild allein zu kriegen - links darstellen; um hingegen das analytische Ich, uns selbst recht zu kriegen, beschreiben wir, wie wir sehen.“ (N2,142)

Frank paraphrasiert diese komplexe Reflexionsfigur: Die Reflexion könne die Verfehlung, die in der

Unangemessenheit des Zeichens ans Wesen, der Reflexion ans Transreflexive liege,

„nur korrigieren, wenn sie den ausgedrückten Schein als ‘Zeichen’ auf das unmittelbare und undarstellbare ‘Sein’ hin überschreitet, indem [sie] das ‘Nichtseyn’ nicht dem Dargestellten, sondern dem Darstellungsmittel (also sich selbst) zuschreibt. Das kann sie [...] nur, wenn sie, in einem zweiten Schritt, sich selbst reflektiert und das ‘Geschehen’ der Darstellung als eine Schein-Herstellung dessen durchschaut, was im Grunde ‘schon ist’.“682

Später belegt Novalis seine Ordo-inversus-Lehre auch resümierend mit dem Begriff einer „Logischen Pa-

thologie“ und erklärt: „Wahrhafte Darstellung des Irrthums ist die indirecte Darstellung der Wahrheit“

(N3,382). Diese Ordo-inversus-Lehre verkörpert nicht, wie Frank unterstellt, das Nonplusultra Novaliss-

chen Philosophierens, sondern nur eine noch deutlich idealistische Station auf dem Weg der Abwen-

dung vom Absoluten oder auf dem Weg zu einer Aufhebung des Absoluten in Reflexion. Später stellt

Novalis das Bild in das Zentrum des Ich. Das Bild dient nicht mehr der Repräsentation des Eigentli-

chen am Menschen, sondern tritt an die Stelle dieses Eigentlichen. „Der Mensch - Metapher“ (N2,561)

lautet ein elliptischer Eintrag in Novalis’ Notizheften, und auf die Frage „Was ist der Mensch?“ antwor-

tet er: „ein vollkommener Trope“ (N2,564). Eine Trope ist eine „Wendung“ bzw. eine „Verwandlung“

oder ein „sprachliches Bild“. Die Gleichsetzung von „Mensch“ und „Trope“ kann zum einen bedeuten,

daß das Wort „Mensch“ allein eine sprachliche Wendung sei, daß es nur in der Sprache einen Sinn ha-

be, zum anderen, daß der menschliche Geist in seinem Innern wie eine Trope oder eine Metapher

funktioniere. Das Uneigentliche, das Bild, würde damit zum Eigentlichen des Menschen. Fast schon

Nietzscheanisch klingt folgender, von Novalis verfaßter „Dialog“:

„[B.] Ja, Lieber, und hier an den Säulen des Herkules lassen Sie uns umarmen, im Genuß der Überzeugung, daß es bey uns steht das Leben wie eine schöne, genialische Täuschung, wie ein herrliches Schauspiel zu betrachten, daß wir schon hier im Geist in absoluter Lust und Ewigkeit seyn können, und daß gerade die alte Klage, daß alles vergänglich sey, der Fröhlichste aller Gedanken werden kann, und soll. [A.] Diese Ansicht des Lebens, als zeitliche Illusion, als Drama möge uns zur andern Natur werden. Wie schnell werden dann trübe Stunden vorüberfliegen, und wie reitzend wird uns nicht so die Vergänglichkeit vorkommen.“ (N2,667/668)

682 Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. A.a.O.: S. 251.

200

An dieser Stelle übt Novalis Verzicht auf jede Suche nach einem Absoluten oder Unbedingten. „Die

Theorie muß vom Bedingten ausgehen und daher auch dahin zurückkommen“ (N2,147), schreibt er wei-

ter. Literarisch gestaltet findet sich dieser Verzicht auf das Unbedingte in den „Lehrlingen zu Sais“.

Eine andere beliebte Strategie zur Darstellung des undarstellbaren Absoluten, die für das

frühromantische Denken von großem Belang war, hat Schelling in seinem „System des

transzendentalen Idealismus“ von 1800 verfolgt. Zu Beginn dieser Schrift konstatiert Schelling einen

Widerspruch zwischen den beiden Hauptsätzen der theoretischen und praktischen Philosophie: „Die

Vorstellungen richten sich nach den Dingen“ (theoretische Philosophie) und „Die Dinge richten sich

nach den Vorstellungen“ (praktische Philosophie). Diesen Widerspruch möchte er mit dem Argument

lösen, daß es eine Tätigkeit sei, in der sich die Dinge nach uns und wir uns nach den Dingen richteten.

Beim Handeln vollzögen wir diese Tätigkeit bewußt und beim Erkennen unbewußt als vorreflexive

Konstitution der objektiven Welt. „Setzt man nun, da beide Tätigkeiten doch nur im Prinzip Eine sein

sollen, daß dieselbe Tätigkeit, welche im freien Handeln mit Bewußtsein produktiv ist, im Produzieren der

Welt ohne Bewußtsein produktiv sei, so ist [...] der Widerspruch gelöst.“683 Den (modernen) Widerspruch

zwischen theoretischer und praktischer Vernunft hebt Schelling in eine (vormoderne) Einheit, eine

absolute Tätigkeit auf. Daraufhin stellt sich ihm Jacobis Problem, wie „im Bewußtsein selbst jene zugleich

bewußte und bewußtlose Einheit aufgezeigt werde“684. Schelling sucht eine Objektivation des

Absoluten als Identität von bewußter und unbewußter Tätigkeit für das Bewußtsein. Diese gesuchte

Objektivation findet er im Kunstwerk. Die „zugleich bewußte und bewußtlose Tätigkeit“ sei

„allein die ästhetische und jedes Kunstwerk ist nur zu begreifen als Produkt einer solchen. Die idealische Welt der Kunst, und die reelle der Objekte sind also Produkte einer und derselben Tätigkeit; das Zusammentreffen beider, (der bewußten und der bewußtlosen) ohne Bewußtsein gibt die wirkliche, mit Bewußtsein die ästhetische Welt. Die objektive Welt ist nur die ursprüngliche, und bewußtlose Poesie des Geistes; das allgemeine Organon der Philosophie - und der Schlußstein ihres ganzen Gewölbes - die Philosophie der Kunst.“685

Diese Aufwertung der Kunst zum einzig möglichen Organon der Erkenntnis des Absoluten ist in der

Tradition abendländischen Denkens zu diesem Zeitpunkt neu. Mit besonders eindringlichen Worten

wird sie von Schelling auf den letzten Seiten seines „Systems des transzendentalen Idealismus“ vollzo-

gen:

„Wenn die ästhetische Anschauung nur die objektiv gewordene intellektuelle ist, so versteht sich nun von selbst, daß die Kunst das einzige wahre und ewige Organon zugleich und Dokument der Philosophie sei, welches immer und fortwährend aufs neue beurkundet, was die Philosophie äußerlich nicht darstellen kann, nämlich das Bewußtlose im Handeln und Produzieren, und seine ursprüngliche Identität mit dem Bewußten. Die Kunst ist eben deswegen dem Philosophen das Höchste, weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet, wo in ewiger und ursprünglicher Vereinigung gleichsam in einer Flamme brennt, was in der Natur und Geschichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln ebenso wie im Denken ewig sich fliehen muß“686.

683 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transzendentalen Idealismus. A.a.O.: S. 16. 684 a.a.O.: S. 17. 685 a.a.O.: S. 17. 686 a.a.O.: S. 297.

201

Dem erkenntnissystematischen Privileg der Kunst korrespondiert im „System des transzendentalen I-

dealismus“ ein geschichtsphilosophisches Privileg. Zum Telos sowohl der Geistes- als auch der Weltge-

schichte wird wie im „Ältesten Systemprogramm“, ein mythopoetischer Zustand deklariert.

„Wenn es nun aber die Kunst allein ist, welcher das, was der Philosoph nur subjektiv darzustellen vermag, mit allgemeiner Gültigkeit objektiv zu machen gelingen kann, so ist, um noch diesen Schluß daraus zu ziehen, zu erwarten, daß die Philosophie, so wie sie in der Kindheit der Wissenschaft von der Poesie geboren und genährt worden ist, und mit ihr all diejenigen Wissenschaften, welche durch sie der Vollkommenheit entgegengeführt werden, nach ihrer Vollendung als ebensoviel einzelne Ströme in den allgemeinen Ozean der Poesie zurückfließen, von welchem sie ausgegangen waren. Welches aber das Mittelglied der Rückkehr der Wissenschaft zur Poesie sein werde, ist im allgemeinen nicht schwer zu sagen, da ein solches Mittelglied in der Mythologie existiert hat, ehe diese, wie es jetzt scheint, unauflösliche Trennung geschehen ist. Wie aber eine neue Mythologie, welche nicht Erfindung des einzelnen Dichters, sondern eines neuen nur Einen Dichter gleichsam vorstellenden Geschlechts sein kann, selbst entstehen könne, dies ist ein Problem, dessen Auflösung allein von den künftigen Schicksalen der Welt, und dem weiteren Verlauf der Geschichte zu erwarten ist.“687

Daß in der Schellingschen Aufwertung der Kunst zum „einzigen wahren und ewigen Organon zugleich

und Dokument der Philosophie“ die Gefahr einer Überstrapazierung der Geltung des Ästhetischen un-

ter gleichzeitiger Verfehlung seiner Eigenart liegt, ist in Kapitel 1.2 gezeigt worden.

Wie steht die Frühromantik zu Schellings Überbietungs-Ästhetik im „System des transzendentalen

Idealismus“? Für Frank bestehen keine Zweifel:

„Ich nenne ‘romantisch’ die Philosophie, in der die Spekulation auf den Anspruch verzichtet, das Absolute durch Reflexion zu erreichen - und diesen Mangel durchs Medium der Kunst supplementiert. In diesem Sinne gehört Hölderlins Werk zur Romantik, auch Schellings Ästhetik etwa bis zum System des transzendentalen Idealismus [...].“688

Die sich in diesen Sätzen abzeichnende Deutungsrichtung der Romantik wird auch „Heidelberger Deu-

tungsrichtung“689 genannt und zeigt sich stark beeinflußt von Dieter Henrichs Arbeit über „Fichtes ur-

sprüngliche Einsicht“ (1967)690, einer Theorie eines präreflexiven Absolutums, eines allem Bedingten

vorgängigen „unvermittelten Sich-Habens“691 des Selbst. Diese Theorie läuft auf den paradoxen Ver-

such einer Rekonstruktion der Metaphysik in der Moderne heraus. Frank und Nachfolger stellen das

Theorem eines präreflexiven Absolutums, das sich in Kunst, und nur in Kunst, zu offenbaren vermag,

ins Zentrum ihrer Rekonstruktion der Frühromantik. Die Philosophien von Friedrich Schlegel und

Novalis werden von Frank mit derjenigen des frühen Schelling identifiziert. Dieser Identifikation wird

von Habermas und Bohrer widersprochen: „Schellings Natur- und Kunstphilosophie hatte keine Be-

deutung für die Motive und Kategorien einer romantischen Moderne“692 heißt es bei Bohrer693 und Ha-

bermas fügt hinzu:

„was Schelling zufolge in den Produkten der Kunst angeschaut werden kann, ist doch noch die objektiv

687a.a.O.: S. 298. 688 Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. A.a.O.: S. 223. 689 Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung. A.a.O.: S. 246. 690 vgl. Dieter Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht. Frankfurt a.M.1967. 691 Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung. A.a.O.: S. 261. 692 Karl Heinz Bohrer: Die Kritik der Romantik. Frankfurt a.M. 1988. S. 16. 693 In einen neueren Aufsatz hat Bohrer diese These in direkter Auseinandersetzung mit Frank untermauert: Karl Heinz

Bohrer: Die Ästhetik am Ausgang ihrer Unmündigkeit (Zweites Szenario: Die Differenz zwischen Friedrich Schlegels äs-thetischer Theorie und Schellings Philosophie der Kunst). In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. 44. Jg. Heft 10/11. Okt./Nov. 1990. S. 855ff.

202

gewordene Vernunft - die Verschwisterung des Wahren und Guten im Schönen. Eben diese Einheit stellt Schlegel in Frage. Er beharrt auf der Autonomie des Schönen in dem Sinne, »daß es vom Wahren und Sittlichen getrennt ist, und daß es mit diesem gleiche Rechte (hat)« (Athenäum Fragment Nr. 252, KA,2, S. 207)694

Auch in dieser Arbeit soll mit Benjamin energisch der Identifikation des frühidealistischen mit frühro-

mantischem Denken widersprochen werden. Nicht umsonst hat Benjamin Schelling aus seiner Unter-

suchung weitgehend ausgeklammert und nicht umsonst sucht man Benjamins Dissertation in Franks

umfangreichen Darstellungen der frühromantischen Philosophie vergebens. Frank bleibt auf der Stufe

des alten Irrationalismusvorwurfs gegen die Romantik stehen, indem er ihr eine überrationale Tendenz

unterstellt. Den auf dem Rücken frühromantischer Texte prima philosophia betreibenden Frank widerle-

gend, soll gezeigt werden, daß sich das frühromantische Denken wie vorher kaum ein anderes gegen die

Möglichkeit jeglicher prima philosophia verschließt.

Doch vergewissern wir uns zunächst wieder des Ortes, an dem wir stehen. Wir waren ausgegangen von

Jacobis Paradoxon: der Behauptung der Denknotwendigkeit eines Unbedingten bei der gleichzeitigen

Behauptung seiner reflexiven Uneinholbarkeit. Wir haben zwei Antwortversuche auf dieses Paradoxon

kennengelernt, die Novalissche Ordo-inversus-Lehre und die Schellingsche Kunstphilosophie im „System

des transzendentalen Idealismus“. Eine dritte, historisch frühere Antwort, von der sowohl Schelling als

auch Novalis ihren Ausgang nehmen, findet sich bei Fichte, womit wir auch am Ausgangs- bzw.

Abstoßungspunkt der Benjaminschen Dissertation stehen. Die Darstellung Fichtes soll hier im

wesentlichen der von Benjamin geleisteten folgen. Benjamin selbst orientiert sich an Windelbands

„Geschichte der neueren Philosophie“695. Er steht der Philosophie Fichtes sehr reserviert gegenüber,

wie eine von Scholem diesbezüglich zitierte Briefstelle belegt:

„Viel später erst schrieb er in einem Brief vom Januar 1936 an [...] Kitty Steinschneider, in Fichte habe sich »der revolutionäre Geist des deutschen Bürgertums zu der Puppe umgebildet, der dann der Totenkopfschmetterling des Nationalsozialismus entschlüpft« sei.“696

Auf die latente Gewaltsamkeit der Vorstellung eines „absoluten Ich“ wird oft verwiesen. So schreibt

Nicolás Gómez Dávila: „Die Fanatiker der Freiheit enden als Theoretiker der Polizei. Die Doktrin

Fichtes zum Beispiel gipfelt in einer Theorie des Reisepasses.“697

Die Angemessenheit der Benjaminschen Deutung gegenüber Fichtes Schriften kann hier nicht beurteilt

werden; sie ist insofern marginal, als Benjamins Interesse sich weniger auf die Darstellung der

Fichteschen Reflexionstheorie als solcher richtet, als vielmehr auf ihre Differenzen zur romantischen

Theorie der Reflexion. Fichtes Philosophie wird den Romantikern nur als Kontrastfolie untergelegt.

Nur beim frühen Fichte findet Benjamin Parallelen zur Romantik. Auch der frühe Fichte will zunächst

694 Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. A.a.O.: S. 112. 695 Wilhelm Windelband: Die Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Kultur

und den besonderen Wissenschaften. Bd. 2. Die Blütezeit der deutschen Philosophie. Von Kant bis Hegel und Herbart. Leibzig 1911.

696 Gershom Scholem: Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft. A.a.O.: S. 83. 697 zit.n. Botho Strauß: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit. Nach-

wort zu George Steiner: Von realer Gegenwart. München/Wien 1990. S. 305-320. Hier: S. 315.

203

an Kant anknüpfen, Kants Philosophie auf eine neue, gefestigtere Grundlage stellen. Kants

„transzendentales Ich“, das „Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können“, wird bei

Fichte zum „absoluten Ich“, das seine Vorstellungen selbsttätig produziert. Dieser Schritt zieht die von

Kant getroffene Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft wieder ein. Die

theoretische Vernunft wird unter die praktische subsumiert. Wie für Schelling, so sind auch für Fichte

theoretische und praktische Vernunft nur Manifestationen eines einzigen Vermögens. Schelling nennt

es „Tätigkeit“, Fichte „Tathandlung“. Der §1 der „Grundlegung der gesamten Wissenschaftslehre“ von

1795 beginnt mit den Sätzen:

„Wir haben den absolut-ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz alles menschlichen Wissens aufzusuchen. Beweisen oder bestimmen läßt er sich nicht, wenn er absoluter Grundsatz sein soll. Er soll diejenige Tathandlung ausdrücken, die unter den empirischen Bedingungen unseres Bewußtseins nicht vorkommt, noch vorkommen kann, sondern vielmehr allem Bewußtsein zum Grunde liegt, und allein es möglich macht.“698

Der denknotwendige erste Grundsatz und Ursprung des Bewußtseins kann nicht in diesem selbst ge-

sucht werden, kann nicht bewußt bestimmt werden. Die Philosophie kann ihn nur aufsuchen und findet

ihn im Motiv der Tathandlung, das ein Motiv der praktischen Philosophie, die „Setzung“, mit einem

Motiv der theoretischen Philosophie, der „Reflexion“, später der „Anschauung“ vereinigt. Dazu be-

merkt Benjamin:

„Man kann die Fichtesche Tathandlung förmlich als eine Kombination dieser beiden unendlichen Aktionsweisen des Ich auffassen, in der sie ihre beiderseitige rein formale Natur, ihre Leerheit gegenseitig auszufüllen und zu bestimmen suchen: die Tathandlung ist eine setzende Reflexion oder ein reflektiertes Setzen.“ (GS1,22)

Indem es auf sich reflektiert oder sich anschaut, setzt sich das Ich, denn „Ichheit“ bedeutet im Frühide-

alismus wesentlich „Selbstbezüglichkeit“. Das reflektierte oder angeschaute Ich entspringt seiner Selbst-

reflexion oder -anschauung, wird in dieser konstituiert und damit gesetzt.

Die Reflexion in der ersten Tathandlung sei ein unvermitteltes „Sich-Haben“ des absoluten Ich; sie sei

unmittelbar. Diese Vorstellung einer Unmittelbarkeit der Reflexion, die der frühe Fichte mit den

Frühromantikern teilt, wird von Benjamin betont: „In der Frage der unmittelbaren Erkenntnis läßt sich

noch völlige Übereinstimmung der Frühromantiker mit Fichtes Position im ‘Begriff der

Wissenschaftslehre’ feststellen.“ (GS1,20) Wie wird diese Unmittelbarkeit der Reflexion in der ersten

Tathandlung für das bedingte Bewußtsein greifbar? Wie antwortet Fichte auf Jacobis Paradoxon? Auch

auf die erste Tathandlung läßt sich für den frühen Fichte mit Erfolg reflektieren. Die Instanz dieser

Reflexion bildet die Wissenschaftslehre. Diese reflektiere auf ihren Gegenstand, die Tathandlung. Auf

einer höheren Ebene verhalte sich die Wissenschaftslehre zur Tathandlung, wie sich die Tathandlung

zum empirischen Ich und zu den von ihr bedingten, gesetzten Gegenständen, dem Nicht-Ich, verhalte.

Die Wissenschaftslehre soll den Grundsatz des menschlichen Wissens aufsuchen, der die erste

Tathandlung ausdrücke. Die erste Tathandlung, die allem Gegenständlichen vorausliege, bezeichnet

Fichte auch aristotelisch als „Form“ alles Gegenständlichen. Die Wissenschaftslehre reflektiere auf eine

698 Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. Hamburg 1988. S. 11.

204

Form, die dadurch zu ihrem Gehalt werde. Die Tathandlung als Form des Gegenständlichen,

Bedingten, sei für die Wissenschaftslehre Gehalt. Fichte führt aus:

„Durch diese freie Handlung [- gemeint ist die Handlung des menschlichen Geistes „seine Handlungsart überhaupt zum Bewußtsein zu erheben“, also die Wissenschaftslehre -] wird nun etwas, das schon an sich Form ist, die notwendige Handlung der Intelligenz, als Gehalt in eine neue Form, die Form des Wissens oder des Bewußtseins aufgenommen, und demnach ist jene Handlung eine Handlung der Reflexion.“ (zit.n. GS1,20)

Die Wissenschaftslehre ist für Fichte eine Reflexion, die dem Dilemma der reflexiven Uneinholbarkeit

des unbedingten, sich selbst bedingenden absoluten Ich zu entkommen vermag. Die Wissenschaftsleh-

re wird somit zum Statthalter unmittelbarer Erkenntnis im Felde des bedingten Wissens. Benjamin

kommentiert diesen Sachverhalt wie folgt:

„Fichte meint also hier, eine unmittelbare und sichere Erkenntnis durch einen Zusammenhang zweier Bewußtseinsformen (der Form und der Form der Form oder des Wissens und des Wissens des Wissens), welche ineinander übergehen und in sich selbst zurückkehren, begründen zu können. Das absolute Subjekt, auf welches allein die Handlung der Freiheit sich bezieht, ist Zentrum dieser Reflexion und daher unmittelbar zu erkennen. Nicht um die Erkenntnis eines Gegenstandes durch Anschauung, sondern um die Selbsterkenntnis einer Methode, eines Formalen - nichts anderes repräsentiert das absolute Subjekt - handelt es sich.“ (GS1,21)

Diese Konzeption einer unmittelbaren Reflexion, auf die sich ein weiteres Mal unmittelbar reflektieren

läßt, hat Fichte später aufgegeben. Der Terminus „unmittelbare Reflexion“ gilt Fichte nach 1795 als

contradictio in adjecto. Er ersetzt ihn durch den Begriff der „intellektuellen Anschauung“. Schon Kant be-

trachtet Anschauung als den einzigen Garanten von Unmittelbarkeit. Die Konzeption einer intellektuel-

len Anschauung garantiert Fichte den Abschluß seines Systems, da er erkennt, daß die Reflexion auf die

Form (Tathandlung) als Form der Form (Wissenschaftslehre) auf höherer Ebene (Form der Form der

Form...) fortgesetzt werden könnte, prinzipiell unabschließbar sei. Fichte führt aus:

„Du bist Deiner Dir bewußt, sagst Du; Du unterscheidest sonach notwendig Dein denkendes Ich von dem im Denken desselben gedachten Ich. Aber damit Du dies könnest, muß abermals das Denkende in jenem Denken Objekt eines höheren Denkens sein, um Objekt des Bewußtseins sein zu können; und Du erhältst zugleich ein neues Subjekt, welches dessen, das vorhin das Selbstbewußtsein war, sich wieder bewußt sei. Hier argumentiere ich nun abermals wie vorher; und nachdem wir einmal nach diesem Gesetze fortzuschließen angefangen haben, kannst Du mir nirgends eine Stelle nachweisen, wo wir aufhören sollten; wir werden sonach ins Unendliche fort für jedes Bewußtsein ein neues Bewußtsein bedürfen, dessen Objekt das erstere sei und sonach nie dazu kommen, ein wirkliches Bewußtsein annehmen zu können.“ (zit.n. GS1,24)

Aufzuhören, sein System abzuschließen und definitiv letztzubegründen, war Fichtes erstes Ziel, darin bleibt er

Kant verpflichtet. Benjamin bemerkt dazu:

„Was in der Wissenschaftslehre abgeleitet werden soll, das ist und bleibt das Weltbild der positiven Wissenschaften. Die Frühromantiker lösen dieses Weltbild dank ihrer Methode völlig ins Absolute auf, und in diesem suchen sie einen anderen Inhalt als den der Wissenschaft“ (GS1,33/34).

Die Romantiker nehmen im Gegensatz zu Fichte an der Unabschließbarkeit der Reflexion keinen An-

stoß und stellen sie ins Zentrum ihres Denkens. Mit der Unendlichkeit der Reflexion können sie auch

Fichtes frühes Konzept einer Unmittelbarkeit der Reflexion auf eine andere Weise begründen. Eine

unendliche Reflexion kann keine Grenze mehr zulassen, an der sie auf eine transreflexive Anschauung

stoßen würde, die unmittelbarer wäre, als sie selbst. Wenn Novalis schreibt, „man will Nichtreflexion

durch Reflexion darstellen und kommt eben dadurch nie zur Nichtreflexion hin“ (N3,122), folgt daraus

205

keine Abwertung der Reflexion als mittelbarer, sondern die Verabschiedung der Idee einer nichtreflexi-

ven, anschauenden, unmittelbaren Erkenntnis. Ex negativo wird dadurch die Reflexion selbst unmittel-

bar und unendlich. Die Unendlichkeit der Romantik hat für Benjamin

„keinen Träger, die Romantiker kennen nichts Unendliches, sondern nur das Unendliche selbst. Das Unendliche ist das Universum, es ist das Wesen aller Dinge. Auf dieser romantischen Idee des Unendlichen beruht ein Typus der Dichtung, der wenig beachtet wird und auf Grund dessen allein das Verständnis für die deutschen Romantiker [...] erst gewonnen werden kann. [...] Die Dichtkunst der Romantik ist die Bewegung der Auflösung aller Erscheinungen ins Unendliche.“ (GS2,610)

Die historische Ausgangslage der nach-Fichteschen Philosophie kennzeichnet Benjamin als Bifurkation:

„Während der Reflexionsbegriff zur Grundlage der frühromantischen Philosophie wird, erscheint [...]

der Begriff des Setzens in seiner vollen Ausgestaltung in der Hegelschen Dialektik.“ (GS1,22) Am früh-

romantischen Begriff der Reflexion interessieren Benjamin weniger dessen Gemeinsamkeiten mit dem

Fichteschen als vielmehr seine Innovationen gegenüber dem Fichtes. Benjamin zielt darauf ab, die Be-

ziehungen des romantischen Reflexionsbegriffs

„zum Fichteschen eingehend klarzulegen; daß er von diesem abhängig ist, steht fest, kann aber für den vorliegenden Zweck nicht genügen. Hier kommt es darauf an, genau zu vermerken, wie weit die Frühromantiker Fichte folgen, um deutlich zu erkennen, wo sie sich von ihm trennen.“ (GS1,19)

In einer Fußnote zu diesem Passus heißt es weiter: „In diesem Zusammenhang handelt es sich nicht

um nähere Bestimmung des übrigens klar zutage liegenden Abstammungsverhältnisses, sondern um

den Erweis der wenig beachteten erheblichen Differenzen zwischen beiden Gedankenkreisen“

(GS1,19/20). Benjamin möchte „die Ansicht von der durchgängigen Abhängigkeit frühromantischer

philosophischer Theoreme von Fichte in ihre rechten Grenzen einschränken“ (GS1,22).

Der für Benjamin wichtigste Unterschied zwischen der Fichteschen und der frühromantischen

Konzeption von Reflexion liegt im jeweiligen Verhältnis zur Unendlichkeit der Reflexion.

„Fichte ist überall bestrebt, die Unendlichkeit der Aktion des Ich aus dem Bereich der theoretischen Philosophie [der Reflexion] auszuschließen und in das der praktischen [der Setzung] zu verweisen, während die Romantiker sie gerade für die theoretische und damit für ihre ganze Philosophie überhaupt [...] konstitutiv zu machen suchen.“ (GS1,22)

Fichtes „System kann in seinem theoretischen Teil keinerlei Unendlichkeit dulden“ (GS1,25), da es

Fichte als Frühidealist um den Primat der menschlichen Freiheit, den Primat des Praktischen, geht. Die

Romantiker dagegen haben die Unendlichkeit der Reflexion nicht verworfen, sondern im Gegenteil ei-

nen „Kultus des Unendlichen“ (GS1,25) betrieben. Schlegel und Novalis geben in den letzten Jahren

des 18. Jhs den Fichteschen Anspruch einer philosophischen Letztbegründung einer zentralen meta-

physischen Präsenz auf. „Unendlichkeit“ der Reflexion meint ihre Unabschließbarkeit, ihren Verzicht

auf die Suche nach außerhalb ihrer selbst liegenden, letzten Gründen. Hierin drückt sich die spezifische

Modernität frühromantischen Denkens aus. Versteht man Moderne im Anschluß an Weber als „Ratio-

nalisierung“ bzw. „Entzauberung“ oder im Anschluß an Rorty als „Detranszendentalisierung“, dann ist

romantisches Denken modern. In dieser Diagnose treffen sich die Romantik-Bilder Bohrers, Oever-

206

manns, Brunkhorsts, Viettas und anderer. Auch Benjamin betrachtet die Romantik unter dem Aspekt

der Rationalisierung: Die „Romantik vollendet einen Prozeß, den das 18. Jahrhundert begonnen hatte:

die Säkularisierung der mystischen Tradition.“ (GS3,559)

Einen ganz anderen Begriff von Modernität verficht Frank im Anschluß an Henrich: „Die Moderne

entspringt in der [...] Erfahrung unverfüglichen Abhängigseins vom ‘Seyn’.“699 Mit „Seyn“ meint Frank

nicht die konkrete Faktizität der Geschichte oder Lebenswelt, sondern ein transreflexives Absolutum.

Die „Erfahrung“ der Abhängigkeit vom „Seyn“ verkauft er als genuin romantische Erfahrung. Die

„Initialidee, die [s]einer Ansicht nach die gemeinsame Grundüberzeugung der Frühromantik zum

Ausdruck bringt“, besteht für Frank „in der Annahme, Sein - als fugenlose Einerleiheit [...] - könne

nicht aus der [...] reflexiven Beziehung verständlich gemacht werden [...]“700, sondern bedürfe der

Kunst: „[...] im Schönen zeigt sich das Absolute, und es zeigt sich nur im Schönen.“701 Was Frank hier

im Anschluß an Fichte, Schelling und Henrich „unverfügliches Sein“ oder „Absolutum“ nennt, ist

geistesgeschichtlich gesehen alles andere als das zentrale Paradigma modernen Denkens. Schnädelbach

bestimmt „Sein“ als Schlüsselbegriff des ersten, „ontologischen“ Paradigmas der neuzeitlichen

Philosophie, das vom zweiten, „mentalistischen“ Paradigma mit dem Schlüsselbegriff „Bewußtsein“

(Descartes) abgelöst wurde, auf welches ein drittes Paradigma folgte, dessen Schlüsselbegriffe

„Sprache“, „Sinnkritik“ und „Intersubjektivität“ (Peirce, Mead, Wittgenstein II, Austin) sind702. Daß die

Frühromantiker diesem dritten Paradigma wesentlich näher standen als dem ersten, soll hier vorgeführt

werden. Programmatisch heißt es in Friedrich Schlegels „Philosophischen Lehrjahren“: „Einen

absoluten Punkt, ein Ey für das Universum gibts nicht“ (KA18,409). Es scheint zumindest eine starke

Tendenz frühromantischen Denkens zu geben, die seiner Verrechnung auf das erste, ontologische

Paradigma neuzeitlicher Philosophie stark zuwiderläuft.

Den Übergang vom ersten und zweiten zum dritten Paradigma neuzeitlicher Philosophie vollziehen

Schlegel und Novalis vor allem in ihrer Auseinandersetzung mit Fichtes Idealismus. Die

paradigmatische Differenz zwischen Fichte und den Frühromantikern hat Benjamin erfaßt:

„Sein und Setzung hebt das romantische Denken in der Reflexion auf. Die Romantiker gehen vom bloßen Sich-Selbst-Denken als Phänomen aus; es eignet allem, denn alles ist Selbst. Für Fichte ist das Bewußtsein ‘Ich’, für die Romantiker ist es ‘Selbst’703, oder anders gesagt: bei Fichte bezieht sich die Reflexion auf das Ich, bei den Romantikern auf das bloße Denken, und gerade durch diese letzte Beziehung wird [...] der eigentümliche romantische Reflexionsbegriff konstituiert.“ (GS1,29)

699 Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. A.a.O.: S. 233. 700 a.a.O.: S. 140. 701 a.a.O.: S. 141. 702 Herbert Schnädelbach: Philosophie. In: Ekkehard Martens u. Herbert Schnädelbach (Hg.): Philosophie. Ein Grundkurs.

Reinbek bei Hamburg 1985. S. 37-76. 703 vgl. G.H. Meads Unterscheidung von „I“ und „Me“: „Das ‘I’ ist die Reaktion des Organismus auf die Haltungen anderer;

das ‘Me’ ist die organisierte Gruppe von Haltungen anderer, die man selbst einnimmt. Die Haltungen der anderen bilden das organisierte ‘Me’, und man reagiert darauf als ein ‘I’.“ (George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. A.a.O.: S. 218).

207

Die „Verunendlichung“ der Reflexion geht einher mit ihrer partiellen Befreiung vom mentalistisch ge-

dachten Ich. Die Romantiker kennen kein Subjekt mehr, das auf ein Objekt reflektiert, sondern nur

noch „bloßes Denken“, sich selbst reflektierende, sich in sich selbst unendlich brechende Reflexion, die

allem Seienden eignet, mit anderen Worten: außerhalb derer es kein Seiendes gibt. Die Reflexion, das

logisch Zweite, das Supplement eines Reflektierten, wird zum Ersten, das kein Erstes mehr ist. „Erst

mit der Reflexion“, so Benjamin, „entspringt das Denken, auf das reflektiert wird“ (GS1,39). Was Fich-

te der Reflexion in der ersten Tathandlung vorbehalten hat, ihre Produktivität, eignet bei den Romanti-

kern jeder Reflexion. Zumindest eine Tendenz frühromantischen Denkens läuft auf eine Verabschie-

dung jeder vorgängigen Präsenz, des Absoluten und des absoluten Ich hinaus. „Präsenz“ gibt es für

diese Tendenz frühromantischen Denkens nur in und durch mediale Repräsentation, durch Reflexion.

Daraus folgt aber keine „semontologische“ Verabschiedung der Realität des Repräsentierten, sondern

eine vorsichtige Verortung des Seienden (der Subjekte und Objekte) zwischen dem „re-“ und dem „-

prä-“ der „Repräsentation“, zwischen den Polen der Reflexion. Für die Frühromantik existiert keine der

Reflexion vorgängige Präsenz, aber sehr wohl eine Präsenz, die in noch zu bestimmender Weise im

Medium der Reflexion steht, zwischen ihren Polen schwebt.

Im frühromantischen Denken löst die „unendliche Reflexion“ die frühidealistische „intellektuelle

Anschauung“ als Schlüsselbegriff ab. Im 76. „Athenäums“Fragment heißt es zwar noch: „Die

intellektuelle Anschauung ist der kategorische Imperativ der Theorie“ (KA2,176) und im 216.

„Athenäums„-Fragment wird Fichtes Wissenschaftslehre neben der französischen Revolution und

Goethes „Wilhelm Meister“ zu den „größten Tendenzen des Zeitalters“704 gezählt. Gegensätzlich

äußert sich Schlegel zur „intellektuellen Anschauung“ kurz nach der Jahrhundertwende: „Eine

intellektuelle Anschauung gibt es bei uns nicht.“ (KA12,355) Der „Mechanismus der Reflexion“ geht

für Schlegel nun „überall nach allen Richtungen ins Unendliche“ (KA18,250). Für Benjamin ist es vor

diesem Hintergrund begreiflich „wie Schlegel in seiner Fichte-Rezension von 1808 [...] die früheren

Berührungen seines Kreises mit Fichte als ein Mißverständnis bezeichnen konnte“ (GS1,30).

704 Darauf, daß der Begriff der „Tendenz“ an dieser Stelle auch pejorativ gemeint sein kann, verweist Ernst Behler: Athe-

näum, Die Geschichte einer Zeitschrift. In: Athenäum, Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Reprographischer Nachdruck. Darmstadt 1983. Bd.3. S. 18.

208

4.1.8. Der philosophische Diskurs der Romantik

„Es können wunderbare Kunstwerke hier entstehen - wenn man das Fichtisieren erst artis-tisch zu treiben beginnt.“

Novalis (N2,524)

Der eigentliche Bruch zwischen Fichte und dem Kreis der Frühromantiker geht von den „Fichte-

Studien“ (1795-1796) des Novalis aus, die den Beginn einer eigenständigen frühromantischen Philoso-

phie markieren. Novalis lernt Fichte vor Beginn seiner „Studien“ im Mai 1795 in Jena zusammen mit

Hölderlin im Hause Niethammers persönlich kennen705. Die „Fichte-Studien“ sind ein Korpus von

Fragmenten, teils paraphrasierender, teils kommentierender und teils kritisierender Art, die Novalis be-

gleitend zu seinen Fichte-Lektüren706 niederschreibt. Ihre Form „unterscheidet sich sprachlich [...] sehr

stark von derjenigen der [späteren] Fragmente. Mit dem Fragment als Kunstform beschäftigt sich Nova-

lis erst im Herbst 1797 auf Anregung Friedrich Schlegels“707. Der Textstatus der „Fichte-Studien“ ist

problematisch. Es ist nicht immer eindeutig, in welchen Fragmenten Novalis Fichte nur referiert, in

welchen er Kritik übt und in welchen er eigene Positionen formuliert. Frank rechnet die „Fichte-

Studien“ zu den „schwierigsten Texten der deutschen Philosophie“708 und gleichzeitig zu den bedeu-

tendsten. Er sieht ihre Bedeutung nicht in der an Fichte geübten Kritik, sondern in einer angeblichen

„Radikalisierung“709 der Fichteschen Idee einer intellektuellen Anschauung. Diese Radikalisierung meint

Frank in der „Ordo-inversus-Lehre“ zu finden. Nach dieser würde „strenge Identität [...] gleichsam aus

dem Bewußtsein emigrieren und eine nicht nur präreflexive, sondern sogar bewußtseinstranszendente

Position einnehmen. Das ist in die Tat die Konsequenz, zu der [...] Friedrich von Hardenberg ge-

lang[t].“710 Die „Ordo-inversus-Lehre“ ist im Gegensatz zu Franks Auffassung nicht die letzte Position

der „Fichte-Studien“. Novalis entwickelt sie zu Beginn der „Studien“ als Versuch, Fichtes Problemstel-

lung immanent, innerhalb des Paradigmas der Fichteschen Philosophie zu lösen. Im Verlauf der „Stu-

dien“ erfolgt zunehmend eine Distanzierung von diesem Paradigma. Novalis kommt zu Einsichten, die

sich in keiner Weise mehr vom Standpunkt des „Seins“ oder „Bewußtseins“ begreifen lassen. Insofern

finden sich innerhalb der „Studien“ eine Reihe widersprüchlicher Aussagen. Diese mögen Novalis zu

folgender Selbstkritik bewogen haben:

705 vgl. dazu Hans-Joachim Mähls „Einleitung“ zu den „Fichte-Studien“ in: N2,31ff. 706 „Aus den Fichte-Studien kann [...] eine genauere Kenntnis folgender Werke erschlossen werden: ‘Über den Begriff der Wis-

senschaftslehre oder der sogenannten Philosophie’ (1794), ‘Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre’ (1. und 2. Teil 1794, 3. Teil 1795), ‘Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten’ (1794), ‘Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre, in Rücksicht auf das theoretische Vermögen’ (1795), ‘Von der Sprachfähigkeit und dem Ur-sprung der Sprache’ (Phil. Journal Bd.I,1795)“. Hans-Joachim Mähl: Einleitung. A.a.O.: N2,31.

707 Hans-Joachim Mähl: Einleitung. A.a.O.: N2,90. 708 Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. A.a.O.: S. 248. 709 Manfred Frank: „Intellektuale Anschauung“. Drei Stellungnahmen zu einem Deutungsversuch von Selbstbewußtsein:

Kant, Fichte, Hölderlin/Novalis. In: Ernst Behler und Jochen Hörisch (Hg.): Die Aktualität der Frühromantik. Pader-born 1987. S. 96-126. Hier: S. 96.

710 a.a.O.: S. 119.

209

„Ich bin zu sehr an der Oberfläche - nicht stilles, innres Leben - Kern - von innen aus einem Mittelpunct heraus wirkend - sondern an der Oberfläche - im Zickzack - horizontal - unstät und ohne Karakter - Spiel - Zufall - nicht gesetzliche Wirkung - Spur der Selbständigkeit - Äußerung Eines Wesens.“ (N2,257)

Liegt hier tatsächlich eine Selbstkritik vor? Privilegiert Novalis den „Kern“ gegenüber der „Oberflä-

che“, das „innere Leben“ gegenüber dem „Tod“, den „Mittelpunct“ gegenüber der „Peripherie“, die

„Gerade“ gegenüber der „Zickzacklinie“, die „Vertikale“ gegenüber der „Horizontale“, den „Ernst“

gegenüber dem „Spiel“ und die „Notwendigkeit“ gegenüber dem „Zufall“? Die „Identität“ gegenüber

der „Differenz“, das „Eigentliche“ gegenüber dem „Uneigentlichen“? Ist Novalis Idealist? Die „Stu-

dien“ belegen das Gegenteil. Ihre zerstreute und disparate Form ist ihrem Inhalt nicht nur äußerlich.

