Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte”, 62, 1, 2010, p. 52-76

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© Koninklijke Brill NV, Leiden ZRGG 62, 1 (2010) Also available online - www.brill.nl BARBARA BAERT „Wenn ich nur sein Kleid möchte anrühren“ Die Frau mit dem Blutfluss in der frühmittelalterlichen Ikonographie (Mark 5:24b-34parr) 1 Unter den biblischen wunderbaren Heilungen nimmt die Geschichte der Haemorrhoissa (der blutflüssigen Frau) (Mark 5:24b-34parr) eine be- sondere Stellung ein. Die Heilung geschieht ausnahmsweise durch die Berührung auf Initiative der Kranken selbst, in diesem Fall von einer Frau, die schon seit zwölf Jahren an Blutfluss leidet. Diese Initiative, so wird in der Exegese suggeriert, überschritt die damaligen Grenzen des Schicklichen und wurde darüber hinaus als geladen erfahren. Chris- tus fühlte, dass eine sichere Kraft von ihm wegglitt, als ob die Berüh- rung der Frau etwas aus ihm wegsog. Der Text der Synoptiker ist also in dieser Hinsicht ziemlich komplex: Es ist die Rede von einem beson- deren Bezug zwischen Berührung und Heilung, und sie betrifft eine Frau, von der der Eindruck erweckt wird, dass sie den Gesetzen nach „unrein“ ist. Darüberhinaus wird diese Episode von einer anderen wun- derbaren Erzählung umrahmt: der Erweckung von Jairus Tochter vom Tode. Seit frühchristlicher Zeit entstand um die Haemorrhoissa eine Iko- nographie. Bei der Umsetzung vom Text zum Bild kommt die eindring- liche Energie betreffend Berührung, Blick und Raum frei. Diese ikono- graphischen Kennzeichen werden zu Sensoren mit einer weitreichen- den Tragweite. Die Haemorrhoissa wird während des Mittelalters über uterinere Tabus, die mit Magie, Textilien und Steinarten verbunden sind, auch zur Trägerin von Fühlungspatronen. Dieser Beitrag beabsichtigt die Forschungsproblematik der Haemor- rhoissa im Zwischenraum von Exegese, Ikonologie und Anthropologie zu erschließen. Im ersten Abschnitt – ‚Text und Intertext‘ – gehe ich dabei näher auf die Bedeutungsschichten der synoptischen Texte ein. Im zweiten Teil – ‚Menge und Saum‘ – konfrontiere ich diese Analyse mit der Genese der Haemorroissa in der Kunst. Im dritten – ‚Heilung und Magie‘ – und vierten Teil – ‚Blut, Berührung und Raum‘ – setze Since early-Christian time, an iconography has developed around the Haemorrhoïssa which is related to the conventions of Christ’s miracles of healing. In the transition from word into image, an intense energy is released with regards to touching, the gaze and space. These iconographical characteristics become sensors of a far broader range of topics. For in the Middle Ages the Haemorrhoïssa was also the bearer of patterns of sensitivity for uterine taboos which were connected to magic, textile and types of stones. 1 Aus dem Flämischen von Katja Scheel.

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© Koninklijke Brill NV, Leiden ZRGG 62, 1 (2010)Also available online - www.brill.nl

BARBARA BAERT

„Wenn ich nur sein Kleid möchte anrühren“Die Frau mit dem Blutfluss in der frühmittelalterlichen

Ikonographie (Mark 5:24b-34parr)1

Unter den biblischen wunderbaren Heilungen nimmt die Geschichte derHaemorrhoissa (der blutflüssigen Frau) (Mark 5:24b-34parr) eine be-sondere Stellung ein. Die Heilung geschieht ausnahmsweise durch dieBerührung auf Initiative der Kranken selbst, in diesem Fall von einerFrau, die schon seit zwölf Jahren an Blutfluss leidet. Diese Initiative,so wird in der Exegese suggeriert, überschritt die damaligen Grenzendes Schicklichen und wurde darüber hinaus als geladen erfahren. Chris-tus fühlte, dass eine sichere Kraft von ihm wegglitt, als ob die Berüh-rung der Frau etwas aus ihm wegsog. Der Text der Synoptiker ist alsoin dieser Hinsicht ziemlich komplex: Es ist die Rede von einem beson-deren Bezug zwischen Berührung und Heilung, und sie betrifft eineFrau, von der der Eindruck erweckt wird, dass sie den Gesetzen nach„unrein“ ist. Darüberhinaus wird diese Episode von einer anderen wun-derbaren Erzählung umrahmt: der Erweckung von Jairus Tochter vomTode.

Seit frühchristlicher Zeit entstand um die Haemorrhoissa eine Iko-nographie. Bei der Umsetzung vom Text zum Bild kommt die eindring-liche Energie betreffend Berührung, Blick und Raum frei. Diese ikono-graphischen Kennzeichen werden zu Sensoren mit einer weitreichen-den Tragweite. Die Haemorrhoissa wird während des Mittelalters überuterinere Tabus, die mit Magie, Textilien und Steinarten verbunden sind,auch zur Trägerin von Fühlungspatronen.

Dieser Beitrag beabsichtigt die Forschungsproblematik der Haemor-rhoissa im Zwischenraum von Exegese, Ikonologie und Anthropologiezu erschließen. Im ersten Abschnitt – ‚Text und Intertext‘ – gehe ichdabei näher auf die Bedeutungsschichten der synoptischen Texte ein.Im zweiten Teil – ‚Menge und Saum‘ – konfrontiere ich diese Analysemit der Genese der Haemorroissa in der Kunst. Im dritten – ‚Heilungund Magie‘ – und vierten Teil – ‚Blut, Berührung und Raum‘ – setze

Since early-Christian time, an iconography has developed around theHaemorrhoïssa which is related to the conventions of Christ’s miracles ofhealing. In the transition from word into image, an intense energy is releasedwith regards to touching, the gaze and space. These iconographicalcharacteristics become sensors of a far broader range of topics. For in theMiddle Ages the Haemorrhoïssa was also the bearer of patterns of sensitivityfor uterine taboos which were connected to magic, textile and types of stones.

1 Aus dem Flämischen von Katja Scheel.

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ich schließlich die Ikonografie vor den Hintergrund der Heilung unddes Bluttabus.

Text und Intertext

In der neuen überarbeiteten Standardausgabe Markus 5:24b-34parr. istfolgendes zu lesen:

21Und da Jesus wieder herüberfuhr im Schiff, versammelte sich viel Volkszu ihm, und er war an dem Meer. 22Und siehe, da kam der Obersten einer vonder Schule, mit Namen Jairus; und da er ihn sah, fiel er ihm zu Füßen 23undbat ihn sehr und sprach: Meine Tochter ist in den letzten Zügen; Du wollestkommen und deine Hand auf sie legen, daß sie gesund werde und lebe. 24Under ging hin mit ihm; und es folgte ihm viel Volks nach, und sie drängten ihn.25Und da war ein Weib, das hatte den Blutgang zwölf Jahre gehabt 26und vielerlitten von vielen Ärzten und hatte all ihr Gut darob verzehrt, und half ihrnichts, sondern vielmehr ward es ärger mit ihr. 27Da die von Jesu hörte, kamsie im Volk von hintenzu und rührte sein Kleid an. 28Denn sie sprach: Wennich nur sein Kleid möchte anrühren, so würde ich gesund. 29Und alsbaldvertrocknete der Brunnen ihres Bluts; und sie fühlte es am Leibe, daß sievon ihrer Plage war gesund geworden. 30Und Jesus fühlte alsbald an sichselbst die Kraft, die von ihm ausgegangen war, und wandte sich um zumVolk und sprach: Wer hat meine Kleider angerührt? 31Und die Jünger spra-chen zu ihm: Du siehst, daß dich das Volk drängt, und sprichst: Wer hatmich angerührt? 32Und er sah sich um nach der, die das getan hatte. 33DasWeib aber fürchtete sich und zitterte (denn sie wußte, was an ihr geschehenwar), kam und fiel vor ihm nieder und sagte die ganze Wahrheit. 34Er sprachaber zu ihr; Meine Tochter, Dein Glaube hat dich gesund gemacht; gehe hinmit Frieden und sei gesund von deiner Plage!

Die Episode der Haemorrhoissa wird in folgenden synoptischen Textenerzählt: Markus 5:24-34, Lukas 8: 42-48 und Matthäus 9: 12-22.2 die

2 Die Haemorrhoïssa wurde in folgenden exegetischen und bibelhistorischen Studienbesprochen: François Bovon, L’évangile selon saint Luc (= Commentaire du NouveauTestamente, 3a), Genève, Labor et Fides 1991, S. 431-440; Mary Rose D’Angelo, Genderand Power in the Gospel of Mark. The Daughter of Jairus and the Woman with the Flowof Blood, in: John C. Cavadini (Hg.), Miracles in Jewish and Christian Antiquity.Imagining Truth (= Notre Dame Studies in Theology, 3), Notre Dame 1999, S. 83-109;Charlotte Fonrobert, The Woman with a Blood-Flow (Mark 5.24-34) Revisited. Menst-rual Laws and Jewish Culture in Christian Feminist Hermeneutics, in: Craig A. Evans/James A. Sanders (Hg.), Early Christian Interpretation of the Scriptures of Israel.Investigations and Proposals (= JSNTS, 148 – Studies in Scripture in Early Judaism andChristianity, 5), Sheffield 1997, S. 121-140; Frances Taylor Gench, Back to the Well.Women’s Encounters with Jesus in the Gospels, Louisville 2004, S. 28-55; Susan Haber,A Woman’s Touch. Feminist Encounters with the Hemorrhaging Woman in Mark 5.24-34, in: Journal for the Study of the New Testament, 26 (2003), S. 171-192; Richard A.Horsley, Hearing the Whole Story. The Politics of Plot in Mark’s Gospel, Louisville2001; Grant LeMarquand, An Issue of Relevance. A Comparative Study of the Story ofthe Bleeding Woman (Mk 5:25-34; Mt 9:20-22; Lk 8:43-48) in North Atlantic and AfricanContexts, New York 2004; Amy-Jill Levine, Discharging Responsibility. Matthean Jesus,Biblical Law and hemorrhaging Woman, in: David R. Bauer/Marc Allan Powell(Hg.),Treasure New and Old. Recent Contributions to Matthean studies, Atlanta 1996,

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Geschichte wird umschlossen von der Erweckung von Jairus Tochterund geschieht zu dem Zeitpunkt, als Jesus das Meer von Galiläa über-quert hatte und am Westufer jüdischen Boden betrat. Die Haemorrhois-sa taucht aus der Menge auf als eine namenlose Frau mit ihrem eigeneninneren Verlangen: zu gesunden von ihrem zwölf Jahre langen Blut-fluss. Und sie denkt, dass die Genesung in demselben Moment gesche-hen wird, in dem es ihr gelingt, Christi Kleidung berühren.

