The "Analytic" of Kant's Critique of Practical Reason. A Commentary (work in progress, in German)
Transcript of The "Analytic" of Kant's Critique of Practical Reason. A Commentary (work in progress, in German)
Erstes BuchDie Analytik der reinen praktischen Vernunft
Erstes HauptstückVon den Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft
§ 1. Erklärung
1. Absatz, 1. Satz: Definition: „Praktische Grundsätze sind Sätze - unter sich hat.“
Die zweite Kritik setzt ein mit moralphilsophischer
Semantik. Kant liefert uns eine allgemeine Defnition
praktischer Sätze, um von dort aus das höchste Prinzip der
praktischen Vernunft zu spezifizieren: Ein praktischer
Grundsatz wird durch drei Merkmale gekennzeichnet: Er ist
erstens ein „Satz“, zweitens wird durch ihn eine „allgemeine
Bestimmung des Willens“ ausgedrückt und er hat drittens
„mehrere praktische Regeln unter sich“.
Damit sind die Merkmale aber nur genannt, nicht erklärt.
Sätze sind Urteile in denen „das Verhältnis verschiedener
Vorstellungen zur Einheit des Bewußtseins“ assertorisch
(wirklich) oder auch apodiktisch (notwendig), nicht aber wie
in bloßen Urteilen nur problematisch (möglich) gedacht wird.
Deshalb ist ein problematischer Satz eine „contradictio in adjecto“.
Nicht alle Urteile also sind Sätze, aber alle Sätze sind
Urteile (Logik § 30; Eberhard, VIII 193).
Nun werden auch mit der Äußerung „London ist eine Großstadt“
zwei verschiedene Vorstellungen (London und Großstadt)
vermittels der Kopula „ist“ zur Einheit des Bewußtseins
gebracht. Darüber hinaus gilt für diese Äußerung, daß es
sich um ein assertorischen Satz und nicht nur um ein
problematisches Urteil handelt, weil London tatsächlich eine
Großstadt ist. Damit aber ein Satz ein praktischer Satz ist,
1
muß noch eine zweite Bedingung erfüllt sein, nämlich daß
durch ihn der Wille bestimmt wird. „Wille“ wird von Kant als
ein begriffliches Kausalvermögen verstanden und hat somit
einen kognitiven und konativen Aspekt. Der Wille ermöglicht
es uns nicht nur, die Welt unseren Vorstellungen
entsprechend einzurichten, dieses Vermögen haben auch alle
anderen Wesen, die über ein Begehrungsvermögen im
allgemeinen verfügen (s. dazu KpV, Vorrede???). Er
ermöglicht es uns darüber hinaus, die Welt nach der
Vorstellung von Regeln oder Gesetzen einzurichten (GMS, IV 412;
KpV???) . Der praktische Satz ist genau eine solche Norm,
die eine mögliche Wirkungsart des menschlichen
Kausalvermögens zum Ausdruck bringt.1
„Bestimmung“ des Willens bedeutet, daß durch den Satz die Art
des Wirkens so festgelegt ist, daß andere Arten
ausgeschlossen sind. Kant versteht „determinatio“ als “ponere
praedicatum cum exclusione opposite” (Princ. prim. cogn. met. sct.
II, prop. IV). Nun werden durch den praktischen Grundsatz
dem Willen nicht deskriptiv bestimmte Merkmale
zugeschrieben. Vielmehr erlegen wir dem Willen mit
Handlungsgrundsätzen eine Norm auf, die es erst noch zu
verwirklichen gilt. Dabei kann man an dem „exclusione opposite“
festhalten: Die Willensbestimmung besteht genau darin, daß
wir durch den praktischen Satz die Vielzahl von
Wirkungsarten auf eine Art einschränken. Der Begriff der
Bestimmung ist zweideutig. Zum einen können wir den Willen
bestimmen, indem das Prinzip seines Wirkens beurteilen. Diese
1 Für eine detaillierte Analyse des in der Kant-Literatur viel diskutierten Satzes vonGMS 412 s. Willaschek 1992, § 5.
2
Beurteilungsperspektive kann nicht nur der Handelnde selbst,
sondern auch ein Beobachter einnehmen. Dabei wird dann etwa
ein Prinzip des Handelns als moralisch legal oder
unmoralisch klassifiziert. Der andere Sinn von ‘Bestimmung’
ergibt sich nur aus der Perspektive des Handelnden.
Willensbestimmung meint hier aus der Vielzahl von
Handlungsprinzipien eines auszuwählen, eine Entscheidung zu
treffen und damit die Wirkungsweise des Willens auf das
gewählte Prinzip festzulegen. Bestimmung bedeutet hier nicht
bloß Beurteilung, sondern Handlungswirksamkeit.
Kant spezifiziert die Willensbestimmung zudem noch als
„allgemein“. Man könnte meinen, damit sei eine
Willensbestimmung angesprochen, die nicht nur für ein,
sondern für alle Handlungssubjekte gilt. Ein praktischer
Grundsatz wäre demnach die Bestimmung einer Handlungsart,
die für alle Handlungssubjekte gilt. Nun ist aber, wie Kant
im folgenden Satz schreibt, die „Maxime“ eine Unterart
dieser praktischen Grundsätze. Maximen sind subjektive
Handlungsprinzipien und als solche nicht für alle
Handlungssubjekte gültig. Weil es eine „Ungereimtheit“ ist,
zu sagen: „[k]ein einziges Pferd hat Hörner, aber die
Pferdegattung ist doch gehörnt“ (VIII, 47), die
Eigenschaften von Gattung und Art sich also nicht
widersprechen dürfen, muß hier mit „allgemein“ ein anderer
Sachverhalt angesprochen sein.
Es ist daher naheliegend, den Relativsatz „die mehrere
praktische Regeln unter sich hat“ so zu verstehen, daß damit
die Allgemeinheit der Willensbestimmung genauer spezifiziert
3
wird. Die Rede von „unter sich hat“ weist auf ein
Subsumtionsverhältnis hin: Die Willensbestimmung ist allgemein
und nicht speziell, im Verhältnis zu den praktischen Regeln,
die sie unter sich begreift. Auch wenn allgemeine
Willensbestimmung bereits eine Festlegung auf eine bestimmte
Handlungsart darstellt, so daß andere Handlungsarten
ausgeschlossen sind, handelt es sich doch erst um eine
allgemeine Art zu handeln. Die konkrete Handlung bleibt damit
noch unbestimmt. Erst vermittels einer konkreten
Situationsbeschreibung als Fall jenes Grundsatzes kann dann,
die konkrete Handlungsanweisung abgeleitet werden, die zur
Realisierung der allgemeinen Willensbestimmung führt. Der
„Grundsatz“ und die „praktische Regel“ fungieren also als
Obersatz bzw. Schlußsatz in einem praktischen Syllogismus,
die „Bedingung“ von der Kant spricht, bildet den
Mittelbegriff (zum Vernunftschluß s. Logik § 57 f.; eine
genauere Anaylse des praktischen Syllogismus bei Kant findet
sich unten § 4, Anmerkung???). Ein Blick in Kants Logik
bestätigt diese Analyse: Grundsätze sind Urtheile aus denen
„andere Urteile erwiesen“ werden, die selbst aber „keinem
andern subordinirt werden können“ (Logik § 34).
Ein Beispiel für eine allgemeine Willensbestimmung oder einen
Grundsatz wäre also etwa: Ich will „mein Vermögen durch alle
sicheren Mittel […] vergrößern“ (§ 4, V, 27). Damit ist
lediglich eine Handlungsart aber noch nicht über die konkrete
Handlung entschieden. Der Grundsatz enthält deshalb
seinerseits noch mehrere praktische Regeln „unter sich“. Zum
Beispiel: (i) Gebe nicht mehr Geld aus als du einnimmst,
4
(ii) lege nicht den Großteil deines Geldes in Aktien an,
(iii) hinterziehe Steuern dort, wo Du unendeckt bleibst etc.
Die „praktischen Regeln“ sind also spezielle
Handlungsanweisungen, die normalerweise von der besonderen
Situation des Handelnden abhängig sind.
Um die speziellen praktischen Regeln, die „unter“ den
praktischen Grundsätzen stehen, aufzufinden, ist daher
normalerweise empirische Erkenntnis erforderlich. So müssen
wir etwa wissen, daß der Aktienmarkt selbst für Experten
unvorhersehbar ist und deshalb ein Aktieninvestment kein
geeignetes Mittel ist, um sein Vermögen „sicher“ zu
vergrößern. Dasselbe gilt auch für die dritte praktische
Regel, die freilich rechtlich und moralisch unerlaubt ist.
Doch weil die Maxime als der allgemeine Grundsatz „alle
sicheren“ Mittel zur Vergrößerung des Vermögens zuläßt,
schließt sie auch die unmoralischen und unrechtlichen Mittel
nicht aus. Allein die erste praktische Regel läßt sich auch
ohne empirische Erkenntnis formulieren und folgt analytisch
aus der allgemeinen Willensbestimmung.
2. Satz: „Sie sind subjektiv – erkannt wird“
Müssen die praktischen Grundsätze oder die praktischen
Regeln in Maximen und Gesetze eingeteilt werden? Das
Demonstrativpronomen, mit dem Kant diesen Satz eröffnet,
läßt dies offen. Nun heißt es weiter unten ausdrücklich, daß
„Maxmimen […] zwar Grundsätze, aber nicht Imperativen sind“ (A
37). Versteht man die praktischen Regeln als Imperative ist
die Referenz eindeutig: Praktische Grundsätze teilen sich auf
5
in zwei Unterarten: „Maximen“ und „praktische Gesetze“. Kant
hat einen weiten Begriff von „Grundsätze“, der es zuläßt
Maximen und Gesetze unter ihn zu subsumieren. Grundsätze im
allgemeinen sind Prinzipien. Sie können sowohl a priori als
auch empirisch (KrV, B 198), objektiv oder auch subjektiv
sein (KrV, B 644). Als objektive Grudsätze sind sie
„Gesetze“ als subjektive heißen sie „Maximen“ (KrV, B 694).
Maximen sind subjektiv, weil „die Bedingung nur als für den
Willen des Subjekts als gültig […] angesehen wird“. Der
„praktische Grundsatz“ ist die Bedingung der praktischen
Regel. Doch wenn man das Demonstrativpronomen am Beginn des
Satzes auf den praktischen Grundsatz bezieht, kann Kant
nicht auch „Bedingung“ mit dem „praktischer Grundsatz“
identifizieren. Der praktische Grundsatz wäre dann die
Bedingung der Maxime, die selbst eine Art des praktischen
Grundsatzes ist. Es ist naheliegend „Bedingung“ hier als die
Bedingung der Annahme des Grundsatzes zu verstehen. Wenn die
Bedingung der Annahme auf Gründen beruht, die bloß subjektiv
gültig sind, dann ist der Grundsatz eine Maxime. Ist die
Bedingung der Annahme dagegen „für den Willen jedes
vernünftigen Wesens gültig“, haben sie „objektiv[e]“
Gültigkeit und heißen „Gesetze“. Der Unterschied zwischen
Maximen und praktischen Gesetzen wird hier ausschließlich
über den Geltungsbereich bestimmt.
Wie Maximen und praktische Gesetze genauer zu formulieren
sind, erfährt man an dieser Stelle nicht. Als Arten der
praktischen Grundsätze gelten aber auch für sie jene
eingangs formulierten Bedingungen: Sie sind allgemeine
6
Sätze, denen besondere praktische Regeln untergeordnet sind.
Der praktische Grundsatz „ich will mein Vermögen durch alle
sicheren Mittel vergrößern“, drückt keine objektive, sondern
nur eine subjektive Verbindlichkeit aus. Der Unterschied
zwischen Maximen und praktischen Gesetzen ist nicht, daß
diese präskriptiv, jene dagegen nur deskriptiv sind.
Vielmehr erlegen wir uns mit der Annahme einer bestimmten
Maxime selbst eine Handlungsart auf. Dabei wird nur nicht in
Anspruch genommen, daß alle Vernunftsubjekte dieser
Handlungsart folgen sollen.
Anmerkung
1. Absatz, 1. Satz: „Wenn man annimmt, daß reine Vernunft - bloße Maximen
sein“
Nur wenn reine Vernunft die Fähigkeit hat, unseren Willen
allein aus sich heraus zum Handeln zu bestimmen, gibt es
praktische Gesetze. Ist reine Vernunft nicht in der Lage,
allein aus sich heraus den Willen zum Handeln zu bestimmen,
sind alle praktischen Grundsätze nur subjektiv gültig
(Maximen). Kant deutet an dieser Stelle den Zusammenhang
zwischen reiner Vernunftbestimmung und praktischen Gesetzen
nur an. Das negative Argument für diesen Zusammenhang läßt
sich wie folgt ausdrücklich machen:
(i)Wir können nur dann nach Regeln handeln, wenn ein
gegebener Wunsch vorausgesetzt wird, auf den sich diese
Regeln beziehen können
(ii) Praktische Gesetze sind Regeln die
voraussetzungslos gebieten.
7
(iii) Also sind wir keine rechtmäßigen Adressaten für???
praktische Gesetze.
2. Satz: In einem pathologisch-affizierten - angetroffen werden.
In einem Willen, der nicht unmittelbar durch Vernunft
bestimmt ist, sondern bei dem Vernunft auch bloß als
instrumentelles Vermögen fungiert, können die Maximen dem
praktischen Gesetz „widerstreiten“. „Pathologisch“ muß hier
wörtlich als widerfahren oder erleiden verstanden werden. Nur
weil wir auch Wünsche haben, die nicht von der Vernunft
hervorgebracht sind, sondern die uns zufällig widerfahren,
ist es möglich, daß unsere Maximen nicht ausschließlich
vernünftig sind. Freilich ist dies nur eine notwendige
Bedingung für Handlungen, die nicht ausschließlich
vernünftig sind. Es ist sehr wohl denkbar, daß wir Wünsche
haben, die nicht von der Vernunft hervorgebracht sind, wir
aber immer nur dasjenige wählen, was vernünftig ist. Wir
würden dann, obgleich unser Begehrungsvermögen sinnlich
affiziert ist, ausschließlich vernünftig handeln.
3. Satz: „Z. B. es kann sich jemand – stimmen könne“
Den möglichen Widerspruch zwischen Maxime und praktischem
Gesetz erklärt Kant an einem Beispiel. Die Maxime lautet:
Ich will „keine Beleidigung ungerächet […] erdulden“. Kant
behauptet, daß diese Maxime „kein praktisches Gesetz“ sei.
Seine Begründung fällt nur sehr kurz aus: Sie könne nicht
„als Regel für den Willen eines jeden vernünftigen Wesens,
in ein und derselben Maxime, mit sich selbst […] zusammen
stimmen“. Wenn etwas nicht „mit sich selbst nicht zusammen
8
stimmen“ kann, liegt ein Widerspruch vor. Dabei bleibt aber
noch unklar, welche Art von Widerspruch hier gemeint ist.
Aus der Grundlegung sind uns zwei Arten von Widerspruch
bekannt: Der konzeptuelle und der Widerspruch im Willen
(GMS, 424). Die Frage ist also erstens, wo genau der
Widerspruch auftritt und zweitens welche Art von Widerspruch hier
gemeint ist.
Aus folgendem Grund glaubt Kant vermutlich, daß dieser Satz
nicht als praktisches Gesetz gelten könne: Der Rächer
intendiert mit seiner Rache einen Ausgleich und die
Widerherstellung des status quo. Dieser Zustand aber läßt sich
nicht erreichen, wenn der Rache als einer Form der
Beleidigung, selbst wiederum mit Rache begegnet würde und so
weiter ad infinitum. Demnach kann diese Maxime „ohne
Widerspruch nicht einmal als allgemeines Naturgesetz gedacht
werden“ und also liegt hier ein konzeptueller Widerspruch
vor (GMS, IV 424, Hervorhebung J. B.). Maximen, die ohne
Widerspruch nicht gedacht werden können, verletzen eine
vollkommene Pflicht. Setzt man also den Theorierahmen der
Grundlegung voraus, wäre es eine vollkommene Pflicht, einige
Beleidigungen ungerächt zu erdulden (ebd.).
4. Satz: „In der Naturerkenntnis - Objekts bestimmt“
Praktische Grundsätze sind nicht immer auch für alle
Handlungssubjekte gültig („Gesetze“), sie können auch nur
subjektiv gültig („Maximen“) sein. Diese These führt Kant
dazu den prinzipiellen Unterschied zwischen theoretischer
und praktischer Erkenntnis zu erläutern: Theoretische
9
Erkenntnis ist Erkenntnis von dem was der Fall ist und nicht
was der Fall sein soll. Der „Gebrauch der Vernunft“ ist daher,
wie Kant sagt, in der Theorie „durch die Beschaffenheit des
Objekts bestimmt“. Kant nennt als Beispiel das Prinzip der
„Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung“. Genauer lautet
dieses Prinzip „Wirkung und Gegenwirkung ist in dem Stoße
der Körper immer gleich“ (Neuer Lehrbegriff, II, S. 19). Dieses
Prinzip ist ein Prinzip von dem „was geschieht“ oder von dem
was der Fall ist. Und weil theoretische Erkenntnis genau
dieses Wissen intendiert, „sind die Prinzipien dessen, was
geschieht, […] zugleich Gesetze der Natur“.
5. Satz: „In der praktischen Erkenntnis - vielfältig richten kann“
In der praktischen Erkenntnis sind „Grundsätze, die man sich
macht, darum noch nicht Gesetze, darunter man unvermeidlich
stehe“. Zwei Dinge sind an diesem Satz bemerkenswert: Kant
spricht im Indikativ von Grundsätzen, die man sich „macht“.
Damit versucht er zunächst praktische Erkenntnis analog zur
Naturerkenntnis als ein ‘Der-Fall-Sein’ zu verstehen. Doch
bereits der zweite Teil bringt die Disanalogie zum Ausdruck.
Denn das „Der-Fall-Sein“ von bestimmten Grundsätzen bedeutet
in der praktischen Erkenntnis gerade nicht, daß man „darunter
[…] unvermeidlich stehe“.
Die Wendung „darunter unvermeidlich stehen“ kann auf zwei
Weisen verstanden werden:
(a) Es ist notwendig der Fall, daß wir diese Grundsätze haben
(die Grundsätze hätten nicht anders sein können).
