Unternehmenskulturrevolution durch Web 2.0

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Unternehmenskulturrevolution durch Web 2.0 Kai-Uwe Hellmann 2005 veröffentlichte Tim O’Reilly einen Text, der sich mit der Frage „What Is Web 2.0?“ befasst. O’Reilly erläutert darin, was man sich unter dem Label ‚Web 2.0‘ vorzustellen hat, das er im Oktober 2004 gemeinsam mit John Batelle auf einer gleichnamigen Konferenz aus der Taufe hob. Dabei führt er sieben Merkmale an, die das Web 2.0-Konzept von seinem Vorgängermodell unterscheiden: (1) „Services, not packaged software, with cost-effective scalability”, (2) „Control over unique, hard-to-recreate data sources that get richer as more people use them”, (3) „Trusting users as co-developers”, (4) „Harnessing collective intelligence”, (5) „Leveraging the long tail through customer self-service”, (6) „Software above the level of a single device”, und (7) „Lightweight user interfaces, development models, and business models” (O’Reilly 2005: 5). Seitdem dürfte Web 2.0 zu einem der meist gebrauchten ‚buzzwords‘ geworden sein, soweit es die wachsende Relevanz des Internets für die zukünftige Entwicklung der modernen Gesellschaft betrifft. Schaut man sich dieses Dokument genauer an, zeigt sich alsbald, dass es bei diesem Innovationsschub keinesfalls bloß um die Erfindung und Einführung neuer Technologien geht. Vielmehr kommt es auf die forcierte Inklusion, Interaktion und Partizipation der Internetnutzer an. Nicht umsonst ist vom ‚Mitmach-Web‘ die Rede, bei dem sich alles um ‚user generated content‘ (UGC) dreht. Denn das „Web 2.0 funktioniert (…) nur, wenn die Nutzer nicht nur Seiten konsumieren, sondern auch ak- tiv an Webangeboten und -plattformen mitwirken. Web 2.0. steht für ein einfach zu bedienendes ‚Mitmach-Internet‘. Es geht um Partizipation, Vernetzen, Darstellen und Austauschen zumeist ü- ber eine spezielle, dafür bereitgestellte Plattform.“ (Gescheidle/Fisch 2007: 398) Das Web 2.0-Konzept legt es sozusagen darauf an, die Konsumenten in Produzen- ten zu verwandeln. Und die Konsumenten, vor allem die jüngeren, nehmen dieses Angebot nur allzu gerne wahr. Damit aber wurde eine Debatte reaktualisiert, wie sie in den 1980er Jahren stattfand: die Debatte um den Prosumenten. Was damals jedoch unterblieb, weil die Tragweite der Folgen noch nicht ab- sehbar war, war die Diskussion der Frage, welche notwendigen Veränderungen sich daraus für die Unternehmen ergeben mögen. Wenn nämlich Konsumenten bei der Produktion von Sach- oder Dienstleistungen verstärkt mitwirken und darüber zu echten, weil wertschöpfenden, wenngleich unbezahlten Mitarbeitern werden, wie organisieren die Unternehmen das Verhältnis von bezahlten und unbezahlten Mit- arbeitern? Wie genau muss die Grenzziehung eines Unternehmens gegenüber dem Markt operationalisiert werden, wenn die Herstellung spezifischer Dienst- und selbst Sachleistungen von der Mitarbeit seiner Kunden notwendig abhängt? Und

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Unternehmenskulturrevolution durch Web 2.0 Kai-Uwe Hellmann

2005 veröffentlichte Tim O’Reilly einen Text, der sich mit der Frage „What Is Web 2.0?“ befasst. O’Reilly erläutert darin, was man sich unter dem Label ‚Web 2.0‘ vorzustellen hat, das er im Oktober 2004 − gemeinsam mit John Batelle − auf einer gleichnamigen Konferenz aus der Taufe hob. Dabei führt er sieben Merkmale an, die das Web 2.0-Konzept von seinem Vorgängermodell unterscheiden: (1) „Services, not packaged software, with cost-effective scalability”, (2) „Control over unique, hard-to-recreate data sources that get richer as more people use them”, (3) „Trusting users as co-developers”, (4) „Harnessing collective intelligence”, (5) „Leveraging the long tail through customer self-service”, (6) „Software above the level of a single device”, und (7) „Lightweight user interfaces, development models, and business models” (O’Reilly 2005: 5). Seitdem dürfte Web 2.0 zu einem der meist gebrauchten ‚buzzwords‘ geworden sein, soweit es die wachsende Relevanz des Internets für die zukünftige Entwicklung der modernen Gesellschaft betrifft.

Schaut man sich dieses Dokument genauer an, zeigt sich alsbald, dass es bei diesem Innovationsschub keinesfalls bloß um die Erfindung und Einführung neuer Technologien geht. Vielmehr kommt es auf die forcierte Inklusion, Interaktion und Partizipation der Internetnutzer an. Nicht umsonst ist vom ‚Mitmach-Web‘ die Rede, bei dem sich alles um ‚user generated content‘ (UGC) dreht. Denn das

„Web 2.0 funktioniert (…) nur, wenn die Nutzer nicht nur Seiten konsumieren, sondern auch ak-tiv an Webangeboten und -plattformen mitwirken. Web 2.0. steht für ein einfach zu bedienendes ‚Mitmach-Internet‘. Es geht um Partizipation, Vernetzen, Darstellen und Austauschen zumeist ü-ber eine spezielle, dafür bereitgestellte Plattform.“ (Gescheidle/Fisch 2007: 398)

Das Web 2.0-Konzept legt es sozusagen darauf an, die Konsumenten in Produzen-ten zu verwandeln. Und die Konsumenten, vor allem die jüngeren, nehmen dieses Angebot nur allzu gerne wahr. Damit aber wurde eine Debatte reaktualisiert, wie sie in den 1980er Jahren stattfand: die Debatte um den Prosumenten.