Die idealistische Terminologie von Novalis darf nicht dazu verleiten, seine Philosophie als eine idealis-

tische zu bezeichnen.

Die „Studien“ als Ganze haben den „Charakter eines Selbstgespräches“711. Trotz ihres disparaten

Charakters läßt sich durchaus ein roter Faden rekonstruieren, eine im Verlaufe der Lektüre

zunehmende Distanzierung von der Position Fichtes. „Was verstehn wir unter Ich?“ fragt Novalis

zunächst vorsichtig, „hat Fichte nicht zu willkührlich alles ins Ich hineingelegt? mit welchem Befugniß?

Kann ein Ich sich als Ich setzen, ohne ein anderes Ich oder Nichtich.“ (N2,107) Novalis bezweifelt, daß

ein Ich sich als Ich setzen kann. Das Ich ist für ihn immer ein bedingtes Ich; bedingt allerdings nicht,

wie Frank behauptet, durch ein transreflexives Absolutum, sondern durch ein „anderes Ich“. Das Ich

individuiert sich nur durch seine Vergesellschaftung: „Ich ist jenes Bestimmbare zwischen der Gattung

und dem Individuo“ (N2,253). In den „Materialien zur Enzyklopädistik“ von 1798/99 greift Novalis

diesen Gedanken wieder auf: „Je mannichfacher Etwas individualisiert ist - desto mannichfacher ist

seine Berührung mit anderen Individuen.“ (N3,261) Novalis nimmt das Konzept einer „Individuierung

durch Vergesellschaftung“ vorweg, mit dem George Herbert Mead zu Beginn unseres Jahrhunderts die

von Descartes bis Husserl dominierende mentalistische Bewußtseinsphilosophie kritisiert. Das

Bewußtsein ist für Novalis und Mead nicht etwas, was den Menschen a priori, von Geburt an, gegeben

ist, sondern das Produkt der Internalisierung eines reziproken „role-taking“. In der Kritik am

frühidealistischen Ich-Purismus treffen sich die Jenenser Romantiker auch mit Goethe, der gegenüber

den spekulativen Versuchen Fichtes, Schellings und Hegels Zeit seines Lebens an einem „Common-

sense“-Empirismus und Materialismus festhält. Der Idealismus kommt Goethe vor wie

„eine List geheim verbündeter Priester, die den Menschen durch unerreichbare Forderungen verwirren und von der Tätigkeit gegen die Außenwelt zu einer innern falschen Beschaulichkeit verleiten wollten. Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird. Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.“ (WA,II,11,59)

Goethe und die Romantik richten ihr Interesse weniger auf das „Ich an sich“ als auf das Individuum,

den je besonderen Menschen.

711 Hans-Joachim Mähl: Einleitung. A.a.O.: N2,93.

210

„Während Fichte die erste Form des Individualismus damit festgelegt hat, daß »ein Vernunftwesen

schlechthin ein Individuum sein müsse, aber nicht eben dieses oder jenes bestimmt«712, rückt der Ak-

zent nun [bei Goethe] gerade auf das Bestimmtsein des Individuums, darauf, daß ein jedes jedem ande-

ren gegenüber ein Unverwechselbares, Einziges ist.“ Dem Übergang vom „Ich an sich“ zum geschicht-

lichen Individuum entspricht bei Goethe und den Romantikern ein Übergang von der Spekulation zum

Verstehen. Mit der Entdeckung des Individuums entsteht um 1800 die Hermeneutik. Als eine solche

beschreibt Benjamin die Erkenntnistheorie von Novalis, die am Paradigma intersubjektiver Erfahrung

gewonnen ist:

„Das Erkanntwerden eines Wesens durch ein anderes fällt zusammen mit der Selbsterkenntnis des Erkanntwerdenden, mit der des Erkennenden und mit dem Erkanntwerden des Erkennenden durch das Wesen, das er erkennt. Das ist die genaueste Form des Grundsatzes der romantischen Theorie der Gegenstandserkenntnis.“ (GS1,58)

Reflexion entpuppt sich insofern als internalisierte Kommunikation. Die cartesische Unterscheidung

zwischen „res cogitans“ und „res extensa“, zwischen „Innen“ und „Außen“ wird von Novalis eingezogen.

Er erklärt die „Bildung der Sprache des Bewußtseyns“ als „Fertigkeit, sich mit sich selbst zu bespre-

chen. Unser Denken ist also eine Zweysprache“ (N2,611). Das Bewußtsein ist nicht mehr gekennzeich-

net durch absolute und vorreflexive Selbstidentität, sondern entspringt einer Differenz mit sich selbst,

die erst mit der Internalisierung des Anderen möglich wird. „Das ächte Individuum“ ist für Novalis das

„Dividuum“ (N3,451). Schon bei Novalis kündigt sich der Übergang vom „Bewußtseins- zum Verstän-

digungsparadigma“713 an, der zu Beginn unseres Jahrhunderts von Autoren wie Peirce und Mead voll-

zogen wurde. „Identität entwickelt sich“ auch für Mead nur „innerhalb des gesellschaftlichen Erfah-

rungs- und Tätigkeitsprozesses, das heißt im jeweiligen Individuum als Ergebnis seiner Beziehungen zu

diesem Prozeß als Ganzem und zu den anderen Individuen innerhalb dieses Prozesses“714. Mead entwi-

ckelt seine Kritik des mentalistischen Ich-Begriffes715 wie Novalis in Auseinandersetzung mit Fichte716.

Das Ich steht für Novalis und Mead nicht vor der Sprache, sondern konstituiert sich erst im (vorgängi-

gen) Medium sprachlicher Reflexion, in einer sprachlich verfaßten Lebenswelt. „Ist Sprache zum Den-

ken unentbehrlich“ (N2,257), fragt sich Novalis in den „Fichte-Studien“, um sich in den „Materialien

zur Enzyklopädistik“ zu antworten: „Denken ist Sprechen. Sprechen und thun oder machen sind Eine

nur modificirte Operation.“ (N3,297) Sprache gilt bei Novalis nicht nur als „ergon“, sondern als „ener-

geia“, eine Tätigkeit, und ist als solche universell und unhintergehbar. Sie ist die Welt, in der der Mensch

lebt und die den Menschen erst zum Menschen macht, sie ist wie ein Gott. „Gott [...] ist die personifi-

cirte Gattung [Menschheit] [...]. [Er] ist alles, [er] ist überall; In ihm leben, weben und werden wir seyn“

712 Georg Simmel: Goethe. Leipzig 41921. S. 160. 713 Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken. A.a.O.: S. 31. 714 George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. A.a.O.: S. 177. 715 In jüngster Zeit wurden die sinnkritischen Argumente Meads von Habermas gegen Henrichs Versuch einer Restituierung

der Metaphysik im Anschluß an Fichte aktualisiert; vgl. Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken. A.a.O.: S. 18ff. 716 Mead knüpft an die Eingangsparagraphen der „Grundlage des Naturrechts“ (1796) an, in denen sich der Ansatz einer

Theorie der Intersubjektivität findet.

211

(N2,249). „Gott“ bedeutet für Novalis kein transmundanes, metaphysisches Prinzip, sondern die „per-

sonificirte Gattung“, den „verallgemeinerten Anderen“, von dem Mead spricht: „Die organisierte Ge-

meinschaft oder gesellschaftliche Gruppe, die dem Einzelnen seine einheitliche Identität gibt, kann ‘der

verallgemeinerte Andere’ genannt werden. Die Haltung dieses verallgemeinerten Anderen ist die der

ganzen Gemeinschaft“717.

Novalis wirft Fichte zurecht Intersubjektivitäts- und Sprachvergessenheit vor, denn Intersubjektivität

und Sprache sind komplementäre Begriffe. Als „Vorarbeit des Wissenschaftslehrers“ wäre eine „Kritick

der Sprache“ (N3,384) vonnöten gewesen. Die romantische „Kritik“ ist keine „Kritik der reinen

Vernunft“, sondern eine Kritik der Sprache. Aus der Perspektive der Sprachphilosophie ließe sich

Fichtes Konzept von Subjektivität in ein Konzept von Intersubjektivität transformieren: „Fichtens Ich

- ist ein Robinson - eine wissenschaftliche Fiction - zur Erleichterung der Darstellung und Entwicklung

der Wissenschaftslehre.“ (N3,405) Die „intellektuelle Anschauung“ weicht in der Moderne dem

profanen (oder doch nicht so profanen) Blick in die Augen des Anderen. Dem solipsistischen Ich in

Fichtes Wissenschaftslehre entspricht nichts. Es wird von Novalis sinnkritisch dekonstruiert. „Das Ich

können wir nun wegstreichen“ (N2,150), heißt es radikaler, als es letztlich gemeint ist. Es geht Novalis

nämlich nicht um eine Verabschiedung des Subjekts, sondern um die Verabschiedung eines

hypertrophen Konzepts von Subjektivität als letzter, metaphysischer Bezugsgröße von Philosophie. „Ich

- ist vielleicht, wie alle Vernunftideen blos regulativen, classificirenden Gebrauchs - Gar nicht in

Beziehung zur Realität.“ (N2,258) Das Ich sei nur eine regulative Idee, weil es nicht „an sich“ sei,

sondern nur in seiner und durch seine Relation zu anderen: „Nichts in der Welt ist blos; Seyn drückt nicht

Identität aus [...]. Ich bin - heißt ich befinde mich in einer allgemeinen Relation, oder ich wechsle - Es

[Seyn] ist Glied des Wechsels überhaupt [...] - erstes Spiel“ (N2,247). Das Ich sei nur, indem es sich

selbst überschreite. Es „produziere“ sich nicht in einer Selbstsetzung, sondern in einer radikalen

Selbstentäußerung: „Ich bin nicht inwiefern ich mich setze, sondern inwiefern ich mich aufhebe - Ich

bin nicht, inwiefern ich in mir bin, mich auf mich selbst anwende.“ (N2,196) Franks Behauptung, die

Leistung der „Fichte-Studien“ läge im Nachweis einer transreflexiven „strengen Identität“718, deren

Identitätsgrad noch höher als der des Fichteschen unmittelbaren Sichhabens in der intellektuellen

Anschauung sei, erweist sich vor diesem Hintergrund als unhaltbar. „Die Identität ist ein subalterner

Begriff“ (N2,187), behauptet Novalis dagegen. „Jedes ist nur das auf seinem Platze, was es durch die

andern ist“ (N2,109) fährt er fort. „Seyn“ ist für Novalis kein absoluter, sondern „ein relativer Begriff -

Grund aller Relation“ (N2,219). „Seyn“ sei nur in und durch Reflexion möglich. Als Philosoph betreibt

Novalis keine Ontologie, sondern eine Hermeneutik. „Wir erkennen nur, was ist und es ist nur, was wir

erkennen [...]. Keins von Beyden ist das Erste, noch das Zweyte.“ (N2,248) Auch die

Lebensphilosophie folgt der Romantik in ihrer Kritik am „reinen Ich“ des Idealismus, welches vor

717 George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. A.a.O.: S. 196. 718 Manfred Frank: „Intellektuale Anschauung“. A.a.O.: S. 248.

212

jeder Vergesellschaftung bestehen solle. Spengler merkt an „Cogito ergo sum ist Unsinn“ (FdW.,34) und

führt an anderer Stelle aus:

„Das Du ist älter als das Ich. Man hat zuerst die »Seele« des andern physiognomisch verstanden. Viel später erst hat man angefangen, diese Erfahrung auf die eigne anzuwenden. Nachdenken über sich selbst statt instinktivem Tun ist schon strak durchgeistigt. [...] Seelische Einsamkeit ist Ausdruck dieses Mitsichlebens.“ (Ufr.,159)

Aus der Perspektive Benjamins liegt für die Frühromantiker „der Gegenstand wie alles Wirkliche [...] im

Reflexionsmedium“ (GS1,54). Dem Begriff des „Reflexionsmediums“ kommt für Benjamin ein „Dop-

pelsinn“ zu, dem nicht einfach eine „Unklarheit“ zugrunde liegt: „Denn einerseits ist die Reflexion

selbst ein Medium - kraft ihres stetigen Zusammenhanges, andererseits ist das fragliche Medium ein

solches, in dem die Reflexion sich bewegt - denn diese [...] bewegt sich in sich selbst.“ (GS1,36) Das

romantische „Reflexionsmedium“ ähnelt in Benjamins Darstellung sehr dem „Bewußtsein“, das sich als

„medial“ in einem doppelten Sinne beschreiben läßt. Fellmann weist darauf hin,

„daß das Bewußtsein wesentlich semiotisch ist, daß es [...] medialen Charakter besitzt. Diese Deutung berücksichtigt den Doppelsinn des Wortes Medium, das nicht nur semantisch einen Bedeutungsträger bezeichnet, sondern auch pragmatisch einen Zustand, in dem sich Vorgänge abspielen [...]. In diesem zweiten Sinne ist Medium identisch mit Milieu [...]. Eine solche Auffassung des Bewußtseins bricht mit dem traditionellen Dualismus von Subjekt und Objekt und macht die Mitte, das Medium, zum logischen Raum der hermeneutischen Bedeutungslehre.“719

Dieser Charakterisierung des menschlichen Bewußtseins würden die Romantiker zustimmen. „Bewußt-

sein“ ist für Novalis ein „nothwendiges Medium des Wechsels“ (N2,264). Die Kraft, die den Wechsel

antreibe, sei die „Einbildungskraft [...],das verbindende Mittelglied - die Synthese - die Wechselkraft.

Wechselkraft. Kraft ist Wechsel - Wechsel ist Kraft“ (N2,186). Diese Wechselkraft wird von den Ro-

mantikern nicht auf das menschliche Bewußtsein beschränkt, sondern universalisiert. Benjamin spricht

von einer „Ich-freie[n] Reflexion“ (GS1,40), deren „Mittelpunkt [...] im frühromantischen Sinne [...] die

Kunst, nicht das Ich“ (GS1,39) sei. In diesem Reflexionsmedium gibt es für Benjamin „in der Tat keine

Erkenntnis eines Objekts durch ein Subjekt“ (GS1,58), sondern nur die Möglichkeit einer „Steigerung

der Reflexion“ (GS1,57), die das Kunstwerk leistet. Bis zu genau diesem Punkt schließt sich Benjamin

der frühromantischen Theorie der Reflexion an.

„Im rein kritischen logischen Interesse wäre zwar eine weitere Bearbeitung dieser Theorie an den Grenzen, wo die Romantiker sie im Dunkel gelassen haben, zu wünschen; es ist aber zu befürchten, daß eine solche Bearbeitung auch tatsächlich nur ins Dunkel führen würde.“ (GS1,57)

Letztlich bleibt Benjamin gegenüber einem Konzept universaler Reflexion skeptisch. Er interessiert

sich für den Reflexionsbegriff in seiner begründenden Funktion für den romantischen Begriff der

Kunst und Kunsterkenntnis sowie in seiner kritischen Stoßrichtung gegen idealistische Substantialis-

men wie dem „absoluten Ich“. In dieser kritischen Rolle soll er zunächst weiter dargestellt werden, be-

vor auf seine Relevanz für die Theorie der Kunst und Kunstkritik eingegangen wird.

Alles, was ist, ist für die Romantiker schon reflektiert oder, hermeneutisch gesprochen, sinnhaft

719 Ferdinand Fellmann: Symbolischer Pragmatismus. A.a.O.: S. 15.

213

vorkonstituiert. Reflexion auf einen Gegenstand sei immer schon zweite Reflexion, da der Gegenstand

stets bereits in einer Reflexion gegeben sei: „jede Reflexion setzt die andre voraus - Es ist eine

Handlung des Brechens“ (N2,213). Fichtes zweite Reflexion, sein „Denken des Denkens“ wird so bei

den Romantikern zu einer dritten, zu einem „Denken des Denkens des Denkens“. Fichtes erstes

Denken, ein Denken eines nicht schon gedachten X, einer vorgängigen Präsenz, ist innerhalb der

frühromantischen Theorie unendlicher Reflexion nicht mehr möglich. In der dritten Reflexionsstufe,

dem „Denken des Denkens des Denkens“, sieht Benjamin etwas prinzipiell Neues gegenüber Fichtes

zweiter Reflexion:

„Das Denken des Denkens des Denkens kann auf zweifache Art aufgefaßt und vollzogen werden. Wenn man von dem Ausdruck ‘Denken des Denkens’ ausgeht, so ist dieser auf der dritten Stufe entweder das gedachte Objekt [...] oder aber das denkende Subjekt [...]. Die strenge Urform der Reflexion des zweiten Grades ist durch die Doppeldeutigkeit im dritten erschüttert und angegriffen.“ (GS1,31)

Diese nicht zu schlichtende Mehrdeutigkeit der dritten Reflexion, einer Gleichung mit drei Unbekann-

ten, stiftet deren Unendlichkeit. Die Reflexion wird zum nichtabsoluten Absolutum. Benjamin spricht

von der „Auflösung der eigentlichen Reflexionsform gegen das Absolutum“ (GS1,31) und fährt fort:

„Die Reflexion konstituiert das Absolute, und sie konstituiert es als Medium.“ (GS1,37)

Die Absolutheit und Unendlichkeit der Reflexion bei den Frühromantikern meint ihre

Unabschließbarkeit. Es gibt für Schlegel und Novalis kein höchstes Telos, keine erste Ursache und

keinen letzten Grund der Reflexion mehr. Benjamin spricht vom „Indifferenzpunkt der Reflexion, an

dem [sie] aus dem Nichts entspringt“ (GS1,63) sowie von einem „absoluten neutralen Ursprung der

Reflexion“ (GS1,64). Die frühromantische Philosophie könnte auch als antimetaphysischer

„Reflexionsnaturalismus“ bezeichnet werden, der kritisch auf die frühidealistische

Ursprungsphilosophie reagiert. Die frühromantische Aufhebung jeden Ursprungs in Reflexion und

Sprache hat auch Benjamins heraklitäische Theorie des Ursprungs, die er in der „Erkenntniskritischen

Vorrede“ des Trauerspiel-Buchs entfaltet, angeregt. Dort steht zu lesen: „Im Ursprung wird kein

Werden des Entsprungenen, vielmehr dem Werden und Vergehen Entspringendes gemeint. Der

Ursprung steht im Fluß des Werdens als Strudel und reißt in seine Rhythmik das Entstehungsmaterial

hinein.“ (GS1,226) Nicht der Fluß des Werdens entspringt dem Ursprung, sondern der Ursprung steht

im Fluß des Werdens. Der Fluß des Werdens hat keine Quelle jenseits seiner selbst, er entspringt seinen

eigenen Strudeln, wie die Reflexion stets nur aus sich selbst hervorgeht. In den „Nachträgen zum

Trauerspielbuch“ rückt Benjamin seinen Begriff des Ursprungs in die Nähe des Goetheschen

„Urphänomens“:

„Bei dem Studium von Simmels Darstellung des goetheschen Wahrheitsbegriffs, insbesondere an seiner ausgezeichneten Erläuterung des Urphänomens, wurde mir unwidersprechlich deutlich, daß mein Begriff des »Ursprungs« im Trauerspielbuch eine strenge und zwingende Übertragung dieses goetheschen Grundbegriffs aus dem Bereich der Natur in das der Geschichte ist.“ (GS I, 953/954)

Motive einer Kritik an ursprungsphilosophischem Denken, wie sie sich in unserem Jahrhundert bei so

unterschiedlichen Autoren wie Wittgenstein, Adorno und Derrida finden, sind in den frühromantischen

214

Texten schon angelegt. Auf die Verwandtschaft der frühromantischen Kritik der Ursprungsphilosophie

mit derjenigen Derridas wird in jüngster Zeit oft verwiesen, so z.B. von Menninghaus:

„In Anlehnung an Derrida könnte man die Gestalt der Reflexion als eine Gestalt der différance im Doppelsinn von Differenz und Aufschub beschreiben. Allein durch die ‘Grundsetzungen’ in der Reflexion, durch ein differentielles ‘Spiel’ (N2,247) werden die Relata der Reflexion als das, was sie sind, konstituiert. Und diese ‘Handlung des Brechens’ (N3,213) vermag eine Selbstausstreichung ihrer Differentialität nie zu erreichen, [sie] ist deshalb der unendliche Aufschub absoluter Identität.“720

Was in der Reflexion sei, sei nie an sich, nie identisch mit sich, sondern gebrochen durch die Unend-

lichkeit seiner reflexiven Beziehungen, die es konstituieren. Die frühromantische Reflexion ist auch

keine leere, ewige Widerspiegelung des Gleichen. Benjamin bestimmt sie als eine „erfüllte Unendlich-

keit des Zusammenhanges [...]: es sollte in ihr alles auf unendlich vielfache Weise [...] zusammenhän-

gen.“ (GS1,26) Diese Idee eines Reflexionskontinuums als eines unendlichen Zusammenhangs hat ei-

nen Vorläufer in Karl Philipp Moritz. In dessen kunstphilosophischer Hauptschrift „Über die bildende

Nachahmung des Schönen“ von 1788 wird die Natur als unendlicher Zusammenhang aufgefaßt, in

dem es keine einzelnen, dem Zusammenhang vorgängigen Dinge gebe, in dem die Dinge nur durch

den Zusammenhang konstituiert würden: „Denn dieser große Zusammenhang der Dinge ist doch ei-

gentlich das einzige, wahre Ganze, jedes einzelne Ganze in ihm ist wegen der unauflöslichen Verket-

tung der Dinge nur eingebildet.“721 Für Moritz gibt es keine „Dinge an sich“ vor oder außerhalb ihrer

Verkettung. „Der Terminus Objekt“, schreibt auch Benjamin, „bezeichnet nicht eine Beziehung in der

Erkenntnis, sondern eine Beziehungslosigkeit und verliert seinen Sinn, wo immer eine Erkenntnisrela-

tion an den Tag tritt.“ (GS1,58) Die Unendlichkeit des Zusammenhangs der Dinge übersteigt nach Mo-

ritz unsere Fassungskraft und muß deshalb durch ein „Verkleinerungsglas“ auf die Oberfläche eines

Gegenstands, eines Kunstwerks, projiziert werden, um angeschaut werden zu können. Diese Konstruk-

tion erinnert an die Stellung des Kunstwerks in Schellings „System des transzendentalen Idealismus“,

sie unterscheidet sich von dieser durch die Qualität des in Kunst Ausgedrückten. Handelt es sich bei

Schelling um ein die Dinge und deren Zusammenhang erst bedingendes, im strengen Sinne „nicht-

seiendes“ Absolutum, so ist es bei Moritz der Zusammenhang, der die Dinge bedingt, das Medium der

Relationen, das die Relata konstituiert. In Kunst offenbart sich für Moritz das unendliche, differentielle

Wechselspiel der Dinge, das jeden möglichen anderen Beobachtungsstandpunkt auf es als Ganzes aus-

schließt. So wie sich für Moritz im Kunstwerk der „große Zusammenhang der Dinge“ spiegelt, so be-

stimmt Benjamin das Kunstwerk im Anschluß an die Romantik als „Reflexionszentrum“ (GS1,73): „Im

frühromantischen Sinne ist der Mittelpunkt der Reflexion die Kunst, nicht das Ich.“ (GS1,39) Das

Kontinuum der Reflexion oder der Horizont der Sichtbarkeit, in dem alle Dinge immer schon einbeg-

riffen sind, kann sich nur im Kunstwerk ausdrücken. In hermeneutische Begriffe übersetzt, wird sich

720 Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung. A.a.O.: S. 77. 721 Karl Philipp Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen. In: Ders.: Werke in zwei Bänden. Hg. v. Jürgen Jahn.

Berlin und Weimar 1981. Bd.1. S. 246-278. Hier: S. 256.

215

diese Konzeption des Kunstwerks als eines Reflexionsmediums, wie noch gezeigt werden soll, mit der

Theorie ästhetischer Weltweisenartikulation decken, die im Kapitel 1. dieser Arbeit vorgestellt wurde.

Das Verhältnis des frühromantischen „Reflexionsmediums“ zum Begriff der Kunst bleibt in Benjamins

Darstellung ambivalent. In manchen Formulierungen läßt er anklingen, daß die Kunst nur eine

Bestimmung des Reflexionsmediums unter anderen sei; so auf Seite 62: „Die Kunst ist eine

Bestimmung des Reflexionsmediums, wahrscheinlich die fruchtbarste, die es empfangen hat.“ (GS1,62)

An anderen Stellen findet Benjamin sie „durch andere Bezeichnungen substituiert“, das

„Reflexionsmedium“ erscheint auch

„als Bildung, bald als Harmonie, als Genie oder Ironie, als Religion, Organisation oder Geschichte. Und es soll nicht geleugnet werden, daß in anderen Zusammenhängen es wohl denkbar wäre, eine der anderen Bestimmungen [...] jenem Absolutum, wofern nur sein Charakter als Reflexionsmedium gewahrt bliebe, einzuzeichnen“ (GS1,44).

Benjamin behauptet ebenfalls, daß „die Kunst als das absolute Reflexionsmedium die systematische

Grundkonzeption der „Athenäums“-Zeit ist“ (GS1,44). Hier identifiziert er das Reflexionsmedium mit

der Kunst. Diese Ambivalenz hat ihre Grundlage in den frühromantischen Texten:

„Selbstverständlich wäre es völlig verfehlt, bei den Romantikern nach einem besonderen Grund zu suchen, aus dem sie die Kunst als ein Reflexionsmedium betrachten. Für sie war diese Deutung alles Wirklichen, also auch der Kunst, ein metaphysisches Credo.“ (GS1,62)

Bei Novalis finden sich sowohl Belege für eine „Verabsolutierung“ der Kunst als auch für einen absolu-

ten Primat der Reflexion, die dem Kunstwerk übergeordnet sei. Programmatisch formuliert er: „Die

Poesie ist das ächt absolut Reelle. Dies ist der Kern meiner Philosophie. Je poetischer, je wahrer.“

(N2,647) Der hier erhobene Souveränitätsanspruch der Kunst wird von anderen Fragmenten demen-

tiert, welche die Reflexion jenseits der Grenzen des Poetischen als das einzig „absolut reelle“ einführen.

Damit kommen wir noch einmal zurück auf die spezifisch moderne Komponente frühromantischen

Philosophierens, auf die im Reflexionskonzept angelegte Kritik an metaphysischer

Ursprungsphilosophie. Diese „Modernität der Romantik“ wird durch Benjamins Akzentuierung der

zentralen Rolle der Reflexion im frühromantischen Denken gestützt. „Alles Absolute muß“ für Novalis

„aus der Welt hinaus ostacieren. In der Welt muß man mit der Welt leben.“ (N2,395) Selbst wenn das

Absolute in diesem Fragment noch als denkmöglich thematisiert wird, erscheint es doch als für unser

unhintergehbar innerweltliches Leben irrelevant. Zur Ursprungslosigkeit der Reflexion merkt Novalis

an: „Die anscheinende Folge, oder die reale Reflexion begründet die Ursache.“ (N2,118) In der

Reflexion fallen Ursache und Folge ununterscheidbar zusammen. Als Erstes ist die Reflexion das

Zweite und als Zweites das Erste. „Aller wirklicher Anfang (ist) ein 2ter Moment.“ (N2,591) Und in

diesem Sinne heißt es gegen die „Wissenschaftslehre“: „Alles Suchen nach der Ersten [Thathandlung]

ist Unsinn.“ (N2,254) Für die Reflexion benutzt Novalis auch das Bild der „spielenden Personen, die

sich ohne Stuhl, blos eine auf der anderen Knie kreisförmig hinsetzen“ (N2,242), und spricht vom

Phänomen des „sich selbst auf die Schulter Springen(s) der Reflexierenden Kraft“ (N3,456). Er bezieht

216

damit den radikal nichtradikalen philosophischen Standpunkt der Immanenz. Weitere, mit der

Reflexion fast synonyme Bestimmungen seiner allgemeinen „Wechselrepräsentationslehre des

Universums“ (N3,266) sind für Novalis die Begriffe des „Lebens“ und des „Schwebens“:

„Alles Seyn, Seyn überhaupt ist nichts als Freyseyn - Schwebenzwischen Extremen, die nothwendig zu vereinigen und nothwendig zu trennen sind. Aus diesem Lichtpunct des Schwebens strömt alle Realität aus - in ihm ist alles enthalten - Obj(ect) und Subject sind durch ihn, nicht er d(urch) sie. [...] das Schweben - bestimmt, producirt die Extreme, das wozwischen geschwebt wird - Dieses ist eine Täuschung, aber nur im Gebiete des gemeinen Verstandes. Sonst ist es etwas durchaus Reales, denn das Schweben, seine Ursache, ist der Quell, die Mater aller Realität, die Realität selbst.“ (N2,266)

Die Welt wird von Novalis entrealisiert, ihre objektive Festigkeit wird in ein spielerisches Schweben

umgedeutet. Das Seiende ist nicht, sondern spielt sich ab, wird sich sein eigenes Spiegelkabinett. Dieses

Spiel der Spiegelungen ist kein anonymes, die Subjekte in sich verschlingendes Geschehen, keine Im-

manenz der Signifikanten, sondern eine Immanenz des Lebens: „Sollte es noch eine höhere Sfäre [als die

der Existenz] geben, so wäre es die zwischen Seyn und Nichtseyn - das Schweben zwischen beyden -

Ein Unaussprechliches, und hier haben wir den Begriff von Leben.“ (N2,106) Das Leben bedeutet für

Novalis das Unaussprechliche schlechthin, weil wir immer schon im Leben stehen. Wir können keinen

ihm jenseitigen Standpunkt einnehmen, von dem aus sich das Leben in irgendeiner Weise als Ganzes

verstehen oder klassifizieren ließe. Insofern ist das Leben auch nicht näher bestimmbar, selbst seine

Bestimmung als Leben ist strenggenommen verfehlt. Die Romantiker denken das Leben nicht als Sub-

stanz, sondern als reflexive Funktion. „Reflexion“ erkennen sie gleichzeitig als Struktur des Lebens und

als ersten Lebensverhinderer an. Die frühromantische Philosophie ist eine Philosophie des Lebens, für

die der Lebensbegriff nicht die vakante Stelle eines idealistisch gedachten Absolutums einnimmt, son-

dern mit der Idee eines solchen Absolutums bricht. Was „Leben“ für die Frühromantik bedeutet, zeigt

Bettine von Arnim in ihrem „Frühlingskranz“, wo „Leben“ sowohl „ich selber Bleiben“, als auch

„mich Durchreißen“ impliziert:

„Aber meine Seele ist eine leidenschaftliche Tänzerin, sie springt herum nach einer inneren Tanzmusik [...] und wenn der Tanz aus wär, dann wär’s mit mir aus. [...] Es ist [...] dumm, irgendeine Macht anzuerkennen über uns, als nur das Leben selbst, und [...] was auch in der Welt für Polizei der Seele herrscht, ich folg ihr nicht, ich stürze mich als brausender Lebensstrom in die Tiefe, wohin mich’s lockt. Ich! Ich! Ich! [...] Welches Menschenschicksal auch über mich komme, das ist mir [...] nicht von Gewicht, aber mich durchreißen, ich selber zu bleiben, das sei meines Lebens Gewinn.“722

An gleicher Stelle spricht Bettine von Arnim programmatisch von einer „Lebenseigenmacht“723. Das Le-

ben charakterisiert sich in der Romantik durch ein Suchen und Streben, das nie an ein Ende kommen

kann. „Nur in seinem Suchen selbst findet der Geist des Menschen das Geheimnis, welches er

sucht“724, schreibt Friedrich Schlegel in seinem Roman „Lucinde“. Die Definition des Lebens als infini-

tes Suchen und Streben ist vielleicht der Zentralgedanke der Frühromantik. Das „Romantische“ ist das

722 Bettine von Arnim: Clemens Brentanos Frühlingskranz. Aus Jugendbriefen ihm geflochten wie er selbst schriftlich ver-

langte. Frankfurt a.M. 1985. S. 64-66. 723 a.a.O.: S. 70. 724 Friedrich Schlegel: Lucinde. Stuttgart 1988. S. 96.

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methodisierte infinite Streben unseres Lebens: „Romantisieren ist nichts, als eine qualitative Potenzie-

rung“ (N2,545) des Lebens: „Das Leben ist etwas, wie Farben, Töne und Kraft. Der Romantiker stu-

diert das Leben, wie der Mahler, Musiker und Mechaniker Farbe, Ton und Kraft. Sorgfältiges Studium

des Lebens macht den Romantiker.“ (N3,466) „Romantik“, so lautete Novalis’ Gleichung, ist nichts

anderes als Lebensphilosophie, als Studium des Lebens. Novalis führt eine ganze Reihe sich wechselsei-

tig supplementierender Begriffe ein, um die alles Sein „umschließende Sfäre“ (N2,107) zu charakterisie-

ren: „Streben“, „Suchen“, „Schweben“, „Leben“, „Wechselrepräsentation“ und „Reflexion“ sind die

häufigsten. Eine endgültige Festlegung des Gemeinten kann aus logischen Gründen nicht erfolgen. Die

Offenheit seiner Philosophie ist die Konsequenz, die Novalis aus seiner modernen Einsicht in die Im-

manenz des „Lebens“ zieht.

„Die Welt wird dem Lebenden immer unendlicher - drum kann nie ein Ende der Verknüpfung des Mannichfaltigen, ein Zustand der Unthätigkeit für das denkende Ich kommen - Es können goldene Zeiten erscheinen - aber sie bringen nicht das Ende der Dinge - das Ziel des Menschen ist nicht die goldne Zeit - Er soll ewig existiren und ein schön geordnetes Individuum seyn und verharren - dis ist die Tendenz seiner Natur“ (N2,269).

Der Standpunkt der Immanenz gilt nicht nur für das Leben, sondern auch für die Geschichte. Novalis

bricht mit einer teleologisch-eschatologischen Geschichtsauffassung, die ein „goldenes Zeitalter“ als

Telos der Geschichte in die Zukunft projiziert. Gegenüber einer vorschnellen Identifikation der „Ro-

mantik“ mit „utopischem Messianismus“ ist daher Skepsis angebracht. Das von Hemsterhuis über-

nommene Theorem eines durch „Mythos“ und „Poesie“ gekennzeichneten „goldenen Zeitalters“ hat

bei Novalis einen ambivalenten Status. Zumindest ist die „goldene Zeit“ für ihn nichts auf die Ge-

schichte Folgendes, diese Beendendes, sondern soll sich in der Immanenz der Geschichte realisieren. Als

Hinweis darauf können die Notizen zur projektierten Fortsetzung des unvollendeten Romans „Hein-

rich von Ofterdingen“ gelesen werden, die in den sogenannten „Berliner Papieren“ niedergelegt sind.

Dort finden sich direkt nebeneinander folgende Notizen zum Romanende: „Es wird stiller einfacher

und menschlicher nach dem Ende zu“ und: „Hinten wunderbare Mythologie“725. Stehen die Adjektive

„still“, „einfach“ und „menschlich“ in einem Gegensatz zur „wunderbaren Mythologie“, erwägt Nova-

lis zwei Alternativen für das Ende des Romans oder ist die „wunderbare Mythologie“ still, einfach und

menschlich? Ist die „neue Mythologie“, die Novalis und Friedrich Schlegel vorschwebt, der Versuch

einer Restituierung vormoderner Rationalitätsformen, oder soll die „neue Mythologie“ eine moderne,

nicht nur inhaltlich, sondern auch kategorial neue Mythologie sein? Für Letzteres spricht vieles. „In ei-

nem Brief an Caroline Schlegel vom 27.2.1799 hat Novalis den „Übergang vom Unendlichen zum End-

lichen“ (N4,281) als Grundmotiv seines Romans charakterisiert“726. Der Weg in die „neue Mythologie“

wird zugleich ein „Übergang zum Endlichen“. Die „neue Mythologie“ ist nicht motiviert durch die

Sehnsucht nach einer verlorenen Transzendenz, sondern durch die Hoffnung, innerhalb der unhintergehba-

725 Novalis: Heinrich von Ofterdingen. A.a.O.: S. 184. 726 Jochen Hörisch: „Übergang zum Endlichen“. Zur Modernität des ‘Heinrich von Ofterdingen’. In: Novalis: Heinrich von

Ofterdingen. A.a.O.: S. 221-242. Hier: S. 237.

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ren Immanenz der Moderne selbst eine Transzendenz aufbrechen zu lassen. Der Motor dieser Hoffnung ist für die

Frühromantiker die Poesie und die, die Poesie potenzierende, Kritik.

Indem Novalis den modernen Standpunkt der Immanenz bezieht und als unhintergehbar erkennt,

transformiert er auch den Status von Philosophie. Ursprungsphilosophie wird abgelöst durch

nachmetaphysisches Denken:

„Filosofiren muß eine eigne Art von Denken seyn. Was thu ich, indem ich filosofiere? ich denke über einen Grund nach. Dem Filosofiren liegt also ein Streben nach dem Denken eines Grundes zum Grunde. Grund ist aber nicht Ursache im eigentlichen Sinne - sondern innre Beschaffenheit - Zusammenhang mit dem Ganzen. Alles Filosophieren muß also bey einem absoluten Grunde endigen. Wenn dieser nun nicht gegeben wäre, wenn dieser Begriff eine Unmöglichkeit enthielte - so wäre der Trieb zu Filosophieren eine unendliche Thätigkeit - und darum ohne Ende, weil ein ewiges Bedürfniß nach einem absoluten Grunde vorhanden wäre, das doch nur relativ gestillt werden könnte - und darum nie aufhören würde. Durch das freywillige Entsagen des Absoluten entsteht die unendlich freye Thätigkeit in uns - das Einzig mögliche Absolute, was uns gegeben werden kann und was wir nur durch unsre Unvermögenheit ein Absolutes zu erreichen und zu erkennen, finden. Dies uns gegebene Absolute läßt sich nur negativ erkennen, indem wir handeln und finden, daß durch kein Handeln das erreicht wird, was wir suchen. Dis ließe sich ein absolutes Postulat nennen. Alles Suchen nach Einem Prinzip wär also wie ein Versuch die Quadratur des Zirkels zu finden. Perpetuum mobile. Stein der Weisen.“ (N2,269/270)

Was Novalis hier vorführt, ist nichts Geringeres als eine Dekonstruktion der abendländischen Meta-

physik. Oder umgekehrt: Die Dekonstruktion der okzidentalen Vernunft, die Derrida und de Man in

unseren Tagen praktizieren, ist genuin romantisch. Auch für die Dekonstruktion kann die Reflexion nie

beendet werden. „Wie nicht sprechen“727 lautet der Titel eines der letzten Bücher Derridas. Metaphysik

besteht in der Suche nach einem Ende der Reflexion, nach einem ersten Grund. Dessen Begriff enthält

aber vom (modernen) Standpunkt der Immanenz aus betrachtet eine Unmöglichkeit. Die Reflexion

wird in der Moderne zu einer unendlichen Reflexion und damit selbst zum einzig möglichen Absolutum,

das uns gegeben werden kann. Um zu diesem (nichtabsoluten) Absolutum endloser Reflexion zu gelan-

gen, müssen wir jenes metaphysische Absolute (das eine Prinzip, den absoluten Grund der Welt) zu errei-

chen suchen und diesen Versuch bis in die äußerste Konsequenz seines Scheiterns forcieren. Aus der

Ordnung der Metaphysik kommen wir nur heraus, indem wir sie bis an ihr Ende treiben. Novalis steht

mit dieser Einsicht auf der Schwelle zum „unvollendeten Projekt der Moderne“728, das gleichzeitig ein

unvollendbares Projekt ist. „Wozu überhaupt ein Anfang?“ (N3,382), fragt er sich. „Dieser unphilosophi-

sche - oder halbphilosophische Zweck führt zu allen Irrthümern“ (N3,382). Die Aufgabe der Philoso-

phie wird aus dieser Perspektive neu bestimmt als Sinnkritik an metaphysischen Kategorien oder gar als

deren Dekonstruktion:

„D(ie) Phil(osophie) macht alles los - relativirt das Universum - Sie hebt wie das Copernikanische System die festen Puncte auf - und macht aus dem Ruhenden ein Schwebendes. Sie lehrt die Relativitaet aller Gründe und aller Eigenschaften - die unend(liche) Mannichfaltigkeit und Einheit der Constructionen Eines Dinges etc.“ (N3,378)

Organ und Gegenstand dieser „neuen Philosophie“ ist die Reflexion. Gleich zu Beginn des ersten

Hauptteils seiner Dissertation erwähnt Benjamin das 45. „Blüthenstaub“-Fragment von Novalis als

727 vgl. Jacques Derrida: Wie nicht sprechen. Verneinungen. Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Wien 1989. 728 vgl. Jürgen Habermas: Die Moderne - ein unvollendetes Projekt. In: Wolfgang Welsch (Hg.): Wege aus der Moderne.