(b) Die Grundsätze sind allgemein verbindlich (es ist
unbedingt geboten, daß wir diese Grundsätze annehmen).
10
Beide Lesarten sind sinnvoll, weil in beiden Fällen für
praktische Grundsätze ihr Gegenteil gilt:
(a) Grundsätze, die wir uns machen hätten andere sein
können, weil wir frei sind.
(b) Die Grundsätze, die wir Annehmen, sind nicht auch
zugleich allgemein verbindliche Gesetze, sondern können auch
nur Maximen sein, weil wir nicht immer schon die Grundsätze
annehmen, die vernünftig sind.
Betrachtet man den engeren Kontext dieses Satzes, wird man
sich wohl für die zweite Lesart entscheiden. Genau um den
Sachverhalt, daß Maximen nicht auch immer verbindliche
Gesetze sind, geht es Kant sowohl zwei Sätze zuvor als auch
unmittelbar im Anschluß, wenn er den Begriff des Imperativs
einführt. Nimmt man die Begründung dieses Satzes hinzu, dann
ergibt sich zudem noch eine Schwierigkeit, die die erste
Lesart unplausibel macht. Praktische Grundsätze sind nicht
auch zugleich Gesetze, weil die Vernunft es im Praktischen
nicht mit Objekten, sondern „mit dem Subjekte zu tun“ habe,
genauer mit dem „Begehrungsvermögen, nach dessen besonderer
Beschaffenheit sich die Regel vielfältig richten kann“. Mit
„Regel“ ist in diesem Fall wahrscheinlich nicht die
besondere praktische Regel, sondern der allgemeine
praktische Grundsatz gemeint. Welchen subjektiven
praktischen Grundsatz (Maxime) man annimmt, hängt von der
„besonderen Beschaffenheit unseres Begehrungsvermögens“ ab.
Was wir Begehren und welche Grundsätze wir annehmen, ist von
Subjekt zu Subjekt verschieden und letztlich für Kant ein
Akt der Freiheit.
11
Wenn man nun kontrafaktisch diesen Satz negiert und sich der
Grundsatz nicht nach der besonderen „Beschaffenheit des
Begehrungsvermögens“ richtete, wir also alle notwendig
dasselbe wollten, dann müßte man auch den ersten Teilsatz
negieren und alle „Grundsätze, die man sich macht“ wären
„Gesetze, darunter man unvermeidlich stehe“. Nun ist es
zunächst nicht einzusehen, warum unsere Grundsätze auch
zugleich praktische Gesetze wären, wenn wir alle dasselbe
wollten. Es wäre denkbar, daß wir alle mit Notwendigkeit
dieselben nicht universalisierbaren Grundsätze annehmen und
wir also keine moralisch zurechenbaren Wesen im kantischen
Sinne wären. In der Anmerkung II von § 3 argumentiert Kant
zudem, daß, selbst wenn wir alle hinsichtlich desselben
Weltzustandes dasselbe fühlten, sich daraus dennoch keine
allgemeinen praktischen Gesetze ableiten ließen, weil diese
Übereinstimmung nur empirisch und damit zufällig ist (s.
oben???).
Vor dem Hintergrund dieser kontrafaktischen Annahme scheint
sich die zweite Lesart besser zu bewähren: Wenn wir alle
notwendig dasselbe wollten, dann wären unsere Grundsätze
auch zugleich deskriptive Gesetze, nämlich von dem was der
Mensch will.
Kant würde vermutlich die Frage stellen, woher denn diese
nicht-universalisierbaren Grundsätze kommen können. Für ihn
gibt es genau zwei Möglichkeiten: Vernunft oder
Sinnlichkeit. Von der Vernunft können sie nicht kommen, weil
sie nicht universalisierbar sind. Sind sie aber auf unsere
Sinnlichkeit zurückzuführen, dann handelt es sich lediglich
12
um einen empirischen Zufall, daß wir alle dasselbe wollen.
Jene kontrafaktische Annahe läßt sich also für Kant nur
aufrecherhalten, wenn wir alle notwendig durch Vernunft
bestimmt sind. Und dann wären auch tatsächlich alle unsere
Grundsätze immer schon praktische Gesetze.
Satz 6: „Die praktische Regel - vorschreibt“
Kant führt den Begriff des Imperativs ein. Dabei behauptet
er zunächst, daß die „praktische Regel“ ein
„Vernunftprodukt“ ist. Sie schreibt uns eine „Handlung, als
Mittel zur Wirkung als Absicht vor“. Die Rede von
„praktischer Regel“ muß hier terminologisch verstanden
werden. Sie ist jene spezielle Handlungsanweisung, die zur
Verwirklichung des allgemeinen praktischen Grundsatzes führt
(vgl. Satz 1???). Von dieser Praktischen Regel sagt Kant nun
(i) sie ist „Handlung“ (ii) sie ist „Mittel zur Wirkung“ und
(iii) sie ist „Absicht“.
Hinter der komplizierten Wendung „Handlung, als Mittel zur
Wirkung, als Absicht“ steht ein einfacher Sachverhalt: Wenn
wir einen vorausgesetzten Zweck wollen, dann schreibt uns
die praktische Regel eine Handlung vor. Diese Handlung
müssen wir beabsichtigen, weil sie das Mittel zur
Verwirklichung des vorausgesetzten Zwecks ist.
Man kann sich das an dem oben genannten Beispiel
verdeutlichen: Heinz hat den Zweck, sein Vermögen durch alle
sicheren Mittel zu vergrößern. Ist er in der Situation, über
ein finanzielles Vermögen zu verfügen und es ist darüber
hinaus der Fall, daß der Kauf von Gold das einzige sichere
13
Mittel sein Vermögen zu vergrößern ist, dann ist die
praktische Regel: „Du sollst dein Geld in Gold anlegen!“
Entsprechend lautet die vorgeschriebene Absicht: „Ich will
mein Geld in Gold anlegen“. Diese Absicht sollte Heinz
haben, wenn er es mit seinem Willen ernst meint, sein
Vermögen durch alle sicheren Mittel zu vergrößern. Es „ernst zu
meinen“, heißt, die Verwirklichung zu wollen und nicht etwa
nur zu wünschen (s. zu dieser Unterscheidung, S.???). Die
vorgeschriebene Absicht ist das Mittel zur Verwirklichung
der ursprünglichen Intention.
Wieso sagt Kant nun, daß diese Regel „jederzeit ein Produkt
der Vernunft“ ist? Kant kann nicht meinen, die Vernunft
bringe die Regel aus reiner Selbsttätigkeit hervor. Daß Gold
ein sicheres Mittel zur Vergrößerung des Vermögens ist, ist
(wenn es wahr wäre) eine empirische Tatsache. Insofern möchte
man meinen, daß die Regel kein Vernunftprodukt, sondern ein
Produkt der Empirie ist. Wenn Kant in diesem Zusammenhang von
„Vernunftprodukt“ spricht, muß er also den empirischen und
nicht reinen Vernunftgebrauch meinen. Vernunft wird hier von
Kant in einem weiten Sinne gebraucht. Genauer noch ist die
„bestimmende Urteilskraft“ gemeint (s. dazu KU, V 179), die
die spezielle praktische Regel aufsucht, die unter dem
allgemeinen praktischen Grundsatz steht.
Satz 7, 8: „Diese Regel – gänzlich unterschieden“
Bei einem Wesen, bei dem der Wille nicht ausschließlich
durch Vernunft bestimmt ist, ist die praktische Regel ein
„Imperativ“: „Du sollst dein Geld in Gold anlegen“. Ein
14
Imperativ ist eine Regel, die eine „objektive Nötigung der
Handlung ausdrückt“. Wenn die Vernunft den Willen
ausschließlich bestimmen würde, würden wir notwendig dieser
praktischen Regel folgen. Imperative gelten objektiv und
sind von Maximen unterschieden. Damit wird „objektiv“ nun in
einem weiteren Sinne als im ersten Absatz gebraucht. Dort
hatte Kant objektive Grundsätze zunächst nur mit Gesetzen
gleichgesetzt. Hier zeichnet sich schon ab, daß jede Art von
Imperativ in einem bestimmten Sinne ein objektiver Grundsatz ist. In
welchem Sinne, erläutert Kant, wenn er weiter unten auf die
Arten der Imperative eingeht.
Wie ist es zu verstehen, daß die Vernunft nicht
ausschließlich den Willen bestimmt? Kant nennt an dieser
Stelle keine positive Alternative zur Vernunftbestimmung:
Wodurch sind wir bestimmt, wenn wir nicht durch Vernunft
bestimmt sind? Der Gegenbegriff von „Vernunft“ ist
„Sinnlichkeit“ oder, wenn es um den Willen geht, „Neigung“.
Es wäre also möglich, daß wir sehr wohl wissen, was wir
vernünftigerweise zu tun hätten, aber statt dessen unseren
unmittelbaren Neigungen entsprechend handelten.
Hier treten Probleme auf: Es ist naheliegend, die Bestimmung
durch Neigung so zu verstehen, als würde diese unmittelbar
als ein Naturtrieb handlungswirksam. Nach diesem Modell
wären wir frei, wenn wir aus Vernunft und unfrei, wenn wir
aus Neigung handelten. Diese Interpretation führt dann zu
der absurden Konsequenz, daß wir die Möglichkeit moralisch
bösen Handelns aufgeben müssen.2 Kant kann hier daher nur so2 Carl Leonard Reinhold hat als erster??? auf diese absurde Konsequenz aufmerksamgemacht und eine Revision der Kantischen Freiheitstheorie vorgeschlagen, die nichtdem „Kantischen Buchstaben“, aber dem „kantischen Geist“ entspreche. In dieser
15
sinnvoll verstanden werden, wenn man voraussetzt, daß eine
Vernunftbestimmung möglich gewesen wäre. In diesem Sinne
können dann auch jene Passagen gelesen werden, in denen Kant
schreibt, daß das Begehrungsvermögen durch sinnliche
„Antriebe zwar affiziert, aber nicht bestimmt [d. h.
necessitirt] wird“ (KrV, B 562; B 830; KpV, V 32; MS/E, VI
213).
Es läßt sich noch ein zweiter Grund denken, warum wir
Imperativen unterworfen sind. Wenn z. B. derjenige, der
„sein Vermögen durch alle sicheren Mittel vergrößern“ will,
die falsche Meinung hat, daß sein Ziel durch Aktiengeschäfte
zu erreichen ist, so gilt für ihn nicht etwa der Imperativ:
„Investiere in Aktien!“. Vielmehr drückt jeder Imperativ
eine „objektive Nötigung“ aus. Wenn also die praktische Regel
auf falscher Erkenntnis beruht, ist sie kein Imperativ und
damit nicht verbindlich. Der Imperativ hängt daher nicht vom
persönlichen, sondern vom objektiven Wissensstand ab.
Sollenssätze sind also auch deshalb sinnvoll, weil wir uns
irren können.
Wir können uns ein vernünftiges Wesen denken, das immer das
tut, was es subjektiv für vernünftig hält. Dennoch wäre in
bezug auf dieses Wesen die Rede von Imperativen sinnvoll.
Denn wenn es den Zweck wirklich will und nicht etwa nur
wünscht, dann will es auch die Verwirklichung. Diese ist
aber nur möglich, wenn es sich an die objektiv wahren und
nicht nur subjektiv für wahr gehaltenen Mittel-Zweck-
Tradition stehen die meisten gegenwärtigen Kantinterpreten. Sie kommen alle letztlichdarin mit Reinhold überein, daß sie Freiheit als absolute Spontaneität der Willkürbestimmen, aus der wir uns für oder gegen das moralische Gesetz entscheiden können(Hudson 1994; Willaschek 1992; Allison 1990; Carnois 1987; Beck ³1995). Für einenVersuch in dieser Sache am Kantischen Buchstaben festzuhalten s. Bojanowski 2007.
16
Beziehungen hält. Der Imperativ kommt hier also über unsere
Irrtumsanfälligkeit ins Spiel. Der Text expliziert die
Wendung „bei dem Vernunft nicht ganz allein Bestimmungsgrund
des Willens ist“ nicht. Daher muß es offen bleiben, ob für
Kant die Irrtumsfähigkeit konstitutiv für Imperative ist.
Kant zieht aber eine andere Möglichkeit in Erwägung: Ein
Wesen bei dem „die Vernunft den Willen gänzlich bestimmte“,
ein Wille, der sowohl theoretisch als auch praktisch
irrtumsimmun ist. Kant nennt einen solchen Willen auch einen
„heiligen Willen“ (KpV, § 7 V 32). Dieser heilige Wille hat
nicht die Wahl zwischen Vernunft und Neigung. Deshalb haben
die Begriffe „Imperativ“, „Nötigung“ in bezug auf ihn keine
Anwendung. Doch obgleich dieses Wesen nicht anders handeln
kann, folgt es dennoch „Regeln“. Der Heilige Wille ist also
ebenso wie wir ein normatives Wesen, nur muß die Befolgung
der Normen nicht wie bei uns gegen normwidrige Antriebe
erzwungen werden.
Satz 9-12: „Jene bestimmen aber – unabhängig sein muß“
Die Imperative bestimmen den Willen in zweifacher Weise: Die
erste Art bestimmt den Willen nur „in Ansehung der Wirkung
und Zulänglichkeit zu derselben“. Es wird also ein Ziel als
gegeben vorausgesetzt und der Imperativ schreibt uns die
Mittel vor, die „zulänglich“ sind, um die intendierte
Wirkung herbeizuführen. Weil diese Art der Willensbestimmung
einen bestimmten Gegenstand des Willens als gegeben
voraussetzt, nennt Kant den Imperativ einen „hypothetischen
Imperativ“. Der hypothetische Imperativ ist nur bedingt
gültig, weil er nur für diejenigen verbindlich ist, die den
17
vorausgesetzten Zweck auch tatsächlich wollen. Deshalb sind
hypothetische Imperative keine Gesetze, sondern nur
„Vorschriften der Geschicklichkeit“.3
Der Begriff „Gesetz“ impliziert, wie Kant sagt,
„Notwendigkeit“, genauer muß es heißen: objektive
Notwendigkeit. Er muß daher von „zufällig anklebenden
Bedingungen unabhängig sein“. Kant wird zwei Sätze später
auch von den „Vorschriften“, den hypothetischen Imperativen
sagen, daß ihnen Notwendigkeit zukommt, schränkt sie aber
ein, indem er sagt, daß sie „nur subjektiv bedingt“ sei. Man
kann also festhalten, daß alle Imperative mit Notwendigkeit
gelten. Die kategorischen sind objektiv, die hypothetischen
subjektiv gültig.
In demselben Zusammenhang, in dem Kant den Gesetzesbegriff
expliziert sagt er aber auch, daß „Notwendigkeit […] wenn
sie praktisch sein soll, von pathologischen, mithin dem Willen
zufällig anklebenden Bedingungen unabhängig sein muß“
(Hervorhebung J. B.). Nun ist die Verbindlichkeit der
hypothetischen Imperative von diesen „zufällig anklebenden
Bedingungen“ abhängig. Daher liegt der Schluß nahe, daß Kant
ihnen überhaupt keine praktische, sondern nur theoretische
Notwendigkeit zusprechen will. Und dennoch bezeichnet er sie
als Imperative. Als Imperative drücken sie eine
Handlungsanweisung aus, die dem Handelnden aus
Vernunftperspektive keine Wahl lassen und insofern nicht nur3 Kants Analyse der Imperative fällt in der zweiten Kritik gröber aus als in derGrundlegung. Erstens fehlt die Differenzierung der hypothetischen Imperative in„Ratschläge der Klugheit“ und „Regeln der Geschicklichkeit“ (GMS IV, 416). Er machtzweitens keine Angaben über den modalen Status (apodiktisch, assertorisch,problematisch) der Imperative im allgemeinen (GMS, IV 415). Drittens spricht Kant auchin dieser Passage nicht und sonst eher beiläufig über die Qualität (analytisch,synthetisch) der moralischen Sätze (GMS, IV 417).
18
eine praktische Möglichkeit, sondern eine Notwendigkeit
darstellen. Das bedeutet freilich nicht, daß wir gar nicht
anders wollen können, immer schon das tun, was vernünftig
ist und der Imperativ eigentlich ein Indikativ ist. Es
bedeutet nur, daß wir den Verstoß gegen den Imperativ nicht
vernünftigerweise wollen können, weil wir uns damit einen
Widerspruch einhandelten: Wir wollen das Ziel verwirklichen,
aber wir wollen nicht auch die Mittel ergreifen, die zu
seiner Verwirklichung notwendig sind. Dabei kann die
praktische Notwendigkeit des Imperativs durchaus, wie Kant
sagt, „subjektiv bedingt“ sein. Es ist dann nicht das
vorausgesetzte Ziel, das praktisch notwendig ist, sondern
das Mittel zu seiner Verwirklichung. Auch wenn in den
Imperativ in diesem Fall theoretisches Wissen um eine
Kausalbeziehung eingebettet ist, ist es ein Imperativ, der
immer auf unser Begehrungs- und nicht etwa Erkenntnisvermögen
bezogen ist. Es bleibt daher unklar, warum Kant sagt, daß
Notwendigkeit, „wenn sie praktisch sein soll, von
pathologischen, mithin dem Willen zufällig anklebenden
Bedingungen unabhängig sein muß“ (Hervorhebung J. B.).4
Die zweite Art der Willensbestimmung setzt keinen bestimmten
Gegenstand des Willens als gegeben voraus, sondern gebietet
dem Willen unmittelbar, „er mag zu seiner Wirkung
hinreichend sein oder nicht“. Das „er“ bezieht sich hier auf
4 Walter Brinkmann hat uns eine modallogische Analyse von Kants Ethik vorgelegt. DieseStudie ist eine außergewöhnliche Verbindung aus systematischer Eigenständigkeit undhermeneutischer Behutsamkeit. Ihr Titelbegriff ist „praktische Notwendigkeit“. Es istjedoch leider auch ihr nicht zu entnehmen, wie es zu erklären ist, daß Kant denhypothetischen Imperativen praktische Notwendigkeit abspricht. Obwohl Brinkmann aneiner Stelle ausdrücklich bemerkt, daß Kant „’praktisch notwendig’ […] für moralischeVerpflichtungen [reserviert]“, erklärt er, soweit ich sehe, diese Einschränkung nicht(Brinkmann 2003, S. 79).