In den Texten ist die Spannung zwischen der ‚gestohlenen‘ Berüh-rung und der Suche nach der Identität der Frau anwesend, aber danebenauch die nach der Identität der Berührung selbst. Es gibt die Spannungzwischen der Gruppe, die berührt, und der besonderen individuellenBerührung einer Frau. Bemerkenswert ist auch der Bruch zwischen demwas flüssig ist und dem was stoppt: Ihre Fontäne des Blutes stoppt indem Augenblick, als aus Christus etwas ‚wegfließt‘. Exegeten disku-tieren heute über die Art der Heilung (Magie?), die Handlung (die Be-rührung geschieht auf Initiative der Frau); die Art der Krankheit (han-delt es sich wirklich um eine uterine Blutung?) und den möglichen anti-jüdischen Unterton dieser Episode: thematisiert Markus bewusst einjüdisches Gesetz betreffend Unreinheit?

Heilungswunder durch Christus geschehen durch Wort, Berührung,durch Wort und Berührung, durch den Gebrauch von Speichel, und siegeschehen auf Abstand oder durch Inzision3 . Die Heilung der Haemor-rhoissa gehört deutlich zu der Kategorie der Berührung: haptein, tenere,doch die Initiativnehmerin4 ist eine Ausnahme. Reimund Bieringer un-

S. 379-397; Joel Marcus, Mark 1-8. A New Translation with Introduction andCommentary, New York 2000; Helga Melzer-Keller, Jesus und die Frauen. EineVerhältnisbestimmung nach den synoptischen Überlieferungen (= Herders biblische Stu-dien, 14), Freiburg 1997; Dagmar Oppel, Heilsam erzählen – erzählend heilen. Die Hei-lung der Blutflüssigen und die Erweckung der Jairustochter in Mk 5,21-43 als Beispielmarkinischer Erzählfertigkeit (= Bonner biblische Beiträge, 102), Weinheim 1995; JudithPlaskow Antijudaism in feminist Christian Interpretation, in: Elisabeth Schüssler Fiorenza(Hg.)., Searching the Scriptures. A Feminist Introduction, New York 1993, S. 117-129;Elisabeth Schüssler Fiorenza, In Memory of Her. A Feminist Theological Reconstructionof Christian Origins, New York 1994, S. 124; Marla J. Selvidge, Woman, Cult, andMiracle Recital. A Redactional Critical Investigation on Mark 5: 24-34, London/Toron-to 1990; Marla J. Selvidge, Mark 5:25-34 and Leviticus. A reaction to Restrictive Purityregulations, in: Journal of Biblical Literature 104 (1984), S. 619-623; Thomas Söding,Glaube bei Markus. Glaube an das Evangelium, Gebetsglaube und Wunderglaube imKontext der markinischen Basileiatheologie und Christologie (= Stuttgarter BiblischeBeiträge, 12), Stuttgart 1985, 21987, S. 414-421; Elizabeth Struthers Malbon, Narrativecriticism. How does the story mean?, in: Janice Capel Anderson/Stephen D. Moore (Hg.),Mark and Method. New Approaches in Biblical Studies, Minneapolis 1992, S. 37-29;John Wilkinson, The Bible and Healing. A Medical and Theological Commentary, GrandRapids 1998; Peter Trummer, Die Blutende Frau. Wunderheilung im Neuen Testament,Freiburg/Wenen 1991, S. 15-21.

3 Wilkinson, The Bible and Healing (wie Anm. 2), S. 105.4 David Rhoads, Jesus and the Syrophoenician Woman. A narrative-critical Study,

in: Journal of the American Academy of Religion 62 (1994), S. 343-375, wird durcheinige Autoren als eine gleichartige Initiative gesehen, doch hier wirft die griechischeFrau sich ihm zu Füßen, um die Heilung ihrer Tochter zu fordern (Mk. 7,24-30).

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tersuchte die syntaktische Bedeutung und die Frequenz dieser Wörterim Alten und Neuen Testament. Das griechische haptein ist das meistallgemeine Wort für ‚berühren‘, aber es kann auch ‚sich nähern‘, ‚mitjemand in Kontakt kommen‘ oder ‚jemanden emotionell berühren‘ (inpositivem wie negativem Sinn) bedeuten. Vergleichende Forschungenzur Frequenz und der Bedeutung von haptein in verschiedenen Kontex-ten haben eine kultische Bedeutung (Ex 29,37) und ein Berührungs-tabu (Leviticus und Zahlen) zwischen Menschen, Gegenständen undLeichen ans Licht gebracht.5

Pieter J. Lalleman sieht in den Heilungen durch Berührung ein typischjüdisch-christliches Phänomen6. Griechisch-römische Praktiken machenGebrauch von Therapie, Opfern und dergleichen.7 Markus und Lukasführen aus, dass Ärzte der Frau nicht helfen konnten. Die Christus-Hei-lung ist dagegen etwas Plötzliches, ein momentum ohne begleitendeMittel, und sie ist auch nicht Teil eines Prozesses oder einer Therapie.Sie verbindet stattdessen auf einzigartige Weise die Berührung –haptomai – mit der Möglichkeit der Heilung.8 In der Episode von Chris-tus passiert allerdings noch etwas mehr. Es ist die Rede von einer Kraft(dynamis; virtus), die wegfließt, und dies hat Christus offensichtlichnicht in seiner Macht.9 Nach Donald Howard Bromley und John M.Hull10 beinhaltet diese Episode bei Markus und Lukas aus diesem GrundeSpuren von Magie. „This was no accidental brush with a stranger; itwas a risky endeavour to make physical contact with the person of Jesus,if even his garment“.11 Der Verfasser wendet eine Definition von Ma-gie an, die auf den Begriffen des Prozesses, der Zielsetzung und derZielgruppe beruht. Dieser Definition werde auch ich im Verlauf diesesArtikels folgen. Die Magie ist mechanisch und erfordert eine Praxis(wohingegen die Verehrung lediglich eine Attitüde erfordert); die Ma-gie zielt im Gegensatz zur Frömmigkeit auf die Manipulation von Na-

5 Reimund Bieringer, „Nader Mij niet“: De betekenis van mê mou haptou in Johannes20:17, in: HTS Teologiese Studies/Theological Studies 61 (2005), S. 19-43.

6 Pieter J. Lalleman, Healing by a Mere Touch as a Christian Concept, in: TyndaleBulletin 48 (1997), S. 335-361. Siehe auch: R. Grob, Berü

hren, in: Lothar Coenen (Hg.), Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament,Wuppertal 1967, S. 85-86.

7 Wendy Cotter, Miracles in Greco-Roman Antiquity. A Sourcebook, London 1999,S. 246.

8 Dies steht in Kontrast zu: Fonrobert, The Woman with a Blood-Flow (wie Anm. 2),S. 127: „healing by touch is also a common element in hellenistic healing stories“.

9 Howard C. Kee, Medicine, Miracle and Magic in New Testament Times, Cambridge1984, S. 2-4; Cotter, Miracles in Greco-Roman Antiquity (wie Anm. 7), S. 246; HowardClark Kee, Miracle in the early Christian World. A Study in Sociohistorical Method,New Haven 1983, S. 162-63.

10 Donald H. Bromley, The Healing of the Hemorrhaging Woman. Miracle or Magic,in: Journal of Biblical Studies 5/1 (2005) 1-20, S. 10; John M. Hull, Hellenistic Magicand the Synoptic Tradition (= Studies in Biblical Theology. Second Series, 28),Napperville 1974, S. 136, als performative Handlung zur Relevation des Messias.

11 Bromley, The Healing of the Hemorrhaging Woman (wie Anm. 10), S. 6.

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tur oder Körper ab; und die Magie ist eher auf ein Individuum denn aufeine religiöse Gemeinschaft bezogen. Infolge dieser Unterschiede istdie Grenze zwischen Magie, Genesungs- und Heilungspraxis sehrschmal. Die weitere Definition von Magie umfasst auch den Begriffder Dynamij.

Die wörtliche Bedeutung von Dynamij ist ‚in der Lage sein‘. NachHippokrates (460-377 v. Chr.) bedeutet es schlichtweg die Kapazitätvon Affekten. Dynamij ist eine Kraft, die unabhängig von Christus hinund zurückspringt durch die Berührung und durch Textilien hindurch.Dynamij wird normalerweise nicht gebraucht in Episoden, die auf einWunder gerichtet sind. Das Wort kommt nicht aus der biblischen Tra-dition, sondern wurde aus einem universellen Kosmischen heraus Kon-zept eingeführt: „a place in his theory of the relationships betweenrepresentatives of the spiritual world and mankind“.12

Demgegenüber steht, dass die Evangelisten Markus und Lukas diesemagische Interpretation zugleich auch entkräften. Am Schluss der Epi-sode wird nämlich die Heilung erklärt auf Basis des Glaubens der Frau.Jesus nennt die Haemorrhoissa auch ‚Tochter‘, was eine persönlicheVerbindung nahe legt und womit die Intertextualität mit der Tochterdes Jairus suggeriert wird. Einige Exegeten interpretieren die Mühe,die Jesus sich macht, um die kranke Frau in der Menge aufzuspüren,und die damit verbundene Zeitverzögerung als ein Zeichen, dass er dieHaemorrhoissa persönlich überzeugen will, dass etwas passiert ist, wasihren Aberglauben übersteigt.13 Andere Exegeten betonen, dass diedynamis zwar beschrieben wurde als etwas, worüber Christus keineKontrolle hatte, das aber andererseits erst auf den Glauben der Hae-morrhoissa hin reagiert.14 Es geht hier nicht um eine magische Technikwie bei Simon Magus (Apg. 8:18-24), sondern um eine Handlung zurRelevation des Messias.15 Marla J. Selvidge weist darauf hin, dass dieFrau geheilt werden will im Sinne des Begriffes sotesomai: Sie willgerettet werden in physischer und spiritueller Hinsicht (Mk. 5:30: salvaero).16 Die Heilung durch die Berührung des Mantels vollzieht sichallerdings lediglich auf physischem Niveau: sensit corpore quod sanataesset a plaga (31). Im weiteren Verlauf des Textes in Vers 34 wird siein ihrer Totalität geheilt durch Christus’ Worte: filia fides tua te saluamfecit, vade in pace.17 Aus diesem Grund könnte man diese Heilung, diesich in zwei Schritten vollzieht, in der Kategorie Heilung durch ‚Be-

12 Hull, Hellenistic Magic and the Synoptic Tradition (wie Anm. 10), S. 87, 108.13 Christopher D. Marshall, Faith as a Theme in Mark’s Narrative (= Society for New

Testament Studies. Monograph Series, 64), Cambridge 1989, S. 106-108; Eric E. May, „For Power Went Forth from Him…“ (Luke 6:19),

in: Catholic Biblical Quarterly 14 (1952) 93-103, S. 98.14 Bromley, The Healing of the Hemorrhaging Woman (wie Anm. 10), passim.15 Ebd., S. 19.16 Selvidge, Woman, Cult, and Miracle Recita (wie Anm. 2), S. 91-92.17 Schüssler Fiorenza, In Memory of Her (wie Anm. 2), S. 124 über die Beziehung

zwischen Heil und Heilig.