Was damals jedoch unterblieb, weil die Tragweite der Folgen noch nicht ab-sehbar war, war die Diskussion der Frage, welche notwendigen Veränderungen sich daraus für die Unternehmen ergeben mögen. Wenn nämlich Konsumenten bei der Produktion von Sach- oder Dienstleistungen verstärkt mitwirken und darüber zu echten, weil wertschöpfenden, wenngleich unbezahlten Mitarbeitern werden, wie organisieren die Unternehmen das Verhältnis von bezahlten und unbezahlten Mit-arbeitern? Wie genau muss die Grenzziehung eines Unternehmens gegenüber dem Markt operationalisiert werden, wenn die Herstellung spezifischer Dienst- und selbst Sachleistungen von der Mitarbeit seiner Kunden notwendig abhängt? Und

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lässt diese Veränderung die bisherige Unternehmenskultur weitgehend intakt oder hat diese gravierende Umstrukturierungserfordernisse zur Folge?

Im Folgenden wird versucht, über dieses Problem mehr Klarheit zu gewinnen. Hierzu soll in einem ersten Schritt, in Auseinandersetzung mit Tofflers (1980) ‚Prosumer‘-Konzept, eingeschätzt werden, welcher Art die Mitarbeit von Kunden bei Web 2.0-Applikationen ist. Daraufhin soll geprüft werden, ob und inwieweit dies die Organisation von Unternehmen betrifft, ggf. beeinträchtigt und nicht zuletzt zu Veränderungen ihrer Organisationsstrukturen zwingt. Ein kurzer Aus-blick beschließt den Beitrag.

Wie differenziert man Prosumenten?

Die weltweite Verbreitung von Web 2.0-Technologien innerhalb weniger Jahre ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Debatte um den Prosumenten, 1980 von Alvin Toffler angestoßen, erneut Aufmerksamkeit gefunden hat. Zwar wurden vorher schon − vorwiegend durch die Internetevolution initiiert − entsprechende Ideen erörtert. Doch erst durch jene Möglichkeiten, die das Web 2.0-Konzept bereit hält, erfährt diese Debatte wieder anhaltende Beachtung.

Fragt man vor diesem Hintergrund, woher dieses neue Interesse rührt, führt die Antwort auf ein hybrides Tätigkeitsprofil, das Nutzer solcher Web 2.0-Technologien aufweisen, ob in Form von „wikis, folksonomics, mashups [or], most significantly we sense, social networking sites (SNS)“, weil diese „users are increasingly involved in creating web content as well as consuming it.“ (Beer/Burrows 2007: 1) Anders gesagt, ist es eine Kombination aus Produktion und Konsumtion, welche dieses Tätigkeitsprofil auszeichnet. „Here users are involved as producers and consumers of the information, both browsing for and adding content to the pro-ject“, wie es Beer und Burrows (2007: 1) im Falle von Wikipedia ausdrücken, doch mit Geltung für alle anderen Technologien.

Genau diese Kombination aus Produktion und Konsumtion, wie sie auf alle Web 2.0-Technologien Anwendung findet, hat die Figur des ‚Prosumer‘ wieder zum Leben erweckt. Denn Tofflers ‚Prosumer‘, dessen Begriff sich aus der Vorsil-be von ‚producer‘, manche referieren auch auf den ‚professionell‘, und dem Stamm-wort von ‚consumer‘ zusammensetzt, entspricht genau diesem Muster:

„In short, whether we look at self-help movements, do-it-yourself trends, or new production tech-nologies, we find the same shift toward a much closer involvement of the consumer in production. In such a world, conventional distinctions between producer and consumer vanish.” (Toffler 1980: 275)

Dabei ist gar nicht klar, ab wann genau ein Konsument sich als Prosument betätigt. Zwar dürfte unstrittig sein, dass der Unterschied zwischen einem Konsumenten

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und einem Prosumenten mit der Unterscheidung von Erleben und Handeln zu tun hat (Luhmann 1978). So wird ein herkömmlicher Konsument gerne als passiv beschrieben, weil er nur erlebt, während ein Prosument zumeist als aktiver („proac-tive, influential, information-empowered“1) Konsument durchgeht, weil er sichtbar handelt. Doch wissen wir durch die Cultural-Studies längst, dass selbst die Rezepti-on von Massenmedien, Stichwort ‚coach potatos‘, ein Mindestmaß an Aktivität erfordert. Und besonders Michel de Certeau (1988) hat darauf aufmerksam ge-macht, dass Konsumenten per se aktiv sind, weil die Anpassung der jeweiligen Sach- oder Dienstleistungen an die eigenen Bedürfnisse zwangsläufig produktiver Natur ist.2 Insofern bleibt die Frage offen, welche Formen von Aktivität aus einem Konsumenten einen Prosumenten machen.