19
den Willen. Bei der Bestimmung des Willens wird erstens nicht
berücksichtigt „ob ich gar das zu einer begehrten Wirkung
erforderliche Vermögen habe“ und zweitens, „was mir, um diese
hervorzubringen, zu tun sei“. Bei dieser Art der
Willensbestimmung geht es also weder um die Frage, ob der
Wille als Kausalvermögen stark und geschickt genug ist, um
die begehrte Wirkung hervorzubringen, noch welche Mittel
angemessenen sind, um die intendierte Wirkung zu erzielen.
Was dem Willen, wenn er „unmittelbar“ bestimmt wird, positiv
geboten wird, sagt Kant an dieser Stelle nicht. Er sagt
aber, daß das Gebot, weil es keine Bedingung als gegeben
voraussetzt, „kategorisch“ genannt wird. Damit ein Gebot ein
Gesetz sein kann, muß es objektiv notwendig gelten. Deshalb
können nur kategorische Gebote „Gesetze“ heißen. Nur sie
sind „von pathologischen, mithin dem Willen zufällig
anklebenden Bedingungen unabhängig“.
Kant spricht hier im Plural von „kategorischen Imperativen“
und „Gesetzen“. Dabei betont er etwa in der Grundlegung, daß
der kategorische Imperativ nur „ein einziger“ sei (GMS, IV
421). Der Plural bezeichnet hier nicht das Prinzip des
kategorischen Imperatives, sondern seine konkreten
Instanzierungen. Demnach wären dann z. B. die Imperative:
„Sage die Wahrheit!“, „begehe kein Selbstmord!“, „entwickle
deine Talente!“ und „helfe Menschen in Not!“ (GMS, IV 421
ff.) vier kategorische Imperative und die durch sie
bestimmten universalisierbaren Maximen jeweils ein
praktisches Gesetz. Obgleich die Maxime also immer subjektiv
ist, weil ihr die Form „ich will ...“ zugrunde liegt, kann
20
ihr doch auch „zugleich“ Objektivität zukommen, wenn sie
universalisierbar ist. Genau dieser Sachverhalt ist
angesprochen, wenn Kant das Grundgesetz der reinen
praktischen Vernunft so formuliert, daß wir so handeln
sollen, „daß die Maxime [unseres] Willens jederzeit zugleich
als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“
(KpV § 7, Hervorhebung J. B.). Die Maxime: „ich will mir nur
dann Geld leihen, wenn ich weiß, daß ich es zu einem
späteren Zeitpunkt auch zurückzahlen kann“, ist ein Fall
einer Maxime, die zugleich als objektives Gesetz gilt.
Auch die universalisierbaren Maximen als besondere oder
niederrangigen Moralgrundsätze sind unbedingt gültig, weil
sie mit dem höherrangigen obersten Prinzip, aus dem sie sich
ableiten, übereinstimmen. Der oberste Grundsatz ist das
Prinzip des kategorischen Imperativs im Singular, das Kant
im § 7 als „Grundgesetz der praktischen“ Vernunft einführen
wird. Wie Kant die Unbedingheit dieses ersten Prinzips
rechtfertigt, wird im Zusammenhang mit Kants Theorie vom
Moralgesetz als Vernunftfaktum diskutiert werden (s.
unten???).
Mit der Einführung der hypothetischen und kategorischen
Imperative, läßt sich nun eine Taxanomie der praktischen
Sätze angeben. Dabei fällt auf, daß der hypothetische im
Unterschied zum kategorischen Imperativ nicht als eine Art
der praktischen Grundsätze verstanden wird. Diese Einteilung
erhält ihre textliche Unterstützung aus der „Erklärung“ des
§ 1. Dort subsumiert Kant ausdrücklich unter Grundsätze nur
Maximen als subjektive und Gesetze als objektive Grundsätze.
21
Der Sache nach können die hypothetischen Imperative wohl
nicht als Ober- bzw. Grundsätze in einem Syllogismus
fungieren, weil sie keine Regeln sind, von denen wir im
Denken ausgehen, sondern bei denen wir ankommen (s.
unten???). Die Differenzierung der hypothetischen Imperative
in „Regeln der Geschicklichkeit“ und „Ratschläge der
Klugheit“ ist aus der Grundlegung übernommen5:
Satz 13: „Saget jemand – Vorschrift des Willens“
Kant illustriert den Unterschied zwischen hypothetischen und
kategorischen Imperativen an zwei Beispielen. Für den
hypothetischen Imperativ lautet sein Beispielsatz: „Saget
jemanden, z. B. daß er in der Jugend arbeiten und sparen
müsse, um im Alter nicht zu darben.“ Der Finalsatz ist ein
hypothetisches Urteil und läßt sich problemlos in ein Wenn-
Dann-Satz überführen: ‘Wenn Du im Alter nicht darben willst,
dann mußt Du in der Jugend arbeiten und sparen’. Kant nennt
diesen Satz eine „praktische Vorschrift“. Er spricht hier
5 Auch wenn hypothetische Imperative keine praktischen Prinzipien sind kann mandoch sagen, daß sie theoretische Prinzipien sind (ausarbeiten)
Praktische Sätze
Grundsätze(Prinzipien
)
Hypothetische Sätze
Regeln der Geschicklic
hkeit
Ratschläge der
Klugheit
Gesetze(Objektiv,
Kat. Imperativ)
Maximen(Subjektiv)
22
deshalb nur von einer „Vorschrift“, weil er erst noch durch
weitere Argumentation spezifizieren will, welcher Art diese
Vorschrift ist. Im Ergebnis referiert er auf diesen Satz
zwar nicht direkt mit ‘hypothetischer Imperativ’, er nennt
diese „Vorschrift“ aber einen „Imperativ“ und da das
Kontrastbeispiel ausdrücklich ein Fall eines „kategorischen
Imperativ[s]“ ist, berechtigt uns der Text dazu, hier von
einem hypothetischen Imperativ zu sprechen. Als Beispiel für
den kategorischen Imperativ lesen wir in Satz 16: Du
„soll[st] niemals lügenhaft versprechen“. Dieser Satz ist
auch seiner grammatikalischen Form nach ein kategorischer
Satz. Man könnte deshalb meinen, daß sich aus der
grammatikalischen Satzform die Art des Imperatives ableiten
ließe.
Phillipa Foot ist dieser Auffassung gefolgt und hat durch
Gegenbeispiele versucht, Kants Unterscheidung zwischen
kategorischen als moralischen und hypothetischen als
zweckrationalen Imperativen aufzulösen. Ihr erstes Beispiel
ist eine Regel der Etikette: „Eine Einladung, die in der
dritten Person ausgesprochen wird, sollte auch in der
dritten Person beantwortet werden“. Ihr zweites Beispiel ist
eine mögliche Clubregel: „Frauen dürfen sich nicht im
Raucherzimmer aufhalten“ (Foot 1972, S. 308). Foot will
damit zeigen, daß es auch eine nicht-hypothetische,
kategorische Verwendung von „sollen“ in nicht-moralischen
Fällen gibt und deshalb das wesentliche Merkmal des
moralischen Sollens nicht in seiner Kategorizität bestehen
kann. Von diesem Befund ausgehend will Foot im Gegenzug zu
23
Kant zeigen, wie sich Moral als ein System hypothetischer
Imperative formulieren läßt. Mit der Frage, ob Kant zu der
Behauptung berechtigt ist, daß nur moralische Imperative
kategorische Imperative sind, rührt Foot also an den
Fundamenten der Kantischen Moralphilosophie.
Günther Patzig hatte bereits vor Foot in seinem
Wirkungsmächtign Aufsatz dafür argumentiert, daß die
logischen Termini in Kants praktischer Philosophie nur in
einem „analogischen Sinn“ Anwendung finden. Im Unterschied
zu Foot geht es ihm darum, diesen analogischen Sinn
herauszuarbeiten und damit die Kantische Unterscheidung zu
legitimieren. Patzig geht dabei zunächst von demselben
Befund aus wie Foot: Ein Imperativ bei dessen sprachilicher
Formulierung „wenn-dann“ verwendet wird, sei deshalb nicht
auch schon ein hypothetischer Imperativ. Die Tatsache, daß Kant
es in Erwägung ziehe, daß alle Imperative, die kategorisch
scheinen, „versteckterweise“ hypothetisch sein könnten (GMS,
IV 419), sei bereits ein deutlicher Hinweis dafür, daß man
„der äußeren Form eines Gebots […] nicht ansehen könne, ob es
hypothetisch oder kategorisch ist“ (Patzig 19???, S. 211,
Hervorhebung J. B.). Patzig gibt nun nicht nur wie Foot
Beispiele für hypothetische Imperative, die als kategorische
Sätze formuliert sind, sondern auch Beispiele für den
Umgekehrten Fall; kateogorische Imperative, die in
hypothetischer Satzform ausgedrückt sind: „Wenn jemand dir
Geld geliehen hat, so zahle es nach Vereinbarung zurück“.
Aus diesem Befund folgert Patzig, daß „hypothetisch“ und
„kategorisch“ in bezug auf praktische Sätze nicht von der
24
sprachlichen Formulierung der Imperative abhänge. Der
Unterschied zwischen beiden sei daher „kein rein formaler
Unterschied“ (Patzig 19???, 210 f.)
Auf den analogischen Sinn jener Termini stoße man, wenn man
sich klar macht, daß „Hypothetisch“ und „kategorisch“ in der
KrV auf apophantische Sätze angewendet werde. Diese Sätze
können wahr oder falsch sein, was für einen Imperativ gerade
nicht gilt. Der eigentliche Träger von „hypothetisch“ und
„kategorisch“ ist das Gebot, das der Imperativ ausspricht.
Hypothetische Imperative hätten demnach nicht etwa die Form
eines hypothetischen Urteils, bei dem die Gültigkeit des
Nachsatzes durch die des Vordersatzes bedingt ist (wenn p
ist, dann ist q). Der hypothetische Imperativ sei eine
bedingte Forderung und nicht die Aussage einer Grund-Folge-
Verbindung zwischen Wunsch und Forderung (Patzig 19???, S.
209).
Bernd Ludwig hat im Anschluß an Patzig dafür argumentiert,
daß die Rede von „hypothetischen Imperativen“ nur die
Kurzform für „hypothetisch-gebietende Imperative“.
„Hypothetisch“ sei also ebensowenig wie „kategorisch“ ein
Adjektiv, das „Imperativ“ näher bestimmen würde, vielmehr
müsse „hypothetisch“ als eine nähere Bestimmung zu
„gebieten“ verstanden werden. Was hier vorausgesetzt werde,
sei ein bestimmter Wille. Das Gebot, das dieser Imperativ
ausspricht, sei nur unter der Voraussetzung (Hypothese) eines
bestimmten Willens eine gültige Handlungsvorschrift, d. h.
nur unter dieser Voraussetzung überhaupt geboten (Ludwig 1999,
S. 106 f. Für den Diskussionszusammenhang s. Seel 21993, S. 151 f.).
25
Patzig und Ludwig haben überzeugend gezeigt, wie man an der
Kantischen Unterscheidung festhalten kann, ohne behaupten zu
müssen, daß der Imperativ in seiner grammatikalischen Form
als kategorischer oder hypothetischer Satz formuliert werden
müßte. Es ist allerdings fraglich, ob das Problem, so wie es
von diesen Interpreten gesehen wird, sich für Kant überhaupt
stellt. Foot, Patzig und Ludwig scheinen sich in einer
unkantischen Weise auf die Grammatik der Sätze zu
konzentrieren. Wir wissen aber, daß Kant auch in seiner
theoretischen Philosophie zuweilen die logische Form eines
Urteils als hypothetisch bezeichnet, obgleich sie ihrer
grammatikalischen Form nach keine „Wenn-Dann-Sätze“ sind
(Prolegomena???). Die logische Form sollte also nicht mit
der grammatikalischen Form eines Satzes identifiziert
werden. Welche grammatikalische Form wir für die
Formulierung des Imperatives auch wählen mögen, die
entscheidende Frage ist immer, ob der Imperativ nur deshalb
für mich verbindlich ist, weil ein bestimmter Wunsch
vorausgesetzt wird, oder er voraussetzungslos gebietet. Die
logische Form der Imperative ist demnach:
HI: Wenn du p willst, dann sollst du q wollen
KI: Du sollst p wollen
Diese beiden logischen Formen liegen den unterschiedlichen
linguistischen Äußerungen von Imperativen zu Grunde.
Eigentlich haben Patzig und Ludwig genau dafür argumentiert.
Sie haben aber nicht grundsätzlicher gefragt, was Kant unter
„logische Form“ versteht. Eine genauere Analyse dieses
Begriffs könnte zeigen, warum es für Kant unproblematisch
26
ist, daß hypothetische als kategorische und kategorische als
hypothetische Sätze ihren sprachlichen Ausdruck finden
können.
Satz 14 „Man sieht aber leicht - schlecht behelfen zu können“
Hypothetisch ist der Imperativ also, wenn die Vorschrift nur
„subjektiv bedingt“ ist, weil der Wille dann „auf etwas
anderes verwiesen werde, wovon man voraussetzt, daß er es
begehre“. Mit „anderes“ ist das „vorausgesetzte Begehren“
gemeint. Dieses Begehren müsse man „ihm, dem Täter selbst,
überlassen“. Nimmt man nun jenes Beispiel für einen
hypothetischen Imperativ wieder auf, dann ist es das
Begehren, „im Alter nicht zu darben“ welches dem Subjekt der
Handlung selbst überlassen ist.
Mit dem folgenden Interrogativsatz scheint Kant noch genauer
spezifizieren zu wollen, was „dem Täter selbst überlassen“
ist, indem er drei jeweils für sich hinreichende Bedingungen
aufzählt, die das gebotene Mittel (in der Jugend arbeiten und
sparsam sein) unverbindlich machen.
(i) „Andere Hülfquellen, außer seinem selbst erworbenen
Vermögen“
(ii) Keine Hohe Lebenserwartung
(iii) „Im Fall der Not sich dereinst schlecht behelfen
zu können“.
Dem Buchstaben nach behauptet Kant hier also: ‘Man muß dem
Täter das Begehren selbst überlassen, ob er noch andere
Hilfsquellen, außer seinem selbst erworbenen Vermögen
vorhersehe.’ Da es nun aber überhaupt nicht sinnvoll ist,
27
wenn man sagt: ‘Ich überlasse es deinem Begehren, ob du noch
andere Hilfsquellen etc. vorhersiehst’, muß man hier nach
einem anderen Referenten für „Begehren“ suchen.
Kant sagt in demselben Satz auch, daß der Wille im Fall
jener Vorschrift „auf etwas anderes verwiesen werde, wovon man
voraussetzt, daß er es begehre“ (Hervorhebung z. T. J. B.).
Diese Rede von „voraussetzt“ legt nahe, daß damit die
Bedingung ‚Wenn du im Alter nicht darben willst’ gemeint
ist. Und tatsächlich, wenn man sich den Kontrastfall des
kategorischen Imperativs ansieht, wird diese Lesart
bestätigt. Dort sagt Kant nämlich, eine Vorschrift könne nur
dann ein Gesetz sein, wenn sie „bloß sich selbst vorauszusetzen
bedürfe“ und als Beispiel führt er den Satz an: „Er solle
niemals Lügenhaft versprechen“. Es scheint also der Wille
„im Alter nicht zu darben“ zu sein, den man nicht allgemein
voraussetzen kann. Dieser Vorausgesetzte Wille wäre dann der
Grund, weshalb der Imperativ hypothetisch genannt wird. Welche
Rolle die drei einschränkenden Bedingungen spielen, wird
deutlicher, wenn Kant im Folgenden auf die Modalität des
hypothetischen Imperativs zu sprechen kommt.
Satz 15, 16 „Die Vernunft – von dem anderen unterscheiden“
Auch wenn die Vorschrift ein hypothetischer Imperativ ist,
kommt ihr als einer Vernunftregel „Notwendigkeit“ zu. Aus
der ersten Kritik wissen wir, daß eine Regel nur dann notwendig
im strengen Sinne ist, wenn der Sachverhalt, den sie
behauptet nicht anders sein kann und sie ausnahmslos gilt.
Kant hatte zu zeigen versucht, daß diese Art von
28
Notwendigkeit nicht aus der Erfahrung abgeleitet, sondern
durch die Vernunft konstitutiert wird (KrV, B 4). Darauf
kommt Kant zurück, wenn er hier behauptet, die Notwendikgiet
einer Regel könne nur aus der Vernunft entspringen. Sein
eigentliches Argument betrifft aber nicht die Notwendigkeit
im allgemeinen, sondern die Notwendigkeit der hypothetischen
Imperative im besonderen. Für alle Imperative gilt (und nicht
etwa nur für die kategorischen), daß sie notwendig
verbindlich sind. Wäre es dem Handelnden freigestellt, ob er
der Regel folgen will oder nicht, wäre sie kein Imperativ,
sondern nur eine Erlaubnisregel.
Dennoch ist die Art der Verbindlichkeit und mit ihr die
Notwendigkeit bei den hypothetischen Imperativen in einem
gewissen Sinne eingschränkt. Daß der Imperativ hypothetisch
ist heißt ja gerade, daß er nur unter einer bestimmten
Voraussetzung gilt. Kant spricht in diesem Zusammenhang von
subjektiver Bedingtheit. In dem adversativen Nebensatz ist
allerdings nicht klar, worauf sich das Demonstrativpronomen
„diese“ bezieht. Wer oder was ist nur subjektiv bedingt? Zum
einen kann sich „diese“ auf „Notwendigkeit“ beziehen zum
anderen auf „Vorschrift“. Die Frage ist also, ob die
„Notwendigkeit“ oder die „Vorschrift“ nur „subjektiv
bedingt“ sind. Wieder kann der folgende Satz die
Schwierigkeit lösen. Dort schreibt Kant, daß „[z]u ihrer
Gesetzgebung aber erfordert wird, daß sie bloß sich selbst
vorauszusetzen bedürfe“ (Hervorhebung geändert J. B.). Da
nun Notwendigkeit weder ein möglicher Kandidat zur
Gesetzgebung noch es sinnvoll ist, daß sie „sich selbst
29
voraus[setzt]“, muß sich „dieses“ auf „Vorschrift“ beziehen.
