4. Canakkale Biennial, 2014

7
316-321 - 4. Canakkale-Biennale 2014, Türkei_Layout 1 13.11.2014 13:14 Seite 1

Transcript of 4. Canakkale Biennial, 2014

316-321 - 4. Canakkale-Biennale 2014, Türkei_Layout 1 13.11.2014 13:14 Seite 1

316-321 - 4. Canakkale-Biennale 2014, Türkei_Layout 1 13.11.2014 13:14 Seite 316

317

Only the Dead have seen the end of war“. Der düster dräuende Satz wird dem Philoso-phen Platon zugeschrieben. Und er gibt einige Rätsel auf. Wieso haben nur die Toten

das Ende des Krieges gesehen? Waren nicht vielleicht doch auch ein paar Überlebende da-runter? Oder soll uns die Sentenz des alten Kunstverächters bedeuten, dass die Toten Glückgehabt haben, weil für sie alles Aus und zu Ende ist? Und die Überlebenden nicht zu be-neiden sind, weil sie in einem Krieg leben, der niemals endet?

Wie man den opaken Spruch auch dreht und wendet, es gibt wohl kaum einen Ort, zudem er besser passen würde, als zu Canakkale. Der Provinzort im Westen der Türkei, rund400 Kilometer südwestlich von Istanbul, lockt als heiterer Ferienort. 100.000 Einwohnerzählt die als säkular geltende Stadt an den Dardanellen. Wer an das andere Ufer der Meer-enge schaut, erblickt freilich einen gigantischen Friedhof. Dort fielen im August 1915100.000 türkische, britische, australische und neuseeländische Soldaten während der Kam-pagne von Gallipoli.

Die gleichnamige Halbinsel ist heute ein riesiges Freiluft-Geschichtsmuseum, übersät

4. CANAKKALE-BIENNALE 2014, TÜRKEI

NUR DIE TOTEN

Kaum jemand kennt die kleine Canakkale-Biennale in der türkischen Provinz. Im Erinnerungsjahr 1914 empfiehlt sie sich als „Plattform der Demokratie“.

VON INGO AREND

BIENNALEN

Kuratoren und KünstlerInnen der 4. Canakkale-Biennale: 1. Reihe, 2. von links: Biennale-Direktor Seyhan Boztepe, 3.von links: Kuratorin Beral Madra, 5. von links: Künstler Nigol Bezjian, 6. von links: Kuratorin Deniz Erbaş. Foto: Ingo ArendLinks: Verlorene Sprachvielfalt: EVA BEIERHEIMER UND MIRIAM LAUSEGGERSShadow Spek You too im Mahal ArtCenter in Canakkale. Foto: Canakkale-Biennale

316-321 - 4. Canakkale-Biennale 2014, Türkei_Layout 1 13.11.2014 13:14 Seite 317

mit pathetischen Monumenten. Je-der Regenguss spült neue, unent-deckte Massengräber frei. Im „Ju-biläums“jahr des 1. Weltkrieges,kurz vor der 100. Wiederkehr derlegendären Schlacht, bei der dieOsmanen unter Mustafa Kemalden Durchbruch der Alliierten ver-hinderten, lag es nahe, dass Kura-torin Beral Madra, die 4. Canakka-le-Biennale dem Thema Kriegwidmete. Dreißig Kilometer süd-lich von Canakkale liegt auch dasantike Troja.

So geschichtspessimistisch wiedas Motto der Doyenne der türki-schen Kunstszene auch klingenmag, kommt die kleine Schau dannaber doch nicht daher . Natürlichfindet sich auch eine Arbeit wie dievon A LADDIN GARUNOV. Auf ei-nem großen Keilrahmen hat derrussische Künstler Fotomaterialaus dem 1. Weltkrieg montiert. Da-rüber schwebt ein rostiges, rundesSägeblatt – Symbol der mörderi-schen Gewalt, die sich im Krieg indas Leben aller Menschen frisst –bis heute. AYŞE ERKMEN hat Kano-nenkugeln mittels einer, in Canak-kale beheimateten, Keramiktech-nik herstellen lassen – ein Akt der

Das Trojanische Pferd aus dem Hollywood-Blockbuster "T roja" (2004) an derHafenpromenade von Canakkale. Foto: Ingo Arend

Konversion der Mittel des Kriegesvom Militärisch-funktionalen zumKünstlerisch-nichtfunktionalen.

Oder man findet eine etwas pa-thetische Arbeit wie die der türki-schen Künstlerin PINAR ÖGRENCI.„For Antiheros“ heißt ihre jüngsteArbeit, bei der sie in einem altar-ähnlich aufgebauten Regal Fotosvon Künstlern rund um das Mittel-meer aufgestellt und ihnen zu Fü-ßen Feigen gelegt hat. In dem lan-

ge Zeit verbotenen Buch des grie-chischen Autors S tratis Myrivilisverbirgt sich ein Deserteur in ei-nem Erdloch. Als ihn die Polizeiaufspürt, vergleicht er sich mit demmännlichen Feigenbaum, dessenFrüchte unreif, nicht essbar zur Er-de fallen – Sinnbilder des Antihel-den eben.

Als Gegenentwurf zu dieser Artemotionaler Kriegsablehnung lie-ße sich die Arbeit ERSAN DEVECIS

316-321 - 4. Canakkale-Biennale 2014, Türkei_Layout 1 13.11.2014 13:14 Seite 318

Canakkale i st e ine k litzekleineBiennale, f ernab d er g lobalenKunstwelt. Doch in einer Zeit derimmer geölter funktionierendenBiennale-Maschinen, der Kunst-Brands von Venedig bis Sharjah istsie vielleicht ein Biennale-Modellder Zukunft. So wie hier eine klei-ne Truppe enthusiastischer Frei-williger v or O rt m it g erade m al250.000 Euro städtischen Geldern(zum Vergleich: Berlin-Biennale:2,5 Millionen Euro) seit 2008 einstaunenswertes Projekt stemmt.

Die nichtkommerzielle „Canak-kale Biennial Initiative“ (Cabinin)wird von einer Biennale der Kin-der, einer Biennale der Jugend, ei-ner F rauen-Initiative „ We a re i nBiennial“ u nd e iner „ UnhinderedBiennale“ getragen, die Menschenmit sozialen und körperlichen Bar-rieren d en Z ugang z ur K unst e r-möglichen w ill. „ Wir w ollen d iezeitgenössische Kunst wirklich inden Alltag der Menschen bringen“,erklärt C abinin-Leiter S eyhan

Es geht auch ohne Kunsthalle: Eingang zur 4. Canakkale-Biennale im Doğtaş-Supermarkt in Canakkale. Foto: Ingo Arend

Ensemble. links neben AYŞE ERKMENS Ar-beit rounded die Fotoserie NSK Gar da derslowenischen Künstlergruppe IRWIN, Fotos,1998-fortlaufend. In der Bildmitte ASTRIDWALSHS Videoprojektion Exit, V ideo, 2013.Foto: Canakkale-Biennale

heranziehen. Der türkische Künst-ler hat Kriegsgerät wie ein Cock-pit, eine Mine oder eine Raketen-rampe in Spritztechnik auf Alumi-nium übertragen. Genau so, wie sieauch in Computerspielen oder inder Werbung auftauchen. Wo keinSchmutz oder Blut an diesen Uten-silien des Tötens klebt, sondern wosie zu makellosen Fetischen derSpielleidenschaft oder heroischerFantasien mutieren.

Ritueller A ntimilitarismus mitästhetischen Mitteln liegt der72jährigen BERAL MADRA, die inIstanbul das BM-ContemporaryArt Center leitet, fern. Devecis Ar-beit zielt genau auf das, worauf dieKuratorin hinau swollte. Heraus-zuarbeiten, wie Bilder in und mitden elektronischen und digitalenMedien den Krieg tief in unsere vi-suelle Gegenwart und die Köpfeder Menschen einschreiben.

319

BIENN

ALENIN

GO

AREN

D: 4. C

ANAKKALE-BIEN

NALE 2014: N

UR

DIE TO

TEN

316-321 - 4. Canakkale-Biennale 2014, Türkei_Layout 1 13.11.2014 13:14 Seite 319

Boztepe, ein Universitätsdozentaus Canakkale, das gemeinsameAnliegen.

Gerade einmal 37 Arbeiten zähltMadras Schau. Unter denen sichArbeiten von internationalen Starswie dem schottischen KünstlerDOUGLAS GORDON, der Deutsch-türkin AYŞE ERKMEN oder dem Al-baner A NRI SALA genauso findenwie solche des jungen KünstlersERDALSEZER aus Canakkale. Er be-nutzt die traditionelle Miniaturma-lerei für eine Art alternative Ge-schichtschreibung. Auf drei, wieParavents aufgestellten. Leinwän-den finden sich Szenen wie die desStaatsstreichs von 1980 in der Tür-kei, des Grubenunglücks in Soma

und von dem Massaker an den Ale-viten in der türkischen S tadt Der-sim im August 1938.

Moderner dagegen die Ge-schichtslektion des deutschenKünstlers VIRON EROLVERT in sei-nem Werk „Crossdresser“. Er erin-nert an die deutsch-türkische Waf-fenbruderschaft im 1. Weltkrieg,indem er ein Ölporträt des Deut-schen Kaisers Wilhelm II. von MaxFleck (das Bild hängt noch heuteim deutschen Generalkonsulat inIstanbul) über mehrere S tufen di-gitaler Bearbeitung in eine Foto-grafie überführt.

Zu sehen ist die Biennale an un-spektakulären Orten: In den dreileer stehenden Etagen eines Super-

marktes in der Innenstadt von Ca-nakkale, in einem vor allem von Ju-gendlichen besuchten Cafèhaus inder Altstadt und einer kleinen Bi-bliothek. Sie beweist, dass manauch mit bescheidenen Mitteln einHöchstmaß an Qualität und kriti-scher Reflexion leisten kann.

„Shadow Speak You Too“ heißteine Arbeit d es ö sterreichischenKünstlerinnenpaares E VA BEIER-HEIMER UND MIRIAM LAUSEGGER.Sie haben einen Text des 2007 er-mordeten, armenischen Journalis-ten Hrant Dink über die verloreneSprachvielfalt von Canakkale desJahres 1915 in eine Lichtinstallati-on übersetzt. Wer den abgedunkel-ten Raum in Canakkales Mahal Art

Attribute des Krieges. Von links nach rechts: ANTONIO RIELLOS Arbeit Elegant War, Tinte, Bleistift auf Papier, 2014. In der Bildmitte: ERSANDEVECIS, Cockpit, Spritztechnik auf Aluminium, 2011-2012. Rechts: BASHIR BORLAKOVS Fotoarbeit Past is in the futur e, 2008. Foto:Canakkale-Biennale

VIRON EROL VERTS vierteilige Arbeit Crossdresser, Digitaldruck auf Leinwand, 2014. Foto: Canakkale-Biennale.

316-321 - 4. Canakkale-Biennale 2014, Türkei_Layout 1 13.11.2014 13:14 Seite 320

Center betritt, dem schreiben sichTexte von Autoren der Sprachen,die damals in der Stadt gesprochenwurden, quasi auf den Körper: Sol-che von Hannah Arendt, Al-Arabioder Ossip Mandelstam.

Der libanesische Künstler NIGOLBEZJIAN zielt mit seiner Arbeit insHerz der türkischen Geschichtsde-batte. In einer Installation hat erPorträtfotos der tot geschwiege-nen, armenischen Soldaten aufge-hängt, die in der ottomanischen Ar-mee vor Gallipoli kämpften. In ei-nem Video läuft einer dieserKämpfer in historischer Uniformdurch das Canakkale von heute undversucht, mit den Bewohnern insGespräch zu kommen. Doch selbstselbst im liberalen Canakkale war

Bezijans Arbeit wenige Tage nachder Eröffnung vandalisiert.

Auch die türkische KünstlerinGÜLÇIN AKSOY setzt sich kritischmit den türkischen Selbst- und Ge-schichtsbildern auseinander. „TheRoad to Salvation“ hat sie ihre Ar-beit aus dem Jahr 2014 genannt.Auf Fotos steht die Künstlerin indem türkischen Seeort Samsun amSchwarzen Meer neben Statuen desRepublikgründers Atatürk im Ha-fen der Stadt. Die Landung des da-mals noch osmanischen Generalsin Samsun im Mai 1919 gilt als Auf-takt des Befreiungskampfes gegendie Besetzung und Teilung der Tür-kei im 1. Weltkrieg. Indem sie sichselbst, als Frau, in dem mythischenOrt platziert, hinterfragt sie die vor-

herrschenden Narrative der Ge-schichtsschreibung und der Macht.

„Plattform der Demokratie“nennt Seyhan Boztepe die Bienna-le angesichts solcher Arbeiten undder Reaktionen darauf dennoch zuRecht. Kritische Ausstellungenwie diese werden, gerade in der tür-kischen Provinz, umso wichtigerbei der Verteidigung der Mei-nungs- und Kunstfreiheit, je engerdie AKP-Regierung in Ankara dieFesseln ihrer Islamisierungspolitikzieht. Den man als eine Art vonKrieg gegen die eigene Bevölke-rung sehen kann.

4. Canakkale-Biennale 2014, Türkei27.9.2014 – 2.11.2014

www.canakkalebienali.com/tr

Installationsansicht 4. Canakkale-Biennale. Links: GRIGOR KHATCHATRYAN, Armenian Dreams, Tisch, Badewanne, Video, 2014. Mitte:MURAT GÖK, Low approach, Video, 2014. Rechts: ERDAL SEZER, For sale by owner, For sublease, Mischtechnik auf Leinwand, 2014.

Installationsansicht 4. Canakkale-Biennale: Links: PINAR ÖĞRENCI, The Antihero’s desire for death. Installation: Fotografie, Feigen, Erde, Glas,2014. Rechts: TUNCA SUBAŞI, Ohne Titel, Acryl auf Leinwand, 2011.

321

BIENN

ALENIN

GO

AREN

D: 4. C

ANAKKALE-BIEN

NALE 2014: N

UR

DIE TO

TEN

316-321 - 4. Canakkale-Biennale 2014, Türkei_Layout 1 13.11.2014 13:14 Seite 321