Bei Toffler steht hierfür nur der Begriff der Produktion zur Verfügung. Nur was genau muss ein Konsument tun, um sich an der Produktion einer Sach- oder Dienstleistung soweit zu beteiligen, dass er zum Prosumenten wird? Geht man etwa davon aus, dass schon jede Dienstleistung zur Aktualisierung ihres Leistungs-potentials auf die Mitarbeit des jeweiligen Kunden als ‚externer Faktor‘ notwendig angewiesen ist, müsste jeder Konsument in Rahmen einer solchen Dienstleistungs-beziehung unweigerlich zum Prosumenten werden. Dies aber kann wohl kaum gemeint sein, weil sonst „The Rise of the Prosumer“ (Toffler 1980: 265) mit „The Coming of Post-Industrial Society“ (Bell 1974) zwangsläufig einhergehen würde, in der Dienstleistungen ja den größten Anteil an der Erwirtschaftung des Bruttosozi-alprodukts ausmachen. Demzufolge gäbe es gar keine Konsumenten in Reinkultur mehr, soweit es den Konsum von Dienstleistungen betrifft. Vielmehr wären wir dann allesamt Prosumenten. Darüber hinaus vertrat Toffler (1980: 273) die Auffas-sung „we need to look not only at services, but at goods.” Denn auch bei der Pro-duktion bestimmter Sachleistungen leisten wir vermehrt einen solchen Beitrag, dass wir nicht länger mehr bloße Konsumenten sind. Insofern stellt sich erneut die Frage: Gibt es überhaupt noch Konsumenten im ursprünglichen Sinne? Oder sind wir nicht durchweg zu Prosumenten mutiert, weil uns die Verhältnisse keine andere Wahl lassen? Dann aber kollabiert die Unterscheidung von Konsument und Pro-sument und hat nur noch historischen Wert.

Will man die Unterscheidung von Konsument und Prosument als relevant er-halten, bedarf es daher einer genaueren Unterscheidung der Tätigkeitsprofile, die

1 Euro RSCG Worldwide: Twelve Key Prosumer Trends. Online verfügbar unter:

http://www.eurorscg.dk/media/ Prosumer_Twelve_Trends.pdf. (Stand: 05.09.2009). 2 Michel de Certeau (1988: 14, 26) spricht in diesem Zusammenhang auch von der „sekundären“

oder „stillen Produktion“, die dem Konsumenten durchweg eigen sei. Eine brauchbare Metapher ist auch die Mietwohnung, die vom Eigentümer (Produzenten) zur Verfügung gestellt und vom Mieter (Konsumenten) vorübergehend in Besitz genommen und individuell aneignet wird, indem er sie seinem Geschmack nach so ausstattet (sekundäre Produktion), wie der Mieter es sich wünscht.

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jeweils typisch sind für Konsumenten und Prosumenten. Nun könnte gesagt wer-den, dass jeder Konsument zwar mehr oder weniger aktiv ist, diese Aktivität ihn aber solange nicht zu einem Prosumenten macht, solange diese Aktivität für die Aktualisierung des Leistungspotentials einer bestimmten Sach- oder Dienstleistung entbehrlich ist. Anders gesagt: Solange die endgültige Fertigstellung einer bestimm-ten Sach- oder Dienstleistung nicht von der Aktivität eines Konsumenten notwen-dig abhängt, Kontingenz also erhalten bleibt, solange gibt es auch keinen Bedarf für die Zuschreibung des Prosumentenstatus. Im Gegenfall hat man es gerade dann mit einem Prosumenten zu tun, wenn erst sein Beitrag dazu führt, dass eine be-stimmte Sach- oder Dienstleistung ihren endgültigen Abschluss findet. Fällt dieser Beitrag aus, bleibt die Produktion dieser Sach- oder Dienstleistung prinzipiell un-abgeschlossen. Damit aber läge − sofern es sich nicht um vollständige Eigenpro-duktion, also Autarkie handelt − eine Form der Arbeitsteilung vor, wie man sie vor allem aus dem Innenbereich formaler Organisation kennt, indem jeder Handgriff einen bestimmten Anteil zur Wertschöpfung leistet und insofern notwendig ist, um den Produktionsprozess zu vervollständigen. Ohne diesen Beitrag blieben die Bänder sozusagen stehen. Man kann zwar die Person austauschen, aber nicht die Rolle, die für diesen Wertschöpfungsbeitrag verantwortlich zeichnet. Fällt sie weg, bricht die gesamte Produktionskette in sich zusammen. Kann man das Konzept des Prosumenten so definieren? Und was folgt daraus für die unternehmensinterne Form der Arbeitsteilung?

Was das Konzept des Prosumenten angeht, bedeutet diese Interpretation, dass die Entscheidung, ob man es mit einem Konsumenten oder Prosumenten zu tun hat, nicht von der jeweiligen Motivlage des Betroffenen, sondern vom Produkt abhängt. Denn was auch immer sich diese Person dabei denken mag, wenn sie konsumiert: Als Prosument agiert sie nur, sofern es auf ihren Beitrag − wahr-scheinlich einen ganz besonderen, funktional spezifischen − notwendig ankommt, um den Produktionsprozess erfolgreich abzuschließen. Ist dieser Beitrag hingegen entbehrlich, mag es sich um einen noch so aktiven, warum auch immer hoch enga-gierten Konsumenten handeln, aber nicht um einen Prosumenten. Nur wer ent-scheidet, was entbehrlich ist? Eine Möglichkeit könnte Zurechnung sein: Wann immer ein Konsument eine Leistung vollbringt, die als Wertschöpfung bewertet wird, gibt es die Möglichkeit, den Prosumentenstatus zuzurechnen.

In jedem Fall ergibt sich Bedarf für eine gewisse Typologie: Ausgehend vom passiven, primär erlebenden, aber beileibe nicht völlig inaktiven Konsumenten, käme man über die Zwischenstation des aktiven, konkret handelnden Konsumen-ten − mit schier unbegrenzten Feinabstufungen denkbar − zum Prosumenten, d. h. einem Konsumenten, dessen Handeln unverzichtbare Voraussetzung dafür ist, eine bestimmte Sach- oder Dienstleistung zum Abschluss zu bringen, und der sich darüber bis auf das Äußerste dem jeweiligen Unternehmen und seinen Mitarbeitern annähern mag, bis am Ende der Produzent auftaucht, der ganz auf der Anbietersei-

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te angesiedelt ist und dort einen nicht minder notwendigen Beitrag für die Fertig-stellung bestimmter Sach- oder Dienstleistungen leistet. Für den Toffler’schen Ansatz folgt daraus, dass möglicherweise nicht alles, was er sich als Prosumenten-indizierend vorgestellt hatte, tatsächlich auch geeignet ist, solche eindeutig ausfin-dig zu machen.

Schaut man sich daraufhin genauer an, wie Toffler die Figur des Prosumenten bei sich einführt, handelt es sich um Tätigkeiten, die Toffler als „production for self-use“ bezeichnet hat: Produziert wird primär für den Eigenbedarf, nicht für den Markt, was Toffler als „production for exchange“ bezeichnet hat. „The essence of being a prosumer (…) is to prefer producing one’s own goods and services.“ (Kotler 1986: 510) Offen bleibt dabei, ob hierfür die gesamte Wertschöpfungskette in Eigen-regie verantwortet werden muss. Historisch leitet er die Figur des Prosumenten ja aus vorindustriellen Produktionsverhältnissen ab, vor allen Dingen mit Verweis auf die Landwirtschaft, wo die Bewältigung des gesamten Wertschöpfungsprozesses voll-ständig in der Hand der Bauern liegt, mithin komplette Subsidiarität gegeben ist. Ähnlich verhält es sich mit Haus- und Familienarbeit, so Toffler. Bei der Betrachtung der Verhältnisse seiner eigenen Epoche kommt es hingegen auch zur Mitwirkung der Konsumenten hinsichtlich des letzten Glieds in der Wertschöpfungskette, wie im Falle von ‚self care‘ oder ‚do it yourself‘ (DIY), die sie nach Toffler schon zu Prosu-menten werden lässt. Dabei kann der Einfluss der Konsumenten auch sehr viel wei-ter gehen, angefangen bei der Erforschung und Entwicklung neuer Produkte, was Toffler ‚outside-in‘ nannte, bis hin zu ihrer eigentlichen Herstellung (heutzutage unter dem Stichwort ‚mass customization‘ diskutiert):

„In the end, the consumer, not merely providing the specs but punching the button that sets this entire process in action, will become as much a part of the production process as the denim-clad assembly-line worker was in the world not dying.” (Toffler 1980: 274)

Hierdurch wird der Konsument in einem Maße Teil der Firma, ja Fabrikation, dass die Unterscheidung zwischen Mitarbeiter und Kunde allmählich schwer fallen dürfte.

Auch bleibt eigentümlich unklar, welchen Unterschied es macht, ob es sich um eine Kooperation/Kollaboration mit einem Unternehmen, also um eine ‚business-to-consumer‘ (B2C) Beziehung handelt, wie es im Marketingjargon heißt, oder um eine Kooperation/Kollaboration ausschließlich mit anderen Konsumenten, also um eine ‚consumer-to-consumer‘ (C2C) Beziehung. So impliziert etwa ‚self care‘, dass die Pharmaindustrie entsprechende Technologien oder OTC-Präparate zur Verfügung stellt, die sich für die Selbstdiagnose bzw. Selbstmedikation eignen. Und bei ‚self service‘ ist ganz offensichtlich, in welchem Ausmaß die Unternehmen noch Kontrolle über die Wertschöpfungskette haben. Wobei Toffler (1980: 270) diese Form der Arbeitsteilung ganz lapidar kommentiert: „Once more the consu-mer is replacing a producer and becoming a prosumer.“ Demgegenüber beruhen Initiativen wie ‚self help‘ und ‚self support‘ zumeist auf reiner Selbstorganisation,

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ohne proaktives Zutun irgendwelcher Unternehmen. Und doch meint Toffler (1980: 269) auch hierzu: „whatever their significance for social organization, they represent a basic shift from passive consumer to active prosumer, and they thus hold economic meaning as well.“ Nur wo ist der ökonomische Bezug, um die Rede vom Prosumenten zu rechtfertigen? Eigeninitiative, Selbsthilfegruppe, Protestbe-wegung: All das kommt auch vor, ohne dass es dafür eines Wirtschaftsbezugs zwingend bedürfte. Ohne einen solchen scheint die Anwendung der Unterschei-dung zwischen Produzent, Konsument und Prosument aber kaum angebracht. Insofern dürfte die schlüssige Einbindung solcher Formen bürgerschaftlicher Selbstorganisation in das Konsumenten- oder gar Prosumentenkonzept doch eher schwierig fallen, will man diese Kategorie nicht universal aufblähen. Nicht jede Aktivität ist konsumistisch, geschweige denn prosumistisch relevant.

Schließlich bleibt unklar, ab wann ein Produkt als abgeschlossen gelten kann, wann der Wertschöpfungsprozess also zu Ende ist. So schöpft jedes IKEA-Möbel sein geplantes Leistungspotential nur aus, sofern der Käufer als Konsument erhebliche ‚Mitarbeit‘ leistet, liegt der Zusammenbau des Möbelstücks im Regelfall ja ganz bei ihm. Und dies gilt für DIY beinahe generell. Zugleich ist unschwer zu beobachten, dass eine Vielzahl von Fertigprodukten noch beträchtliche Verfeinerung durch die Konsumenten erfährt, wie im Falle der Mietwohnung bei de Certeau, wodurch ein solches Produkt erst seiner eigentlichen Verwendung zugeführt wird. „It could be argued that no product offered to the consumer was ever a finished product, that consumption has always been a process of transforming the product from the very moment that a consumer takes possession of the product.” (Firat/Dholakia 2006: 138) Man denke auch an Autotuning oder Fotoalben. Ohne diese Beiträge, ohne diese oft entscheidende Verfeinerung und damit weitergehende Wertschöpfung vom Stand-punkt des Konsumenten erfüllt ein Fertigprodukt seine Funktion oft nicht wirklich, und insofern scheint der Konsument selbst hier noch als Teil der Produktionskette zu agieren, auch wenn es sich um ein Fertigprodukt handeln sollte, weil ohne diesen Beitrag der Produktionsprozess noch unabgeschlossen ist. Nicht ohne Grund wirft selbst Toffler die Frage nach angemessenen Kriterien für die Bewertung von Produk-tivität auf, sei es dass ein Arbeitsloser sein Hausdach repariert, sei es dass ein Mitarbei-ter sich bloß selbstverwaltet. „The rise of the prosumer forces us to question our entire way of looking at the twin problems of unemployment, on the one hand, and bureaucratic waste and featherbedding, on the other.“ (Toffler 1980: 282)

Wie man sieht, wirft die Darlegung Tofflers noch Probleme der eindeutigen Markierung spezifischer Kriterien zur Bestimmung des Prosumentenstatus auf. Diese Probleme sollen hier auch nicht endgültig gelöst werden. Eine vorläufige Veranschaulichung der verschiedenen Optionen kann jedoch dazu beitragen, mehr Übersicht zu schaffen, um die weitere Debatte anzuregen. In dieses Schaubild werden folgende Optionen eingetragen: Erstens empfiehlt es sich, zwischen primär erlebenden und handelnden Konsumenten zu unterscheiden, sodann handelnde

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Konsumenten wiederum daraufhin zu beobachten, inwieweit sie auch produktiv sind, d. h. nachweisbar Wert schöpfen, konkrete Arbeit verrichten und damit Pro-duktentwicklung, Produktherstellung oder Produktdistribution betreiben bzw. aktiv daran beteiligt sind, hierbei jedoch primär für den Eigenbedarf handeln (‚producti-on for self-use‘), und dies in Abgrenzung zu reinen Produzenten (‚production for exchange‘). Zweitens gilt es zu berücksichtigen, ob Prosumenten individuell oder in C2C- bzw. B2C-Beziehungen involviert sind (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Entwurf einer Typologie von Konsumentenaktivitäten

Produzenten („production for exchange“)

Prosumenten(„production for self-use“)

Primär erlebende Konsumenten

Individuelle Prosumtion von Sach- oder Dienstleistungen

Kollektive Prosumtion von Sach- oder Dienstleistungen im C2C-Bereich

Primär handelnde Konsumenten

Kollektive Prosumtion

von Sach- oder Dienst-leistungen im B2C-Bereich

Quelle: Eigene Darstellung.

Kommt man vor diesem Hintergrund nochmals auf die Aktivitäten im Zusam-menhang mit Web 2.0-Technologien zurück, ist festzuhalten, dass die aktive, gar produktive Beteiligung sich doch sehr in Grenzen hält. Sieht man von der Profil-pflege auf den weltweit verbreiteten Social-Networking-Sites wie Facebook und MySpace, die vorwiegend der Selbstdarstellung dienen, einmal ab, bewegt sich dieser Anteil überwiegend im einstelligen Prozentbereich.

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„Der Mitmachgedanke des Web 2.0 bedeutet, Artikel für Wikipedia zu verfassen, zu ergänzen oder zu kontrollieren − 3 Prozent der Onliner tun dies auch. Es bedeutet ebenfalls, in einem Weblog Beiträge zu verfassen oder diese zu kommentieren, was von 2 Prozent der Onliner wahrgenommen wird. Vi-deoportale des Web 2.0 leben auch vom Hochladen neuer Videobeiträge − 3 Prozent der Onliner tun dies. Web 2.0 bedeutet, Fotos ins Netz zu stellen, diese zu verschlagworten und zu bewerten − im-merhin 7 Prozent der Onliner sind in dieser Weise aktiv.“ (Fisch/Gescheidle 2008: 363f.)

Angesichts der absoluten Nutzerzahlen mögen dabei immer noch relativ beeindru-ckende Anteile herauskommen. Nichtsdestotrotz, lässt man nicht jede Aktion als prosumistische Handlung gelten, stellen Prosumisten tatsächlich nur eine sehr kleine Minderheit dar. Insofern wird die Bedeutung des Web 2.0 für diese Debatte doch weit überschätzt. Im Wesentlichen handelt es sich um ein reines „Klickwun-der 2.0“ (Schmidt 2009), d. h. das exzessive Nutzen einer Mausfunktion.

2. Mitgliedschaft, Entscheidung, Führung

Was folgt aus diesen Vorüberlegungen für die unternehmensinterne Form der Arbeitsteilung, wenn dieser Prosumismustrend anhalten sollte? Immerhin heißt es schon bei Toffler (1980: 273), dass im Zuge dieser Entwicklung „the consumer is increasingly being drawn into the production process“, so dass „the customer’s involvement in the production process must necessarily grow“ (ebd.: 274), ja dass es zur „reintegration of the consumer into production“ (ebd.: 281) komme. Dabei greift diese Einsicht inzwischen auch auf Unternehmensseite. So lautete die zentra-le Schlussfolgerung einer Befragung englischer Unternehmen hinsichtlich der zu-künftigen Entwicklung ihrer Kundenbeziehung aus dem Jahre 1991: „The custo-mer should be seen as part of the organization.“ (Coulson-Thomas 1991: 253) Wie aber hat man sich diese Reintegration der Prosumenten in den Produktionsprozess und damit in das Unternehmen als solches vorzustellen?

Innerhalb eines Unternehmens gilt das Prinzip der funktionalen Arbeitsteilung, worauf ja auch die Idee der Wertschöpfungskette von Michael Porter (1985) be-ruht. Dabei ist der Status der Mitarbeiter, ungeachtet der Position und Funktion, die sie innehaben, als formales Mitglied der Organisation in der Regel unproblema-tisch, weil vertraglich geregelt. Für die Grenzziehung des Unternehmens ergibt sich daraus eine klare und vergleichsweise einfach zu handhabende Unterscheidbarkeit zwischen Unternehmen und Umwelt. Durch Vertrag und Hierarchie verfügt das Unternehmen über hinreichende Möglichkeiten der Selbstkontrolle. Gewiss nimmt diese proportional ab, je größer oder dezentraler ein Unternehmen wird, insbeson-dere im Zuge fortschreitender Globalisierung. Letztlich jedoch garantiert dieses Grundmodell formaler Organisation genügend Funktionsfähigkeit, gerade im Ver-hältnis zur Umwelt.

In dem Moment jedoch, wenn sich das komplementär angelegte Rollenverhältnis zwischen Produzent und Konsument in ein auf Substitution angelegtes Rollenver-

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hältnis zwischen Produzent und Prosument verwandelt, erwächst daraus ein Problem eindeutiger Grenzziehung. Denn wenn ein Konsument zum notwendigen, weil un-verzichtbaren, wenngleich unbezahlten Mitarbeiter wird − wie dies zunehmend der Fall wird −, dessen produktive Beiträge unersetzlich dafür werden, das eigene Ge-schäftsmodell am Laufen zu halten, wie wirkt sich diese partielle Auflösung der Un-ternehmensgrenze auf die Unternehmensführung aus? Offenbar verliert das Unter-nehmen dadurch ja an Kontrolle über einen Teil der Prozesse, aufgrund derer es existiert. Insbesondere verläuft der Produktionsprozess nicht mehr nur auf Grundla-ge rein unternehmensintern getroffener Entscheidungen, weil nunmehr auch Ent-scheidungen im unternehmensexternen Umfeld relevant werden. Könnte dies bedeu-ten, dass die Unternehmensgrenze durchlässig wird? Möglicherweise, insbesondere für den Fall eines umfassenderen Strukturwandels, wenn er den Unternehmen durch ihr relevantes soziales Umfeld aufgenötigt wird. Doch darf dies nur vorübergehend vorkommen, als Übergangsphase, verbunden mit einer allenfalls temporären Orien-tierungs-, vielleicht auch Operationskrise. Andernfalls droht Selbstauflösung. Wie aber hat sich ein Unternehmen aufzustellen, dessen Produktionsprozess verstärkt auf die Mitarbeit von Prosumenten angewiesen ist? Zieht sich das Unternehmen dann auf jene Funktionsbereiche zurück, die von dieser Form grenzüberschreitender Ar-beitsteilung zwischen Produzent und Prosument ausgenommen sind? Zu denken wäre hierbei an die Geschäftsführung, das Marketing oder die Verwaltung, je nach-dem wo das Unternehmen noch über völlige Autonomie in der Gestaltung seiner relevanten Entscheidungsprozesse verfügt.

Die Bewertung des hier aufgeworfenen Problems hängt davon ab, wie man die Unternehmensgrenze definiert. Macht man sie vom Kriterium formaler Mitglied-schaft abhängig, ergibt sich im Falle informaler Mitgliedschaften eine ernstzuneh-mende Paradoxie, weil diese operativ zwar bedeutsam werden, in der Selbstbe-schreibung aber keine Berücksichtigung finden. Anders stellt sich der Fall dar, wenn man die operative Schließung formaler Organisationen durch die Kommuni-kation von Entscheidungen begründet. Denn dann kann „alles andere − Ziele, Hierarchien, Rationalitätschancen, weisungsgebundene Mitglieder, oder was sonst als Kriterium von Organisation angesehen worden ist − (…) als Resultat der Ent-scheidungsoperationen des Systems angesehen werden.“ (Luhmann 2000: 63) Für den vorliegenden Fall könnte das bedeuten, dass ein Unternehmen, das zuneh-mend abhängiger davon wird, was Prosumenten jeweils aktiv beitragen mögen, entscheidet, das Kriterium formaler Mitgliedschaft als alleinverbindlich aufzuheben und stattdessen mit der Unterscheidung formal/informal zu operieren, um dadurch eine Ausdifferenzierung von Mitgliedschaftsformen zu erreichen, die es ihm er-möglicht, trotzdem die Kontrolle zu behalten. Dadurch wird die bisherige Rege-lung qua Entscheidung aufgehoben und durch eine neue ersetzt: Die Autopoiesis der Organisation bleibt intakt, selbst wenn das operative Geschäft nicht mehr auf formaler Organisation, sondern sozialem Netzwerk beruhen sollte.

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In der einschlägigen Fachliteratur findet die Frage einer möglichen Gefähr-dung der Unternehmensgrenze und damit auch Unternehmensführung, wie sie in der Debatte über den Prosumenten angelegt ist, bislang kaum Beachtung. So be-fasst sich in dem Sammelband „Marktorientierte Führung im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel“, der sich einerseits auf die Schnittstelle zwischen Unter-nehmen und Kundschaft, andererseits auf die Zukunft der Unternehmensführung zu konzentrieren verspricht, kein einziger Beitrag mit dieser Problemstellung (Bruhn et al. 2008). Dabei birgt dieses Phänomen erhebliches Problempotential. So stellen Prosumenten, wenn sie wirklich produktiv sind, ein äußerst wertvolles und deshalb knappes Gut dar. Dies mag bei vielen Web 2.0-Applikationen noch kaum der Fall sein, wo Selbstdarstellung häufig die einzig produktive Aktivität der Kon-sumenten ist. Deshalb lohnt es sich auch kaum, hier schon von Prosumenten zu sprechen. Aber bei Projekten wie Open Source, Social Software und anderen In-novationsinitiativen stellt sich für bestimmte Unternehmen durchaus die Frage, wie man solche produktiven Konsumenten für sich gewinnen und an sich binden kann. Außerdem zieht der Aspekt angemessener Incentivierung, also der materiellen und/oder immateriellen Vergütung dessen, was Prosumenten proaktiv einbringen, gerade im Vergleich zu den Festangestellten, immer mehr Aufmerksamkeit auf sich. Hier befindet sich die Debatte jedoch noch am Anfang.

Noch unzureichend ausgearbeitet ist auch, ob sich der produktive Beitrag von Prosumenten über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg auswirkt, also sämtli-che Glieder der primären Aktivitätskette betrifft, oder nur für einzelne bedeutsam ist, seien es Forschung und Entwicklung, Produktion, Marketing und Marktfor-schung sowie Vertrieb oder auf der sekundären Ebene durch bestimmte Control-ling- bzw. Verwaltungsaufgaben (Abbildung 2).

Abbildung 2: Die Wertschöpfungskette von Michael Porter (1985)

Quelle: Porter (1985).

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Momentan konzentriert sich die Aufmerksamkeit noch auf die Bereiche Technolo-gieentwicklung, Operation (Herstellung) und Marketing (Vertrieb). Möglicherweise ergeben sich aber anderswo noch Gelegenheiten, die für Unternehmen und Pro-sumenten eine Win-Win-Chance bedeuten könnten.

Schließlich soll noch auf einen letzten Punkt aufmerksam gemacht werden. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass man es im Falle von Marken sowohl auf der Unternehmens- wie auf der Kundenseite mit eigenständigen Kulturen zu tun hat, die sich wechselseitig beobachten, öfters auch beeinflussen und mitunter sogar direkt miteinander kommunizieren. Wenn hier von Kultur die Rede ist, ist damit, ohne der Komplexität dieses Konzepts auch nur ansatzweise gerecht werden zu können, lediglich gemeint, dass ein Beobachter, ob Unternehmen, Kunde oder wer auch immer, bei der Beobachtung seiner Umwelt eine Reihe von Ereignissen beo-bachtet, die für ihn eine feststellbare Regelmäßigkeit, ein wiederkehrendes Muster aufweist, das er par tout nicht auf externe Steuerung zurückführen kann, weshalb er diese Ereignisreihe als einen selbstreferentiellen Vorgang deutet, quasi als einen weiteren eigenständigen Beobachter, ob Unternehmen, Kunde oder wer auch im-mer, der sich wiederholt von dem unterscheiden lässt, was der Beobachter selber tut oder was in der gemeinsamen Umwelt passiert.

Diese etwas umständliche Beschreibung soll deutlich machen, dass Kultur ein Vergleichsbegriff ist, dessen Funktion darin besteht, Unterschiede, Variationen, Abweichungen kenntlich zu machen, die aufgrund ihrer wiederkehrenden Regel-mäßigkeit Anlass für die Vermutung geben, dass man es bei der Beobachtung sol-cher Ereignisketten nicht mit Rauschen oder Zufälligkeiten, sondern mit einer zwar ähnlichen und somit vergleichbaren, am Ende aber doch anderen sozialen Entität zu tun hat, deren Andersheit trotz Ähnlichkeit pauschal als eigenständige Kultur definiert wird, ohne diese je vollständig erheben und beschreiben zu können. Kul-tur markiert sozusagen die soziale Tatsache, dass man es mit einem adäquaten Kommunikationspartner zu tun hat, der von seiner gesamten Erscheinungs- und Verhaltensweise her so anders ist als man selbst, dass man sogar mit ernsthaften Verständigungsproblemen rechnen muss. Aus diesem Grund bedarf es auch einer besonderen Befähigung und Bereitschaft, sich mit anderen, mehr oder weniger fremdartigen Kulturen fair und konstruktiv auseinanderzusetzen.

Inzwischen hat sich hierfür der Begriff der interkulturellen Kompetenz her-ausgebildet. Gemeint ist damit, dass man die Ansichten, Überzeugungen, Stand-punkte anderer Kulturen gleichberechtigt gelten lässt, sich mit ihnen offen ausei-nandersetzt, sie auf sich einwirken lässt und damit auch die Bereitschaft aufbringt, sich auf den anderen einzustellen, bis hin zu der Möglichkeit, dass ein derartiger Kulturkontakt zu Veränderungen der eigenen Kultur führen kann. Interkulturelle Kompetenz bedeutet somit die Verabschiedung vom weithin vorherrschenden Kulturautismus, d. h. vom Verharren der Kulturen in reiner Selbstbezogenheit.

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Überträgt man diese Konsequenzen und das damit verbundene Konzept der interkulturellen Kompetenz auf das Verhältnis von Unternehmenskultur und ‚par-ticipatory culture‘ (Jenkins et al. 2006), wie sie durch Prosumenten in besonderem Maße verkörpert wird, bedeutet das für die Unternehmen, sich im Umgang mit ihren hyperaktiven Kunden um eine tendenziell symmetrische, auf Gleichberechti-gung gerichtete Beziehungsform bemühen zu müssen.

„Die Hierarchien verschwinden nicht, aber tiefgreifende Veränderungen bei Technologie, Demo-graphie und in der globalen Wirtschaft lassen mächtige neue Produktionsmodelle entstehen, die vor allem auf Gemeinschaft, Zusammenarbeit und Selbstorganisation setzen und weniger auf Hie-rarchie und Kontrolle.“ (Tapscott/Williams 2007: 1)

Es reicht nicht mehr, dass die Unternehmen ihre Kunden einfach nur beliefern, erforschen, ausfragen, als Käufer und Datenlieferanten (miss)brauchen, sondern als echte Kommunikationspartner begreifen, als Chance zur Verbesserung der eigenen Performance, mithin zur Veränderung der eigenen Unternehmenskultur. Denn die Anerkennung der Prosumenten als gleichberechtigte Kooperationspartner lässt die eigene Unternehmenskultur gewiss nicht unberührt. „Thus, [working and] learning with and from the end-users seems to require not only specific organizational con-ditions, but also specific attitudes and norms.” (Wikström 1996: 17)

3. ‚Revolution im Netz‘

1977 veröffentlichte Ronald Inglehart die groß angelegte Studie „The Silent Revo-lution“, in der es um einen umfassenden Wertewandel in den fortgeschrittenen Industrienationen ging, genauer um eine Verschiebung der Aufmerksamkeit von materiellen Werten wie Pflicht und Ordnung in Richtung postmaterielle Werte wie Selbstverwirklichung und Hedonismus. Ihre Wurzeln hatte diese Entwicklung in den 1960er Jahren. Lange Zeit blieb das Ausmaß der Veränderung jedoch weitge-hend unbemerkt. Deshalb die Rede von der stillen Revolution.

Was wir gegenwärtig − im Zusammenhang mit Internet, Web 2.0 und ‚partici-patory culture‘ − beobachten können, gleicht, schaut man zunächst nur auf die Anfänge dieser Entwicklung, also die 1980er und 1990er Jahre, ebenfalls einer stillen Revolution, weil lange Zeit nicht klar abzusehen war, was daraus konkret entstehen würde. Inzwischen zeichnet sich jedoch ab, dass dieses Medium und die in ihm möglichen Technologien gewiss nicht minder wichtige soziale, politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche Veränderungen anstoßen: die Zunahme des Pro-sumismus ist eine, die Risiken, die daraus für traditionelle Formen der Unterneh-menskultur entstehen, eine andere. Zwar hält sich der Aktivitätsgrad der meisten ‚wikizens‘ (Tapscott/Williams 2007) noch sehr in Grenzen. Es ist aber nicht auszu-schließen, dass dieser Trend zunehmend mehr Konsumenten in seinen Bann

Unternehmenskulturrevolution durch Web 2.0

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schlägt, mehr ‚participatory culture‘ auch im Wirtschaftsleben Platz greift, und dann wird es für die Unternehmen zunehmend schwieriger, diese Veränderungen weiterhin zu ignorieren. Am Ende könnte es daher sein, dass das Web 2.0 der Startschuss für eine Unternehmenskulturrevolution war, deren Auswirkungen sich noch gar nicht ermessen lassen.

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3 Die vollständige Literaturliste findet sich unter der Internetadresse: http://www.markeninstitut.de

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