Es ist also die Vorschrift, die subjektiv bedingt ist.
Nun heißt es im Text, daß man die Vorschrift nicht „in allen
Subjekten in gleichem Grade voraussetzen“ kann. Die
Vorschrift bringt die Mittel zum Ausdruck, die zu ergreifen
sind, um den vorausgesetzten Zweck zu verwirklichen. Deshalb
ist es, genau genommen, verwunderlich, wenn es heißt, daß
die Vorschrift nicht vorausgesetzt werden könne. Man würde eher
vermuten, daß die ursprüngliche Absicht die Voraussetzung ist.
Doch Kant bestätigt im folgenden Satz seine Redeweise. „Zu
ihrer Gesetzgebung [der Vorschrift]“ (meine Hervorhebung), ist es
notwendig „daß sie bloß sich selbst vorauszusetzen bedürfe“.
Dann und nur dann sei die Regel „objektiv und allgemein
gültig“.
Der Grundgedanke ist trotzdem deutlich zu erkennen: Solange
die Vorschrift auf einer zufälligen subjektiven Bedingung
beruht, „die ein vernünftig Wesen von dem anderen
unterscheidet“, kommt ihr keine objektive
Allgemeingültigkeit zu und sie ist kein „praktisches Gesetz“
in Kants terminologischem Sinne. Doch meine Rede von
„beruht“ impliziert, daß nicht die Vorschrift selbst,
sondern etwas anderes (das ursprüngliche Begehren)
vorausgesetzt, wird, damit die Vorschrift Gültigkeit hat.
Ich schlage also vor, daß Kant im Fall des hypothetischen
Imperativs nicht meint, daß man nicht die Vorschrift „in
allen Subjekten in gleichem Grade voraussetzen [kann]“,
sondern das Begehren auf dem die Vorschrift beruht.
30
Es ist folglich auch das Begehren gemeint, das nicht bei
allen Menschen „in gleichem Grade“ vorausgesetzt werden
kann. Der Grad bezeichnet hier wohl weniger eine Größe als
vielmehr eine Art und Weise. Damit wäre dann auch der Ort
jener Einschränkungsbedingungen des hypothetischen
Imperativs benannt. Selbst wenn zwei Menschen dasselbe
begehren, so hängt doch der konkrete Imperativ und die Art
und Weise ihres Wirkens von der jeweils unterschiedlichen
empirischen Lebenssituation des Handelnden ab. Greift man
Kants Beispiel auf, dann ist für denjenigen, der eine große
Erbschaft und ein kurzes Leben zu erwarten hat, der
Imperativ: „Spare und arbeite in der Jugend“ nicht
verbindlich. Obwohl hier also dasselbe Begehren vorausgesetzt
wird, folgt nicht dieselbe praktische Regel. Man behauptet
deshalb zuviel, wenn man sagt, hypothetisch-gebietende
Imperative sind dann und nur dann verbindlich, wenn das
Antezdenz wahr ist. Die Wahrheit des Antezedenz ist keine
hinreichende Bedingung für die Verbindlichkeit der
Konsequenz. Denn gilt z. B. nur eine der genannten drei
Bedingungen, ist die Verbindlichkeit aufgehoben.
Es sind also zwei Gründe, warum der hypothetische Imperativ
subjektiv bedingt ist, die Kant, wie man nun sehen kann, in
Satz 14 ineinandergeschoben hat und die getrennt voneinander
explizit gemacht werden müssen: Erstens kann das Begehren
nicht allgemein vorausgesetzt werden und zweitens ist die
Lebenssituation und damit die durch den Imperativ
vorgeschriebenen Mittel subjektrelativ. Damit nun etwas ein
praktisches Gesetz genannt werden kann, muß es „ohne
31
zufällige, subjektive Bedingungen [gelten], die ein
vernünftig Wesen von dem anderen unterscheiden“.
Vorschriften sind also nur dann Gesetze, wenn keine
subjektiven Bedingungen vorausgesetzt werden und sie „bloß
sich selbst voraus[zu]setzen“. Also sind hypothetische
Imperative wegen ihrer Subjektrelativität bei der
praktischen „Gesetzgebung“ disqualifiziert (Hervorhebung J.
B.).
Kant hat damit implizit auch eine Aussage über die
Hierarchie von Gesetzen und Vorschriften gemacht.
Hypothetische Imperative sind den kategorischen Imperativen
untergeordnet, weil sie nur unter einer subjektiv-zufälligen
Vorassetzung verbindlich sind. Sie sind genau dann
verbindlich, wenn das Subjekt den vorausgesetzen Zweck
tatsächlich will und dabei keine kategorische Norm verletzt
wird. Damit erweisen sich die kategorischen Imperative als
oberste Normen von denen die Verbindlichkeit hypothetischer
Imperative abhängig ist.
Satz 16 Nun sagt jemanden - a priori bestimmt werden soll
Das oben bereits zitierte zweite Beispiel illustriert uns
den Fall eines kategorischen Imperatives: Du „soll[st]
niemals lügenhaft versprechen“. Im Unterschied zum ersten
Beispiel haben wir es hier mit einer vorraussetzungslosen
Regel zu tun. Kant sagt ferner, daß die Regel „das bloße
Wollen […] völlig a priori bestimmt“. Auch die
hypothetischen Imperative schreiben ein „Mittel zur Wirkung,
als Absicht“ vor (§ 1, Absatz 2, Satz 6, Hervorhebung J. B.).
32
Insofern sie eine Absicht vorschreiben, betreffen auch sie das
Wollen. Wo also liegt genau der Unterschied zwischen den
Imperativen, „Du sollst in der Jugend arbeiten und sparen“
und „Du sollst niemals Lügenhaft versprechen“?
In beiden Fällen werden uns Handlungen und damit ein Wollen
vorgeschrieben. Es gilt in der Wendung „das bloße Wollen“
das Wort „bloße“ und in der Wendung „völlig a priori“ das
Wort „völlig“ zu betonen. Im Fall des hypothetischen
Imperatives wird ja nicht ausschließlich das Wollen bestimmt,
sondern erstens auch noch ein Zweck vorausgesetzt und zweitens
die Absicht nur als Mittel für den vorausgesetzten Zweck
geboten. Der hypothetische Imperativ bestimmt also nicht
„bloß“ den Willen, sondern er bestimmt einen Willen als
Mittel in bezug auf ein bereits vorausgesetztes Wollen. Wenn
Kant davon spricht, daß der kategorische Imperativ „bloß“ den
Willen bestimmt, muß dies im Sinne einer „unmittelbaren“
oder auch voraussetzungslosen Willensbestimmung verstanden
werden. Entsprechend ist auch eine Willensbestimmung, die
„subjektiv bedingt“ ist auch nicht völlig a priori. Sie ist a
priori, weil das Prinzip, „wer den Zweck will, will (sofern
die Vernunft auf seine Handlungen entscheidenen Einluß hat)
auch das dazu unentbehrliche Mittel, das in seiner Gewalt
ist“, analytisch ist (vgl. GMS, IV 417). Aber sie ist nicht
völlig a priori, weil das vorausgesetzte Begehren nicht selbst
ein Vernunftprodukt ist. Der hypothetische Imperativ setzt
(i) einen bestimmten Gegenstand des Willens als gegeben
voraus und (ii) schreibt Mittel vor, die von der
Lebenssituation des Handlungssubjekts abhängig sind. Beide
33
Momente machen den hypothetischen Imperativ zu einer
empirischen Vorschrift. Der kategorische Imperativ dagegen
bestimmt den Willen voraussetzungslos und ist keine
instrumentelle Vorschrift, die von empirischen Bedingungen
abhängt.
Satz 17-18: „Findet sich - um sie rein zu haben“
(i) Ein praktisches Gesetz ist eine „praktisch richtige“
Regel, die voraussetzungslos gebietet („kategorischer
Imperativ“).
(ii) Die Regel „niemals Lügenhaft versprechen“ gebietet
voraussetzungslos und ist „praktisch richtig“.
(iii)Die Regel „niemals Lügenhaft versprechen“ ist ein
praktisches Gesetz.
Kant zieht nun zunächst die Schlußfolgerung aus diesem
Argument: Wenn nur kategorische Imperative praktische
Gesetze sind und kategorische Imperative sich „allein auf
den Willen unangesehen, was durch die Kausalität desselben
ausgerichtet wird [beziehen]“, dann beziehen sich praktische
Gesetze allein auf den Willen.
Nun wird bei der Willensbestimmung durchs praktische Gesetz
davon abgesehen, welche Wirkung der Wille in der Empirie
hervorbringt. Deshalb sagt Kant, daß wir dabei von der
empirischen „Kausalität [des Willens] abstrahieren“. Und
doch wird durch das praktische Gesetz der Wille bestimmt,
der eine Art von Kausalität darstellt. Der Gegenbegriff zu
„empirisch“ ist „rein“. Abstrahiert man von der empirischen
34
Kausalität, bleibt also nur die reine Kausalität. Ein
Begehrungsvermögen, das durch das praktische Gesetz bestimmt
werden kann, muß zu seiner Wirkung nicht ein empirisch
gegebenes Bedürfnis voraussetzen, sondern wird unmittelbar
durch Begriffe a priori bestimmt. Kant nennt diese
Kausalität, durch die Vernunft „rein“. Wie eine solche reine
Kausalität zu denken ist, wird Kant ausführlich im zweiten
Anhang zum ersten Kapitel der „Analytik“ erklären.
Zusammenfassung § 1:
Neu eingeführte Begriffe: Praktischer Grundsatz, praktische
Regel, Maxime, praktisches Gesetz, Willensbestimmung,
Imperativ, hypothetischer Imperativ, kategorischer Imperativ
In § 1 führt Kant die Grundbegriffe seiner Moralphilosophie
ein: Praktischer Grundsatz, praktische Regel, Maxime,
praktisches Gesetz, hypothetischer und kateogirscher
Imperativ. Kant unterscheidet zwischen drei Arten
praktischer Sätze: Gesetze, Maximen und Vorschriften. Er
argumentiert dafür, daß nur ein kategorischer Imperativ ein
praktisches Gesetz sein kann, hypothetische Imperative
dagegen lediglich „Vorschriften“ sind.
Sein Argument lautet: Hypothetische Imperative setzen einen
bestimmten subjektiven Zweck als gegeben voraus. Deshalb ist
auch die Handlungsvorschrift nur bedingt (hypothetisch) und
nicht universell gültig. In bezug auf diesen vorausgesetzen
Zweck schreiben sie instrumentelle oder prudentielle Regeln
vor, die zur erfolgreichen Verwirklichung jenes Zweckes
führen sollen. Der kategorische Imperativ dagegen setzt
35
keine „zufällige[n], subjektive[n] Bedingungen“ voraus,
sondern gebietet voraussetzungslos. Er schreibt nicht
empirische Regeln zur Verwirklichung des gegeben Zweckes
vor, vielmehr wird der Zweck „völlig a priori“ (durch reine
Vernunft) bestimmt.
Kants strenger Gesetzesbegriff erfordret unbedingte
Notwendigkeit. Also ist nur der kategorische Imperativ als
„praktisches Gesetz“ qualifiziert werden kann. Den
hypothetischen Imperativ dagegen nennt Kant eine bloße
„Vorschrift“. Wenn nur der kategorische Imperativ ein
praktisches Gesetz ist, dann gilt für alle praktische
Gesetze, daß sie sich „allein auf den Willen unangesehen
dessen, was durch die Kausalität desselben ausgerichtet wird
[beziehen]“.
Dieser § 1 ist nur als eine Analyse des Gesetzesbegriffs zu
verstehen. Kant sagt ausdrücklich, daß er damit noch nicht
bewiesen hat, daß es praktische Gesetze gibt. Er behauptet
lediglich, daß wenn es praktische Gesetze gibt, „reine
Vernunft einen […] zur Willensbestimmung hinreichenden Grund
in sich enthalten [muß]“.
§ 2. Lehrsatz I
Neu eingeführte Begriffe: Materie des Begehrungsvermögens,
Lust
1. Absatz, 1. Satz: „Alle praktischen Prinzipien - Gesetze abgeben“
Auf die „Erklärung“ in § 1 folgt der erste „Lehrsatz“ in §
2. Alle „Lehrsätze“ haben die Form eines Beweises. Dabei
36
formuliert Kant jeweils im ersten Absatz das Beweisziel (den
eigentlichen Lehrsatz also) und liefert im Anschluß daran
den Beweis.
Der Lehrsatz lautet: „Alle praktische Prinzipien, die ein
Objekt (Materie) des Begehrungsvermögens, als Bestimmungsgrund
des Willens, voraussetzen, sind insgesamt empirisch und
können keine praktischen Gesetze abgeben“. Es wird darauf
ankommen, nicht nur Kants Rede vom „Objekt (Materie) des
Begehrungsvermögens“ zu analysieren, sondern auch, was es
heißt, daß ein Objekt als Bestimmungsgrund vorausgesetzt wird.
Der Beweis des Lehrsatzes liefert uns eine Definition, die
als Einstieg für diese Analyse hilfreich sein wird. Mit der
Formulierung des Lehrsatzes kündigt sich bereits eine
zweiteilige Aufgabenstellung an: Kant will erstens beweisen,
daß alle materialen praktischen Prinzipien „empirisch“ sind
(Absatz 2) und zweitens, warum diese Prinzipien „keine
praktischen Gesetze abgeben“ können (Absatz 3).
2. Absatz, Satz 1 „Ich verstehe unter - begehret wird“
Erster Teil des Beweises: „Materie des Begehrungsvermögen“ defnitert
Kant als einen „Gegenstand dessen Wirklichkeit begehret
wird“. Der Gegenbegriff zu „Materie“ ist „Form“. In der
theoretischen Philosophie spricht Kant von den „Begriffen“
als der Form, den „Empfindungen“ als Materie der Erkenntnis
(KrV, B 74). Form und Materie des Willens verhalten sich wie
Begriff und Empfidung zueinander: Der Begriff ist die
Bestimmung, die Empfindung das Bestimmte. Die praktischen
Gesetze bzw. Regeln??? leisten die Bestimmung und ihr Objekt
37
(die Materie) sind unsere Begehrungen. Wenn Kant also von
„Willensbestimmung“ spricht, dann ist damit der Akt der
Vernunft gemeint, wodurch unsere Begehrungen eine
regelgeleitete Richtung erhalten. Es ist weit verbreitet,
bereits das Objekt der Regeln als unsere „Wollungen“ zu
bezeichnen. Wollen bei Kant dagegen ist, wie in § 1 bereits
deutlich wurde, ein kognitiver Akt, der beinhaltet, daß wir
nach der Vorstellung von Gesetzen handeln. Eine Wollung im
eminenten Sinne ist also immer schon ein regelgeleites
Begehren oder, anders ausgedrückt, geformte Materie.
Man kann dementsprechend Kants berühmten Satz aus der ersten
Kritik auf die praktische Erkenntnis umwandeln: Alle
Vorstellungen von praktischen Regeln ohne Inhalt (Materie,
begehrtes Objekt) sind wirkungslos, das Begehren eines
Objekts ohne Vorstellung von praktischen Regeln, ist blinder
Trieb. Praktische Erkenntnis ist die Verwirklichung eines
Gegenstandes nach Vernunftregeln (KrV, B X). Daher ist es
bei der praktischen Erkenntis ebenso notwendig, daß die
praktischen Gesetze sich auf einen begehrten Gegenstand
richten, als die Begehrungen Gesetzen zu unterwerfen (vgl.
KrV, B 75).
Satz 2 „Wenn die Begierde - alsdenn jederzeit empirisch“
Auf die Definition folgt die Wiederholung des ersten Teils
des Beweisziels: Wenn die Begierde nach dem Gegenstand (i)
vor der praktischen Regel vorhergeht und (ii) die Bedingung
ist, sich die praktische Regel zum Prinzip zu machen, ist
das Prinzip ein empirisches Prinzip. Warum unterscheidet
38
Kant zwischen diesen zwei Momenten des Vorhergehens und des
Bedingens? Empirisch ist, wie sich unten zeigen wird, das
praktische Prinzip auch dann bereits, wenn die Begierde die
Bedingung ist. Das zweite Moment ist also für sich genommen
bereits hinreichend. Interpretierte man das „vorhergeht“ in
einem logischen und nicht zeitlichen Sinn, dann wären beide
Momente identisch. Tatsächlich hält Kant nicht strikt an
beiden Momenten fest, beschränkt sich an anderen Stellen
ausschließlich „vorhergehen“ und gebraucht es im Sinne von
„bedingen“ (z. B. KpV, V 36, 41). Die praktischen Regeln,
die durch die Begierde eines Gegenstandes bedingt sind, sind
hpothetische Imperative. Die Regel erhält dabei ihren Inhalt
nur relativ auf jenes Begehren. Sie kann eine
Geschicklichkeitsregel oder eine Klugheitsregel sein. Zum
Beispiel ist das Begehren „sein Vermögen durch alle sicheren
Mittel zu vergrößern“ die Bedingung der praktischen Regel,
„investiere nur einen kleinen Teil des Geldes in Aktien“.
Sich diese Regel „zum Prinzip machen“, bedeutet, sein
Handeln im allgemeinen nach dieser Regel auszurichten.
Satz 3-6„Denn der Bestimmungsgrund – zur Wirklichmachung desselben
bestimmt wird“
Auf die Exposition des Beweisziels folgt das entscheidende
Argument, warum praktische Regeln empirisch sind, wenn ihnen
ein „Begehren vorhergeht“. Einen Gegenstand zu begehren
heißt, daß die „Vorstellung eines Objekts“ auf die
Empfindung des Subjekts bezogen wird und das Subjekt
emotional so auf die Vorstellung reagiert, daß es die
39
„Wirklichmachung“ des vorgestellten Objekts wünscht. Diese
Art der Empfindung wird „Lust“ genannt.6 Wenn also das
Begehren die Bedingung für die praktische Regel ist, dann
muß die Lust „als Bedingung der Möglichkeit der Bestimmung
der Willkür vorausgesetzt werden“. Wir müssen hier
„Bestimmung“ wieder als die formierende Vernunft- bzw.