Schlüsseltexte zur Postmoderne-Diskussion. Weinheim 1988. S. 177-192.

219

„phantastisches Fragment“ (GS1,18), ohne es ausführlicher zu zitieren. Novalis spricht in diesem

Fragment von einer „ursprünglichen Reflexion“, aus der „das irdische Leben [...] entspringt“ (N2,431).

An anderer Stelle verwendet er den Terminus „Urreflexion“ (N3,176). Das konstitutiv Nachträgliche,

die Reflexion, wird in diesem Terminus zum Ersten erhoben. Diese Struktur der Novalisschen „Urre-

flexion“ erinnert an die der „Urspur“ und an eine ganze Reihe analoger Prägungen bei Derrida, so an

das „originale Supplement“ oder an die „Urschrift“, die für Derrida doppeltes Supplement ist und doch

immer das Erste. Menninghaus hat diese Analogien zwischen Novalis und Derrida deutlich herausge-

stellt. Das romantische

„Spiel der Spiegelungen führt [...] zu einem Abschied von dem, was Derrida ‘Metaphysik der Präsenz’ nennt [...], von der Annahme eines Seins, Sinns oder Geistes, die sozusagen an sich selbst sind, was sie sind, über eine vorgängige Präsenz verfügen, welche dann lediglich nachträglich im Zeichen repräsentiert wird. Diese ‘klassische’ Logik von Vor und Nach, Prä- und Re- wird von den Romantikern an dem dafür prädestinierten Begriff der Reflexion durchbrochen. Die Bewegung der Reflexion - die ein Dual, eine gespaltene Figur der différence ist - [konstituiert] allererst beides, das Reflektierende und das Reflektierte. In einer radikalen Volte gegen das Re- ihres Begriffs wird die Reflexion bei den Romantikern, mit Benjamins Worten ‘logisch das Erste’(GS1,39) ‘absolut schöpferisch’(GS1,63), ‘das Ursprüngliche und Aufbauende in der Kunst wie in allem Geistigen’(GS1,63).“729

Die logische Nähe der Philosophie der Frühromantik zum Skeptizismus Derridas führt sie ebenfalls in

die Nähe der paradoxalen Konsequenzen desselben. Die dezentrierte und dezentrierende Reflexion in

der Romantik droht zu einem neuen Absolutum zu werden und sich selbst zu depotenzieren. Der radi-

kale Skeptizismus der Romantik schlägt in einen neuen „Maximalismus“730 um. Für Blumenberg hat die

Romantik

„nicht nur die Grenzen der literarischen Gattungen verwischt, überhaupt Grenzen zugunsten des Eindrucks oder der Symbolisierung oder auch nur der Illusion von Unendlichkeit - sie hat auch die Differenz von Bedeutung und Bedeutendem aufgelöst zugunsten einer Art von universaler Plastizität, die alles für alles andere eintreten lassen kann.“731

Für Novalis kann „alles [...] Symbol des Andern seyn“ (N2,398), wodurch letztlich jede Möglichkeit von

Bedeutungsbildung angegriffen wird. Die Romantik droht im semantischen Chaos732 zu enden, im dio-

nysischen Taumel eines archaischen Festes der Signifikanten, aus dem sie nur noch die Konversion ret-

ten konnte. Die „Totalität“ der Reflexion führt auch aus der Sicht Benjamins zu „unauflöslichen Wi-

dersprüchen“ (GS1,58).

729 Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung. A.a.O.: S. 26/27. 730 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a.M. 1986. S. 245. 731 a.a.O.: S. 236/237. 732 Ernst Behler kommentiert diese Tendenz frühromantischen Denkens nicht ohne Ironie, wenn er über den von Novalis

und Schlegel 1798 in Dresden gemeinsam verbrachten Sommer schreibt: „Novalis hatte dem Freund kurz vor ihrer Zu-sammenkunft mitgeteilt, er »habe die interessante Entdeckung der Religion des sichtbaren Weltalls gemacht. Du glaubst nicht, wie weit das greift. Ich denke hier Schelling weit zu überfliegen. Was denkst Du, ob das nicht der rechte Weg ist, die Physik im allgemeinsten Sinne schlechterdings symbolisch zu behandeln?« Schlegel erwartet von dieser ungewöhnlichen Ansicht des gewöhnlichen Lebens sehr viel, auch davon, die Religion und die Physik in Kontakt zu setzen, konnte sich aber noch nichts Rechtes dabei denken. Nachdem Novalis in Dresden endlich eingetroffen war, ging ihm ein Licht auf. Nun brach sich der »Schlegelianismus der Physik« in einem Strom handschriftlicher Fragmente Bahn, in denen die sonderbarsten Beziehungssetzungen erfolgen, elektrische Funken mit Blumen, die weibliche Gestalt mit der Blüte, Haare mit Laub ver-glichen werden oder Edelsteine als mineralische Blumen erscheinen. Es entstand der Plan, daß Schlegel und Novalis ein ge-meinschaftliches Werk, eine Symphilosophie mit Hardenberg in Briefen veröffentlichten, in dem noch weit wunderbarere »Mi-schungen und Entmischungen im physikalischen Chaos« zuwege gebracht werden sollten.“ Ernst Behler: Friedrich Schlegel. Reinbek bei Hamburg 1966. S. 78.

220

Dieser Gefahr trägt Benjamin Rechnung, indem er die Diskussion der frühromantischen „Reflexion“,

ohne sie, was unmöglich wäre, beendet zu haben, abbricht. Im zweiten Teil seiner Dissertation wendet

er sich der als „Kritik“ begriffenen, zielgerichteten Gestalt der Reflexion in der Romantik zu. Kritik

erscheint hier als die ernüchterte, methodisierte Form der romantischen Reflexion, die ihre eigenen

Möglichkeiten und Grenzen kritisch reflektiert und sich in ihrem Geltungsbereich einschränkt.

Benjamin verzichtet auf weitere epistemologische und ontologische Fragen und wendet sich, was in der

Konsequenz der Abstraktheit der romantischen Reflexionstheorie liegt, dem „Material“ zu,

Kunstwerken, konkreten Manifestationen von Reflexion.

221

4.2. „Steigerung“ und „Mortifikation“: Benjamins Theorie der Kunstkritik

„Die geistige Kritik wird Europa weit enger miteinander verbinden, als der Kaufmann oder der Gefühlsmensch das vermögen. Sie wird uns den Frieden geben, der aus dem Verstehen kommt. Doch das ist nicht alles. Die Kritik, die keinen Standpunkt aner-kennt und es ablehnt, sich durch ein seichtes Schibboleth einer Sekte oder Schule bin-den zu lassen, schafft so einen heiteren philosophischen Geist, der die Wahrheit um ih-rer selbst willen liebt und nicht weniger liebt, weil er weiß, sie ist unerreichbar.“

Oscar Wilde733

Benjamins Theorie der Kunstkritik entwickelt sich im Laufe seiner Auseinandersetzung mit der früh-

romantischen Philosophie der Reflexion. In seiner Dissertation begreift Benjamin Kritik als eine Form

der Reflexion, die nur graduell und nicht prinzipiell von der den Kunstwerken immanenten Reflexion

zu unterscheiden ist. Als Gestalt der Reflexion ähnelt Kunsterkenntnis im Sinne der Romantiker jeder

Art von Erkenntnis:

„Die Keimzelle jeder Erkenntnis ist [...] ein Reflexionsvorgang in einem denkenden Wesen, durch den es sich selbst erkennt. Jedes Erkanntwerden eines denkenden Wesens setzt dessen Selbsterkenntnis voraus. »Alles, was man denken kann, denkt selbst: ist ein Denkproblem« lautet der Satz, den nicht umsonst Friedrich Schlegel in der Ausgabe, die er von den Werken seines verstorbenen Freundes [= Novalis] besorgte, an die Spitze der Fragmente stellte.“ (GS1,55)

Aus dieser Form von Gegenstandserkenntnis ergibt sich die Möglichkeit von Kunstkritik. Kunstwerke

besitzen aus der Sicht der Frühromantiker eine „Selbsterkenntnis“, auf die sich ihre Kritik dialogisch

bezieht. Kritik definieren sie nicht als Subsumtion oder Projektion, sondern als dialogisches Verstehen.

Die interne Reflexion der Werke wird mimetisch wiederholt und potenziert. Kritik „übersetzt“ Gestal-

ten der ästhetischen Reflexion. Das zu Übersetzende fungiert nicht als Objekt, sondern als Gesprächs-

partner des Übersetzers:

„Wie ist Erkenntnis außerhalb der Selbsterkenntnis, d.h. wie ist Objekterkenntnis möglich? Sie ist es

nach den Prinzipien des romantischen Denkens in der Tat nicht. Wo keine Selbsterkenntnis ist, da ist

gar kein Erkennen, wo Selbsterkenntnis ist, ist die Subjekt-Objekt-Korrelation aufgehoben.“ (GS1,56)

Aus romantischer Sicht zeichnet Selbsterkenntnis alle erkennbaren Dinge aus; Kunstwerke in besonde-

rem Maße. Alle Dinge können nur durch „Steigerung ihrer Reflexion“ (GS1,57) erkannt werden. Die

„Steigerung der Reflexion“ in den Gegenständen

„hebt [...] die Grenze zwischen dem durch sich selbst und durch ein anderes Erkanntwerden in dem Ding auf und im Medium der Reflexion gehen das Ding und das erkennende Wesen ineinander über. Beides sind nur relative Reflexionseinheiten. Es gibt also in der Tat keine Erkenntnis eines Objekts durch ein Subjekt. Jede Erkenntnis ist ein immanenter Zusammenhang.“ (GS1,57/58)

Benjamin weist auf die Verwandtschaft zwischen der frühromantischen und Goethes Theorie der Ge-

genstandserkenntnis, die er zur Erläuterung heranzieht, hin: „Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit

dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird“ (WAII,11,128), 733 Oscar Wilde: Der Kritiker als Künstler. In: Ders.: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Hg. v. Norbert Kohl. Band 7. Essays

II. Frankfurt a.M. 1982. S. 69-148. Hier: S. 146.

222

zitiert Benjamin aus Goethes Farbenlehre (GS1,60). Auch Goethe leugnet, daß sich Subjekte erkennend

zu Objekten verhalten können und plädiert für eine Steigerung der Selbsterkenntnis der Phänomene,

die immer schon ihre eigene Theorie enthielten. Ein bekannter Grundsatz aus den „Maximen und Re-

flexionen“, den Benjamin und Spengler des öfteren zitieren, lautet: „Das Höchste wäre: zu begreifen,

daß alles Faktische schon Theorie ist. [...] Man suche nur nichts hinter den Phänomenen: sie selbst sind

die Lehre.“ (WAII,11,31) Goethe bezweifelt die Möglichkeit einer gegenüber ihren spezifischen Ge-

genständen indifferenten, universal gültigen Methode des Erkennens. Jeder Versuch wissenschaftlicher

Erkenntnis muß seinem jeweiligen Phänomenbereich die ihm adäquate Erkenntnismethode entneh-

men. „Eine Sache beobachten, heißt nur, sie zur Selbsterkenntnis bewegen“ (GS1,60), faßt Benjamin

die Erkenntnistheorien Goethes und der Romantik zusammen. Der romantischen sowie Goethes Na-

turerkenntnis liegt eine Übertragung hermeneutischer Methoden auf den Bereich der Natur zugrunde,

letztlich also die Utopie, daß auch der Natur als dem per se Sinnfernen ein Sinn beizumessen sei. Für

Goethe und die Romantik „faßt die Beobachtung nur die aufkeimende Selbsterkenntnis im Gegenstand

ins Auge, oder vielmehr, sie, die Beobachtung ist das aufkeimende Gegenstandsbewußtsein selbst.“

(GS1,61) Diese Utopie einer Lesbarkeit der Natur, die sich in den zitierten Wissenschaftskonzeptionen

offenbart, wurde von Blumenberg einer desillusionierenden Lektüre unterzogen. Versuche, die Natur

als Kunstwerk zu lesen, sagen für Blumenberg mehr über die Hoffnungen der jeweiligen Leser aus, als

über die Natur selbst. Was von Goethe und der Romantik „auf die Welt projiziert wird, ist eine ästheti-

sche Übertreibung, der hypertrophische Anspruch an ein literarisches Produkt“734.

Benjamin, dem jeder Mystizismus fern liegt, nimmt die romantische Theorie der Naturerkenntnis zum

Ausgangspunkt seiner Erörterung der Kunstkritik, ohne ihr ansonsten einen allzugroßen Wert

beizumessen. Für Benjamin ist „im frühromantischen Sinne [...] der Mittelpunkt der Reflexion die

Kunst, nicht das Ich“ (GS1,39). Kunstwerke bilden privilegierte Instanzen einer „Reflexion der Refle-

xion“, die auf ein „absolutes Ich“ als Zentrum verzichten kann. Im Kunstwerk kommt für die Roman-

tiker das Denken zu sich selbst, ohne auf einen dem Denken jenseitigen Standpunkt rekurrieren zu

müssen.

Die Romantik sieht wie der Idealismus Schellings im Kunstwerk einen Ausweg aus einer philosophi-

schen Antinomie. Im Gegensatz zur Auffassung Schellings besteht diese Antinomie für die Romantiker

nicht in einer Unangemessenheit der Reflexion an ein sie bedingendes Transreflexives. Das epistemolo-

gische Problem, mit dem sich die Romantiker konfrontiert sehen, liegt vielmehr in der Frage, wie eine

Erkenntnis der Welt noch möglich sei, wenn es nicht mehr möglich ist, einen transzendenten Stand-

punkt einzunehmen. Die Kunst bietet einen Weg, diesem Dilemma zu entkommen. Sie hat Teil an der

Welt und distanziert sich in der Reflexion über sie gleichzeitig von ihr. Diese Reflexion über die Welt

fassen Schlegel und Novalis nicht als Repräsentation, sondern als einen approximativen, nie zu been-

denden Prozeß der Steigerung menschlicher Reflexion auf, in der uns unsere Welt einzig gegeben ist. 734 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. A.a.O.: S. 254.

223

„Die romantische Kunstanschauung beruht darauf, daß im Denken des Denkens kein Ich-Bewußtsein

verstanden wird“ (GS1,40), sondern ein intersubjektiver oder kultureller Reflexionsprozeß, dessen

„Zentren“ Kunstwerke bilden. Aus dem Scheitern des Fichteschen Versuchs einer Letztbegründung

menschlichen Selbstbewußtseins ziehen die Romantiker die Konsequenz, nicht mehr das Ich, sondern

das Kunstwerk als oberste Reflexionsinstanz einzusetzen. Sie markieren damit den Übergang von der

Bewußtseinsphilosophie zur Hermeneutik. Den höchsten Grad an Bewußtheit verkörpern für Schlegel

und Novalis keine „genialen“ Individuen, sondern Romane wie Goethes „Wilhelm Meister“. Diesen

betrachten sie als das paradigmatische Kunstwerk, welches das Ganze ihrer Epoche am ehesten reflexiv

einzuholen vermag. Schlegel rechnet Goethes „Wilhelm Meister“ neben Fichtes „Wissenschaftslehre“

und der französischen Revolution zu den drei „größten Tendenzen des Zeitalters“ (KA2,198). Erstmals

wird hier einem Kunstwerk die gleiche Priorität wie einem zentralen realgeschichtlichen Ereignis der

Neuzeit beigemessen.

„Als Ideal eines Werkes in ihrem Sinn gilt der Frühromantik Goethes Wilhelm Meister, als Muster der neuen Kritik Friedrich Schlegels Meister-Rezension. In ihr wird die Selbstreflexion, das heißt die Besinnung des Werkes auf seinen eigenen Kunstcharakter expliziert, indem seine formalen Eigenheiten, seine Strukturen und Verweise hervorgehoben werden, und zugleich aufs Unendliche hin überschritten, indem die begrenzende Form des Werkes bewußt gemacht und dadurch vernichtet wird. Die Meister-Kritik wird so zum »Übermeister«.“735

Der Roman, der es vermag, das Ganze einer Epoche reflexiv zu vergegenwärtigen, wird für die Roman-

tik zur höchsten „symbolischen Form“ (GS1,98) und zur „geistigsten Poesie“ (GS1,98). Die Vergegen-

wärtigung der Epoche im Roman bestimmt Schlegel in seiner Rezension „Über Goethes Meister“ nicht

im realistischen Sinn als „Widerspiegelung“, sondern findet sie in der „Art der Darstellung“ (KA2,127)

angelegt. Der Roman bildet keine Welt ab, sondern „aus seinem Innern“ steigt eine „werdende Welt [...]

leise empor“ (KA2,126). Diese „werdende Welt“ greift Schlegel auf, indem er „die Darstellung von

neuem darstell[t], das schon Gebildete noch einmal bilde[t]“ (KA2,140). Goethes „Wilhelm Meister“

gehört für ihn zu den Büchern, welche sich mittels ihrer reflexiven ästhetischen Darstellung „selbst be-

urteilen und den Kunstrichter sonach aller Mühe überheben“ (KA2,133/134). Die Kritik des „Wilhelm

Meister“ darf sich nicht in einer subjektiven „bloßen Darstellung des Eindrucks“ (KA2,134) der Leser

erschöpfen, sie darf nicht „richten“, sondern zielt ab auf die sich in der ästhetischen Darstellung an-

kündigende „werdende Welt“ (KA2,126). Kritik wird selbst zu einer Form von welterschließender Dar-

stellung:

„Kritik ist die Darstellung des prosaischen Kerns in jedem Werk. Dabei ist der Begriff »Darstellung« im Sinne der Chemie verstanden, als die Erzeugung eines Stoffes durch einen bestimmten Prozeß, welchem andere unterworfen werden. So hat es Schlegel gemeint, wenn er vom Wilhelm Meister sagt, das Werk »beurteilt sich nicht nur selbst, es stellt sich auch selbst dar«.“ (GS1,109)

Nachdem er Kunstwerke als Verdichtungszentren von Reflexion bestimmt hat, definiert Benjamin „die

Kunstkritik als die Reflexion im Medium der Kunst“ (GS1,40). Für die Romantiker greift Kritik die

735 Bernd Witte: Walter Benjamin - Der Intellektuelle als Kritiker. Untersuchungen zu seinem Frühwerk. Stuttgart 1976. S.

41.

224

dem Werk immanente Reflexion auf und potenziert sie. „Die Kunst ist eine Bestimmung des Reflexi-

onsmediums [...]. Die Kunstkritik ist die Gegenstandserkenntnis in diesem Reflexionsmedium.“

(GS1,62) Die Erkenntnis im Reflexionsmedium der Kunst bildet „die Aufgabe der Kunstkritik. Für sie

gelten alle diejenigen Gesetze, welche allgemein für die Gegenstandserkenntnis im Reflexionsmedium

bestehen.“ (GS1,65) „Kritik des Werkes“ bedeutet seine „Reflexion, welche selbstverständlich nur den

ihm immanenten Keim derselben zur Entfaltung bringen kann“ (GS1,78). „Kritik“ wird in der Roman-

tik zum Synonym für jede Art von „Erkenntnis“. Der „Universalitätsanspruch der Hermeneutik“ kün-

digt sich bereits um 1800 als „Universalitätsanspruch der Kritik“ an. Von allen „philosophischen und

ästhetischen Fachausdrücken dürften die Worte Kritik und kritisch in den Schriften der Frühromanti-

ker die häufigsten sein“ (GS1,51). Kritik als universales Erkenntnisprinzip, dessen verdecktes Paradig-

ma die Kunsterkenntnis bildet, kann für die Romantiker kein sekundärer Erkenntnismodus mehr sein,

der weniger Dignität als das Kritisierte hätte. Kritik wird vielmehr zu einem produktiven Medium, in dem

die kritisierten Werke ihre semantische Dynamik entfalten. So wie die Kunst als Medium bestimmt

wird, in dem die Kritik „produktiv“ und „schöpferisch“ (GS1,51) agiert, erscheint die Kritik ihrerseits

auch als Medium der Kunst. „Kunst“ und „Kritik“ werden sich wechselseitig zu Medien. Auch in Ben-

jamins Kritikpraxis verliert die Kunstkritik den Charakter des Nachträglichen und Sekundären, den

George Steiner ihr heute vorwirft. Von der Kategorie des „Gedichteten“ (GS2,105), der Welt, von der

das Werk zeugt, sagt Benjamin in seinem Hölderlin-Aufsatz, daß sie „Erzeugnis und Gegenstand der

Untersuchung zugleich [sei].“ (GS2,105) Eine vergleichbare Position schöpferischer Kritik dürfte in

dieser Eindeutigkeit nur von Oscar Wilde formuliert worden sein. In seinem 1890 erschienenen, in

Form eines Dialogs abgefaßten Essay „Der Kritiker als Künstler“ verteidigt „Gilbert“ gegenüber „Er-

nest“ einen emphatischen Begriff von Kunstkritik:

„Ohne Zweifel ist die Kritik selbst eine Kunst. Und genauso, wie die künstlerische Schöpfung die Arbeit des kritischen Geistes mit einschließt, und man kann wirklich nicht sagen, daß sie ohne ihn überhaupt existiert, so ist die Kritik schöpferisch in der höchsten Bedeutung des Wortes. Die Kritik ist in der Tat beides, sie ist schöpferisch und unabhängig. [...] Die Kritik darf ebensowenig nach dem erbärmlichen Maßstab der Naturnachahmung oder Ähnlichkeit beurteilt werden wie das Werk des Dichters oder Bildhauers.“736.

Wilde fährt fort:

„Ja, ich möchte die Kritik eine Schöpfung in der Schöpfung nennen [...], ich möchte behaupten, daß die Kritik, indem sie die reinste Form des persönlichen Eindrucks darstellt, auf ihre Weise schöpferischer als eine Schöpfung ist, da sie sich am wenigsten auf einen außerhalb ihrer selbst liegenden Maßstab bezieht und in der Tat ihre eigene Ursache ist, und, wie die Griechen sagen würden, in sich selbst und für sich selbst ihr Ziel hat.“737

Das Vorbild für die hier von Wilde propagierte Auffassung schöpferischer Kritik liegt mit großer Si-

cherheit in der Frühromantik. In Friedrich Schlegels 1804 als „Allgemeine Einleitung“ seiner Ausgabe

der Schriften Lessings erschienenem Aufsatz „Vom Wesen der Kritik“ formuliert er deren Status wie

folgt:

736 Oscar Wilde: Der Kritiker als Künstler. A.a.O.: S. 97. 737 a.a.O.: S. 98.

225

„In der Tat kann keine Literatur auf die Dauer ohne Kritik bestehen [...]. So wie in der Mythologie die gemeinsame Quelle und der Ursprung für alle Gattungen des menschlichen Dichtens und Bildens zu suchen, so wie Poesie der höchste Gipfel des Ganzen ist, in deren Blüte sich der Geist jeder Kunst und jeder Wissenschaft, wenn sie vollendet, endlich auflöst: so ist die Kritik der gemeinschaftliche Träger, auf dem das ganze Gebäude der Erkenntnis und der Sprache ruht.“ (KA3,55)

Benjamin kleidet das romantische Konzept der Kritik auch in das Bild eines naturwissenschaftlichen

Experiments und verweist damit noch einmal auf die enge Verwandtschaft zwischen romantischer

Kunst- und Naturerkenntnis: „Kritik ist [...] gleichsam ein Experiment am Kunstwerk, durch welches

dessen Reflexion wachgerufen, durch das es zum Bewußtsein und zur Erkenntnis seiner selbst gebracht

wird.“ (GS1,65) Letztlich kritisieren sich Kunstwerke selbst. Sie enthalten auf der Ebene ihrer Form

implizit ihre jeweils eigene Theorie und Methodologie, die der Kritiker explizit macht:

„Das Subjekt der Reflexion ist im Grunde das Kunstgebilde selbst, und das Experiment besteht [...] in der Entfaltung der Reflexion, d.h. für den Romantiker: des Geistes, in einem Gebilde. Sofern Kritik Erkenntnis des Kunstwerks ist, ist sie dessen Selbsterkenntnis; sofern sie es beurteilt, geschieht es in dessen Selbstbeurteilung.“ (GS1,65/66)

Romantische Kritik

„soll nichts anderes tun, als die geheimen Anlagen des Werkes selbst aufdecken, seine verhohlenen Absichten vollstrecken. Im Sinne des Werkes selbst, d.h. in seiner Reflexion, soll es über dasselbe hinausgehen [...]. Es ist klar: für die Romantiker ist Kritik viel weniger die Beurteilung eines Werkes als die Methode seiner Vollendung. In diesem Sinne haben sie poetische Kritik gefordert, den Unterschied zwischen Kritik und Poesie aufgehoben und behauptet: »Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden. Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk ist,...als Darstellung des notwendigen Eindrucks in seinem Werden,...hat gar kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst.«„ (GS1,69)

Gegenüber der Eigenreflexion des Werks bleibt die der Kritik immer unvollständig. Darum geht die

Kritik, wenn sie sich der Poesie auch nähert, nie in dieser auf. Benjamin spricht vom „unvermeidlich

negativen Moment“ (GS1,52) des kritischen Begriffs, das sich aus dessen notwendiger Unvollständig-

keit ergibt. Dem kritischen Werk bleibt bewußt, „daß es das Abschließende nicht sein kann“ (GS1,52).

Kunstkritik kommt nie zu einem Ende, da sie sich der Reflexion des kritisierten Werks nie vollständig

vergewissern kann. Auch innerhalb eines kritisierten Werks ist die Reflexion unendlich. Die Romantiker

wissen um die „notwendige Unvollständigkeit“ (GS1,52) jeder Kritik, die ihren Versuchen einer Identi-

fikation von Poesie und Kritik ein unüberwindliches Hindernis entgegenstellt.

Die Romantik bricht vollends mit der klassizistischen Regelpoetik. Sie betrachtet Werke nicht weiter als

Verkörperungen von Regeln, sondern weist jedem Kunstwerk eine nur ihm eigene Regel zu, einen nur

ihm eigenen Imperativ, welchen sie in den Begriff der „Notwendigkeit“ (N2,648) kleiden.

„Erst mit den Romantikern setzte sich der Ausdruck Kunstkritiker gegenüber dem älteren Kunstrichter endgültig durch. Man vermied die Vorstellung eines zu Gericht-Sitzens über Kunstwerke, eines an geschriebene oder ungeschriebene Gesetze fixierten Urteilsspruches, man dachte dabei an Gottsched, wenn nicht etwa noch an Lessing und Winckelmann.“ (GS1,52)

Kunstwerke werden für Schlegel und Novalis zu unableitbaren, keiner ihnen äußerlichen Regel unter-

worfenen Individuen. Das von Benjamin vielleicht am häufigsten zitierte Novalis-Fragment lautet: „Je-

des Kunst Werk hat ein Ideal a priori - hat eine Nothwendigkeit bey sich da zu seyn. Hierdurch wird

226

erst ächte Kritik [...] möglich.“ (N2,648) Benjamin schreibt in diesem Sinne: „Die Kritik weist ihr Recht,

an das Kunstwerk heranzutreten erst darin aus, daß sie den ihm eigenen Boden respektiert, ihn zu be-

treten sich hütet.“ (GS2,237) Kritik versteht sich als Explikation der je spezifischen Regel des einzelnen

Werks, seiner „Notwendigkeit“, die seine Individualität begründet. In seiner Kritik der Goetheschen

„Wahlverwandtschaften“ bemerkt Benjamin: „Denn dieser Roman wie jedes Kunstwerk beruht auf ei-

ner Idee, »hat ein Ideal a priori, eine Notwendigkeit bei sich, da zu sein«, wie Novalis sagt, und eben

diese Notwendigkeit und nichts anderes hat die Kritik aufzuzeigen.“ (GS2,238) Diese Notwendigkeit

oder Regel ist dem Werk immanent. Jedes Werk hat seine besondere Regel.738 Der normative Klassi-

zismus, der für die Bewertung aller Kunstwerke der Geschichte in all ihrer Vielfalt nur eine eng um-

schriebene Menge kanonischer Regeln anerkennt, gilt den Romantikern als dogmatisch und ahistorisch.

Einen vollständigen Skeptizismus gegenüber allen konventionellen ästhetischen Normen, wie ihn der

„Sturm und Drang“ vorlebt, lehnen sie ebenfalls ab. Aus dieser doppelten Frontstellung befreien sie

sich mit Hilfe einer Überwindung des Dogmatismus und des Skeptizismus „in der Kunsttheorie unter

dem gleichen Namen [...], unter dem Kant in der Erkenntnistheorie jenen Gegensatz geschlichtet hatte“

(GS1,53), unter dem Namen der Kritik. Die Kritik leugnet nicht generell das Vorhandensein von Re-

geln, sondern verlegt sie in das Innere der Werke.

Kritik, die Werke nicht mehr überzeitlichen Regeln zuordnet, „schließt die Erkenntnis ihres Gegens-

tandes ein“ (GS1,53). Sie versteht sich nicht primär als wertende, sondern als erkennende Kritik. Eine

implizite Wertung liegt dagegen in der Möglichkeit, überhaupt kritisch auf ein Werk Bezug zu nehmen.

Die Kritisierbarkeit eines Werks legt Zeugnis von seinem reflexivem Potential ab. Schlechte Werke sind

sowohl für die Romantiker als auch für Benjamin unkritisierbar:

„Denn der Wert des Werkes hängt einzig und allein davon ab, ob es seine immanente Kritik überhaupt möglich macht oder nicht. Ist diese möglich, liegt also im Werke eine Reflexion vor, welche sich entfalten, absolutieren [...] läßt, so ist es ein Kunstwerk.“ (GS1,78/79)

Einer der Grundsätze der romantischen Kunstkritik besteht in der „Unkritisierbarkeit des Schlechten“

(GS1,79). Schlechte Kunst kann nur ignoriert werden, ein Vorgehen, für das Schlegel den Begriff der

„Annihilierung“ (zit.n.GS1,80) prägt. Benjamin schließt sich dieser Überzeugung Schlegels an: „Ist ein

Werk kritisierbar, so ist es ein Kunstwerk, andernfalls ist es keines - ein Mittleres zwischen beiden Fäl-

len ist undenkbar, unerfindlich aber auch ein Kriterium der Wertunterscheidung unter den wahren

Kunstwerken selbst.“ (GS1,79) Komplementär zur Unkritisierbarkeit schlechter Kunstwerke, können

gelungene untereinander nicht verglichen werden. Es gibt keine allgemein verbindlichen Maßstäbe für

den „Wert“ einzelner Werke. „Werke sind unableitbar“ (GS1,156), formuliert Benjamin im Anschluß

an Novalis. Die noch heute in den Literaturwissenschaften übliche Fragestellung nach dem Rang be-

stimmter Werke, so nach dem bedeutendsten Roman des 20. Jhs, wäre aus der Sicht Benjamins absurd.

738 Darauf, daß der Begriff einer „individuellen Regel“ kein „hölzernes Eisen“ sein muß, verweist Lambert Wiesing, der

künstlerische Stile im Anschluß an Kant und Wittgenstein als Manifestationen einer „Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz“ und einer „privaten Regelhaftigkeit“ definiert. Vgl. ders.: Stil statt Wahrheit. A.a.O.: S. 155f.

227

Hohe Kritik, zu der er die romantische rechnet, enthält sich jeder Wertung, jeder Wiedergabe einer

bloßen „Meinung“ des Rezensenten:

„Die hohe Schule [...] fundierter Kritik [...] ist im Schrifttum der Romantiker zu finden. Kritik erscheint in ihm als die Entfaltung der Wahrheit, welche in den Werken schlummert. Es wird ihr bildliche Figur verliehen, indem sie derart innig mit der Beschreibung sich verbindet, daß in den berühmten Mustern dieser Gattung jede Meinung des Rezensenten so vernichtet scheint wie nach der klassischen Ästhetik der Stoff im Kunstwerk. Und nicht umsonst hat diese Blüte der Kritik um 1800 sich an den Meisterwerken Shakespeares, Calderons, Cervantes’ entfaltet. Nicht wie die Kletterrose sich am Stamm emporrankt, sondern wie eine jener seltenen Blüten, welche hin und wieder aus einer immergrünen stachligen und wie für die Unsterblichkeit gepanzerten Kaktee brechen.“ (GS3,363)

An diesem Konzept ästhetischer Kritik hätte sich das Feuilleton unserer Tage, das von literarischen

„Vorkostern“ à la Raddatz und Reich-Ranicki dominiert wird, ein Vorbild zu nehmen. Anstatt sein

Publikum mit dem hundertsten - moralisch richtenden - Artikel über die politische Integrität Heiner

Müllers oder Christa Wolfs zu langweilen, hätte sich literarische Kritik wieder in den Dienst literari-

scher Texte zu stellen, ein im übrigen weitaus politischeres Unternehmen als das oberflächliche Prakti-

zieren von Tagespolitik auf dem Rücken der Autoren. Benjamin grenzt sich von der feuilletonistischen

Kritik seiner Tage ab:

„Da [...] seit fast hundert Jahren jedes ungewaschene Feuilleton für Kritik sich in Deutschland ausgeben darf, so ist, dem kritischen Wort seine Gewalt zurückzugewinnen, doppelt geboten. [...] [Es ist] Sache der positiven Kritik mehr als bisher, mehr auch als es den Romantikern gelang, die Beschränkung auf das einzelne Kunstwerk zu üben. Denn die große Kritik hat [...] durch Versenkung zu erkennen. Sie hat von der Wahrheit der Werke jene Rechenschaft zu geben, welche die Kunst nicht weniger fordert als die Philosophie.“ (GS2,242)

Die Romantiker verstehen die immanente Gestalt der Reflexion im Kunstwerk als dessen „Form“. Die-

se „ist der gegenständliche Ausdruck der dem Werke eigenen Reflexion“ (GS1,73). Die romantische

Ästhetik schließt sich in diesem Punkt Kants „Kritik der Urteilskraft“ an, in der den Begriffen „Refle-

xion“ und „Form“ eine dominierende Rolle zukommt. „Schönheit“ definiert Kant als Produkt einer

„reflektierenden Urteilskraft“, die Einbildungskraft und Begriffsvermögen in ein „freies Spiel“ versetzt.

Als Pendant der „reflektierenden Urteilskraft“ am als „schön“ wahrgenommenen Gegenstand gilt Kant

dessen „Form“. Nur in der „Beurteilung einer freien Schönheit [...] der bloßen Form nach [...] ist das

Geschmacksurteil rein“ (KdU,B,49). Die Nähe der Kantschen Philosophie des Schönen zur frühro-

mantischen Ästhetik bleibt Benjamin nicht verborgen. In einem Brief bezeichnet er, ohne diese Frage-

stellung weiter zu verfolgen, „Kants Ästhetik als wesentliche Voraussetzung der romantischen Kunst-

kritik“ (BBr.,180). Die romantische Theorie des Kunstwerks interpretiert Benjamin als „die Theorie

seiner Form. Die begrenzende Natur der Form haben die Frühromantiker mit der Begrenztheit jeder

endlichen Reflexion identifiziert und durch diese einzige Erwägung den Begriff des Kunstwerks inner-

halb der Anschauungswelt determiniert.“ (GS1,72) Auch den Gedanken einer Begrenzung der Reflexion

durch die Form verdanken die Romantiker ihrer Kant-Lektüre. „Das Schöne [...] betrifft die Form des

Gegenstandes, die in der Begrenzung besteht“ (KdU,B,75), heißt es zu Beginn der „Analytik des Erha-

benen“. Als Form begrenzt sich die unendliche Reflexion selbst. „Die höhere Form ist die Selbstbe-

schränkung der Reflexion.“ (GS1,74) Benjamin spricht von Form auch als der „Darstellungsform des

228

Werkes“ (GS1,75). Als „Darstellungsform“ ist sie „nicht Mittel zur Darstellung eines Inhalts“ (GS1,76),

sondern Mittel einer Selbstdarstellung, einer Reflexion des Kunstwerks auf die eigenen Verfahren. In

dieser sehen Schlegel und Novalis den Garanten für die „Nüchternheit der Kunst“ (GS1,103), der ihre

ästhetischen Bemühungen in die Nähe derjenigen Hölderlins rückt. Für Benjamin ist „die Reflexion das

Gegenteil der Ekstase, der mania des Platon“ (GS1,104). Der genieästhetischen „mania“ setzen Hölder-

lin und die Romantiker in Gestalt der Reflexion die „mechane“ (GS1,104) entgegen, die „Verfahrungs-

art“ (GS1,105) der Kunst, die diese offen darlegt. Benjamin zitiert Novalis: „»Echte Kunstpoesie ist

bezahlbar«. »Kunst...ist mechanisch.« »Der Sitz der eigentlichen Kunst ist lediglich im Verstande.« »Die

Natur zeugt, der Geist macht [...].« Die Art dieses Machens ist also die Reflexion.“ (GS1,105) Die „Art

des Machens“ erscheint aus der Sicht dieser Zitate als der „Reflex der Reflexion“ im Werk, als seine

„Manier“ oder sein „Stil“. Das antiinspiratorische Beharren Hölderlins und der Romantiker auf dem

handwerklichen Charakter der Kunst rückt ihre ästhetische Theorie und Praxis in unmittelbare Nähe

zur literarischen Moderne. Benjamin bemerkt: „Wollte man die Kunsttheorie eines so eminent bewuß-

ten Meisters wie Flaubert, die der Parnassiens oder diejenige des Georgeschen Kreises auf ihre Grund-

sätze bringen, man würde die hier dargelegten unter ihnen finden.“ (GS1,107) Die literarische Moderne

stellt sich mit der Betonung der „technischen“ Komponente künstlerischen Schaffens an vielen Stellen

in die unmittelbare Nachfolge der Romantik. Baudelaire, dem das Werk von Novalis offensichtlich ü-

ber seine Beschäftigung mit Heinrich Heine und Edgar Allen Poe vertraut ist, schreibt im „Salon von

1846“: „Wer Romantik sagt, sagt moderne Kunst.“739

Benjamin folgt der romantischen Theorie der Kunstkritik nicht in allen Punkten. Gegen Ende seiner

Dissertation kritisiert er zunächst ihre ausschließliche „Positivität“: „Es ist nämlich ein notwendiges

Moment aller Beurteilung, das Negative, durchaus verkümmert.“ (GS1,66) Die Romantiker übersehen

laut Benjamin, daß die kritische Reflexion des Selbstbezugs der Werke diese nicht einfach nur poten-

ziert, sondern immer auch potentiell zerstört, sie in sich selbst entzweit. „Das Moment der Selbstver-

nichtung, die mögliche Negation in der Reflexion“ kann für Schlegel „nicht ins Gewicht fallen gegen-

über dem durch und durch Positiven der Erhöhung des Bewußtseins im Reflektierenden“ (GS1,67).

Die das Werk angreifende Negativität der Kritik gilt in der romantischen Ästhetik als eine Antithese, die

dialektisch in einer Synthese aufgehoben wird. Darin ähnelt die Kritik einer anderen zentralen Denkfigur

der Romantik, der Ironie. Das Zerstörerische an der Kritik entspricht nach Benjamins Auffassung dem

der Ironie: „Die Ironisierung der Form greift [...] dieselbe an, ohne sie doch zu zerstören [...]. Dieses

Verhältnis zeigt eine auffallende Verwandtschaft mit der Kritik.“ (GS1,84) Indem die Kritik die Form

des Werks aufgreift und „steigert“, bedroht sie sie gleichzeitig mit ihrer Zerstörung. Benjamin spricht

explizit von der „Zerstörung des Werkes durch die Kritik“ (GS1,86). Diese Auflösung des Werks bleibt

im Sinne der Romantiker einem letztendlich positiven Ziel verpflichtet. Die kritische oder ironische

Auflösung soll das Einzelwerk in eine höhere Einheit, in die „Kunst als Universalwerk“ (GS1,86) über- 739 Charles Baudelaire: Der Salon von 1846. In: Ders.: Der Künstler und das moderne Leben. A.a.O.: S. 17-104. Hier: S. 23.

229

führen, in die „Idee der Kunst“ (GS1,78), die nirgendwo anders zu finden ist, als „in der Darstellung

seiner [= des Kunstwerks] Relationen zu allen übrigen Werken“ (GS1,78). Die „Idee der Kunst“ be-

zeichnet für die Romantiker nur eine regulative Idee. Sie verkörpert den Intertext sämtlicher künstleri-

scher Texte aller Epochen, an dem mit jedem Werk neu geschrieben wird, eine „unendliche Aufgabe“

auf dem Felde der Poesie. Ironie und Kritik lenken die dem Werk immanente Reflexion diesem uner-

reichbaren, regulativen Telos entgegen, heben das einzelne Werk in den Strom der „Universalpoesie“

(KA2,182) auf.

Benjamin steht dieser „mythischen These“ der Romantik, „daß die Kunst selbst ein Werk sei“

(GS1,91), reserviert gegenüber. Der positiven Auflösung des einzelnen Werks in die Universalpoesie

wirft er neben ihrer Positivität ihren Formalismus vor und hält ihr Goethes Kunstauffassung entgegen,

in der der Begriff des „Gehalts“ eine zentrale Rolle spielt.

„Benjamin begreift die romantische Theorie der Kunst wesentlich als die Theorie ihrer Form. Die Neuformulierung des Kritikbegriffs setzte jedoch die »Lösung der systematischen Grundfrage der Kunstphilosophie«, die Bestimmung des Verhältnisses von Form und Inhalt, voraus.“740

Im letzten, erst für die publizierte Fassung geschriebenen Abschnitt seiner Dissertation „Die frühro-

mantische Theorie der Kunstkritik und Goethe“, den Benjamin auch als „esoterisches Nachwort für

die [...], denen ich sie [= die Dissertation] als meine Arbeit mitzuteilen hätte“ (BBr.,210) bezeichnet, wird

Goethes Kunstauffassung mit der der Romantiker konfrontiert. Goethe will Kunstwerke nicht in eine

formalistische „Idee der Kunst“ überführen, sondern auf einen Gehalt, ein „Urbild“ festlegen. Goethes

Urbilder, deren Zahl begrenzt ist, entsprechen für Benjamin in säkularisierter Gestalt den „Musen“

(GS1,111) der Antike. Er nennt sie auch die „reinen Inhalte aller Kunst“ (GS1,111). „In der Kunstphi-

losophie Goethes sieht Benjamin den Versuch, das Ideal der Kunst, ihr Wesen, durch eine apriorische

Bestimmung ihres Gehalts zu erfassen.“741 Nach Goethe schafft die Kunst nicht selbst „ihre Urbilder -

diese beruhen vor allem geschaffenen Werk in derjenigen Sphäre der Kunst, wo diese nicht Schöpfung,

sondern Natur ist“ (GS1,112). Die Kunst findet die Urbilder in der Natur vor. Goethe bleibt damit ei-

nem, wenn auch geläuterten Konzept ästhetischer Nachahmung der Natur verpflichtet. Die „Idee der

Natur zu erfassen und sie damit tauglich zum Urbild der Kunst (zum reinen Inhalt) zu machen, das war

im letzten Grunde Goethes Bemühen in der Ermittlung der Urphänomene“ (GS1,112). Diese Bestim-

mung der Kunst akzeptiert Benjamin nicht. Er führt Goethes Gehaltsästhetik, ohne sie zu verabsolutie-

ren, als Korrektiv gegen den romantischen Formalismus ein. Er rechnet Goethe positiv an, daß dieser

auf einer Bindung der Kunst an Gehalte beharrt, weicht aber in der Definition dieser Gehalte von ihm

ab. Für Benjamin käme

„alles auf die nähere Definition des [Goetheschen] Begriffes der »wahren Natur« an, indem diese »wahre« sichtbare Natur, welche den Inhalt des Kunstwerks ausmachen soll, nicht nur nicht mit der erscheinenden

740 Uwe Steiner: „Zarte Empirie“. Überlegungen zum Verhältnis vom Urphänomen und Ursprung im Früh- und Spätwerk

Walter Benjamins. In: Norbert W. Bolz und Richard Faber (Hg.): Antike und Moderne: Zu Walter Benjamins »Passa-gen«. Würzburg 1986. S. 20-40. Hier: S. 22.

741 a.a.O.: S. 24.

230

sichtbaren Natur der Welt ohne weiteres identifiziert, sondern vielmehr sogar zunächst streng begrifflich von ihr unterschieden werden muß“ (GS1,113).

Die Lösung dieses Problems liegt für Benjamin darin, daß als „urphänomenale Natur“ (GS1,113) nur

die im Kunstwerk erscheinende „Natur“ bezeichnet werden dürfe, nicht dagegen die „in den Erschei-

nungen der sichtbaren Natur präsente“ (GS1,113). Hier distanziert sich Benjamin entschieden von

Goethe. Der Begriff der „wahren“ oder „urphänomenalen“ im Gegensatz zur „phänomenalen“ Natur

weicht in späteren Texten dem Begriff des „Wahrheitsgehalts“, die phänomenale „Natur“ dagegen dem

des „Mythos“. Der „Wahrheitsgehalt“ in einem Kunstwerk ist das, was sich in ihm gegen Natur, im

Sinne einer ursprünglichen, invarianten, letztlich mythischen Beschaffenheit der Welt richtet. Mit ande-

ren Worten, der „Wahrheitsgehalt“ ist identisch mit dem irreduzibel „Neuen“, das sich in jedem

Kunstwerk ankündigt. Im „Passagen-Werk“ gibt Benjamin einen entscheidenden Hinweis auf diese

profane Lesart des ästhetischen „Wahrheitsgehalts“:

„In jedem wahren Kunstwerk gibt es die Stelle, an der es den, der sich dareinversetzt, kühl wie der Wind einer kommenden Frühe anweht. Daraus ergibt sich, daß die Kunst, die man oft als refraktär gegen jede Beziehung zum Fortschritt ansah, dessen echter Bestimmung dienen kann. Fortschritt ist nicht in der Kontinuität des Zeitverlaufs, sondern in seinen Interferenzen zu Hause: dort wo ein wahrhaft Neues zum ersten Mal mit der Nüchternheit der Frühe sich fühlbar macht.“ (GS5,593)

Benjamin zeigt die Differenzen zwischen Goethe und der Romantik im Schlußkapitel seiner Dissertati-

on auf und bestimmt die Kunstkritik in einer Weise, die über beide Denkrichtungen hinausgeht. Die

Romantiker legen Kunstwerke auf etwas abstrakt Formales fest, auf die „Idee der Kunst“, während

Goethe einen Gehalt, ein „Ideal“ (GS1,111) als das den Kunstwerken Wesentliche hervorhebt. Dieses

Ideal liegt als unerreichbares „Urbild“ (GS1,111) außerhalb des Werkes selbst in der „herrlich leuchten-

den Natur“. „Im Verhältnis zum Ideal bleibt das einzelne Werk“ für Goethe „gleichsam Torso“

(GS1,114). Benjamins Versuch einer Überschreitung beider Positionen zielt auf eine Ergänzung des

positiven Moments der romantischen Kunstkritik, der „Steigerung“, um ein negatives Moment, das sich

in Goethes „Anschauung von der Unkritisierbarkeit der Werke“ (GS1,110) angelegt findet, ab. Als In-

stanzen der Vergegenwärtigung von Urbildern können Werke aus der Sicht Goethes nicht reflexiv kriti-

siert, sondern nur unmittelbar angeschaut werden. Benjamins Theorie der Kunstkritik entwickelt sich

nicht aus der „Synthese“ der Auffassungen Goethes und der Romantik, sondern wiederum aus einer

Kritik an diesen. Als Hinweis auf dieses nichtsynthetisierende Selbstverständnis mag das Goethe-Motto

gelesen werden, das Benjamin seiner Dissertation voranstellt:

„Vor allem...sollte der Analytiker untersuchen, oder vielmehr sein Augenmerk dahin richten, ob er denn wirklich mit einer geheimnisvollen Synthese zu tun habe, oder ob das, womit er sich beschäftigt, nur eine Aggregation sei, ein Nebeneinander... oder wie das alles modifiziert werden könnte.“ (WAII,11,72,)

Die Positionen Goethes und der Romantik markieren für Benjamin den zeitgenössischen Stand der

kunstphilosophischen Diskussion. „Noch heute ist dieser Stand der deutschen Kunstphilosophie um

1800, wie er in den Theorien Goethes und der Frühromantiker sich darstellt, legitim.“ (GS1,117) Von

diesem „legitimen Stand“ nimmt Benjamin seinen Ausgang, um ihn letztlich zu überschreiten. Sein

231

neuer Schritt stellt nichts Geringeres dar, als den Versuch, Hermeneutik und Negativitätsästhetik, Kriti-

sierbar- und Unkritisierbarkeit der Werke, miteinander zu versöhnen.

In seiner nächsten größeren Arbeit, im 1924/25 in den „Neuen Deutschen Beiträgen“ erschienenen

Aufsatz über „Goethes Wahlverwandtschaften“, den Benjamin als „exemplarische Kritik“ (BBr.,281)

verstanden wissen will, baut er sein Kritik-Konzept aus. Im Vorfeld des Aufsatzes hatte er in einem

Brief an Florens Christian Rang vom 9. Dezember 1923 „Kritik“ erstmals als „Mortifikation der Wer-

ke“ (BBr.,323) bestimmt. Im Trauerspiel-Buch nimmt er 1925 diese Definition wieder auf:

„Kritik ist Mortifikation der Werke. Dem kommt das Werk dieser mehr als jeder andern Produktion entgegen. Mortifikation der Werke: nicht also - romantisch - Erweckung des Bewußtseins in den lebendigen, sondern Ansiedlung des Wissens in ihnen, den abgestorbenen.“ (GS1,357)

Das Wörterbuch verzeichnet unter dem Stichwort Mortifikation „Kränkung“, „Abtötung“, „Abtötung

der Begierden in der Askese“, „Tilgung“, „Ungültigkeitserklärung“ und „Absterben von Organen“.

Abgetötet wird durch Benjamins Kritik im Roman Goethes die „Natur“, die mit den Begriffen „My-

thos“, „Schein“, „Sachgehalt“, „Dargestelltes“ und „bloß Lebendiges“ ein negativ konnotiertes Bedeu-

tungsfeld bildet. Dieser Isotopie stehen die positiv besetzten Begriffe „Wahrheit“, „Welt“, „Darstel-

lung“, „Erlösung“, „Geschichte“ und „Hoffnung“ gegenüber. Der „Natur“ entspricht in Goethes Ro-

man das Dargestellte, sein „Sachgehalt“ (GS1,125). Der „Sachgehalt“, die bloß propositionale „Aussa-

ge“ oder „Mitteilung“ eines Kunstwerks, macht noch nicht seinen ästhetischen Gehalt aus, den Benjamin

etwas zweideutig als „Wahrheitsgehalt“ umschreibt. „Was »sagt« denn eine Dichtung? Was teilt sie mit?

Sehr wenig dem, der sie versteht. Ihr Wesentliches ist nicht Mitteilung, nicht Aussage.“ (GS4,9) Der

„Sachgehalt“ ist eine „Hülle“, hinter dem sich der „Wahrheitsgehalt“ des Werks verbirgt. Die Aufgabe

der Kritik besteht nicht darin, diese Hülle zu heben, sondern sich in sie als den Sachgehalt zu versen-

ken. Nur so kann ex negativo aufgewiesen werden, was sich im Werk gegen die Natur, den dargestellten

Sachgehalt, richtet. Dieses ist das „Ausdruckslose“, die Darstellung selbst. Benjamin kommt

„zu dem Ergebnis, daß Natur im Werk als das »Dargestellte« zu definieren sei. »Wahre Natur«, d.h. die Urphänomene, sind im Werk nur in der paradoxalen Grundbestimmung des Ästhetischen aufzuweisen. Eben diese Paradoxie, die Erscheinung eines per definitionem Unsichtbaren, die notwendig nichtidentische Wahrnehmung eines Anschaulichen, ist im Begriff der Darstellung gemeint.“742

Kritik forciert die Darstellungsleistung des Kunstwerks. Indem sie das Ausdruckslose aufweist, das sich

als Darstellung zwischen Sach- und Wahrheitsgehalt schiebt, führt die Kritik zu einer „Ansiedlung des

Wissens“ (BBr.,323) von der Wahrheit im Werk. „Im Begriff [...] Darstellung findet sich [...] der An-

spruch der Kunstwerke auf Wahrheit begründet“743, dem die Kritik nachgeht.

„Der Sachgehalt“ der Goetheschen „Wahlverwandtschaften“ ist „das Mythische“ (GS1,140). In einer

mythischen Sphäre „verfällt das Dasein“ der Protagonisten „unterscheidungslos [...] dem Begriff der

Natur“ (GS1,148). Die Figuren des Romans sind in ein Netz fataler Beziehungen verstrickt, das sie

742 a.a.O.: S. 25. 743 a.a.O.: S. 25/26.

232

selbst nicht zu zerreißen vermögen. Entscheidungslos verharren sie in einem unerträglichen Zustand,

der nur durch den Tod einer Person beendet werden kann. Ottilie, die am stärksten dem Mythos verfal-

lene Figur, opfert sich am Romanende und wird somit gleichzeitig zu der Figur, in welcher „am sicht-

barsten der Roman der mythischen Welt [entwächst]“ (GS1,173). Die dem Roman eingefügte Binnen-

novelle von den „wunderlichen Nachbarskindern“ führt dagegen Personen vor, die kraft einer bewuß-

ten „Entscheidung“ (GS1,170) „kein Schicksal mehr haben“ (GS1,171). Die Binnennovelle entwirft

eine Gegenwelt zu der des Romans: „Den mythischen Motiven des Romans entsprechen jene der No-

velle als Motive der Erlösung. Also darf, wenn im Roman das Mythische als Thesis angesprochen wird,

in der Novelle die Antithesis gesehen werden.“ (GS1,171) Diese Antithesis bleibt auf ihre Thesis ver-

wiesen. Mit anderen Worten, „Wahrheit“ existiert nur als Negation des Mythos. „Das Ausdruckslose“,

welches die Wahrheit freisetzt, steht „zum Schein im Gegensatz“, aber auch in „notwendigem Verhält-

nis“ (GS1,194). Was nicht in der Verrechnung auf den dargestellten Sachgehalt aufgeht, sondern als

produktive und transformierende Darstellung „Natur“ in „Geschichte“ überführt und somit „Welt“ im

Sinne von Bewußtheit erschließt, ist die „Wahrheit“ des Kunstwerks.

Die Instanz, in der sich „Wahrheit“ als Kritik des Mythos im Kunstwerk ankündigt, ist die ästhetische

„Form“ (GS1,180). Diese „verzaubert“ das Chaos der Natur „auf einen Augenblick zur Welt. Daher

darf kein Kunstwerk gänzlich ungebannt lebendig erscheinen, ohne bloßer Schein zu werden und auf-

zuhören, Kunstwerk zu sein.“ (GS1,180/181) Scheinhaft wird das Kunstwerk nur dann, wenn es sich

als Natur gebärdet, wenn es im Versuch aufgeht, wie etwas außerhalb seiner selbst sein, als etwas er-

scheinen zu wollen, das immer schon ist: Natur. „Was diesem Schein Einhalt gebietet, die Bewegung

bannt und der Harmonie ins Wort fällt ist das Ausdruckslose.“ (GS1,181) Als „Einspruch des Wahren

gegen die mythische Totalität des Schönen bezeichnet Benjamin [...] das »Ausdruckslose«“744. Dieses

„zerschlägt, was in allem schönen Schein als die Erbschaft des Chaos noch überdauert: die falsche, ir-

rende Totalität - die absolute. Dieses erst vollendet das Werk, welches es zum Stückwerk zerschlägt,

zum Fragmente der wahren Welt, zum Torso eines Symbols.“ (GS1,181)

Das Kunstwerk partizipiert an der Stelle an der Wahrheit, an der es seinen eigenen Schein durchbricht.

Dieser Schein ergibt sich aus dem Streben des Kunstwerks, wie eine naturhafte Ordnung erscheinen,

Natur nachahmen zu wollen. „Das Ausdruckslose ist die kritische Gewalt, welche Schein vom Wesen in

der Kunst zwar zu trennen nicht vermag, aber ihnen verwehrt, sich zu mischen.“ (GS1,181) Das

Kunstwerk durchbricht seine Scheinhaftigkeit an dem Punkt, an dem es eine Gegenwelt zur im Werk

dargestellten Welt in sich aufnimmt und sich im Bezug auf diese Gegenwelt über sich selbst erhebt. In

Gestalt der „Novelle“ gewinnen Goethes „Wahlverwandtschaften“ ein zweites Zentrum, das den

Schein der Ganzheit des Werks zerstört, es in einen „Torso“ verwandelt. Erst als Torso hat es Anteil an

der Ordnung des „Symbolischen“, die in Benjamins Philosophie die Ordnung der Wahrheit verkörpert.

Im „Symbol“ sieht Benjamin die Ordnung vollkommener Deckungsgleichheit von Signifikat und Signi- 744 a.a.O.: S. 27.

233

fikant. „Das Symbolische aber ist das, worin die unauflösliche und notwendige Bindung eines Wahr-

heitsgehaltes an einen Sachgehalt erscheint.“ (GS1,152) Dieses Symbolische ist eine regulative Idee.

„Der Gegenstand des Symbols ist imaginär. Ein Symbol bedeutet nichts, sondern ist, nach seinem We-

sen, die Einheit der Zeichen und der ihren Gegenstand vollendenden Intention. Diese Einheit ist eine

objektiv intentionale, ihr Gegenstand ist imaginär.“ (GS6,21/22) In einem Fragment aus der Zeit um

1920 heißt es: „Die Wahrheit ist der Inbegriff der Erkenntnisse als Symbol.“ (GS6,47) Als Vorbild für

seinen Symbolbegriff gibt Benjamin Goethes „Urphänomen“ an, eine „wesentliche Erscheinung“ oder

eine Erscheinung, die kein Schein von etwas sei. „Das Urphänomen ist ein systematisch-symbolischer

Begriff. Es ist als Ideal Symbol.“ (GS6,38). Im Gegensatz zu Goethe siedelt Benjamin die Urphänome-

ne nicht im Bereich des Sinnlich-Phänomenalen, sondern in der Sprache an. „Philosophie ist absolute

Erfahrung deduziert im systematisch symbolischen Zusammenhang als Sprache.“ (GS6,37) Den sich in

diesem Zitat ausdrückenden Glauben an einen philosophischen Zugang zur Sphäre des Symbolischen

verwirft Benjamin später. An die Stelle der Philosophie rückt die Kunst. „Die Kunstwerke sind der Ort

der Wahrheit. Soviel echte Werke, soviel letzte Wahrheiten“ (GS6,46). Kunstwerk und Wahrheit stehen

für Benjamin im Gegensatz zur platonischen Tradition in keiner Relation der Deckung oder Repräsen-

tation, sondern ihre Beziehung ergibt sich aus einer immanenten Unvollständigkeit des Kunstwerks,

welche auf die Ordnung des Symbolischen verweist. Das Kunstwerk ist der „Torso eines Symbols“

(GS1,181). Die Kritik verwandelt das Kunstwerk, indem sie die Darstellung gegen das Dargestellte

kehrt, in einen Torso. Kunstkritik in diesem Sinne „stellt den paradoxen Versuch dar, am Gebilde noch

durch Abbruch zu bauen“ (GS1,87). Benjamins Bestimmung der Kritik am Ende seiner Dissertation als

„Ansiedlung der Blendung im Werk“ (GS1,119) erweist sich gleichzeitig als „Ansiedlung des Wissens“

(GS1,357) im Werk. Auch die Kritik „blendet“ und „macht sehend“. Die kritische Mortifikation oder

Dekonstruktion des propositionalen Sachgehalts legt das im Werk über diesen Sachgehalt Hinauswei-

sende frei, sie erschließt das Neue, welches sich im Werk abzeichnet. Dekonstruktion und Welter-

schließung fallen für Benjamin zusammen.

In gelungenen Kunstwerken „spiegelt sich die Signatur einer der Erlösung harrenden Welt“745. In ihnen

wird der Mensch aus seiner Verstrickung in Natur erlöst - das besagt die Rede vom „Wahrheitsgehalt“

der Werke. Die Schönheit hoher Kunst ist in diesem Sinne kein Reflex ihres Scheins, sondern entsteht

da, wo der Schein gebrochen wird.

„Nicht also ist, wie banale Philosopheme lehren, die Schönheit selbst Schein. Vielmehr enthält die berühmte Formel, wie sie zuletzt in äußerster Verflachung Solger entwickelte, es sei Schönheit die sichtbar gewordene Wahrheit, die grundsätzlichste Entstellung dieses großen Gegenstandes.“ (GS1,194).

„Wahrheit“ in ihrem eigentlichen Sinn, der über „logische Richtigkeit“ hinausweist, existiert nie außer-

halb eines Kunstwerks. Sie erscheint nicht wie das Schellingsche Absolute, die platonische Idee oder

Goethes Natur im Werk als etwas, das auch unabhängig von diesem denkbar wäre. Kunstwahrheit ist

745 a.a.O.: S. 29.

234

für Benjamin eine Wahrheit eigener Geltung: „Mit der »wahren Welt«, zu dessen Fragment das Werk

wird, ist nicht die Natur Goethes, sondern die Welt der Geschichte gemeint.“746 Diese verkörpert ge-

genüber der unbewußt-natürlichen Welt eine Form bewußter Existenz. Im Kunstwerk wird eine „na-

türliche“ Welt in eine „geschichtliche“ verwandelt. Das Kunstwerk spiegelt die geschichtliche Welt

nicht wie eine Natur wider, sondern erzeugt Geschichte, indem ein Ausschnitt der Welt neu interpretiert

wird, indem sich neue Perspektiven eröffnen, neue Richtungen eingeschlagen werden. Die „Formel“,

die „Schönheit zu einem Schein“ außergeschichtlicher Wahrheit macht, „läuft zuletzt [...] auf philoso-

phisches Barbarentum hinaus“ (GS1,195), auf eine Heteronomie des Ästhetischen. „Geschichte“ exis-

tiert im Gegensatz zum Absoluten, zur Idee und zur Natur nicht bereits vor dem Kunstwerk, sondern

ist dessen Produkt. Benjamin bleibt mit dieser These der romantischen Überzeugung verbunden, daß

Kunstwerke Motoren einer Innovation oder Entwicklung seien, die mit „Geschichte“ gleichgesetzt

werden könne. Vicos Axiom, daß der Mensch die Geschichte mache, wird von Benjamin dahingehend

expliziert, daß es die ästhetische Kompetenz des Menschen sei, welche die Geschichte macht.

Am Ende seines umfangreichen Aufsatzes „Über Goethes Wahlverwandtschaften“ zieht Benjamin ein

Resümee der kunstphilosophischen Ergebnisse, die er im Durchgang durch die konkrete Gestalt des

Goetheschen Romans entfaltet hat:

„Nicht Schein, nicht Hülle für ein anderes ist die Schönheit. Sie selbst ist nicht Erscheinung, sondern durchaus Wesen, ein solches freilich, welches wesenhaft sich selbst gleich nur unter der Verhüllung bleibt. Mag daher Schein sonst überall Trug sein - der schöne Schein ist die Hülle vor dem notwendig Verhülltesten. Denn weder die Hülle noch der verhüllte Gegenstand ist das Schöne, sondern dies ist der Gegenstand in seiner Hülle.“ (GS1,195)

Das „notwendig Verhüllteste“ entspricht in dieser Sentenz dem Wahrheitsgehalt, der nie an sich er-

scheint, sondern immer nur in seiner kritischen Anbindung an die Natur, das Dargestellte. Schönheit

entspringt dem Ausdruckslosen, dem, was sich als Darstellung zwischen die dargestellte „Natur“ und

das „notwendig Verhüllteste“, den Wahrheitsgehalt, schiebt und diesen partiell, ex negativo, freisetzt.

„Also wird allem Schönen gegenüber die Idee der Enthüllung zu der der Unenthüllbarkeit. Sie ist die Idee der Kunstkritik. Die Kunstkritik hat nicht die Hülle zu heben, vielmehr durch deren genaueste Erkenntnis als Hülle erst zur wahren Anschauung des Schönen sich zu erheben.“ (GS1,195)747

Die Aufgabe der Kunstkritik besteht nicht in einer propositionalen Freisetzung des Wahrheitsgehalts,

sondern in dessen „Darlegung“ oder „Darstellung“. Kunstkritik richtet sich auf eine konstitutive Diffe-

renz im Werk, sie ist „der Hüter der Schwelle“ (GS2,242) zwischen „Natur“ und „Wahrheit“, der die

dargestellte Natur „mortifiziert“, um etwas Unbenennbares freizusetzen, ein Jenseits der Natur als

746 a.a.O.: S. 28. 747 Diese Bestimmung der Schönheit als „Unenthüllbarkeit“ erinnert stark an Heideggers Jahre später entwickelte Analyse

des Ästhetischen als Spiel von „Verbergung“ und „Entbergung“, von „Welt“ und „Erde“. „Niemals noch wurde ein wahres Kunstwerk erfaßt, denn wo es unausweichlich als Geheimnis sich darstellte“ (GS1,195), schreibt Benjamin. Die-ses Geheimnis ist im Gegensatz zu demjenigen Heideggers das, was sich über die Natur zu erheben im Begriff ist, was sich erst ankündigt. Für Heidegger liegt das Geheimnis des Kunstwerks dagegen gerade in seiner „Erdhaftigkeit“, seiner Nähe zum „bloßen Ding“, zur „Natur“ im Sinne Benjamins. Dessen Bestimmungen kehren diejenigen Heideggers um. Nicht die „Erde“ oder die „Natur“ „lichtet“ sich aus Benjamins Sicht in Kunstwerken, sondern die geschichtlich gedach-te „Welt“, die durch eine darstellerische Kritik der „Natur“ freigesetzt wird.

235

Summe des Bestimmbaren und Identischen. Dieses Jenseits wäre „Geschichte“ in einem emphatischen

Sinne, ein erlöster Zustand. Dieser ist nur, und darin gleicht Benjamin der Romantik, eine regulative

Größe, ein Text, an dem jedes Kunstwerk schreibt, ohne das er jemals abgeschlossen werden könnte.

Kunstwerke legen für Benjamin nicht direkt Zeugnis von einem messianischen Zustand ab. Darin un-

terscheidet sich seine Kunstphilosophie von der „Ästhetik des Vorscheins“ seines Freundes Bloch.

Kunstwerke schaffen aus der Sicht Benjamins überhaupt erst die Möglichkeit, einen messianischen, von

Natur erlösten Zustand denken zu können. Dieser Zustand wäre, hermeneutisch gesprochen, die zu

Ende erschlossene Welt. Gegen diese - schon wieder unhermeneutische - Möglichkeit hält diese Arbeit

an der konstitutiven Unabschließbarkeit ästhetischer Welterschließung fest. Kunstwerke transformieren

Natur in Geschichte, ohne auf ein Telos vollständiger Erlösung Bezug nehmen zu müssen.

Benjamins Konzept eines „Wahrheitsgehalts“ der Kunst läßt sich wie bereits angedeutet unter dem

Vorbehalt einer Ausblendung seiner eschatologischen Dimension als ein Konzept ästhetischer Welter-

schließung dechiffrieren. Dieser Zusammenhang wird im Hölderlin-Aufsatz aus dem Jahr 1917 noch

deutlicher. Seiner Interpretation der beiden späten Hölderlinschen Hymnen „Dichtermut“ und „Blö-

digkeit“ stellt Benjamin eine längere methodologische Reflexion voran. Benjamin grenzt sein Verfahren

zunächst von traditionellen Zugangsweisen zu literarischen Texten ab. „Nichts über den Vorgang des

lyrischen Schaffens wird ermittelt, nichts über Person und Weltanschauung des Schöpfers“ (GS2,105),

heißt es. Die biographistische These, daß der Gehalt eines Werkes „aus des Dichters Leben einzig und

allein verständlich sei“, erklärt Benjamin an anderer Stelle als „proton pseudos der Methode“ (GS1,155).

Gleichzeitig wendet er sich immer wieder gegen jede Art von Einflußphilologie, die sich darauf be-

schränkt, Werke als Vorläufer oder Nachfolger anderer Werke aufzufassen: „Irgendwelche Verwandt-

schaften im Schaffen verschiedener Dichter, verschiedener Epochen aufzuweisen, mag allenfalls ein

pedantisches Bildungsbedürfnis befriedigen, führt aber zu gar nichts“ (GS2,641). Anstelle von Biogra-

phie und Werkgenese soll „die innere Form, dasjenige, was Goethe als Gehalt bezeichnete, [...] an die-

sen [= Hölderlins] Gedichten aufgewiesen werden.“ (GS2,105) Als Voraussetzung zur Ermittlung des

Gehalts der Gedichte gibt Benjamin die Rekonstruktion der „dichterische Aufgabe“ (GS2,105) an. Die-

se „Aufgabe wird aus dem Gedichte selbst abgeleitet. Sie ist auch als Voraussetzung der Dichtung zu

verstehen, als die geistig-anschauliche Struktur derjenigen Welt, von der das Gedicht zeugt.“ (GS2,105)

Die Aufgabe der Dichtung, die sich in ihrer inneren Form ausdrückt, entspricht der Welt, die das Ge-

dicht erschließt. Diese Welt liegt nicht im dargestellten Inhalt des Gedichts offen zutage, sondern ent-

springt der inneren Darstellungsform, der dichterischen „Aufgabe“. Die Welt, von der das Gedicht

zeugt, ist dessen Aufgabe. Sie kündigt sich erst an und wird somit auch zu einer Aufgabe für die kriti-

sche Interpretation. Was durch die Interpretation ermittelt wird, ist „die besondere und einzigartige

Sphäre, in der Aufgabe und Voraussetzung des Gedichts liegt. Diese Sphäre ist Erzeugnis und Gegens-

tand der Untersuchung zugleich“ (GS2,105). Das, was die Kritik untersucht, die Sphäre „derjenigen

Welt, von der das Gedicht zeugt“ (GS2,105), ist gleichzeitig Produkt der kritischen Reflexion, welche

236

nicht einfach mit dem Gedicht selbst identisch ist. Benjamin nennt diese Sphäre auch in Abgrenzung

zum „Gedicht“ das „Gedichtete“. Die Sphäre der sich im Gedicht ankündigenden Welt „kann nicht

mehr mit dem Gedicht verglichen werden“ (GS2,105), sie entspringt einer inneren Differenz des Ge-

dichtes mit sich selbst, die durch die Kritik forciert wird. „Diese Sphäre, welche für jede Dichtung eine

besondere Gestalt hat, wird als das Gedichtete bezeichnet.“ (GS2,105) Vom Gedicht unterscheidet sich

das Gedichtete „als ein Grenzbegriff, als Begriff seiner Aufgabe“ (GS2,106). In der Sphäre des Gedich-

teten, der sich als Aufgabe abzeichnenden Welt,

„soll jener eigentümliche Bezirk erschlossen werden, der die Wahrheit der Dichtung enthält. Diese »Wahrheit«, die gerade die ernstesten Künstler von ihren Schöpfungen so dringend behaupten, soll verstanden sein als Gegenständlichkeit ihres Schaffens, als die Erfüllung der jeweiligen künstlerischen Aufgabe. »Jedes Kunstwerk hat ein ideal a priori, eine Notwendigkeit bei sich, da zu sein.« (Novalis) Das Gedichtete ist in seiner allgemeinen Form synthetische Einheit der geistigen und anschaulichen Ordnung. Diese Einheit erhält ihre besondere Gestalt als innere Form der besonderen Schöpfung.“ (GS2,105/106)

Als der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke erscheint hier nichts anderes als die sich als „Aufgabe“ ab-

zeichnende „Welt“, das „Gedichtete“, das sich in der „inneren Form“, die in diesem Aufsatz als Syn-

onym für „Gehalt“ steht, ankündigt. Die beiden konträren Pole, mit deren Konfrontation die Roman-

tik-Dissertation abschließt, Goethes „Gehalt“ und Schlegels „Form“, werden in der Kategorie des

„Gedichteten“ zur Deckung gebracht: „Das Gedichtete [...] bewahrt [...] die fundamentale ästhetische

Einheit von Form und Stoff in sich“ (GS2,106), in ihm liegt beieinander, was Goethe und die Roman-

tiker jeweils getrennt voneinander verfolgen: Form und Gehalt, Idee und Ideal. Weder im Inhalt, noch

in der Form des Gedichts, sondern im „Gedichteten“ bezieht sich dieses auf die Welt.

„Das Gedichtete erweist sich also als Übergang von der Funktionseinheit des Lebens zu der des Gedichts. In ihm bestimmt sich das Leben durch das Gedicht, die Aufgabe durch die Lösung. [...] Das Leben ist allgemein das Gedichtete der Gedichte [...]. Das Leben liegt als letzte Einheit dem Gedichteten zum Grunde.“ (GS2,107)

Der Bezug des Gedichts auf die Welt wird von Benjamin als struktureller Bezug innerhalb des Gedich-

tes selbst aufgefaßt. Die welterschließende Leistung der Gedichte vermittelt sich nicht über Verhältnis-

se der Abbildlichkeit, sondern über eine irreduzible Dichte interner Relationen. Indem es sich in sich

selbst unendlich verdichtet, wird das Gedicht zu einem Reflex auf die Welt. Was er in anderen Texten

im Anschluß an Novalis „Notwendigkeit“ eines Kunstwerks nennt, definiert Benjamin hier als dessen

„Gesetz der Identität“ (GS2,112). Dieses

„besagt, daß alle Einheiten im Gedicht schon in einer intensiven Durchdringung erscheinen, niemals die Elemente rein erfaßbar sind, vielmehr nur das Gefüge der Beziehungen, in dem die Identität des einzelnen Wesens Funktion einer unendlichen Kette von Reihen ist, in denen das Gedichtete sich entfaltet. Das Gesetz, nach dem sich alle Wesenheiten im Gedichteten als Einheit der prinzipiell unendlichen Funktionen zeigen, ist das Identitätsgesetz. Kein Element kann irgend bezugsfrei sich aus der Intensität der Weltordnung, die im Grunde gefühlt ist, herausheben.“ (GS2,112)

Benjamins interpretatorisches Vorgehen im Hölderlin-Aufsatz nimmt das des späteren Strukturalismus

vorweg. Die Aufgabe des Kritikers gegenüber den Hölderlinschen Gedichten besteht darin, „die Inten-

sität der Verbundenheit der anschaulichen und der geistigen Elemente nachzuweisen“ (GS2,108) Das

„Prinzip des Gedichteten“, das „Produkt“ des ästhetischen Kommentars sein soll, „ist die Alleinherr-

237

schaft der Beziehung“ (GS2,124) im Gedicht. Das „letzte Gesetz dieser Welt“, die sich im Gedichteten

abzeichnet, ist „die Verbundenheit: als Einheit der Funktion von Verbindendem und Verbundenem.“

(GS2,122) Im Gegensatz zum späteren Strukturalismus geht Benjamins Analyse nicht im Aufweis eines

formalistischen Spiels interner Relationen einzelner Morpheme, Phoneme, Syntagmen usw. auf. Benja-

min zeigt vielmehr, daß die „Intensität der Durchdringung“ eine der Darstellung und des Dargestellten

ist, eine Durchdringung von Werk und Welt. Das „Gedichtete selbst [ist] eine Sphäre der Beziehung

von Kunstwerk und Leben“ (GS2,108), es „erweist sich“ als „Übergang von der Funktionseinheit des

Lebens zu der des Gedichts.“ (GS2,107) Und umgekehrt: „Das Leben ist allgemein das Gedichtete der

Gedichte.“ (GS2,107) „Leben“ denkt Benjamin genausowenig wie Spengler in einem vitalistischen Sinn.

Ihm schwebt vielmehr ein „unmythischer, schicksalloser Lebensbegriff“ (GS2,111) vor, der Spenglers

impliziter Formel „Leben = Geschichte“ entspricht. Kritik der Kunst im Sinne Benjamins ist immer

sowohl eine Kritik des Lebens, als auch eine Kritik, die Leben aus Kunstwerken entspringen läßt. Ganz

analoge Gedanken verfolgt Croce:

„Aus diesem Grund erweitert sich die Kunstkritik, wenn sie wirklich ästhetisch oder auch historisch ist, zugleich zur Kritik des Lebens, da sie die Kunstwerke nicht beurteilen, d.h. charakterisieren kann, ohne zugleich die Werke des ganzen Lebens zu beurteilen und zu charakterisieren.“748

Der Schwerpunkt der Betrachtung lag bisher auf Benjamins Versuchen, literarische Kritik philoso-

phisch zu begründen. Bei diesem Begründungsprojekt ist Benjamin nicht stehengeblieben. Seine litera-

turkritischen Leistungen gehören zu den bedeutendsten dieses Jahrhunderts. Seine Lektüren markieren

wie die der Romantiker einen literarischen Kanon: den der literarischen Moderne. Er kritisiert Werke

Kafkas, Prousts, Robert Walsers, Kraus’, Baudelaires, Brechts, der Surrealisten, Gides, Valerys und vie-

ler andere. Insbesondere die französische und russische Literatur seiner Zeit brachte Benjamin in

Deutschland einem breiteren Publikum näher. Neben Ernst Robert Curtius und Heinrich Mann kann

Benjamin als einer der bedeutendsten Vermittler zwischen dem französischen und deutschen Geistes-

leben der Zwanziger und dreißiger Jahre gelten. Alle seine teilweise umfangreichen Kritiken lösen das

oben dargelegte Konzept von Kunstkritik nicht einfach ein, sie sind nicht einfach Manifestationen eines

an und für sich bestehenden Kritik-Konzepts. Benjamin bemüht sich vielmehr an jedem Gegenstand

immer wieder neu, auf die Möglichkeit seiner Kritisierbarkeit zu reflektieren. In einem seiner beiden

Aufsätze über Kafka definiert er sein Vorgehen z.B. als „Deutung des Dichters aus der Mitte seiner

Bildwelt.“ (GS2,678) Die Praxis dieser Art von Deutung nimmt vorweg, was Fellmann heute eine „In-

terpretation nach den Bildern“ nennt, welche etwas anderes ist als

„die Interpretation der Bilder. Die Bilder sind nicht Gegenstand, sondern Leitfaden der Interpretation, das Medium gleichsam, das zwischen den zu interpretierenden sprachlichen oder andersartigen Äußerungen und dem »Sinn« als dem Ziel der Interpretation vermittelt.“749

748 Benedetto Croce: Grundriß der Ästhetik. Vier Vorlesungen. Autorisierte deutsche Ausgabe von Theodor Poppe. Leipzig

1913. S. 84. 749 Ferdinand Fellmann: Symbolischer Pragmatismus. A.a.O.: S. 212.

238

Die Bilderwelt, in der Benjamin das Werk Kafkas verortet, ist einerseits die der bürokratisierten Groß-

stadt, andererseits die einer erlösten Welt, die sich in der entstellten Welt Kafkas abzeichne.

Im Laufe seiner weiteren Entwicklung läßt sich eine gewisse Exoterisierung von Benjamins Kritikkon-

zepts beobachten. Im Gefolge der sich immer stärker abzeichnenden politischen Spaltung der Weima-

rer Republik während der Zwanziger Jahre rückt der politische Aspekt literarischer Kritik in den Vor-

dergrund des Benjaminschen Interesses. „Der Kritiker ist Stratege im Literaturkampf“ (GS4,108), heißt

es programmatisch in der „Einbahnstraße“. Die Politisierung seines Kritik-Verständnisses stellt keine

Wende im Vergleich zum frühen Kritik-Begriff dar, sondern liegt in dessen logischer Konsequenz. Die

früheste Definition der Kritik, „das Künftige aus seiner verbildeten Form im Gegenwärtigen erkennend

zu befreien“ (GS2,75), wird vom engen Bereich der Literatur auf den der modernen Lebenswelt als

ganzer extrapoliert. Benjamin wandelt sich vom Literaturkritiker zum kulturwissenschaftlichen Kritiker

der Dingwelt.

239

4.3. „Kritik“ und „Erfahrung“ in Benjamins Geschichtsphilosophie

„Der Historiker ist ein rückwärts gekehrter Prophet.“

Friedrich Schlegel (KA2,176)

Dieses Kapitel versucht, dem Zusammenhang von Ästhetik und Geschichtsphilosophie im Spätwerk

Benjamins nachzugehen. Es soll gezeigt werden, wie Benjamin seinen auf dem Feld der Kunsterkennt-

nis erarbeiteten Kritik-Begriff für geschichtsphilosophische Erkenntnis fruchtbar zu machen trachtet.

Die Eckpunkte dieses Versuchs bilden die Texte „Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der

europäischen Intelligenz“ (1929), „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“

(11935), „Über den Begriff der Geschichte“ (1940), die in den Dreißiger Jahren entstandenen Fragmen-

te des „Passagen-Werks“ und der Aufsatz „Über einige Motive bei Baudelaire“ (1939), der ursprünglich

als Kapitel des „Passagen-Werks“ konzipiert wurde. Der Zusammenhang von Ästhetik und Ge-

schichtsphilosophie bei Benjamin wird durch kein übergreifendes Theoriegebäude gestiftet, unter des-

sen Dach sich beide Disziplinen reibungslos ko- und subordinieren ließen. Benjamin hat der Nachwelt

kein ausgearbeitetes philosophisches System hinterlassen; ein solches wäre den Gehalten seines Den-

kens konträr. Das zentrale Formprinzip seiner philosophischen Schriften ist das des Essayismus’, wel-

ches Adorno als per se antisystematisch bezeichnet. Der Essay enthält sich „jeder Reduktion auf ein

Prinzip“750, aus dem sich alle Einzelaspekte einer Theorie deduzieren ließen. Trotz seines antisystemati-

schen Impetus’ bleibt der Essay aber auf Erkenntnis gerichtet, er erhebt „einen Anspruch auf Wahrheit

bar des ästhetischen Scheins“751. Der Essayismus, das Fehlen eines übergeordneten Systemzusammen-

hangs, bedeutet nicht, daß das Werk Benjamins in völlig disparate Einzelmomente zerfiele, die sich in

keiner Weise untereinander vermitteln ließen. In diesem Kapitel wird der Versuch unternommen, im

Konzept der „Kritik“ einen Gelenkpunkt zwischen den ästhetischen und den geschichtsphilosophi-

schen Projekten Benjamins zu suchen. Neben den Begriff der „Kritik“, der uns aus dem Frühwerk

Benjamins geläufig ist, tritt im Spätwerk der Begriff der „Erfahrung“ als zweites Zentrum des Benja-

minschen Denkens. Kritik wird für Benjamin zum Organon des Erwerbs von geschichtlicher Erfah-

rung in einer nachtraditionalen Zeit, in der „die Erfahrung im Kurs gefallen“ (GS2,214) ist.

Benjamins „Geschichtsphilosophie“ fragt nicht nach dem Wesen der Geschichte. In seinen Thesen

„Über den Begriff der Geschichte“ und in den Konvoluten K und N des „Passagen-Werks“ entfaltet

Benjamin vielmehr eine Theorie materialistischer Geschichtsschreibung. Vor der Frage nach dem „Wesen

der Geschichte“ interessieren ihn die „Bedingungen der Möglichkeit historischer Erfahrungen“752 und

750 Theodor W. Adorno: Der Essay als Form. In: Ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt a.M. 1981. S. 9-33. Hier: S. 17. 751 a.a.O.: S. 11. 752 Norbert Bolz: Bedingungen der Möglichkeit historischer Erfahrung. In: Norbert Bolz und Bernd Witte (Hg.): Passagen.

Walter Benjamins Urgeschichte des XIX. Jahrhunderts. München 1984. S. 137-162.

240

die Funktionalisierbarkeit dieser historischen Erfahrungen für den Befreiungskampf der unterdrückten

Klassen.

241

4.3.1. Surrealistische aisthesis als Aufklärung

Eine erste „Passage“ von der Kunstkritik zur Geschichtsphilosophie führt für Benjamin über die Re-

zeption des literarischen Surrealismus. Im spezifisch surrealistischen Blick auf die Dinge findet Benja-

min ein heuristisches Instrument, das es ihm erlaubt, sein frühes Kritik-Konzept auf neue Phänomen-

bereiche zu extrapolieren, auf die Dingwelt der Metropolen der Moderne. Die Surrealisten verfolgen

aus der Sicht Benjamins das Ziel, die destruktiv-konstruktive Logik des Ästhetischen aus ihrer Bindung

an autonome Werke zu befreien, und sie unter Beibehaltung ihrer spezifischen Rationalität als kritisch-

politisches Instrument zu nutzen.

Benjamins Auseinandersetzung mit den Autoren des französischen Surrealismus’ ist ein zentraler Pfei-

ler seiner Erfahrungstheorie. Im Jahre 1925, dem Jahr der Niederschrift des Trauerspiel-Buchs, entsteht

seine erste Arbeit zum Surrealismus, eine kurze Glosse mit dem Titel „Traumkitsch“ (GS2,620ff.). Pe-

ter Bürger behauptet, daß schon der Allegorie-Begriff des Trauerspiel-Buchs nur auf der Basis einer

vorherigen Kenntnis von unorganischen Kunstwerken wie den surrealistischen Collagen möglich war:

„Benjamins Erfahrung im Umgang mit Werken der Avantgarde ist es, die sowohl die Entwicklung der

Kategorie [= Allegorie] als auch ihre Anwendung auf die Literatur des Barock ermöglicht - nicht umge-

kehrt.“753 Bürger beruft sich zur Stützung seiner These auf eine von Asja Lacis überlieferte, mündliche

Äußerung Benjamins, derzufolge das Trauerspiel-Buch „in unmittelbarem Bezug zu sehr aktuellen

Problemen der zeitgenössischen Literatur“754 stehe.

Zentrale Topoi des 1929 veröffentlichten, größeren Essays „Der Sürrealismus, Die letzte Momentauf-

nahme der europäischen Intelligenz“ (GS2,295ff.) sind in „Traumkitsch“ schon angelegt. Die Glosse

hebt an mit den Sätzen: „Es träumt sich nicht mehr recht von der blauen Blume. Wer heut als Heinrich

von Ofterdingen erwacht, muß verschlafen haben.“ (GS2,620) Die blaue Blume, die dem Romanhelden

im Traum erscheint, gilt in der Literaturgeschichte als das Symbol romantischer Dichtung. Bei Benjamin

wird sie zu einem Anachronismus. Doch nicht nur die romantische Dichtung ist im Jahre 1925 unzeit-

gemäß geworden. Mit den Surrealisten endet für Benjamin die gesamte bisherige Literaturgeschichte.

Die Surrealisten „glaubten, ein Geheimnis der Dichtung gefunden zu haben, - in Wahrheit stellten sie

das Dichten ab, wie alle intensivsten Kräfte dieser Zeit.“ (GS2,621)755 Bürger kennzeichnet die hier von

753 Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Frankfurt a.M. 1974. S. 93. 754 a.a.O.: S. 114. 755 Benjamin übersieht, daß die Surrealisten ihre Kritik an der Kunst nur als Künstler haben üben können. Die „surrealisti-

sche Erfahrung“ existiert nur im surrealistischen Text. Der Versuch einer Selbstüberschreitung der Kunst muß insofern mißlingen. Die historischen Avantgarde-Bewegungen (Dadaismus, Surrealismus und Futurismus) vermögen nur, die Grenzen der Kunst zu erweitern, nicht aber die Kunst als Institution von innen zu sprengen. Marcel Duchamps Fla-schentrockner und Barhocker fanden Eingang in die kulturellen Archive. Darum unterscheiden sich die Avantgarde-Bewegungen nicht prinzipiell von jeder anderen Form autonomer Kunst, die es immer mit Grenzverschiebungen zu tun hat. Ästhetiker wie Danto und Groys können deshalb gerade surrealistische und dadaistische Objekte als exemplarisch für die Struktur ästhetischer Gebilde analysieren.

242

Benjamin am Surrealismus aufgewiesene Selbstüberschreitungstendenz der Kunst in den ersten Jahr-

zehnten dieses Jahrhunderts folgendermaßen: „Die europäischen Avantgardebewegungen lassen sich

bestimmen als Angriff auf den Status der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft. [...] Negiert wird [...]

die Institution Kunst als eine von der Lebenspraxis der Menschen abgehobene.“756 Aus der Sicht Ben-

jamins und Bürgers wurde der Begriff der autonomen Kunst in der späten Moderne problematisch,

nachdem sie als Höhepunkt eines Prozesses fortschreitender Autonomisierung schließlich in den Wer-

ken Mallarmés und der abstrakten Malerei jeden vordergründigen Weltbezug aufgegeben hat. Bürger

führt aus:

„‘Kunst’ muß sich selbst in dem Augenblick problematisch werden, wo sie alles ‘Kunstfremde’ ausgesondert hat. Das Zusammenfallen von Institution [d.i. Kunst als von der Lebenspraxis abgehobene Institution] und Gehalten enthüllt die gesellschaftliche Funktionslosigkeit als Wesen der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft und fordert damit die Selbstkritik der Kunst heraus. Es ist das Verdienst der historischen Avantgardebewegungen, diese Selbstkritik praktisch geleistet zu haben.“757

Benjamin greift die avantgardistische „Selbstkritik der Kunst“ in der Moderne auf und geht so weit, daß

er den Begriff des autonomen Kunstwerks in einigen seiner Texte in Frage stellt. Seine zeitweise radika-

le Position eines gänzlichen Verzichts auf autonome Kunstwerke bleibt melancholisch gebrochen. Ben-

jamin bezieht sie nicht um ihrer selbst willen; sie erscheint ihm vielmehr als eine notwendige Konse-

quenz seiner Erfahrungstheorie. Liegt die Gemeinsamkeit aller, sich selbst in einer Marxistischen Tradi-

tion verstehenden ästhetischen Theorien im 20. Jh. darin, daß sie Kunstwerke und Kunstgattungen

„historisieren“758, so unterscheidet sich Benjamin von dieser Traditionslinie dadurch, daß er vorwiegend

ästhetische Apperzeptionsweisen historisiert:

„Die Werke von Baudelaire, Proust und Kafka [sind] für Benjamin literarische Indikatoren von Wahrnehmungsveränderungen, wie sie durch die moderne Großstadt - Paris, London, Berlin als aus der Kapitalakkumulation hervorgegangene komplexe Gebilde - bewirkt werden.“759

Die veränderten Horizonte von Wahrnehmung und Erfahrung in der Moderne machen für Benjamin

die gelungene Rezeption auratischer Kunst unmöglich. In der Moderne

„wird die Konstitution der Totalität von Weltbild und Welterfahrung zunehmend durch die funktionale Zerissenheit der Lebens- und Arbeitszusammenhänge und die hierzu analoge Veränderung von Wahrnehmung wie von deren dauerhaften Sediment, der Erfahrung erschwert.“760

Zerrissenheit des Erfahrungszusammenhangs und Zerstreutheit der Wahrnehmung verunmöglichen

jede kontemplative Rezeption von Kunst in der modernen Großstadt. Robert Musil kleidet die Depla-

ziertheit des auratischen Kunstwerks in der technisierten Lebenswelt in ein schönes Bild:

„Warum greift der in Erz gegossene Held nicht wenigstens zu dem anderwerts längst überholten Mittel, mit dem Finger an eine Glasscheibe zu klopfen? Weshalb drehen sich die Figuren einer Marmorgruppe nicht umeinander, wie es bessere Figuren in den Geschäftsauslagen tun, oder klappen wenigstens die Augen auf und zu? Das

756 Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Frankfurt a.M. 1974. S. 66. 757 a.a.O.: S. 35. 758 Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Darmstadt/Neuwied 1971. S. 9. 759 Kai Pfankuch: Die Erfahrungstheorie Walter Benjamins als integraler Bestandteil seiner Geschichtsphilosophie und

Kunsttheorie. Inauguraldissertation. Frankfurt a.M. 1984. S. 79. 760 a.a.O.: S. 81.

243

mindeste, was man verlangen müßte, um die Aufmerksamkeit zu erregen, wären bewährte Aufschriften wie ‘Goethes Faust ist der beste!’ oder ‘die dramatischen Ideen des bekannten Dichters X sind die billigsten!’. Leider wollen das die Bildhauer nicht. Sie verstehen, wie es scheint, nicht unser Zeitalter des Lärms und der Bewegung.“761

In der an jeder Stelle auf Signalwirkung bedachten, modernen Großstadt, in der jeder Mensch und jedes

Ding zur Reklamefläche seiner selbst geworden ist, hat die Kunst ausgedient. Das ist die historische

Erfahrung, die der surrealistischen Ästhetik zugrundeliegt. Dieser Kritik des Surrealismus an der Abge-

hobenheit autonomer Kunst von der Lebenspraxis schließt sich Benjamin an: „Was wir Kunst nannten,

beginnt erst zwei Meter vom Körper entfernt.“ (GS2,622) Kunst figuriert in dieser Äußerung als ein

Vergangenes. Sie wird von den Surrealisten ersetzt durch einen ästhetischen Erfahrungsmodus, einen

Blick auf die Dinge, der diese dem Körper nahe rückt und nicht wie in der autonomen Kunst entrückt.

Dieser Erfahrungsmodus ähnelt dem des Traums. Der Traum der Surrealisten „eröffnet nicht mehr

[wie in der Romantik] eine blaue Ferne. [...] Die Träume sind nun Richtweg ins Banale.“ (GS2,620) Der

Traum wird den Surrealisten zu einem, kritischen Instrument, das sich dazu eignet, „ins Herz der abge-

schafften Dinge vorzustoßen“ und „die Konturen des Banalen zu entziffern.“ (GS2,621) Die kritische

„Traumanalyse“ der Surrealisten ist „der Seele weniger als den Dingen auf der Spur“ (GS2,621/622)

und grenzt sich somit von der psychoanalytischen Analyse des Traums ab. Im Profanen und Banalen

der großstädtischen Dingwelt entdecken die Surrealisten mittels ihrer spezifischen Traum-Optik Spuren

einer erlösten Welt. Ihr Verfahren steht in der Tradition des Lumpensammlers, den bereits Baudelaire

als Leitbild seiner dichterischen Tätigkeit betrachtet hat. Den Lumpensammler, mit dem der Dichter

die Armut teilt, stilisiert Baudelaire geradezu zum alter ego des Poeten. Benjamin weist auf dieses

Selbstverständnis Baudelaires hin: „Der chiffonnier ist die provokatorischste Figur menschlichen E-

lends. Lumpenproletarier im doppelten Sinn, in Lumpen gekleidet und mit Lumpen befaßt. [...] Baude-

laire erkennt sich [...] in ihm wieder.“ (GS5,441/442)“ In „Du vin et du hachisch“ führt Baudelaire das

Bild dieser Wesensverwandtschaft von „Chiffonnier“ und Dichter aus:

„Contemplons un de ces êtres mystérieux, vivant pour ainsi dire des déjections des grandes villes; [...] Voici un homme chargé de ramasser les débris d’une journée de la capitale. Tout ce que la grande cité a rejeté, tout ce qu’elle a perdu, tout ce qu’elle a dédaigné, tout ce qu’elle a brisé, il le catalogue, il le collectionne. Il compulse les archives de la débauche, le capharnaüm des rebuts. Il fait un triage, un choix intelligent; il ramasse, comme un avare un trésor, les ordures qui, remâchées par la divinité de l’Industrie, deviendront des objets d’utilité ou de jouissance. Le voici [...] Il arrive hochant la tête et butant sur les pavés, comme les jeunes poètes qui passent toutes leurs journées à errer et à chercher des rimes. Il parle tout seul; il verse son âme dans l’air froid et ténébreux de la nuit. C’est un monologue splendide à faire prendre en pitié les tragédies les plus lyriques.“762

Das Stolpern und Straucheln des Lumpensammlers entspricht der in „Le soleil“ thematisierten Geh-

weise des auf der Suche nach Versen durch die Straßen wandernden lyrischen Ichs:

„Ich will allein mein wunderliches Fechthandwerk üben, in allen Winkeln nach Reimen witternd, über Worte

761 Robert Musil: Denkmale. In: Gesammelte Werke II. Hg. v.Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978. S. 508. 762 Charles Baudelaire: Du vin et du hachisch. In: Oeuvres complètes. Bd.1. Texte établi, présenté et annoté par Claude

Pichois. Paris 1975. S. 377-398. Hier: S. 381.

244

stolpernd wie über Pflastersteine und bisweilen auf lang erträumte Verse stoßend.“763

Der „Chiffonnier“ liest die Abfälle der Stadt auf, den allerletzten Rest, der aus dem Produktionsprozeß

herausgefallen ist, und führt ihn diesem erneut zu. Durch diese Handlung wertet der Lumpensammler

das Nutzlose auf. So wie der Müll, das schlechthin Profane, durch den Lumpensammler eine Aufwer-

tung erfährt, werden die Randfiguren der modernen Welt der Großstadt, die Bettler, die Alten, die In-

validen und die Verfemten, die gewissermaßen als menschliche „Abfälle“ der Industrialisierung be-

zeichnet werden könnten, durch das lyrische Ich der „Fleurs du Mal“ Baudelaires valorisiert. Die Figur

des Dichters steigt bei Baudelaire „in die Städte nieder“ und „adelt das Los der niedrigsten Dinge“764.

Die Surrealisten schließen sich dieser Strategie an. Unter dem Blick des Dichters veredelt sich das

Nutzlose, transformiert sich Abstoßendes in Interessantes. Wie der Lumpensammler den Abfall der

Stadt zu Geld macht, verwandelt der Dichter, wie in dem für die Edition der „Fleurs du mal“ von 1861

vorgesehenen „Épilogue“ ausgeführt wird, den Schmutz der Metropole Paris in Gold:

„Engel, in Gold gekleidet, in Purpur und Hyazinth, o ihr, seid Zeugen, daß ich meine Pflicht getan habe wie ein vollkommener Alchimist und wie eine heilige Seele. Denn aus jedem Ding habe ich seine Quintessenz geläutert, du hast mir deinen Schmutz gegeben, und ich habe ihn in Gold verwandelt.“765

Der letzte Vers kann im konkreten und metaphorischen Sinne gelesen werden. Entweder verwandelt

der Dichter den Schmutz tatsächlich in Gold, wie es die Alchimisten erstrebten, oder er verwandelt den

Schmutz als Schmutz in Gold, indem er innerhalb des kulturellen Wertesystems eine Umwertung voll-

zieht. Dies erreicht er, indem er die Grenze zwischen dem Profanen und dem kulturell Valorisierten

verschiebt, indem er das Profane, das mit dem Begriff des „Wertlosen, Unscheinbaren, Uninteressan-

ten, Außerkulturellen, Irrelevanten und Vergänglichen“766 gefaßt werden könnte, aus seinem originären

Kontext bricht und es in ein neues Bezugssystem stellt, in dem es eine neue Bedeutung, einen neuen

Wert erhält. Der valorisierende Vergleich zwischen den kulturellen Werten und den Dingen im profa-

nen Raum wird zum Ursprung des Neuen.767

„Das bedeutet wiederum nicht, daß dabei etwas neu entdeckt, gesehen, ausgedrückt, geschaffen werden wird, was früher nicht da war. Die Umwertung der Werte dessen, was schon ist, schafft aber eine völlig neue Lage, aus der die Gesamtheit der Kultur wie aus einer Außenposition heraus betrachtet, beschrieben und kommentiert werden kann.“768

Das Neue ist nicht das prinzipiell Andere, sondern die Neuartigkeit der Perspektive auf das Alte, die

der Dichter in seinem Kunstwerk auf die Gesellschaft eröffnet. Diesen privilegierten Blick vermochte

neben dem Dichter nur der außerhalb der Zivilisation zu situierende Lumpensammler auf sie werfen,

denn seine Randexistenz eröffnet ihm Einsichten in die Gesellschaft, die Gruppen verwehrt bleiben.

Für Benjamin sind auch die Surrealisten „Lumpensammler“. Sie greifen abgelegte Dinge auf und setzen

763 Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen/Les Fleurs du mal. Übers. v. Friedhelm Kemp. München 1986. S. 177. 764 ebd. 765 a.a.O.: S. 403. 766 Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. A.a.O.: S. 56. 767 ebd. 768 a.a.O.: S. 93.

245

sie - so in Max Ernsts Materialcollagen - in außeralltägliche Konstellationen, in denen sich ihr Sach-

von ihrem Wahrheitsgehalt trennt.

Der im Februar 1929 in der „Literarischen Welt“ erschienene Essay „Der Sürrealismus, Die letzte Mo-

mentaufnahme der europäischen Intelligenz“ (GS2,295) führt die 1925 begonnene Auseinandersetzung

Benjamins mit dem Surrealismus weiter. Dieser selbst hat sich in den dazwischenliegenden Jahren zu

seiner Blüte entwickelt. Konnte sich Benjamin 1925 nur auf Bretons „Manifeste du Surréalisme“, Elu-

ards „Répétitions“ und Aragons „Une vague de rêves“ berufen, so liegen ihm 1929 mit Aragons „Le

paysan de Paris“ (1926) und Bretons „Nadja“ (1928) die beiden literarischen Hauptwerke des Surrea-

lismus vor. Dessen inhaltliche Entwicklungen sind Benjamin nicht entgangen. 1934 schreibt er: „Be-

gonnen haben sie [= die Surrealisten] [...] mit einer Reihe von [...] grundlosen oder beinahe müßigen

Skandalen.“ (GS2,797) Später zeigen sie sich dann immer mehr

„bestrebt, Auftritte, die zunächst vielleicht von ihnen nur spielerisch, aus Neugier ins Werk gesetzt worden waren, mit den Parolen der Internationale in Einklang zu bringen. [...] Sie sprechen aus, auf welche Weise der ins Extrem gesteigerte Individualismus, indem er auf seine Umwelt die Probe machte, in den Kommunismus umschlagen mußte.“ (GS2,797)

Der hier skizzierten Entwicklung des Surrealismus von Skandal und individueller Revolte zu Kommu-

nismus und kollektiver Revolution schließt sich Benjamin als philosophischer Kritiker des Surrealismus’

an. Auch dem Surrealismus auf dem Stande des Jahres 1929 attestiert er zunächst eine genuin antikünst-

lerische Tendenz. In ihm „wurde der Bereich der Dichtung von innen gesprengt“ (GS2,296). Die Sur-

realisten brechen mit einer Praxis, „die dem Publikum die literarischen Niederschläge einer bestimmten

Existenzform vorlegt und diese Existenzform selber vorenthält“ (GS2,295/96). Für die Surrealisten ist

alle bisherige Kunst nur affirmativ, sie verzichten deshalb auf ihren Begriff zugunsten eines „sachlichen,

profanen Kampfes um die Macht und Herrschaft“ (GS2,296). In der Gestalt des Surrealisten wird die

historisch überholte Gestalt des Künstlers in die des Revolutionärs transformiert.

Als Kontrastfolie zur Bestimmung der gesellschaftlichen Funktion des Surrealisten dient Benjamin die

„sogenannte wohlgesinnte linksbürgerliche Intelligenz“ (GS2,304). Es ist „das typische dieser linken

französischen Intelligenz [...], daß ihre positive Funktion ganz und gar aus einem Gefühl der Verpflich-

tung, nicht gegen die Revolution, sondern die überkommene Kultur hervorgeht.“ (GS2,304) Dem

linksbürgerlichen Festhalten an kulturellen Traditionen setzt Benjamin den surrealistischen „Pessimis-

mus auf der ganzen Linie“ (GS2,308) entgegen, ein „Mißtrauen in das Geschick der Literatur, Mißtrau-

en in das Geschick der Freiheit, Mißtrauen in das Geschick der europäischen Menschheit“ (GS2,308),

welches ihn in ungewollte Nähe zu seinen konservativen Kontrahenten um Oswald Spengler rückt. Das

Axiom von der Geschichte als „einer einzigen Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer

häuft“ (GS1,697), welches Benjamin 1940 in der neunten seiner Thesen „Über den Begriff der Ge-

schichte“ entwirft, ist hier schon angelegt. In Abgrenzung von einer starken Linie der deutschen Geis-

tesgeschichte, die von der Aufklärung über Hegels „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“

bis zu Marx reicht, gibt es für Benjamin innerhalb der Geschichte keine Entwicklung hin zur Vernunft

246

oder zum Guten. Erst die Revolution, die die Geschichte als solche von innen aufsprengt, wie die Sur-

realisten „die Dichtung von innen aufsprengen“, vermöchte die Menschheit vom Leid zu erlösen.

Welche Funktion kommt den Surrealisten im Prozeß dieser Revolution zu? Der Surrealist ist bei Ben-

jamin kein Künstler mehr, der Werke produziert. Geht er rückstandslos in der Kategorie des „politi-

schen Revolutionärs“ auf? Was würde in diesem Fall die spezifische Attraktivität des Surrealismus für

Benjamin begründen? Die Lösung des hier skizzierten Problems dürfte in der impliziten Theorie der

„surrealistischen Erfahrung“ zu suchen sein, die Benjamin in der Glosse „Traumkitsch“ schon ange-

deutet hat. Was die Surrealisten der Revolution beizusteuern vermögen, ist ihr spezifischer, der Benja-

minschen „Kritik“ korrespondierender Modus des Erfahrungserwerbs:

„Wer aber erkannt hat, daß es in den Schriften dieses Kreises sich nicht um Literatur, sondern um anderes: Manifestation, Parole, Dokument, Blöff, Fälschung wenn man will, nur eben nicht Literatur handelt, weiß damit auch, daß hier buchstäblich von Erfahrungen [...] die Rede ist.“ (GS2,297)

In seiner „Traumkitsch“-Glosse bestimmt Benjamin den surrealistischen Erfahrungsmodus als eine

Heuristik des Traums, die am Banalen etwas Sublimes aufscheinen läßt. Die traditionelle Dichotomie

von Traum und traumfreier Realität wird im Surrealismus aufgehoben. Für die Psychoanalyse drücken

sich im Traum latente Wirklichkeitsspuren aus. Der Traum ist für Freud eine Art Geheimschrift, die

sich mittels des psychoanalytischen Schlüssels wieder in Wirklichkeitselemente zurückübersetzen läßt.

Wie der Traum nach psychoanalytischer Einsicht Elemente der Wirklichkeit ausdrückt, so sehen die

Surrealisten in weiten Teilen der Wirklichkeit Ausdrücke von kollektiven Träumen. Um diese Traum-

manifestationen oder Phantasmagorien in einer sich als „wach“ gerierenden Wirklichkeit, bei welcher es

sich für die Surrealisten konkret um die Stadtlandschaft „Paris“ handelt, als traumbestimmt zu entlar-

ven, bedarf es einer neuen, der psychoanalytischen komplementären Erfahrungsweise: aus der Perspek-

tive des Traums muß ein Blick auf die Wirklichkeit geworfen werden. Die Surrealisten schreiben inso-

fern eine „Psychoanalyse der Dingwelt“769. Noch in den profansten, abgelegensten Dingen der industri-

alisierten Großstadt lesen sie Spuren eines anderen, befreiten Zustands. Wir werden später sehen, daß

die Surrealisten selbst den aufklärerischen Normen der von Benjamin aus ihren Schriften herausdestil-

lierten Wahrnehmungstheorie nicht zu folgen vermögen.

„Nadja“ und „Le paysan de Paris“ gleichen tatsächlich weniger Romanen, die eine „Handlung“ entfal-

ten, als Wahrnehmungsprotokollen. Beide Romane thematisieren die surrealistische Wahrnehmung der

städtischen Lebenswelt. Die Erzähler erscheinen als wissenschaftliche Beobachter ihrer selbst. In Bre-

tons „Nadja“ ist die Straße eine „Experimentierfeld“, auf dem das ganze Leben „wie eine chiffrierte

Botschaft entziffert werden“770 will. Benjamin merkt an, daß Breton „mehr den Dingen nahe, denen

Nadja nahe ist, als ihr selber“ (GS2,299). Die „Liebe“ des Erzählers zum Mädchen sei nicht Selbst-

zweck, sondern wie der Traum heuristisches Instrument. Die Liebe führe zu einem illuminierenden

769 Norbert Bolz: Bedingungen der Möglichkeit historischer Erfahrung. A.a.O.: S. 147. 770 André Breton: Nadja. Übers. v. Max Hölzer. Frankfurt a.M. 1986. S. 91.

247

Rausch, zu einer „profanen Erleuchtung“ (GS2,298) über die den geliebten Menschen umgebende

Dingwelt, nicht aber über den geliebten Menschen selbst. Analog dazu würden unter dem Blick des

surrealistischen Flaneurs Aragon die Passagen als „Arsenale für mehrere moderne Mythen“771 und

Traummanifestationen entlarvt, gleichzeitig aber auch als Asyle der Revolution: die Vernichtung der

letzten Passagen durch die Anlage von Boulevards könnte sich „zur Einrichtung von Barrikaden und

Schießereien ausweiten: in diesem ruhigen Leben hat sich eine Wut angestaut, die sich, wer weiß, im

nächsten Jahr in einem kommerziellen Fort Chabrol Luft machen könnte“772. Benjamin bezeichnet die-

se hier praktizierte Wahrnehmungsweise als „dialektische Optik“ (GS2,307): die Surrealisten deuteten

die städtische Dingwelt als „versklavte“ - über der Passage schwebe das Damoklesschwert der Spitzha-

cke - und als „versklavende“ (GS2,298) - die Passage sei das Asyl moderner Mythen. Der „Passage“ als

Phänomen der Modernisierung der Großstadt gilt Benjamins besonderes Interesse. Einerseits charakte-

risiert er sie als Stätte der „Ware“, des „industriellen Luxus“ (GS5,83) und als „geile Straße des Handels,

nur angetan, die Begierden zu wecken“ (GS5,93). Andererseits drücke sich in ihrer absoluten Transpa-

renz und Künstlichkeit auch eine Utopie aus. Die Erfahrungen der Gesellschaft, „welche im Unbewuß-

ten des Kollektivs ihr Depot haben, erzeugen in Durchdringung mit dem neuen die Utopie, die in tau-

send Konfigurationen des Lebens, von den dauernden Bauten bis zu den flüchtigen Moden, ihre Spur

hinterlassen hat“ (GS5,47), so in den Passagen. Von dieser Ambivalenz hätten die Surrealisten etwas

gespürt. „Der Vater des Surrealismus war Dada; seine Mutter war eine Passage.“ (GS5,1057) Unter dem

Blick Aragons scheide sich das im schlechten Sinne Mythische an der Passage von ihrem Wahrheitsge-

halt, ihrem Versprechen einer klassenlosen Gesellschaft, eines befreiten Kollektivs, dem die Öffentlich-

keit der Passage zur Heimat werde.

Diese „dialektische Optik“ entspricht aufs Genaueste dem „erkennenden Befreien“ (GS2,75) durch

Kritik in Benjamins Frühwerk. „Breton und Nadja“ sind für Benjamin

„das Liebespaar, das alles, was wir [...] in den Proletariervierteln der großen Städte im ersten Blick durchs regennasse Fenster einer neuen Wohnung erfuhren, in revolutionäre Erfahrung wenn nicht Handlung, einlösen. Sie bringen die gewaltigen Kräfte der Stimmung zur Explosion, die in den Dingen verborgen sind.“ (GS2,300)

Analog zum „materialistischen Geschichtsschreiber“ in den Thesen „Über den Begriff der Geschichte“

bestehe „der Trick“ des Surrealisten, „der die Dingwelt bewältigt“, in „der Auswechselung des histori-

schen Blicks aufs Gewesene gegen den politischen.“ (GS2,300) Mittels dieses Blickwechsels stoße der

Surrealismus zuerst

„auf die revolutionären Energien, die im ‘Veralten’ erscheinen, in den ersten Eisenkonstruktionen, den ersten Fabrikgebäuden den frühesten Photos, den Gegenständen, die anfangen auszusterben [...]. Wie diese Dinge zur Revolution stehen - niemand kann einen genaueren Begriff davon haben, als diese Autoren.“ (GS2,299)

Die Erfahrungen der Surrealisten führen für Benjamin zu einer „profanen Erleuchtung, einer materia-

listischen, anthropologischen Inspiration“ (GS2,297). Die vollends surrealistische Erfahrung sei eine

771 Louis Aragon: Pariser Landleben. Übers. v. Rudolf Wittkopf. München 1969. S. 19. 772 a.a.O.: S. 32.

248

materialistische Erfahrung. Wie stellt sich Benjamin den Übergang von „materialistischer Erfahrung“

zu „revolutionärer Praxis“ vor? Den „profan erleuchteten“ Surrealisten, die Liebe, Traum und Rausch

als heuristische Kategorien instrumentalisieren, wandele sich unter ihrem Blick die Dingwelt zu einem

„Bildraum“. Die Stadt Paris selber werde ihnen zum Bild, zum Bild einer möglichen Revolution: „Kein

Bild von Chirico oder Max Ernst kann mit den scharfen Aufrissen ihrer inneren Forts sich messen, die

erst erobert und besetzt sein müssen, um ihr Geschick und in ihrem Geschick, im Geschick ihrer Mas-

sen, das eigene zu meistern.“ (GS2,300/301) Der Bildraum, den sich die Surrealisten erschlossen hät-

ten, stelle die Summe der von ihnen gemachten, materialistisch inspirierten Erfahrungen dar. Der Bild-

raum werde, so Benjamin, zum Raum der Vermittlung zwischen revolutionärer Intelligenz und proleta-

rischen Massen:

„Dieser Bildraum aber ist kontemplativ überhaupt nicht mehr auszumessen. Wenn es die doppelte Aufgabe der revolutionären Intelligenz ist, die intellektuelle Vorherrschaft der Bourgeoisie zu stürzen und den Kontakt mit den proletarischen Massen zu gewinnen, so hat sie vor dem zweiten Teil dieser Aufgabe fast völlig versagt, weil sie nicht mehr kontemplativ [d.h. durch Produktion und Rezeption von autonomen Kunstwerken] zu bewältigen ist. [...] In Wahrheit handelt es sich viel weniger darum, den Künstler bürgerlicher Abkunft zum Meister der ‘proletarischen Kunst’ zu machen, als ihn, und sei es auf Kosten seines künstlerischen Wirkens, an wichtigen Orten des Bildraumes in Funktion zu setzen.“ (GS2,309)

Näher expliziert wird diese Vermittlungsfunktion des „Bildraums“ im 1934 erschienene Essay „Zum

gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des französischen Schriftstellers“, der ersten Arbeit, welche

Benjamin für die von Max Horkheimer herausgegebene „Zeitschrift für Sozialforschung“ verfaßt. Er

erläutert dort den „gesellschaftlichen Standort“ des Surrealisten, indem er ihn mit demjenigen Paul Va-

lerys vergleicht. Die Valerysche Romanfigur „Monsieur Teste“ verkörpert für Benjamin dasjenige

menschliche Subjekt,

„das schon bereit ist, die geschichtliche Schwelle zu überschreiten, jenseits von welcher das harmonisch durchgebildete, sich selbst genugtuende Individuum im Begriffe ist, sich in den Techniker und Spezialisten zu verwandeln, das bereit ist, an seinem Platze einer großen Planung sich einzufügen.“ (GS2,794)

„Monsieur Teste“ bleibe auf der Schwelle stehen: „Diesen Gedanken einer Planung aus dem Bereich

des Kunstwerkes in den der menschlichen Gemeinschaft überzuführen, ist Valery nicht gelungen. Die

Schwelle ist nicht überschritten; der Intellekt bleibt ein privater“ (GS2,794) und könne bei einem Pro-

tagonisten des L’art pour l’art wie Valery auch nicht zu einem kollektiven werden. Valery bleibt für Ben-

jamin ein problematischer Autor, „weil er die Kraft nicht hatte, den Widerspruch sich klarzumachen,

welcher zwischen seiner Technik und der Gesellschaft, der er sie zur Verfügung hält, besteht.“

(GS2,802) Erst die Surrealisten hätten „den Intellektuellen als Techniker an seinen Platz gestellt, indem

sie über seine Technik dem Proletariat Verfügung zuerkannten, weil nur dieses auf ihren fortgeschrit-

tensten Stand angewiesen ist“ (GS2,802). Mit dem Bildraum stellten die Surrealisten den proletarischen

Massen einen Wahrnehmungsapparat zur Verfügung, der es ihnen ermögliche, die sie umgebende

Dingwelt als „versklavende“, gleichzeitig aber auch als „mit revolutionären Stimmungen geladene“ zu

erkennen. „Jener Bildraum, welchen sich die Surrealisten auf so gewagte Weise erschlossen hatten, er-

249

wies sich mehr und mehr mit der politischen Praxis identisch.“ (GS2,789) Der „Bildraum“ des Intel-

lekts schlage dialektisch in den „Leibraum“ der Handlung um. Am Ende des „Surrealismus-Essay“

heißt es:

„Auch das Kollektivum ist leibhaft. Und die Physis, die sich in der Technik ihm organisiert, ist nach ihrer ganzen politischen und sachlichen Wirklichkeit nur in jenem Bildraume zu erzeugen, in welchem die profane Erleuchtung uns heimisch macht. Erst wenn sich Leib- und Bildraum so tief durchdringen, daß alle revolutionäre Spannung leibliche kollektive Innervation, alle leiblichen Innervationen des Kollektivs revolutionäre Entladungen werden, hat die Wirklichkeit so sehr sich selbst übertroffen, wie das kommunistische Manifest es fordert. Für den Augenblick sind die Sürrealisten die einzigen die seine heutige Order begriffen haben.“ (GS2,310)

Die hier postulierte Wandlung des Dichters in einen Spezialisten und Techniker des Bildraums wurde

für Benjamin in der nach-revolutionären Sowjetunion schon verwirklicht. In der 1934 entstandenen

Rede „Der Autor als Produzent“, Benjamins „marxistischstem“ Text, werden die Begriffe Dichtung,

Tradition und Geist, gegen die er sich schon im „Surrealismus-Essay“ wendet, völlig verabschiedet:

„Denn der revolutionäre Kampf spielt sich nicht zwischen dem Kapitalismus und dem Geist, sondern

zwischen dem Kapitalismus und Proletariat ab“ (GS2,701). Tradition, Geist und Kapitalismus seien in

der Sowjetunion als zusammengehörig entlarvt und als solche überwunden worden. Der sowjetische

Schriftsteller schaffe keine Werke mehr, sondern würde zum „operierenden Schriftsteller“ (GS2,686),

als dessen Archetypus Benjamin Sergej Tretjakow gilt. Die Aufgaben des „operierenden Schriftstellers“

definiert Benjamin mit Tretjakow folgendermaßen: „Einberufung von Massenmeetings; Sammlung von

Geldern für die Anzahlung von Traktoren; Überredung von Einzelbauern zum Eintritt in die Kolchose;

Inspektion von Lesesälen; Schaffung von Wandzeitungen und Leitung der Kolchos-Zeitung [...] usw.“

(GS2,686/687) In der Sowjetunion sieht Benjamin „einen gewaltigen Umschmelzungsprozeß literari-

scher Formen“ im Gange, einen „Umschmelzungsprozeß, in dem viele Gegensätze, in welchen wir zu

denken gewohnt waren, ihre Schlagkraft verlieren könnten“ (GS2,687). Der wichtigste dieser Gegensät-

ze sei die bürgerliche „Unterscheidung zwischen Autor und Publikum“; eine allgemeine „Literarisierung

der Lebensverhältnisse“ würde dieser „sonst unlösbaren Antinomie Herr“ (GS2,688). Als das profane

Gesicht des im Surrealismus-Essay anvisierten „Bildraumes“ erweist sich hier eine transparente, literari-

sierte Öffentlichkeit, in der traditionelle Dichotomien wie die von Autor und Leser, aber auch der ge-

samte Begriff der traditionellen Kunst aufgehoben werden. Eine solche „Aufhebung von Kunst“ wäre

für Benjamin nur in einer nachrevolutionären Gesellschaft möglich. Im kapitalistischen Frankreich der

Surrealisten müsse deren Anspruch einer Überführung von Kunst in Lebenspraxis scheitern, denn „die

dialektischen Bilder des Sürrealismus sind solche einer Dialektik der subjektiven Freiheit im Stande ob-

jektiver Unfreiheit“773, wie Adorno in seinem Essay „Rückblickend auf den Sürrealismus“ schreibt.

„Die Kräfte des Rausches für die Revolution zu gewinnen, darum kreist der Sürrealismus in allen Bü-

chern und Unternehmungen.“ (GS2,307) Diese Bewegung bleibt aber eine kreisende, keine lineare vom

Rausch zur Revolution. „Benjamins philosophische Tradition läßt das surrealistisch-unbekümmerte hin

773 Theodor W.Adorno: Rückblichend auf den Sürrealismus. In: Ders.: Noten zur Literatur. A.a.O.: S. 101-105. Hier:S. 104.

250

und her zwischen Traum und Wachen nicht zu. Man darf Die Straße nur in einer Richtung befah-

ren.“774 Benjamins Straße ist insofern eine „Einbahnstraße“. In dieser warnt er davor,

„Träume am Morgen nüchtern zu erzählen. Der Erwachte verbleibt in diesem Zustand in der Tat noch im Bannkreis des Traumes. [...] Denn nur vom anderen Ufer, von dem hellen Tage aus, darf Traum aus überlegenere Erinnerung angesprochen werden“ (GS4,85/86).

