Das Formproblem der Moderne bei Georg Lukács und Carl Schmitt

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MetamorPhosen des Politischen Grundfragen politischer Einheitsbildung sCit den 2üer Jahren Herausgegeben von Andreas Gäbel, Dirk van Laak und Ingeborg Villinger Akademie Verlag Wolfgang Eßbach Das Formproblem der Moderne bei Georg Lukacs und earl Schmitt Les Vies para/teles - dieser Titel, den Michel Foucault, antikem Vorbild folgend, 1978 für eine Buchreihe gewählt hat, mag eine erste Intention dieses Beitrags signalisieren, wenn man nicht gleich daran denkt, daß sich die Parallelen im Unendlichen treffen - was ohnehin zu lange dauern würde -, sondern, Foucault folgend, sich vorstellt, daß sie unendlich dazu verdammt sind, Abstand zu halten.' Ich werde diese Intention ein Stück weit ausführeo, und sie abbrechen (1). Zu fragen ist dann, wie mit der Aktualität und Historizität der Bindung ihres Denkens und Handeins an Bolschewismus und Natio- nalsozialismus heute umgegangen werden könnte (11). Auf dem Wege einer parallelen Lektüre möchte ich ihre antipodischen Auffassungen von der Einheit der Modeme entschlüsseln (III) und ihrem tödlichen "Entweder-oder" den Zivilisationsschub einer postmodernen Denkungsart geben (IV).' I. Lukacs und Schmitt - "des vies paralleles"? Die Geburtsdaten liegen nur drei Jahre und drei Monate auseinander. Sie gehören der selben Alterskohorte an. Die Herkünfte der Familien freilich sind an verschiedenen Peripherien aufzufinden. Einmal das kleinbür- gerliche Elternhaus aus dem westfalisehen Plettenberg, das andere Mal ein Elternhaus, das zur Geldaristokratie der österreich-ungarischen Monarchie in Budapest gehörte. Streng katholisch die eine Familie, assimiliertes Judentum die andere, 1890 magyarisiert und 1899 der Vater geadelt. Was könnte die Divergenz der seelischen Verwerfungen und Konflikte, die sich einmal aus der Lage eines kirchentreuen, kleinstädtischen Dia- spora-Katholizismus in Plettenberg ergeben, das andere Mal der großstädtischen Situa- tion entspringen, in der ein evangelisch getaufter und beschulterSproß eines kunstbeflis- 1 Vgl. Didier Eribon: Michel Foueault (1926-1984), Paris 1989, S. 293. 2 Lukacs und Schmitt sind bislang selten zusammen in den Blick genommen. Hervorzuheben ist Manfred Lauennann: nGeorg Lukacs und earl Schmitt - eine Diskursüberschneidung", in: Diskursüberschnei- dungen - Georg LukO.cs und andere: Akten des internationalen Georg-Luk4cs-Symposium "Perspektiven der Forschung n Essen 1989, hg. von Werner Jung, Bem u.a. 1993, S.71-86. Gary Ulmen benutzt Lukacs' These von der Verdinglichung, um Schmitts Platz in der Kritik der politischen Ökonomie zu bestimmen (Gary L. Ulmen: Politischer Mehrwert. Eine Studie über Max Weber und Carl Schmitt, Weinheim 1991).

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MetamorPhosendes PolitischenGrundfragen politischer EinheitsbildungsCit den 2üer Jahren

Herausgegeben vonAndreas Gäbel, Dirk van Laakund Ingeborg Villinger

Akademie Verlag

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Wolfgang Eßbach

Das Formproblem der Moderne beiGeorg Lukacs und earl Schmitt

Les Vies para/teles - dieser Titel, den Michel Foucault, antikem Vorbild folgend, 1978für eine Buchreihe gewählt hat, mag eine erste Intention dieses Beitrags signalisieren,wenn man nicht gleich daran denkt, daß sich die Parallelen im Unendlichen treffen ­was ohnehin zu lange dauern würde -, sondern, Foucault folgend, sich vorstellt, daß sieunendlich dazu verdammt sind, Abstand zu halten.' Ich werde diese Intention ein Stückweit ausführeo, und sie abbrechen (1). Zu fragen ist dann, wie mit der Aktualität undHistorizität der Bindung ihres Denkens und Handeins an Bolschewismus und Natio­nalsozialismus heute umgegangen werden könnte (11). Auf dem Wege einer parallelenLektüre möchte ich ihre antipodischen Auffassungen von der Einheit der Modemeentschlüsseln (III) und ihrem tödlichen "Entweder-oder" den Zivilisationsschub einerpostmodernen Denkungsart geben (IV).'

I.Lukacs und Schmitt - "des vies paralleles"? Die Geburtsdaten liegen nur drei Jahre unddrei Monate auseinander. Sie gehören der selben Alterskohorte an. Die Herkünfte derFamilien freilich sind an verschiedenen Peripherien aufzufinden. Einmal das kleinbür­gerliche Elternhaus aus dem westfalisehen Plettenberg, das andere Mal ein Elternhaus,das zur Geldaristokratie der österreich-ungarischen Monarchie in Budapest gehörte.Streng katholisch die eine Familie, assimiliertes Judentum die andere, 1890 magyarisiertund 1899 der Vater geadelt. Was könnte die Divergenz der seelischen Verwerfungenund Konflikte, die sich einmal aus der Lage eines kirchentreuen, kleinstädtischen Dia­spora-Katholizismus in Plettenberg ergeben, das andere Mal der großstädtischen Situa­tion entspringen, in der ein evangelisch getaufter und beschulterSproß eines kunstbeflis-

1 Vgl. Didier Eribon: Michel Foueault (1926-1984), Paris 1989, S. 293.

2 Lukacs und Schmitt sind bislang selten zusammen in den Blick genommen. Hervorzuheben ist ManfredLauennann: nGeorg Lukacs und earl Schmitt - eine Diskursüberschneidung", in: Diskursüberschnei­dungen - Georg LukO.cs und andere: Akten des internationalen Georg-Luk4cs-Symposium "Perspektivender Forschung n Essen 1989, hg. von Werner Jung, Bem u.a. 1993, S.71-86. Gary Ulmen benutztLukacs' These von der Verdinglichung, um Schmitts Platz in der Kritik der politischen Ökonomie zubestimmen (Gary L. Ulmen: Politischer Mehrwert. Eine Studie über Max Weber und Carl Schmitt,Weinheim 1991).

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senen Mäzens aufwächst - was kÖnnte die psychologischen Divergenzen besser beleuch­ten, als ein Vergleich der ersten igroßen Liebe zu Frauen?

Georg Lukacs lernt die Male~in Inna Seidler 1907 kennen; es gibt eine Korrespon­denz, im Mai 1908 leben sie in Florenz, begleitet vom Kunstphilosophen Leo Popper.Lukacs schwärmt von Irma, verzehrt sich vor Liebe, aber er versagt sich die Erfüllungaus Angst, die Selbständigkeit zu verlieren, d.h. genauer gesagt, sich in seiner imagi­nierten Schöpferkraft eingeschränkt zu sehen. Diese dramatische Entsagung wird vonLukacs zugleich literarisch überhpht und mit dem Verhältnis zwischen Kierkegaard undRegine Olson gedeutet. Irma Seidler bricht mit Lukacs. 1911 hat sie sich das Lebengcnommen. 3

Carl Schmitts große Liebe zu Pawla Dorotic entflammt wohl zu Beginn des Kriegesund wird vielleicht stimuliert im' Milieu von Expressionismus und Boheme. Nach derHeirat 1915 publiziert er stolz unter dem Doppelnamen Schmitt-Dorotic. Dann verließsie ihn, nicht ohne einen Teil der Bücher und Möbel mitzunehmen'

Liest man religiöse Orientierungen und erotische Erfabrungen - Sexualität und Wahr­heit würde Foucault sagen - zusammen, so ergäbe sich Stoff für zwei Novellen exem­plarischen Charakters. Einmal versagt sich ein 22jähriger, gerade dem protestantischenGymnasium entsprungener, evangelisch getaufter Sproß einer jüdischen Familie - mitKierkegaardS im Herzen - rigoros die Erfüllung seiner Liebe und muß erleben, daß dieGeliebte sich das Leben nimmt. ,Das andere Mal wirft sich ein 27jähriger Diaspora­Katholik, der Stirner' nicht vergessen kann, die heimische Enge sprengend in das Aben­teuer der Liebe und muß erleben, daß die Vergötterte ihn arglistig getäuscht hat undsitzen läßt. Die Erfahrungen solch verschieden unglücklicher Ausgänge der ersten Liebe

3 Vg1. lstV<in Hermann: Georg LuMcs. Sein Leben und Wirken, Wien/KölnlGraz 1986. S. 30-44; ErnstKeller: Der junge Lukdcs, Antibürger und wesentliches Leben. Literatur und Kulturkritik 1902-1915,Frankfurt a.M. 1984, S. 80 f. Gru~legend ist Agnes Heller: ~Das Zerschellen des Lebens an derForm: György LuJcl.cs und Irma Seidler", in: dies. u.a.: Die Seele und das Leben. Studien zumJrfihenLuMcs, Frankfurt a.M. 1977, S. 54198.

4 Vgl. Joseph W. Bendersky: Garl Schmitt: Theorist Jor the Reich, Princeton (N.J.) 1983, S. 16 u.S. 144; Paul Noack: Carl Schmitt. Eine Biographie, Berlin 1993, S. 4246; Ellen Kennedy: "CarlSchmitt und Hugo Ball. Ein Beitrag ium Thema 'politischer Expressionismus'", Zeitschriftfür Politik,35. Jg. (1988), S. 151.

5 Lukacs hat Kierkegaard auf Anregung von Rudolf Kassner im Alter von 22 Jahren gelesen und zeit~

lebens die moralische Konsequenz bewundert, mit der Kierkegaard seine Überzeugungen aus demZusammenbruch äußerer Sicherheiten zu retten vermochte.

,

6 Schmitt hat Stirner in der Unterprima. gelesen und die Bindung verliert sich bis ins hohe Alter nicht:vgl. die Selbstaussagen Carl SchmittS in Piet Tommissen (Hg.): Schmittiana I, Brüssel 1988, S. 21sowie Hansjörg Viesel: Jawohl, der Schmitt. Zehn Briefe aus Plettenberg, Berlin 1988, S. 11 u.S. 44 f. Die Frage, wie sehr Stirner,Geburtshelfer und böse Fee an der Wiege des Marxismus war,habe ich behandelt in: Gegenzüge. Der Materialismus des Selbst und seine Ausgrenzung aus demMarxismus - eine Studie über die Kontroverse zwischen Max Stirner und Karl Marx, erw. Neuausgabe,Frankfurta.M. 1982. Meine damaligen Thesen sind in ihrem Kern inzwischen durch die Marx-Philolo­gie bestätigt. Dazu lnge Taubert: "Wie entstand die 'deutsche Ideologie' von Kar! Marx und FriedrichEngels? Neue Einsichten, Probleme und Streitpunkte", in: Studien zu Marx' erstem Paris-Aufenthaltund zur Entstehung der "Deutschen Ideologie", Schriften aus dem Karl-Marx-Haus, Nr. 43, Trier1990. S. 9-87.

lassen sich in zwei Wortbildern kondensieren, die immense Komplexe bergen: BeiLukacs die Verzweiflung und bei Schmitt das Betrogensein. DieAusgänge der Erfahrun­gen großer Lieben sind prägend für die sozialen Emotionen, und bei Intellektuellengreifen sie auch in die Strukturen der Argumente und leiten das, was ich theoretischeEmotion nenne. Wie der Verzweiflung entgehen? - Dies ist bei Lukacs eine ebensowiederkehrende Dringlichkeit wie bei Schmitt die Sorge darüber, betrogen worden zusein.

Verzweiflung und Betrogensein sind aber auch Figurationen, die in die Religions­geschichte verweisen. Einen betrügerischen Gott kennt die Gnosis, und die Lehre vomPriesterbetrug war der Rammbock der Aufklärung. Die Verzweiflung des einzelnen beiKierkegaard ruht auf der ganzen protestantischen Kultur des Zweifels, ob der Menschinsgesamt von Gott angenommen wird oder nicht, ob er jene Standfestigkeit im Glaubenerreicht, von der das Buch Hiob erzählt.

Verzweiflung und Betrogensein sind nicht zuletzt auch Elemente in Reaktionen Drit­ter, vor allem gerade in den heftigen und überzogenen Reaktionen. Zwei Beispiele: Indie Richtung des Vorwurfs des Betruges und der Undankbarkeit geht z.B. WaldemarGurians Attacke: "Etwas eigenartig nimmt es sich aus, wenn ausgerechnet earl Schmittfür die Ausscheidung aller nichtarischen Elemente als Träger des Rechtslebens sicheinsetzt. Verdankt nicht Carl Schmitt Nicht-Ariern - Moritz Julius Bonn und ErichKaufmann [...] - entscheidende Berufungen?'" Und in die Richtung der Wahrnehmungeiner verzweifelten Situation gehen Fonnulierungen, die Theodor W. Adorno in "Er­preßte Versöhnung" gefunden hat: "Bei all dem bleibt das Gefühl von einem, der hoff­nungslos an seinen Ketten zerrt und sich einbildet, ihr Klirren sei der Marsch des Welt­geistes. "8 Wenn man durch die Polemik hindurchschaut, markieren die Reaktioneneinerseits verletzte Reziprozität und andererseits wahnhafte Verzweiflung.

Lukacs und Schmitt - des vies paralleles, so könnte man fortfahren, bis die Frageihrer Verbindung unaufschiebbar wird. Aus dem ganzen Feld der Verbindungen überDritte hat zunächst die Frage Aufmerksamkeit erregt, ob und wie Lukacs und Schmittals Anschlüsse an Max Weber gelesen werden können.' Weit weniger-sind Lukacs undSchmitt als Vennittler jenes Georges Sorel ins Blickfeld geraten, der Mussolini und

7 Waldemar Gurian zit. nach !ngeborg Villinger: Verortung des Politischen. Carl Schmitt in Plettenberg.Hagen 1990. S. 28.

8 Theodor W. Adorno: "Erpreßte Versöhnung. Zu Georg LuJcl.cs 'Wider den mißverstandenen Realis­mus''', in: Lehrstück Lu/dies, hg. von Jutta Matzner, Frankfurt a.M. 1974, S. 204.

9 Zu Weber und Schmitt vgl. Gary L. Ulmen: Politischer Mehrwert (FN 2). Daß der Weg von MaxWeber zu Carl Schmitt nicht so glatt läuft, wie gemeinhin angenommen, macht Matthias Eberl inseiner Studie Legitimität der Moderne. Kulturkritik und Herrschaftskonzeption bei Max Weber und CarlSchmitt, Marburg 1994 deutlich. Für die Analyse der Blockaden der europäischen Modernität grundle­gend ist das Kapitel "Leviathan und Hamlet" aus Hermann Schwengel: Der kleine Leviathan, Frankfurta.M. 1988, S. 55 ff. Lesenswert ist immer noch Karl Löwith: "Max Weber und Carl Schmitt",Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. Juni 1964. Zu Max Weber und Georg Lukacs vgl. KurtBeiersdörfer: Max Weber und Georg Lukacs über die Beziehung von verstehender Soziologie undwestlichem Marxismus, Frankfurt a.M. 1986 sowie die immer noch erhellenden AusfUhrungen vonMaurice Merleau-Ponty in Die Abenteuer der Dialektik. Frankfurt a.M.1968.

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Lenin zugleich feiern konnte. 10 Genauso wichtig wäre es, jenem Dritten nachzugehen.an den sich Schmitt im Winter 1945/46 kontaktsuchend erinnen, und der seine Karrierezusammen mit Lukäes im vorrevolutionären Sonntagskreis in Budapest begann: KarlMannheim." Schmitt und Mannheim waren 1928 zu Ratsmitgliedern der "DeutschenGesellschaft für Soziologie" gewählt worden." Die Verbindungslinien zu Mannheimwären auch deshalb interessant, }'Ieil Mannheim den Grundriß für eine Soziologie derIntelligenz gezeichnet hat, in die sich die wechselnden Selbsll1efinitionen von Lukäes undSchmitt recht gut einschreiben ließen.

Aber wie stand es mit der dire~ten Verbindung? Wahrscheinlich sind sie sich nie vonAngesicht zu Angesicht begegnet; Obwohl nicht viel dazu gefehlt hat. Denn als im Juni1914 der gut vorbereitete Plan zUr Gründung des Intellektuellenbundes "Fone-Kreis"Gestalt gewann, da waren einer~eits Schmitt und Theodor Däubler, der seit 1913 zurKerntruppe dieses Bundes gehöne, schon recht gut miteinander venraut, andererseitsfinden wir in der Liste zur vorgeschlagenen Erweiterung des Bundes auch Lukacs'Namen." Es wäre durchaus plausibel anzunehmen, daß Däubler im Zuge der sicherweiternden Kooptation auch Schmitt für den Kreis vorgeschlagen hätte, wenn nicht derKrieg, diese Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, alles vereitelt hätte.

Wann beide zuerst voneinander Kenntnis genommen haben, wissen wir nicht. 1928jedenfalls kann Kun Rosenfeld14 ~n Schmitt in der Angelegenheit des in Wien bedräng­ten Lukäcs schreiben: "Sie kennen Georg Lukaes und sind daher am ehesten in derLage, über seine Persönlichkeit und über die Bedeutung seiner Arbeiten ein Bild zugeben, das gerade in den Kreisen Ides Zentrums die Bemühungen erleichtern würde, dieRücknahme der Ausweisungsvertugung zu erreichen."15 Lukäcs, der nach dem Tod

10 Siehe die Angaben bei Manfred Lauermann: Georg Luk.acs (FN 2), S. 79.

11 Carl Schmitt: Ex Captivitate Salus,,;Köln 1950, S. 13 ff.~ zu Mannheim und Lukacs immer nochbrauchbar David Kettler: Marxismus und Kultur. Mannheim und Lukacs in den ungarischen Revolutio­nen 1918/19, NeuwiedlBerlin 1967 Sowie Eva Kanidi u. Vezer Erzsebet (Hg.): Georg Lukil.cs. KarlMannheim und der Sonntagskreis, Frankfurt a.M. 1985.

12 Paul Noack: Cart Schmitt (FN 4). S; 87.

13 Zu diesem eigenartigen Versuch eine~Affektgemeinschaft von Intellektuellen hat Christine Holste einevorbildliche Studie vorgelegt: Chris~ine Holste: Der Forte~Kreis (19/0-19/5). Rekonstruktion einesutopischen Versuchs, Stuttgart 1992, parin zu Lukacs S. 291 f. An der Haltung zum deutschen Milita~

rismus zerbricht der Intellektuellenbui:ld zur Einigung der Menschheitsvölker, in dem man sich Schmittund Lukacs nach ihren Kontakten und geistigen Positionsnahmen in der Vorkriegszeit sehr gut hättevorstellen können.

14 Kurt Rosenfeld (1876-1943) war ein bedeutender politischer Strafverteidiger, der zusammen mit PaulLevi (1883~1930) U.a. Rosa Luxemburg vor Gericht verteidigte. 1917 gehörte er zu den Mitgrundernder USPD. Vom November 1918 bis ~anuar 1919 war Rosenfeld preußischer lustizminister. Er gehörtedem Reichstag von 1920 bis 1932 an. Rosenfeld ist, wie Paul Levi, der zahlenmäßig sehr kleinenGruppe von Politikern der Linken zwischen KPD und SPD zuzurechnen, die über' mehr als Partei~

disziplin verfügten. Die Kommunisten taten ihnen Unrecht, sie Abtrünnige, die Sozialdemokraten, sieBekehrte zu nennen. Zu Rosenfeld siehe Hanno Drechsler: Die sozialistische Arbeiterpartei Deutsch~lands (SAPD), Meisenheim a. Glan 1965.

15 Kurt Rosenfeld an earl Schmitt, Briefvom 03.12.1928. Rosenfelds 1905 geborene Tochter Hilde warmit Otto Kirchheimer, einem Bonner Doktorand Carl Schmitts, verheiratet. Rosenfeld bezieht sich in

Jenö Landlers 1928 in der sozialistischen Arbeiterpartei Ungarns den Auftrag erhielt,die Programmatik der Partei zu refonnulieren, sollte aus Wien ausgewiesen und anUngarn ausgeliefert werden. Franz Ferdinand Baumgarten, Richard Beer-Hofmann,Richard Dehmel, Paul Ernst, Bruno Frank, Maximilian Harden, Alfred Kerr, HeinrichMann, Thomas Mann und andere setzten sich für Lukäcs ein." Der um Hilfe gebeteneearl Schmitt intervenierte nicht. 17

Wir wissen nicht, ob Schmitt die kurz zuvor (1928) erschienene Rezension der zwei­ten Auflage der Politischen Ronwntik durch Lukäcs bereits geleseu hatte, als er sich derBitte Rosenfelds versagte. Lukäcs' Rezension jedenfalls ist voll des Lobes ob der richti­gen Diagnose der Romantik. Lukäcs teilt auch die Kritik an der Romantik, kein Wonder Verteidigung Tallt. Was er anmahnt, sind die positiven Schlüsse, die zu ziehenwären, die realgeschichtliche Erklärung der Phänomene, und scWieBlich kann er nichtSchmitts Verzicht, die Zuordnung nbürgerlich" weiter zu differenzieren, mitmachen. 1S

Gab es einen Zusammenhang zwischen dieser Rezension und der Anfrage Rosenfelds?Lukäcs' Ausweisung wurde dank der Proteste verhindert, aber sein Einfluß in derungarischen Arbeiterpartei ist in der Folgezeit immer geringecgeworden. 1930 wird ermit einem Jahresstipendium ans Marx-Engels-Institut nach Moskau abgeschoben.!'

1931 feiern die deutschen Intellektuellen Hegels 100. Todestag, und dabei geht esimplizit nicht zuletzt um "das Schicksal des deutschen Geistes". Lukäcs trifft 1931 inBerlin ein, und zwar - was bemerkt werden sollte - nicht als ungarischer, sondern alsdeutscher Kommunist. Lukäcs arbeitet intensiv an einem Aufsatz mit dem Titel DerThermidor: der junge und der alte Hegel. 20 Der Aufsatz ist verschollen, aber der Titelverweist auf die Fragestellung von "Der junge Hegei" , das große Werk, das Lukäcs1938 in Moskau abschließt. Wir wissen nicht, ob Lukäcs, der sich 1931-1933 in Berlinin die deutsche Hegel-Diskussion stürzt,'! den Rundfunkvortrag gehört hat, den Schmitt1931 zum Thema "Hege! und Marx" gehalten hat, und der leider nur teilweise über-

diesem Briefauf eine Empfehlung seiner Kinder. Nachdem alle Bemühungen sozialdemokratischer unddemokratischer Politiker vergeblich gewesen seien, bliebe nur noch der Weg offen. durch deutscheZentrumspolitiker einen Einfluß in Wien auszuüben, um Lukacs' Ausweisung zu verhindern. - DasDokument wurde mir dankenswerterweise von Piet Tommissen zur Verfügung gestellt.

16 Istvan Hennann: Georg Lukdcs (FN 3), S. 119.

17 So Carl Schmitt mündlich gegenüber Piet Tommissen auf eine entsprechende Frage (briefliche Mit~

teilung an den Verfasser).

18 Georg Lulci.cs: wRezension von Carl Schmitt: Politische Romantik. 2. Aufl. München/Leipzig 1925~.

Archivfür die Geschichte des Sozialismus der Arbeiterbewegung. Bd. XIII (1928), S. 307-308 (aufge­nommen in: Georg Lukacs: Werke. Frühschrijten IJ, Bd. 2. Neuwied/Berlin 1968, S. 695 C).

19 Vgl. I'tvan Hermann: Georg Luk&:s (FN 3). S. 118.

20 Vgl. L:iszlo Sziklai: Georg Lukacs und seine Zeit. /930-/945, Berlin 1990, S. 91. Der Aufsatz solltein einem 400 Seiten umfassenden Sammelband Hegel und sein Erbe. Beiträge zur marxistischen Kritikder Hegelschen Philosophie erscheinen.

21 Vgl. die Angaben bei Sziklai, ebd. S. 90 ff. sowie bei Rafael de la Vega: ldeologie als Utopie. Derhegelianische Radikalismus der Marxistischen wLinken", Marburg 1977.S. 84 f.

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liefert ist.22 Aus dem verbliebenen Resttext geht hervor, daß Schmitt das Verhältniszwischen Hegel und Marx ganz nah bei der Lukacsschen Position der 20er Jahre ent­wickelt.

Wichtig - so Schmitt - sei nicht, wer gegenüber dem anderen origineller oder selb­ständiger sei. Von Bedeutung sei zunächst die "dialektische Methode" und dann ihreAnwendung "auf die konkrete, gegenwärtige politische Wirklichkeit". Die Methodebeinhalte, "daß besonders nachdrücklich betonte Gegensätzlichkeiten, z.B. (historischer)Materialismus gegen Idealismus,jÖkonomie gegen Ideologie oder scharfe polemischeNegationen nur eine besonders in~ensive Art des dialektischen Zusammenhanges bewei­sen können". Was die Anwendung betrifft, die "konkrete Dialektik", so sieht Schmittdas Kernproblem in der je tief aktuellen Bestimmung der Seiten des Gegensatzes.

Hegel und Marx seien auch nicht darin festzulegen, daß der junge Marx den altenHegel als Verteidiger des status quo attackierte. Vielmehr lenkt Schmitt die Aufmerk­samkeit der Hörer auf den jungen Hegel, der "eine politisch-polemische Definition desBourgeois" gegeben habe, die wi~htiger sei, als alle Auseinandersetzungen um den altenHegeI." Schmitt stellt insgesamt jim überlieferten Resttext einen revolutionären Hegelvor, einen linken Hegel. "Der WOhrheits- und Wissenschaftsbegriff des marxistischen,wissenschaftlichen Sozialismus kann nur von einer solchen dialektischen Geschichts­philosophie verstanden werden. Georg Lukacs hat das mit großer Kraft bewiesen. ,,"

Die anläßlich des Hegeljubiläums aufgeworfene Frage der Aktualität Hegels ist nichtschnell zu beantworten. In der ZV\'eiten Auflage von Der Begriffdes Politischen (1932)werden die Linien weitergeführtf Von Hegel stamme die erste politisch-polemischeDefinition des Bourgeois als eineslunpolitischen Privatmenschen, aber auch eine furcht­lose Definition des Feindes. Daran schließt sich die berühmte Reflexion der Frage an,"wie lange der Geist Regels wirklich in Berlin residiert hat". Regel sei über Marx zuLenin nach Moskau gewandert, und bei Lukacs sei "diese Aktualität Hegels arn stärkstenlebendig". Seit "1840" - damit ist die Thronbesteigung jenes preußischen Monarchengemeint. der zu feige war. erster gewählter Erbkaiser des Deutschen Reichs zu werden- habe es die preußische Elite vorgezogen. sich von Julius von Stahl eine "konservative"Staatsphilosophie liefern zu lasse!)."

Zuerst Herbert Marcuse und dann Karl Löwith haben die Korrektur der Reflexionüber Hegels Verbleib angezeigt, die Schmitt 1933 in der dritten Auflage vornahm, und

22 Der Rundfunktext ist in Piet Tommissen (Hg.): Schmittiana IV, Berlin 1994, S. 49-52 abgedruckt. DenHinweis auf Lukacs verdanke ich Piet Tommissen.

23 Dies ist eine wichtige Verschiebung -zur Position der "Parlamentarismusschrift". Hier war es nochMarx, dem die Leistung zugesprochen wurde, den Bourgeois zu einer welthistorischen Figur erhobenzu haben (earl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen ParlamentarismuS, 3. Auf!., Berlin1961, S. 73 f.).

24 Wenn es heißt "Weder die Gracchen, Inoch Michael Kohlhaas noch T1wmas Münzer sind Sozialisten".so ist dies eine Fixierung auf die Lukacssche Position.

25 earl Schmitt: Der Begriffdes Politischen, 2. Aufl., München 1932, S. 50.

die zusammen mit dem Diktum Schmitts, daß "Hegel gestorben sei" (1933), von linkerSeite wiederholt aufgegriffen wurde."

In Lukacs' Moskauer Jahren entstehen zwei Werke mit unterschiedlichen Bezügen zuSchmitt. Was die politisch-polemische Definition des Bourgeois angeht, so ist Lukacsin seinem 1938 beendeten Jungen Hegel der Sache nachgegangen. Ihre tieferen Schich­ten fanden sich in Hegels Berner Zeit, in der dieser den Untergang der antiken Republi­ken mit ihrem öffentlich- militanten Bürgergeist auf das Christentum zurückfUhrte, dasjenem lächerlichen Privatmenschen vorgearbeitet habe, der die Gegenwart beherrsche- so in den wiederkehrenden Vergleichen zwischen Jesus und Sokrates. Der junge Hegelakzentuiere,

"daß Jesus seine Schüler aus dem Leben, aus der Gesellschaft herausnimmt, sie von ihr isoliert. siein Menschen ummodelt, deren Hauptzug gerade dieses Schülertum ist, während bei Sokrates dieSchüler sozial bleiben, was sie sind, wobei auch ihre Individualität nicht künstlich umgeformt wird.Die Schüler Sokrates' kehren also bereichert ins öffentliche Leben zurück, 'jeder seiner Schüler warMeister für sich; viele stifteten eigene Schulen, mehrere waren große Generale, Staatsmänner, Heldenaller Art'. während bei Jesus eine engstirnige. geschlossene Sekte entstanden ist: 'er wäre unter denGriechen ein Gegenstand des Lachens geworden'. "ri

Bemerkenswert ist der Umgang mit Schmitt, den Lukacs in dem anderen großen Werk­komplex praktiziert. der 1954 mit Die Zerstörung der Vernunft abgeschlossen wird."

26 Vgl. die differenzierten Angaben bei Manfred Lauermann: Georg Luk6cs (FN 2), S. 81 f. Die Korrek­turen von 1933, die Schmitt in seiner Editionspraxis nach 1945 zurücknimmt (1963 legt Schmitt diezweite Auflage von 1932 neu vor) scheinen denn doch mehr gewesen zu sein als nur opportunistischeAnpassung an die Nazis, wenn die fruchtbare These von Heerich und Lauermann zutrifft: "Schmittunterlegt seiner Interpretation der Machtergreifung 1933 ein spinozistisches Gedankenkonzept. "(Thomas Heerich u. Manfred Lauermann: "Der Gegensatz Hobbes - Spinoza bei earl Schmitt [1938J",Studiana Spinozana, Vol. 7 [1991), S. 97-160, hier S. 107) Zu Hegel und Schmitt vgl. ReinhardMehring: Pathetisches Denken. Garl ScIrmitts Denkweg am LeItfaden flegels: Katlwlische Grwulslel1ungund antimarxistische Hegelstrategie. Berlin 1989; Jean-Franc;ois Kervegan: Hegel, Carl Schmitt, Lepolitique entre speculation et positivite, Paris 1992.

27 Georg Lukacs: Der junge Hegel, Berlin 1954, S. 81. Die Hegelzitate bei Lukacs stammen aus derNohlschen Ausgabe von 1907, die auch Carl Schmitt kannte.

28 Die Entstehungsgeschichte von Die Zerst6rung der Vernunft ist kompliziert. Bereits im August 1933hatte Lukacs in Moskau ein über 200seitiges Typoskript "Wie ist die faschistische Philosophie inDeutschland entstanden?" abgeschlossen. LuJcics setzt sich hier mit Spengler, Spann, Moeller van denBrock, Heidegger, Bäumler, Jünger, Best, Schauwecker. Freyer, Fischer, Feder und Rosenbergauseinander. Sehmitt bleibt aus der Reihe der geistigen Wegbereiter Hitlers ausgespart. Schmitt wirdauch nicht in dem zweiten Typoskript "Wie ist Deutschland zum Zentrum der reaktionären Ideologiegeworden?" behandelt, das der aus Moskau evakuierte Lukacs 1942 in Taschkent fertiggestellt hat. Dertaschkenter Text ist um den Teil über den "Sozialfaschismus" der SPD,der 1933 noch dabei war.erleichtert und hat in der Linienführung schon das Profil der Zerst6rung der Vernunft. Mit Nietzsehekommt der Irrationalismus in Fahrt. Bezug genommen wird dann aufWeber, Plenge, Sombart. Husserlund Heidegger, Bäumler und Klages, Spengler, Jünger, Freyer und Rosenberg. Die beiden Typoskriptewurden von Laszlo Sziklai aus dem Nachlaß herausgegeben (Budapest 1982).

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Schmitt ist p1aziert an der Stel!e des "Einmünden(s) der deutschen Soziologie in denFaschismus" 29 Im Vergleich Zu Mannheim schneidet Schmitt weitaus besser ab.Schmitt erscheint bei Lukacs ddm liberalen Neukantianismus in etlichen Punkten über­legen. Die zwischen den Zeileq. ausgedrückten Zustimmungen sind unüberhörbar. Ja.an einer entscheidenden Stelle liest er Schmitts "substantielle Gleichartigkeit des ganzenVolkes" eher verharmlosend, indem er diese Formulierung stillschweigend mit HermannHellers Kategorie der "sozialeniHomogenität" zur Deckung bringt." Lukacs verzichtetdarauf, auch nur eine einzige d~r zahlreichen antisemitischen Äußerungen von Schmittzu zitieren.

1m etwas später geschriebendn Nachwort werden die Angriffe schärfer. Lukacs zieltauf Schmitts Verteidigungsschri'ft Ex captivitale salus (Köln 1950). Sich mit Hobbes zuvergleichen, der sich inmitten der konfessionellen Bürgerkriege in einer unauffälligenVerborgenheit hielt - diese Vert~idigungslinie Schmitts weist Lukacs zurück. Der "klei­ne" - aber weder philosophisch; noch politisch-moralisch unwesentliche - Unterschiedist, daß Hobbes fiir den damaligen Fortschritt eintrat, Schmitt fiir die extremste Reaktionseiner Gegenwart. Aber in dieser Analogie steckt noch mehr: Schmitts Bekenntnis zurFortsetzung seiner Kampftätig~eit auf dem äußersten Flügel der militanten Reaktion.Seine Konstruktion der Analogie ist ja folgende:

nWie es Hobbes damals gleichgül~ig war. ob die Liquidation des Feudalismus, die Errichtung einesmodernen bürgerlichen zentralisie~en Staates von den Stuarts oder von Cromwell vollzogen würde,so ist es ihm - earl Schmitt - gleichgültig, ob die Diktatur saus phrase des Monopolkapitalismus vonHitler, Eisenhower oder von einem neu entstandenen deutschen Imperialismus errichtet wird. "31

Universität, auf Schmitts Rechtstheorien und Rechtspublizistik im Dienst;der Hitlerschen Aggressionenusw. Die Tatsachen waren zu bekannt, um glatt verleugnet werden zu können. Wenn aber das undurch­dringliche Inkognito die entscheidende 'condttion humaine' ist, wer kann es wissen, ob - in diesemInkognito - Heidegger oder Schmitt nicht glühende Gegner Hitlers waren, während sie ihn in der Weltder'Äußerlichkeit' unterstützten?"32

In der Neuausgabe der verfassungsrechtlichen Aufsätze bringt Schmitt 1958 gezieltVerweise zu Lukacs an, die einer tief empfundenen Virulenz'Ausdruck verleihen. Indem berühmten Schlußteil der Lage der europäischen Rechtswissenschaft (1943/44), indem es um den "unzerstörbaren Kern allen Rechts gegenüber allen zersetzenden Setzun­gen" geht und in dem die Aufspaltung des Rechts in Legalität und Legitimität als fort­wirkendes Verhängnis des 19. Jahrhunderts thematisiert wird, inseriert Schmitt eineWürdigung von Lukacs "Legalität und Illegalität" (1920) als eines Aufsatzes, "derwichtiger und aktueller ist als die große Masse der seit 1920 erschienenen Schriften zurRechtsphilosophie und zum Naturrecht, weil er die Frage richtig unter die Begriffe'Legalität und Legitimität' gestellt hat"." Diese Anerkennung geht mit dem 1958 frei­lich recht späten Versuch einher, "die große Hegel-Nahme, die(Georg Lukacs ins Werksetzt" abzuwehren. Hegels Philosophie sei ein "System von Vermittlungen" , nichtsberechtige, tr aus Hegel einen absoluten Beschleuniger zu machen", der ftir die Schulungvon Berufsrevolutionären tauge.34

"Nacheinander haben sich Heidegger. Jünger und C. Schmitt, Benn und andere leidenschaftlich zum'ewigen' Inkognito der menschlichen Persönlichkeit bekannt, zum schicksalhaften Verstecktbleiben­Müssen ihrer wahren Motive inmitten der bloß äußerlichen Taten. Die Begebenheiten, hinter denendiese Mysterien des Inkognito brü~n, konzentrieren sich verständlicherweise auf die Beteiligung dererwähnten Autoren arn Hitler-Regi~e, auf Heideggers Verherrlichung Hitlers als Rektor der Freiburger

Konnte von Schmitt ein klares ~ein zum Nationalsozialismus erwartet werden? Lukacsverweist auf Niemöller, Wiechert und Niekisch und baut im Nachwort zur Zerstörungder Vernunft eine Linie der ArgUmentation auf, die er bis in die 60er Jahre wiederholenwird: Es gibt eine Spaltung z\yischen den Intellektuellen, die es verstehen, sich alsgesellschaftliche Wesen zu vermitteln, und jenen, deren letzte anthropologische WorteEinsamkeit und Inkognito laute~.

29 Georg LuJcics: Die Zerstörung der Vernurift, Berlin 1954, S. 516. LuJcics' Aufsatz "Die deutscheSoziologie zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg", Aufbau, I. Jg., Heft 6 (1946), S. 585-600 ist in modifizierter Form in difSe Ausgabe übernommen. .

30 Bei Lukacs heißt es: Sehmitt "betrachtet die soziale Homogenität als Voraussetzung des Parlamentaris­mus: 'Die Methode der Willensbildung durch einfache Mehrheitsfeststellung ist sinnvoll und erträglich.wenn eine substantielle Gleichartigkeit des ganzen Volkes vorausgesetzt werden kann. '" (Carl Schmitt:Legah-täl und LegiJimitäJ. München/Leipzig 1932, S. 31; Georg Lukacs: Die Zerstörung [FN 29),S.519)

31 Georg Lukacs: Die Zerstörung 29), S. 664.

32 Georg Lukacs: Die Gegenwartsbedeutung des kritischen Realismus (1957), in: ders.: Werke, Bd. 4,Neuwied 1971, S. 478.

33 earl Schmitt: Veifassungsrechtliche Alifsätzeaus den Jahren 1924 bis/954. Materialien zu einerVerjassungslehre, Berlin 1958. S.426. Der Verweis wird auf S, 450 erneut angebracht. Zu denversteckten Bezügen siehe Manfred Lauermann: Georg LukiIcs (FN 2), S. 82 f.

34 Carl Schmitt: Vetfassungsrechtliche AufsäJze (FN 33). S. 429. Auch danach verlieren sich Lukacs undSchmitt nicht aus dem Sinn. Am 5. Januar 1964 weist Schmitt in einem Brief Piet Tommissen auf eineSendung des Deutschlandfunks über Lukacs hin und erinnert sich dabei an die "Richterstellung" . dieLuJcics in Die Zerstörung der Vernunft Niekisch zuerkannt habe. Die Ausführungen von LuJcics zumMangel an Zivilcourage unter Hitler, die vier Tage später im Radio zu hören waren. klingen gelassenerals die aus den 50er Jahren. "Man kann von einer Weltanschauung überflutet werden", bemerkte erzu dem autobiographischen Bericht Fazit, den die ehemalige BDM- und Reichsarbeitsdienst-FührerinMelita Maschmann 1963 publiziert hatte. Lukacs erinnerte daran, daß es die Inkognito-Haltung vonSchmitt und Heidegger auch bei Kommunisten in der Stalinära gegeben habe. und sprach von demGuerilla-Kampf, zu dem viele damals gezwungen waren. 1966 verzichtet Lukacs auf das Sehmitt­Kapitel bei der Taschenbuchausgabe von Die Zerstörung der Vernunft.. Am 9. luni 1971 schreibtSchmitt an Julien Freund: "La nouvelle de la mort de George Lukacs m 'erneut profondemem. "Sehmittspricht von "quelques paralleles entre sa vie et dans la mienne" und schickt Freund ein Kapitel überLukacs aus der Erlanger Dissertation Hans Dietrich Sanders, dessen ghibellinische Träume heute zumunbelehrbaren strategischen Irrationalismus am deutschen rechtsradikalen Rand gehören. (Die Brief~

stellen von Schmitt hat mir Piet Tommissen dankenswerterweise mitgeteilt. Die Sendung vom 9. Januart964: Günter Specorius: "Georg Lukacs - Besuch bei einem Revisionisten", ist als Tondokumenterhalten.)

146 Wolfgang Eßbach Das Formproblem der Moderne 147

II.Überblickt man diese gegenseitigen Kenntnisnahmen, von denen sich bei Durchsicht derNachlässe vielleicht noch weitere finden ließen, so wird man sagen können, über dieZuordnung des anderen zum gegnerischen Lager hinausgehend. würdigen Luk1\cs undSchmitt sich als den je anderen, ;der über eine besonders zutreffende Wahrnehmung derProbleme verfügt, trotz der diametralen Konsequenzen, die sie praktisch gezogen haben.Auf ihr Verhältnis trifft in einem gewissen Sinne das familiale und ebenso geschichts­philosophische Diktum Schmitts,zu: "Man lebt immer unter dem Blick des radikalerenBruders, der einen zwingt, die: praktische Konklusion zu Ende zu führen. "35 DieseEbene aufzuklären, ist das eigentlich Schwierige. Denn es wäre ja die Beschreibungeines Ortes, von dem aus "Les yies paralleles" als Parallelen zu erblicken wären. DieForschung im Detail hilft uns hier nicht weiter, da wir zu klären haben, ob es einezeitgeschichtliche oder historiscl)e Forschung wäre."

Das Auffinden der Ebene, auf der sich die Antipoden LuHcs und Schmitt anerken­nen, ist nicht von der Frage abZulösen, ob und wenn ja wie der Nationalsozialismusbzw. der Bolschewismus historisiert oder aktualisiert werden sollen, können oder müs­sen. Es gibt die bekannten unbefrliedigenden Lösungen, auf die man zur Not zurückkom­men kann. Etwa die Lösung, mit akribischer Gelehrsamkeit die RIßlinien zwischenLuk:!cs und dem Bolschewismus, zwischen Schmitt und dem Nationalsozialismus zuvergrößern, sie von der geschichnichen Verstrickung möglichst abzutrennen, um sie alsKlassiker zu retten und unschädlich zu machen. Es gibt auch die Lösung, sich über eineTotalitarismustheorie in die Mitte zu flüchten. Aber wenn man sie denn zu Klassikerngemacht hat, was wüßte man über unsere Gegenwart mehr? Und wenn man sich imAntiradikalismus einigt, woher ;sollte man die Kraft für die Mitte hernehmen? DieKlugheit gebietet es. beide Notlösungen in Reserve zu halten. Als Antwort auf dasHistorisierungsproblem sind sie; freilich nicht ausreichend. Schon ihre Umkehrungverspricht mehr Erkenntnis.

Wie soll man die bedeutenden!Bewegungen des Bolschewismus und Nationalsozialis­mus überhaupt verstehen, wenn man die Intellektuellen, die sich an die Seite von Stalinund Hitler gestellt haben. wegnimmt? Wer kann denn den Sinn der stalinistischen Selbst­verleugnungsrituale überhaupt erklären, wenn nicht ein Mensch wie Georg Lukacs? Werkann denn das Sich-Hitler-Zur-\{erfügung-Stellen überhaupt erklären, wenn nicht einMensch wie Carl Schmitt? Beide haben den Reichtum des europäischen Denkens ja nichtaus tumber Tölpelhaftigkeit oder!Feigheit oder Gefühlskälte oder ähnlichem mit Hitlerund Stalin verbunden. sondern si~ hatten Gtiinde und konnten sie weit besser darlegenals andere ihrer Zeit. Für wichtige Dinge braucht man gute Interpreten.

35 earl Schmitt: "Das Zeitalter der NeJtraJisierungen und Entpolitisierungen", in: ders.: Der BegriffdesPolitischen. 2. Autl., München 1932, S. 67.

36 Wer im Krebsgang weiterforschen wollte. könnte sich die Frage stellen, ob es nicht eine ältere Kampf~

linie ist. die den radikalen Sozialisten Lukacs und den konsequenten Katholiken Schmitt als GegnerBismarcks und als Antiliberale affin ierscheinen lassen.

leh verkenne nicht das Problem, das in der Sorge liegt, Lukacs und Schmitt könntenvielleicht zu gute Interpreten sein, sie könnten so gut sein, daß sie noch einmal über­zeugen. Und die antiradikale Flucht in die Mitte ist bisweilen ja gepaart mit der Angstvor der Kraft mythischer Extreme. Dem kann abgeholfen werden, wenn man sich derErkenntnismittel radikaler Aufklärung heute bedient. Gilles Deleuze z.B. hat gezeigt.wie man das Bild von der Mitte umkehren kann. Weit entfernt davon, ausgleichenderRuheplatz zwischen dem Drängen der Extreme zu sein, ist die Mitte Ort der Tiefe undhöchsten Beschleunigung dann, wenn man an Flüsse denkt.:nWenn man sich dieserStrömung einer Aufklärung der Aufklärung, d.h. einer Potenzierung der Aufklärunganvertraut, so kann Historisierung gelingen, ohne daß der akute Kern in die Vergangen­heit weggeworfen wird.

Dazu bedarf es freilich komplexer Denkfonnen, wie sie unter der Frage nach dem"Ende der Neuzeit" und der "Postmoderne" entstanden sind. Produktiv verstanden,benennt "postmodern" außerhalb stilgeschichtlicher Moden keine Epoche, die an dieModerne anzuhängen wäre oder die es einzuläuten gelte, sondern umschreibt wohlver­standen einen Modus des Denkens, der sich auf die verschiedenen Weisen der Moderne,sich selbst zu begreifen, richtet. Postmoderne Reflexion löst nichts ab, substituiertnichts, ist kein funktionales Äquivalent, sondern nimmt Modernität so in den Blick, alsob es sich beim Projekt der Moderne um ein endliches, überschaubares Ensemblehergestellter Wirklichkeiten handle. Dieser Reflexionsmodus impliziert nicht die Behaup­tung eines Endes von Modernität, wohl aber ermutigt er das Gedankenexperiment zuwagen: Nehmen wir an, das, was an Modernität bekannt ist, wäre schon die Hauptsachegewesen, und wir wären in der Situation, uns aus Vorliegendem und Erfahrenem eineModerne auswählen zu können.

Der postmoderne Fiktionalismus des "Als ob" richtet sich auf das endliche und be­grenzte Repertoire der verschiedenen Modernen, die Europa hervorgebracht hat undderen Überbietung sich verbietet. Solches Denken vermag sich an geschichtliche Erwar­tungen und Erfahrungen zu binden. die integraler Bestandteil der Moderne sind und soeine ethische Problematisierung einleiten können. Es sind ja wiederkehrend der "Ar­chipel Gulag", "Auschwitz" und "Hiroshima", die als Geschichtszeichen der Modernedem 20. Jahrhundert zugerechnet werden müssen, weil sie dem europäischen Selbstbildentsprechend nicht von primitiven unterentwickelten Völkern, von Barbaren, sondernvon Kollektiven ins Werk gesetzt wurden, die auf die geistige Höhe ihrer Kultur stolzsein mußten und es ja auch waren.

Die Postmoderne-Debatte, deren Ende nun viele für gekommen sehen, ist immergef:ihrdet gewesen, dem angenehmen oder unangenehmen Reiz des Schlagworts zuerliegen. Dabei wurde der Ernst der Situation verkannt, daß es bei der Verweigerungder Anstrengung rur komplexes Denken - dem der Terminus "Postmoderne" ein vor­übergehendes Asyl gewährt - nur die ungebrochene Rückkehr nach Weimar gibt, d.h.eine naive Historisierung, die gleich aufs Ganze gehen will. Die postmoderne Reflexion,als ob es sich bei der Moderne um ein endliches, überschaubares Ensemble hergestellterWirklichkeiten handle, kann als Fiktion nie das Ganze sein, sondern sie ist ein Zusatz.

37 Gilles Deleuze: Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend PlaJeaus. Berlin 1992, S. 41 f.

148 Wolfgang Eßbach Das Fonnproblem der Modeme 149

ein Supplement, etwas, das die Modemitätsauffassung begleitet, ohne sich integrierenzu lassen. Wenn die Gewichte 'so verteilt werden, könnte eine komplexe Historisierungund Aktualisierung der Mod,mitätsauffassungen von Lukäcs und Schmitt vielleichtgelingen.

III.Die Modemitätsauffassungen von Lukäcs und Schmitt richten sich auf die Frage: WelcheForm hat die moderne Gesellschaft? Es ist dies eine Frage, die sie gemeinsam habenund die sie von intellektuellen '1Veggeflihrten wie Ernst Bloch einerseits und Ernst Jüngerandererseits trennt. 38 Lukäcs hat mit Blochs prophetischem Aufruhr ebensowenig an­fangen können wie Schmitt mit Jüngers martialischen Ekstasen. Das ausgeprägte Inter­esse für die Formen kommuniziert freilich mit unterschiedlichen Startpunkten. Lukäcskommt von der Ästhetik, Schniitt von der Juristerei. In beiden Bereichen kann der Sinnfür Formen geschärft werden. Beide sind jedoch nicht auf ihre Startpunkte fixiert. FürSchmitt wird das Ästhetische ebenso bedeutsam werden wie für Lukäcs die Frage derLegalität und Legitimität, aber ihrer beider Schriften sind in hochgradigem Maße durch­zogen von derselben Frage nac~ dem Urteil über mehr oder weniger gelungene Formen,in denen sich die Einheit der Moderne darstellt.

Meine Parallellektüre setzt !vor dem Ersten Weltkrieg ein. 1912 fragt Schmitt inGesetz und Urteil: Wie kommt der Richter zu richtigen Urteilen? Und Lukacs fragt 1911in Die Seele und die Fonnen!, Wie kommt der Essayist zu richtigen Urteilen? FürSchmitt 1912 beruht die Richtrgkeit der richterlichen Entscheidung in der Hauptsacheauf der Übereinstimmung der Entscheidung mit der Rechtspraxis. "Die Praxis recht­fertigt sich also durch sich sel~er"," und bei Lukacs heißt es 1911: "Der Essay ist einGericht, doch nicht das Urteil ist das wesentliche und wertentscheidende an ihm [...],sondern der Prozeß des Richtens. "40

Wer aber gibt ihm das Rec~t? Lukacs' Antwort lautet:

"Es wäre beinahe richtig zu sagen: er nimmt es sich; aus sich heraus erschafft er seine richtendenWerte. Aber nichts ist vom RichtIgen durch tiefere Abgründe getrennt als sein Beinahe, diese schie­lende Kategorie eines selbstgenügsamen und selbstgefälligen Erkennens. Denn tatsächlich werden imEssayisten seine Maße des Richtens erschaffen. doch er ist es nicht. der sie zum Leben und zu Taterweckt: es ist der große Wcrtbcs~immer der Ästhetik. ~

Der Essayist ist Vorläufer; "kraftlos [...) wird seine reinste Erfüllung sein stärkstesErreichen. wenn die große Äs~etik gekommen ist. "41

38 Die folgenden Ausführungen sind meiner Freiburger Antrittsvorlesung vom November 1988 entnom­men. die abgedruckt ist in Manfred Gangl u. G6rard Raulet (Hg.): Intellektuellendiskurse in derWeimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage. Frankfurt a.M. 1994, S. 145-159.

39 Carl Schmitt: Gesetz und Urteil. Berlin 1912. S. 86.

40 Georg Lukacs: Die Seele und die Formen. Berlin 1911. S. 38.

41 Ebd.. S. 35 u. S. 36 f.

Es ist dies eine eigenartige Abhängigkeit des Essayisten. Es ist zwar seine Urteils­praxis. aber das Wertbestimmende ist emergent und überwältigend. Mit Schmitt könnteman fortfahren: "Ist eine bestimmte Methode, 'zu interpretieren'. zur Herrschaft ge­langt, dann ist damit den Erfordernissen der Rechtsbestimmtheit zu einem großen Teilgenügt und die Entscheidungsgründe, die sich an derartige Interpretationen halten,begründen richtige Entscheidungen. !!42

Im Ersten Weltkrieg entstehen Schmitts Politische Romantik und LuMcs' Theorie desRomans." Roman und Romantik stehen paradigmatisch für das bürgerliche Zeitalter- für Lukacs ein Zeitalter, "für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinn­fällig gegeben ist, für das die Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden ist,und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat".44 Bei Schmitt erscheint diese Gesin­nung in der Romantik als proklamierte "Verabsolutierung der Kunst",

"alles Geistige, Religion. Kirche. Nation und Staat, fließt in den Strom. der von dem neuen Zentrum.dem Ästhetischen, ausgeht. Sofort aber vollzieht sich eine überaus typische Verwandlung. Die Ku~twird verabsolutiert. aber gleichzeitig problematisiert. Sie wird absolut genommen. aber durchaus ohnedie Verpflichtung zu einer großen und strengen Form oder Sichtbarkeit, [... ] Die neue Kunst ist eineKunst ohne Werke. wenigstens ohne Werke großen Stils. eine Kunst ohne Publizität und ohne Re­präsentation. Dadurch wird es ihr möglich. sich in tumultuarischer Buntheit aller Formen einfühlendzu bemächtigen und sie doch nur als ein belangloses Schema zu behandeln, und in einer von Tag zuTag den Standpunkt wechselnden Kunstkritik und Kunstdiskussion immer von neuem nach dem Wah­ren, Echten und Natürlichen zu schreien. ~4~

- "Subjektiver Occasionalismus" lautet Schmitts Diagnose, !"kontingente Welt undproblematisches Individuum" lautet LuMcs' Diagnose. Subjektiver Occasionalismusnährt das Gefühl, betrogen zu sein, nämlich um den concursus dei; wo kontingente Weitund problematisches Individuum zusammentreffen. steigert sich die Verzweiflung.

Therapien zeichnen sich 1922 und 1923 ab in Schmitts Politischer Theologie und inLokacs' Geschichte und Klassenbewußtsein. Die Fragen lauten: Wie ist jene seltsameTendenz zu begreifen, in der alle Phänomene romantisierbar werden, in der kontingenteWelt und problematisches Individuum sich reproduzieren? Wo radikal ansetzen, um dasFormproblem der modernen Gesellschaft, ihre Ungefügtheit und die Falschheit ihrerFormen in den Griff zu bekommen?

"Von einem Sonntag zum anderen". so berichtet AIllla Lesznai wurde Lukacs "vonSaulus zu Paulus". d.h. vom problematischen Individuum in einer kontingenten Welt

42 Carl Schmitt: Gesetz und Urteil (FN 39). S. 91.

43 Wie Antimodernismus und Romantikkritik bei Lukacs und Schmitt zusammengehen. hat Karl HeinzBohrer überzeugend gezeigt: Die Kn'tik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literan'~

sche Moderne, Frankfurt a.M. 1989.

44 Georg Lukacs: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophisdler Versuch über die Formen dergroßen Epik, Neuwied/Berlin 1965, S. 53.

45 Carl Schmitt: Politische Romantik, München/Leipzig 1919, S. 20.

150 Wolfgang Eßbach Das Formproblem der Moderne 151

zum marxistischen Revolutionar.46 Ins Zentrum von Geschichte und KLassenbewußtseinrückt das Marxsche Thema VOl)1 Fetischcharakter der Ware. für Lukäcs kein speziellesökonomisches Thema. sondern das Zentralproblern der modernen Gesellschaft. ImWarenverhältnis ist "das Urbild aller Gegenständlichkeitsformen und aller ihnen ent­sprechenden Formen der Subjektivität in der bürgerlichen Gesellschaft" gegeben.47

Begehren und Rationalität der Individuen und ihr lebendiger Zusammenhang unterein­ander gewinnen die Form der Ware, ein Urbild hinter all jener Pluralität der modernenMächte. Ein Polytheismus zweifellos. aber als Glaube an Fetische: Warenfetischismus.Alle Formen des sozialen Zusammenhangs sind pulverisiert in Waren und Teilkalkulati0­nen, als von einem Ding ausgehende Einzelrationalisierungen, eine bunte Pluralität, abernach einer einzigen Stanzform"nämlich der der Ware. Alles ist beliebig romantisierbar,folgt demselben Absolutheitsschema des Ästhetischen. hatte Schmitt konstatiert; allesgewinnt das Urbild der Warenform. stellt Lukäcs fest.

Eine Pluralität von Occasionen, aber die Stanzform. die Schmitt in seiner PolitischenTheologie ins Auge faßt. ist anderer Herkunft. Das Thema lautet Souveränität. DieVerabsolutierung der Kunst ve~stellt das wahrhaft Absolute. Souveränität ist zur Stanz­form geworden. Die Moderne hat ein Formproblem. Ihre Formlosigkeit und Ungefügt­heil resultiert aus einem Nukleus. der freilich bei Lukacs und bei Schmitt verschiedeneNamen trägt. Der Nukleus bei Lukäcs heißt Ware. der Nukleus bei Schmitt heißt Souve­rän. Ware und Souverän. in diesen Zentren entscheidet sich das Schicksal der Moderne.

"Der Souverän schafft und garantiert die Situation als Ganzes in ihrer Totalität", heißtes bei Schmitt.48 Die moderne~Individuenwollen dies jedoch nicht wahrhaben.

"Heute ist nichts moderner als der ~ampf gegen das Politische. Amerikanische Finanzleute, industrielleTechniker, marxistische Sozialisten und anarcho-syndikalistische Revolutionäre vereinigen sich in derForderung, daß die unsachliche HeI'fschaft der Politik über die Sachlichkeit des wirtschaftlichen Lebensbeseitigt werden müsse. [... ] Der, moderne Staat scheint wirklich das geworden zu sein, was MaxWeber in ihm sieht: ein großer Be,trieb. "49

Was dominiert, sind fragwürdige Entpolitisierungen. die unpolitischen Autonomien derGebiete (Wirtschaft, Recht. Kunst, Moral. Wissenschaft), die sich souverän dünken.d.h. die Stanzform Souveränitätbenutzen, ohne aus sich heraus die Situation als Ganzesin ihrer Totalität garantieren zu können.

In der Diagnose kommt Lukäcs zu einem identischen Resultat. In der Entwicklungder modernen bürgerlichen Gesellschaft kommt die Doppeltendenz zum Zuge, lldaß siedie Einzelheiten ihres gesellschaftlichen Daseins in steigendem Maße beherrscht. denFormen ihrer Bedürfnisse unte~irft. zugleich aber - ebenfalls in steigendem Maße -

46 Siehe David Kettler: "Culture an&Revolution, Lulcics in the Hungarian Revolution of 1918-1919".Telos. Nr. to (1971), S. 69.

47 Georg Lukacs: Geschichte und Kwsenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik, Berlin 1923,S.94.

48 Carl Schmitt: Politische Theologie, 2. Aufl., München/Leipzig, 1934, S. 20.

49 Ebd.• S. 82.

die Möglichkeit zur gedanklichen Bewältigung der Gesellschaft als Totalität und damitdie Berufenheit zu ihrer Führung verliert".50 Mit Schmitt könnte man fortfahren. "derKern der politischen Idee. die anspruchsvolle moralische Entscheidung. (ist) umgan­gen" .51

Warencharakter und Souveränitätscharakter - wo liegt die Wurzel für das Form­problem der Moderne? Verdinglichung und Entpolitisierung: sind dies zwei Seitenderselben Medaille? Ist es die Verdinglichung des Bewußtseins. die zur EntpolitisierungfUhrt? Ist es eine Entpolitisierung, die in Verdinglichung mündet? Beide Erklärungs­richtungen machen Sinn. und sie liegen um Haaresbreite nebeneinander. Dennoch, dieLösungen für das Formproblem der Moderne werden anders sein. je nachdem. ob manvon der Ware und Verdinglichung ausgehend die Lösungsintention darlegt, oder ob maneine Lösung von der Souveränität und EntpoIitisierung her aufbaut.

Darin einig. die Inkohärenz einer ungeliebten Moderne kohärent zu machen. dieFormlosigkeit zu überwinden, entstehen bei Lukäcs und Schmitt Konzepte, die nicht nurweit auseinanderliegen. sondern die in fataler Weise in ihren Resultaten den Startpunktdes anderen im Zerrspiegel halten. Auf die Formel gebracht: Bei Lukäcs fUhrt dieKonstruktion von der Kritik der Verdinglichung zur Wiedergeburt eines absolutistischenSubjekts. Bei Schmitt führt die Konstruktion von der Kritik der Entpolitisierung zurWiedergeburt einer absoluten Homogenität.

Zunächst Lukäcs. Von der Warenstruktur her gedacht, ist allein die Ware, die U.a.auch Subjekt ist, in der Lage. die universelle Verdinglichung: umzukehren: die WareArbeitskraft. Man lasse sich nicht von Lukäcs' Bekenntnis zur marxistischen Orthodoxietäuschen. Zwischen der Marxschen Lehre vom Wert der Arbeit und der LukäcsschenTheorie der Verdinglichung liegen Welten. Lukäcs schreibt nicht das Produktionspara­digma der bürgerlichen Arbeitsgesellschaft radikal weiter. "Nicht die Vorherrschaft derökonomischen Motive in der Geschichtserklärung unterscheidetden Marxismus von derbürgerlichen Wissenschaft, sondern der Gesichtspunkt der Totalität. "52 Von diesemGesichtspunkt aus ist die Situation der Ware Arbeitskraft einzigartig: Sie ist das identi­sche Objekt/Subjekt. sie ist das Totale.

Wenig zählt bei Lukäcs. daß Arbeiter Interessen haben - Interessen haben viele;wenig zählt auch. was sich die Arbeiter zur Anschauung bringen - verdinglichte Prozes­se haben viele Zuschauer. Zentral ist: das Warensubjekt begreift sich selbst in seinerForm, die zugleich Urbild aller Objekt- und Subjektformen der modernen Gesellschaftist. Die Selbsterkenntnis der Ware Arbeitskraft ist zugleich die Geburt des proletarischenKlassensubjekts.

In diesem Klassensubjekt hat sich für Lukäcs nicht zuletzt etwas von jener großenÄsthetik erfllilt. die den Essayisten kraftlos werden läßt. In der großen Ästhetik hatteLukäcs die Idee eines Menschen gefunden, "fIlr den seine Tendenz. sich eine Form zugeben. nicht eine abstrakte. die konkreten Inhalte beiseite lassende Rationalität bedeutet;

50 Georg Lukacs: Geschiclue und Klassenbewußtsein (FN 47), S. 134.

51 earl Schmitt: Politische Theologie (FN 48), S. 81.

52 Georg Lukacs: Geschichte und Klassenbewußtseill (FN 47), S. 39.

152 Wolfgang Eßbach Dos Formproblem der Moderne 153

für den Freiheit und Notwendigkeit zusammenfallen" .53 Der bolschewistischen Parteidienen, heißt bei Lukacs implizit immer auch, dem Politischen eine schöne Form zugeben.

Wiedergeburt eines absolutistischen Subjekts bei Lukacs - Wiedergeburt absoluterHomogenität bei Schmitt. Von der Souveränität her gedacht, ist allein der Staat in derLage, die zweifelhaften Entpolitisierungen umzukehren, der sich zu den Heterogenitätender Moderne in eine Entscheid'1ngsposition bringt. Die Staatsphilosophie der Gegen­revolution ist aktuell, weil sie sich dessen bewußt ist, "daß die Zeit eine Entscheidungverlangt" .54

Ausweichen, neutralisieren auf einer höheren Ebene. die Verschiebung in ein Sub­system, diskutieren im ewigen pespräch - all dies ruhrt zu einer Pluralisierung derMächte, zu einer Pluralität von Souveränen, die sich als Unpolitische tarnen.

~In der konkreten Wirklichkeit des!politischcn Seins regieren und herrschen keine abstrakten 'Ord~nungen' und Gesetzmäßigkeitcn, sondern es regieren und herrschen immer nur sehr konkrete Menschenund Verbände aber andere ebenso' konkrete Menschen und Verbände. So hat auch hier politischgesehen die Herrschaft 'der' Morall'des' Rechts, 'der' Wirtschaft, 'der' Wissenschaft, 'der' Kunst,'der' Nonn einen politischen Sinn, und die Entpolitisierung ist nur eine politisch besonders brauchbareWaffe des politischen Kampfes. "jj ;

Für die moderne Gesellschaft ist die "Politik das Totale"." Sie hat kein Außen mehr,auf das sich Politik gründen könnte. Die Heterogenitäten der Moderne sind politischeHeterogenitäten in vollendeter Immanenz. Schmitt identifiziert den Pluralismus derModerne als Bürgerkrieg, als perennierenden Ausnahmezustand.

Wenn Politik kein Außen mehr hat, auf das sie sich gründen könnte, so bleibt nur derWeg, das Außen im Innen zu suchen, d.h. im Felde der Heterogenitäten selbst. Politikgründet sich auf Feinderklärung, die dann zwingend ist, wenn irgendein ansonstenharmloser Gegensatz eine bestimmte Intensität erreicht hat, in der Feinderklärungenanfallen. Der politische Feind ist "der andere, der Fremde und es genügt zu seinemWesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existentiell etwas Anderes undFremdes ist" .57 Der Staat muß si:ch, wenn er souverän sein will, gegen diese Krise derModerne behaupten, d.h, er muß sich gegen das existentiell Andere und Fremde ent­scheiden, um eine substantielle Homogenität herzustellen. 1933 heißt diese Homogenität"Artgleichheitlf

• "Ein Artfremder mag sich noch so kritisch gebärden und noch soscharfsinnig bemühen, mag Bücher lesen und Bücher schreiben, er denkt und verstehtanders, weil er anders geartet istf und bleibt in jedem entscheidenden Gedankengang in

53 Georg Lukacs: GeschichJe und KtaSsenbewußtsein (FN 47), S. 151.

54 earl Schmitt: Politische Theologie ~FN 48), S. 69.

55 Carl Schmitt: Der Begdff des politischen, 3. Aufl., Hamburg 1933, S. 53 f.

56 Carl Schmitt: "Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland (1933)", in: ders.: Verfassungs~

rechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954. Berlin 1958, S. 359.

57 earl Schmitt: "Der Begriff des Politischen", Archivfür Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Bd. 58(1927), S. 4.

den existentiellen Bedingungen seiner eigenen Art. Das ist die objektive Wirklichkeit der'Objektivität' ...58

Man hat, durchaus gut gemeint, versucht, diese Schlußfolgerung als Fremdkörper imDenken von Schmitt herauszuoperieren, oder bös' gemeint, als Opportunismus zudiffamieren. Ich kann mich weder am einen noch am anderen beteiligen. Zunächst istzu sagen, diese Schlußfolgerung ist, was die entscheidenden Linien der Konstruktionbetrifft, zwingend. Auch wiederholtes Rekapitulieren kommt zum selben Schluß. Dar­über muß nachgedacht werden.

IV,Der Begriff Homogenität entstammt ja zweifellos demokratischer Tradition. Er istrousseauistischer Prägung, er umschreibt die Identität von Regierung und Regierten. Esist auch aufklärbar, daß es in Deutschland sehr wohl naheliegend war, ihn rassistischaufzufassen.

Denn in der longue dur"e der europäischen Staatenbildungen waren - grob und vielzu kurz gesagt - eine ganze Reihe von Chancen, die politische Einheit zu legitimieren,bereits realisiert. Insbesondere hatte der rur Deutschland als' Vorbild und Feindbildprägende Nachbar Frankreich die politische Sphäre als eine im letzten Grunde sym­bolische Angelegenheit aufgefaßt. Die Einheit der französischen Nation ist wirklich, weilsie symbolisch ist. Es ist bekannt, wie der Trierer Karl Marx diese Art politischenÜberbau behandelt hat. Es ist nur zu naheliegend, daß nach den Gesetzen der konkurrie­renden Nachahmung (d.h. dasselbe auch, aber anders zu wollen) in Deutschland seitdem Ende des 18. Jahrhunderts die beste Ausgangslage dafür bestand, die Wirklichkeitnationaler Einheit antifranzösisch, d.h. antisymbolisch zu begründen, was - wenn manerst einmal anfangt, genau zu denken - letzten Endes auf die biologischen Objektivitätenhinausläuft, so wie sie die Wissenschaft zur jeweiligen Zeit präsentiert.59 Was andereshätte denn von den geschichtlichen Bedingungen her - die niemand zu verantworten hatund in denen auch kein tieferer Geist oder Sinn liegt - herhalten sollen für eine Identitätder Deutschen, nachdem auf der Insel der Individualbesitz und in Frankreich das Sym­bolische zur letzten Instanz gekrönt waren?'"

Daß bei earl Schmitt in den endzwanziger Jahren noch ein gerüttelt Maß (vielleichtden Glauben stabilisierender) Antisemitismus hochkommt, hat nach der Enttäuschungdes hochgestimmten Zentrumskatholizismus nichts Geheimnisvolles. Hinzuzunehmenwäre noch die schon flÜh erkennbare katholische Gesetzesunterminierung in den sich

58 Carl Schmitt: StaG!, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit, 2. Autl .. Hamburg1933. S. 45.

59 VgJ. meinen Beitrag "Gemeinschaft - Rassismus - Biopolitik", in: Wolfgang Pircher (Hg.): DasFremde - Der Gast, Bd. I, Wien 1993, S. l7~35.

60 Daß der differente Charakter von Staatlichkeit in Europa an den verschiedenen Weisen haftet. in derpersonale Gewalt institutionell abgelöst wurde, hat Heide Gerstcnberger in ihrem grundlegenden Werkzur Entstehung bürgerlicher Staatsgewalt überzeugend dargelegt (Heide Gerstenberger: Die subjl'krloseGewalt. Theorie der Entstehung bürgerlicher Staatsgewalt, Münster 1990).

154 Wolfgang Eßbach Das Formproblem der Moderne 155

steigernden Angriffen auf denl"Gesetzgebungsstaat", die der Jesus-Formel folgen: "Essteht geschrieben, ich aber sag~ Euch" . Die Polemik gegen das Gesetz als bloß formelleshat geistesgeschichtlich stets ~ine komplizierte antisemitische Dimension.

Mit Schmitt an die Seite Hitlers oder mit Lubics an die Seite Stalins. Es sind dieskeine Regressionen, sondern progressive Radikalisierungen der Formfrage der Moderne.Wer Modernität im Hinblick lauf ein Denken der Krisenabschaffung bestimmen will,wird dem Prinzip der Krise einen Namen geben müssen. Entweder Krise der Waren­struktur oder Krise der Souveiänität. Entweder: von der alle Lebensbereiche scheinhafthomogenisierenden Verdinglichung zum totalen Subjekt der Geschichte, oder: von denScheinsouveränitäten sich aut~:momisierender Gebiete zur substantiellen Homogenität.Wo ernstgemacht wird gilt: tertium non datue

Nun wird man anführen köhnen, was alles für Distanzierungen, Widerstände, Krän­kungen und Verfolgungen Schtnitt und Luk:\cs möglicherweise praktiziert oder erfahrenhaben, wo Einsicht und Reue ~ber Starrsinn und Rechthaberei gesiegt haben - all diesist wichtig für die Frage, ob si~ in das große Buch "Helden und Heilige" aufgenommenwerden können oder nicht. Diese Frage ist durchaus wichtig, aber sie ist für die Theorieder Moderne belanglos. Sol,.nge in der Diagnostik der Moderne Ware und Souveräneine Rolle spielen, sind Luk:\cs und Schmitt aktuell, und hier ist nun für den, der sehenkann, kein Ende in Sicht.

Wohl aber gibt es einen Stil'und eine Methode des Umgangs mit Selbstdeutungen derModerne. Wir können, ohne d~n Anspruch zu erheben, ein Substitut oder ein Funktions­äquivalent bieten zu wollen, lylodernität in den Blick nehmen, als ob es sich um einendliches, überschaubares Ensemble hergestellter Wirklichkeiten handelt, ein Ensemble,zu dem Luk:\cs und Schmitt +und vielleicht noch andere vergleichbaren Kalibers ­gehören. In der Moderne positioniert, können wir zugleich eine exzentrische Positioneinnehmen, was Plessner zufo\ge ohnehin nur menschlich wäre. 61 Wir können die Mo­derne von einem Mittelpunkt außerhalb denken, nicht als gläubiger Neofundamentalis­mus ohne Wiederkehr, sondern im Sinne eines Fiktionalismus, der die Geschichtsphilo­sophie der Neuzeit als Objekt hat. Die Moderne wäre so postmodern gedacht nicht eineunvollendete Modeme. auch keine ewig verdammt schwierige Modeme, auch keineungeliebte Moderne, die weg muß.

Modernität von einem Mittelpunkt außerhalb zu denken, läßt die Konturen einerfremden Moderne erscheinen. iPädagogen mögen aus ihrem Recht heraus die beliebigverfremdenden Effekte dieser Sichtweise als Sabotage an den Werkstätten ihrer Men­schenbildnerei fUrchten. Daraus fortgeschrittenes Denken wird sich auf die Suche ma­chen: als ob es nicht möglich iein sollte, post alledem von einer Modernität zu reden.die aus der Erfahrung von Krise, Entzweiung, Zerrissenheit kein Projekt einer so oderso profilierten integralen Vollendung macht, nicht erneut ein Finale der Moderne prokla­miert und vielleicht auch nichi,unbedingt das Programm einer höchst schwierigen Le­bensfUhrung, die in allen ihren Äußerungen ängstlich im Spiegel das Negativ ihrer

61 Zu Plessners exzentrischer Position und ihrer Aktualität vgl. meinen Beitrag ~Der Mittelpunkt au­ßerhaJb. Helmuth Plessners philosophische AnthropoJogie~. in: Der Prozeß der GeistesgeschichJe.Studien zur ontogenetischen und historischen Entwicklung des Geistes. hg. v. Günter Dux u. UlrichWenzel, Frankfurt a.M. 1994, S. n5~44.

irrationalen Ursprünge sehen muß. Als ob wir nicht post alledem Möglichkeiten denkenkönnten, eine fremde Moderne zu legitimieren! Unaufhebbar entfremdet und unausrott­bar fremd, darauf verwiesen, mit Krise, Entzweiung, Zerrissenheit im Lichte einerXenophilie umzugehen. Ihr entspräche eine radikale Theorie. die radikal ist, weil sienicht aufs Ganze geht, weil sie in die Erfindung von Gesetzen der Gastfreundschaftmehr Ehrgeiz setzt als in die societas perfecta der diesseitigen Welt, d.h. in Identitäten,die wiederholen, was wir schon kennen.