Verstandesttätigkeit lesen, die sich auf das gegebene Objekt
(Materie) richtet und ihm auf diese Weise eine
regelgeleitete Richtung gibt. Die Vernunfttäigkeit ist hier
also nicht absolut (losgelöst), sie bestimmt die „Willkür“
nicht ausschließlich aus sich heraus, vielmehr sind die
Regeln, die sie vorschreibt, durch die Lust bedingt. Mit
dieser Bedingung würde auch die Verbindlichkeit der
praktischen Regel wegfallen. Ob aber – und das ist der
zentrale Punkt des Arguments – eine Vorstellung „Lust oder
Unlust oder Indifferen[z]“ bei uns auslöst, muß durch die
zeitliche Anschauung im inneren Sinn erkannt werden. Deshalb
sagt Kant daß die Erkenntnis der Lust nicht „a priori“,
sondern „jederzeit empirisch“ ist. Wenn aber die
Voraussetzung der praktischen Regel empirisch ist, ist auch
die praktische Regel nur unter dieser empirischen
Voraussetzung und nicht a priori gültig.
Wenn wir also beispielsweise die Vorstellung ‘vermögend zu
sein’ auf uns beziehen, so kann diese Vorstellung in uns
6 Kant kennt bekanntlich zwei Arten der Lust, die praktische und die kontemplative(KU, V 222 (§ 12), MS, VI 212). Die kontemplative Lust unterscheidet sich darin vonder praktischen, daß sie nicht von der Existenz des Gegenstandes abhängig ist. KantsTheorie des Geschmacksurteils hatte eine Erweiterung des Lustbegriffs um denkontemplativen Aspekt erforderlich gemacht. Der Lustbegriff muß unten durch dieUnterscheidung zwischen intellektueller und sinnlicher Lust weiter differenziertwerden. Die kontemplative Lust ist hingegen nicht konstitutiv für Kants Moraltheorie.Deshalb ist, wenn in der Folge von „Lust“ die Rede ist, immer die praktische Lustgemeint ist.
40
eine Lustempfidung hervorrufen. Kann, weil es eine
empirische Frage ist und nicht etwa „apriori erkannt werden
kann“, ob Vorstellungen bei uns Lust, Unlust oder
Indifferenz auslösen. Entsprechend kann auch der Imperativ,
dessen Verbindlichkeit durch die Lustempfindung bedingt ist,
nicht für alle sinnlichen Vernunftsubjekte a priori
verbindlich sein. Damit hat Kant sein erstes Beweisziel
erreicht und kann im letzten Satz schlußfolgern: Wenn das
prakische Prinzip durch ein Begehren bedingt ist, dann ist
„der Bestimmungsgrund der Willkür jederzeit empirisch,
mithin auch das praktische materiale Prinzip, welches ihn
als Bedingung voraussetzte“.7
Man hat hypothetische Imperative oft deshalb für empirische
Prinzipien erklärt, weil in sie empirische Kausalbeziehungen
eingebettet sind. Kant setzt hier dagegen bei der
Verbindlichkeitsstiftung dieser Regeln an: der Lust. Demnach
gilt also, daß eine Norm genau dann empirisch ist, wenn die
Verbindlichkeit einer praktischen Norm durch die Lust an
einem Gegenstand bedingt ist.
Der erste Teil des Beweises läßt sich also im Wesentlichen
auf drei Schritte reduzieren:
(i) Wenn das Begehren eines vorgestellten Gegenstandes die
Bedingung dafür ist, daß wir eine praktische Regel uns
zum praktischen Prinzip machen, dann ist die Lust am
7 Wenn Kant hier sagt, daß die Materie (Lust am begehrten Gegenstand) nicht dieBedingung der Willensbestimmung sein darf, dann bedeutet das nicht, daß moralischesHandeln frei von jeder Materie sein muß. Auf dieser Annahme beruht Giovanni SalasHauptkritikpunkt, der sich durch seinen gesamten Kommentar zieht (Sala???). Es istentscheidend, sich klar zu machen, daß unserer Wollen auch im moralischen Handelnsehr wohl eine Materie hat und haben muß, sie aber eben nicht die Bedingung derWillensbestimmung sein darf. Wenn Kant in § 4. mit dem positiven Teil seinerBeweisführung beginnt wird dieser Punkt noch deutlicher werden.
41
vorgestellten Gegenstand die Bedingung der Gültikeit der
praktischen Regel.
(ii) Was Lust, Unlust oder Indifferenz hervorruft kann nur
a posteriori erkannt werden.
(iii) Also ist die praktische Regel, die durch das Begehren
eines vorgestellten Gegenstandes bedingt ist, empirisch.
3. Absatz: „Da nun – ein praktisches Gesetz abgeben“
Zweiter Teil des Beweises: Der zweite Teil des Beweises soll nun
zeigen, warum ein empirisch-praktisches Prinzip kein
praktisches Gesetz sein kann. Kant macht dabei in der ersten
Prämisse Gebrauch von der oben etablierten Konklusion aus
dem ersten Teil des Beweises:
(i) Eine praktische Regel, die durch Lustempfindung bedingt
ist, ist empirisch.
Von dieser Voraussetzung ausgehend überprüft Kant nun den
Allgemeinheitsgrad, den diesen empirisch-praktischen
Prinzipien zukommen kann. Er greift dabei auf die Begriffe
Gesetz und Maxime zurück, die er in § 1 eingeführt hatte:
(ii) Maximen sind Handlungsgrundsätze die bei einem
sinnlichen Vernunftwesen nicht notwendig auch objektiv-
allgemeingültig sind; praktische Gesetze gelten mit
„objektive[r] Notwendigkeit, die a priori erkannt“ wird.
(iii) Also kann eine praktische Regel, die durch eine
Lustempfindung bedingt ist, eine Maxime und kein
praktisches Gesetz sein.
42
Zwei Dinge noch offen:
1. Erklären, warum Salas Deutung verkehrt ist und Beck im Recht ist: Es geht hier
nicht darum, daß wir, wenn wir moralisch handeln, wir auf keinen Gegenstand
gerichtet sind (formale Bestimmung). Es geht nur darum, daß für das praktische
Prinzip keine Lust vorausgesetzt werden darf, damit sie universelle Verbindlichkeit
erhalten kann. Diesen Punkt habe ich in Fußnote 6 begonnen auszuarbeiten.
2. Hedonismus
§ 3. Lehrsatz II
Neu eingeführte Begriffe: Empfänglichkeit, Sinn, Gefühl,
Selbstliebe, Glückseligkeit
1. Absatz, 1. Satz: „Alle materiale praktische Prinzipien - oder eigenen
Glückseligkeit“
Der erste Lehrsatz hat bewiesen, daß alle praktischen
Regeln, die durch das Gefühl der Lust bedingt sind,
materiale Prinzipien sind und nicht die Verbindlichkeit
eines praktischen Gesetzes haben können. Mit dem zweiten
Lehrsatz wird nun das allgemeine Grundprinzip aller
materialen praktischen Regeln als „Prinzip der Selbstliebe“
oder, wie Kant auch sagt, Prinzip [der] eigenen
Glückseligkeit, bestimmt. Der Lehrsatz lautet: Alle
„materialen praktischen Prinzipien“ sind kategorial nicht
voneinander unterschieden und lassen sich unter das „Prinzip
der Selbstliebe“ subsumieren. Damit richtet sich der zweite
Lehrsatz ausdrücklich gegen alle Moraltheorien, die das
Prinzip der Selbstliebe oder Glückseligkeit zu ihrem
Fundamentalbegriff erklären. Diese „Glücksethiken“ scheitern
letztlich daran, jene kategorische Verbindlichkeit zu
erklären, die Kant für die genuin moralisch-praktische hält.
43
Nun will Kant aber, wie in § 8 noch deutlich werden wird,
auch selbst die rationalistischen Moraltheorien als
Glücksethiken entlarven (KpV, V 41). Es folgt also, daß
bereits hier im „Lehrsatz II“ die Grundlagen für
Verurteilung der gesamten moralphilosophische Tradition
gelegt werden.
2. Absatz, 1-2 Satz: „Die Lust aus der Vorstellung - das Begehrungsvermögen
bestimmt“
Im ersten Beweisschritt zeigt Kant, warum wir nur durch eine
„Empfindung der Annehmlichkeit“ bestimmt sind, wenn die Lust
an der Wirklichkeit eines Objekts die Grundlage unseres
Handelns ist. Im einzelnen argumentiert er wie folgt: Zuerst
wird der Lust als eine Empfindung definiert, bei der wir die
Existenz eines vorgestellten Gegenstandes begehren. Wir
haben oben bereits festgestellt, daß es sich bei dieser Art
von Lust um, wie Kant später sagen wird, „praktische“ und
nicht etwa „kontemplative“ Lust handelt, bei der wir an der
Wirklichkeit des Gegenstandes kein Interesse haben. Man muß
sich klar machen, daß wir praktische Lust nicht nur dann
empfinden, wenn der begehrte Gegenstand wirklich ist,
sondern auch bereits an der Vorstellung der Wirklichkeit des
begehrten Gegenstandes. Würden wir nur Lust im Moment der
Verwirklichung empfinden, wäre es eine offene Frage, was uns
vor der Verwirklichung antreibt. Deshalb muß, bereits die
Vorstellung von der Verwirklichung als lustvoll begiffen
werden.
44
In beiden Fällen aber, darauf kommt es Kant hier an, ist die
Lust „von dem Dasein eines Gegenstandes abhäng[ig]“. Dieser
Punkt ist deshalb von Bedeutung, weil er deutlich machen
kann, warum Lust eine Empfindung und nicht etwa ein Begriff
ist. Um nämlich die Existenz oder das „Dasein“ eines
Gegenstandes wahrnehmen zu können, muß es uns möglich sein,
Vorstellungen von dem Gegenstand empfangen zu können. Kant
nennt diese Fähigkeit hier „Empfänglichkeit“8 und ordnet sie
unserem „Sinne (Gefühl)“ zu, der dem Verstand als Vermögen
der Begriffe gegenübergestellt ist.
In diesem Zusammenhang entwickelt Kant auch den
Strukturunterschied zwischen objektiver Erkenntnis auf der
einen Seite und subjektiver Empfindung auf der anderen: Im
Falle objektiver Erkenntnis „bezieht“ der Verstand die
Vorstellungen mit „Begriffen“ auf ein „Objekt“. Bei
subjektiven Empfindungen werden die Vorstellung dagegen
„nach Gefühlen“ auf das „Subjekt“ bezogen. Dieselbe
Vorstellung (z. B. die einer roten Eiskugel) kann sowohl auf
ein Objekt als auch auf das Subjekt bezogen werden. Wenn die
Vorstellung mit dem Objekt übereinstimmt, liegt ein Fall von
objektiver Erkenntnis vor, stimmt dagegen die Vorstellung
der Wirklichkeit des Objekts mit den Begehrungen des
Subjekts überein, liegt ein Fall von Lustempfindung vor.
Damit hat Kant bereits sein erstes Zwischenziel erreicht:
Wenn Lust die Bedingung für die Handlungswirksamkeit unseres
Begehrungsvermögens ist, dann handeln wir auf der Basis
einer „Empfindung der Annehmlichkeit“, die wir uns von der
8 Kant spricht an anderen Stellen statt von „Empfänglickeit“ auch von „Rezeptivitiät“(vgl. KrV, B 33; KpV, V 58).
45
Wirklichkeit des Gegenstandes versprechen. Im zweiten und
dritten Beweisschritt wird Kant zeigen, warum sich alle
praktische Regeln, die auf diese Empfindung der
Annehmlichkeit gründen auf das „Prinzip der Selbstliebe“
reduzieren lassen.
Satz 3-4: „Nun ist aber – oder eigenen Glückseligkeit gehören“
Mit den Begriffen „Glückseligkeit“ und „Selbstliebe“ führt
Kant zwei Begriffe ein, die systematisch aufeinander
aufbauen. Glückseligkeit ist „das Bewußtsein eines
vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die
unterbrochen sein ganzes Dasein begleitet“. Die
Glückseligkeit betrifft also nicht nur einen bestimmten
Zeitpunkt, sondern die Annehmlichkeit des Lebens als Ganzes.
Mit dieser Definition ist nur die Dauer, das „protensive“
Moment, angesprochen. Glückseligkeit in ihrer vollkommenen
Form erfordert aber auch noch die maximale Größe
(Intensität) sowie Vielfalt (Extensität) der Annehmlichkeit
(vgl. KrV, B 834). Mit „Glückseligkeit“ wird der Zustand der
Person bestimmt. Kant geht es aber um Handlungsregeln,
genauer um die Prinzipien die den Handlungsregeln zu Grunde
liegen. Wenn Glückseligkeit die leitende Handlungsabsicht
ist, dann ist die eigene Annehmlichkeit in ihrer
vollkommenen Form der Größe, Vielfalt und Dauer der Zweck
der Handlung. Wer sich diesen Zweck zum Prinzip des Handelns
macht, handelt nach dem „Prinzip der Selbstliebe“.
Damit ist der Beweis vollständig:
46
(i) Materiale praktische Prinzipien sind Prinzipien, die
durch das Begehren der Wirklichkeit eines Gegenstandes
(Lust) bedingt sind. (P, aus § 2)
(ii) Lust an der Vorstellung der Wirklichkeit eines
Gegenstandes ist als eine „Empfindung der
Annehmlichkeit“ handlungswirsam.
(iii) Glückseligkeit ist das Bewußtsein der Annehmlichkeit,
die ununterbrochen das ganze Leben begleitet.
(iv) Das Handlungsprinzip, das Glückseligkeit als
Bedingung voraussetzt, heißt „Prinzip der Selbstliebe“.
(v) Also gründen sich alle materialen praktischen Regeln auf
dem Prinzip der Selbstliebe.
Man könnte gegen diese Konklusion einwenden, daß sie ihrer
Extension nach zu weit angesetzt ist. Kant scheint seinen
Lehrsatz nur auf diejenigen materialen Prinzipien
einzuschränken, „die den Bestimmungsgrund der Willkür in der
aus irgend eines Gegenstandes Wirklichkeit zu empfindenden,
Lust oder Unlust setzen“. Der Relativsatz legt nahe, es
könnte auch materiale Prinzipien geben, die nicht „den
Bestimmungsgrund der Willkür in der, aus irgend eines
Gegenstandes Wirklichkeit zu empfindenden, Lust oder Unlust
setzten“. Es zeigt sich indes bereits in der „Folgerung“ und
es wird auch unten in § 8 bei der Zurückweisung aller
traditionellen Moraltheorien noch deutlich werden (KpV, V
41), warum dieser Relativsatz explikativ und nicht konzessiv
[???] verstanden werden muß. Kant will also tatsächlich
47
behauptetn, daß alle materialen Prinzipien auf dem Prinzip
der Selbstliebe gründen.
Folgerung
In der „Folgerung“ werden mit den Begriffen „oberes
Begehrungsvermögen“ und „unteres Begehrungsvermögen“ zwei
Begriffe vorausgesetzt, die erst in der „Anmerkung“
eingeführt werden. Diese „Folgerung“ folgt daher nicht
unmittelbar aus dem Lehrsatz und ist also keine Folgerung im
Sinne eines „Corollariums“, wie Kant es in der Logik
verstanden wissen will (Logik, § 39). Kant glaubt mit seiner
Ethik im Gegenzug zur Tradition einen kategorialen und nicht
bloß graduellen Unterschied zwischen oberem und unterem
Begehrungsvermögen etablieren zu können. Das obere
Begehrungsvermögen kann auf der Grundlage eines reinen
Vernunftprinzips handlungswirksam werden, das untere dagegen
nur, wenn eine empirisch bedingte Lust vorausgesetzt wird.
Nun hat Kant im „Lehrsatz II“ bewiesen, daß alle materialen
praktischen Regeln auf dem Prinzip der Selbstliebe gründen
und damit durch das Gefühl der Lust bedingt sind. Deshalb
darf Kant in der „Folgerung“ schließen, daß alle empirischen
oder „maerialen“ praktischen Regeln den Bestimmungsgrund des
Willens im unteren Begehrungsvermögen ansetzen. Setzt man
Kants kategoriale Unterscheidung zwischen oberem und unterem
Begehrungsvermögen voraus, dann wäre er auch noch zu der
Folgerung berechtigt, daß es kein oberes Begehrungsvermögen
geben würde, wenn das Begehrungsvermögen nur durch materiale
praktische Prinzipien handlungswirksam werden könnte.
48
Tatsächlich geht Kant aber noch einen Schritt weiter und
„folgert“, daß, wenn es keine bloß formalen praktischen
Regeln „gäbe“ (meine Hervorhebung), es auch kein oberes
Begehrungsvermögen geben würde.
Zunächst einmal bestätigt Kant mit dieser Aussage die oben
favorisierte explikative Lesart des Schlußsatz aus dem
Beweis des zweiten Lehrsatzes: Er behauptet nämlich, daß
„[a]lle materiale praktische Regeln […] den Bestimmungsgrund
des Willens im unteren Begehrungsvermögen [setzen]“
(Hervorhebung z. T. J. B.). Also ist der Bestimmungsgrund
des unteren Begehrungsvermögen das Gefühl der Lust. Damit
müssen dann auch alle materialen praktischen Regeln durch
das Gefühl der Lust bedingt sein.
Doch das ist nicht der Sachverhalt, auf den es Kant mit
dieser Aussage eigentlich ankommt. Vielmehr macht er eine
kontrafaktische Annahme über die „bloß formalen praktische
Regeln“, indem er annimmt, sie würden nicht existieren und
schließt von dort auf die Nichtexistenz des oberen
Begehrungsvermögens. Doch von „bloß formalen praktischen
Regeln“ war bisher noch gar nicht die Rede gewesen, noch
weniger hat Kant den Beweis ihrer Wirklichkeit erbracht. Was
also berechtigt ihn, die notwendige Abhängigkeit von
formalen praktischen Regeln und oberem Begehrungsvermögen zu
behaupten? Antwort: Ein Wesen, das über ein auf Vernunft
bezogenes Begehrungsvermögen verfügt, kann sein Handeln nach
praktischen Regeln ausrichten. Diese Regeln können material
oder formal sein. Materiale Regeln sind durch die Lust an
einem Gegenstand bedingt. Nun bezeichnet das obere
49
Begehrungsvermögen die Fähigkeit aus einem reinen
Vernunftmotiv, ohne Voraussetzung einer Lust handeln zu
können. Also darf das Handeln nach materialen praktischen
Regeln nicht als eine Ausübung des oberen
Begehrungsvermögens verstanden werden. Formale Regeln
dagegen – das sagt Kant an dieser Stelle nicht ausdrücklich
– setzen keine Lust an einem Gegenstand voraus, vielmehr
sind sie Prinzipien der reinen Vernunft. Deshalb sagt Kant,
daß nur ein Handeln nach formalen praktischen Regeln eine
Ausübung des oberen Begehrungsvermögens ist. Gäbe es keine
formalen Regeln, dann würde (weil mit der Unterscheidung
zwischen formalen und materialen Regeln die Regeln des
Begehrungsvermögens erschöpft sind) es auch kein oberes
Begehrungsvermögen geben. Damit blickt Kant in dieser
„Folgerung“ bereits auf den dritten Lehrsatz voraus. Dort
wendet er sich den formalen Regeln zu, um in ihnen die
Verallgemeinerbarkeit zu finden, die ein praktisches Gesetz
braucht.