Die hier geforderte Distanz zum Traum vermögen die Surrealisten nicht einzuhalten. Nicht immer ge-

lingt es ihnen Traum und Rausch heuristisch zu instrumentalisieren, oft werden sie vom Traum über-

wältigt, erheben ihn zum Selbstzweck. Nur allzu oft haben „Bild und Sprache den Vortritt“ (GS2,296)

vor ihrer Überführung in politische Praxis. In „Paysan des Paris“ schreibt Aragon:

„Man kann kurz und bündig sagen, daß das Bild der Weg aller Erkenntnis ist. Demzufolge ist man berechtigt, das Bild als die Resultante aller Bewegungen des Geistes zu betrachten, alles, was nicht Bild ist, hintanzusetzen und zum Nachteil jeder anderen Tätigkeit sich nur der poetischen Tätigkeit zu widmen.“775

Elisabeth Lenk kommentiert diese, aus der Sicht Benjamins „sehr störende Ausfallerscheinung“

(GS2,297) des „Paysan de Paris“ folgendermaßen: „Die Bilder verselbständigen sich. Sie werden im

heidnischen Sinne des Wortes vergöttert.“776 Das Weltbild der Surrealisten bleibt in weiten Punkten ein

mythisches und verfällt Benjamins radikaler Mythos-Kritik. In gleicher Weise, in der die surrealistische

aisthesis über die Pariser Stadtlandschaft aufkläre, indem sie Dinge als Traummanifestationen erkennbar

mache, wirke sie auch verklärend. Aragon bezeichnet sich selbst als „Götzendiener, für den die Tempel

so allgemein geworden sind, wie die Krankheiten. Hinfort gibt es keinen Ort mehr, der für mich nicht

eine Kultstätte, ein Altar ist.“777 Der Weg der Surrealisten führte nicht in politische Praxis, sondern in

eine neue Mythologie, lautet Benjamins Vorwurf; die Surrealisten blieben „in einigen sehr verhängnis-

vollen romantischen Vorurteilen befangen“ (GS2,307). Die Abgrenzung seines Denkens von dem Ara-

gons bringt Benjamin im „Passagen-Werk“ auf den Punkt:

„Während Aragon im Traumbereich beharrt, soll hier die Konstellation des Erwachens gefunden werden. Während bei Aragon ein impressionistisches Moment, bleibt - die ‘Mythologie’ - und dieser Impressionismus ist für die vielen gestaltlosen Philosopheme des Buches verantwortlich zu machen - geht es hier [= im „Passagen-Werk“] um Auflösung der ‘Mythologie’ in den Geschichtsraum.“ (GS5,571)

Wie im Trauerspiel-Buch und im Wahlverwandtschaften-Essay strebt Benjamin auch im „Passagen-

Werk“ eine kritische Rettung der Wahrheit vor dem Mythos an.

Der Status, den der Surrealismus in Benjamins übergreifender Konzeption einer kritischen Erfahrungs-

theorie einnimmt, ist nur der eines Wegweisers. Der Surrealismus bildet das Einbahnstraßenschild,

nicht diese Straße selbst. Deren Verlauf folgen die Surrealisten nicht. In einer Gesellschaft, die Klassen-

gesellschaft bleibt, halten sie am Konzept „Kunstwerk“ fest, so daß Adorno in seiner „Ästhetischen

774 Elisabeth Lenk: Sinn und Sinnlichkeit. Nachwort zu Louis Aragon: Pariser Landleben. München 1969. S. 257-275. Hier:

S. 263. 775 Louis Aragon: Pariser Landleben. A.a.O.: S. 249. 776 Elisabeth Lenk: Sinn und Sinnlichkeit. A.a.O.: S. 268. 777 Louis Aragon: Pariser Landleben. A.a.O.: S. 209.

251

Theorie“ von einem „falschen Nachleben des Surrealismus“ sprechen konnte, welches sich in einem

„Salvador Dali“ ausdrückt, der zum „society-Maler zweiter Potenz wurde“ (ÄT,340).

In seiner Anthologie „Vom Weltbürger zum Großbürger“ zitiert Benjamin Heinrich Heines778 „Lutezia,

Berichte über Politik, Kunst und Volksleben“:

„Nur mit Abscheu und Grauen denke ich an die Epoche, wo die finsteren Bilderstürmer zur Herrschaft gelangen werden; mit ihren schwieligen Händen werden sie ohne Erbarmen die Marmorsäulen der Schönheit zerbrechen, die meinem Herzen so teuer sind; sie werden all jenes phantastische Flitter- und Spielwerk der Kunst zerstören, das der Dichter so sehr liebte ... die Nachtigallen, diese unnützen Sänger, werden verjagt werden, und ach, mein Buch der Lieder wird dem Gewürzkrämer dienen, um daraus Tüten zu drehen, in die er Kaffee oder Tabak schütten wird für die alten Weiber der Zukunft. Ach, ich sehe dies alles voraus, und ich werde von unsagbarer Trauer ergriffen, wenn ich an den Untergang denke, mit dem das siegreiche Proletariat meine Verse bedroht, die mit der ganzen alten romantischen Welt untergehen werden. Und dennoch, ich gestehe es freimütig, übt dieser Kommunismus, der allen meinen Interessen und Neigungen so feindlich ist, auf meine Seele einen Zauber aus, dessen ich mich nicht erwehren kann.“ (zit.n. GS4,857)

Kein Zitat könnte besser die Ambivalenz in Benjamins eigener Haltung zur Autonomie der Kunst ver-

deutlichen! Auch Benjamin trauert der autonomen, „auratischen“ Kunst nach, begrüßt aber jenen

„Kommunismus“ vollständiger „Literarisierung der Lebensverhältnisse“ (GS2,629), der in der Sowjet-

union auf die Kunst folge.

778 Mit Heinrich Heine war Benjamin über seine Großmutter mütterlicherseits verwandt. Vgl. Gerschom Scholem: Ahnen

und Verwandte Walter Benjamins. In: Ders.: Walter Benjamin und Sein Engel. Frankfurt a.M. 1983. S. 128-157.

252

4.3.2. Film als Welterschließung: Benjamins Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“

Die Philosophie der Kunst in Benjamins Spätwerk wird von zwei Hauptmotiven dominiert: vom a-

vantgardistischen Anspruch einer Überführung von Kunst in Lebenspraxis und von der Beschreibung

des historischen Verfalls der autonomen, von Lebenspraxis abgehobenen Kunst in einer Zeit, deren

gewandelter Erfahrungshorizont die kontemplative Rezeption autonomer Kunst erschwert. Diese bei-

den Motive kulminieren in Benjamins am stärksten rezipierter kunstphilosophischer Arbeit, dem Auf-

satz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, dessen erste Fassung 1935

und dessen zweite 1939 abgefaßt wurde.

Dieser Aufsatz ist umstritten. Ein Teil der Interpreten kritisiert Benjamins Verabschiedung des auto-

nomen Kunstwerks aus kulturkonservativer Sicht als „Identifikation mit dem Angreifer“ (ÄT,460), so

Adorno. Darauf ließe sich mit Habermas entgegnen: Benjamin beschreibt „den tatsächlichen Prozeß

des Zerfalls der Aura, auf die die bürgerliche Kunst den Schein ihrer Autonomie gründet. Er verfährt

deskriptiv“779 und nicht normativ. Einleuchtender erscheint dagegen die oft vorgebrachte Kritik an

Benjamins zu optimistischer und zu abstrakter Beurteilung der gesellschaftspolitischen Chancen des

Mediums „Film“, das er als Organon einer erstmals kollektiv wirksamen, a priori kritischen Weltaneig-

nung feiert und vor allen „klassischen“ Kunstformen auszeichnet. Einige Plausibilität gewinnt sein

Kunstwerk-Aufsatz zumindest, wenn er im Kontext der schon in den Surrealismus-Arbeiten angelegten

Erfahrungstheorie gelesen wird. Dieser Versuch soll hier unternommen werden.

In engem Zusammenhang mit den Veränderungen der wahrgenommenen Welt und den daraus resul-

tierenden Veränderungen der Wahrnehmungsvermögen in der Moderne, stehen für Benjamin nicht nur

Wandlungen innerhalb einzelner künstlerischer Gattungen, wie er sie für die Literatur an den Gedich-

ten Baudelaires aufweist, sondern auch Verschiebungen im Gesamtspektrum der Kunst. Während tra-

ditionelle Gattungen wie Lyrik und Tafelbild im Schwinden begriffen sind, entstehen neue, dem ge-

wandelten gesellschaftlichen Erfahrungshorizont angepaßte Kunstformen wie Film und Photographie.

In der industrialisierten Lebenswelt unterwerfe

„die Technik das menschliche Sensorium einem Training komplexer Art. Es kam der Tag, da einem neuen und dringlichen Reizbedürfnis der Film entsprach. Im Film kommt die chockförmige Wahrnehmung als formales Prinzip zur Geltung. Was am Fließband den Rhythmus der Produktion bestimmt, liegt beim Film der Rezeption zugrunde.“ (GS1,631)

Diese deskriptive These verweist auf die zentrale Rolle, die dem Film in der Moderne aus der Sicht Ben-

jamins zukommt. Die Reproduktionsmedien Photo und Film werden ihm zu Erben und Einlösern des

kritischen Anspruchs der Avantgardebewegungen. Die avantgardistischen Tendenzen in den Werken

779 Jürgen Habermas: Bewußtmachende oder rettende Kritik - die Aktualität Walter Benjamins. A.a.O.: S. 182.

253

der Surrealisten mußten aporetisch bleiben, da diese ihre Kritik an der Kunst als Künstler übten. Von

ihrem Sockel gestoßen wurde die Kunst für Benjamin erst von der Photographie. Es war der

„fetischistische, von Grund auf antitechnische Begriff von Kunst, mit dem Theoretiker der Photographie fast hundert Jahre lang die Auseinandersetzung suchten, natürlich ohne zum geringsten Ergebnis zu kommen. Denn sie unternahmen nichts anderes, als den Photographen vor eben jenem Richterstuhl zu beglaubigen, den er umwarf.“ (GS2,369)

Die Reproduktionsmedien Film und Photographie lassen sich, so Benjamins These, nicht als „neue

Gattungen“ in die Institution Kunst integrieren, weil sie diese selbst grundlegend verändern. Die Re-

produktionsmedien bilden für Benjamin das fortgeschrittenste Stadium in einem geschichtlichen Pro-

zeß ästhetischer Rationalisierung, einer Entzauberung der Kunst, die er als „Zertrümmerung der Aura“

(GS1,440) beschreibt. „Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks emanzipiert dieses zum ers-

ten Mal in der Weltgeschichte von seinem parasitären Dasein am Ritual.“ (GS1,442) Die autonome,

bürgerliche Kunst begreift Benjamin als eine Form „kultischer“ (GS1,443) Kunst. In der autonomen

Kunst inszeniert und feiert sich das Bürgertum selbst. Benjamin interpretiert die Autonomie der bür-

gerlichen Kunst wie Spengler als ein ideologisches Phänomen. In „Frühzeit der Weltgeschichte“ führt

Spengler aus:

„Was wir Kunst nennen, existiert bewußt sicher nicht für frühe Menschen. »Der Künstler«, »der Stil«, »die Schönheit«, »das Kunstwerk« vor allem sind literarische Erfindungen großer Städte. L’art pour l’art heißt die Kunst für den Kunsthandel. Erst seit man mit Kunstwerken ohne Rücksicht auf ihre praktische Bestimmung Handel treibt, gibt es »reine Kunst«.“ (FdW.,174)

Auch Benjamin rechnet „autonome“ Kunstwerke einem Prozeß der Selbstinszenierung des Bürgertums

zu. Kunstwerke bezögen ihren „Wert“ für das Bürgertum nicht aufgrund immanenter ästhetischer Kri-

terien, sondern aufgrund externer Mechanismen des Marktes780. Dem Zusammenhang der Autonomi-

sierung der Kunst mit Gesetzen des Marktes geht Benjamin in seinen Baudelaire-Studien nach

(GS1,528ff.).

Die Kunstwerke des bürgerlichen Zeitalters sind aus Benjamins Sicht in ein „sonderbares Gespinst aus

Raum und Zeit“ (GS1,440), in einen „Zusammenhang der Tradition“ (GS1,441) gehüllt, der den Rezi-

pienten auf „Distanz“ halte und zu einer kontemplativen Haltung gegenüber dem Werk nötige. Der

Inbegriff dieser Distanz sei die „Aura“. Seit der Mitte des 19. Jhs sei es möglich, Kunstwerke beliebig

zu vervielfältigen. Dieser Vervielfältigungsprozeß zerstöre die „Aura“ und sei unabdingbar, weil der

Mensch in der modernen Großstadt keiner kontemplativen Wahrnehmung mehr fähig sei. Auch Speng-

ler beobachtet einen Verlust „auratischer“ Erfahrungen unter den Bedingungen einer technisierten Le-

benswelt:

„Für die frühgeschichtlichen Menschen ist die Aura eine selbstverständliche Tatsache, die je nach der Seelenart (der Kulturstufe und -art) in bildhaften Deutungen festgestellt wird. [...] Erst der Stadtmensch verliert das Fühlen für diese Tatsache, nicht ganz allerdings. Wenn der Panzer des Intellekts für Augenblicke gelockert wird, in

780 Vergleichbare Positionen vertreten heute Pierre Bourdieu und Boris Groys. Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschie-

de. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. A.a.O. und Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. A.a.O.

254

Momenten seelischer Vertiefung, tritt es schreckhaft hervor.“ (Ufr.,166/167)

Das literarische Vorbild für Benjamins und Spenglers These vom Ende der Aura dürfte in Baudelaires

Prosagedicht von der „Verlorenen Aureole“ zu suchen sein, in dem ein Dichter seinen Heiligenschein

im Straßenschmutz verliert:

„Heh! Was ist das? Sie hier, lieber Freund? Sie, in einem so üblen Lokal? Sie, der immer nur das Feinste vom Feinen schlürft? Sie, der Ambrosia speist? Wahrhaftig, Grund genug, mich in Erstaunen zu setzen. - Mein Lieber, Sie kennen meine Angst vor Wagen und Pferden. Soeben, als ich in höchster Eile den Boulevard überquerte und im Schmutz hin und her sprang, da rutschte mir, mitten in diesem wüsten Durcheinander, wo der Tod im Galopp von allen Seiten zugleich herankommt, mein Heiligenschein vom Kopf und fiel in den Schlamm des Asphalts. Ich hatte nicht den Mut ihn aufzuheben. Ich hielt es für weniger unangenehm, meine Hoheitsabzeichen zu verlieren als mir die Knochen zerbrechen zu lassen. Und außerdem, sagte ich mir, ein Unglück ist immer zu etwas nutze. Nun kann ich incognito spazierenlaufen, niedrige Handlungen begehen und mich mit dem Pöbel gemein machen wie die einfachen Sterblichen. Und so bin ich denn hier, ganz wie Sie, wie Sie sehen!“781

Wie von Baudelaire wird der Verlust der „Aura“ auch von Spengler und Benjamin nicht bedauert. Der

Unterschied zwischen dem auratischen und entauratisierten Kunstwerk manifestiert sich für Benjamin

in der „Ferne“ bzw. „Nähe“ des im Werk Ausgedrückten zum Rezipienten. Im Baudelaire-Essay erläu-

tert er diese Differenz anhand einer Gegenüberstellung von Gemälden und Photos: „Was die Photo-

graphie vom Gemälde trennt [...], ist also klar: dem Blick, der sich an einem Gemälde nicht sattsehen

kann, bedeutet eine Photographie vielmehr das, was die Speise dem Hunger ist oder der Trank dem

Durst.“ (GS1,645) Am Gemälde könne sich dessen Rezipient nicht sattsehen, weil es unnahbar sei, eine

Aura hätte. Als Aura definiert Benjamin, wie bereits zitiert, die „einmalige Erscheinung einer Ferne, so

nah sie auch sein mag“ (GS1,479). Dieser Schein der Ferne gehe der Photographie gänzlich ab. Durch

ihre optische Scheinlosigkeit komme ihr eine taktile Qualität zu. Doch nicht nur räumlich, auch zeitlich

sei die Photographie dem Rezipienten „näher“ als das Gemälde. Im Anschluß an Benjamin schreibt Kai

Pfankuch, daß

„eine einfache Photographie an sich zeitlos, daß sie reine Gegenwart ist. Sie kann keine epische Struktur besitzen, ihr kommt keinerlei innere Zeitstruktur zu, die nach der Dimension investierter Arbeit und des auf dieser gegründeten Erfahrungsertrages auszumessen wäre. [...] [Demgegenüber sind] Gemälde Gegenstände der Übung und der Kontemplation sowohl nach ihrer Produktions- wie ihrer Rezeptionsseite hin, sie [...] sind der Bewegung - der Entwicklung - der Erfahrung unmittelbar einbezogen“782.

Stehe das Gemälde zum Rezipienten in räumlich-zeitlicher Entrücktheit, so das Photo in räumlich-

zeitlicher Aktualität. Die Ferne des auratischen Kunstwerks zum Rezipienten interpretiert Benjamin als

direkte Folge seiner „Echtheit“ und „Einmaligkeit“, seiner Gebundenheit an ein „Hier und Jetzt“

(GS1,475). Dieser Bindung sei das reproduzierbare Kunstwerk nicht mehr unterworfen. Es habe keinen

fest umrissenen Ort innerhalb bestimmter kultureller Zusammenhänge mehr. Sein „Kulturwert“ trete

hinter seinen „Ausstellungswert“ (GS1,485) zurück. Es werde frei fungibel und könne auf seine poten-

tiellen Rezipienten zugehen. Benjamin zitiert den Radio und Fernsehen antizipierenden Paul Valery: 781 Charles Baudelaire: Verlorener Heiligenschein. In: Ders.: Die Tänzerin Fanfarlo und Der Spleen von Paris. Prosadich-

tungen. Übers. v. Walther Küchler. Zürich 1977. S. 196/197. 782 Kai Pfankuch: Die Erfahrungstheorie Walter Benjamins als integraler Bestandteil seiner Geschichtsphilosophie und

Kunsttheorie. A.a.O.: S. 111.

255

„Wie Wasser, Gas und Strom von weit her auf einem fast unmerklichen Handgriff hin in unsere Wohnung kommen, um uns zu bedienen, so werden wir mit Bildern und Tonfolgen versehen werden, die sich, auf einen kleinen Griff, fast ein Zeichen einstellen und uns ebenso wieder verlassen.“ (zit.n. GS1,475).

Das „Hier und Jetzt“ des autonomen Kunstwerks weiche einem „Überall und Immer“ der Reprodukti-

on. Die Reproduktionsmedien stehen für Benjamin nicht einfach in einem Ergänzungsverhältnis zum

„Kulturerbe“, sondern im Verhältnis der Supplementarität. Die „echten“ Kunstwerke würden durch

ihre potentielle Reproduzierbarkeit ihrer Echtheit entkleidet, sie würden jederzeit und an jedem Ort frei

verfügbar. Der Begriff des „Originals“ verlöre dadurch jeden Sinn.

Von dieser These Benjamins zeigen sich eine Reihe postmoderner Kulturphilosophen wie Virilio,

Baudrillard und Derrida stark beeinflußt. Baudrillard extrapoliert Benjamins Reproduktionsthese auf

alle kulturellen Phänomene. Er beschreibt den Übergang von der Moderne zur Postmoderne ökono-

misch als Übergang von der Ordnung der Produktion zur Ordnung der Reproduktion. „Die Arbeit ist

nicht mehr produktiv, sie ist zur Reproduktion der Arbeitsanweisung geworden, zur allgemeinen Um-

gangsform einer Gesellschaft, die nicht mehr weiß, ob sie produzieren will oder nicht.“783 Die Reprodu-

zierbarkeit der Realität in den Medien griffe den Begriff der Realität als solchen an:

„Die Realität geht im Hyperrealismus unter, in der exakten Verdoppelung des Realen, vorzugsweise auf der Grundlage eines anderen reproduktiven Mediums - Werbung, Photo etc. -, und von Medium zu Medium verflüchtigt sich das Reale, es wird zur Allegorie des Todes, aber noch in seiner Zerstörung bestätigt und überhöht es sich: es wird zum Realen schlechthin [...], hyperreal“784.

Der traditionelle Begriff der Realität werde durch die Medialisierung der Welt unterhöhlt. „Die wirkli-

che Definition des Realen lautet: das, wovon man eine äquivalente Reproduktion herstellen kann.“785Die freie

Verfügbarkeit der Welt in Bildern und Lauten, die von Medien ins Haus gebracht werden, mache die

Wirklichkeit in der Postmoderne obszön. Alles werde allen allerzeit sichtbar. „Die Obszönität nimmt

alle Gesichter der Moderne an. Wir sind es gewohnt, sie hauptsächlich mit der Praktizierung des Sex zu

verbinden, aber sie erstreckt sich auf alles, was sichtbar gemacht werden kann - sie wird zur Praktizie-

rung des Sichtbaren selber.“786 Diese Obszönität wird von Baudrillard nicht pejorativ betrachte, auch

darin erweist er sich als Schüler Benjamins. Weder Benjamin noch Baudrillard intendieren eine rous-

seauistische Verteidigung des Eigentlichen vor dem Uneigentlichen. Der folgenden Äußerung Baudril-

lards könnte sich auch Benjamin anschließen:

„Man braucht also nur den Gedanken einer durch Medien entfremdeten Masse umzukehren, um herauszufinden, inwieweit der ganze Medienbereich und vielleicht sogar die ganze Technik das Resultat einer geheimen Strategie dieser angeblich entfremdeten Masse sind, das Resultat einer geheimen Form der Willensverweigerung, einer unbeabsichtigten Herausforderung allem gegenüber, was die Philosophie und die Moral dem Subjekt abverlangt haben, das heißt gegenüber jeder Ausübung des Willens, des Wissens und der Freiheit.“787

783 Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. A.a.O.: S. 24. 784 a.a.O.: S. 113/114. 785 a.a.O.: S. 116. 786 Jean Baudrillard: Die fatalen Strategien. Übers. v. Ulrike Bockskopf u. Ronald Voulliè. München 1991. S. 69. 787 a.a.O.: S. 116/117.

256

Benjamin und Baudrillard predigen einen, wie Benjamin formuliert, „neuen, positiven Begriff des Bar-

barentums“ (GS2,215), einen Abschied von objektiven Werten. Der „Zerfall der Werte“788, der in der

ersten Hälfte dieses Jahrhunderts auf allen gesellschaftlichen Ebenen diagnostiziert wird, kann für Ben-

jamin nicht rückgängig gemacht werden. Der „Zerfall der Werte“ in der Moderne vollzieht sich am au-

genscheinlichsten auf dem Felde der Ökonomie.

„Eine Revolution hat d[..]er »klassischen« Ökonomie des Werts ein Ende bereitet, eine Revolution des

Werts selbst, die ihn über seine Warenform hinaus zu seiner radikalen Form geführt hat. [...] Der Refe-

renzwert wird abgeschafft und übrig bleibt allein der strukturale Wertzusammenhang.“789

Historisch entspricht dieser „Umwertung des Wertes“ der Übergang vom Goldstandard zum Bruttoso-

zialprodukt als Bezugsgröße zur Bestimmung des Geldwerts, den der mit Spengler bekannte Ökonom,

Hjalmar Schacht, Finanzminister unter Hitler, vollzogen hat. Auf der Ebene der Naturwissenschaften

korrespondiert dieser ökonomischen Entwicklung der von Cassirer beschriebene Übergang vom Sub-

stanz- zum Funktionsbegriff. Analog dazu ergibt sich der semantische Wert des Zeichens, seine Bedeu-

tung,nicht mehr primär durch die Beziehung eines Signifikanten zu einem Signifikat, sondern, wie Saus-

sure bemerkt, aus der Beziehung der Signifikanten untereinander. Auch in der Kunst lassen sich im spä-

ten 19. Jh. Tendenzen erkennen, die diesem „kulturellen Paradigmenwechsel“ zugeordnet werden kön-

nen. Bei Mallarmé und den Kubisten beginnt die Reflexion auf die Darstellung das Dargestellte zu ver-

drängen. Auf den Zusammenhang der Evolution des ökonomischen mit der des ästhetischen „Wertes“

hat um 1900 als erster Georg Simmel aufmerksam gemacht, dessen Berliner Vorlesungen auch der jun-

ge Benjamin besuchte. In allen kulturellen Teilgebieten vollzieht sich seit der Mitte des 19. Jhs, um die

Terminologie Marshall McLuhans aufzugreifen, ein Übergang von der „Message“ zum „Medium“.

Baudrillard faßt diese Entwicklung zusammen:

„Ende der Arbeit. Ende der Produktion. Ende der politischen Ökonomie. Ende der Dialektik von Signifikant und Signifikat, die die Akkumulation von Wissen und Sinn, die lineare Abfolge des kumulativen Diskurses gestattet. Zugleich Ende der Dialektik zwischen Gebrauchswert und Tauschwert, die allein die gesellschaftliche Akkumulation und Produktion ermöglichte. Ende der linearen Dimension des Diskurses. Ende der linearen Dimension der Ware. Ende der klassischen Ära des Zeichens. Ende der Ära der Produktion“790.

Benjamins Philosophie der Kunst seit ca. 1925 läßt sich als Philosophie eines „Endes der Ära der Pro-

duktion“ in der Sphäre des Ästhetischen lesen. Die Befreiung des reproduzierbaren Kunstwerks von

seinem je spezifischen „Hier und Jetzt“ fällt für Benjamin zusammen mit seiner Befreiung aus dem

Kontinuum der Tradition. Vom Film gebe es, im Gegensatz zum Theaterstück, kein Original mehr.

Theateraufführungen stünden in „Idealkonkurrenz“ (GS1,477) zur jeweiligen Uraufführung, also in ei-

nem Traditionszusammenhang. „Die Reproduktionstechnik löst“, so Benjamin, „das Reproduzierte aus

dem Bereich der Tradition ab“ (GS1,477). Ihre gesellschaftliche Bedeutung liege insofern in einer „Li- 788 vgl. Hermann Brochs Essay „Zerfall der Werte“, der in einzelnen Kapiteln seinen Roman „Huguenau oder die Sachlich-

keit“, den dritten Roman des „Schlafwandler“-Zyklus, durchzieht. Hermann Broch: Die Schlafwandler. Frankfurt a.M. 61986. S. 418ff.

789 Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. A.a.O.: S. 17. 790 a.a.O.: S. 20.

257

quidierung des Traditionswertes am Kulturerbe“ (GS1,478). Das Problem, daß die Gattung „Film“

auch ein ganz neues Traditionsgefüge konstituiert, berücksichtigt Benjamin nicht. Eine Verfilmung des

„Faust“-Stoffes befreit diesen Stoff zwar aus einem bestimmten Traditionsgefüge, initiiert aber gleich-

zeitig ein neues, nämlich das der „Faust“-Verfilmungen.

Im Baudelaire-Essay stellt Benjamin den Begriff „Tradition“ in eine enge Beziehung zum Begriff „Er-

fahrung“. In einer Zeit, in der die Kategorie „Erfahrung“ durch die Diskontinuität des Lebensganzen

außer Kraft gesetzt worden sei, wäre auch die Rezeption von Kunstwerken unmöglich geworden, die in

ein Traditionsgefüge eingebettet sind und insofern Erfahrungen als Bedingung einer gelungenen Rezep-

tion voraussetzen würden. Diesem Problem trage der Film Rechnung, dessen Rezeption so wenig Er-

fahrung verlange wie die Arbeit am Fließband. „Der Film ist von allen Formen der Kunst die, welche

im Aufnehmenden verhältnismäßig am wenigsten Erfahrungen, verhältnismäßig am meisten Erlebnisse

provoziert.“ (GS1,1176) Auratische Kunstwerke forderten und vermittelten demgegenüber Erfahrun-

gen, worauf Benjamin im Baudelaire-Essay verweist: die „Aura“ entspricht dort „am Gegenstand einer

Anschauung, eben der Erfahrung, die sich am Gegenstand des Gebrauchs als Übung absetzt“

(GS1,644). Pfankuch kommentiert: „Die Aura bezeichnet im wesentlichen die Einheit von Erfah-

rung.“791 Für den Rezipienten, dem der Erwerb von Erfahrungen nicht mehr möglich sei, fehle auch die

Prämisse jeglicher Kontemplation, der auratischen Kunstwerken einzig angemessenen Rezeptionsform.

Der Zugang zum auratischen Kunstwerk bleibe verstellt.

So wie dem auratischen Kunstwerk auf der Rezeptionsseite „Kontemplation“ zugehöre, so dem nicht-

auratischen „Zerstreuung“. Aufgrund der spezifischen Diskontinuität seiner Form, kommt dieser Re-

zeptionshaltung für Benjamin einzig der Film entgegen. „Die Rezeption der Zerstreuung, die [...] das

Symptom von tiefgreifenden Veränderungen der Apperzeption ist, hat im Film ihr eigentliches Ü-

bungsinstrument.“ (GS1,505) Als entscheidendes Kriterium der Differenz von kontemplativer und zer-

streuter Rezeption gibt Benjamin an, daß diese immer kollektiv, jene dagegen immer individuell erfolge.

Im Kino fielen die

„kritische und genießende Haltung des Publikums zusammen. Und zwar ist der entscheidende Umstand dabei: nirgends mehr als im Kino erweist sich die Reaktion des Einzelnen, deren Summe die massive Reaktion des Publikums ausmacht, von vornherein durch ihre unmittelbar bevorstehende Massierung bedingt“ (GS1,498).

Die Fortschrittlichkeit einer Rezeptionshaltung wird von Benjamin nicht primär an einem qualitativen,

sondern an einem quantitativen Moment festgemacht, welches post festum in ein qualitatives umschlagen

soll. Diesen Umschlag näher zu begründen, vermag Benjamin nicht. Ihm ließe sich entgegenhalten, daß

„kollektive Rezeption“ normativ völlig indifferent sei und durchaus auch unkritisch und kontemplativ

sein kann. Ob sie kritisch oder unkritisch wird, entscheidet nicht das abstrakte Formprinzip der Gat-

tung „Film“, sondern der Gehalt des je speziellen Films. Die Rezeption des Films entscheidet sich auf

791 Kai Pfankuch: Die Erfahrungstheorie Walter Benjamins als integraler Bestandteil seiner Geschichtsphilosophie und

Kunsttheorie. A.a.O.: S. 134.

258

dieser normativen Ebene nicht von der Rezeption jeder anderen Kunstgattung. Benjamins unvermittel-

ter Schluß von der inhaltslosen „Form“ auf die kritische „Norm“ bleibt abstrakt. Innerhalb seiner spä-

ten Kunstphilosophie scheint sich ein Moment jenes Glaubens an den „technischen Fortschritt“ zu

verbergen, den er in seinen geschichtsphilosophischen Konzeptionen radikal verneint.

Wirklich fortschrittlich kann der Film in der Darstellung Benjamins nur in einer fortschrittlichen Ge-

sellschaft sein. Die Möglichkeit der Einlösung seines Anspruchs einer Überführung von Kunst in Le-

benspraxis sieht Benjamin demzufolge nur in der nachrevolutionären russischen Gesellschaft gegeben:

„Ein Teil der im russischen Film begegnenden Darsteller sind nicht Darsteller in unserem Sinne, sondern Leute, die sich und zwar in erster Linie in einem Arbeitsprozeß darstellen. In Westeuropa verbietet die kapitalistische Ausbeutung des Films dem legitimen Anspruch, den der heutige Mensch auf sein Reproduziertwerden hat, die Berücksichtigung.“ (GS1,494)

In der kommunistischen Gesellschaft sei es dem Film möglich, Seite an Seite mit den anderen „Küns-

ten“ zu einer allumfassenden „Literarisierung der Lebensverhältnisse“ (GS2,688) beizutragen, die Dif-

ferenzen zwischen Kunst und Leben sowie zwischen Produzenten und Rezipienten einzuebnen. Ben-

jamin, dem die sowjetischen Verhältnisse aus eigener Anschauung vertraut waren, mußte sich zu dieser

verklärenden Position angesichts des in Deutschland erstarkenden Faschismus zwingen. Ein gänzlich

anderes Bild der Sowjetkultur vermitteln seine privaten Aufzeichnungen im „Moskauer Tagebuch“

(GS6,292ff.) die von der Erfahrung bürokratischer Willkür und staatlichen Terrors geprägt sind.

Von Veränderungen des Erfahrungshorizonts und der ästhetischen Wahrnehmung in der Moderne

ausgehend, behauptet Benjamin, daß „auratische“ Kunstwerke heute nicht mehr rezipierbar seien. Die-

ses „Nicht-mehr-rezipierbar-sein“ bedeutet nichts anderes, als daß die auratischen, „vortechnischen“

Kunstwerke nicht fähig seien, den Menschen einen Zugang zu ihrer „technisierten“ Lebenswelt zu er-

öffnen, ihnen die Welt der Moderne zu erschließen. Die Erschließung der modernen Lebenswelt bleibt

für Benjamin der neuen, an die gewandelten Wahrnehmungs- und Bewußtseinsstrukturen angepaßten

Kunstform „Film“ vorbehalten.

„Unter den Bruchstellen der künstlerischen Formationen ist eine der gewaltigsten der Film. Wirklich entsteht mit ihm eine neue Region des Bewußtseins. Er ist [...] das einzige Prisma, in welchem dem heutigen Menschen die unmittelbare Umwelt, die Räume, in denen er lebt, seinen Geschäften nachgeht und sich vergnügt, sich faßlich, sinnvoll, passionierend auseinanderlegen.“ (GS2,752)

Nur der Film könne einer nachtraditionalen Menschheit ihre Lebenswelt erschließen, sie reflexiv

durchdringen. Der Film wäre insofern nicht das Symptom einer philosophischen Krise der Repräsen-

tierbarkeit unserer entsubstantialisierten Welt792, sondern würde im Gegenteil den Bereich des Reprä-

sentierbaren gehörig erweitern. In diesem Sinne ist der Film für Béla Balázs, den mit Benjamin bekann-

ten Autor einer bedeutenden Film-Ästhetik, „die Volkskunst unseres Jahrhunderts. Nicht in dem Sinn,

leider, daß sie aus Volksgeist entsteht, sondern daß der Volksgeist aus ihr entsteht.“793 Erschließung der

792 So lautete die am 18. März 1993 von Hans Ulrich Gumbrecht auf einem Ästhetik-Kongress in Münster verfochtene The-

se. Gumbrecht sprach dort über „Die schnellen Bilder und ihre Interpretations-Resistenz“. 793 Béla Balázs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Wien 1924. S. 11.

259

Welt durch den Film wird für Balázs zu einer Form von Weltkonstitution. Der Film löst ironisch ein,

was allzu idealistische Ästhetiker hohen Kunstwerken aufbürden: die Konstitution einer Welt. Seine

Chance, zu einem Medium der Welterschließung zu werden, die Benjamin betont, konnte der Film his-

torisch gesehen nicht nutzen. Insofern behalten Horkheimer und Adorno recht, die gegen Benjamins

Hoffnung auf das aufklärerische Potential des Mediums die antiaufklärerischen Inhalte betont haben,

mit denen Hollywood das Medium okkupierte. Die Welt, die durch die neue Volkskunst Film konstitu-

iert wurde, erwies sich als ein totaler, sich selbst inszenierender „Verblendungszusammenhang“794, des-

sen „Neuheit“ im „Ausschluß des Neuen“795 besteht. Diese Diagnose Horkheimers und Adornos ver-

fällt in ein zum Benjaminschen Optimismus in bezug auf den Film komplementäres Extrem: Die Auto-

ren der „Dialektik der Aufklärung“ lasten die vom Kommerz diktierten Inhalte des Films dem Medium

als solchen an und übersehen damit generell die Chancen dieses Mediums, die Benjamin wiederum ü-

berbewertet. Gegenüber beiden Positionen wäre heute darauf zu beharren, daß der Film keineswegs die

Institution der autonomen Kunst überwindet, sondern sich als neue Kunstform etabliert hat, die in ei-

nem Ergänzungsverhältnis zu den „alten“ Kunstformen steht. Genauso wie es heute triviale Filme gibt,

gab es schon immer triviale Literatur, Musik und Malerei. Umgekehrt lassen sich nicht alle Filme, nur

weil sie Filme sind, mit dem Adornoschen Etikett „Kulturindustrie“ belegen. Benjamins Beharren auf

den welterschließenden Potentialen des Films bleibt in seinem Recht.

Schon in ihrem historischen Ursprung war die philosophische Disziplin „Ästhetik“ nicht nur eine Leh-

re von der Wahrnehmung, sondern auch eine Lehre von den Wahrnehmungsinstrumenten:

„Baumgarten hat in den ‘Philosophischen Briefen’ den Plan einer ‘ästhetischen Empirik’ [...] entworfen, in der auch die ‘Waffen der Sinne’ und deren Werkzeuge - ‘Vergrösserungs- und Ferngläser, künstliche Ohren ... Barometer, Thermometer’ usf. behandelt werden sollen.“796

Zu „Waffen der Sinne“ im Kampf mit der modernen Lebenswelt werden bei Benjamin auch Photogra-

phie und Film. Die Photographie z.B. kann schon rein technisch „mit Hilfe gewisser Verfahren in der

Vergrößerung oder der Zeitlupe Bilder festhalten, die sich der natürlichen Optik schlechtweg entzie-

hen“ (GS1,476). Sie kann neue Dimensionen der Wirklichkeit erschließen, die vorher unbekannt blie-

ben. Bela Balázs bemerkt 1924: „Eine neue Kunst wäre ein neues Sinnesorgan. [...] Der Film ist eine

neue Kunst und so verschieden von allen anderen wie Musik von der Malerei.“797

Die Kamera wird, so Benjamin, zum heuristischen Instrument, vergleichbar der surrealistischen aisthesis.

Den Erkenntnisfortschritt, den der Kameramann gegenüber dem Maler bei der Wahrnehmung der

Welt erzielt, setzt Benjamin dem medizinischen Fortschritt des Chirurgen gegenüber dem Magier

gleich. Kameramann und Chirurg kämen der Dingwelt näher als Maler und Magier, da sie nicht an ihrer

794 vgl. Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M. 1984. S. 108ff. 795 a.a.O.: S. 120. 796 Joachim Ritter: Artikel „Ästhetik“. A.a.O.: S. 557. 797 Béla Balázs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. A.a.O.: S. 13.

260

Oberfläche, ihrem sinnlichen Schein (oder ihrer „Aura“) haltmachen, sondern in sie einschneiden, ihre

Schein-Organizität zerstören.

„Unsere Kneipen und Großstadtstraßen, unsere Büros und möblierten Zimmer, unsere Bahnhöfe und Fabriken schienen uns hoffnungslos einzuschließen. Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt, so daß wir nun zwischen ihren weitverstreuten Trümmern gelassen abenteuerliche Reisen unternehmen.“ (GS1,499)

Die Linse der Kamera erscheint hier wie zuvor der Blick des surrealistischen Flaneurs als ein Instru-

ment der Kritik und als ein politisches Instrument. Die „Form, den Mangel zu erfahren und zu artiku-

lieren, diesen Reflex auf die Unmöglichkeit der Bejahung, nennt man Kritik“798. Diese ist für Benjamin

auch im Zusammenhang des Politischen „das Notwendigste - als die Feststellung von Wahrheit im Wi-

derspruch, als die unmittelbare Übersetzung der Erfahrung des Mangels, als Sprache der Sprachlo-

sen“799. Die „künstlerische und wissenschaftliche Verwertung der Photographie, die vordem weit ausei-

nanderfielen“ (GS1,499), werden im Film zu einer kritischen vereint. In seiner „Kleinen Geschichte der

Photographie“, deute Benjamin hierfür 1931 ein Beispiel an:

„Ist es schon üblich das einer, beispielsweise, vom Gang der Leute, seis auch nur im groben sich Rechenschaft gibt, so weiß er bestimmt nichts mehr von ihrer Haltung im Sekundenbruchteil des ‘Ausschreitens’. Die Photographie mit ihren Hilfsmitteln: Zeitlupen, Vergrößerungen, erschließt sie ihm.“ (GS2,371)

Die „wissenschaftliche Verwertung“ des gefilmten „Sekundenbruchteils des Ausschreitens“ muß sich

nicht auf eine biologisch-motorische Analyse beschränken, sondern kann auch von hoher gesell-

schaftswissenschaftlicher Relevanz sein. Davon zeugt ein 1926 erschienener Prosatext Robert Musils,

den Benjamin bei der Auswahl seines Beispiels im Hinterkopf gehabt haben dürfte. In diesem „Triede-

re“ betitelten Text heißt es zunächst:

„Zeitlupenaufnahmen tauchen unter die bewegte Oberfläche, und es ist ihr Zauber, daß sich der Zuschauer zwischen den Dingen des Lebens gleichsam mit offenen Augen unter Wasser umherschwimmen sieht. Das hat der Film volkstümlich gemacht; aber es ist schon lange vor ihm auf eine Weise zu erleben gewesen, die sich noch heutigentags durch ihre Bequemlichkeit empfiehlt: indem man nämlich durch ein Fernrohr etwas betrachtet, das man sonst nicht durch ein Fernrohr ansieht. In der Folge ist ein solcher Versuch beschrieben.“800

Der Protagonist richtet sein Fernrohr im weiteren Verlauf des Textes auf gehende Menschen und kon-

zentriert sich dabei auf jenen, von Benjamin aufgegriffenen „Sekundenbruchteil des Ausschreitens“:

„Unerbittlich hält (das Fernrohr) darauf zu zeigen, wie lächerlich sich die Beine oben von den Hüften abstoßen und wie täppisch sie unten auf Absatz und Sohle landen. Das schwankt nicht nur unmenschlich und kommt mit dem dicken Ende zuerst an, sondern vollführt auch dazwischen meistens noch die aufschlußreichsten persönlichen Grimassen. Der Mann hinter dem Instrument hatte binnen fünf Minuten zwei solche Fälle betrachten könne. Kaum hatte er einen jungen Kavalier mit Sportkappe aufs Korn genommen, dessen Socken wie der Hals einer Ringeltaube gestreift waren, als er auch schon gewahrte, wie dieser gelassen neben seinem Mädchen als Gebieter Schlendernde bei jedem seiner langsamen Schritte das Bein mit einem angestrengten winzigen Ruck aus dem Stand schleudern mußte. Kein Arzt, kein Mädchen, auch nicht er ahnte noch das Grauen, das ihm bevorstand; bloß das Trieder löste die kleine Gebärde der Hilflosigkeit aus der allseitigen Harmonie der Brutalität und ließ die heranwachsende Zukunft im Bild erscheinen! Etwas harmloseres geschah an dem freundlichen, rundlichen Mann in den besten Jahren, der rasch daher kam und der Welt eine wohlwollende, zutunliche Art des Gehens darbot: nach einem Schnitt durch die Mitte, der die Beine auspräparierte, kam

798 Roger Willemsen: Vom Ende der Kritik. In: Zeitmagazin Nr.8. 14. Februar 1992. S. 6. 799 a.a.O.: S. 6. 800 Robert Musil: Triedere. In: Gesammelte Werke II. Hg. v.Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978. S. 518/519.

261

augenblicklich hervor, daß der Fuß ganz scheußlich einwärts aufgekantet wurde; und nun, da an dieser Stelle der Schein durchbrochen war, pendelten auch die Arme eigensinnig in den Schulterpfannen, die Schultern zogen am Genick, und statt eines Ganzen des Wohlwollens war mit einem Male ein menschliches System zu sehen, das darauf bedacht war, sich selbst zu behaupten, und nichts für andere übrighatte.“801

Musil bezeichnet das Fernrohr, das in seinem Text als Metapher für den Film steht, nicht als optisches,

sondern als „weltanschauliches Werkzeug“, dessen Theorie „Isolierung“ heißt. Die „Isolierung“ und

„Rahmung“ eines Eindrucks gilt in der philosophischen Tradition seit Kant als wichtiges Indiz für seine

Ästhetizität.

„Man sieht Dinge immer mitsamt ihrer Umgebung an und hält sie gewohnheitsgemäß für das, was sie darin bedeuten. Treten sie aber einmal heraus, so sind sie unverständlich und schrecklich, wie es der erste Tag nach der Weltschöpfung gewesen sein mag, ehe sich die Erscheinungen aneinander und an uns gewöhnt hatten.“802

Der (ideologie-)kritische Blick durch das Fernrohr (oder die Kamera) versinnbildlicht den transformie-

renden Blick durch das Kunstwerk auf die Welt. Die Metapher der Poesie als optisches Instrument fin-

det sich bereits in der Frühromantik. Clemens Brentano schreibt in seinem „Godwi“: „Kein lieber

Spielwerk hatt ich als ein Glas, / Im [sic!] dem mir alles umgekehrt erschien.“803 Mit diesem Glas wird

dann das Romantische selbst verglichen: „Das Romantische ist also ein Perspectiv oder vielmehr die

Farbe des Glases und die Bestimmung des Gegenstandes durch die Form des Glases.“804 Auch Novalis

schwebt eine „poëtische Theorie der Fernröhre“ (N2,411) vor. Gerade so, „wie der Stern im Fernrohr

erscheint“ (N2,411), soll sich im Kunstwerk etwas „Fernes“ zeigen. Die hier geschilderte Optik ent-

spricht der surrealistischen des „depaysement“, des „Verrückens“ alltäglicher Gegenstände in außeralltäg-

liche Kontexte, und auch derjenigen, die Benjamin als konstitutiv für die Kritik erachtet. Wie die Kritik

den Text, so zertrümmert der Film den scheinbar organischen Zusammenhang, in dem die Dinge des

Alltags zueinander stehen: das Bild „des Malers ist ein totales, das des Kameramannes ein vielfältig zer-

stückeltes“ (GS1,496). Die Aufnahme des Kameramannes schneidet in die Schein-Organizität der mo-

dernen Lebenswelt ein wie der Stahl des Chirurgen in die scheinbare Schönheit des Auges, die sich für

diesen zu „beinahe flüssigen Gewebeteilen“ (GS1,496) säkularisiert. Die Filmaufnahme kann zum „Be-

weisstück im historischen Prozeß werden. Das macht ihre verborgene politische Bedeutung aus.“

(GS1,485)

Benjamins Bestimmung des Films gleicht in vielem seiner Definition der Allegorie. „Film und Allegorie

stimmen in wesentlichen formalen Merkmalen mit einander überein: abstrakte Kontinuität, Dissoziati-

on, Sprunghaftigkeit, Vieldeutigkeit, Verlust der inneren zeitlichen Dimension, Simultanität.“805 Die ba-

rocke Allegorie deutet Benjamin als eine sprachliche Figur, welche die Relation von Bedeutung und Be-

deutungsträger, die „dem profanen Symbolbegriff des Klassizismus“ (GS1,337) zugrunde liegt, auf-

801 a.a.O.: S. 522. 802 a.a.O.: S. 520/521. 803 Clemens Brentano: Godwi. A.a.O.: S. 142. 804 a.a.O.: S. 258/259. 805 Kai Pfankuch: Die Erfahrungstheorie Walter Benjamins als integraler Bestandteil seiner Geschichtsphilosophie und

Kunsttheorie. A.a.O.: S. 122.

262

bricht und die sprachlichen Zeichen dadurch ex negativo auf eine Ordnung des Symbolischen im höhe-

ren Sinne ausrichtet. In der Allegorie „wird die Sprache zerbrochen, um in ihren Bruchstücken sich ei-

nem veränderten und gesteigerten Ausdruck zu verleihen.“ (GS1,382) Dieser Ausdruck besteht nicht

mehr in bloßer Mitteilung oder Repräsentation und sei es auch in der eines „Absoluten“ im Schelling-

schen Sinne. Das „Buhlen“ der überbietungsästhetischen Versuche des Klassizismus und Idealismus

„um glänzende und letztlich unverbindliche Erkenntnis eines Absoluten hat in den simpelsten kunst-

theoretischen Debatten einen Symbolbegriff heimisch gemacht, der mit dem echten außer der Bezeich-

nung nichts gemein hat.“ (GS1,336) Das „echte“ Symbol wäre aus der Sicht Benjamins nicht die ge-

schichtliche Verkörperung einer außergeschichtlichen, „göttlichen“ Sphäre, sondern die absolute Iden-

tität von Signifikat und Signifikant, wie sie nur der vorgeschichtlichen, adamitischen Namenssprache

zugrunde gelegen habe, in der Sprache der Menschen aber nie zu verwirklichen sei. Menschensprache

vermag auf die „wahre“ Namenssprache des Paradieses und des jüngsten Tages nur zu verweisen, in-

dem sie sich selbst zerstöre oder „mortifiziere“. „Die zertrümmerte Sprache hat in ihren Stücken auf-

gehört, bloßer Mitteilung zu dienen“ (GS1,382) und verweist auf die „echte“ Symbolsphäre. In der Al-

legorie überschreitet sich die „natürliche“ Sprache des Menschen selbst zu einer Sprache der Wahrheit.

Auf dem Feld der Sprache leistet die Allegorie das, was die Kritik für die Kunst leistet: sie entzweit die

Sprache von sich und weist auf einen „Wahrheitsgehalt“ hin, der über ihren bloßen „Sachgehalt“ hi-

nausgeht, ja sich in polemischer Abgrenzung vom „Sachgehalt“ (der „Mitteilung) erst abzeichnet. „Das

allegorische Kunstwerk trägt die kritische Zersetzung gewissermaßen schon in sich, in ihm vollzieht

sich die Geburt der Kritik aus dem Geiste der Kunst“ (GS1,952), heißt es im Exposé zum Trauerspiel-

Buch. Benjamins Konzeption der Allegorie läßt sich mit einigen Vorbehalten und unter Aufgabe ihrer

theologischen Implikationen auf die in Kapitel 1.4. angedeutete Metapherntheorie abbilden.

Benjamins Analogisierung von „Film“ und „Allegorie“ und damit seine gesamte Konzeption des Films

als Organon der Aufklärung greift nur sehr bedingt. Der Film bricht in seiner kommerzialisierten Ges-

talt keine Bedeutungszusammenhänge auf, sondern versteht sich als „Mitteilung“ von konventionellen

Bedeutungen, wodurch er nach der Definition Benjamins „scheinhaft“ werden müßte. Robert Musil

schätzt die aufklärerischen Potentiale des Kinos wesentlich realistischer ein: „Das Kino dient der Liebe

zum Dasein, und bemüht sich, dessen Schwächen zu beschönigen, was ihm denn auch mit fortschrei-

tender Technik gelingt.“806 Selbst von seinem „weltanschaulichen Werkzeug“, dem Fernrohr, muß Mu-

sil resignierend bekennen: „Vielleicht empfiehlt man es [...] vergeblich. Benutzen doch die Menschen

das Glas sogar im Theater dazu, die Illusion zu erhöhen, oder im Zwischenakt, um nachzusehen, wer

da ist, wobei sie nicht das Unbekannte suchen, sondern die Bekannten“807.

806 Robert Musil: Triedere. A.a.O.: S. 522. 807 a.a.O.: S. 522.

263

4.3.3. Die „rettende Kritik“ der Geschichte im „dialektischen Bild“

„Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten.“

Walter Benjamin (GS5,596)

Benjamins ästhetische Arbeiten zum Surrealismus sowie zu den Reproduktionsmedien Photo und Film

kulminieren in der Arbeit an einem geschichtsphilosophischen Werk, dem „Passagen-Werk“. Dieses

hätte eine „materiale Geschichtsphilosophie des neunzehnten Jahrhunderts“808 werden sollen, Ge-

schichtsphilosophie, Geschichtsschreibung und Theorie der Geschichtsschreibung in einem. Diese ma-

teriale Geschichtsphilosophie hätte der Rekonstruktion des historischen und logischen Ursprungs der

Moderne gegolten. Die „Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts“ (GS5,579), die Benjamin hat lie-

fern wollen, wäre gleichzeitig eine „Urgeschichte der Moderne“ gewesen, in ihrem Anspruch höchstens

vergleichbar mit Jean-Paul Sartres als „Phänomenologie des 19. Jahrhunderts“809 konzipierter Flaubert-

Studie. Aus den nicht-materialen, rein methodologischen Reflexionen über Geschichte und Geschichts-

schreibung, die sich im „Passagen-Werk“ in den Konvoluten K und N finden, destilliert Benjamin kurz

vor seinem Tode seine berühmten Thesen „Über den Begriff der Geschichte“, das vielleicht pessimis-

tischste geschichtsphilosophische Dokument dieses Jahrhunderts:

„In den Winter- und Frühjahrsmonaten 1940, bevor er sich erneut an den Baudelaire machte, legte er in den Thesen Über den Begriff der Geschichte Gedanken nieder, von denen er sagte, daß er sie zwanzig Jahre bei sich verwahrt, ja, verwahrt vor sich selber gehalten habe. [...] [Sie] stellen als letzter von ihm geschriebener Text Benjamins intellektuelles Vermächtnis dar.“810

Die Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ und die methodologischen Reflexionen des „Passagen-

Werks“ bilden den Gegenstand dieses Kapitels. So unumgänglich eine Beschäftigung mit Benjamins

„Passagen-Werk“ für eine Untersuchung sein muß, deren erklärtes Ziel im Nachweis einer Durchdrin-

gung von Ästhetik und Geschichtsphilosophie im Werk Benjamins besteht, so problematisch muß eine

solche Beschäftigung angesichts der Textgrundlage bleiben. Für Witte besteht die paradoxale Aufgabe,

die sich dem Interpreten des „Passagen-Werks“ stellt darin, „ein ungeschriebenes Buch [zu] lesen“811.

Von 1927 bis in sein Todesjahr 1940 sammelt Benjamin auf über tausend Seiten Materialien zur Ge-

schichte der Stadt Paris in der Mitte des 19. Jhs Die Auswahlkriterien dieser Materialien sind unge-

wöhnlich. Sie deuten weder auf ein ereignis- noch auf ein mentalitätsgeschichtliches Interesse. Benja-

min untersucht in den einzelnen Konvoluten erstens im weitesten Sinne technische Phänomene wie

Passagen, Eisenkonstruktionen, Glasarchitektur, Panoramen, Beleuchtungsarten, Photographie, Auto- 808 Rolf Tiedemann: Einleitung des Herausgebers. In: Walter Benjamin. Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften 5.

Frankfurt a.M. 1983. S. 11. 809 Jean-Paul Sartre: Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821-1857. Übers. v. Traugott König. Reinbek bei Hamburg

1986. Bd.1. S. 4. 810 Bernd Witte: Walter Benjamin. A.a.O.: S. 133. 811 Bernd Witte: Vorwort zu Norbert Bolz u. Bernd Witte (Hg.): Passagen. A.a.O.: S. 7-16. Hier: S. 7.

264

maten usw., zweitens bestimmte soziale „Typen“ wie Flaneure, Sammler, Prostituierte, Müßiggänger,

Nihilisten, drittens kulturelle Erscheinungen wie Mode, bürgerliches Interieur, Glücksspiel, Reklame

und viertens methodologische Probleme wie die Begriffe „Fortschritt“, „ewige Wiederkehr“, „Bild“,

„Traum“ usw., die anhand der Theorien Marxens, Saint-Simons, Fouriers, und C.G. Jungs behandelt

werden. Einen großen Teil, ca. 200 Seiten, nehmen Notizen zu Baudelaire ein, denen im Rahmen des

„Passagen-Werks“ eine entscheidende Rolle zukommen, weswegen sie in dieser Arbeit in einem geson-

derten - dem letzten - Kapitel behandelt werden. Wie Spengler betreibt auch Benjamin Geschichte in

erster Linie als Kunstgeschichte. Die vielfältigen Phänomene, die Benjamin in seinem unvollendeten

Hauptwerk ins kritische Visier nimmt, lassen sich zwei nicht immer klar zu trennenden strukturellen

Gruppen zuordnen, „extremen“ und „exorbitanten“ Phänomene. Als extreme Phänomene812 ließen

sich Gegebenheiten definieren, die den „Geist“ des 19. Jhs in potenzierter Form verkörpern. Hierzu

gehören Erscheinungen wie Mode, bürgerliches Interieur, Panoramen und die Passagen selbst. All diese

Phänomene durchzieht aus der Sicht Benjamins eine Ambivalenz, welche diejenige des 19. Jhs selbst ist:

ein unbedingtes Streben nach Fortschritt, das dialektisch in einen neuen Mythos813 umschlägt. „Der

Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es »so weiter« geht, ist die Ka-

tastrophe.“ (GS5,592) Der institutionalisierte Fortschritt des 19. Jhs schafft sich selbst einen Mythos,

der „Moderne“ heißt: „Das zwischen der Welt der modernen Technik und der archaischen [...] Welt der

Mythologie Korrespondenzen spielen, kann nur der gedankenlose Betrachter leugnen.“ (GS5,576) Die

zweite Gruppe von Phänomenen, denen Benjamins Aufmerksamkeit gilt, könnte mit einem Bataille-

schen Terminus als „exorbitant“ bezeichnet werden. Diese Erscheinungen sind dem kollektiven Ver-

gessen anheimgefallen, sie gehören zum „Abfall der Geschichte“ (GS5,575), dem sich Benjamin mit

einer „Andacht zum Unbedeutenden“ (GS3,366)814 zuwendet. Im Banalen, Vergessenen und an den

Rand Gedrängten bezieht Benjamin wie später Foucault Position, um von hier aus das Ganze des 19.

Jhs in den Blick zu nehmen. Exorbitant zur Gesellschaft verhalten sich Glücksspieler, Prostituierte,

Verbrecher und nicht zuletzt Künstler vom Typ Baudelaires. Sein Interesse am Verfemten und Ausge-

grenzten teilt Benjamin mit den Angehörigen des Pariser „Collège de Sociologie“, an dessen Diskussio-

nen er sich in den späten Dreißiger Jahren regelmäßig beteiligt:

„Batailles später im »heiligen Eros« zusammengestellte »Klasse« von faszinierenden, ambivalenten Phänomenen, die das »Gattungsdesaster« der Zivilisation immer wieder gefährden: die Toten, Cadaver, Blut (das Innere des Leibes), erst recht Menstrualblut, Fäkalien, Parias, sie ist zugleich Schema für Benjamins Meditationsobjekte: Mode, Hure, Geld (der all zu schnellen Zirkulation, des Glücksspiels, des reinen Tauschs), Abfall und Lumpensammler, Flaneur.“815

812 Zum Begriff des „extremen Phänomens“ vgl. Jean Baudrillard: Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phäno-

mene. Berlin 1992. 813 Die „Dialektik der Aufklärung“ Horkheimers und Adornos nimmt von Benjamins Geschichtsphilosophie ihren Ausgang. 814 Auch Spengler kennt diese Andacht zm Unbedeutenden: „Nur ein Dichter erlebt sie [= die Menschen vergangener Epo-

chen] wieder, der aus einer Spur eine Welt erwecken kann.“ (FdW.,15) 815 Raimar Stefan Zons: Annäherung an die ‘Passagen’. In: Norbert Bolz und Bernd Witte (Hg.): Passagen. A.a.O.: S. 49-69.

Hier: S. 60/61.

265

George Bataille ist es im übrigen zu verdanken, daß Benjamins „Passagen-Werk“ der Nachwelt erhalten

blieb: er versteckte das umfangreiche Manuskript nach Benjamins Flucht aus Paris im Keller der Bibli-

othèque Nationale, wo es die Nazi-Herrschaft überdauerte.

Benjamins Intention als Geschichtsschreiber ist wie diejenige Spenglers durch und durch politisch und

auf die Gegenwart ausgerichtet. Historische Erfahrung gilt beiden Autoren nur dann als legitim, wenn

sie zur Selbsterhellung desjenigen führt, der historische Erfahrungen macht. Benjamin will „aus dem

Leben und aus den scheinbar sekundären, verlorenen Formen jener Zeit [= 19.Jh.] heutiges Leben,

heutige Formen ablesen“ (GS5,572), mit der Vergangenheit die Gegenwart kritisieren. Darin folgt er -

wie auch Spengler - Nietzsche. Schon 1913 schreibt der damals jugendbewegte Benjamin in seinem

Aufsatz „Unterricht und Wertung“: „Unser Gymnasium sollte sich berufen auf Nietzsche und seinen

Traktat »Vom Nutzen und Nachteil der Historie«.“ (GS2,40). In diesem Traktat konnten Benjamin und

Spengler lesen: „Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen.“816

Zu allen Themen des „Passagen-Werks“ sammelt Benjamin Materialien, setzt sie zueinander in Kons-

tellation und kritisiert sie. Im Gegensatz zu Spenglers Geschichtsphilosophie bewegt sich diejenige

Benjamins immer eng am Text, am historischen Dokument. Nach Adorno war es die Absicht Benja-

mins, „auf alle offenbare Auslegung zu verzichten und die Bedeutungen einzig durch schockhafte Mon-

tage des Materials hervortreten zu lassen. [...] Zur Krönung seines Antisubjektivismus sollte das

Hauptwerk nur aus Zitaten bestehen.“817 Adorno kann sich mit dieser These auf folgende Äußerung

Benjamins berufen:

„Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde nichts wertvolles entwenden und mir keine geistvollen Formulierungen aneignen. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisieren sondern sie auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Recht kommen lassen: sie verwenden.“ (GS5,574)

An diese Maxime hat sich Benjamin nicht gehalten. Sein Verfahren geht nicht in dem der surrealisti-

schen Collage auf, der es sehr wohl ähnelt. Benjamin sammelt den „Abfall der Geschichte“ (GS5,575),

von der offiziellen Geschichtsschreibung vergessenes und an den Rand gedrängtes Material, montiert

dieses zu Collagen, die er selbst „Bilder“ (GS5,577) nennt, um es in einem letzten Schritt einer begriffli-

chen Kritik zu unterziehen. Er bleibt keineswegs, wie Adorno behauptet, beim unkommentierten Zitat

stehen. Das Material, das Benjamin collagiert, wird immer auch kritisch kommentiert.

Wie ist es um die Kritisierbarkeit des „Passagen-Werks“ selbst bestellt? Pfankuch empfiehlt dem Inter-

preten folgendes Verfahren:

„Das Passagen-Werk in seiner überlieferten Form - Baustelle oder seine eigene Ruine - stellt sich dem Interpreten als eine Sammlung von Gedankensplittern, von kommentierten Textauszügen dar, es ergeht ihm wie dem Allegoriker: ‘der Allegoriker greift bald da bald dort aus dem wüsten Fundus, den sein Wissen ihm zur Verfügung stellt, ein Stück heraus, hält es an ein anderes, und versucht, ob sie zueinander passen: jene Bedeutung zu diesem Bild oder dieses Bild zu jener Bedeutung. Vorhersagen läßt sich das Ergebnis nie; denn es gibt keine natürliche

816 Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben.

In: Ders.: Werke in drei Bänden. Hg. v. Karl Schlechta. Erster Band. München 1982. S. 209. 817 Theodor W. Adorno: Über Walter Benjamin. Frankfurt a.M. 1970. S. 26.

266

Vermittlung zwischen beiden.’(GS5,406).“818

Diesem Verfahren der Annäherung an Benjamin auf Benjaminsche Weise eignet die Gefahr der Belie-

bigkeit. Aus einer unendlichen Fülle möglicher Konstellationen von „Passagen-Werk“-Fragmenten lie-

ße sich eine ebenso unendliche Fülle möglicher Bedeutungen ablesen. Die „Kunst“ in der Interpretati-

on des „Passagen-Werks“ kann demgegenüber nur in radikaler Beschränkung liegen. Beschränken will

sich dieses Kapitel auf die Frage nach den „Bedingungen der Möglichkeit historischer Erfahrung“819,

wie sie sich Benjamin im Zuge seiner Erwägungen zu einer materialistischen Theorie der Geschichts-

schreibung im „Passagen-Werk“ und in den Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ stellt. Eine

Antwort auf diese Frage gibt Benjamin selbst in seiner im Frühwerk entfalteten Theorie der Kunstkri-

tik, die er im „Passagen-Werk“ auf den Bereich der Geschichtsschreibung überträgt. Er fordert eine

„Durchdringung von historischer und kritischer Betrachtung“ (GS3,289).

In mindestens ebenso nachhaltiger Weise wie nach dem Wesen der Geschichte fragt Benjamin in sei-

nen geschichtsphilosophischen Konzeptionen nach den „Bedingungen der Möglichkeit historischer

Erfahrung“820. In einen durchaus transzendentalphilosophischen Sinne könnte von einer „kritischen“

Geschichtsphilosophie Benjamins gesprochen werden. Die Möglichkeit, in den Dreißiger Jahren des 20.

Jhs historische Erfahrungen zu machen, ist ihm nicht selbstverständlich gegeben. Dem in vielen Texten

konstatierten Verlust von individueller Erfahrung in der Moderne entspricht auf einer kollektiven Ebe-

ne ein Verlust an historischer Erfahrung. Nach Bolz diskutiert Benjamin „die Bedingungen der Mög-

lichkeit historischer Erfahrung [in] einer Zeit, die historische Erfahrung abschafft“821. Die Geschichte

hat in der Moderne „gegen ihre Erfahrung sich abgedichtet“822.

Wie jede andere Erfahrung, so ist auch die historische Erfahrung bei Benjamin „eine Sache der Traditi-

on“ (GS1,608). Die Erfahrbarkeit einer bestimmten Epoche würde ein Traditionskontinuum vorausset-

zen, daß sowohl die zu erfahrende Epoche als auch den spezifischen gegenwärtigen Standpunkt des

Historikers umspannen müßte. Ein solches Kontinuum von Tradition besteht zwischen den Dreißiger

Jahren des 20. Jhs und dem 19. Jh. nicht mehr. Zwischen den Erfahrungshorizonten des 19. und des

20. Jhs steht als unüberbrückbare Kluft der Erste Weltkrieg, welcher Benjamin insofern zum erkennt-

nistheoretischen „Apriori des Passagenwerks“823 geworden ist. Der unmittelbare Zugang zum Erfah-

rungsraum des 19. Jhs bleibt dem Nachkriegshistoriker verstellt. „Spätestens der erste Weltkrieg trennt

die Moderne von ihrem danach“, sie ist „nur noch das Feld einer Erinnerung, einer Recherche“824 oder

mit Benjamins eigenen Worten einer „Konstruktion“ (GS5,587):

818 Kai Pfankuch: Die Erfahrungstheorie Walter Benjamins als integraler Bestandteil seiner Geschichtsphilosophie und

Kunsttheorie. A.a.O.: S. 104. 819 Norbert Bolz: Bedingungen der Möglichkeit historischer Erfahrung. A.a.O.: S. 138. 820 ebd. 821 ebd. 822 a.a.O.: S. 137. 823 a.a.O.: S. 138. 824 Raimar Stefan Zons: Annäherung an die ‘Passagen’. In: Norbert Bolz und Bernd Witte (Hg.): Passagen. A.a.O.: S. 51.

267

„Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet. So war Robespierre das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte. Die französische Revolution verstand sich als ein wiedergekehrtes Rom. Sie zitierte das alte Rom genau so wie die Mode eine vergangene Tracht zitiert. Die Mode hat die Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt. Sie ist der Tigersprung ins Vergangene. Nur findet er in einer Arena statt, in der die herrschende Klasse kommandiert. Derselbe Sprung unter dem freien Himmel der Geschichte ist der dialektische, als den Marx die Revolution begriffen hat.“ (GS1,701)

Die Geschichte kann für Benjamin nie - wie noch Spengler glaubt - in ihrer Ganzheit erfaßt und narra-

tiv vergegenwärtigt werden. Den historistischen Versuchen einer alle Epochen gleich berücksichtigen-

den Historie hält er entgegen, daß jede Epoche von einem speziellen und unhintergehbaren Erkennt-

nisinteresse geprägt wird, das es ihr nur ermöglicht, sich auf bestimmte Korrespondenzzeiten zu bezie-

hen, wie z.B. die Französische Revolution auf das antike Rom. Die „Konstruktion“ der Geschichte

denkt sich Benjamin als Konstruktion genau dieser Korrespondenz. Erfaßt werden kann diese Korres-

pondenz nicht mehr durch das traditionelle Darstellungsmittel der Erzählung, sondern nur noch in ei-

nem momenthaften Bild. Der Gegenstand der dialektisch-materialistischen Geschichtsschreibung, die

Benjamin anstrebt, wird

„nicht von einem Knäuel purer Tatsächlichkeiten, sondern von der gezählten Gruppe von Fäden gebildet [...], die den Einschuß einer Vergangenheit in die Textur der Gegenwart darstellen. [...] jahrhundertelang können Fäden verloren gewesen sein, die der aktuale Geschichtsverlauf sprunghaft und unscheinbar wieder aufgreift.“ (GS2,479)

Die Strukturen der Vergangenheit erhellen sich „jeder Gegenwart nur in dem Licht, das von der Weiß-

glut ihrer Aktualitäten ausgeht“ (GS3,97). In seinem großen, in der „Zeitschrift für Sozialforschung“

erschienenen Aufsatz über den Sittengeschichtler Eduard Fuchs führt Benjamin diesen Gedanken wei-

ter aus:

„Goethe [...] äußerte: »Alles, was eine große Wirkung getan hat, kann eigentlich gar nicht mehr beurteilt werden«. Kein Wort ist gemäßer, die Beunruhigung hervorzurufen, die den Anfang jeder Geschichtsbetrachtung macht, welche das Recht hat, dialektisch genannt zu werden. Beunruhigung über die Zumutung an den Forschenden, die gelassene, kontemplative Haltung dem Gegenstand gegenüber aufzugeben, um der kritischen Konstellation sich bewußt zu werden, in der gerade dieses Fragment der Vergangenheit mit gerade dieser Gegenwart sich befindet. »Die Wahrheit wird uns nicht davon laufen« - dieses Wort, das bei Gottfried Keller steht, bezeichnet im Geschichtsbild des Historismus genau die Stelle, an welcher es vom historischen Materialismus durchschlagen wird. Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, welche sich nicht als in ihm gemeint erkannte.“ (GS2,467/468)

Eine vergleichbare Geschichtsauffassung vertritt Rothacker, mit dem Benjamin in den Zwanziger Jah-

ren korrespondiert825:

„Man hat es häufig ausgesprochen, daß jede neue Epoche die Geschichte der Menschheit neu schreiben müsse. Denn was neu ist im Geiste und Weltbild einer Zeit, das wird auch neue Wahlverwandtschaften mit Völkern und Epochen der Vergangenheit fühlen, das Ganze in einer neuen Bedeutsamkeit erblicken und damit dem Gang der Ereignisse einen neuen Sinn geben.“826

Die Erkenntnis der Diskontinuität der Erfahrungsräume des 19. und 20. Jhs, die Benjamin unter dem

Eindruck des ersten Weltkriegs gewinnt, wendet er auf die gesamte Geschichte an: er bricht mit dem

825 vgl. Hans Puttnies u. Gary Smith: Benjaminiana. Giessen 1991. S. 96. 826 Erich Rothacker: Geschichtsphilosophie. A.a.O.: S. 3.

268

Begriff eines historischen „Fortschritts“, welcher der idealistischen Konzeption von Geschichte als ei-

nem in sich kohärenten, teleologischen Kontinuum zugrundeliegt und deutet die Geschichte wie

Spengler als einen zyklischen Prozeß. Wie für Benjamin wiederholen sich für Spengler in der Geschich-

te Katastrophen: „Die Weltgeschichte schreitet von Katastrophe zu Katastrophe fort, ob wir sie nun

begreifen und begründen können oder nicht.“ (MuT.,19) Und an anderer Stelle: „Ein Gewitter, ein

Erdbeben, ein Lavastrom, die wahllos Leben vernichten, sind den planlos elementaren Ereignissen der

Weltgeschichte verwandt.“ (Ged.,35) Für beide Autoren entspricht das Wesen der Geschichte dem

zerstörerischen Wesen des Mythos.

„Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der »Ausnahmezustand«, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen; und dadurch wird unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern. Dessen Chance besteht nicht zuletzt darin, daß die Gegner ihm im Namen des Fortschritts als einer historischen Norm begegnen. - Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert »noch« möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der er stammt, nicht zu halten ist.“ (GS1,697)

Die mythische Struktur der Geschichte, die Kontinuität ihrer Diskontinuität, kleidet Benjamin in das

Bild des Traums. „Der Kapitalismus war eine Naturerscheinung, mit der ein neuer Traumschlaf über

Europa kam und in ihm eine Reaktivierung der mythischen Kräfte.“ (GS5,494) Die Haltung Benjamins

zu diesem „Traum“ entspricht derjenigen des frühen Marx zum Begriff der Ideologie. Beide Begriffe

meinen eine Form von falschem Bewußtsein, die es zu überwinden gilt; gleichzeitig indizieren Ideologie

und Traum aber auch - in ihrer Falschheit - ein Anderes, Besseres. In beiden manifestieren sich wie

vermittelt auch immer Bedürfnisse und Sehnsüchte eines Kollektivs, antizipatorische, messianische

Momente. Die Summe dieser im Geschichtstraum latent ausgedrückten Bedürfnisse und Sehnsüchte

bestimmt Benjamin als „heimlichen Index“, durch den Geschichte „auf die Erlösung verwiesen wird.“

(GS1,693) Auf diesen Index richtet sich der kritische Blick des Historikers. Diesen Index gilt es erken-

nend zu befreien. Das Konzept einer kritischen Mortifikation von Mythos und Traum findet Benjamin

fast wörtlich beim frühen Marx vorformuliert. Er zitiert einen Marx-Brief aus dem Jahre 1843:

„Unser Wahlspruch muß...sein: Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewußtseins, trete es nun religiös oder politisch auf. Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen.“ (zit.n. GS5,583)

Auch in James Joyces’ „Ulysses“ heißt es: „Die Geschichte, sagte Stephen, ist ein Albtraum, aus dem

ich zu erwachen versuche.“827 Von der individuellen auf eine kollektive Ebene übertragen, entspricht

dem Erwachen bei Benjamin die Revolution. Das 19. Jh. ist für ihn ein „Zeitraum (Zeit-traum), in dem

das Individualbewußtsein sich reflektierend immer mehr erhält, wogegen das Kollektivbewußtsein in

immer tieferen Schlaf versinkt.“ (GS5,491) Das Selbstbewußtsein des isolierten Selbst erscheint auf einer

höheren Ebene als Unbewußtsein, als Schlaf. Bewußtsein auf dieser höheren Ebene wäre erst das Wis-

827 James Joyce: Ulysses. Übers. v. Hans Wollschläger. Frankfurt a.M. 1981. S. 49.

269

sen um die intersubjektive Konstituiertheit von Subjektivität, ein Selbstbewußtsein des Kollektivs, des-

sen Erwachen Benjamin mit der Revolution gleichgesetzt und das Spengler als „Kultur“ im Gegensatz

zu „Zivilisation“ beschreibt. Möglich wird ein solches Erwachen für Benjamin dort, wo es dem sich

konstituierenden Kollektiv gelingt, die messianischen Einsprengsel der vormaligen „Kollektivträume“

zu reaktivieren:

„Die Verwertung der Traumelemente beim Erwachen ist der Schulfall des dialektischen Denkens. Daher ist das dialektische Denken das Organ des geschichtlichen Aufwachens. Jede Epoche träumt ja nicht nur die nächste, sondern träumend drängt sie auf das Erwachen hin. Sie trägt ihr Ende in sich und entfaltet es - wie schon Hegel erkannt hat - mit List.“ (GS5,69)

Vorbild für diese Denkfigur ist wiederum Nietzsches zweite „unzeitgemäße Betrachtung“: „Nur aus der

höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangene deuten: nur in der stärksten Anspannung eurer edelsten

Eigenschaften werdet ihr erraten, was in dem Vergangenen wissens- und bewahrungswürdig und groß

ist.“828Die gelungene Revolution beendet nicht nur eine bestimmte historische Epoche, sondern Ge-

schichte überhaupt. Ihre Befreiungskraft wirkt rückwärts, auf alle vergangenen Epochen. Auch das in

der Vergangenheit Unterdrückte, die messianischen, sehnsüchtigen Traumelemente, denen jede Erfül-

lung versagt blieb, wird in der Revolution erlöst. „Der erlösten Menschheit“ fällt „ihre Vergangenheit

vollauf zu.“ (GS1,694). Was Benjamin hier vorschwebt,

„ist die höchst profane Einsicht, daß der ethische Universalismus auch mit dem bereits geschehenen und vordergründig irreversiblen Unrecht ernst machen muß; daß eine Solidarität der Nachgeborenen mit ihren Vorfahren besteht, mit allen, die durch Menschenhand in ihrer leiblichen oder persönlichen Integrität je verletzt worden sind; und daß diese Solidarität durch Eingedenken bezeugt und bewirkt werden kann.“829

Im Gegensatz zur historistischen „Einfühlung [...] in den Sieger“ (GS1,696) will sich die Geschichts-

schreibung Benjamins auf die Leidenden830 richten, sie von ihrem Leid post festum erlösen, ihre Hoff-

nungen verwirklichen, „bis die ganze Vergangenheit in einer historischen Apokatastasis in die Gegen-

wart eingebracht ist.“ (GS5,573) Diese „historische Apokatastasis“ wäre die Revolution die von der

Ankunft des Messias in ihren Konsequenzen nicht mehr zu unterscheiden wäre.

Der mythische „Fortschritt“ des Immergleichen hält in der Revolution inne. Aus dem zweidimensiona-

len, linearen Geschichtsverlauf, dessen Linie Benjamin einen circulus vitiosus beschreiben läßt, würde

nach der Revolution ein dreidimensionaler Geschichtsraum, ein Raum „allseitiger und integraler Aktua-

lität“ (GS2,309), der dem im Surrealismus-Essay anvisierten „Leibraum“ entspräche. In diesem gäbe es

keine „Ferne“ mehr. „Der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar

828 Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben.

In: Ders.: Werke in drei Bänden. Hg. v. Karl Schlechta. Erster Band. München 1982. S. 250. 829 Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. A.a.O.: S. 24/25. 830 In ihrer Ausrichtung auf Erfahrungen des Leidens und der Sinnlosigkeit kommt Benjamins Geschichtsphilosphie mit

derjenigen Theodor Lessings überein. In dessen 1919 erschienener „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“ heißt es gegen die offizielle Historie: Geschichte wird „nur von den Überlebenden geschrieben. Die Toten sind stumm. Und für den, der zuletzt übrig bleibt, ist eben alles, was vor ihm dagewesen ist, immer sinnvoll gewesen, insofern er es auf seine Existenzform bezieht und beziehen muß, d.h. sich selbst und sein Sinnsystem eben nur aus der gesamten Vorgeschichte seiner Art begreifen kann. Immer schreiben Sieger die Geschichte von Besiegten, Lebengebliebene die von Toten.“ Theodor Lessing: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. München 1983. S. 63.

270

geworden“ (GS1,694), wohlgemerkt: „der erlösten Menschheit“. Eine Zitation der „Vergangenheit in

jedem ihrer Momente“ im Sinne derjenigen, die sich in unseren Tagen als „postmodern“ bezeichnen,

verdichtet diese Zitate nicht zu einem im Leben aufgehobenen Leibraum, sondern wiederum zu einem

neomystischen Schein, dessen einzige Funktion darin bestehen kann, über das Gegenteil von Erlösung

hinwegzutäuschen. „Solange es noch einen Bettler gibt, solange gibt es noch Mythos“ (GS5,505) be-

merkt Benjamin. Geschichte im emphatischen Sinn entstünde erst nach der Exstirpation aller mythi-

schen Reste. In den Dienst dieser Exstirpation stellt sich die kritische Geschichtsschreibung Benjamins:

„Gebiete urbar zu machen, auf denen bisher nur der Wahnsinn wucherte. Vordringen mit der geschliffenen Axt der Vernunft und ohne rechts noch links zu sehen, um nicht dem Grauen anheimzufallen, das aus der Tiefe des Urwalds lockt. Aller Boden mußte einmal von der Vernunft urbar gemacht, vom Gestrüpp des Wahns und des Mythos gereinigt werden. Dies soll für den des 19ten Jahrhunderts hier geleistet werden.“ (GS5,571)

Dieser radikal-aufklärerische Gestus unterscheidet Benjamins Konzeption einer Posthistoire grundle-

gend von der heute geläufigen. Als Theoretiker des Posthistoire wurde Benjamin schon zu Lebzeiten

rezipiert. Willy Haas schreibt am 20. April 1928 in der „Literarischen Welt“:

„Benjamins psychologische Fixierung ist eine posthistorische: ein theologisch genau bestimmter Punkt der Eschatologie und Heilslehre. Er ist der Widerstrebende am Tore, unmittelbar vor Torschluß, immerfort ertönen schon die Posaunen des jüngsten Gerichts, die er nicht hört.“831

Benjamins Geschichtsphilosophie könnte zusammenfassend als „avantgardistisch“ (im Sinne Peter

Bürgers) charakterisiert werden. Wie der avantgardistische Ästhetiker die Kunst, so will der avantgardis-

tische Historiker die Geschichte ins Leben, in die „Jetztzeit“ (GS1,701) überführen. In Nietzsches

„Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ findet Benjamin diesen Zugang zur Geschich-

te vorgebildet: „Erst durch die Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Gesche-

henen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen.“832 Diese Maxime hat Benjamin

aufgegriffen und materialistisch gewendet.

„Materialistische“ Geschichtsschreibung meint bei Benjamin nicht wie im orthodoxen Marxismus die

Rückführung bestimmter historischer Ereignisse auf zeitgleiche Klassenverhältnisse und ökonomische

Strukturen. Der materialistische Geschichtsschreiber im Sinne Benjamins „rettet“ vielmehr bestimmte

historische Konstellationen, historische Erfahrungen, um sie in den Klassenkampf seiner Gegenwart

einzubringen und sie in diesem Klassenkampf zu reaktivieren. Dem „materialistischen Historiker“

kommt eine ähnliche gesellschaftliche Funktion zu wie dem „operierenden Schriftsteller“, dessen Typus

Benjamin in „Der Autor als Produzent“ skizziert hat. Beide organisieren und instrumentalisieren be-

stimmte Formen von Erfahrung für den Klassenkampf.

Die Revolution, in deren Dienst der materialistische Geschichtsschreiber bei Benjamin steht, ist eine

Revolution gegen Geschichte. Nur der materialistische Historiker vermag das geschichtliche Konti-

nuum der Katastrophen zu durchbrechen, indem er mittels eines „Tigersprungs ins Vergangene“

831 zit.n. Bernd Witte: Walter Benjamin. A.a.O.: S. 145. 832 Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. A.a.O.: S. 215.

271

(GS1,701) eine Konstellation der Vergangenheit in die Gegenwart transferiert und somit eine histori-

sche Erfahrung rettet. Im „Passagen-Werk“ analogisiert Benjamin diese Bewegung der Rettung mit ei-

ner bestimmten Form von kritischer Lektüre: „Die Rede vom Buch der Natur weist darauf hin, daß

man das Wirkliche wie einen Text lesen kann. So soll es hier mit der Wirklichkeit des neunzehnten

Jahrhunderts gehalten werden. Wir schlagen das Buch der Geschichte auf.“ (GS5,580) Die Stellung

Benjamins zum „Text 19. Jahrhundert“ ist die des Kritikers: im Konvolut K spricht er davon, die „Kri-

tik des 19. Jahrhunderts“ (GS5,493) schreiben zu wollen. Die Aufgabe des Kritikers besteht auch in

bezug auf das 19. Jh. darin, seinen „Wahrheitsgehalt“ dort ans Licht zu bringen, wo er „unscheinbar

und innig an seinen Sachgehalt gebunden ist“ (GS1,125). Die Lektüre des materialistischen Geschichts-

schreibers definiert sich als kritisch und allegorisch: im „Passagen-Werk“

„[Benjamin] hoped to do for nineteenth century Paris what he had done for the seventeenth century in his 1925 study The Origin of German Tragic Drama: through an allegorical reading of the life-forms of the era, to allow the truth-content (Wahrheitsgehalt) of the epoch to emerge through the veneer of its material content (Sachgehalt).“833

In diesem Resümee Richard Wollins kommt die methodische Analogie zwischen dem Geschichts- und

dem Kunstphilosophen Benjamin schön zum Ausdruck. Das darstellerische Organon sowohl der „alle-

gorischen Lektüre“ als auch der „rettenden Kritik“ wird das „dialektische Bild“ (GS5,577). Wie der sur-

realistische Schriftsteller seine Erfahrungen zu einem „Bildraum“ organisiert, so organisiert der materia-

listische Geschichtsschreiber die seinen zu einem „dialektischen Bild“. Habermas interpretiert die ret-

tende Kritik, in deren Dienst das „dialektische Bild“ bei Benjamin steht, als „Identifikation und Wie-

derholen von emphatischen Erfahrungen und utopischen Gehalten.“834 Die prägnanteste Definition des

„dialektischen Bildes“ gibt Benjamin im Konvolut N des „Passagen-Werks“:

„Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit anderen Worten: Bild ist die Dialektik im Stillstand. Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche, kontinuierliche ist, ist die des Gewesenen zum Jetzt dialektisch: ist nicht Verlauf, sondern Bild, sprunghaft. - Nur dialektische Bilder sind echte (d.h.: nicht archaische) Bilder und der Ort, an dem man sie antrifft, ist die Sprache.“ (GS5,576/577)

Das „dialektische Bild“, welches der materialistische Geschichtsschreiber literarisch konstruiert, ist dia-

lektisch in doppelter Hinsicht. Zum einen beinhaltet es eine Dialektik zwischen Gegenwart und Ver-

gangenheit, deren Gegensatz dadurch aufgehoben wird, daß die Vergangenheit im Bild als mit „Jetztzeit

geladene“ (GS1,701) erscheint: „Das kommende Erwachen steht wie das Holzpferd der Griechen im

Troja des Traumes“ (GS5,495) der Vergangenheit. In diesem Sinne ist das „dialektische Bild“ eine tem-

porale Metapher. Zum anderen beinhaltet das „dialektische Bild“ eine Dialektik von Unterdrückung

und Befreiung. Dem antizipatorischen, ein Erwachen aus dem Traum der Geschichte herbeisehnenden

Moment der Vergangenheit, das der materialistische Historiker in seinem Bild retten will, blieb die Er-

füllung seines Anspruchs in seiner Epoche versagt. Erst im Moment der Rettung wird dieser Anspruch 833 Richard Wolin: Experience and Materialism in Benjamins Passagenwerk. In: The Philosophical Forum. Volume XVII.

Spring 1986. S. 201. 834 Jürgen Habermas: Bewußtmachende oder rettende Kritik - die Aktualität Walter Benjamins. A.a.O.: S. 207.

272

eingelöst, wodurch nicht nur rückwirkend die Unterdrückung in der vergangenen Epoche aufgehoben

wird, sondern auch die strukturanaloge Unterdrückung in der Epoche, in die hinein das Bild gerettet

wir. „Die materialistische Geschichtskonstruktion führt die Vergangenheit dazu, die Gegenwart in eine

kritische Lage zu bringen.“ (GS5,578) Das „Aufblitzen“ des „wahren Bildes der Vergangenheit“

(GS1,695) geht einher mit dem Donnern bei der revolutionären Explosion. „Das gelesene Bild, will

sagen das Bild im Jetzt der Erkennbarkeit, trägt im höchsten Grade den Stempel des kritischen, gefähr-

lichen Moments, welcher allem Lesen zugrunde liegt.“ (GS5,578) Die im „dialektischen Bild“ transpor-

tierte historische Erfahrung gleicht darin ästhetischer Erfahrung. In beiden wird Heterogenes zu einer

Konstellation gebracht, die eingespielte Weltverhältnisse erschüttert und neuen Weltverhältnissen den

Boden bereitet. „Die »Rekonstruktion« in der Einfühlung“, wie sie der Historismus praktiziert, „ist ein-

schichtig. Die »Konstruktion«“, die das „dialektische Bild“ leistet, „setzt die »Destruktion« voraus.“

(GS5,587) Semantische Potentiale der Geschichte werden im „dialektischen Bild“ „durch die Aufwei-

sung des Sprungs in ihnen gerettet“ (GS5,591), des Sprungs zwischen Mythos und Wahrheit. Benjamin

bezeichnet das „dialektische Bild“ auch als „die Zäsur in der Denkbewegung. Ihre Stelle [...] ist [...] da

zu suchen, wo die Spannung zwischen den dialektischen Gegensätzen am größten ist.“ (GS5,595) Das

„dialektische Bild“ als Produkt einer Konstruktion, die zwei heterogene Momente der Geschichte mit-

einander kollidieren läßt, fungiert gleichzeitig als Medium und als Gegenstand der historischen Er-

kenntnis. Der „in der materialistischen Geschichtsdarstellung konstruierte Gegenstand [ist] selber das

dialektische Bild. Es ist identisch mit dem historischen Gegenstand.“ (GS5,595) Für die Geschichte

trifft zu, was auch für die Literatur gilt: ihr Bild konstituiert sich erst in der kritischen Betrachtung.

Auch historische Kritik versteht Benjamin als produktive Kritik.

Als eigentliches „Subjekt historischer Erkenntnis“ bestimmt Benjamin „die kämpfende, unterdrückte

Klasse selbst.“ (GS1,700) Dieser Klasse stellt der materialistische Historiker seine zu „dialektischen Bil-

dern“ geordneten Geschichtserfahrungen zur Verfügung. Das Einlösen dieser Erfahrungen in revoluti-

onäre Praxis, der Umschlag des dialektischen „Bildraums“ in den „Leibraum“ der Revolution, liegt, au-

ßerhalb der Einflußsphäre des Historikers, in der Hand jener „kämpfenden, unterdrückten Klasse“. An

dieser entscheidenden Stelle liegt der blinde Punkt der Benjaminschen Geschichtsphilosophie. Diese

setzt ein „Vertrauen in die Massenbasis“ (GS1,698) voraus, das Benjamin selbst den Sozialdemokraten

als im Angesicht des Faschismus anachronistischen, „sturen Fortschrittsglauben“ (GS1,698) vorwirft.

Wie schon bei seiner Bestimmung des Films als per se kritischer Kunstform, scheint Benjamin auch in

seiner Geschichtsphilosophie eine kausale Wechselwirkung zwischen „Form“ und „Norm“ zu un-

terstellen: aus der „Form“ der rettenden Geschichtsschreibung folgert er die „Norm“ der revolutionä-

ren Erlösung von Geschichte; und das zu einer Zeit, in der der Kampf um den „Bestand der Tradition“

längst von „der herrschenden Klasse“ (GS1,695) für sich entschieden worden war. Kritik an der man-

gelnden Vermittlung von theoretischer Form und politischer Norm bei Benjamin äußert auch Haber-

mas: „Eine Kritik, die zum Sprung in vergangene Jetztzeiten ansetzt, um semantische Potentiale zu ret-

273

ten, hat eine höchst vermittelte Stellung zur politischen Praxis. Darüber hat Benjamin hinreichend

Klarheit sich nicht verschafft.“835 Und allgemeiner formuliert: „Aus seiner Theorie der Erfahrung läßt

sich eine immanente Beziehung zu politischer Praxis nicht gewinnen.“836 In diesem Sinne bemerkt auch

Richard Wolin über das „Passagen-Werk“:

„The labor of Sisyphus confronting Benjamin in the Passagenwerk was the following: how to make (his) theory of experience compatible with a materialist (Marxist) world-view so that in the end all would be redeemd rather than merely a cultural elite.“837

Die „labor of Sisyphus“ ist eine Figur des Mythos, dem nach Benjamins eigenen Worten „als verborge-

ne Figur die Vergeblichkeit“ (GS5,178) einbeschrieben ist. Witte bemerkt: „Durch die Ruinen des ‘Pas-

sagenwerks’ weht der Wind der Trauer. Es ist die Trauer dessen, der erkannt hat, daß er der einzige

Wachende unter so vielen Schlafenden ist.“838

835 a.a.O.: S. 212. 836 a.a.O.: S. 215. 837 Richard Wolin: Experience and Materialism in Benjamins Passagenwerk. A.a.O.: S. 202. 838 Bernd Witte: Paris - Berlin - Paris. Zum Zusammenhang von individueller, literarischer und gesellschaftlicher Erfahrung

in Walter Benjamins Spätwerk. A.a.O.: S. 26.

274

4.3.4. Ästhetik und Geschichtsphilosophie in Benjamins Baudelaire-Studien

Benjamins Auseinandersetzung mit der Lyrik Baudelaires nimmt in seinem Gesamtwerk eine ebenso

exponierte Stellung ein wie die mit den Texten der Surrealisten. Eine Beschäftigung mit den „Fleurs du

Mal“ erfolgt sehr früh:

„Über seine im Oktober 1923 erschienene Übertragung der ‘Tableaux Parisien’ von Baudelaire schrieb Benjamin im Januar 1924 an Hofmannsthal: Von meinen ersten Versuchen einer Übersetzung aus den Fleurs du Mal bis zur Drucklegung des Buches sind neun Jahre verflossen. (Br.,330) Demnach scheint Benjamin 1914, spätestens 1915 begonnen zu haben, aus den ‘Fleurs du Mal’ zu übersetzen.“839

Ihren theoretischen Niederschlag finden Benjamins Reflexionen zu Baudelaire in den späten Dreißiger

Jahren in den Essays „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire“, „Über einige Motive bei Baude-

laire“ und den Fragmenten zu einem dritten, unter dem Titel „Zentralpark“ geplanten Essay. Diese drei

Arbeiten gehören in den Umkreis eines von Benjamin intendierten, aber nicht ausgeführten, größeren

Baudelaire-Buchs mit dem Titel „Charles Baudelaire, ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus“.

Dieses Buch war wiederum als Vorabveröffentlichung des Baudelaire-Kapitels des „Passagen-Werks“

gedacht. Reflexionen zu Person und Werk Baudelaires finden sich an vielen Stellen der „Passagen-

Werk“-Fragmente. Unter diesen enthält das Konvolut J ausschließlich Aufzeichnungen und Exzerpte

zum Thema Baudelaire. Es stellt das umfangreichste Konvolut innerhalb des „Passagen-Werks“ dar.

Eine Kritik der Baudelaireschen Lyrik scheint Benjamin am ehesten dazu geeignet, einen geschichtsphi-

losophischen Zugriff auf die Ursprünge der Moderne zu eröffnen. Für Benjamin handelt es sich wie

auch in seinen anderen literarischen Kritiken

„nicht darum, die Werke des Schrifttums im Zusammenhang ihrer Zeit darzustellen, sondern in der Zeit, da sie entstanden, die Zeit, die sie erkennt - das ist die unsere - zur Darstellung zu bringen. Damit wird die Literatur ein Organon der Geschichte und sie dazu - nicht das Schrifttum zum Stoffgebiet der Historie zu machen, ist die Aufgabe der Literaturgeschichte.“ (GS3,290)

Alle Aspekte der vielschichtigen Baudelaireinterpretationen Benjamins können an dieser Stelle nicht

berücksichtigt werden. Einen Schwerpunkt soll der 1939 in der „Zeitschrift für Sozialforschung“ er-

schienene Essay „Über einige Motive bei Baudelaire“ bilden, in dem sich eine Rekonstruktion der his-

torischen Erfahrungswelt Baudelaires und eine allgemeine Erfahrungstheorie Benjamins wechselseitig

erhellen. „Über einige Motive bei Baudelaire“ stellt die revidierte Fassung des zweiten Teils von „Das

Paris des Second Empire bei Baudelaire“ dar. Diese 1938 entstandene Arbeit war ebenfalls für die Ver-

öffentlichung in der „Zeitschrift für Sozialforschung“ vorgesehen, wurde aber von Horkheimer und

Adorno abgelehnt. In einem Brief vom 10.11.1938 begründet Adorno diese Ablehnung folgenderma-

ßen: „Es herrscht“ in das „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire“ „durchwegs eine Tendenz, die

pragmatischen Inhalte Baudelaires unmittelbar auf benachbarte Züge der Sozialgeschichte seiner Zeit

und zwar möglichst solche ökonomischer Art zu beziehen.“ (zit.n. GS1,1095) Adorno wirft Benjamin

839 Anmerkungen des Herausgebers Tillmann Rexroth in GS4,888.

275

vor, literarische Strukturen in einer simplifizierenden, vulgärmarxistischen Weise direkt auf ökonomi-

sche Strukturen zurückzuführen. „Täusche ich mich nicht sehr, so gebricht es dieser Dialektik an ei-

nem: der Vermittlung.“ (zit.n. GS1,1095) Eine „materialistische Determination kultureller Charaktere“

ist für Adorno nur möglich „vermittelt durch den Gesamtprozeß, [...] durch die gesellschaftliche und

ökonomische Gesamttendenz des Zeitalters.“ (zit.n. GS1,1096) Ob Adornos Kritik an Benjamins Text

zutreffend ist, kann hier nicht entschieden werden. Wichtig hingegen bleibt, daß Benjamin in „Über

einige Motive bei Baudelaire“ die Adornosche Kritik an „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire“

aufgreift und eine vermittelnde Instanz zwischen die „pragmatischen Inhalte Baudelaires“ und die „So-

zialgeschichte seiner Zeit“ stellt. Diese vermittelnde Instanz liegt im gesamtgesellschaftlichen Erfah-

rungshorizont, der sich in der Mitte des 19. Jhs im Europa der beginnenden Industrialisierung radikal

gewandelt hat. Diese Wandlung finde ihren Ausdruck auch in den Werken Baudelaires. Was sich seit ca.

1850 für Benjamin wandelt, betrifft nicht nur bestimmte Welthaltungen, sondern die Bedingungen der

Möglichkeit, sich überhaupt erfahrend zur Welt zu verhalten. Benjamin praktiziert eine Genealogie der

Erfahrung. Die Möglichkeit, Erfahrungen zu machen, interpretiert er nicht als anthropologische Kon-

stante, sondern als Signum einer bestimmten Epoche, die in der Auflösung begriffen sei. Dieser Befund

tangiert auch jede Ästhetik der Welterschließung. Kunstwerke erschließen in der Moderne aus der Sicht

Benjamins keine Erfahrungshorizonte mehr; sie bringen nicht mehr „Situationen unserer Erfahrung zur

Erfahrung“840, sondern Situationen des Erfahrungsverlustes.

Am 20.7.1938 schreibt Benjamin, der zu diesem Zeitpunkt „in strenger Abgeschiedenheit [...] wie in

einer Zelle“ (BBr.,768) lebt und ausschließlich am Essay „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire“

arbeitet, aus Skovbostrand an Gretel Adorno:

„Ich bewohne ein leidlich stilles Zimmer in der nächsten Nachbarschaft von Brechts Haus. Zum Schreiben habe ich einen großen stabilen Tisch - wie schon seit Jahren keinen - und einen Blick auf den gemächlichen Sund, an dessen Ufern Segelboote und kleine Dampfer vorbeiziehen.“ (BBr.,769)

Mit diesem Sund hat es eine besondere Bewandtnis. Er taucht an einer zentralen Stelle der neueren Li-

teraturgeschichte auf, in Brechts Ende der Dreißiger Jahre entstandenem poetologischen Gedicht

„Schlechte Zeit für Lyrik“. Dort finden sich unter anderem folgende Verse:

„Die grünen Boote und die lustigen Segel des Sundes Sehe ich nicht. Von allem Sehe ich nur der Fischer rissiges Garnnetz. Warum rede ich nur davon Daß die vierzigjährige Häuslerin gekrümmt geht Die Brüste der Mädchen sind warm wie ehedem

In meinem Lied ein Reim Käme mir fast vor wie Übermut.“841

840 Martin Seel: Kunst, Wahrheit, Welterschließung. A.a.O.: S. 53. 841 Bertold Brecht: Schlechte Zeit für Lyrik. In: Ders.: Gedichte in 10 Bde. Bd.9. Frankfurt a.M. 1964. S. 105.

276

Wie Brecht in seinen Versen die Möglichkeit lyrischer Dichtung in der Moderne problematisiert, so ist

für seinen Freund Benjamin im Haus nebenan „nicht von der Hand zu weisen, daß unter Baudelaires

Motiven einige [...] die Möglichkeit lyrischer Poesie problematisch machen.“ (GS1,651) Analog zu sei-

ner Definition des Surrealismus als der „letzten Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“

(GS2,295) versteht sich Benjamins Auseinandersetzung mit Baudelaire als „Aufnahme des letzten Mo-

ments der europäischen Lyrik“.

Die Kritik, welche die Surrealisten an der autonomen Kunst durch die Sprengung ihres institutionellen

Rahmens üben, finde sich im Keim schon bei Baudelaire. Seine „Kunst ist nützlich, indem sie zerstö-

rend ist. Ihr zerstörender Ingrimm richtet sich nicht zum wenigsten gegen den fetischistischen Kunst-

begriff“ (GS5,399). Im Umstand, daß in Gedichten das Problematischwerden von Dichtung themati-

siert werde, besteht für Benjamin der paradoxale Reiz der „Fleurs du Mal“:

„Um die Jahrhundertmitte veränderten sich die Bedingungen künstlerischer Produktion. Die Veränderung bestand darin, daß am Kunstwerk die Warenform, an seinem Publikum die Massenform zum erstenmal einschneidend zur Geltung kam. Gegen diese Veränderung war die Lyrik, wie das in unserem Jahrhundert unverkennbar geworden ist, besonders empfindlich. Es macht die einmalige Signatur der Fleurs du Mal, daß Baudelaire auf eben diese Veränderung mit einem Gedichtbuch erwiderte.“ (GS5,424)

Warenform in der Produktion und Massenform in der Rezeption wirkten sich nicht direkt auf die Ge-

dichte Baudelaires aus, sondern vermittelt über eine Transformation des gesamtgesellschaftlichen Stan-

des von Erfahrung.

„Baudelaire hat mit Lesern gerechnet, die die Lektüre von Lyrik vor Schwierigkeiten stellt [...]. Die Be-

dingungen für die Aufnahme lyrischer Dichtungen sind ungünstiger geworden.“ (GS1,607) Der histori-

sche Stand von Erfahrung in der Moderne verunmögliche die notwendig als kontemplativ zu denkende

Rezeption autonomer Kunst.

„Wenn die Bedingungen für die Aufnahme lyrischer Dichtungen ungünstiger geworden sind, so liegt es nahe, sich vorzustellen, daß die lyrische Poesie nur noch ausnahmsweise den Kontakt mit der Erfahrung der Leser wahrt. Das könnte sein, weil sich deren Erfahrung in ihrer Struktur verändert hat.“ (GS1,608)

Baudelaire sei es noch einmal geglückt, den Kontakt mit den Rezipienten trotz deren veränderter Er-

fahrungsstruktur zu wahren. Seine „Fleurs du mal“ konnten zu „europäischer Wirkung“ (GS1,650) ge-

langen, wenn auch als „letztes lyrisches Werk“ (GS1,650). Baudelaires Gedichte hätten sich an die ver-

änderte Erfahrungssituation nach der Mitte des 19. Jhs angepaßt. Eine Analyse der „Fleurs du mal“ er-

möglicht Benjamin den historischen Stand der Erfahrung auf der Schwelle zur Moderne zu rekonstruie-

ren. Als Ziel seines projektierten „großen“ Baudelaire-Buchs gibt er an, „die historische Projektion der

Erfahrung, die den Fleurs du mal zugrunde lagen, [...] liefern [zu wollen].“ (GS1,673) Benjamins Be-

schäftigung mit Baudelaire wird so zu einem Stück Geschichtsschreibung des 19. Jhs In einem Brief an

Horkheimer vom 16.4.1938 kann er vom „Baudelaire“ als einem „Miniaturmodell“ (BBr.,750) des

„Passagen-Werks“ sprechen:

„Wenn ich in einem Bild sagen darf, was ich vorhabe so ist es, Baudelaire zu zeigen, wie er ins neunzehnte Jahrhundert eingebettet liegt. Der Abdruck, den er hinterlassen hat, muß so klar und unberührt hervortreten, wie

277

der eines Steines, den man, nachdem er jahrzehntelang an seinem Platz geruht hat, eines Tages von seiner Stelle wälzt.“ (BBr.,752)

Wie sieht der Wandel der Erfahrungsstrukturen aus, der sich für Benjamin in den Gedichten Baude-

laires niedergeschlagen hat? Dieser Wandel, so läßt uns Benjamin wissen, sei keiner der bloßen Inhalte

von Erfahrung, sondern eine Transformation der Kategorie Erfahrung selbst. Der Essay „Über einige

Motive bei Baudelaire“ beginnt mit einer allgemeinen Erfahrungstheorie. „Wo Erfahrung im strikten

Sinn obwaltet“, heißt es dort,“ treten im Gedächtnis gewisse Inhalte der individuellen Vergangenheit

mit solchen der kollektiven in Konjunktion“ (GS1,611). Als Beispiel für eine solche Konjunktion führt

Benjamin die Erzählung an: sie senke das Geschehene „dem Leben des Berichtenden ein, um es als Er-

fahrung den Hörern mitzugeben“ (GS1,611). Benjamin rückt den Begriff der Erfahrung in unmittelbare

Nähe zum Begriff der Tradition, welcher eine Kontinuität von kollektivem und individuellem Leben

beinhalte. „In der Verknüpfung von momentaner individueller und kollektiver geschichtlicher Erfah-

rung sieht Benjamin einzig ‘echte’ Erfahrung als gegeben, eine Verknüpfung, die in der Moderne ihre

Selbstverständlichkeit verloren hat.“842 Erfahrung konstituiert sich für Benjamin in einem Wechselspiel

von Weltverständnis und Selbstverständnis oder mit den Worten John Deweys in „vollständiger gegen-

seitiger Durchdringung des Ich und der Welt der Dinge und Ereignisse.“843 Benjamin gewinnt seine

Theorie der Erfahrung wie die Frühromantiker am Modell gelungener intersubjektiver Interaktion, die

in der Moderne im Schwinden begriffen sei.

Die Vermittlung des je individuellen Erfahrungserwerbs über die kollektive Tradition bedingt für Ben-

jamin, daß sich Erfahrung „weniger aus einzelnen, in der Erinnerung streng fixierten Gegebenheiten

[bildet], denn aus gehäuften, oft nicht bewußten Daten, die im Gedächtnis zusammenfließen“

(GS1,608). Bewußtseins- und Erfahrungserwerb betrachtet er als miteinander unvereinbar. Er beruft

sich auf Freud und Proust. In „Jenseits des Lustprinzips“ definiert Freud das menschliche Bewußtsein

als einen Reizschutz: starke Reize werden „gleichsam im Phänomen des Bewußtwerdens verpufft“

(zit.n. GS1,612); bewußt „erlebte“ Reize können sich demnach nicht als Erfahrung in der menschlichen

Psyche ablagern, sondern werden zu momentanen „Erlebnissen“. In diesem Sinn könne auch in der

Erfahrungstheorie Prousts, die Benjamin aus dessen „A la recherche du temps perdu“ rekonstruiert,

Bestandteil der Erfahrung nur werden, „was nicht ausdrücklich und mit Bewußtsein ‘erlebt’ worden [...]

ist“ (GS1,313). Für Proust sei der Zugang zum je individuellen Erfahrungsschatz nicht bewußt herbei-

führbar, sondern „dem Zufall anheimgegeben“, das Verflossene verberge sich „in irgendeinem realen

Gegenstand, [...] in welchem wissen wir übrigens nicht“ (GS1,610). Im Falle Prousts handelt es sich um

die berühmte „Petite Madeleine“. „In dieser Sache vom Zufall abzuhängen“, hat für Benjamin „kei-

neswegs etwas selbstverständliches“ (GS1,610), und in diesem Punkt grenzt er seine eigene Erfahrungs-

theorie von Freud und Proust ab. Die Verstelltheit der je individuellen Erfahrungsschätze und das Aus- 842 Kai Pfankuch: Die Erfahrungstheorie Walter Benjamins als integraler Bestandteil seiner Geschichtsphilosophie und

Kunsttheorie. A.a.O.: S. 36. 843 John Dewey: Kunst als Erfahrung. A.a.O.: S. 28.

278

einanderfallen von Bewußtsein und Erfahrungserwerb sind für Benjamin keine psychologische Kon-

stanten, sondern geschichtlich geworden. Prousts und Freuds „Erfahrungen“ mit der Erfahrung seien

spezifisch modern. Für die äußeren Ereignisse habe sich in der Moderne „die Chance vermindert [der]

Erfahrung assimiliert zu werden“ (GS1,610). Die äußeren Ereignisse nähmen in der Moderne immer

mehr den Charakter von Schocks an. Das Ausgeliefertsein des Einzelnen an eine permanent schockie-

rende Umwelt, habe eine Überfunktion der Reizschutzleistung des Bewußtseins zur Folge:

„Je größer der Anteil des Chockmoments an den einzelnen Eindrücken ist, je unablässiger das Bewußtsein im Interesse des Reizschutzes auf dem Plan sein muß, je größer der Erfolg ist, mit dem es operiert, destoweniger gehen sie in die Erfahrungen ein; desto mehr erfüllen sie den Begriff des Erlebnisses.“ (GS1,615)

Schon 1933 konnte Benjamin in „Erfahrung und Armut“ schreiben: „Die Erfahrung ist im Kurs gefal-

len.“ (GS2,214) Als Grund für die von ihm diagnostizierte Erfahrungsarmut in der Moderne gibt er die

umfassende Technisierung der Lebenswelt an, welche die Wahrnehmungsweisen der Menschen wesent-

lich verändert habe. Das gravierendste Beispiel für die Konfrontation des Einzelnen mit der Technik

bilde der Erste Weltkrieg:

„Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war, als die Wolken, und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige gebrechliche Menschenkörper. Eine ganz neue Armseligkeit ist mit dieser ungeheuren Entfaltung der Technik über die Menschen gekommen“ (GS2,214),

eine Armseligkeit an Erfahrung.

Nicht erst der Soldat des Ersten Weltkrieges werde von dieser Armut befallen, sondern schon der In-

dustriearbeiter in der Mitte des 19. Jhs Seine Armut sei nicht nur konkret materiell, sondern auch eine

durch die Produktionsweise bedingte Armut an Erfahrung, die Marx mit dem Terminus „Entfrem-

dung“ belege. An die Marxsche Entfremdungskritik lehnt sich Benjamins Analyse der Erfahrungsarmut

nach der Mitte des 19. Jhs an. Im vorindustriellen Handwerk erfordere jede Arbeit Übung. Übung und

Erfahrung bedingten sich wechselseitig. Auf der Grundlage der Übung fände, so Marx, „jeder besonde-

re Produktionszweig in der Erfahrung die ihm entsprechende technische Gestalt“ (zit.n. GS1,631). Mit

dem Übergang von Manufakturarbeit zur Industriearbeit wandle sich dieses Verhältnis von Übung und

Erfahrung grundlegend: die Übung werde ersetzt durch Dressur. „Der ungelernte Arbeiter ist der durch

die Dressur der Maschine am tiefsten entwürdigte. Seine Arbeit ist gegen Erfahrung abgedichtet.“

(GS1,632) Zur Verdeutlichung dieses Zusammenhanges von Erfahrungsverlust und industrieller Arbeit

vergleicht Benjamin diese mit organisiertem Glücksspiel, dessen historischer Beginn für ihn mit der In-

dustrialisierung zusammenfällt. Sowohl industrielle Arbeit als auch Glücksspiel seien „von Inhalt gleich

befreit. [...] Was der Ruck in der Bewegung der Maschinerie, ist im Hasardspiel der sogenannte Coup.“

(GS1,633) Das „Immer-wieder-von-vorn-anfangen ist die regulative Idee des Spiels wie der Lohnar-

beit“ (GS1,636). Pfankuch sieht im Anschluß an Benjamin im Glücksspiel den

„Inbegriff der Zufälligkeit. Gewinn und Verlust sind in ihrem Wechsel nicht kalkulierbar - analog der warenproduzierenden Gesellschaft, deren Verkehrsformen Zufälligkeiten, nicht aber einem einheitsstiftenden

279

Gesetz unterliegen, daß aus gesellschaftlicher Erfahrung abzuleiten wäre.“844

Spiel und Arbeit versetzten dem Individuum motorisch-sensuelle Schocks in einer solchen Permanenz,

daß die Überfunktion des Bewußtseins als Reizschutz zur Normalität werde. Das Apperzeptionsver-

mögen oder die „ästhetische Urteilskraft“ des Menschen in der Moderne werde eine andere als in der

Vormoderne: ihr Signum sei die Zerstreuung, das „Verpuffen“ des sinnlich Wahrgenommenen in Er-

lebnissen.

Als zweiten Ort, an dem sich neben den Fabriken im 19. Jh. eine Elimination von Erfahrung und damit

einhergehend eine Transformation der Apperzeptionsvermögen vollziehe, gibt Benjamin die urbane

Lebenswelt dieser Zeit an. Das Phänomen „Großstadt“ konstituiert sich mit der industriellen Revoluti-

on, deren direkte Folge eine Akkumulation von Arbeitskräften ist, die sich zu den städtischen Massen

verdichten. Das eindringlichste und gleichzeitige erste literarische Zeugnis dieser Entwicklung sieht

Benjamin in Edgar Allen Poes Erzählung „Der Mann der Menge“. Poes

„Passanten benehmen sich so, als wenn sie, angepasst an die Automaten, nur noch automatisch sich äußern könnten. Ihr Verhalten ist eine Reaktion auf Chocks. ‘Wenn man sie anstieß, so grüßten sie diejenigen tief, von denen sie ihren Stoß bekommen hatten.’ Dem Chockerlebnis, das der Passant in der Menge hat, entspricht das ‘Erlebnis’ des Arbeiters an der Maschine.“ (GS1,632)

Der historische Stand von Erfahrung und Wahrnehmung in den Zeiten Baudelaires wäre grob skizziert.

Für Benjamin stellt sich in bezug auf Baudelaire die Frage, „wie lyrische Dichtung in einer Erfahrung

fundiert sein könne, der das Schockerlebnis zur Norm geworden ist“ (GS1,614), wie mit anderen Wor-

ten Lyrik geschrieben werden könne, die für ein Publikum rezipierbar bleibe, dessen Rezeptionshaltung

„zerstreut“ sei. Benjamin charakterisiert Baudelaires potentielle Leser so: „Mit ihrer Willenskraft und

also auch wohl ihrem Konzentrationsvermögen ist es nicht weit her; sinnliche Genüsse werden von

ihnen bevorzugt.“ (GS1,607) Baudelaire gelinge es, den Kontakt mit diesem Publikum zu wahren, in-

dem er die Gestalt seiner Werke der Gestalt der Lebenswelt seines Publikums angleiche: er erhebe den

Schock zum Formprinzip. „Baudelaire hat also die Chockerfahrung ins Herz seiner artistischen Arbeit

hineingestellt. [...] Dem Schrecken preisgegeben, ist es Baudelaire nicht fremd selber Schrecken hervor-

zurufen.“ (GS1,616) Die die wirkliche Erfahrung untergrabende Schockerfahrung mache Baudelaire auf

den Straßen von Paris. Die Schocks versetzten ihm die Menge, „von der Menge mit Stößen bedacht

worden zu sein, hebt Baudelaire unter allen Erfahrungen, die sein Leben zu dem gemacht haben, was es

geworden ist, als die maßgebende heraus.“ (GS1,652) Die städtische Menge sei in Baudelaires Gedich-

ten allgegenwärtig und „derart innerlich, daß man ihre Schilderung [...] vergebens sucht.“ (GS1,621) Sie

sei wie ein „Schleier: durch ihn hindurch sah Baudelaire Paris“ (GS1,622).

Der schriftstellerische Gestus Baudelaires sei der des Flaneurs und Lumpensammlers. Er streife durch

die Straßen, „sammele“ Schocks und faße diese in sprachliche Bilder. Er „hat es sich zur Sache ge-

macht, die Chocks mit seiner geistigen und physischen Person zu parieren“ (GS1,616). Von Baudelaire 844 Kai Pfankuch: Die Erfahrungstheorie Walter Benjamins als integraler Bestandteil seiner Geschichtsphilosophie und

Kunsttheorie. A.a.O.: S. 36.

280

selbst werde seine literarische Arbeit in der ersten Strophe des Gedichtes „Le Soleil“ beschrieben, die

Benjamin zitiert:

„Durch die alte Vorstadt streifend, wo an baufälligen Fassaden die Jalousien hängen, hinter denen die Unzucht sich versteckt, beliebt es mir, wenn grausam die Sonne mit doppelt heißen Strahlen auf Stadt und Felder, Dächer und Saaten scheint, allein mein wunderliches Fechthandwerk zu üben, in allen Winkeln nach Reimen witternd, über Worte stolpernd wie über Pflastersteine und bisweilen auf lang erträumte Verse stoßend.“845

Das hier von Baudelaire verwendete Bild des „Fechthandwerks“ interpretiert Benjamin als ein Fechten

mit Schocks. In einem Brief an Arsène Houssaye fordert Baudelaire ganz im Sinne dieser Interpretation

Benjamins von einer ihm vorschwebenen idealen Sprache:

„Sie müßte geschmeidig und spröde genug sein, um sich den lyrischen Regungen der Seele, den Wellenbewegungen der Träumereien, den Chocks des Bewußtseins anzupassen. Dieses Ideal [...] wird vor allem von dem Besitz ergreifen, der in den Riesenstädten mit dem Geflecht ihrer zahllosen, einander durchkreuzenden Beziehungen zuhause ist.“ (zit.n. GS1,618)

Den Inhalten der Baudelaireschen Gedichte, die von Erfahrungsverlust, Entfremdung, Vermassung

und Schockerlebnissen bestimmt seien, entspricht für Benjamin auch ihre Form, die keine lyrische

mehr sei. Baudelaire verzichtet auf die Konzeption eines organischen Kunstwerks zu Gunsten einer

Wiedereinsetzung der Form der barocken Allegorie.

„Als Baudelaire sich nach 1850 der Leere des L’art pour l’art verschrieb, leistete er, nur auf gedrückte Art einen Verzicht, den er auf souveräne, von dem Augenblick an geleistet hatte, da er die Allegorie zur Armatur seiner Dichtung gemacht hatte: den Verzicht, die Kunst als Kategorie der Totalität des Dasein einzusetzen.“ (GS5,408)

Das Formprinzip der Allegorie sei jedem ästhetischen Schein diametral entgegengesetzt. Die Baude-

lairesche Allegorie habe es „in ihrem destruktiven Furor mit der Austreibung des Scheins zu tun, der

von aller gegebener Ordnung, sei es der Kunst, sei es des Lebens als der sie verklärenden der Totalität

oder des Organischen ausgeht, welcher sie erträglich erscheinen läßt.“ (GS5,417) Die Brüchigkeit der

allegorischen Form sei der einzig adäquate literarische Ausdruck für die schockierenden Erlebnisse in

der Moderne. „Der Blick des Allegorikers, der die Stadt trifft, [ist] der Blick des Entfremdeten.“

(GS5,54)

Der von Benjamin unterstellten Entwicklung Baudelaires vom Lyriker, der im Begriff des L’art pour l’art

aufgeht, zum Allegoriker, dessen „tiefster Wille“ es sei, „den Weltlauf zu unterbrechen“ (GS5,401), ent-

spreche die Sequenz der in den „Fleurs du Mal“ versammelten Gedichte. Das Buch beginne mit frühen

Gedichten, die dem Idéal verpflichtet seien und noch ganz in einem romantischen Kontext stünden, so

die „Correspondances“:

„Die Natur ist ein Tempel, wo aus lebendigen Pfeilern zuweilen wirre Worte dringen, der Mensch geht dort durch Wälder von Symbolen, die mit vertrauten Blicken ihn beobachten.

Wie langer Hall und Widerhall, die fern vernommen in eine finstere und tiefe Einheit schmelzen, weit wie die Nacht und wie die Helle, antworten Düfte, Farben und Töne einander.“846

845 Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen. Übers. v. Friedhelm Kemp. München 1986. S. 177. 846 a.a.O.: S. 23.

281

Thema dieses Sonetts sei das romantische Motiv der Synästhesien. In zwei späteren Gedichten werde

dieses Motiv erneut aufgegriffen aber negativ gewendet, ja destruiert. Zunächst in „Obsession“:

„Große Wälder, ihr erschreckt mich, wie Kathedralen, ihr heult wie die Orgel; und in unseren verfluchten Herzen, Kammern ewiger Trauer, wo alte Röchellaute beben, tönt eurem De Profundis dumpfe Antwort wider.“847

Und dann noch deutlicher in „Le Gout du Neant“:

„Die Frühlingswonne hat ihren Duft verloren!“848

In Gedichtenwie „La Muse Malade“ , „La Muse Vénale“ und „Le Coucher Du Soleil Romantique“ ver-

künden schon die Titel ein antiromantisches, antikünstlerisches Programm. In „Le Coucher Du Soleil

Romantique“ wird von der „Sonne der Romantik“ gesagt:

„Ich erinnere mich! ... Blume, Quelle, Furche, alles sah ich unter ihrem Auge sich regen wie ein schlagendes Herz ... - Laßt uns zum Rand der Erde laufen, es ist spät, rasch, laßt uns eilen, um wenigsten noch einen schrägen Strahl zu erhaschen!

Doch umsonst verfolge ich den Gott, der uns entweicht; unwiderstehlich breitet die Nacht ihre Herrschaft aus, schwarz, feucht, unheimlich und schaudervoll.“849

Die nach-romantische Moderne erscheint hier als bedrohliche Nacht, in der es keinen schönen Schein

mehr geben kann. „Der Verfall der Aura“ habe so untrüglich Baudelaires „lyrischem Werk sich einbe-

schrieben“ (GS1,648). Als „Aura“ definiert Benjamin die „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah

sie sein mag“ (GS1,440). Benjamin legt entscheidenden „Wert auf Baudelaires Bemühung [...], desjeni-

gen Blicks habhaft zu werden, in dem der Zauber der Ferne erschlossen ist“ (GS5,396). Der „Verzicht

auf den Zauber der Ferne ist ein entscheidendes Moment in der Lyrik Baudelaires.“ (GS5,417) Der

Prozeß der Entauratisierung des Kunstwerks, welcher für Benjamin im 20. Jh. mit der technischen Re-

produzierbarkeit desselben vollendet wird, setze schon bei Baudelaire ein. Dieser „hat den Preis be-

zahlt, um welchen die Sensation der Moderne zu haben ist: die Zerstörung der Aura im Chockerlebnis“

(GS1,653).

847 a.a.O.: S. 159. 848 a.a.O.: S. 161. 849 a.a.O.: S. 297.

282

5. Literatur

5.1. Primärliteratur:

Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte.

Bd.1. Gestalt und Wirklichkeit. München 31919. Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte.

Bd.1. Gestalt und Wirklichkeit. Völlig umgestaltete Ausgabe. München 531924. (≈ 11923) Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte.

Bd.2. Welthistorische Perspektiven. München 431924. (≈ 11922) Spengler, Oswald: Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens. München

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284

5.4. Andere Literatur:

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