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rührung und Wort‘ einordnen. Dies im Gegensatz zu der MeinungWilkinsons, der in der Heilung der Haemorrhoissa eine Genesung nurdurch die Berührung allein sieht.18

Neben der Problematik von Heilung, Magie und Wunder herrschtbei der Forschung über die Haemorrhoissa eine gewisse Polemik überdie Art ihrer Krankheit. In der jüngeren Forschung ist man sich einigdarüber, dass es sich bei den Blutungen der Haemorrhoissa tatsächlichum uterine Blutungen handelt.19 Es heißt wörtlich: „eine Frau in einemBlutstrom“ (mulier quae erat in profluvio sanguinis annis duodecim,Mk5:25). Die Evangelisten scheinen zu beschämt um den Ort der Blu-tungen anzudeuten. Doch weist Markus 5:29 weiter im Text auf dieQuelle ihres Blutes; fons sanguinis eius (siccatus est) aus Leviticus 12:7;15: 19-33 und 20:18 wo die zabâ, die Menstruierende besprochen wird.20

Die zabâ ist die kränklich menstruierende Frau, die isoliert lebt. BeiLeviticus werden Keuschheitsregeln auferlegt für die Person, die diezabâ berührt.21 Leviticus sagt allerdings nichts über die zabâ, die selbstberührt. Erst in der späteren Mischna wird die berührende zabâ selbstauch als Übertragerin der Unreinheit angesehen.22 Doch wird Menstru-

18 Siehe auch: Hendrik van der Loos, The Miracles of Jesus (= Novum TestamentumSupplementum, 9), Leiden 1965, S. 510.

19 Eine ausgewogene Position diesbetreffend findet man bei Marcus, Mark 1-8 (wieAnm. 2), S. 357 und Archibald T. Robertson/Wesley J. Perschbacher, Word Pictures ofthe New Testament, Bd. 1. Matthew and Mark, Grand Rapids 2004, passim.

20 Dies ist übrigens das wichtigste Argument für Marla Selvidge im Rahmen desAnti-Judaismus.

21 Fonrobert, The Woman with a Blood-Flow (wie Anm. 2), S. 130: Über zabâ (zvaha)und Leviticus: Jemanden berühren oder selbst berührt werden durch den Menstruantenist ein wichtiger Unterschied. „The menstruant woman does transfer impurity by beingtouched (= Lev 15: 19). However, Leviticus does not mention that she communicatedimpurity by touching. Her hand in fact does not transmit impurity“. Die Zvaha darf nichtindirekt berührt werden (linen, etc.: Lev 15: 27). Die Mishna ist strenger über die zvaha:„He who touches a zav, or he whom a zav touches, transfers a status of impurity to food,drink and vessels can be purified by immersion“, Ebd., S. 131.

22 Auf die Menstruation und die Frau kommen wir später noch zurück; siehe hierbereits: Shaye J. D. Cohen, Menstruants and the Sacred in Judaism and Christianity, in:Sarah B. Pomeroy (Hg.), Women’s History and Ancient History, Chapel Hill, 1991, S.278 f.; Charles T. Wood, The Doctor’s Dilemma. Sin, Salvation, and the Menstrual Cyclein Medieval Thought, in: Speculum 56 (1981), S. 710-727; H. Lemay, Women and theLiterature of Obstetrics and Gynecology, in: Joel T. Rosenthal (Hg.), Medieval Womenand Medieval History, Athen 1990, S. 189-209; Caroline W. Bynum, Wonderful Blood.Theology and Practice in Late Medieval Northern Germany and Beyond, Philadelphia2007; David Biale, Blood and belief. The Circulation of a Symbol between Jews andChristians, Berkeley 2007; Charlotte E. Fonrobert, Menstrual Purity. Rabbinic and Christi-an Reconstructions of Biblical Gender, Stanford 2000; Peggy McCracken, The Curse ofEve, The Wound of the Hero. Blood, Gender and Medieval Literature (= The MiddleAges Series), Philadelphia 2003; Joan R. Branham, Frauen und blutige Räume. Menst-ruation und Eucharistie in Spätantike und Mittelalter, in: Vorträge Warburg-Haus 3(1999), S. 129-161; Thomas Buckley/Alma Gottlieb, Blood Magic. The Anthropologyof Menstruation, Berkeley, 1988; Richard Whitekettle, Levitical Thought and the FemaleReproductive Cycle. Wombs, Wellsprings, and the Primeval World, in: Vetus Testament-um 46 (1996), S. 376-391.

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ationsblut im Judentum zweifellos als unrein angesehen; die menstruie-rende Frau durfte den Tempel nicht betreten.23 Wie dem auch sei, dieKrankheit der Haemorrhoissa wurde auch zur Zeit der Synoptiker alsetwas angesehen, das in der Lage war, Christus die dynamis zu entzie-hen, wie schwierig es auch ist, den Begriff dynamis zu deuten.

Die exegetische Literatur weist auf wichtige Punkte im Text hin undes wird deutlich, welche Hintergründe aus historischer Sicht von Be-deutung waren, wie etwa das Tabu in Bezug auf Menstruation und dieArt der Berührung. Diese Punkte und Hintergründe sind auch relevantfür die Semantik des Bildes und die ikonographische Tradition um dieHaemorrhoissa.

Menge und Saum. Narrativer und ikonischer Raum

In der Katakombe von Petrus und Marcellinus (Rom, ca. 340) wird eineBegegnung von Haemorrhoissa und Jesus in genau diesem punctumdargestellt (Abb. 1).24 Die Frau kniet auf einem Knie vor Christus. Sein

23 Biale, Blood and belief (wie Anm. 22), S. 104-106.24 Thomas F. Mathews The Clash of Gods. A Reinterpretation of Early Christian Art,

Princeton, 1993, S. 63ff; Johannes G. Deckers/Hans R. Seeliger/Gabriel Mietke, DieKatacombe „Santi Marcellino e Pietro“. Repertorium der Malereien, Vatikanstadt/Münster1987.

Abb. 1: Christus und die Haemorrhoissa, Wand-malerei in der Katakombe von SS Petrus undMarcellinus, 3. Jahrhundert.- Rom

Körper verrät, dass er sich gera-de umgedreht hat (conversus adturbam: Mk.5:30). Die Mengeselbst wird nicht abgebildet. DieSzene spielt sich gänzlich in derIntimität zwischen den beidenPersonen ab. Möglicherweisehatte der Künstler den die Epi-sode abschließenden Momentvor Augen: „Dein Glaube hatDich geheilt, geh in Frieden(34)“. Dies könnte auch Christiausgestreckte Hand erklären so-wie die Tatsache, dass sie mitIhm Blickkontakt hält. Anderer-seits sehen wir auch, wie dieHaemorrhoissa die Hand aus-streckt, um den Saum von Chris-tus Gewand zu berühren (33:procidit ante eum). Die weisen-de Hand von Christus und dieberührende Hand der Frau befin-den sich auf ein und derselbenvertikalen Achse. Wir könnten

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hier eventuell eine Momentaufnahme unterstellen von dem kurzen Au-genblick der Heilung (confestim, 29) verwoben mit dem anderen Au-genblick der Erkennung bei Jesus (statim iesus cognoscens, 30).

Auf der Wandmalerei greift die Haemorrhoissa zwar nicht nach demMantel, aber es finden andere – ambivalente – Berührungen statt: Dielinken Hände der dargestellten Personen bleiben mit der eigenen Klei-dung in Kontakt. Die Haemorrhoissa berührt ihren Schleier, Christushält seinen Mantel auf der Höhe seiner Mitte zusammen. Die Händeweisen auf die Intimität zwischen Kleidung und Körper. Der Saum, diepikturale Kontur, formt die Grenze zwischen den Körpern, doch in derEpisode mit der Haemorrhoissa wird diese Grenze überschritten.

Die Haemorrhoissa verbreitet sich als frühchristliches Phänomen auchüber andere Äußerungen der materiellen Kultur, wie zum Beispiel Sarko-phage und Reliquiare.25 Im Folgenden werden wir untersuchen ob Konven-tionen in der Ikonographie zum Vorschein kommen und ob unterschiedlicheInteraktionen mit der primären Quelle der Synoptiker zu unterscheiden sind.

25 Claudia Nauerth, Heilungswunder in der frühchristlichen Kunst, in Spätantike undfrühes Christentum, in: Herbert Beck/Peter C. Bol (Hg.), Spätantike und frühes Chris-tentum, Frankfurt am Main, Liebieghaus Museum alter Plastik, 1983, S. 339-446;Mathews, The Clash of Gods (wie Anm. 24), S. 54-65; Gertrud Schiller, Iconography ofChristian Art, Bd 1. Christ’s Incarnation, Childhood, Baptism, Temptation, Transfigura-tion, Works and Miracles, London 1971; Andre Grabar, Christian Iconography. A Studyof Its Origins, Princeton 1968; Jas Elsner, Art and the Roman Viewer. The Transforma-tion of Art from the pagan World to Christianity, Cambridge 1995; Kurt Weitzmann,The Late Roman World, in: The Metropolitan Museum of Art Bulletin. New Series 35(1977), S. 2-96; Robin M. Jensen, Understanding Early Christian Art, London/New York2000.

Abb. 2: Christus und die Haemorrhois-sa, Detail von dem sogenannten„Baum-Sarkophag“, Gaul, ca. 350-360,Steinrelief.- Arles, Musée Lapidaired’Art Chrétien

Auf dem sogenannten Bromensarko-phag van Arles (ca. 360) ist die Hae-morrhoissa zu sehen, wie sie auf einKnie gestützt zu Füßen Christi kauertund mit beiden Händen ein Stück desSaumes festhält (Abb. 2). Christus be-rührt ihren Kopf. Diese gezeigte Berüh-rung ist nicht aus der primären Text-quelle entnommen worden. Auf derBildebene entsteht eine taktile Verbin-dung zwischen Kopf und Saum, zwi-schen einer gestohlenen Berührung amunteren Ende des Körpers und einer ge-schenkten Berührung am oberen Ende,dem Kopf. Die Berührung durch Chris-tus war offensichtlich notwendig, umdie tatsächliche Heilung vom Bild ab-lesen zu können. Die eigentliche Hand-lung des Wunders wird auf diese Weiseauch in die Hände Christi gelegt und

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vollzieht sich nicht durchdie Berührung des Saumesdurch die Frau.26 Auf der Ab-bildung auf diesem Sarko-phag stellt Christus auchkeinen Blickkontakt mit derFrau her; er sieht stattdessennach Petrus, so verweisendauf den Moment, da er suchtund noch nicht findet.27 DasSich-von-hinten-Nähern istder damalige visuelle Toposdes Ausgestoßenen.28

Auf der elfenbeinernenLipsanotheke aus Bresciaaus dem 4. Jahrhundert istdeutlich zu sehen, wie diekniende Haemorrhoissa denSaum festhält (Abb. 3).Christus segnet sie, ohne sie

dabei zu berühren und schaut sie auch nicht an. Im Gegensatz zu denAugen der Frau schauen seine Augen suchend anderswohin.29 Inner-halb der begrenzten Tektonik der Platten der Sarkophage oder der Reli-quiare sind die verschiedenen Zeiteinheiten der Episode ineinandergewoben.

Auf der Miniatur im Evangeliar Ottos III. (Reichenau, 998-1000),auf der die Erweckung der Tochter des Jairus zu sehen ist, ist die Hae-morrhoissa fast nicht sichtbar (Abb. 4).30 Verdrängt in die äußerst linke

Abb. 3: Christus und die Haemorrhoissa, Detail vonder Lipsanothek von Brescia, ca 360-370, Elfenbein-relief .- Brescia, Museo Civico

26 Die Bildinterpretation der frühchristlichen Kunst entspricht hier in hermeneutischerHinsicht der heutigen Interpretation der Exegeten; David Knipp, Christus medicus in derfrüchristlichen Sarkophagskulptur: ikonographische Studien der Sepulkralkunst des spä-ten vierten Jahrhunderts, Leiden 1998.

27 Nauerth, Heilungswunder in der frühchristlichen Kunst, in Spätantike und frühesChristentum (wie Anm.25), Abb. 157 zeigt eine gleichartige Ikonographie auf einem zeit-genössischen, römischen Sarkophag.

28 Ruth Mellinkoff, Outcasts. Signs of Otherness in Northern European Art of the LateMiddle Ages, Bd. 1, Berkeley 1993, S. 220-222, behandelt die Rückenperspektive in derIkonographie als Zeichen der Verstoßung aus der Gesellschaft, vor allem am Fall MariaMagdalenas. Siehe auch meinen Artikel: Noli me tangere. Narrative and iconic space, in:Annette Hoffmann/Gerhard Wolf (Hg.), Jerusalem as Narrative Space, Florenz 2009 (imDruck).29 Carolyn J. Watson, The Program of the Brescia Casket, in: Gesta 20 (1981), S.283-298, mit Bibliographie.

30 Reichenau, Ende 10. Jahhundert, München, Bayerischen Staatsbibliothek, Cod. Lat.Cim 58, fol. 44; Albert Boeckler, Ikonographische Studien zu den Wunderszenen der Ot-tonischen Malerei des Reichenau, München 1961, S. 9 und Abb. 10-14; Fridolin Dressler/Florentine Mütherich (Hg.), Das Evangeliar Otto III Clm 4453 der bayerischen Staats-bibliothek München, Munich/Prestel 1978; Kerstin Schulmeyer, Evangeliar Otto’s III, in:Alfried Wieczorek/Hans M. Hinz (Hg.), Europas Mitte um 1000 (= Europaratsausstellung,27 – Council of Europe Art Exhibition, 27), Bd. 1., Stuttgart 2000, S. 456-457.

61Die Frau mit dem Blutfluss in der mittelalterlichen Ikonographie

untere Ecke, ein Außenseiter inner-halb Abbildung selbst, tippt sie vor-sichtig mit einem Finger an denSaum. Eingeschoben in die Szene derErweckung erscheint sie hier in je-der Hinsicht als ein marginales Mo-tiv. Christus beschäftigt sich mit demanderen Wunder, doch dreht er sichzugleich auch zu Petrus um, waswiederum auf das Element derGewahrwerdung verweist. Ich kennekein anderes Beispiel, wo die Frauden Saum mit solcher Vorsicht be-rührt, außer vielleicht im CodexEgberti (Reichenau, ca. 977-993), wolediglich die Spitze des Zeigefingersdie Grenze des Mantels berührt (Abb.5).31 In diesen beiden ottonischenBeispielen ist nicht die Rede vonGreifen, Festhalten, sondern nur vomleichtesten taktilen Kontakt der phy-sisch und bildlich möglich ist.

Abb. 4: Die Heilung der Haemorrhoissaund Jaïrus’ Tochter, Miniatur aus der Gos-pel von Otto III, Reichenau, Ende 10. Jahr-hundert.- München, Bayerische Staats-bibliothek, Cod. Lat. Cim 58, fol. 44

31 Trier, Stadtbibliothek, Kodex 24, fol. 91; Hubert Schiel, Codex Egberti der Stadt-bibliothek Trier, Basel 1960; Franz J. Ronig, Erläuterungen zu den Miniaturen des EgbertCodex, in: S.D. Dornheim, u.a., Der Egbert Codex. Das Leben Jesu. Ein Höhepunkt derBuchmalerei vor 1000 Jahren, Stuttgart 2005, S. 78 ff.

32 Zum Entstehen visueller Konventionen, siehe: Jan Bremmer, Walking, Standing,and Sitting in Ancient Greek Culture, in: Jan Bremmer/Herman Roodenburg (Hg.), ACultural History of Gesture, Ithaca 1993, S. 15-35; Barbara Baert/Liesbet Kusters, TheTwilight Zone of the Noli me tangere. Contributions to the History of the motif (ca. 400-ca. 1000) in the West, in: Louvain Studies 32 (2007), S. 255-308; Moshe Barasch Giottoand the Language of Gesture, Cambridge 1987.

33 Wie zu sehen auf einem Elfenbein aus München von ca. 400 (myrrhophores) (Sie-he Theodor Müller, Kunst und Kunsthandwerk. Meisterwerke im Bayerischen National-museum, München. Festschrift zum 100-jährigen Bestehen des Museums, 1855-1955,München 1955, Kat. Nr. 3; Christoph Stiegemann/Matthias Wemhoff (Hg.), 799. Kunstund Kultur der Karolingerzeit. Karl der Grosse und Papst Leo III in Paderborn, Tl. 2,Mainz am Rhein 1999, Kat. X.2) und der sogenannte Apostel Sarkophag (Chairete) ausderselben Zeit, bekannt von einer Inschrift, siehe: Antonio Bosio, Roma Sotterranea,Rom 1651, und Paolo Aringhi, Roma subterranea novissima, Coloniae, Veneunt LutetiaParisiorium, 1659.

34 Adele Reinhartz, Why ask my Name? Anonimity and Identity in Biblical narrati-ve, Oxford 1998, S. 188.

Die Haemorrhoissa hat als namenloses Wesen eine pictorale und skulp-turale Identität bekommen.32 Die Haemorrhoissa wird oft völlig verschlei-ert dargestellt. Dies Motiv kennen wir auch von der frühchristlichenChairete beim Grab.33 Im Zusammenhang mit der Haemorrhoissa betontder Schleier ihre Anonymität, ihren Wunsch, ihr Wesen zu verbergen.34

Die subtilen Veränderungen bei den Emotionen und die Spannung des

62 BARBARA BAERT

Textes spiegeln sich in den Nuan-cen der Körpersprache in der Iko-nographie wider. Eine erste Nuan-ce ist in dem kriechenden Reichennach dem Saum zu finden. DieHaltung der Frau verweist direktauf ihre schleichende Handlung.Die Haemorrhoissa ist die Frau desheimlichen Plans, der Angst undder Isolation. Sie ist nicht die Fraudes Stolzes, sondern die der Scham,auch wenn Hoffnung ihr stärksterAntrieb ist. Eine zweite Emotionund eine Variation der Körperspra-

Abb. 5: Heilung der Haemorrhoissa, Miniaturaus dem Codex Egberti, Reichenau, 977-993.-Trier, Stadtbibliothek, ms. 24, fol. 90v.

che ist das venit et procidit (Mk. 5:33), wobei die Haemorrhoissa Chris-tus bebend zu Füßen fällt. Und ich nehme noch eine dritte Nuance wahrin der auf ein Knie gestützten Haltung, wie sie auf den Sarkophagenund in der Katakombe zu sehen ist. Da der Kniefall meistens mit demBlickkontakt verbunden ist, kann man davon ausgehen, dass hier derAusgang der Episode dargestellt werden soll: Christus bestätigt undbekräftigt ihre Heilung:35 fides tua te salvam fecit (V. 35). Zusammen-fassend kann man feststellen, dass der schleichende Körper hier die Er-wartung und die Hoffnung ausdrückt, das Sich-Niederwerfen den Emp-fang der Heilung und das Knien die Anerkennung des Glaubens.

Im Folgenden beschäftigt uns die Frage nach der Verankerung derHaemorrhoissa im frühchristlichen Gedankengut. Wie ist ihre Populari-tät auf Sarkophagen zu verstehen und gibt es Andeutungen für eine be-stimmte Perzeption von dieser Frau im 4. und 5. Jahrhundert, zum Bei-spiel in zeitgenössischen Quellen und Kommentaren von Gelehrten?

Heilung und Magie

In frühchristlicher Zeit stellten die Wunder Christus’ die größte Grup-pe der evangelischen Themen dar. In seinem Buch „The Clash of Gods.A Reinterpretation of Early Christian Art“ erklärt Thomas MathewsChristi Heilungswunder mit der noch ambivalenten Sicht auf den Hei-

35 Angesichts der manchmal doppeldeutigen Körperhaltung, wurde die Haemorrhoissain der Sekundärliteratur mit dem Noli me tangere verwechselt, wie etwa auf der Wandma-lerei in der Katakombe, der Relikienschachtel von Brescia und der sogenannten Capsa vonBrivio (letztere in Galit Noga-Banai: The Trophies of the Martyrs. An Art Historical Studyof Early Christian Silver Reliquaries, Oxford 2008, S. 38-61, Abb. 3.). In diesen drei Fäl-len sind die Jünger tatsächlich nicht zugegen. Die kniende Haltung der Frau in RichtungRand (und die weisende Geste von Christus) kann man einerseits als taktile Gebärde lesen(vgl. den Chairete), und andererseits auch als abweisende Geste – Noli me tangere. Auchder gedrehte Torso von Christus kann verwechselt werden mit dem weggedrehten Torsovon Christus im Noli me tangere. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass ein selbständigesikonographisches Motiv um das Noli me tangere erst ab der karolingischen Zeit entstand.

63Die Frau mit dem Blutfluss in der mittelalterlichen Ikonographie

land.36 Der Autor verteidigt eine Interpretation der Wunder als Äuße-rung des von Magie durchdrungenen Kultur. Die qualitative und quan-titative ikonographische Beschäftigung mit Heilungswundern kann alsein kräftiges Gegenargument gegen die antiken Traditionen betrachtetwerden. Nicht Äskulap, nicht der Zauberer-Gott zählt, sondern der SohnGottes, der mit einem einzigen Wort, mit einer einzigen Berührung,kraft des Monotheismus heilt. Der apologetische Charakter der Sarko-phag-Programme äußert sich demzufolge in Christus der als der „wah-re“ Magier dargestellt wird. Dies macht die Ikonographie doppelsin-nig; sie manövriert zwischen antiken Konventionen aus dem Bereichder Magie und den neuen christlichen Symbolen.

Die häufige Anwesenheit der Haemorrhoissa in der frühchristlichenIkonographie ist vielleicht Ausdruck der allgemeinen Faszination fürden Wunder tuenden Herrn an sich und gehört auf diese Weise zu einerIkonographie, die sich bei einer pragmatischen heilbringenden Inter-pretation von Christi Botschaft anschließt. Dies erklärt, dass das The-ma der Haemorrhoissa in das alltägliche Leben durchsickert. Es wurdezum Beispiel eine Haemorrhoissa-Darstellung identifiziert auf einemTextil aus dem 5. Jahrhundert, das nicht aus dem liturgischen Kontextstammt, sondern aus dem Bereich des Hauses37. Je weiter man in diematerielle Kultur der ersten Christen eindringt, desto mehr findet manselbst die Aufnahme der Haemorrhoissa in die Welt der Gemmen,Beschwörungssprüche und Wunder verrichtenden Steine und Amulet-te.38 Der Schritt von einer evangeliaren Wundererzählung, die in denklassischen Sarkophagenzyklen erscheint, hin zu der Welt der Kleino-de und des apotropaion ist bemerkenswert. Im Folgenden soll das Mus-ter hinter diesem Schritt beschrieben werden.

Alphons A. Barb vermeldet ein Amulett im Britischen Museum mitgriechischer Aufschrift aus der früh-byzantinischen Zeit, das auf dereinen Seite eine christliche Ikonographie zeigt und auf der anderen einegnostisch inspirierte (Abb. 6).39 Die erste Seite zeigt drei Register mitbiblischen Szenen und Heilungswundern, insbesondere das des Blin-den Ahnen Siloam und des Lahmen an der Piscina Probatica. In derMitte der dritten Reihe befindet sich auch die Haemorrhoissa, erkenn-bar an ihrer ausgestreckten Hand in Richtung von Jesu Saum. Die Auf-schrift bittet darum, dem Besitzer Kraft zu verleihen und seine Feindezu schwächen. Auf der gnostischen Seite ist Horus auf den Krokodilen

36 Mathews, The Clash of Gods (wie Anm. 24), S. 65-66.37 Ebd., Abb. 40, S. 60: auch hier identifiziert der Autor eine Erweckung des Lazarus

in Kombination mit der Haemorrhoissa.38 Jeffrey Spier, Late Antique and Early Christian Gems, Wiesbaden 2007; Jeffrey

Spier, Medieval Byzantine Magical Amulets and Their Tradition, in: Journal of theWarburg and Courtauld Institutes 56 (1993), S. 25-62; Robert K. Ritner, A Uterine Amuletin the Oriental Institute Collection, in: Journal of Near Institute Studies 43 (1984), S.209-221.

39 Alphons A. Barb, Three Elusive Amulets, in: Journal of the Warburg and CourtauldInstitutes 27 (1964) 1-22, S. 10; Abb. 2a-b.

64 BARBARA BAERT

zu erkennen, ein ägyptisches, magisches Bild, dessen Aufschrift Salo-mon und die Engel anruft: „Sisinnos bisinnos [sic!], verleihe der Fraukeine Kraft mehr“.

Jeffrey Spier zeigt in seinem Artikel „Medieval Byzantine MagicalAmulets and Their Tradition“ zwei weitere bemerkenswerte Amulette.Der in Silber gefasste Intaglio-Hänger aus dem New Yorker Metropolit-an Museum ist ein 5 cm hoher Hämatit, der auf der einen Seite die Hae-morrhoissa zu Christi Füßen zeigt und auf der anderen Seite Maria inOrant (Abb. 7).40 Die verderbten Aufschriften verweisen auf die Passa-

Abb. 6: Amulett mit Heilungsszenen, byzantinisch.- London, British Museum, reg. nr. 1938

Abb. 7: Amulett aus Hämatit mit der Heilung der Haemorrhoissa, Ägypten.- New York,Metropolitan Museum of Art, 17.190.491

40 Spier, Late Antique and Early Christian Gems (wie Anm. 38), S. 44, Abb. 6b, Inv.1917, 6-7d. Jahrhundert, auch abgebildet bei L. Kötzsche, Age of Spirituality. Late Antiqueand Early Christian Art, Third to Seventh Century, Kurt Weitzmann (Hg.), Princeton 1979,

65Die Frau mit dem Blutfluss in der mittelalterlichen Ikonographie

ge bei Markus. „Und da war die Frau, die hatte jahrelang den Blutflussund viel zu leiden. Und sie hatte viel aufgewendet, aber es hatte ihrnichts genutzt, sondern es wurde noch schlimmer mit ihr. Es trocknetedie Quelle ihres Blutflusses aus in dem Namen ihres Glaubens“.41 DerHämatit – ein Eisenerz – wird auch Blutstein genannt und wegen seinerroten Farbe, die schwarz oxidiert, mit der Heilung von Bluterkrankungenin Verbindung gebracht.42

Ein Amulett aus einer Privatsammlung in Klein-Asien kombiniertdie Darstellung der Haemorrhoissa – die Aufschrift lautet EMOROYC– mit dem Kopf mit sieben Schlangen auf der anderen Seite des Amu-letts (Abb. 8).43 Das Schlangenhaupt ist die Gorgona und bringt die

S. 440, und Nauerth, Heilungswunder in der frühchristlichen Kunst, in Spätantike undfrühes Christentum (wie Anm. 25), S. 560, Kat. Nr. 165. In Anmerkung 111, S. 44, er-wähnt Spier auch das Benaki Museum in Athen, wo eine grüne Chalcedon Gemme ohneAufschrift aus der Mitte der Byzantinischen Periode bewahrt wird, die die Haemorrhoïssaund die Kreuzigung zeigt. Der Hämatit ist ein Eisenerz, das nicht besonders selten ist. Daskennzeichnende dieses Steins ist sein roter Kern, der unter Bearbeitung (schleifen, polie-ren) schwarz bis silberfarben wird.

41 Frei nach ebd. Siehe auch: Margaret E. Frazer/Kurt Weitzman (Hg.), The Age ofSpirituality, New York 1977, S. 440.

42 Christel Meier, Gemma Spiritualis. Methode und Gebrauch der Edelsteinallegoresevom frühen Christentum bis ins 18. Jahrhundert, München 1977, S. 392-395.

43 Spier, Late Antique and Early Christian Gems (wie Anm. 38), S. 28, 30, 44, 56; S. 44:„the bronze token with the haemorhoïssa suggests that it had to help women in some way“.

Abb. 8. Amulet mit Haemorrhoissa und Gorgon.- Privat

66 BARBARA BAERT

Haemorrhoissa in Verbindung mit dem hysteria-Motiv der Amulette.44

Das Schlangenhaupt der Medusa ist nichts anderes als eine der Erschei-nungsformen der Gebärmutter.45 Amulette mit der Gorgona sind nachSpier keinesfalls als eine Bedrohung für die Gebärmutter zu verstehen,sondern als ihr Porträt. Das Porträt vertreibt und beschwört, genausowie der Name des Dämonen diesen vertreibt.

Auf den Amuletten die die Gebärmutter beschwören sollen, trifft manhäufig die kurze Andeutung Hysterikon phylaktyrion46 an. Viele derAufschriften sind abgeleitet von einem längeren frühbyzantinischenMutterspruch: „Gebärmutter, Schwarz; Schwärzend, wie eine Schlangezischst du, und wie ein Löwe brüllst du, und wie ein Lamm lege dichnun nieder“.47 Der Spruch fordert den Uterus, auf sich zu beruhigen, zuschrumpfen.48 Ein Spruch von einem koptischen Papyrus aus dem 6.Jahrhundert gibt ein Beispiel, wie man die Hysteria unter Kontrollehalten kann: „Lasse die Gebärmutter der so und so, die so und so gebar,sich nun entspannen, ihre natürliche Position einnehmen und nicht ent-zündet sein“.49 Eine andere mögliche Formel lautet: „setze die Gebär-mutter von so und so auf ihren richtigen Platz, der du die Sonnenschei-be aufhebst“50. Diese Sprüche wurden gebraucht für die gängigen Pro-bleme mit der Gebärmutter: Geburt, Antikonzeption, Nachgeburt, We-hen, heftige Menstruationsblutungen etc.51

Die Tatsache, dass die Haemorrhoissa Eingang fand in Exorzismus,Beschwörung und prämedizinische Auffassungen über Blutfluss, erlaubtdie Frage nach der Beziehung zwischen Haemorrhoissa, Blut, Berüh-rung und dem sakralen Raum in dem sich das Thema finden lässt.

44 Ilza Veith, Hysteria. The History of a disease, Chicago 1965.45 Marcia Pointon, Interior Portraits. Women, Physiology and the Male Artist, in:

Feminist Review 22 (1986), S. 5-22.46 Spier, Late Antique and Early Christian Gems (wie Anm. 38), wie Abb. 40 – 4d:

Silberner Ring, und auch ein Amulett aus Blei, beide aus Korinth.47 Ebd., S. 30.48 Ebd., S. 43, oftmals wird ein Oktopus-ähnliches Wesen dargestellt.49 Ebd., S. 43.50 Ebd., S. 43.51 Die Literatur über die Gebärmutter und Menstruation in der prämedizinischen Welt

ist umfangreich; Lemay, Women and the Literature of Obstetrics and Gynecology (wieAnm. 22), S. 189-209; Susan E. Cayleff, She Was Rendered Incapacitated by MenstrualDifficulties. Historical Perspectives on Perceived Intellectual and Physiological ImpairmentAmong Menstruating Women, in: Alice J. Dan/Linda L. Lewis (Hg.), Menstrual Health inWomen’s Lives, Urbana 1992, S. 229-235; Lesley Dean-Jones, Menstrual BleedingAccording to the Hippocratics and Aristotle, in: Transactions of the American PhilologicalAssociation 119 (1989), S. 177-192; Monica H. Green, Female Sexuality in the MedievalWest, in: Trends in History 4 (1990), S. 127-158; Ann E. Hanson, Hippocrates. Diseasesof Women I, in: Signs 1 (1975), S. 567-584; Maryanne C. Horowitz, Aristotle and Woman,in: Journal of the History of Biology 9 (1976) 183-213. Für einen anderen Standpunktsiehe: Johannes Morsink, Was Aristotle’s Biology Sexist?, in: Journal of the History ofBiology 12 (1979), S. 83-112; Danielle Jacquart/Claude Thomasset/Matthew Adamson(Übers.), Sexuality and Medicine in the Middle Ages, Princeton 1988; Janice Delancy/Mary J. Lupton/Emily Toth, The Curse. A Cultural History of Menstruation, New York1976 (Revidierte Ausg. Urbana, 1988).

67Die Frau mit dem Blutfluss in der mittelalterlichen Ikonographie

Blut, Berührung und Raum

Blut ist der Lebensbeginn (Lev. 17:10-14 und Deut. 12:13) und weilBlut Lebensträger ist, besitzt es die magische Kraft, Leben zu gebenund auch zu nehmen. Plinius sagt in seiner Historia naturalis, dass diemonatliche flux der Frauen nichts Ungewöhnliches ist. Er sagt auch,dass sie die eigentümliche Kraft hat, Bäume kahl werden zu lassen,Bienen zu töten und Metall wieder weich zu machen. Doch das weibli-che Blut ist nach Plinius vor allem bestimmt für die menschliche Fort-pflanzung.52

Im Kapitel „Text und Intertext“ dieses Artikels wurde bereits aufdie Probleme bei der Interpretation der Haemorrhoissa-Passage im Lichtder jüdischen und der antiken Tabuisierung der menstruierenden Frauhingewiesen. Und im Kapitel „Heilung und Magie“ wurde eine Spurerkennbar, die darauf hinwies, dass diese Figur seit der altchristlichenZeit aufgeladen wurde mit den Ängsten und der Faszination für den‚wilden Uterus‘. In diesem Teil wird erneut tiefer auf die räumlicheLiminalität der Haemorrhoissa eingegangen. Wie ist die Auswirkungund das Nachleben dieser Frau im Licht der räumlichen Grenzen, dieaus dem Bluttabu hervortreten, zu verstehen, angesichts der Tatsache,dass der christliche sakrale Raum ebenfalls ein Raum des Blutes ist:des Opferblutes? Wie hat sich die Konfrontation der beiden Blutentitäten– die erstere physisch und feminin, die zweite dogmatisch und masku-lin – in den zeitgenössischen Texten und Bildern geäußert? Und wurdedie Haemorrhoissa hier als exemplum dargestellt? In der Forschung überdie Beziehung zwischen Blut und Raum im lateinischen Westen unddem griechischen Osten tritt Joan Branham als wichtige Expertinhervor.53

In der frühchristlichen Zeit herrschte eine gewisse Spannung zwi-schen der Tabuisierung der menstruierenden Frau in jüdischen Milieusund den Reaktionen der Christen auf diese jüdischen Ideen, mit denensie konfrontiert wurden.54 Die Geschichte von Hekhalot Rabbati 18 (3.-4. Jahrhundert) ist kennzeichnend für die jüdische Obsession: Ein Rab-bi reist durch den Himmel, doch er wird auf die Erde zurückgeworfendurch einen anderen Rabbi, der ein kleines Stückchen Wolle auf seineKnie legt, welches nur leicht von einer menstruierenden Frau berührt

52 Plinius, Historia naturale, 7.15.64, Loeb, 2, S. 549.53 Joan R. Branham, Sacred Space under Erasure in Ancient Synagogues and Early

Churches, in: Art Bulletin 74 (1992), S. 375-394; dies., Blood and Sanctity at Issue, in:Res. Anthropology and Aesthetics 31 (1997), S. 53-70; dies., Frauen und blutige Räume(wie Anm. 22), S. 129-161; dies., Bloody Women and Bloody Spaces, in: Harvard DivinityBulletin (e-journal) 30/06/04; dies., Penetrating the Sacred. Breaches and Barriers in theJerusalem temple, in: Sharon E. J. Gerstel (Hg.), Thresholds of the Sacred. Architectural,Art Historical, Liturgical and Theological perspectives on religious Screens, East and West,Cambridge 2006, S. 6-24.

54 Siehe auch: Emilie Amt, Outsiders. Jewish and Heretic Women, in: Women’s Livesin Medieval Europe. A Sourcebook, New York 1993, S. 279-317; Fonrobert, MenstrualPurity (wie Anm. 22), S. 160-210: menstrual politics in early Christian literature.

68 BARBARA BAERT

worden war.55 Im Judentum ist Menstruationsblut immer unrein; es istdie Folge des Sündenfalls.56

In der Didascalia Apostolorum, einem syrischen Text aus dem drit-ten Jahrhundert versucht der Autor, neuerlich bekehrte Frauen davonabzuhalten, sich zurückzuziehen wenn sie menstruieren.

„Und auch sollt ihr eure Frauen die ihre Regel haben nicht isolieren. Dennauch sie, die den Blutfluss hatte als sie den Saum unseres Heilands berühr-te, war nicht isoliert. Sie war es selbst wert, dass ihr all ihre Sünden verge-ben wurden. Und wenn eure Ehefrauen diesen Blutfluss haben, der nurnatürlich ist, sorgt dann, dass ihr ihnen verbunden bleibt, wie es nur recht-schaffen ist, da ihr wisst, dass es eure Familienangehörigen sind“ (26, 62,5).57

Gegen die Didascalia steht Dionysius von Alexandrien (†264), ebenfallsaus dem 3. Jahrhundert. Dieser Schüler von Origines sagt:

„Was die Frauen in menstrualer Separation betrifft und ob es recht ist, dasssie in diesem Zustand Gottes Haus betreten, so denke ich, ist es unnötighierauf weiter einzugehen. Denn ich denke, dass sie, gottesfürchtig odergottlos, es nicht wagen würden, sich in solchen Umständen dem häusli-chen Tisch zu nähern, geschweige denn den Körper und das Blut von Chris-tus zu berühren“.58

Dionysius weist dabei auch deutlich auf die Frau hin, die Christus’Mantelsaum berührte:59 Der christliche Altarraum ist so sensibel fürBlutunreinheit wie der jüdische Tempelraum.60 Das Problem scheint sichbei Dionysius auf die Eucharistie (den Altar) zuzuspitzen, während derAutor der Didascalia allgemeiner spricht über Absonderung im häusli-chen Raum, was deshalb nicht notwendiger Weise auch in sakralemZusammenhang gesehen werden muss. Bei Dionysius haben wir zumin-dest eine Spur der Besorgnis gefunden, die im 3. Jahrhundert bezüglichder Kontamination der „rivalrous bloods in the same space“ bestand.61

Auch Hippolytus von Rom (ca. 170-ca. 236) sagt, dass die menstruie-rende Frau Abseits gesetzt werden soll, und er weist damit auch auf denEinfluss der Eucharistie hin als Barriere, Begrenzung des sakralen Rau-

55 Marcus, Mark 1-8 (wie Anm. 2), S . 357: Gershom G. Scholem, Jewish Gnosticism,Merkabah Mysticism and Talmudic Tradition (= Israel Goldstein Lectures, 1957), NewYork 1960, S. 10-12; Ithamar Gruenwald, Apocalyptic and Merkavah Mysticism (= Ar-beiten zur Geschichte des antiken Judentums und des Urchristentums, 14), Leiden 1980,S. 164.

56 Cohen, Menstruants and the Sacred in Judaism and Christianity (wie Anm. 22), passim;McCracken, The Curse of Eve, The Wound of the Hero (wie Anm. 22).

57 Übersetzung aus Fonrobert, The Woman with a Blood-Flow (wie Anm. 2), S. 122;Arthur Vööbus, The Didascalia Apostolorum in Syriac (= CSCO, 401-402, 407-408),Leuven 1979; R. Hugh Connolly, Didascalia Apostolorum, Oxford 1929, S. 129, S. 254.

58 Cohen, Menstruants and the Sacred in Judaism and Christianity (wie Anm. 22), S.288.

59 PG 10, col. 1281-1282.60 Branham, Penetrating the sacred (wie Anm. 53), passim.61 Branham, Bloody women (wie Anm. 22), S. 8.

69Die Frau mit dem Blutfluss in der mittelalterlichen Ikonographie

mes.62 Papst Gelasius sagt noch im 5. Jahrhundert, dass Priester sichvor menstruierenden conhospitae hüten müssen.63

Menses und sakraler Raum bleiben umstritten. Theodor von Tarsussagt dagegen im Jahre 688, dass menstruierende Frauen keineswegs dieKommunion nehmen dürfen, und fordert auch eine Wartezeit nach derGeburt.64 Jonas von Orleans erklärt in seiner De institutione laicali:Frauen betreten die Kirche nicht während der fleischlichen Unreinheit.65

Kurz, ausgehend von der paläo-christlichen Zeit wird eine Brücke nachWesteuropa geschlagen, wobei „symbolically bloody realms remaininaccessible to physically bloody women“.66

Ist es dann nicht paradox, dass die Haemorrhoissa im sakralen Raumselbst erscheint? In der Katakombe von Petrus und Marcellino (ca. 340),in San Appolinare in Ravenna (6. Jahrhundert; Abb. 9), in Reichenau

Abb. 9: Christus und die Haemorrhoissa, Mosaik, 520-526.- Ravenna, in S. Apollinare Nuovo

62 Cohen, Menstruants and the Sacred in Judaism and Christianity (wie Anm. 22), S.288; Branham, Bloody women (wie Anm. 22), S. 7; Gregory Dox, The Apostolic Traditi-on of St. Hippolytus, London, SPCK, 1968: 20,6.

63 Epistola 14; Roger Gryson, The Ministry of Women in the Early Church, Collegeville 1976, S. 53.64 Pierre J. Payer, Sex and the Penitentials. The Development of a Sexual Code 550-

1150, Toronto 1984, S. 36.65 PL 187-188, Ch. 2, col.106.66 Branham, Bloody women (wie Anm. 22), S. 8.67 Paul A. Underwood, The Kariye Djami, Bd. 1: Historical Introduction and Description

of the Mosaics and Frescoes, New York 1966, S. 72-74; Natalia Teteriatnikov, The Place

(Sankt Georgkirche, ca. 1000; Abb. 10), auf dem Mosaik der Kathedra-le von Monreale aus 1182-1190 (Abb. 11) und auf den Mosaiken ausdem Kariye Djami in Istanbul aus dem 14. Jahrhundert (Abb. 12)67 ist

70 BARBARA BAERT

das Motiv Teil der architektonischen Programme. Da sie aber auch Teildes konventionellen Wunderzyklus war, ist es schwer auszumachen, obdie Darstellung der Haemorrhoissa für den Zeitgenossen auch gleichzei-

of the Nun Melania (the Lady of the Mongols) in the Deesis Inner Narthex of Chora,Constantinople, in: Cahiers Archéologiques 43 (1995), S. 171.

68 C. Corneli, Tre scene di miracoli nel cubilico 65 detto di Nicerus, in: L’orizzontetardoantico e le nuove immagini. 312-468, Bd. 1, Turnhout 2006, S. 138-142; Andrew

Abb. 10: Christus und die Haemorrhoissa, Wandmalerei, ca. 1000.- Reichenau, Sankt Georgkirche

Abb. 11: Christus und die Haemorrhois-sa, Mosaik, 1182-1190.- Monreale, Dom

tig eine (unterschwellige) Botschaftbetreffend die sakralen Grenzen aus-trug. Wir gehen hier tiefer ein auf dieDarstellungen in der Szene der Kata-kombe von Petrus und Marcellinus undauf das Mosaik im Kariye Djami, wodie Haemorrhoissa außerhalb solcherWunderzyklen erscheint.

Die Haemorrhoissa aus der Kata-kombe ist nicht isoliert. Man muss siein Zusammenhang mit der Schwestern-szene der Agape sehen.68 In dieser Sze-ne führt eine Frau das Opfermahl mitden Gläubigen. In ihren Händen hältsie einen Weinkelch. Diese Prä-figuration der Eucharistie, angeführtdurch eine Priesterin, beeinflusst dieDarstellung der Haemorrhoissa indemselben Raum. Beide Frauen wer-

71Die Frau mit dem Blutfluss in der mittelalterlichen Ikonographie

den mit dem Allerheiligsten in Verbindund gebracht und beide werdenmit Flüssigkeit assoziiert: dem fons sanguinis und dem Wein, oder demBlut Christus. In beiden Szenen spielt Blut eine Rolle: Inwendig beider Haemorrhoissa und symbolisch bei Agape. Das Blut ist entgegen-gesetztes Blut – unreines, weibliches Blut auf der einen, hypostatischesOpferblut auf der anderen Seite –, aber zugleich überwindet die Ge-schichte der Haemorrhoissa diesen Gegensatz.

Die Geschichte der Haemorrhoissa handelt von der Grenzüberschrei-tung in sakral-räumlichem Sinne (der Saum), in taktilem Sinne, (die Be-rührung durch die zabá) und in heilendem Sinne (die Heilung in voll-ständiger Reinheit durch Christus). Der Körper der Haemorrhoissa wirdTeil des reinen Körpers der die junge Kirche ist. Ihre getrocknete Quellekann nun zu einem anderen fluxus springen: dem Blute Christi, das auchfür sie fließt. Auf diese Weise tritt vor allem der letzte Vers (Mk. 4:34,Lk. 8:48, Mt. 9:22) in den Vordergrund: „Dein Glaube hat dich gerettet“.McGowan, Ascetic Eucharists. Food and Drink in Early Christian Rituals, Oxford 1999, S.1-89; siehe auch: Robin M. Jensen, Understanding Early Christian Art, London 2000; JosephWilpert, Ein Cyclus christologischer Gemälde aus der Katakombe der Heiligen Petrus undMarcellinus, Freiburg 1891, S. 25; Carolyn Osiek/Margaret Y. MacDonald/Janet H. Tulloch,A Woman’s Place. House Churches in Earliest Christianity, Minneapolis 2005; JosephFink/Beatrix Asamer, Die römischen Katakomben, Mainz am Rhein 1997.

Abb. 12: Christus und die Haemorrhoissa, Mosaik, 14. Jahrhundert.- Istanbul, Kariye Djama

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Die Interpretation der Haemorrhoissa als Bild des Glaubens wurdein der Patristik entwickelt. Bemerkenswert ist, dass die Erklärungensich an dem Kontrast zur Maria Magdalena des Noli me tangere fest-klammerten. Offensichtlich erkannte man eine Spannung zwischen demBerühren und dem ‚Nicht-Berühren‘. Die Berührung impliziert Glaubein Christi göttliche Natur, darum kann die Haemorrhoissa Christi Man-tel berühren. Augustinus bespricht diese Opposition in seiner Homilieüber Thomas (Sermo 375C), der wegen des fehlenden Glaubens berüh-ren muss.69 Thomas muss noch leisten, was Maria bereits in Vers 16(„Rabboni“) vollbracht hat: nämlich Christus in seiner göttlichen Ma-nifestation zu erkennen.

Die geheilte Haemorrhoissa erhebt die sieche, sozial verstoßeneHaemorrhoissa zu einem exemplum des Glaubens. Es gibt mit anderenWorten mehrere Manifestationen der blutfließenden Frau, was wir jaauch bereits in den Nuancen der Bildsprache sahen: die erste eine krie-chende, die zweite eine niederfallende und die dritte eine kniende.70 Inder besprochenen Katakombe wird die dritte, die Kniende dargestellt,und es ist dabei bemerkenswert, dass in diesem Stadium die Berührungkeine Rolle mehr spielt. Der Glaube hat sich vollzogen, die Berührungtritt zurück. Betrachten wir das Mosaik von Ravenna unter denselbenGesichtspunkten, dann wird eine vergleichbare Schlussszene erkenn-bar, in der Christus sich der Frau bereits zugewandt hat und zu ihr spricht.Auch hier berühren sich die beiden nicht mehr. Dennoch ist die Hae-morrhoissa hier noch nicht die aufgerichtete, stolze „wiederhergestell-te“ Frau, sondern ein völlig umschleierter Körper. Eine frühere Text-stelle wirkt hier noch nach. Die Frau macht sich klein, der Formulie-rung venit et procidit entsprechend. Es handelt sich hier um die zweiteund mittlere Haemorrhoissa, die zwischen ihren Erwartungen und demFinale steht. Die bedeckten Hände deuten auf die Reinheitsgebote hin.Reliquien durften beispielsweise nur mit einem Tuch angefasst wer-den. Auf visuellem Niveau verbindet sich der Text und die Gebärde mitder Konvention der Proskynese vor dem Allerheiligsten. Die Haemor-rhoissa von Ravenna kehrt den Ausgangspunkt des Textes um. Sie the-matisiert nun das Unberührbare von Christus71, eine Umkehrung, die

69 Roland Teske/Ramsey Boniface, Letters 100-155, London 2003, S. 129-140, 137.Sehe also Silvia Soennecken, Misogynie oder Philogynie? Philologisch-theologische Un-tersuchungen zum Wortfeld Frau bei Augustinus, Frankfurt am Mainz 1993. Diese Denk-art wird auch ubernommen von Paulinus of Nola (355-431) in sein Epistula 50: PaulinusNolanus, Epistulae. Paulinus von Nola. Ueberzetzt und eingeleitet von Matthias Skeb,Fontes christiani, 25, Bd. 3, Freiburg 1998, S. 1042-1075, 1067.

70 Die Fasfzination für Flüssigkeiten als Lebenssäfte ist neben der eucharistischen Kon-notation in den Katakomben auch eine Form der Bestattungssymbolik. Wein ist die Nah-rung der Toten, er tropft durch den Boden in die Unterwelt, sagt Plinius. Götter und Göt-tinnen der Unterwelt, wie z. B. Selene, trinken oftmals Blut; siehe auch: Spier, Late Antiqueand Early Christian Gems (wie Anm. 38), S. 46.

71 Siehe Klaus Krüger, Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion inder Kunst der frühen Neuzeit in Italien, München 2001, S. 104; Barbara Baert, Noli metangere. Six Exercises in Image Theory and Iconophilia, in: Narrative and Image. L’image

73Die Frau mit dem Blutfluss in der mittelalterlichen Ikonographie

stattfindet in dem Moment, als Christus sich umdreht, sie findet, er-kennt und im Wort heilt.72

Von einer Ambiguität und einer bemerkenswerten Emotionalitätzeugt das Mosaik aus Istanbul aus dem 14. Jahrhundert.73 Die Haemor-rhoissa wird hier dargestellt als eine auf dem Boden fortstrauchelndeAussätzige. Das Gewand, das ihren Körper umschleiert, lässt ihn wieeine amorphe Form erscheinen, so dass sie scheinbar an Erkennbarkeitund Identität einbüßt. Mit ihrem ganzen Körper gibt sie sich diesemletzten Hoffnungsschimmer hin. Die Konturen ihres Körpers spiegelnsich in den Konturen des Bodens: kriechend wird sie eins mit dem Bo-

des Anciens et l’image des Modernes: Permanence des problématiques (electronic journalwith review) 2006. [http://www.imageandnarrative.be/iconoclasm/baert.htm.] Es ist beinaheselbstverständlich, dass innerhalb der Problematik der Taktilität in der biblischen Traditi-on die Haemorrhoissa und Maria Magdalena stark verwandte Prototypen darstellen.

72 Der Begriff conversus ist in nominalem und narrativem Zusammenhang sehr gela-den. In Psalm 17,3 ist es Gott der uns die Kraft gibt, ‚um uns zu drehen‘ nach dem Heil.Diese Phrase war für die Konfessionen des Augustinus von großer Bedeutung; Jose O.Reta, Conversion, in: Allan D. Fitzgerald (Hg.), Augustine Through the Ages. An Ecyclopedia,Grand Rapids 1999, S. 239. Auch in der Noli me tangere-Episode von Johannes 20 spieltder Vers 14 (conversa et retrorsum et videt Iesum) eine bedeutende Rolle. Der MomentdesUmdrehens ist ein Moment der Umkehr sowohl auf narrativem als auch spirituellemNiveau: das Suchen verändert in Finden und Sehen und später im Text auch in die Einsichtder ultimativen Gestalt Christus‘, nämlich seine auferstandene Gestalt. Auch in der Ikono-graphie des Noli me tangere bringt die Position der Maria Magdalena das Konzept desumgekehrten Blickes mit sich: der sogenannte ‚iconic turn‘. Ich entwickle diesen Stand-punkt in Barbara Baert, The pact between space and gaze. The narrative and the iconic inNoli me tangere, in: To Tell, to Think and to Experience Images from Theology to Rhetoricand Aesthetics in the Early Modern Period, Ralph Dekoninck/Agnes Guiderdoni (Hg.),Leuven 2009 (im Druck). Mary Pardo, The Subject of Savoldo’s Magdalene, in: The ArtBulletin 71, 1 (1989), S. 67-91, verbindet die ‚conversa‘ Problematik mit einigen huma-nistisch-ästhetischen Prämissen wie dem Paragone. In der Episode mit der Haemorrhoissaist es allerdings nicht die Frau, die sich umkehren muss um zur Einsicht zu kommen, son-dern Christus selbst ist die Bezugsperson des ‚conversus‘. Seine Umkehr ist in erster Hin-sicht eine Reaktion auf die semi-magischen Wirkung der Berührung (supra), aber auf ei-nem tieferen Niveau hat die Umkehr von Christus auch die Umkehr der Frau zur Folge: dieHeilung einerseits und den Glauben andererseits. In der Episode von der Haemorrhoissakehrt Christus bzw. das Göttliche sich ausnahmsweise selbst um, zum Guten des Men-schen. Dies lässt die Umkehr von Christus erscheinen als die notwendige ‚Unterbrechung‘(in der Zeit, im Text, im fluxus) die zu einer Heilung im tiefsten, die Magie übersteigen-den, Sinne führt.

73 Otto Demus, The Style of the Kariye Djami and Its Place in the Development ofPalaeologan Art, in: Underwood, The Kariye Djami (wie Anm. 67), S. 107-60; P. Nikodijm,Mosaiki mecheti Kakhrie-dzhamisi v Konstantinopole, Odessa 1918; Robert S. Nelson,Taxation with Representation: Visual Narrative and the Political Field at the Kariye Camii,in: Art History 22 (1999), S. 56-82; Robert S. Nelson, The Chora and the Great Church:Intervisuality in Fourteenth-Century Constantinople, in: Byzantine and Modern GreekStudies 23 (1999), S. 67-101; David Oates, A Summary Report on the Excavations of theByzantine Institute in the Kariye Djami: 1957 and 1958, in: Dumbarton Oaks Papers 14(1960), S. 223-31; Robert G. Ousterhout, The Architecture of the Kariye Camii in Istanbul,in: Dumbarton Oaks Studies 25 (1987); ders., The Virgin of the Chora, in: Robert G.Ousterhout/Leslie Brubaker (Hg.), The Sacred Image East and West (= Illinois ByzantineStudies, 4), Urbana 1995, S. 91-109; ders., Temporal Structuring in the Chora Parekklesion,in: Gesta 34 (1995), S. 63-76; ders., The Art of the Kariye Camii, London/Istanbul 2002.

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den selbst. Daneben schlägt die Haemorrhoissa eine Brücke zwischenzwei Gruppen: zwischen den Jüngern rechts und den Juden aus derJairus-Szene links. Sie legt mit ihrem Körper die Verbindung zwischenden alten Gesetzen und dem Neuen Bund, zwischen Leviticus und Chris-tus selbst. Die Szene ist in einem Pendentiv des Kuppelgewölbes auf-genommen, also an einem nicht unbedeutenden Ort in der Kirche: überdem Altar, in der Nähe des Himmlischen Jerusalem und dem Christusder Parusie. Die Haemorrhoissa ist hier anwesend in ihrer Rolle vonVerbindung, Heilung, Hingabe und Glaube, auch wenn dies in Kontrastzu ihrer Rolle in den Quellen der Zeitgenossen steht.

Mattheus Blastares von Thessaloniki verschärfte das kanonischeRecht im 14. Jahrhundert (Syntagma, 1335): denjenigen die die Mo-natsblutung haben, wird der Zugang zum Altar verweigert: „the womanwith a flow of blood did not even dare to touch the lord short of theborder of his outer-garments“.74 Bereits im 12. Jahrhundert hatteTheodorus Balsamon († nach 1195) sogar ein Trennungsvestibül vor-geschlagen für Frauen in ihrer menses.75 Das negative exemplum derHaemorrhoissa hat niemals verhindern können, dass die blutfließendeFrau im sakralen Raum dargestellt wurde.76 Vielleicht sagt das Mosaikin Kariye Djami etwas über die Tatsache aus, dass die Gesetze, obwohlsie die Haemorrhoissa nachdrücklich als Beispiel darstellten, getrenntoperierten vom Bildprogramm mit seinen eigenen Interpretationen derBibel77. Man kann sich die Frage stellen, was eine Frau gedacht habenmag, die diese Szene hoch über sich sah; und was dachte Matthäus Blast-ares von Thessaloniki, der diese Frau nach oben schauen sah? Und wasdachten diese Frau oder Matthäus Blastares, wenn sie ihre Schwesterdas Hysteria-Amulett mit der Haemorrhoissa tragen sahen? Es stehtaußer Zweifel, dass die Haemorrhoissa seit dem frühen Mittelalter einebesonders ambivalente Person bleibt.78

74 Alphabetical Collection, A. 16; zitiert in: Patrick Viscuso, Purity and Sexuality in lateByzantine Theology, in: Orientalia Christiana periodica 57 (1991), S. 401.

75 PG 138, col. 465-468; zitiert in: Robert F. Taft, Women at Church in Byzantium. Where,When – and Why ?, in: Dumbarton Oaks Papers 52 (1990), S. 50-51. Siehe auch: Charles deMiramon, La fin d’un tabou? L’interdiction de communier pour la femme menstrué au MoyenÂge. Le cas du XIIe siècle, in: Le sang au Moyen Âge, Cahiers du CRISMA 4 (1999).

76 Joan R. Branham, Women as Objects of Sacrifice? An Early Christian „Chancel ofthe Virgins“, in: Stella Georgoudi/Renée K. Piettre/Francis Schmidt (Hg.), La cuisine etl’autel. Les Sacrifices en questions dans les sociétés de la Méditerranée ancienne, Turnhout2006, S. 371-386.

77 Branham, Bloody women (wie Anm. 22), S. 9, verbindet dies Mosaik mit der Prä-sentation von Maria im Tempel im Gewölbe am Eingang zum Kirchenschiff. Zu Maria undden umstrittenen Betrachtungen über ihre menses, siehe auch Albrecht Demyttenaere, Thecloth and the stain, in: Werner Affeldt, Frauen in Spätantike und Frühmittelalter. Lebens-bedingungen, Lebensnormen, Lebensformen, Sigmaringen 1990, S. 141-166.

78 Vgl. zu den spätmittelalterlichen Spuren von Blut, Eucharistie und sakralem RaumCaroline W. Bynum, Fragmentation and Redemption. Essays on Gender and the HumanBody in Medieval Religion, New York 1992, S. 99 und dies., Wonderful Blood (wie Anm.22); ferner Barbara Baert, The Gendered Visage. Facets of the vera icon, in: AntwerpRoyal Museum Annual 2000, S. 11-43.

75Die Frau mit dem Blutfluss in der mittelalterlichen Ikonographie

An diesem Punkt der Argumentation haben wir einen wichtigenSchnittpunkt zwischen literarischer Quelle und der Ikonographie er-reicht: Zwischen den evangeliaren Quellen, den Exempla für den Glau-ben in den Kommentaren der Patristik, den Hausregeln der Liturgie undden Zaubersprüchen gegen den aufständigen Uterus und den Sarkopha-gen, den Katakomben, Gemmen und dem Textil.

Schluss

Im Vergleich zu den Synoptikern isoliert die Ikonographie verschiede-ne Momentaufnahmen von der Heilung der Haemorrhoissa und kom-primiert sie. Die Folge ist eine ökonomische und geballte Verbildlichungder bekannten christlichen visuellen Kräftefelder von Berührung, Blickund körperlicher Interaktion. Die Berührung des Saumes ist von ele-mentarer Bedeutung im Text und kommt entsprechend häufig auch inder Ikonographie vor. Diese Berührung des Saumes wird manchmal auchin der Berührung des Hauptes durch Christus gedoppelt. Letztere ver-bindet den Moment der Heilung und der Aussprache von Christus überdie Verzweiflungstat der Frau. Daneben sind aber auch genügend Bei-spiele bekannt, wo die Berührung des Saumes nicht dargestellt wird:Die Berührung ist bereits geschehen und vorüber, der Künstler konzen-triert sich völlig auf den Ausgang der Erzählung, auf das: „Dein Glaubehat dich gerettet“.

Die Umsetzung von Text ins Bild kennt mehr Subtiles und mehrVarianten als man anfänglich vermuten könnte. Außerdem ist eine faszi-nierende Varietät der Medien festzustellen: Sarkophage, Skulpturen,Textilien, Reliquiare, Amulette, Handschriften, Mosaike, Wandbilderund nicht zu vergessen das lebensgroße Standbild von Paneas. Die Er-zählung geht mit anderen Worten mit verschiedenen Materialen undKontexten eine Verbindung ein und entfaltet dabei eine lebhafteVielschichtigkeit. Von Anfang der christlichen Kunstgeschichte annimmt die Passage von den Synoptikern diverse Positionen zwischen‚hoher‘ und ‚niedriger‘ Kunst ein. Das Heilungswunder der Haemor-rhoissa sinkt in die magische Welt hinab und findet Eingang in dashysteria-Feld. Diese Tatsache bleibt zwar auf den Abbildungen auf Sar-kophagen unsichtbar, aber die Haemorrhoissa-hysteria erscheint in spät-antiken und frühbyzantinischen exorzisitschen Sprüchen, auf Gemmenund Schutzammuletten.

Konstruieren wir die Erzählung der Haemorrhoissa in ihrem textli-chen und ikonographischen Nachleben, dann wird dies schnell zu einerErzählung von Blut; sakrifizielles Blut gegenüber prokreativem Blut,männliches gegenüber weiblichem Blut, neutrales gegenüber tabuisier-tem Blut, berührbares gegenüber unberührbarem Blut, inwendiges ge-genüber veräußertem Blut, strömendes gegenüber gestilltem Blut, kurz,gutartiges gegenüber bösartigem Blut. Im Falle der Haemorrhoissa wirdeinerseits eine bestimmte Position eingenommen, aber andererseits dau-

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ernd wieder aufgegeben. Zuerst ist da die Umkehrung in der Erzählungselbst: von bösartigem Blutfluss zu getrockneten Blutungen. DieseTransformation wird in der Ikonographie mittels der kriechenden, be-rührenden Frau und der schließlich gesegneten Frau dargestellt. DieAmbivalenz des Blutes spiegelt gleichzeitig auch den Übergang vonden jüdischen Reinheitsgeboten zur christlichen Heilungslehre wieder.Diese Heilungslehre führt die Haemorrhoissa bis zur Magie und in dieprämedizinische Welt: Blut mit Blut beschwören. Diese Spannung umdas Blut kulminiert im sakralen Raum, wo die Haemorrhoissa und ihrewunderliche Heilung in Verbindung zum allerheiligsten Blut der Eu-charistie erscheint.