Anmerkung I
(Der kategoriale Unterschied zwischen oberem und unterem
Begehrungsvermögen)
„Man muß sich wundern – gesetzgebend zu sein“
Die erste Anmerkung richtet sich nun explizit gegen die
Unterscheidung zwischen oberem und unterem
Begehrungsvermögen, wie sie von den „sonst scharfsinnige[n]
Männer[n]“ getroffen worden ist. Damit ist vermutlich in
50
erster Linie Baumgarten gemeint.9 Sein Fehler besteht Kant
zufolge darin, sowohl für die Bestimmung des oberen als des
unteren Begehrungsvermögen ein „Gefühl der Lust“
vorauszusetzen und den Unterschied nur so anzusetzten, daß
beim oberen Begehrungsvermögen die als lustvoll empfundene
Vorstellung ein Verstandesprodukt beim unteren dagegen ein
Produkt der Sinnlichkeit ist. Kants Argument gegen diese
Unterscheidung lautet: Wenn eine Vorstellung „die Willkür
nur dadurch bestimmen kann, daß sie ein Gefühl der Lust im
Subjekte voraussetzet“, dann ist die „Art“ der Vorstellung
nicht mehr von Bedeutung (Hervorhebung J. B.). Es kommt dann
lediglich auf den „Grad“ der Lust an, den die Vorstellung
bewirkt. Für die Unterscheidung zwischen dem oberen und
unteren Begehrungsvermögen ist es also nicht ausreichend,
nur zwischen Vernunft- und Verstandesvorstellungen zu
unterscheiden. Vielmehr muß das Begehrungsvermögen auch
durch reine Vernunftvorstellungen und nicht etwa nur durch
Lust und Unlust motivierbar sein. Ansonsten wären oberes und
unteres Begehrungsvermögen nicht kategorial, sondern nur
„dem Grade“ nach verschieden (KpV, V 23, A 42). Moral und
Glückseligkeit würden damit auf demselben Prinzip beruhen
und die Annahme eines oberen Begehrungsvermögens haltlos
werden (KpV, V 24, A 44).
9 Baumgarten entwickelt in seiner Metaphysica, die Kant bekanntlich seinen Vorlesungenzu Grunde legte, eine Theorie vom oberen und unteren Begehrungsvermögen (Metaphysica§ 499-517). Dem unteren Begehrungsvermögen liegen „dunkle“ (§ 500), dem oberendagegen „deutlich[e]“ Vorstellungen zu Grunde (§ 510). Nun wird Deutlichkeit als „eingrösserer und höherer“ undeutliche Erkenntnis dagegen als ein „niedriger Grad derErkenntniß“ verstanden. Daran wird bereits deutlich, daß oberes und unteresBegehrungsvermögen tatsächlich, wie Kant sagt nur dem „Grade“ und nicht der „Art“nach verschieden sind (KpV, V 23).
51
Diese begriffliche Präzision hat eine große Reichweite; mit
ihr werden auch das „Prinzip der eigenen Glückseligkeit“ und
das Prinzip der Sittlichkeit kategorial getrennt. Zur
Illustration dieses Unterschiedes zwischen Sittlichkeit und
Glückseligkeit legt Kant vier Beispiele vor. Dabei geht es
jeweils um die Wahl zwischen zwei Gütern, wobei eines auf
geistigen das andere auf sinnlichen Vorstellungen beruht:
1. Ein „Lehrreiches Buch“ lesen oder zur „Jagd“ gehen
2. Eine „schöne Rede“ hören oder eine „Mahlzeit“ einnehmen
3. „Vernünftige Gespräche“ führen oder „sich an den
Spieltisch setzen“
4. Einem „Armen […] wohlzutun“ oder in die „Komödie“ gehen
Die systematische Funktion dieser Beispiele besteht darin,
zu zeigen, daß, solange die Entscheidungskonflikte auf der
Basis des Gefühls der „Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit“
entschieden werden, es dem Handelnden „gänzlich einerlei
[ist], durch welche Vorstellungsart er affiziert werde“.
Kant gibt drei Kriterien an, die bei der Wahl zwischen zwei
„Annehmlichkeiten“ den Ausschlag geben: (i) „wie lange“,
(ii) „wie leicht erworben und (iii) „wie oft wiederholt“.
Wenn die Alternativen hinsichtlich ihrer Annehmlichkeit
geprüft werden, ist die Herkunft der Vorstellungen
unerheblich. Die Frage ist nur, „wie viel und großes Vergnügen sie
ihm auf die längste Zeit verschaffen“.
Dieser Konzeption setzt Kant seinen eigenen Begriff des
oberen Begehrungsvermögens entgegen: Ein Begehrungsverögen
ist genau dann ein oberes Begehrungsvermögen, wenn reine
Vernunft „durch die bloße Form der praktischen Regel den
52
Willen bestimmen [kann]“. Die praktische Regel darf nicht
durch „Vorstellungen des Angenehmen oder Unangenehmen, als
der Materie des Begehrungsvermögens“ bedingt sein. Nur wenn
die Vernunft nicht etwa nur die Mittel auffindet, sondern
auch noch den Zweck des Wollens selbsttätig hervorbringt und
damit den Willen „unmittelbar“ bestimmt, kann man mit Recht
von einem oberen Begehrungsvermögen sprechen, dem „das
pathologisch bestimmbare untergeordnet“ ist. Das obere ist
also vom unteren Begehrungsvermögen darin „spezifisch“
unterschieden, daß beim oberen „reine Vernunft […] für sich
allein praktisch“ ist, während für die Praktizität des
unteren Begehrungsvermögens immer ein bestimmtes Gefühl
vorausgesetzt werden muß. Kant läßt indes hier noch offen, ob
reine Vernunft auch tatsächlich „für sich allein praktisch“
ist. Er behauptet lediglich, daß es entweder „gar kein
[oberes] Begehrungsvermögen gibt oder reine Vernunft […] für
sich allein praktisch sein [muß]“ (A 44 f.). Dieses
disjunktive Urteil wird dann später dahingehend aufgelöst,
daß der zweite Disjunkt???, der hier noch problematisch ist,
dort assertorisch ausgesagt wird.
Was genau bedeutet es, wenn Kant davon spricht, daß „reine
Vernunft für sich allein praktisch“ ist? Die Rede von „für
sich allein“ wird als „ohne Voraussetzung irgend eines
Gefühls, mithin ohne Vorstellungen des Angenehmen oder
Unangenehmen“ erläutert. Diese Bestimmung ist negativ. Die
reine Vernunft ist in ihrer Praktizität unabhängig von einem
vorausgesetzen Gefühl. Nun sind die Prinzipien der reinen
Vernunft formale Prinzipien. Positiv kann man daher sagen,
53
daß die Vernunft, wenn sie unabhängig von einem
vorausgesetzen Gefühl praktisch ist, durch ein formales
Prinzip bestimmt.
„Praktizität“ als „Willensbestimmung“ ist zweideutig. Zum
einen kann damit der Akt der Gesetzgebung gemeint sein, zum
anderen aber auch der Akt der Ausführung. In der ersteren
Bedeutung bestimmt die Vernunft das Begehrungsvermögen,
insofern sie ihm durch ein Gesetz die Handlungsweise
vorschreibt. In der zweiten Bedeutung dagegen bestimmt die
Vernunft das Begehrungsvermögen so, daß der Wille
handlungswirksam wird. „Willensbestimmung“ beinhaltet also
ein kognitives und konatives Moment. Am Ende der Anmerkung I
kommt Kant ausdrücklich auf den Gesetzgebungsaspekt zu
sprechen: Die Vernunft bestimmt in einem praktischen Gesetze
umittelbar den Willen […] und nur, daß sie als reine
Vernunft praktisch sein kann, macht es ihr möglich,
gesetzgebend zu sein.“ Kant legt hier die Sinnbetonung auf
„gesetzgebend“, weil „Gesetz“ der Kontrastbegriff zu
„Ratschlägen“ und „Regeln“ ist. Wäre Vernunft nicht „für
sich allein praktisch“, dann gäbe es keine praktischen
Gesetze, sondern nur Ratschläge oder Regeln, weil für die
„Willensbestimmung“ immer erst ein Gefühl vorausgesetzt
werden müßte.
Damit ist aber nicht entschieden, ob „Willensbestimmung“ nur
im Sinne der Gesetzgebung oder auch im Sinne der Ausführung
gemeint ist. Wenn man über diese Anmerkung hinaus Kants
ganze Theorie als Ganze betrachtet, muß die Antwort lauten:
sowohl als auch. Denn für eine moralisch gute Handlung ist
54
es nicht hinreichend, daß wir durch reine Vernunft wissen,
was moralisch geboten ist, wir müssen auch noch umwillen der
Gesetzlichkeit handeln können. Das Prinzip der Gesetzgebung
muß also auch zugleich das Prinzip der Ausführung sein. Wie
moralische Handlungen wirklich werden, geht über die in
erster Linie normativ ethischen Überlegungen des „Ersten
Haupstücks“ hinaus. Kant wird sich mit dieser
moralpsychologischen Problematik im „Dritten Hauptstück“
befassen.
Anmerkung II
(Die Zurückweisung der Glücksethik)
Die zweite Anmerkung zielt auf eine genaue Explikation des
„allerwichtigsten Unterschiedes, der nur in praktischen
Untersuchungen in Betrachtung kommen kann“: dem Unterschied
zwischen Gesetz und Maxime. Sie teilt sich auf in zwei
Absätze und zwei Beweisziele. Kant hatte bereits mit dem
ersten Lehrsatz bewiesen, daß aus allen materialen
Prinzipien keine praktischen Gesetze abgeleitet werden
können. Im „Lehrsatz II“ wurden dann alle materialen
Prinzipien auf das „Prinzip der Selbstliebe“ bzw. „eigenen
Glückseligkeit“ zurückgeführt. Im ersten Teil dieser
Anmkerung zeigt Kant nun, warum das „Prinzip der eigenen
Glückseligkeit“ ein materiales Prinzip ist und damit aus ihm
lediglich ein „subjektiv notwendiges Gesetz (als
Naturgestz)“ aber kein objektives praktisches Gesetz
abgeleitet werden kann. Im zweiten Teil spitzt Kant seine
Kritik an den Glücksethiken noch weiter zu: Er geht von der
55
kontrafaktischen Annahme aus, daß alle Menschen, wenn sie
nach Glückseligkeit streben, auch denselben Weltzustand und
Mittel zu seiner Verwirklichung begehren. Er will beweisen,
daß selbst unter dieser Voraussetzung Glückseligkeit nicht
zum Fundamentalprinzip der Moraltheorie taugt, weil es
lediglich Maximen aber keine Gesetze begründen kann.
1. Absatz: „Glücklich zu sein - gegründet“
Zentrale These: Aus dem Prinzip der Glückseligkeit (oder
Selbstliebe) lassen sich keine praktischen Gesetze
begründen.
Das Prinzip der Glückseligkeit scheint zunächst ein
aussichtsreicher Kandidat für ein objektives praktisches
Gesetz zu sein. Es ist „notwendig das Verlangen jedes
vernünftigen aber endlichen Wesens glücklich zu sein“ und
deshalb ein „unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines
Begehrungsvermögens“. Denn – so lautet Kants Begründung –
„die Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein ist nicht etwa
ein ursprünglicher Besitz […], sondern ein durch seine
endliche Natur selbst ihm aufgedrungenes Problem.“ Der
Begriff der Glückseligkeit impliziert aber nicht bloß die
momentane, sondern die Annehmlichkeit unseres „ganze[n]
Daseins“. Um über den Augenblick hinaus das Leben als Ganzes
planen zu können und die partikularen Absichten in ein
harmonisches Ganzes zu bringen, ist Vernunft erforderlich.
Deshalb ist Glückseligkeit nicht der Zweck aller endlicher,
sondern „jedes vernünftigen aber endlichen Wesens“
(Hervorhebung J. B.).
56
Doch obgleich Glückseligkeit „notwendig das Verlangen“ jedes
Menschen ist, ist es als Fundamentalprinzip der Moral
ungeeignet. Bereits in § 1 hat Kant die Bedingungen
dargelegt, die ein praktischer Satz erfüllen muß, um ein
praktisches Gesetz zu sein. Er wiederholt hier diesen
Anspruch: Ein praktisches Gesetz muß „objektiv in allen
Fällen für alle vernünftige Wesen eben denselben Bestimmungsgrund
enthalten“. Das „Prinzip der Glückseligkeit“, erfüllt diese
Bedingungen nicht. Was wir zu unserer „Zufriedenheit“ oder
Glückseligkeit bedürfen, bestimmt ein „subjektiv zum Grunde
liegendes Gefühl der Lust oder Unlust“. Weil dieses Gefühl
von Subjekt zu Subjekt verschieden ist, ist „der Begriff der
Glückseligkeit […] nur der allgemeine Titel der subjektiven
Bestimmungsgründe, und bestimmt nichts spezifisch“. Damit
ist das Prinzip der Glückseligkeit für die Gesetzgebung
disqualifiziert.
Auch wenn sich aus dem Prinzip der Glückseligkeit keine
Gesetze ableiten lassen, so doch „praktische Vorschriften“.
„Vorschrift“ wird von Kant terminologisch von „Gesetz“
unterschieden. Für alle Vorschriften gilt, daß sie
„subjektiv notwendig“ sind. Sie sind „subjektiv“, weil sie
ein Gefühl der „Lust und Unlust“ voraussetzen, das „niemals
als allgemein auf dieselben Gegenstände gerichtet [ist]“.
Sie sind „notwendig“, weil ihre Verletzung nicht zur
Verwirklichung des gewollten Objekts führt. In diesem
Zusammenhang deutet Kant auch den in praktischer Hinsicht
analytischen Charakter dieser Sätze an: Wem die [Wirkung]
beliebt, der muß sich auch gefallen lassen, die [Ursache] zu
57
sein.“ Wollen ist im Unterschied zum Wünschen ein
handlungswirksames Begehren. Es ist ein Widerspruch zu
sagen, „wir wollen eine Wirkung“ und wollen doch nicht ihre
Ursache sein.10 Vorschriften sind also subjektiv notwendige
praktische Sätze. Kant hatte sie in § 1 auch als
„hypothetische Imerative“ bezeichnet. „Hypothetisch“ drückt
dabei das subjektive Moment und „Imperativ“ die
Notwendigkeit aus.
Hypothetische Imperative beruhen auf der Erkenntnis von
Kausalbeziehungen und sind deshalb „theoretische
Prinzipien“. Als „Regeln der Geschicklichkeit“ schreiben uns
hypothetische Imperative „Mittel zu Absichten“ vor.11 Die
praktischen Regeln, die wir erhalten, wenn wir das Prinzip
der Glückseligkeit bzw. Selbstliebe zugrunde legen, lassen
sich also nicht ohne Erkenntnis von Kausalbeziehungen
gewinnen. Daß „derjenige, der gerne Brot essen möchte, sich
eine Mühle auszudenken habe“, beruht auf unserem Wissen
darüber, daß Brot aus Mehl besteht, Mehl aus Getreidekörnern
und die Körner in irgendeiner Form gemahlen werden müssen,
um Mehl zu erhalten. Der Beispielsatz drückt ein empirisches
Kausalverhältnis aus. Das konative Moment der
Willensbestimmung wird in diesem Satz vorausgesetzt. Deshalb
kommt der Vernunft hier nur eine instrumentelle Funktion in
bezug auf einen schon gegebenen Zweck zu.
10 In der „Grundlegung“ hatte Kant das analytische Prinzip dieser Imperative soformuliert: „Wer den Zweck will, will auch (der Vernunft gemäß nothwendig) dieeinzigen Mittel, die dazu in seiner Gewalt sind.“ Im § 7 bezeichnet Kant eherbeiläufig den kategorischen Imperativ als „synthetischen Satz a priori“. Ich werde indiesem Zusammenhang auch das das analytische Prinzip der hypothetischen Imperativeeiner genaueren Analyse unterziehen (s. S.???).11 Kant nennt die praktischen Vorschriften, die zur Glückseligkeit führen sollen inGMS „Ratschläge der Klugheit“ (GMS, IV 416). Eine solche Binnendifferenzierung derhypothetischen Imperative unterbleibt hier (vgl. § 1).
58
Wie dieser Satz subjektive Notwendigkeit erhalten soll, ist
nicht unmittelbar verständlich, schließlich muß wer Brot
essen will, das Brot nicht selbst herstellen. Hier bestätigt
sich, daß der hypothetische Imperativ aus zwei Gründen
hypothetisch ist (vgl. § 1. S.???): Erstens kann das
vorausgesetzte Begeghren nicht allgemein vorausgesetzt
werden und zweitens ist die Lebenssituation und damit auch die
durch den Imperativ vorgeschriebenen Mittel subjektrelativ.
In diesem Zusammenhang ist die zweite Bedingung
entscheidend. Nicht alle, die Brot essen wollen, müssen sich
eine Mühle ausdenken, aber für ein Handlungssubjekt in den
entsprechenden Lebensumständen schreibt dieser Imperativ das
notwendige Mittel vor.
Kant gebraucht dieses Beispiel aber gerade ausdrücklich
nicht um die Praktizität, sondern um den deskriptiven oder
„theoretischen“ Inhalt der „Regeln der Geschicklichkeit“ zu
illustrieren. Kant will deshalb den Begriff „praktisch“ auf
Regeln einschränken, die eine Bestimmung des Willens
aussagen. Er bezieht sich hier explizit auf die sogenannten
„praktischen“ Sätze der „Mathematik“ und „Naturlehre“.
Euklids Streckensatz??? lautet bespielsweise: „[M]an [kann]
von jedem Punkt nach jedem Punkt die Strecke ziehen […]“
(Euklid,???). Diese Regel steht unter einer problematischen
Bedingung. Man darf von einem Punkt p1 zu einem Punkt p2
eine Strecke ziehen, wenn man dazu aufgefordert wird. Es ist
jedoch jedem selbst überlassen, ob er diese Strecke ziehen
will oder nicht. Weil diesem Satz das konative Moment fehlt,
kommt in ihm auch keine „Willensbestimmung“ zum Ausdruck.
59
Deshalb sagt Kant, daß diese Sätze „eigentlich technisch“ und
nicht „praktisch“ heißen sollten.
Warum aber gebraucht Kant zwei Jahre nach der
Veröffentlichung der zweiten Kritik in der KU dennoch die
scheinbar widersprüchliche Wendung „technisch-praktische
Regel“ (KU, V 172)? Man hat Kant vorgeworfen, er habe sich
zu Unrecht in seinen späteren Schriften von seiner Theorie
der Imperative aus den moralphilosophischen
Grundlegungsschriften abgewendet und den hypothetischen
Imperativen den „Charakter praktischer Sätze ganz zu nehmen
versucht“ (Patzig 1973???, S. 215, vgl. auch Pollok 2007, S.
???). Tatsächlich hat Kant, wie sich hier in dieser Passage
der zweiten Kritik deutlich zeigt, bereits in seinen
moralphilosophischen Grundlegungsschriften um den
deskriptiven Anteil dieser Sätze gewußt. Die Antwort auf die
Frage, warum er die technischen Regeln dennoch praktisch
nennt, fällt wohl dahingehend aus, daß das theoretische
Wissen um eine Kausalbeziehung in eine Regel eingebettet
ist, die ein Wollen voraussetzt.
Damit wird nun auch verständlich, warum Kant hier in der
„Anmerkung II“ zuächst die Prinzipien der Selbstliebe als
„theoretische Prinzipien“ bezeichnet, sie dann aber
praktische Vorschriften nennt. Prinzipien sind Grundsätze.
Die Grundsätze oder Voraussetzungen, die den hypothetischen
Imperativen zu Grunde liegen sind Maximen. Der Imperativ
selbst, die „praktische Regel“, wie Kant auch sagt, ist aber
kein Grundsatz, sondern lediglich eine Vorschrift.
Vorschriften in Kants terminologischen Sinne gründen also
60
sowohl auf theoretischen (Kausalbeziehungen) als auch auf
praktischen (Maximen) Grundsätzen (Prinzipien).
Das Argument des ersten Teils der Anmerkung II läßt sich im
Kern auf drei Schritte reduzieren:
(i) Worin die Glückseligkeit von endlichen Vernunftwesen
besteht, kann nur empirisch erkannt werden und ist
subjektiv-different.
(ii) Ein praktisches Gesetz muß „objektiv in allen Fällen
und für alle vernünftigen Wesen eben denselben
Bestimmungsgrund des Willens enthalten“.
(iii) Aus dem Prinzip der Glückseligkeit lassen sich keine
praktischen Gesetze ableiten.
2. Absatz: „Aber gesetzt – in Betrachtung kommen mag“
Zentrale These: Das Prinzip der Glückseligkeit (oder Selbstliebe)
begründet selbst dann keine praktischen Gesetze, wenn alle
Menschen im Streben nach Glückseligkeit zugleich auch
denselben Weltzustand und dieselben Mittel zu seiner
Verwirklichung begehren würden.
Kant setzt mit der kontrafaktischen Annahme einer
allgemeinen Willensharmonie zwischen den endlichen
Vernunftwesen an. Dabei geht es ausdrücklich nicht nur um
eine Übereinstimmung dessen, „was sie für Objekte ihrer
Gefühle des Vergnügens oder Schmerzes“ haben, sondern auch
eine Übereinstimmung „in Ansehung der Mittel“, die zur
Verwirklichung des gewollten Objektes führen. Kant ist sich
grundsätzlich im Klaren, daß alleine das Wollen desselben
61
Gegenstandes genau das Gegenteil von Harmonie hervorbringen
kann. Er macht dies in der „Anmerkung“ zum „Lehrsatz III“
deutlich, wenn er das von Crusius überlieferte Wort von
König Franz I. zitiert (Crusius, Anweisung vernünftig zu
leben § 125???): „Was mein Bruder Karl haben will (Mailand),
das will ich auch haben.“ Das Wollen derselben Mittel (z. B.
Krieg) kann an der Disharmonie zwischen beiden nichts
ändern. Man muß daher vermutlich Kants Voraussetzung
präzisieren: Wenn Franz und Karl beide nicht gegenüber
demselben Objekt (Mailand), sondern gegenüber demselben
Weltzustand und denselben Mitteln zu seiner Verwirklichung
Lust bzw. Unlust empfinden, dann ist der Bestimmungsgrund
ihres Handelns tatsächlich derselbe. Kants kontrafaktische
Annahme scheint nur in der präzisierten Formulierung
sinnvoll zu sein, weil nur diese Form der Übereinstimmung
die Möglichkeit praktischer Gesetze nahelegt.
Kant behauptet nun, daß selbst wenn diese Form der
Übereinstimmung vorliegt, das Prinzip der Selbstliebe
(Glückseligkeit) dennoch „für kein praktisches Gesetz ausgegeben
werden [könnte]“. Seine Begründung lautet: „Denn diese Einhelligkeit wäre selbst doch nur zufällig. Der
Bestimmungsgrund wäre immer doch nur subjektiv gültig und bloß
empirisch, und hätte diejenige Notwedigkeit nicht, die in einem jeden
Gesetze gedacht wird, nämlich die objektive aus Gründen a priori; man
müßte denn diese Notwendigkeit gar nicht für praktisch, sondern bloß
physisch ausgeben, nämlich daß die Handlung durch unsere Neigung uns
eben so unausbleiblich abgenötigt würde, als das Gähnen, wenn wir andere
gähnen sehen.“
62
Man könnte einwenden aus der Tatsache, daß die Empfindungen
empirisch erkannt werden, folgt noch nicht ihre
Zufälligkeit. Auch die Newtonischen Naturgesetze sind
Gesetze der Erfahrung und gelten nach Kants eigener Theorie
mit Notwendigkeit (KrV???). Kant adressiert diesen Einwand
in der zitierten Passage ausdrücklich und beantwortet ihn
mit der Unterscheidung zwischen theoretischer
(„physisch[er]) und „praktischer Notwendigkeit“: In jeder
Art von Gesetz (sowohl theoretische als auch praktische
Gesetze) wird „objektive [Notwendigkeit] aus Gründen a
priori gedacht“. Die Bedeutung von „objektiv aus gründen a
priori“ ist im theoretischen und praktischen Fall jedoch
verschieden. Man kann sich das an einem Beispiel klar
machen:
Praktischer Satz: Wenn Du die Wurzeln der Pflanzen nicht
verbrennen willst, dann gieße sie dann, wenn die Sonne nicht
scheint.
Dieser praktische Satz kann, wie Kant sagen würde, der
„Grund“ (Logik IX 86) eines Imperatives sein:
Imperativ: Gieße die Pflanzen dann, wenn die Sonne nicht
scheint.
Er kann der Grund eines Imperatives sein, weil dieser
Imperativ nur dann verbindlich ist, wenn der vorausgesetzte
Zweck, die Pflanzen nicht zu verbrennen, tatsächlich gewollt
wird. Genau das heißt es ja, daß der Imperativ nur
„subjektiv notwendig“ ist. Das Gebot, das dieser Imperativ
ausdrückt, gilt also deshalb nicht als praktisches Gesetz, weil es
63
subjektiv bedingt ist. Nun sind diese beide Sätze auf die
Verwirklichung einer Absicht gerichtet. Man kann aber auch
von diesem intentionalen, praktischen Aspekt abstrahieren,
und alleine den theoretischen Gehalt explizieren. Man erhält
dann einen objektiv notwendigen Satz:
Theoretische Regel: Wenn Pflanzen bei Sonnenschein gegossen
werden verbrennen die Wurzeln.
Diese theoretische Regel ist objektiv notwendig, wenn sie
nicht bloß eine Assoziation zweier subjektiver Empfindungen
ausdrückt, sondern die Verbindung der Zustände der Wurzeln
(erst, ‘unverbrannt’ dann ‘verbrannt’) zeitlich unumkehrbar
ist und damit nicht der Beliebigkeit des Subjekts, dem
Zufall unterliegt. Man ist dann zu der Behauptung
berechtigt, daß der Sonnenschein das Zeitverhältnis der
beiden Zustände bestimmt (determiniert) und die Ursache für
das Verbrennen der Wurzeln ist. Das Verhältnis der beiden
Zustände der Wurzel ist keine nur zeitliche abfolge, sondern
kausal. Hätte die Sonne nicht geschienen, dann wäre die
Wurzel nicht verbrannt. In diesem Sinne darf man sagen, daß
das Verbrennen der Wurzel unter der Voraussetzung des
Sonnenscheins notwendig war.
Doch diese kausale Determiniation ist von der
Vernunftdetermination grundsätzlich unterschieden. Bei der
„Willensbestimmung“ wird im eminenten Fall unser Handeln
durch praktische Erkenntnis ‘determiniert’. Erkenntnis, das
hatte Kant in der Kategoriendeduktion der ersten Kritik
gezeigt, impliziert Notwendigkeit (KrV???). Das bedeutet
freilich nicht, daß der Hadelnde nicht etwas anderes hätte
64
wollen können, es bedeutet nur, daß ein anderes Wollen,
nicht vernünftig gewesen wäre.
Auch wenn wir auf der Basis von instrumentellem Wissen
handeln, liegt unserem Handeln Erkenntnis zu Grunde. In
unserem Beispiel ist es die Erkenntnis des
Kausalzusammenhanges der verbrennenden Wurzeln und des
Sonnenscheins. Diese Erkenntnis ist aber nur relativ auf ein
gegebenes Begehren bezogen, das selbst nicht ein Fall von
Erkenntnis ist. Wenn nun alle Menschen hinsichtlich ihrer
Gefühle von Lust und Unlust übereinstimmen würden, wären
diese nicht durch einen Vernunftgrund determiniert, weil sie
kein Fall von Erkenntnis sind. Sie sind also prakisch
zufällig, weil das Begehren nicht aus Vernunftgründen
gerechtfertigt werden kann. Deshalb behauptet Kant, daß,
wenn das Lust- und Unlustempfinden aller Menschen in bezug
auf den hervorzubringenden Zustand der Welt und die Mittel
zu seiner Verwirklichung identisch wären, die Notwendigkeit
des Gesetzes „bloß physisch“ und nicht „praktisch“ ist.
Er erklärt die physische Notwendigkeit durch eine Analogie:
Wäre die Harmonie aller menschlichen Willensakte physisch
notwendig, dann würde uns unser Handeln von unseren
Neigungen „abgenötigt“, wie uns das Gähnen abgenötigt wird,
wenn wir andere gähnen sehen.
Eigenes Gähnen Gähnen anderer::
Handeln Neigungen
Diese Analogie beruht auf der Vorausetzung, daß das
Betrachten einer gähnenden Person nach einem Naturgesetz
65
auch das Gähnen der betrachtenden Person verursacht. Ist
dieses Gesetz wahr, dann hätte, wenn das Gähnen der
betrachteten Person auftritt, das Gähnen der betrachtenden
Person nicht unterbleiben können. Die Analogie soll freilich
auch – in ironischer Form – die harmonische Beziehung
zwischen den Handlungssubjekten einfangen: Es ist durch ein
Naturgesetz geregelt, daß die Empfindungen des einen auch
die Empfindungen des anderen sind.
Im zweiten Teil der Analogie ist es nun zunächst nicht
unmittelbar verständlich, warum Kant sagt, die „Handlung“
werde „abgenötigt“. Bisher war es ausschließlich um die
Notwendigkeit des Gesetzes und nicht die der „Handlung“
gegangen. Warum geht Kant hier von den Fragen praktischer
Gesetzgebung zur Behauptung eines Naturdeterminismus über?
Der entscheidende Punkt dieses Kantischen
Gedankenexperiments ist es gerade, daß für praktische
Willensbestimmung auf der Grundlage einer hedonistischen
Willensharmonie kein Platz mehr ist. Es ist nicht mehr
sinnvoll von ‘Verpflichtung’ und ‘praktischer Nötigung’ zu
sprechen, wenn die Willenssubjekte in ihren Lust- und
Unlustempfindungen zur Übereinstimmung determiniert sind.
Nun wollen aber auch die von Kant später in § 7 ins Spiel
gebrachten reinen Vernunftwesen, die einen „heiligen Willen“
haben, der keinen Neigungen ausgesetzt ist, alle dasselbe
und handeln immer schon so wie es vernüftig ist. Gleichwohl
möchten wir sagen, sind sie moralisch zurechenbare Wesen,
deren Handlungen nicht „physisch“ determiniert sind. Es ist
hier wiederum entscheidend auf die Art der Determination zu
66
achten. Der Unterschied zwischen einer hedonistischen und
einer rationalen Willensharmonie besteht nämlich darin, daß
der heilige Wille auf der Basis von reinen Vernunftgründen
handelt, die praktisch objektiv notwendig sind. Bei einer
allgemeinen hedonistischen Willensharmonie setzt die
„Gesetzgebung“ ein Gefühl der Lust oder Unlust voraus und
die Regel ist daher praktisch nur subjektiv notwendig. Aus
theoretischer Perspektive ließe sich dagegen diese
Willensharmonie nach objektiv notwendigen Gesetzen
beschreiben.
Kants Gedankenexperiment zeigt, daß selbst unter der
Voraussetzung einer hedonistischen Willensharmonie sich
„keine praktische[n] Gesetze […], sondern nur Anratungen zum
Behuf unserer Begierden“ begründen lassen. Praktische
Grundsätze, die nur subjektiv gültig sind, hatte Kant
Maximen genannt. Er hatte die zweite Kritik sogar mit der
Einteilung der praktischen Grundsätze in Maximen und Gesetze
einsetzen lassen. Hier unterstreicht er den Vorrang dieser
Differenz und bezeichnet sie als den „allerwichtigsten
Unterschied, der nur in praktischen Untersuchungen in
Betrachtung kommen mag“. Mit diesem Unterschied muß nämlich
auch, wie wir unten sehen werden, der Unterschied zwischen
dem Moralprinzip der Kantischen Ethik und den anderen
Moraltheorien markiert werden. Würde Kant diesen Unterschied
aufgeben und erlauben, daß „bloß subjektive Prinzipien zum
Range praktischer Gesetze erhoben würden“, würde er damit
auch die kategoriale Trennung von Glücksethik und
67
Pflichtethik einebnen. Gerade für diesen Unterschied aber
will er mit seiner Theorie argumentieren.
§ 4. Lehrsatz III
Neu eingeführte Begriffe: „Form“ (bereits in der Folgerung
von § 3, wird aber auch hier nicht erklärt)
1. Absatz: „Wenn ein vernünftiges Wesen - des Willens enthalten"
Die Lehrsätze I und II hatten bewiesen, warum ein,
„materiales praktisches Prinzip“ (ein Prinzip, das durch
Lust oder Unlust an einem Gegenstand bedingt ist), kein
allgemeines Gesetz werden kann (Lehrsatz I) und auf dem
Prinzip der Selbstliebe gründet (Lehrsatz II). Der dritte
Lehrsatz markiert nun den Beginn des positiven Teils von
Kants Moraltheorie. Er möchte beweisen, daß nach dem
bisherigen Stand der Argumentation nur noch ein formales
Prinzip für die moralische Gesetzgebung infrage kommen kann.
Damit ist aber bewußt noch offen gelassen, ob es tatsächlich
ein praktisches Gesetz gibt. Im Unterschied zu allen anderen
drei Lehrsätzen ist der dritte Lehrsatz daher als
Bedingungssatz formuliert: „Wenn ein vernünftiges Wesen sich
seine Maximen als praktische allgemeine Gesetze denken soll
[…]“. Daß ein vernünftiges Wesen sich seine Maxime als
Gesetze denken soll, wird also im Beweis des Lehrsatz III
gerade nicht bewiesen und bis zum § 7??? offen gelassen.
Unter der Voraussetzung also, daß es moralische Gesetze
gibt, so lautet der dritte Lehrsatz, müssen die Maximen
nicht etwa „der Materie, sondern bloß der Form nach, den
Bestimmungsgrund des Willens enthalten“.
68
2. Absatz: „Die Materie eines - zum praktischen Gesetz mache“
Der Beweis des „Lehrsatz III“ kann auf drei Schritte
reduziert werden:
(i) Wenn die praktische Regel durch das Gefühl der Lust
oder Unlust an einem Gegenstand bedingt ist, dann ist
die Regel kein praktisches Gesetz (aus § 2)
(ii) Wenn man von “jede[m] Gegenstand des
Willens (als Bestimmungsgrund) abstrahiert, „bleibt
nichts übrig, als „die bloße Form einer allgemeinen
Gesetzgebung“.
(iii) Also können wir uns „Maximen gar nicht
zugleich als allgemeine Gesetze denken“ oder die
„bloße Form der Maximen“ macht sie zu praktischen
Gesetzen
Die erste Prämisse gibt nur das Ergebnis aus dem ersten
Lehrsatz wieder. Die zweite Prämisse geht darüber hinaus,
indem sie behauptet, daß die Alternative zwischen Form und
Materie die möglichen Arten der Willensbestimmung erschöpft.
Wenn also der erste Lehrsatz wahr ist und materiale
praktische Regeln keine praktischen Gesetze sind, ist der
einzig verbleibende Kandidat ein formales Prinzip. Kant geht
von hier nun, wie sich in der hypothetischen Formulierung
des Lehrsatzes bereits andeutet, nicht gleich zu der
Behauptung über, daß praktische Gesetze auch tatsächlich
formale Gesetze sind. Er schlägt vielmehr den bescheideneren
Weg ein und vertritt lediglich die schwächere Behauptung:
69
Nach dem bisherigen Stand der Untersuchung sind nur die
formalen Prinzipien noch mögliche Kandidaten für praktische
Gesetze. Kant zieht aber ausdrücklich auch die Möglichkeit
in Erwägung, daß „Maximen gar nicht zugleich als allgemeine
Gesetze [zu] denken“ sind. Der Kant-Skeptiker, der
behauptet, es gebe keine praktischen Gesetze und auch die
Moral sei letztlich nur ein System hypothetischer Imperative
(z. B. Foot???), ist mit dem Beweis in § 4. also noch nicht
aus dem Feld geschlagen.
Die Hauptschwierigkeit in diesem Beweis bereitet Kants Rede
von „bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung“ oder „bloße
Form der Maximen“. Leider wird die formale Willensbestimmung
im Beweis selbst nicht weiter expliziert, so daß unklar
bleiben muß, was mit der „bloßen Form der Maximen“
eigentlich gemeint ist. In der „Anmerkung“ zu diesem
Lehrsatz illustriert Kant jedoch die formale
Willensbestimmung an einem Beispiel. Von dort aus wird dann
eine genauere Erläuterung dieser für die Kantische Ethik so
zentralen Wendung möglich sein. (Hier auf der Grundlage von Steve’s
Buch mehr sagen)
Anmerkung
1. Absatz, Satz 1-7: „Welche Form - kein Depositum gäbe“
Im Unterschied zur theoretischen Erkenntnis hat Kant in der
praktischen Erkenntnis sehr großes Zutrauen in die
Fähigkeiten des „gemein[en] Verstand[es]“. Dieser sei, so
behauptet er, „ohne Unterweisung“ fähig, zu beurteilen,
„[w]elche Form in der Maxime sich zur allgemeinen
Gesetzgebung schicke“. Doch obwohl Kant wiederholt betont
70
hat, daß es „keine weit ausholende Scharfsinnigkeit“ brauche
(GMS, IV 403), um die moralische Qualität einer bestimmten
Maxime zu identifizieren, hat man in der Kantforschung immer
wieder viel Scharfsinn darauf verwendet, um zu erklären,
worin genau der formale Fehler einer moralisch verwerflichen
Maxime liegt. Erschwerend kommt noch hinzu, daß das
Evaluationsverfahren, so wie Kant es uns exemplarisch
vorführt, seiner Struktur nach nicht in allen Fällen
identisch ist. Hier in der „Anmerkung“ des § 4 der KpV will
Kant zeigen, warum die Maxime „mein Vermögen durch alle
sicheren Mittel zu vergrößern“ der Form nach sich nicht „zur
allgemeinen Gesetzgebung schicke“. Dabei prüft er nicht
unmittelbar die Maxime, sondern subsummiert unter die Maxime
als Obersatz einen Untersatz, der einen möglichen „Fall
[der] Maxime“ bildet. Dieser Fall muß also die Bedingung der
sicheren Vermögensvergrößerung erfüllen. In dem von Kant
konstruierten Fall, kommt derjenige, der sich jene Maxime
zueigen gemacht hat, in die Situation, daß bei ihm ein
Wertgegenstand zur Verwahrung (ein sogenanntes „Depositum“)
abgegeben worden ist, „dessen Eigentümer verstorben ist und
keine Handschrift darüber zurückgelassen hat“. Kant schließt
von dem Tod des Depositeurs und der fehlenden Dokumentierung
unmittelbar darauf, daß die „Niederlegung ihm niemand
beweisen kann“. Dehalb kann die Unterschlagung des
Depositums als ein sicheres Mittel zur Vermögensvergrößerung
gelten und erfüllt also die Bedingung der Maxime.
Wäre unserer Intellekt nur ein instrumentelles Vermögen,
würde der Imperativ lauten: „Unterschlage das Depositum“.
71
Als Vernunftwesen prüfen wir die Rationalität der Handlung
aber darüber hinaus noch mit der Frage, „ob jene Maxime auch
als allgemeines praktisches Gesetz gelten könne“. Damit
stoßen wir in die moralische Dimension der
Handlungsbewertung vor. Kant muß nun erklären, worin genau
der formale Fehler einer gesetzwidrigen Maxime besteht. Dazu
„wende[t]“ er, wie er sagt, die Maxime auf den gegenwärtigen
Fall an. Er prüft also nicht unmittelbar die
Gesetzförmigkeit der Maxime, sondern untersucht einen
Handlungsfall, der aus dieser Maxime folgt: die
Unterschlagung des Depositums. Genau dann, wenn ich „durch
meine Maxime zugleich ein solches Gesetz geben könnte“, kann
die Maxime als allgemeines Gesetz gelten. Die Maxime wird
hier also als Prinzip der Gesetzgebung gedacht und ist selbst ein
Gesetz, wenn sich aus ihm gültige praktische Gesetze
begründen lassen. Kant überprüft die Gesetzmäßigkeit der
Maxime an den besonderen praktischen Regeln, die aus dieser
Maxime entspringen.12 Damit nimmt er in § 4 bereits die Form
des Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft vorweg:
„Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zuglich
als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (§ 7,
Hervorhebung J. B.).
Um beurteilen zu können, ob die Maxime als Prinzip einer
allgmeinen Gesetzgebung fungieren kann, müssen wir wissen,
welche spezielle praktische Regel, durch die Maxime im
Depositums-Fall begründet werden soll. Da die Maxime
12 Cramer meint, daß sich darin eine Veränderung des Testverfahrens gegenüber der„Grundlegung“ bekunde. Wenn man sich indes die Beispiele der „Grundlegung“ genauansieht, bemerkt man, daß Kant dort nur die Reihenfolge umdreht. Er geht vomkonkreten Einzelfall auf und sucht dann die Maxime auf (belegen und ausführen!!!???)
72
ausdrücklich „alle“ sicheren Mittel zur Reichtumsvergrößerung
vorsieht, sind auch widermoralische Mittel nicht
ausgeschlossen. Deshalb lautet die als Gesetz zur
Disposition stehende Regel: „Jedermann [darf] ein Depositum
ableugnen […], dessen Niederlegung ihm niemand beweisen
kann.“ Damit kann Kant nun zur moralischen Qualifizierung
übergehen. Seine etwas überraschende Diagnose lautet, „daß
ein solches Prinzip, als Gesetz, sich selbst vernichten
würde, weil es machen würde - so das Argument -, daß es gar
kein Depositum gäbe“. Überraschend ist die Diagnose deshalb,
weil die praktische Regel, die hier auf ihre Gesetzmäßigkeit
geprüft wird unter einer einschränkenden Bedingung steht:
„dessen Niederlegung ihm niemand beweisen kann“. Die Frage
ist also, warum Kant behauptet, daß „es gar kein Depositum
gäbe“, wenn Deposita generell nur dann nicht zurückgegeben
würden, wenn die „Niederlegung […] niemand beweisen kann“.
Es scheint so, als würde Kant hier nur den speziellen Fall der
Depositums-Praxis ohne Dokumentierung ausschließen. Diese Art
des Depositums „gäbe“ es nicht mehr, wenn jeder nach der
Regel handeln würde, undokumentierte Leihgaben
einzubehalten. Die Klasse der fälschlich einbehaltenen
Deposita ist indes, wie Conrad Kramer richtig bemerkt hat,
nicht koextensiv mit der Klasse aller Deposita. Die kausale
Folge dieser besonderen Depositums-Praxis wäre also nicht,
daß es generell keine Deposita mehr „gäbe“ (vgl. Cramer IX
Kant-Kongress???, S. 126).
Gegen eine solche konsequentialistische Deutung könnte man
versuchen, eine logisch-semantische Lesart plausibel zu
73
machen. Demnach müßte „gäbe“ im Sinne des voranstehenden
„sich selbst vernichten“ verstanden werden: Mit „Depositum“
meint man einen Gegenstand der zur Aufbewahrung hinterlegt
worden ist. Das Depositum ist also nicht etwa ein Geschenk,
sondern eine fremde Sache, die man dem Eigentümer oder
dessen Erben zurückzugeben hat. Um die notwendige Bedingung
der „fremden“ Sache beraubt, hört die Leihgabe auf, das zu
sein was sie ist und wird, wie Kant sagt, „vernichtet“
(Höffe 2002, S. 73; vgl. auch Cramer IX-Kant Kongress???, S.
125). Hier ist nun der Punkt erreicht, wo die
konsequentialistische und die logisch-semantische Deutung
übereinkommen: Wenn alle Handlungssubjekte nach der Regel
handelten, bei ihnen hinterlegte Leihgaben „abzuleugnen“ und
als Geschenk zu behandeln, „gäbe“ es (im Sinne von
Existieren), die Praxis der Leihgabe nicht mehr, weil es
eine notwendige Bedingung des Konzepts „Leihgabe“ ist, daß
diese nicht etwa als Geschenk behandelt, sondern an
Ausleihenden zurückgegeben wird. Verallgemeinert man also
die Depositumsunterschlagung zu einer allgemeinen Regel,
dann unterminiert sie genau das Prinzip auf das sich hier
die erfolgreiche Vergrößerung des Vermögens gründet: die
Leihgabe. Um diese Konsequenzen einzusehen braucht man keine
Erfahrung über die Psychologie der Handlungssubjekte und den
kausalen Weltverlauf. Es genügt, wie Kant sagen würde, reine
Vernunft.
Man hat mit dieser Analyse aber noch nicht den speziellen Fall
erklärt. Wie sich oben gezeigt hat, will Kant ja nicht eine
Regel zurückweisen, die Deposita im allgemeinen „vernichtet“,
74
sondern nur eine spezielle Regel der Depositums-Praxis: Alle
undokumentierten Deposita, deren Eigentümer verstorben sind,
werden unterschlagen. Die Schwiergikeit besteht darin, zu
erklären, warum Kant behauptet, daß diese besondere Regel,
das Konzept des Depositums im allgeinen vernichten würde.
Vermutlich ist die Antwort in der einschränkenden Bedingung
zu finden: Die Tatsache, daß keine „Hanschrift“ über das
Depositum existiert, rückt den Fall aus der rechtlichen in
die moralische Sphäre. Der Akteur kann für sein
Fehlverhalten rechtlich nicht belangt werden. Mehr noch:
wenn er sich dafür entscheidet, das Depositum zurückzugeben,
sind Folgeüberlegungen, wie Angst vor Strafe, weitgehend
ausgeschlossen. Das macht diesen Fall zu einem für Kant
typischen moralischen Konfliktfall zwischen Vernunft und
Neigung. In der Moral geht es überhaupt nur um die Form der
freiwilligen und nicht etwa erzwungenen oder erzwingbaren
Depositums-Rückgabe. Kant ist also berechtigt zu behaupten,
„daß es gar kein Depositum gäbe“, wenn es zu einer
allgmeinen Regel würde undokumentierte Deposita, deren
Eigentümer verstorben sind, zu unterschlagen, weil es hier
überhaupt nur um den moralischen Fall der
Depositumsunterschlagung geht. In einer moralischen Welt,
dem „Reich der Zwecke“ ist die Depositumsrückgabe im
undokumentierten Fall, die unerzwungene Ehrlichkeit
konstitutiv für das Konzept des Depositums.
Man kann das am Depositum exemplifizierte moralische
Qualifikationsverfahren auf folgendes Schema bringen:
75
I. Technisch-Praktische Vernunft:
1. Obersatz: „Ich habe […] es mir zu Maxime gemacht, mein
Vermögen durch alle sicheren Mittel zu vergrößern.“
2. Untersatz (Situationsbeschreibung): „Jetzt ist ein Depositum in
meinen Händen, dessen Eigentümer verstorben ist und keine
Handschrift darüber zurückgelassen hat.
3. Schlußsatz (Handlung/Intention???): Ich will das Depositum
Unterschlagen.
II. Moralisch-Praktische Vernunft:
1. Formulierung der situationsbezogenen Handlungsregel (aus dem Syllogismus
der technisch-praktischen Vernunft) „Jedermann [darf] ein Depositum
ableugnen, dessen Niederlegung ihm niemand beweisen kann“.
2. Überprüfung der situationsbezogenen Handlungsregel: Diese Regel läßt
sich nicht ohne Widerspruch denken, weil es konstitutiv für
das (moralische) Depositum ist, daß es unerzwungen an den
Eigentümer zurückgegeben wird.
3. Überprüfung der Maxime: Aus der Maxime folgen praktische
Regeln, die nicht gesetzmäßig sind. Also ist die Maxime „zur
allgemeinen Gesetzgebung“ untauglich.
Satz 8-9 Ein praktisches Gesetz - sich selbst aufreiben
Wenn man sich das moralische Qualifikationsverfahren
ansieht, ist es verwunderlich, wieso Kant sich so sicher
war, daß der „gemeinste Versand ohne Unterweisung“
unterscheiden kann, welche Maxime zur allgmeinen
Gesetzegbung geeignet ist. Im zweiten Teil desselben
Absatzes kürzt Kant das Verfahren ab. Er abstrahiert
76
zunächst von dem besonderen Fall der
Depositumsunterschlagung und gibt uns ein Verfahren an die
Hand, das die Identifikation ungesetzmäßiger Maximen
wesentlich erleichtert. Dafür expliziert er zunächst die
triviale Bedingung eines praktischen Gesetzes, nämlich daß
es sich „zur allgemeinen Gesetzgebung qualifizieren“ können
muß. Er macht zweitens die hier implizite und in den
Lehrsätzen I und II gerechtfertigte Voraussetzung explizit,
daß „Neigung[en]“ subjektiv different sind. Ein allgemeines
Gesetz dagegen, auch das wissen wir aus den vorangegangenen
Paragraphen, beansprucht objektiv apriori gültig zu sein.
Damit ist Kant zu der Schlußfolgerung berechtigt, daß
praktische Regeln, die durch Neigungen bedingt sind, nicht
„zu einer allgemeinen Gesetzgebung tauglich [sind]“. Wir
können also bei der Überprüfung der moralischen Qualität
einer Maxime sie immer dann bereits als ungesetzmäßig
ausscheiden, wenn der „Bestimmungsgrund“ der Maxime eine
„Neigung“, ein Gefühl der Lust oder Unlust ist.
Im konkreten Fall der Depositumsunterschlagung war der
Bestimmungsgrund die Vermögensvergrößerung mit „alle[n]
sichere[n] Mitteln“. Diese Maxime ist nicht durch moralische
Überlegungen eingeschränkt, sondern beanspruht unbedingte
Gültigkeit. Deshalb nennt Kant den Bestimmungsgrund der
Maxime „Habsucht“. Wie alle Neigungen muß sich auch die
Habsucht „in der Form eines allgemeinen Gesetzes […] selbst
aufreiben“, weil ein subjektives Gefühl keine objektiven
praktischen Gesetze begründen kann.
77
2. Absatz „Es ist daher wunderlich - ist schlechterdings
unmöglich“
Im ersten Absatz hat Kant an einem Beispiel erläutert, wie
formale Überlegungen die Gesetzwidrigkeit von Maximen
aufdecken können. Dabei hat sich auch exemplarisch
bestätigt, was im „Lehrsatz I“ bewiesen wurde, daß ein
materiales Prinzip keine praktischen Gesetze begründen kann.
Im zweiten Absatz wendet Kant sich nun wieder dem Prinzip
der Glückseligkeit zu, auf die, wie er im Lehrsatz II
bewiesen hatte, alle materialen Prinzipien zurückgeführt
werden können. Im einzelnen schließt seine Argumentation an
die „Anmerkung II“ des zweiten Lehrsatzes an, in der er
erläutert hatte, warum Glückseligkeit, obwohl sie „notwendig
das Verlangen jedes vernünftigen aber endlichen Wesens
[ist]“ nicht das Grundprinzip einer Moraltheorie sein kann.
Kant argumentiert hier jedoch ohne jene kontrafaktische
Verschärfung, nach der alle Menschen gegenüber denselben
Weltzuständen und den Mitteln zu ihrer Verwirklichung Lust
und Unlust empfinden. Er baut vielmehr seine Argumentation
aus dem ersten Absatz aus, und erläutert, warum die Begierde
nach Glückseligkeit bei allen Handlungssubjekten „das
äußerste Widerspiel der Einstimmung, de[n] ärgste[n]
Widerstreit und die gänzliche Vernichtung der Maxime“
hervorbringt. Hier neu ansetzen???: Denn, so lautet das Argument,
das worin das „Wohlbefinden“ besteht ist von Subjekt zu
Subjekt verschieden und mit ihm auch das Handlungsziel. Die
zufällige Übereinstimmung mit den Absichten anderer ist zur
Gesetzgebung nicht hinreichend. (Drei Punkte offen: 1. Wer sind die
78
„verständigen Männer“, 2. Von wem ist das „gewisse Spottgedicht“ (Oh,
wundervolle Harmonie, was er will, will auch sie“, 3. Bei Crusius (Anweisung
vernünftig zu leben § 125) die Stelle über die Brüder König Franz und Kaiser Karl
nachschlagen. Das Besondere dieses Teils ist es, daß Kant hier im Unterschied zu
Lehrsatz II, Anmerkung II betont wieso Glückseligkeit nicht zur Übereinstimmung
des Willensobjekts führt.)
Kant geht schließlich noch einen Schritt weiter. Bisher hat
er nur behauptet, daß das Prinzip der Glückseligkeit als
empirisches Prinzip auf der intersubjektiven Ebene keine
praktischen Gesetze begründen kann. Nun weitet er diese
Behauptung auch auf die bloß subjektive Ebene aus. Seine
zentrale These ist also, daß sich aus dem Prinzip der
Glückseligkeit weder eine „innere“ noch eine „äußere
Gesetzgebung“ ableiten läßt. Und seine Begründung lautet,
daß „Neigungen“ nicht nur von Subjekt zu Subjekt verschieden
sind, sondern auch innerhalb desselben Subjekts „bald die
[Neigung], bald eine andere im Vorzuge des Einflusses
[ist]“.
§ 5. Aufgabe I
Dieser § muß mit einer Erklärung der Gliederung in Erklärung, Lehrsatz,
Anmkerung, Folgerung und Aufgabe beginnen (s. dazu auch Logik § 39. Dort
erklärt Kant eine Reihe dieser Begriffe. Das Scholium ist die Anmerkung!). Kant
verfährt hier more geometrico. Doch was genau bedeuet diese Methode? