Forschungen zur Medien- und Kommunikationsgeschichte in der ungarischen Altertumswissenschaft im 20....

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Attila Simon: Forschungen zur Medien- und Kommunikationsgeschichte in der ungarischen Altertumswissenschaft im 20. Jahrhundert In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden in Ungarn bedeutende kommunikations- und mediengeschichtliche bzw. -theoretische Forschungen betrieben. 1 In diesem Zusammenhang ist vor allem Melchior Palágyi auf dem Gebiet der Philosophie, der Sozialhistoriker István Hajnal, der sich mit Stilhistorie befassende Béla Zolnai und der Literaturhistoriker Theodor Thienemann zu erwähnen. In den letzten Jahrzehnten haben zuerst wichtige Arbeiten der philosophiegeschichtlichen Forschung dazu beigetragen, die Ergebnisse der erwähnten Forscher für die Wissenschafts- und Ideengeschichte zu erschließen 2 , seit 2000 sind aber die Beiträge der Forschungsgruppe Allgemeine Literaturwissenschaft zur Neuauslegung dieser Lebenswerke nicht weniger relevant. 3 Wie steht es aber mit der ungarischen Altertumswissenschaft in der betreffenden Epoche? Haben die ungarischen Altertumswissenschaftler wesentliche Beiträge zur kommunikations- und mediengeschichtlichen Forschung geliefert? Meiner Ansicht nach ist das der Fall, und mehr noch: auf dem Gebiet der historischen Untersuchungen zu den sprachlichen, psychologischen, kulturellen und technischen Komponenten der menschlichen Kommunikation hatten sie in manchen Fällen eine führende Rolle. Diese Behauptung soll im Folgenden durch eine kurze Darstellung von drei Lebenswerken belegt werden. Gyula Hornyánszkys Forschungen über die antike griechische Öffentlichkeit, die 1 Die Arbeit an diesem Aufsatz wurde durch das János-Bolyai-Forschungsstipendium unterstützt. 2 István Bodnár, Szóbeliség és írásbeliség az archaikus Görögországban [Mündlichkeit und Schriftlichkeit im archaischen Griechenland], in: Kristóf Nyíri (Hg.), Informatika történetfilozófiai szempontból [Informatik aus geschichtsphilosophischer Sicht], Budapest 1990, S. 104–110; Kristóf Nyíri, Ausztria avagy a posztmodern keletkezése [Österreich oder die Entstehung der Postmoderne], in: ders., A hagyomány filozófiája [Die Philosophie der Tradition]. Budapest 1994, S. 65–82; ders., Hajnal István időszerűsége [Die Modernität István Hajnals], in: ders., A hagyományi filozófiája, S. 132–143; Katalin Neumer, „Vasa lecta et pretiosa“. Zur Geschichte der sprachtheoretischen Reflexion über Mündlichkeit-Schriftlichkeit und Joseph Balogh zu Fragen des lauten Lesens, in: Semiotische Berichte 27 (2003), S. 75–96; Tamás Demeter, A kommunikáció iránti érdeklődés megélénkülése a századelőn [Das Aufleben des Interesses an der Kommunikation am Jahrhundertbeginn], in: Szabolcs Oláh/Attila Simon/Péter Szirák (Hg.), Szerep és közeg. Medialitás a magyar kultúratudományok 20. századi történetében [Rolle und Medium. Medialität in den ungarischen Kulturwissenschaften des 20. Jahrhunderts], Budapest 2006, S. 207–222. 3 Ernő Kulcsár Szabó/Péter Szirák (Hg.), Történelem, kultúra, medialitás [Geschichte, Kultur, Medialität], Budapest 2003; Gábor Bednanics/Tibor Bónus (Hg.), Kulturális közegek. Médiumok a 20. század első felében Magyarországon [Kulturelle Medien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Ungarn], Budapest 2005; Oláh/Simon/Szirák, Szerep és közeg; Tibor Bónus/Zoltán Kulcsár-Szabó/Attila Simon (Hg.), Az olvasás rejtekútjai. Műfajiság, kulturális emlékezet és medialitás a 20. századi magyar irodalomtudományban [Holzwege des Lesens. Gattungsfragen, kulturelle Erinnerung und Medialität in der ungarischen Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts], Budapest 2007; Ernő Kulcsár Szabó/Dubravka Oraić Tolić (Hg.), Kultur in Reflexion. Beitrӓge zur Geschichte der mitteleuropӓischen Literaturwissenschaften, Wien 2008.

Transcript of Forschungen zur Medien- und Kommunikationsgeschichte in der ungarischen Altertumswissenschaft im 20....

Attila Simon:

Forschungen zur Medien- und Kommunikationsgeschichte in der ungarischen

Altertumswissenschaft im 20. Jahrhundert

In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden in Ungarn bedeutende

kommunikations- und mediengeschichtliche bzw. -theoretische Forschungen betrieben.1 In

diesem Zusammenhang ist vor allem Melchior Palágyi auf dem Gebiet der Philosophie, der

Sozialhistoriker István Hajnal, der sich mit Stilhistorie befassende Béla Zolnai und der

Literaturhistoriker Theodor Thienemann zu erwähnen. In den letzten Jahrzehnten haben zuerst

wichtige Arbeiten der philosophiegeschichtlichen Forschung dazu beigetragen, die Ergebnisse

der erwähnten Forscher für die Wissenschafts- und Ideengeschichte zu erschließen2, seit 2000

sind aber die Beiträge der Forschungsgruppe Allgemeine Literaturwissenschaft zur

Neuauslegung dieser Lebenswerke nicht weniger relevant.3

Wie steht es aber mit der ungarischen Altertumswissenschaft in der betreffenden Epoche?

Haben die ungarischen Altertumswissenschaftler wesentliche Beiträge zur kommunikations-

und mediengeschichtlichen Forschung geliefert? Meiner Ansicht nach ist das der Fall, und

mehr noch: auf dem Gebiet der historischen Untersuchungen zu den sprachlichen,

psychologischen, kulturellen und technischen Komponenten der menschlichen

Kommunikation hatten sie in manchen Fällen eine führende Rolle. Diese Behauptung soll im

Folgenden durch eine kurze Darstellung von drei Lebenswerken belegt werden. Gyula

Hornyánszkys Forschungen über die antike griechische Öffentlichkeit, die

1 Die Arbeit an diesem Aufsatz wurde durch das János-Bolyai-Forschungsstipendium unterstützt. 2 István Bodnár, Szóbeliség és írásbeliség az archaikus Görögországban [Mündlichkeit und Schriftlichkeit im

archaischen Griechenland], in: Kristóf Nyíri (Hg.), Informatika történetfilozófiai szempontból [Informatik aus geschichtsphilosophischer Sicht], Budapest 1990, S. 104–110; Kristóf Nyíri, Ausztria avagy a posztmodern keletkezése [Österreich oder die Entstehung der Postmoderne], in: ders., A hagyomány filozófiája [Die Philosophie der Tradition]. Budapest 1994, S. 65–82; ders., Hajnal István időszerűsége [Die Modernität István Hajnals], in: ders., A hagyományi filozófiája, S. 132–143; Katalin Neumer, „Vasa lecta et pretiosa“. Zur Geschichte der sprachtheoretischen Reflexion über Mündlichkeit-Schriftlichkeit und Joseph Balogh zu Fragen des lauten Lesens, in: Semiotische Berichte 27 (2003), S. 75–96; Tamás Demeter, A kommunikáció iránti érdeklődés megélénkülése a századelőn [Das Aufleben des Interesses an der Kommunikation am Jahrhundertbeginn], in: Szabolcs Oláh/Attila Simon/Péter Szirák (Hg.), Szerep és közeg. Medialitás a magyar kultúratudományok 20. századi történetében [Rolle und Medium. Medialität in den ungarischen Kulturwissenschaften des 20. Jahrhunderts], Budapest 2006, S. 207–222.

3 Ernő Kulcsár Szabó/Péter Szirák (Hg.), Történelem, kultúra, medialitás [Geschichte, Kultur, Medialität], Budapest 2003; Gábor Bednanics/Tibor Bónus (Hg.), Kulturális közegek. Médiumok a 20. század első felében Magyarországon [Kulturelle Medien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Ungarn], Budapest 2005; Oláh/Simon/Szirák, Szerep és közeg; Tibor Bónus/Zoltán Kulcsár-Szabó/Attila Simon (Hg.), Az olvasás rejtekútjai. Műfajiság, kulturális emlékezet és medialitás a 20. századi magyar irodalomtudományban [Holzwege des Lesens. Gattungsfragen, kulturelle Erinnerung und Medialität in der ungarischen Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts], Budapest 2007; Ernő Kulcsár Szabó/Dubravka Oraić Tolić (Hg.), Kultur in Reflexion. Beitrӓge zur Geschichte der mitteleuropӓischen Literaturwissenschaften, Wien 2008.

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massenpsychologischen und rhetorischen Merkmale der (mündlichen) politischen

Kommunikation haben zu bedeutenden Ergebnissen geführt. Die Forschungen von József

Balogh über das laute Lesen stellen eine auch international hervorragende Leistung dar. Das

Werk von Károly Marót, der eine originelle Konzeption der an Oralität gebundenen

„kollektiven Dichtung” ausgearbeitet, „Homer als diktierenden Dichter” begriffen und in

Verbindung damit über die mediengeschichtlichen Eigentümlichkeiten der frühen

Schriftlichkeit zu forschen begonnen hat, bleibt – meines Erachtens nicht nur auf dem Gebiet

seiner engeren Wissenschaft – auch in der Zukunft lesenswert.

I. Psychologie und Rhetorik der öffentlichen Rede (Gyula Hornyánszky)

Der klassische Philologe und Altertumswissenschaftler Gyula Hornyánszky ist in der

professionellen Öffentlichkeit der Altertumswissenschaft vor allem dank seinem Buch über

Hippokrates bekannt.4 Weniger bekannt ist, dass er in den 10er und 20er Jahren des letzten

Jahrhunderts neben wissenschaftsgeschichtlichen Forschungen mehrere Aufsätze auch über

Themen der antiken griechischen Öffentlichkeit veröffentlichte. Eine dieser Arbeiten

analysiert Reden und Massenszenen in den homerischen Epen,5 andere sind aber dem

griechischen Konzept der „öffentlichen Meinung”6 oder der Frage nach der Öffentlichkeit in

der Zeit von Demosthenes gewidmet7. Hornyánszkys Methode ist durch die Verbindung von

Gesichtspunkten der Geschichte des öffentlichen Rechts, der Institutionengeschichte, der

Massenpsychologie und der Rhetorik geprägt. In seinen Untersuchungen zur

Altertumsgeschichte wendete er auch die psychologischen und soziologischen Einsichten der

Jahrhundertwende an. Eine ganze Studie widmete er beispielsweise der Frage, ob und wie die

Arbeiten von Herbert Spencer in der Altertumswissenschaft angewendet werden könnten;

4 Gyula Hornyánszky, A görög felvilágosodás tudománya. Hippokrates [Die Wissenschaft der griechischen

Aufklärung. Hippokrates], Budapest 1910. 5 Gyula Hornyánszky, A homerosi beszédek tömeglélektani vonatkozásukban (Rhetorica homerica) [Die

homerischen Reden in ihrem massenpsychologischen Bezug], Budapest 1915. 6 Gyula Hornyánszky, A közvélemény eszméje a görögök között [Die Idee der öffentlichen Meinung bei den

Griechen] in: Társadalomtudomány 2 (1922), S. 44–60; ders., A szabadság nevében. Adalék a közvélemény történetéhez [Im Namen der Freiheit. Beitrag zur Geschichte der öffentlichen Meinung], in: Társadalomtudomány 2 (1922), S. 281–293; ders., Die Idee der öffentlichen Meinung bei den Griechen, in: Acta Litterarum et Scientiarum Reg. Universitatis Hung. Francisco-Josephianae. Sectio philologico-historica I (1922), S. 1–36.

7 Gyula Hornyánszky, A hadvezértől az ügyvédig [Vom Heerführer zum Anwalt], in: A Magyar Humanisztikus Gimnázium Hivei Egyesületének Közleményei 2. Bd., o.O. 1923, S. 43–54.

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dabei stellte er fest, dass „die Geschichtswissenschaft ohne die Begriffe und Sätze der

Soziologie und der Psychologie ganz und gar unvorstellbar” sei.8

Hornyánszkys wichtigster Ansatz liegt aber darin, dass er die Ergebnisse der damaligen

Massenpsychologie – vor allem von Gustave Le Bon, dessen Werk in der ersten Hälfte des

20. Jahrhunderts auch auf andere (unter anderem ungarische) Autoren eine große Wirkung

ausübte – in die Betrachtung der griechischen Geschichte mit einbezogen hat. In der Studie

über Massenpsychologie und griechische Geschichte (Tömegpsychologia és görög történet)

geht er von terminologischen Überlegungen über die griechischen Wörter für ’Masse’ aus, der

philologisch-lexikographische Gesichtspunkt wird aber durch Untersuchungen zu

verschiedenen anderen Aspekten ergänzt; so untersucht er auch Siedlungsverhältnisse,

Verkehr und Berichterstattung, Lebensweise, Institutionen (darunter insbesondere die

politischen Institutionen), den „inneren Charakter” und die „Bildung” (die kulturellen

Gewohnheiten).9

Für die mediengeschichtliche Forschung kann vor allem Hornyánszkys Absicht, „die

Macht des Wortes und die Persönlichkeit des führenden Individuums” eigens zu untersuchen,

interessant erscheinen.10 Er meinte nämlich, dass die Menge sich

nur selten nach den Handlungen richtet; es ist meistens die Rede, an der sie sich orientiert, die sie beeinflusst und zu Handlungen bewegt. Das Wort hat eine suggestive Kraft, die sich am prägnantesten in der Stimme, dem Tonfall und anderen Äußerlichkeiten des Vortrags manifestiert. Was aber den Inhalt betrifft, für Reden, die vor einer großen Volksmenge gehalten werden, gelten ganz besondere Bedingungen hinsichtlich der erzielten Wirkung. Hier erscheinen manche Eigenarten, die bei einer an inhaltlicher Wahrheit orientierten Mitteilung zu Recht verworfen werden, geradezu als Tugend, und umgekehrt gilt das gleiche; ich erinnere hier nur an apodiktische Behauptungen ohne mühsame Beweisführung, die geschickte Verwendung von Parolen, die Phantasie stimulierenden sinnlichen Bilder, die Übertreibungen, die der Eitelkeit schmeicheln oder die Leidenschaften aufpeitschen.11

Hornyánszkys Studien über die massenpsychologischen Aspekte der politischen

Kommunikation in der griechischen Öffentlichkeit (sie wurden von ihm nicht zu einer

selbstständigen Monographie zusammengestellt) bleiben dann von der Frage nach dem

oralen, unmittelbar erklingenden Wort angezogen. Die in der zitierten Passage auftauchenden

Gesichtspunkte kommen in mehreren seiner weiteren Arbeiten wieder vor und erweitern sich

8 Gyula Hornyánszky, Történetírás és philosophia [Geschichtsschreibung und Philosophie], Budapest 1904. 9 Gyula Hornyánszky, Tömegpsychologia és görög történet [Massenpsychologie und griechische Geschichte].

Magyar Filozófiai Társaság Közleményei 12 (1912), S. 224–245, hier S. 224–239. 10 Ebd., S. 240. 11 Ebd., S. 240–241.

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zu ausführlichen Analysen der Reden, die in den homerischen Epen vor einer Menge gehalten

werden.

Bevor aber diese Analysen näher ins Auge gefasst werden, soll in einem kurzen Exkurs

auch Hornyánszkys Aufsatz Die Macht des Wortes (A szó hatalma) berührt werden, die nach

ihrem Untertitel eine Einführung in die Geschichte der griechischen Redekunst darstellt und

dabei auch Hornyánszkys Sprachauffassung und Gesichtspunkte bei der Untersuchung der

politischen Rhetorik erhellt. Als Ausgangspunkt dient ihm auch hier die Kraft des „lebendigen

Wortes”, aber noch nicht des zu Taten bewegenden Wortes der politischen Reden, sondern es

geht um Verwendung, Rolle und Wirkung des lebendigen Wortes auf dem Gebiet der

Religion und des Rechts. Die „mystische Seite der menschlichen Stimme” gewinnt nämlich

am meisten in den Äußerungen religiösen Charakters an Gewicht: „in den Gebeten, Gelübden,

Schwüren, Flüchen und Zauberformeln.”12 Im Hinblick auf die politische Rede ist das

Merkmal der Zauberworte am wichtigsten, dass ihre Zauberkraft nicht im Willen oder einem

anderen Vermögen des sprechenden Subjekts, sondern unmittelbar im Wort selbst liegt.

Hornyánszky stellt einen ähnlichen Zug im formelhaften Charakter der Rechtssprache fest:

das Bestehen auf feststehenden Strukturen bedeutet, dass die Bedingung der Erfüllung und

Gültigkeit der Worte nicht in der (in jedem Fall nur indirekt zu ermittelnden) Absicht des

Sprechenden, sondern im genauen Aussprechen der festgelegten Worte selbst liegt.13

Die handelnde und zu Handlungen bewegende Kraft der sprachlichen Äußerungen wird

von Hornyánszky auf konsequente Weise immer mit dem mündlichen Aussprechen der Worte

verbunden. Die Bedeutung der schriftlich entstandenen oder erst später schriftlich festgelegten

und überlieferten Reden liegt darin, dass sie etwas von der bewegenden Wirkung und

suggestiven Kraft bewahren können, die die vorgetragenen Reden auszeichnete, und

möglicherweise die griechische Geschichte auf entscheidende Weise beeinflussen (s. die

massenpsychologische Analyse der Darstellung der Sizilienexpedition bei Thukydides)14, aber

in den gerichtlichen Reden auch die alltäglichen Angelegenheiten auf eine das Schicksal der

Beteiligten bestimmende Weise entscheiden konnte.15 Für Hornyánszky liegt das

Schlüsselmoment dieser enormen Wirkung darin, dass die Rhetorik der politischen Reden

sich den Regelhaftigkeiten anpassen muss, die von der Massenpsychologie erschlossen und

12 Gyula Hornyánszky, A szó hatalma [Die Macht des Wortes], in: Egyetemes Philologiai Közlöny 1914,

S. 633–656, hier S. 634. 13 Ebd., S. 635–638. 14 Hornyánszky, Tömegpsychologia, S. 226–228. 15 Gyula Hornyánszky, Görög társadalomrajz [Soziographie der griechischen Gesellschaft], in: Acta Litterarum

et Scientiarum Reg. Universitatis Hung. Francisco-Josephianae. Sectio philologico-historica III (1931), S. 3–38, hier S. 20.

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bei den alten Griechen bis zur Zeit der Sophisten auf eine gleichsam unbewusst wissende

Weise angewendet worden waren.

Weil die Masse von Menschen, die zusammengekommene Menge Eigenarten annimmt, die eben vom Zusammensein bestimmt sind, und der Redner sich diesen anpassen muss. Er wendet sich weniger an den Verstand der Einzelnen; vielmehr strebt er danach, die allgemein vorherrschenden Emotionen zu leiten, zu steigern und umzuformen. Er nutzt das emotionale und Willensvermögen der Masse für seine eigenen Zwecke aus. Statt Ideen und Begriffe zu klären stellt er Parolen her, durch die er das politische Verhalten der Zuhörer und die öffentliche Meinung manchmal auf entscheidende Weise bestimmt.16

Im Jahre 1915 veröffentlichte Hornyánszky seine Abhandlung über die homerischen Reden.17

In der Einleitung stellt er fest, dass er die „‚Masse‘ immer als Terminus und zwar im Sinne

der gleichzeitig am gleichen Ort zusammenwirkenden Menschenmenge” versteht, in der „das

menschliche Wort, das Wort der führenden Person der eigentliche nervus regens ist”.18 Im

Text der Ilias und der Odyssee fasst er die Stellen näher ins Auge, wo „sich das Heerlager

bzw. das Volk selbst versammelt und den Rednern zuhört”, aber auch die anderen

Gelegenheiten, wo das Reden sich vor der ganzen Öffentlichkeit der Zuschauer der

Wettkämpfe oder der miteinander kämpfenden Heere vollzieht.19 Ausführlich erörtert er den

öffentlich-rechtlichen Charakter der homerischen agora, deren Eigenart darin gesehen wird,

dass die vom Erzähler dargestellten Volksversammlungen die Eigentümlichkeiten einer

Übergangszeit bewahren, „in der die Willkür des Herrschers allerdings durch eine

weitgehende Volksfreiheit eingeschränkt wird”20 und „die Stellungnahme des Volkes ein

öffentlich-rechtlicher Akt ist, der als eine notwendige Bedingung den Willen des Herrschers

ergänzt und diesem den legalen Charakter gewährt.”21 Das Recht des Volkes zur Teilnahme

an den zu Entscheidungen führenden Diskussionen – welches Recht hinsichtlich seiner

öffentlich-rechtlichen Regelung allerdings sehr vage umrissen bleibt – bedeutet für die Redner

die Notwendigkeit, sich vor der Öffentlichkeit zu streiten und alle rhetorischen Mittel

einzusetzen, um das Volk für sich zu gewinnen. Der Ursprung der Redekunst liegt also in der

Dynamik und lebendigen Wirklichkeit der politischen Institutionen und vor allem des

16 Gyula Hornyánszky, Demokratikus eszmék és intézmények a görögök között a közvélemény keletkezésének

szempontjából [Demokratische Ideen und Institutionen bei den Griechen im Hinblick auf die Entstehung der öffentlichen Meinung], in: Emlékkönyv dr. Gróf Klebelsberg Kuno negyedszázados kultúrpolitikai működésének emlékére születésének ötvenedik évfordulóján, Budapest 1925, S. 65–74, hier S. 73; ähnlicherweise ders., Tömegpsychologia, S. 225, 238, 243; ders., Görög társadalomrajz, S. 16–18.

17 Hornyánszky, A homerosi beszédek. 18 Ebd., S. 3. 19 Ebd., S. 9. 20 Ebd., S. 11. 21 Ebd., S. 15.

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politischen Lebens selbst, weil „die öffentlich-rechtliche Notwendigkeit des Volksentscheids

unmittelbar die Notwendigkeit der Redekunst mit sich brachte”.22

Im rednerischen Vortrag verbindet sich das Wort, das zur sinnlichen Welt der „Prӓsenz”

gehört und von ihr aus erklingt,23 mit anderen Faktoren der Kultur der Prӓsenz, die die

Umstände der vorgetragenen Rede bestimmen und unter dem Gesichtspunkt der durch sie

ausgeübten oder zumindest erzielten Wirkung keineswegs nebensächlich sind. Maßgebend ist

vor allem der Umstand, dass die Redner bei Homer ihre Reden im Freien vortragen, und das

verleiht der Beratung bereits einen demokratischen Charakter, weil die freie Teilnahme, der

öffentliche, offene Charakter der Reden auch durch die Umstände des Vortrags

hervorgehoben und unmittelbar erfahrbar gemacht wird. Darüber hinaus übt die freie Luft, der

freie Horizont selbst eine massenpsychologisch relevante Wirkung aus, „die sich im

Selbstgefühl der sich im Freien bewegenden, begeisterten, beratenden Menge manifestiert.”24

Das bühnenhafte Arrangement der Beratung (die Zuschauer sitzen und hören dem in der Mitte

stehenden Redner zu), die „Redefreiheit” und die „freie Äußerung einer Meinung” (das

erstere bedeutet das Recht auf Rede, das letztere die Äußerung ohne inhaltliche

Einschränkungen), die Freiheit im Ausdruck der Gefühlsbewegung, die im Vergleich zu den

Gewohnheiten am Anfang des 20. Jahrhunderts sehr heftig erscheint – all das gehört zu der

eigentümlichen Welt der Reden bei Homer.25

Besondere Aufmerksamkeit verdient hier die Unterscheidung, die in Hornyánszkys

Analysen, in denen er die massenpsychologischen und sprachlichen Eigenarten der

homerischen Rhetorik erörtert, auf mehreren Ebenen durchgeführt wird. Er unterscheidet

zwischen der ursprünglichen homerischen Rhetorik des lebendigen Wortes und der späteren

Redekunst, die von der ersteren in mehr als einer Hinsicht abweicht, indem sie bereits von der

Schriftlichkeit, dem theoretischen Wissen über Redekunst und den veränderten, die Struktur

der Öffentlichkeit prägenden institutionellen oder persönlichen Bedingungen bestimmt wird.26

All das war aber – wie bei Hornyánszky so oft27 – auch im zeitgenössischen Horizont

aufschlussreich, zu den Untersuchungen über die „Rhetorik des lebendigen Wortes” wurde er

sogar von deren Aktualität angeregt, die die veränderten politischen Umstände hervorriefen:

22 Ebd., S. 18. 23 Hans Ulrich Gumbrecht, Prӓsenz in der Sprache, in: ders., Unsere breite Gegenwart, Berlin 2010, S. 20–32. 24 Hornyánszky, A homerosi beszédek, S. 23. 25 Ebd., S. 22–30. 26 Über das Letztere s. ausführlicher Hornyánszky, A hadvezértől. 27 Gyula Hornyánszky, A parlamentek ellen [Gegen die Parlamente], in: Társadalomtudomány 1 (1921), S. 1–16;

ders., A szabadság nevében.

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[D]ie Rhetorik war schon bei den Griechen zur Stilistik geworden und bis heute auch in unserer Wissenschaft Stilistik geblieben; wir konnten uns gerade hier, bei den theoretischen Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, kaum oder nur sehr wenig von der antiken Tradition emanzipieren. Die Phänomene des demokratisierten und vergesellschafteten Lebens richten nur als neueste Entwicklung unsere Aufmerksamkeit auf das lebendige Wort; je mehr die Reden an die Massen in den letzten Zeiten an Gewicht gewonnen haben, umso mehr können wir hoffen, dass neben den lebensfremden Stilistiken mit der Zeit auch eine auf massenpsychologischen Grundlagen aufgebaute Rhetorik wieder erscheint.28

Bemerkenswert an der zitierten Passage ist die Kritik an der einengenden Umgestaltung der

rhetorischen Tradition zur Stilistik, die anregende Wirkung des politischen und

gesellschaftlichen Lebens auf die Fragestellungen der Wissenschaft sowie die neuen

Kommunikationssysteme der im Werden begriffenen Massendemokratien und die klare

Erkenntnis der dadurch entstehenden neuen Ansprüche. Zur Erforschung der medialen

Eigenschaften des lebendigen Wortes wurde Hornyánszky also durch den Strukturwandel der

politischen Öffentlichkeit seiner eigenen Zeit angeregt, so begann er sich mit den

Bedingungen der (Massen-)Kommunikation zu beschäftigen und fand dabei den

Ausgangspunkt in Homer. Er hatte vor, später – im Rahmen einer umfassenden „griechischen

Gesellschaftskunde” – eine auf massenpsychologischen Grundlagen beruhende

„Kommunikationsgeschichte” der griechischen Demokratie zu schreiben, die er aber dann als

vollständige Abhandlung nicht mehr ausarbeitete.

In Bezug auf die Homer-Studie sollen noch zwei Züge hervorgehoben werden. Erstens

weist Hornyánszky durch zahlreiche subtile und treffende Beobachtungen nach, dass die

„homerische Rhetorik” primär auf die Erweckung von Gefühlen abzielt. Die Anredeformen,

die die Gemeinschaft von Redner und Zuhörerschaft betonen sollen, die Berufung auf die

Menge der Anwesenden, das Lob der Zuhörer (oder manchmal auch deren Beschimpfung –

im Vertrauen auf die zum Gegenbeweis anregende Wirkung des Tadels), die schöne Gestalt

und das angenehme Organ, die Feierlichkeit, die imperativen Sprechakte, die ausführende

Wiederholung, die Vortragsweise (mit dem späteren rhetorischen Terminus: hypokrisis), d. h.

die Betonung des Gewichts von Gesten, Körperhaltung, Lautstärke und Tonfall, die

Ausnutzung der Möglichkeiten der Veranschaulichung, die Übertreibung und zuletzt der

nebenordnend-assoziative Charakter der Satzstruktur, die hier nicht dem ästhetischen Genuss,

sondern „der Leitung der Gefühle und des Willens dienen” – all diese rhetorischen Mittel als

28 Hornyánszky, A homerosi beszédek, S. 30–31.

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Elemente der unmittelbaren Wirkung des lebendigen Wortes werden in Hornyánszkys Arbeit

in einer ergreifenden Fülle entfaltet.29

Zweitens begreift Hornyánszky die Reden in Homers Epen als charakteristische

Äußerungen der Oralität und stellt sie den späteren Entwicklungen – dem Erscheinen der

schriftlichen Reden (der Schriftlichkeit überhaupt) und ihrer am Ende des 5. Jahrhunderts

immer größeren Verbreitung30 – gegenüber. Die rhetorischen Charakteristika der Reden

bestimmen aber auch die anderen Äußerungsweisen und somit den Stil des Erzählers im

Allgemeinen.

Die Grundlage sind hier der Unterschied zwischen dem lebendigen Wort und der Schrift, bzw. die Weisen und Hilfsmittel der unmittelbaren Darstellung, über die der Redner im Unterschied zum Schriftsteller frei verfügen kann. (…) Alle diese rhetorischen Züge findet man bei Homer nicht nur in den Reden, den feierlichen Dialogen, monologischen Erzählungen und Unterhaltungen, sondern ebenso auch in den Worten des Dichters. (…) Wir können hier eine Art Umsichgreifen der rednerischen Manier beobachten, wofür wir Beispiele in Homers Sprache auch an anderen Stellen gefunden haben. In diesem Fall ist aber dieses Übertreten ins Rednerische umso wichtiger, da es sich nicht auf isolierte Momente, sondern auf Erscheinungen ganz allgemeiner Natur bezieht, und diese verleihen dem ganzen Stil einen rhetorischen, sogar deiktischen Charakter.31

Am Ende des allmählichen, nicht in einer Richtung verlaufenden, sondern als Wirkung und

Gegenwirkung sich vollziehenden Übergangs von der Oralität zur Schriftlichkeit erscheint bei

Hornyánszky – wie auch bei anderen Autoren, z. B. Wolfgang Rösler32 – Aristoteles, der

ausdrücklich zwischen dem schriftlichen und dem eigentlichen (oralen) agonistischen Stil

(lexis graphikē und agōnistikē) unterscheidet.33

Die hier kurz und nur nach bestimmten Gesichtspunkten skizzierten Abhandlungen

Hornyánszkys wurden in den letzten Jahrzehnten wenig gelesen. Es ist aber vorstellbar, dass

das neue Interesse für die Phänomene bzw. seelischen und rhetorischen

Wirkungsmechanismen der Medien und der Kommunikation, die Fragen der politischen

Reden oder der Mündlichkeit und Schriftlichkeit die Aufmerksamkeit wieder auf seine

wertvollen Arbeiten lenkt.

29 Ebd., S. 32–74. 30 Vgl. dazu Alkidamas, Über diejenigen, die schriftliche Reden schreiben, oder über die Sophisten und

Zsigmond Ritoók, Alkidamas és a „Beszéd a szofistákról“ [Alkidamas und die Sophistenrede], in: Antik Tanulmányok 41 (1997), S. 35–43.

31 Hornyánszky, A homerosi beszédek, S. 67–68. 32 Wolfgang Rösler, Schriftkultur und Fiktionalität. Zum Funktionswandel der griechischen Literatur von Homer

bis Aristoteles, in: Aleida Assmann/Jan Assmann/Christof Hardmeier (Hg.), Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation, München 1983, S. 109–122, hier S. 116–120.

33 Hornyánszky, A homerosi beszédek, S. 71–72.

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II. Das laute und das stille Lesen (József Balogh)

József Balogh war einer der bedeutenden ungarischen Altphilologen des 20. Jahrhunderts, der

auch als Übersetzer und Redakteur tätig war. Der Schwerpunkt seiner Untersuchungen lag in

der Patristik (vor allem in den Werken Augustins), aber er veröffentlichte auch mehrere

Aufsätze im Umfeld des klassischen Altertums (z. B. Catull, Vergil), des lateinischen

Mittelalters in Ungarn (z. B. Stephan der Heilige, Heiliger Gerhardt) und der Ethnographie

(z. B. über das laute und das stille Beten).

In der zweiten Hӓlfte der 90er Jahre wurde auch in Ungarn die Aufmerksamkeit auf jenen

Teil der Baloghschen Forschungen gelenkt, der in der westlichen Wissenschaft Jahrzehnte

früher aufgedeckt worden war: nämlich auf das Problem des lauten Lesens und Schreibens.34

Wӓhrend nӓmlich Baloghs Beitrӓge in 20er und 30er Jahren von Literaturwissenschaftlern

wie János Horváth, Theodor Thienemann oder Béla Zolnai mehrmals zitiert wurden,35 wurde

seine Konzeption über das laute Lesen und Schreiben auf dem Gebiet der klassischen

Philologie, der Literaturwissenschaft sowie der Kommunikations- und Medienwissenschaften

in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg international viel stärker rezipiert als in

Ungarn.36

Balogh hat von zwei Autoren die grundsätzliche Anregung zur Untersuchung des Problems

des lauten Lesens bekommen: von Friedrich Nietzsche, der seine Karriere als Klassischer

Philologe mit der des Philosophen vertauscht hat, und von Eduard Norden, dem Meister der

Erforschung des antiken Prosastils. Nietzsche weist mehrmals auf das Phänomen des lauten

Lesens in der Antike hin, das er dem stillen Lesen seiner Zeit gegenüberstellt. Er sieht die

Ursache des Verfalls des deutschen Stils in der Tatsache, dass „der Deutsche [...] nicht laut

34 Tamás Demeter, From Classical Studies towards Epistemology: The Work of József Balogh, in: Studies in

East European Thought 51 (1999), S. 287–305; ders., József Balogh and the Reappearance of Reading Aloud, in: Peter Fleissner/J.C. Nyíri (Hg.), Philosophy of Culture and the Politics of Electronic Networking vol. 1: Austria and Hungary, Historical Roots and Present Developments, Innsbruck/Wien 1999, S. 27–43; ders., A kommunikációfilozófia magyar előfutára [Ein ungarischer Vorreiter der Kommunikationsphilosophie], in: Vera Békés (Hg.), A kreativitás mintázatai [Schemata der Kreativität], Budapest 2004, S. 178–203 sowie zusammenfassend ders., József Balogh, in Karla Pollman/Willemien Otten (Hg.), Oxford Guide to the Historical Reception of Augustine, 3. Bd., Oxford 2013, S. 128–130; József Balogh, Hangzó oldalak. Voces paginarum [Klingende Seiten. Voces paginarum], Budapest 2001.

35 Über die Beziehung zwischen Zolnai und Balogh siehe Béla Lóránt Kovács, Médium és stílus. A nyelv optikája és akusztikája Zolnai Béla életművében [Medium und Stil. Die Optik und Akustik der Sprache im Lebenswerk Béla Zolnais], in: Oláh/Simon/Szirák, Szerep és közeg, S. 149–168.

36 Dazu ausführlicher siehe Attila Simon, Lesen und Bekenntnis, in: Kulcsár Szabó/Oraić Tolić, Kultur in Reflexion, S. 229–234.

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[liest], nicht fürs Ohr, sondern bloß mit den Augen, er [...] seine Ohren dabei ins Schubfach

gelegt [hat].”37 Nietzsche erklärt mit dieser Tatsache auch die Erscheinung, dass die antike

(und besonders die römische) Literatur im modernen Leser den Eindruck erweckt, sie sei zu

„rhetorisch”, dem „natürlichen Stil” gegenüber „künstlich”. Im Gegensatz zur antiken Prosa,

die „durchaus Widerhall der lauten Rede ist”,

[ist] unsere Prosa immer mehr aus dem Schreiben zu erklären, [gibt] unsere Stilistik sich als eine durchs Lesen zu perzipierende [...]. Der Lesende und der Hörende wollen aber eine ganz andere Darstellungsform, und deshalb klingt uns die antike Literatur „rhetorisch“: d. h. sie wendet sich zunächst ans Ohr, um es zu bestechen.38

Eduard Norden ist in seinem Werk Die Antike Kunstprosa zu der Schlussfolgerung

gekommen, dass im Altertum das laute Lesen die bestimmende Lesepraxis war. Er hat seine

Behauptung in der ersten Fassung des Werkes39 nur mit einem einzigen unzweifelhaften

Beweis begründet, nämlich mit jener Stelle der Bekenntnisse, an der Augustin überraschend

erfuhr, dass Ambrosius, der Bischof von Mailand, zurückgezogen in seinem Zimmer in ein

Buch vertieft war und es lautlos las (Confessiones VI, 3, 3: vox autem et lingua

quiescebant … eum legentem vidimus tacite et aliter numquam). Nach Norden spricht eben

diese Überraschung Augustins für seine Annahme, dass das lautlose Lesen als eine Anstoß

erregende Besonderheit galt, also die gewöhnliche Praxis das laute Lesen war. Die Quellen

sprechen von dem Phänomen des lauten Lesens eben darum nicht, weil dies im Altertum die

selbstverständliche und gewöhnliche Leseweise war. Vor allem kann die Praxis des lauten

Lesens anhand der Stellen bewiesen werden, die das leise Lesen bezeugen, und über diese

Erscheinung als eine Abnormität sprechen.40 Norden hat in den späteren Ausgaben seines

Werkes (1909, 1915) – gestützt auf Untersuchungen anderer Forscher (z. B. die von Balogh) –

mehrere Stellen aufgezählt, die für seine Behauptung sprechen. Balogh versucht in Voces

paginarum, mit derselben Methode – aufgrund der Nordenschen Stellen und neuer eigener

Beiträge – das Phänomen des lauten Lesens zu beweisen.

Bernard M. W. Knox hat in seinem Aufsatz Silent Reading in Antiquity41 eine eingehende

und überzeugende Kritik der Baloghschen Methode geliefert, und er hat von einem Teil der

37 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: ders., Werke. Bd. VIII, Leipzig 1912, S. 215 (§ 247). 38 Ders., Rhetorik, ebd., S. 248. 39 Eduard Norden, Die Antike Kunstprosa vom VI. Jahrhundert v. Chr. bis in die Zeit der Renaissance, Leipzig

1898. 40 József Balogh, Voces paginarum. Beiträge zur Geschichte des lauten Lesens und Schreibens, in: Philologus 82

(1927), S. 84–109, S. 202–240, hier S. 87. 41 Bernard M. W. Knox, Silent Reading in Antiquity, in: Greek, Roman and Bizantine Studies 9 (1968), S. 421–

435.

11

Stellen, die Balogh erörterte, gezeigt, dass sie keine Beweise für das Phänomen des lauten

Lesens sind. Vor allem hat Knox Kritik an Balogh geübt, weil dieser den Kreis des

Phänomens allzusehr ausgedehnt habe, und er über das stille Lesen so spreche, als ob es in

jedem Fall und im ganzen Altertum „etwas Außerordentliches” gewesen wäre.42 Also

bestreitet Knox einerseits, dass alle Texte unter allen Umständen laut gelesen wurden,

andererseits verweist er auf die historischen Wandlungen der Lesepraxis und auf die sehr

verschiedenen kulturellen Konventionen der verschiedenen Gebiete des römischen Reichs.

Diese Kritik scheint mir richtig. Aber auch Knox erkennt an, worin die späteren Forscher

miteinander übereinstimmen, nämlich dass in der Antike bei den literarischen Texten das

laute Lesen die bestimmende, wenn auch nicht die einzige, Praxis war. (Zu den literarischen

Texten gehörten damals – neben den bis heute als literarisch geltenden Texten – z. B. die

rhetorischen Reden, die Geschichtsschreibung und der größte Teil der philosophischen

Schriften. Außerdem könnte man in diesem Zusammenhang auch darauf hinweisen, dass die

griechische und lateinische metrische Poesie überhaupt kaum anders rezipiert werden kann,

als durch lautes Vor-lesen.)43 Ferner gilt zu erwähnen, dass Knox sich nicht mit den frühen

christlichen Stellen auseinandersetzt, sondern nur der so genannten Ambrosius- und der

berühmten Garten-Szene einige Worte widmet und anerkennt, dass an der ersten Stelle das

stille Lesen wirklich als „etwas Außerordentliches” erscheint.

Mary J. Carruthers bestreitet auch das „Außerordentliche” in Ambrosius’ stillem Lesen.

Ihrer Meinung nach lebte die Praxis der lectio und der meditatio nebeneinander, und in dieser

Szene geht es einfach darum, dass Ambrosius hier das meditative Lesen, das Lesen in silentio

praktiziert. Die Gleichzeitigkeit der Praxis des lauten und des stillen Lesens kann natürlich

möglich sein, aber Carruthers gibt keine überzeugende Erklӓrung für die Formulierung eum

legentem vidimus tacite et aliter numquam (!) in der von Augustin oben zitierten Passage.44

Außerdem liegt die bedeutendste Leistung Baloghs nicht in der (bestreitbaren) Festsetzung

eines Wechsels oder einer Epochenschwelle zwischen lautem und stillem Lesen. Seiner

Ansicht nach, die er in seinem kleinen Buch „Vasa lecta et pretiosa” erörterte, geschieht

sogar die spirituelle und die „formal-ӓsthetische” Bekehrung Augustins, deren Teil der

42 Ebd., S. 435. 43 Hier lӓsst sich erwӓhnen, dass die scriptio continua von vornherein das laute Lesen hervorruft, so ist es

gleichsam von vornherein im Text inbegriffen. Andererseits kann man nicht sagen, dass die scriptio continua das stille Lesen völlig unmöglich machen würde, weil die Griechen neben der Bewahrung der scriptio continua in Stille lesen konnten. (Jesper Svenbro, Archaisches und klassisches Griechenland: Die Erfindung des stillen Lesens, in: Roger Chartier/Guglielmo Cavallo [Hg.], Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm, Frankfurt/New York 1999, 59–96.)

44 Mary J. Carruthers, The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture, Cambridge 2008, S. 213–214

12

„Wechsel” zwischen lautem und stillem Lesen sein sollte, nicht als eine rasche Wende oder

radikaler Bruch, sondern beginnt immer wieder.45 Katalin Neumer hat überzeugend dafür

argumentiert, dass Baloghs Augustin-Aufsӓtze in dem Sinn verstanden werden können, dass

ihr Autor die dichotomische Gegenüberstellung von lautem und stillem Lesen und im

Hintergrund die von Mündlichkeit und Schriftlichkeit vermieden hatte.46

Wenn wir der Leistung Baloghs gerecht werden wollen, müssen wir anerkennen, dass er

im Fieber der Entdeckung der Erscheinung des lauten Lesens einer Neigung zur Übertreibung

nachgegeben hat, und dass seine Textanalysen, mit Hilfe derer er die referentiellen und

stilistischen Beweise des lauten Lesens vorlegen wollte, nicht ohne Irrtum und

Überinterpretation sind. Zugleich aber hat er mit seinen Untersuchungen grundsätzlich den

ersten Schritt in die richtige Richtung getan, so beweist bis heute eine Reihe von Aufsätzen

und Büchern die wichtige, wirklich bestimmende Rolle des lauten Lesens in der antiken

literarischen Kultur. Aber auch das Phänomen des stillen Lesens und Schreibens (neben dem

des lauten) ist in der antiken Lesekultur zu beobachten (Knox bringt griechische Beispiele

dazu aus dem 5. Jahrhundert v. Chr.). Man kann annehmen, dass beide Arten nebeneinander

existiert haben, und ob diese oder jene angewendet worden ist, war abhängig von der Art des

zu lesenden Textes, der Lesesituation, den Umständen des Lesens, der Menge der zu lesenden

Texte und schließlich auch von der Geübtheit und Bildung des Lesers. Weitergehend kann

man auch behaupten, dass zwischen dem lauten und dem lautlosen Lesen mehrere Stufen zu

beobachten sind. Man kann z. B. über ein artikuliertes lautes Lesen (das eigentliche „Vor-

lesen”), ein wisperndes Lesen, dann ein unartikuliertes Murmeln, eine lautlose Bewegung der

Lippen, dann eine nur innere, mentale Artikulation des gelesenen Textes und schließlich über

ein tatsächlich bloß mit den Augen vollzogenes Lesen sprechen.47

Das unbestreitbare Verdienst der Baloghschen Untersuchungen ist, dass diese die

Aufmerksamkeit auf die Wichtigkeit der mitteilenden Formen der literarischen Texte gelenkt

haben, auf die Tatsache also, dass ein grundsätzlicher Perzeptionsunterschied zwischen dem

modernen, ausschließlich mit den Augen vollzogenen Lesen und dem lauten, auch für die

Ohren vollzogenen Lesen besteht. Die Forscher der antiken Literatur gewöhnen sich bereits

im Laufe ihrer Ausbildung an die Praxis, die Texte auch oder in erster Linie laut zu lesen.

Dieselbe Praxis ist unentbehrlich auch für die Forscher anderer Epochen: denn wenn wir aus

45 József Balogh, „Vasa lecta et pretiosa”. Szent Ágoston Konfessziói. Egy stílustörténeti tanulmány vázlata

[„Vasa lecta et pretiosa“. Die Confessiones des Heiligen Augustinus. Entwurf einer stilgeschichtlichen Abhandlung], Budapest 1918, S. 9–10, 18–19; ders., Augustins „alter und neuer Stil“, in: Die Antike 3 (1926), S. 351–367, hier 357–358.

46 Neumer, „Vasa lecta et pretiosa“. 47 George Lincoln Hendrickson, Ancient Reading, in: Classical Journal 25 (1929), S. 182–196, hier S. 93.

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der Untersuchung der literarischen Sprache die akustischen Elemente ausschließen, verengen

wir künstlich die sinnlichen Dimensionen der Sprache. Ferner können die Ergebnisse von

Balogh in der Untersuchung des lauten Lesens eine besondere Bedeutung gewinnen im Licht

der Wandlungen in der literarischen Kommunikation in letzten Jahren: Man denke nur an die

Verbreitung der lauten Bücher oder die steigende Popularitӓt der literarischen Vorlesungen

und des „Poetry Slam“ denken.

III. Die kollektive Dichtung und der diktierende Dichter (Károly Marót)

Károly Marót begann seine Gelehrten- und Lehrerlaufbahn ebenfalls im ersten Drittel des 20.

Jahrhunderts, er überlebte den Zweiten Weltkrieg und schrieb seine wichtigsten Bücher – die

auf seinen früheren, jahrzehntelangen Forschungen beruhen – nach 1948, in der letzten

Periode seines Lebens. Marót kam aus der Homer-Forschung, aus seinen Beiträgen zum

Verständnis der homerischen Dichtung entfalten sich seine mediengeschichtlichen Analysen,

die auf solche Weise immer in einem literaturgeschichtlichen Rahmen bleiben, trotzdem

liefern seine Arbeiten wichtige Einsichten auch für die seitdem selbstständig gewordene

mediengeschichtliche Forschung.48 Unter Maróts Vorstellungen sollen hier zwei

hervorgehoben werden, die unter dem Gesichtspunkt unserer Fragestellung besonders

beachtenswert erscheinen: erstens seine Konzeption der kollektiven Dichtung, zweitens seine

Antwort auf die sogenannte homerische Frage, d. h. seine Vorstellung über den „diktierenden

Dichter” und im Zusammenhang damit seine Ansicht über die Anfänge des Vertriebs der

homerischen Texte.

Marót schafft den Begriff der kollektiven Dichtung, um die herkömmliche

Gegenüberstellung von Volksdichtung und Kunstdichtung zu überwinden. Das Werk der

kollektiven Dichtung geht „aus der Zusammenarbeit von Individuum und Gemeinschaft”

hervor.49 Die Originalität des dichterischen Werks ist immer relativ, weil es in beträchtlichem

Maße die Verwendung und Neubelebung der aufgehäuften sprachlichen Bestände, der

poetischen Konventionen, Themen und Motiven darstellt. Dabei bestreitet aber Marót nicht,

48 Péter György, Memex. A könyvbe zárt tudás a 21. században [Memex. Das in Büchern verschlossene Wissen

im 21. Jahrhundert], Budapest 2002, S. 36–37; Attila Simon, Recepció és médium. Marót Károly irodalomszemléletéről [Rezeption und Medium. Über die Literaturbetrachtung von Károly Marót], in: ders., Dionysos színrevitele. A közvetítés kulturális technikái az antik irodalomban és filozófiában [Die Inszenierung des Dionysos. Die Kulturtechniken der Vermittlung in der antiken Literatur und Philosophie], Budapest 2009, S. 243−275.

49 Károly Marót, Homeros „a legrégibb és legjobb” [Homer, „der älteste und beste“], Budapest 1948, S. 7.

14

dass diese Neubelebung in jedem Fall eine individuelle Leistung voraussetzt: „das Volk”

dichtet nicht, auch die „Volksdichtung” besteht immer aus individuell geschaffenen Werken

(deren Autoren man bloß nicht kennt), andererseits aber wurzeln auch die Schöpfungen der

„Kunstdichtung” immer in der Tradition der Vergangenheit oder den „Gemeinplätzen” (topoi)

der Gegenwart, so ist ihr „Ursprung” nie absolut, und in diesem Sinn ist die erfolgreichste

Dichtung, die echte kollektive Dichtung, immer unpersönlich. Jede bedeutende Dichtung ist

laut Marót kollektive Dichtung, weil sie „im Munde des Volkes lebt”, in die Umgangssprache

eingeht, zitiert wird, ihre Wendungen verwendet werden, ihre Metapher in der Sprache und

im Denken der Sprechenden der jeweiligen Sprache weiterwirken. In seinem Buch Homeros

„a legrégibb és legjobb” formuliert er wie folgt:

[D]er unseren Vorstellungen entsprechende Dichter arbeitet nicht allein, sondern mit dem anonymen „Volk“ zusammen, er lässt also – den Verhältnissen, aber auch seinen eigenen Absichten gemäß – sein Werk notwendigerweise offen für weitere dichterische Einwirkungen. Der Dichter ist nicht nur eine Art Ergebnis der Gemeinschaft, sondern man muss notwendigerweise auch damit rechnen, dass die Gemeinschaft nachträglich, beim oralen Fortleben, nicht aufhören kann, das „gemeinsame Werk“ des Dichters und ihrer selbst fortwährend zu modifizieren, zu kontrollieren, dem Ort und der Zeit anzupassen.50

In Maróts Homer-Buch wird immer wieder der dynamische, prozesshafte Charakter in der

Dichtung betont: so hebt er auch in Verbindung mit dem griechischen Wort aoidē, das

„Gedicht”, „Gesang” bedeutet, dessen nomen actionis-Charakter („Singen”) hervor.51 Der

Grund für diesen dynamischen Charakter liegt darin, dass Produktion und Rezeption in der

kollektiven Dichtung eine unzertrennliche Einheit bilden. Den Hintergrund für diese

Vorstellung bildet aber der Sachverhalt, dass unter den eigentümlichen Verhältnissen der

Oralität diese Einheit immer schon gleichsam von selbst besteht, denn in der Welt der Oralität

gibt es den „Text” von vornherein nur, indem er immer wieder vorgetragen und neu erzählt

wird: in seinem unfeststellbaren Zustand oder anders gesagt in seiner Prozesshaftigkeit. Einen

noch radikaleren Schritt geht Marót, wenn er die Geltung des schöpferischen Moments auf

der rezeptiven Seite der kollektiven Dichtung, die er als „gemeinsames Werk“ des Dichters

und seines Publikums versteht, auf jede auslegende Tätigkeit ausweitet:

[M]it dem Namen „Volk“ wird hier die Gruppe von Menschen bezeichnet, die durch ihr vorausgehendes Mitwollen ihr zweifellos aktiveres Mitglied, d. h. den schaffenden (aussagenden) Dichter, bestimmt hat, dann aber werden dessen individuelle, Wort gewordene

50 Ebd., S. 102. 51 Ebd., S. 95.

15

Vorschläge allein von ihr als Dichtungen sanktioniert, und zwar dadurch, dass sie sie – auf eine nach der Erfahrung immer aktive, feilende, modifizierende Weise – annimmt. (...) Vergrößert erscheint hier diese positiv gemeinte, immer wieder ändernde Aktivität des Publikums – der Zuhörerschaft, der Zitierenden, Nachsprechenden, Kopierenden, ja im Allgemeinen der Verstehenden, also z.B. auch der Übersetzer –, d. h. die Tatsache, dass das Nachsprechen, ja das Verständnis selbst deutlich eine dichterische Tätigkeit, eine aktive Neuschöpfung bedeutet, (…) die von vornherein geschriebenen Werke erlitten von den Sängern, die sie als eigene behandeln, ähnliche, bis zur Entstellung gehende Interpolationen und Änderungen, wie sie in einigen Homer-Papyri und auch in Kodexabschriften – je nach Neigung des jeweiligen Schreibers – nicht selten vorkommen. Auch die Veränderung oder Entstellung unserer eigenen Lieblingszitate können wir beobachten.52

Wenn ich den Kern der Gedanken von Marót, der seinen etwas verschrobenen Sätzen nicht

immer leicht zu entnehmen ist, nicht missverstehe, so ist seiner Auffassung nach die

dichterische Schöpfung unter den Verhältnissen der Mündlichkeit eine Art Übergangsprodukt:

der Dichter vermittelt zwischen den vorausgehenden Erwartungen der Gemeinschaft und

einer neueren, gerade durch das Gedicht erscheinenden „Gestalt” derselben. Die Erwartungen

des Publikums können hier eine Art seelische Disposition bedeuten („Mitwollen”), die der

Dichter zum Wort bindet, dann aber wird dieses Wortmaterial bereits von der empfangenden-

übernehmenden Gemeinschaft bearbeitet. An der zitierten Stelle bleibt das wichtige – und von

Marót an vielen anderen Stellen betonte – Moment im Hintergrund, dass die vorausgehenden

Gegebenheiten der oralen Tradition, die die Tätigkeit der Sänger bestimmt (programmiert),

offenbar auch selber nur sprachliche Formen sein können.53 Die die sprachliche Gestalt des

Gedichts mitprägende Rolle der Rezeption wird von Marót jedoch bereits hier mit den

medialen Eigenarten der Fixierung der „Texte” in Zusammenhang gebracht, was bereits zu

der mediologischen Fragestellung überleitet, die in Maróts letztem, postum erschienenen

Büchlein das größte Gewicht bekommt.

Maróts Interesse an den Aufzeichnungssystemen wird in seinem letzten Buch stärker (als

Teilaspekt erschien es nämlich bereits in seinen früheren Arbeiten), und zwar in

beträchtlichem Maße durch die damalige Verbreitung der technischen Medien angeregt. Im

Vergleich zum Durchschnitt der damaligen ungarischen geisteswissenschaftlichen Forschung

hatte Marót eine klare Vorstellung von der Wirkung dieser neuen Medien auf die Literatur. Er

wirft – Paul Valéry folgend – die Frage auf, ob „die Zukunft – im Hinblick auf die großen

Möglichkeiten des Rundfunks usw. – statt der geschriebenen Literatur nicht bald einer

52 Ebd., S. 85–86. 53 Ebd., S. 64–65, 69–72, 77, 113; ders., A görög irodalom kezdetei [Die Anfänge der griechischen Literatur],

Budapest 1956, S. 21–22, 67–70; ders., Az epopeia helye a hősi epikában [Der Ort der Epopeia in der Heldenepik], Budapest 1964, S. 24–25, 73–74, 80–81.

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‚purement oral et auditive‘ Literatur gehört.”54 Er erwägt auch die Erfahrungen der Zeit seit

Valérys Formulierung und stellt fest, dass

auch die neuerdings immer stärkere Favorisierung von Rundfunk, Tonfilm, Fernsehen und man kann hinzufügen: von Stücken, die mit den „Korrekturen“ der Regisseure ausschließlich in der Form von Aufführungen verbreitet werden und von den Werken der Schriftsteller oft wesentlich abweichen, oder von musical comedys, Vortragsabenden u. Ä. die Entwicklung des literarischen Lebens in derselben oral-auditiven Richtung weiterbringt, die anscheinend in der Tat nach ihrem ursprünglichen Element, dem Urmeer der Mündlichkeit zurückstrebt. Wenn dieses Zurückstreben auch nicht so zwangsläufig und unmittelbar sein kann, wie es natürlich ursprünglich in der schriftlosen Epoche war.55

Anerkennung verdient hier nicht nur das Interesse eines Altphilologen für die neuesten

Telekommunikationsmittel und das breite Spektrum der kulturellen Performanz, sondern

auch, dass Marót hier eigentlich die Erscheinung entdeckt, die später von Walter J. Ong als

„zweite Oralität” bezeichnet wird;56 er versucht diese zu beschreiben und ihre möglichen

Wirkungen abzuwägen, so erkennt oder erahnt er zumindest auch, dass die neueren Formen

der Oralität nicht eine einfache Wiederholung der primären Oralität bedeuten können, weil sie

immer schon durch die Logik der dazwischengekommenen Schriftlichkeit bestimmt sind und

auch der kulturelle Kontext der zweiten Oralität aus schriftlichen oder auf Schrift beruhenden

Produkten besteht.

In A görög irodalom kezdetei vertrat Marót noch den Standpunkt, dass Homer in der Phase

des Übergangs von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit stand, vielleicht mit Hilfe von kurzen

(nicht unbedingt alphabetischen), hauptsächlich (oder ausschließlich) für sich selbst

geschriebenen Aufzeichnungen die Reihenfolge der vorzutragenden Gedichte festzuhalten

suchte.57 In seinem letzten Buch schließt er sich aber dem Vorschlag von A. B. Lord und C.

H. Whitman an.58 Ihnen folgend hält er es zu dieser Zeit schon für wahrscheinlicher, dass

Homer (oder vielleicht einer seiner unmittelbaren Schüler) „wie ein Märchenerzähler heute,

54 Ebd., S. 28; das innere Zitat: Paul Valéry, Regards sur le monde actuel et autres essais, Paris 1945, S. 214. 55 Marót, Az epopeia helye, S. 28, ähnlich S. 27, 75. 56 Walter J. Ong, Orality and Literacy, London 1982, S. 136. 57 Marót, A görög irodalom kezdetei, S. 37–38; ders., A epopeia helye, S. 104. 58 Albert B. Lord, Homers Originality: Dictated Texts, in: TAPhA 84 (1953), S. 124–134, Cedric H. Whitman,

Homer and the Heroic Tradition, Cambridge 1958. Die Urquelle des Gedankens: Milman Parry, The Making of Homeric Verse, Oxford 1971, S. 451. Über die Veränderungen der Thesen von Parry–Lord, die kritischen Auseinandersetzungen mit ihnen und die Missverständnisse in Bezug auf sie siehe Richard Janko, The Homeric Poems as Oral Dictated Texts, in: Classical Quaterly 48 (1998), S. 1–13.

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einem ihm vertrauten Schriftkundigen seine fertigen, aus dem Kopf erzählten Kompositionen

diktierte.”59

Im Hintergrund des Diktierens musste die Erfahrung der Übernahme und allmählich vor

sich gehenden Verbreitung der Schrift stehen. Unter den Umständen der Anfänge der

Schriftlichkeit konnten bereits Zweifel über die Dauerhaftigkeit und Wirksamkeit der

früheren, auf dem Gedächtnis basierenden Speicherung und oralen Überlieferung der

Informationen auftauchen. So konnte

Homer selbst oder ein die Tradition am besten kennender treuer „Schüler“ (...) die Zweckmäßigkeit des Diktierens erkennen, dieser regte vielleicht seinen Meister an, die Schätze der Tradition möglichst vollständig zu konservieren oder konservieren zu lassen, damit er sie als sein eigenes bzw. als des Meisters Erbe – gegen die freien und natürlich willkürlichen Varianten der auf zerstreute Weise Auszüge singenden Aoiden oder Rhapsoden oder als Maßstab für diese –, als das Eigentum des phylon [d.h. das „Geschlecht” der Sänger – A. S.] auf authentische Weise kodifiziert.60

Das Diktieren ermöglichte dem Dichter nicht nur die möglicherweise vollständige Bewahrung

der bisher im Kopf gespeicherten, aber nie zusammenhängend als Ganzes vorgetragenen

Schätze der Tradition, sondern so konnte – für uns – auch der Umfang und die Einheit der

Komposition eine Erklärung erhalten. Demnach zeigt die Ilias in ihrer uns bekannten Gestalt

„bereits so sehr vollkommene Spuren der geschriebenen Literatur, die mit dem ursprünglich

Vorgetragenen zwar unleugbar zusammenhängen, aber auf solche Weise, dass das Werk

bereits auch Züge eines neuen Kunstwerks in den Vordergrund stellen soll.”61 Auf die

ursprüngliche, mündliche Tradition kann man also (natürlich) nur folgern, aber nicht ohne

Grund kann man darauf folgern, dass die Komposition – selbst wenn Homer selbst oder sein

59 Marót, Az epopeia helye, S. 104 – Für die Vorstellung vom diktierenden Dichter argumentiert unter mehreren

Gesichtspunkten Richard Janko, The Iliad and its Editors: Dictation and Redaction, in: Classical Antiquity 9 (1990), S. 326–334; ders., [Review on] Homeri Odyssea. (Recognovit Helmut van Thiel), in: Gnomon 66 (1994), S. 289–295. Die Hypothese des „diktierenden Homer” wird neben Janko auch von zahlreichen anderen Forschern vertreten, so z. B. Martin L. West, Archaische Heldendichtung: Singen und Schreiben, in: Wolfgang Kullmann/Michael Reichel (Hg.), Der Übergang von der Mündlichkeit zur Literatur bei den Griechen, Tübingen 1990, S. 33–50; Barry B. Powell, Homer and the Origin of the Greek Alphabet, Cambridge 1991, S. 232–233; ders., Homer and Writing, in: Ian Morris/Barry Powell (Hg.), A New Companion to Homer, Leiden 1996, S. 3–32; aber sie wird freilich von anderen bestritten, so z. B. von Hans Schwabl, Was lehrt mündliche Epik für Homer?, in: Kullmann/Reichel, Der Übergang von der Mündlichkeit zur Literatur, S. 65–109; Michael Reichel, Retardationstechniken in der Ilias, in: Kullmann/Reichel, Der Übergang von der Mündlichkeit zur Literatur, S. 125–151; Odysseus Tsagarakis, Das Untypische bei Homer und literarische Komposition, in: Kullmann/Reichel, Der Übergang von der Mündlichkeit zur Literatur, S. 111–124. Zum kurzen Überblick über die Frage siehe auch Robert Fowler, The Homeric Question, in: Robert Fowler (Hg.), The Cambridge Companion to Homer, Cambridge 2004, S. 220–232, hier S. 225–226.

60 Marót, Az epopeia helye, S. 110. 61 Ebd., S. 103.

18

bereitwilliger Schreiber seine Verse aufgezeichnet hat – dennoch die Spuren des oralen

Dichtens und der oralen Vortragsweisen auf bestimmende Weise an sich trägt.

Welche Wirkung konnte das Diktieren auf Homers Schaffen haben, der in den Traditionen

der Mündlichkeit wurzelte und dichtete? Marót beantwortet diese Frage wie folgt:

Es ist nämlich ohne Zweifel, dass der diktierende Sänger nicht mehr vom Rhythmus der gezupften Laute begleitet wird und auch die Anregung entbehren muss, die ihm allein seine enge Verbundenheit mit dem Publikum zu geben vermag. Umgekehrt steht aber auch außer Zweifel, dass das Festhalten der gesprochenen Rede durchs Diktieren, wenn diese Idee aus irgendeinem Grund schon auftauchte, auch gewisse unwillkürliche Vorteile zeigte (nicht anders als im Falle des Photoapparats oder der Drucktechnik).62

Der Diktierende hatte mehr Möglichkeiten (mehr Zeit), die reichen Schätze der Tradition, die

er im eigenen Gedächtnis speicherte, die „Gänge”, die Formeln, die phraseologischen

Einheiten zu sammeln und auf eine geeignete Weise miteinander zu verbinden. „Dabei ist

aber natürlich, dass der Text, der sich auf solche Weise ergibt, sich wesentlich vom frei und

mündlich Vorgetragenen unterscheidet”,63 weil „eine solche nicht dem originalen Material

entsprechende Umstellung in ein fremdes Medium nie ohne Wirkung auf den Inhalt und die

Form selbst bleibt.”64 Die Entdeckung und dermaßen eindringliche Betonung der medialen

Fragen, der Art und Weise des Festhaltens und Vermittelns, d. h. der Medialität der Literatur

überhaupt am Anfang der 60er Jahre ist auf jeden Fall eine bemerkenswerte Leistung, auch im

internationalen Vergleich. Marót erkennt den wesentlichen Zug der Medien, die „Botschaft”

nicht einfach „unberührt” weiterzugeben, sondern auch auf deren Form und Inhalt

einzuwirken. Maróts diesbezügliche Gedanken entstehen gleichzeitig oder in manchen Fällen

früher als einige grundlegende Einsichten der Autoren der Medientheorien, die sich in den

60er Jahren entwickelnden und später weltweit eine große Wirkung ausübten, oder des

Paradigmas Mündlichkeit/Schriftlichkeit (McLuhan, Havelock, Goody und Watt oder der

weiter oben zitierte Ong).

Marót bringt die auch heute ergreifende ästhetische Wirkung und Beschaffenheit der Epen

in unmittelbaren Zusammenhang mit der Weise der Aufzeichnung. Seiner Auffassung nach

verhält sich das Archivierungssystem nicht rein äußerlich zu dem von ihm bewahrten

sprachlichen Gebilde, es drängt sich aber auch nicht vor dessen sinnvolle ästhetische

Erfahrung.

62 Ebd., S. 105. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 74–75.

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Die Unmittelbarkeit und Schmiegsamkeit der oralen Form vor großem Publikum und die sich ad hoc anbietenden Änderungen sollen hier bereits von einer Version kompensiert werden, die reich an Schichten, zurechtgefeilt und von „vollkommensten und prächtigsten“ Verzierungen voll ist; dies hat dann in beträchtlichem Maße dazu beigetragen, dass die uns vorliegende eigentümliche griechische Epopeia-Form des Epos in der heute bekannten Vollkommenheit sich erfüllt.65

Er macht aber auch darauf aufmerksam, dass man beim Lesen der Texte der Epen nicht außer

Acht lassen darf, dass „Homer noch nicht Bücher und nicht für Leser komponierte”,66 dass es

also „im Hinblick auf die traditionelle Praxis des Dichters und das Leben des Gedichteten

eine Übertreibung wäre, jene Berechnung in hohem Maße und jene künstlerische Bewusstheit

anzunehmen”, die für die in der Kultur der Schriftlichkeit entstehenden geschriebenen Werke

charakteristisch ist.67 Marót kehrt in seinem letzten Buch, das erst in seinem Todesjahr

erschienen ist, zu einer zentralen Frage seiner 1907 publizierten, als 22-Jähriger

geschriebenen Dissertation, der Frage nach den homerischen Gleichnissen zurück.68 In seiner

letzten Arbeit sieht er den bestimmenden Umstand der Entstehung der Gleichnisse, die

umfangreiche Digressionen bilden, bis ins Einzelne ausgearbeitet sind und das genussreiche

Lesen des Epos weitgehend mitbestimmen, bzw. auch den Anlass zu deren Einfügung in den

Text (damit auch deren ästhetische Rechtfertigung) in den künstlerischen Bestrebungen des

diktierenden Dichters, der von den Anforderungen der Oralität teilweise schon befreit worden

ist.69

Über die Verwendung der aufgezeichneten Texte behauptete Marót bereits in seinem

Homer-Buch, dass sie sich grundsätzlich von jenen späteren Formen der Schriftlichkeit

unterschied, die von Prinzipien wie Treue zur ursprünglichen oder als ursprünglich

angenommenen Gestalt der Texte, Anerkennung der einzigartigen Leistung des individuellen

Autors und Berücksichtigung seiner Absicht gekennzeichnet sind, wobei diese freilich je nach

Epochen und Formen der schriftlichen Überlieferung anders zur Geltung kommen.70 Der

frühe Vertrieb und Verwendung der Homer-Texte ist eigentlich immer noch von den

Charakteristika der Mündlichkeit geprägt. Davon zeugen vielerlei antike Berichte „über die

65 Ebd., S. 105. 66 Ebd., S. 114. 67 Ebd., S. 113. 68 Károly Marót, Fejezetek a Homeros-kérdéshez [Kapitel zur Homerfrage]. Budapest 1907. 69 Marót, Az epopeia helye, S. 107–108. 70 Über die Eigenarten der Schriftlichkeit der mittelalterlichen Handschriften und das Phänomen des Diktierens –

wobei beide zahlreiche Ähnlichkeiten zu den Eigentümlichkeiten der von Marót untersuchten Zeit aufweisen – siehe Theodor Thienemann, Irodalomtörténeti alapfogalmak [Literaturhistorische Grundbegriffe], Pécs1931 (Reprint: Pécs 1986), vor allem: 80–114.

20

unterschiedlichen Ausgaben, Rezensionen, die gleichsam natürliche Folgen davon waren,

dass die Texttradition zersungen worden war oder einen Hang dazu hatte”, ferner auch die

Tatsache, „dass die überlieferten Manuskripte in der Tat auffallende Abweichungen, d.h.

Verzweigungen aufweisen, die Varianten der Papyri – im Vergleich zur Vulgata – manchmal

phantastisch sind”.71 Aufgrund der vergleichenden Untersuchungen und des die antike

literarische Kultur auch lange nach dem 8. Jahrhundert v. Chr. bestimmenden oralen

Charakters, z. B. der Praxis des lauten Lesens,72 der festlichen und Symposion-Dichtung, der

Dramendichtung, der Reden, der recitatio usw. nimmt Marót an – und seine Annahme ist

allem Anschein nach begründet –, dass die Aufzeichnung an der oralen, auf dem Gedächtnis

beruhenden Praxis der Sänger nichts grundsätzlich änderte.73

Die neueren Forschungen scheinen Maróts Ansichten zu bestätigen. Michael Haslam weist

den radikal instabilen und offenen Charakter der homerischen Texte (die eigentümliche

„textuelle Dynamik” des materialen Bestands der Texte) bzw. den der oralen Tradition

ähnlichen Charakter des Vertriebs der Schriften bis ins 2. Jahrhundert v. Chr. nach.74

Ähnliche Ansichten formulierte in der ungarischen Forschung Zsigmond Ritoók, der auch die

Interessen und die Situation des Aufzeichnenden (und demgemäß auch des Empfängers) in

Betracht zog:

Die Mündlichkeit wirkt also auf die Gestaltung der Texte nicht nur, indem die mündlichen Varianten gelegentlich aufgeschrieben werden, sondern auch innerhalb der Schriftlichkeit, indem die einmal schriftlich festgehaltenen Texte – innerhalb von bestimmten Grenzen – der Situation entweder des Sprechenden oder aber des Schreibenden (Niederschreibenden) angepasst und dementsprechend eventuell umgeformt werden, nicht anders als unter den Verhältnissen der Mündlichkeit – und niemand nimmt daran Anstoß.75

Ritoók machte auch darauf aufmerksam, dass die Beurteilung der „Texte” der Epen (der

Seinsweise dieser Texte überhaupt) nicht eindeutig ist: wenn man nämlich die Maßstäbe des

von den Verhältnissen der Oralität bestimmten „Textes” als Grundlage betrachtet, so kann

man sagen, dass es „Homer-Text, Homer-Vulgata” bereits vor dem Wirken der Alexandriner

71 Marót, Homeros „a legrégibb és legjobb”, S. 74–75. 72 Marót beruft sich mehrmals auf die diesbezüglichen Forschungen von József Balogh (Marót, A görög

irodalom kezdetei, S. 36; ders., Az epopeia helye, S. 27. 73 Ebd., 75, 110–111. 74 Michael Haslam, Homeric Papyri and Transmission of the Text, in: Morris/Powell, A New Companion to

Homer, S. 55–100, hier S. 55–56, 69; ähnlich auch West, Archaische Heldendichtung, S. 48–50. 75 Zsigmond Ritoók, A szóbeliségtől a szövegtörténetig [Von der Mündlichkeit zur Textgeschichte], in: Antik

Tanulmányok 29 (1982), S. 9–20, hier S. 13.

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gab.76 Die möglichen Antworten auf diese Frage sind also nicht ein für allemal gültig: sie

hängen davon ab, was man unter „Text” versteht.

Die schriftliche Archivierung (oder wie sie Marót nennt: „Konservierung”) veränderte also

nicht mit einem Schlag die Verwendungsweise homerischer Dichtungen; dazu brauchte es

Jahrhunderte. Die Homer-Kommentare des Aristoteles aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., mit

denen er an die Tradition der im 6. Jahrhundert v. Chr. beginnenden Homer-Exegese

anknüpft, machen deutlich, dass die Rezeption der Epen durch Lesen damals schon in den

Vordergrund gerückt sein muss und es deshalb nötig wurde, „unvernünftige Stellen”,

„Unmöglichkeiten”, „Widersprüche”, fremd anmutende sprachliche Formen, Metaphern usw.

aufgrund einer umfassenden ästhetischen Theorie zu erläutern.77 Diese ästhetische Theorie

interpretiert den mimetischen Charakter der Kunstwerke insofern bereits vom Phänomen der

Fiktion her, als sie „die Aufgabe eines Dichters” nicht darin sieht, „die geschichtliche

Wirklichkeit ‹einfach› wiederzugeben, (…), sondern etwas so ‹darzustellen›, wie es gemӓß

‹innerer› Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit geschehen würde”.78 Diese Wende aber, die

in der „Entdeckung” der Fiktion (genauer: des „fiktiven Charakters” der Kunstwerke) liegt,

verbindet sich eng mit der Verbreitung der Schriftlichkeit und des Schriftgebrauchs in breiten

Schichten der Gesellschaft oder auf eine noch entscheidendere Weise: mit der immer

wichtigeren Rolle der Praxis des einsamen Lesens in der Rezeption der Literatur.79 Der

Gegenstand dieser Lesepraxis war aber am häufigsten, vom Schulunterricht an bis zur

Tätigkeit der Kommentatoren, Homers Dichtung.80

Marót hielt die Frage nach den Eigentümlichkeiten der Mündlichkeit und Schriftlichkeit

für einen wesentlichen Aspekt in der Erforschung der homerischen Epen und betrachtete es

als seine Aufgabe, die verwickelten Wesenszüge des Verhältnisses von Mündlichkeit und

Schriftlichkeit im antiken Griechentum zu skizzieren. Diese Bestrebungen Maróts knüpften an

eine von Milman Parry und Albert Lord initiierte mediologisch-

kommunikationstechnologische Forschungsrichtung an, die in der Homer-Forschung bis heute

in bestimmender Weise präsent ist: dafür können aus den letzten zwei Jahrzehnten unter

76 Zsigmond Ritoók, Szóbeliség és írásbeliség. Az átmenet néhány görög tanulsága [Mündlichkeit und

Schriftlichkeit. Einige griechische Lehren aus dem Übergang], in: Katalin Neumer (Hg.), Kép, beszéd, írás, Budapest 2003, 23–32, hier S. 28–30.

77 Siehe dazu Aristoteles, Poetik. Übersetzt und erlӓutert von Arbogast Schmitt, Berlin 2008, Kapitel 24–26, und seine Homerischen Fragen.

78 Aristoteles, Poetik 9, 1451a 36–38. 79 Wolfgang Rösler, Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike, in: Poetica 12 (1980), S. 283–319, ders.,

Schriftkultur und Fiktionalität, S. 116–120. 80 Egert Pöhlmann, Zur Überlieferung griechischer Literatur vom 8. bis zum 4. Jh., in: Kullmann/Reichel, Der

Übergang von der Mündlichkeit, S. 11–30, hier S. 11–17.

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anderem Arbeiten von Pietro Pucci, John Miles Foley, Barry B. Powell als Beispiel erwähnt

werden. Das Thema wurde natürlich auch in der breiteren mediengeschichtlichen und -

theoretischen Forschung immer mehr beachtet. So muss man in diesem Zusammenhang vor

allem auf Eric A. Havelocks Werke hinweisen81 oder auf das Kapitel Singen und Schreiben in

Musik und Mathematik I/1 von Friedrich Kittler, der sich als Medienwissenschaftler in seinen

letzten Jahren der Antike zugewendet hat; in der Interpretation der Gestalt und Rolle der

Sirenen beruft sich Kittler auf Marót.82 Marót hat auch die mediologische Wende der

Literaturwissenschaften an vielen anderen Punkten vorweggenommen.

Die vorliegenden skizzenhaften Darstellungen konnten hoffentlich plausibel machen, dass

die Werke von Gyula Hornyánszky, József Balogh und Károly Marót aus dem letzten

Jahrhundert unumgängliche Beiträge der damaligen ungarischen Wissenschaft zu den Fragen

der Kommunikation und Medialität sind. Ihre Arbeiten stellen zugleich wichtige Leistungen

der ungarischen Altertumswissenschaft dar, auf die sich auch gegenwärtige Forschungen

stützen können. Denn die Untersuchungen über die medialen Besonderheiten der antiken

Literatur und die politische Kommunikation in der Antike können sowohl für

Altertumswissenschaftler als auch in breiteren Kreisen in vieler Hinsicht auch zukünftig

aufschlussreich sein.

81 Attila Simon, Szóbeliség és írásbeliség az archaikus és klasszikus kori görögség világában. Eric A. Havelock

elmélete – néhány lehetséges kultúratudományi összefüggés [Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der archaischen und klassischen Welt der Griechen. Die Theorie von Eric A. Havelock – einige mögliche kulturwissenschaftliche Zusammenhänge], in: Simon, Dionysos színrevitele, S. 201–223.

82 Friedrich Kittler, Musik und Mathematik I. Hellas 1. Aphrodite, München 2006. S. 90–125.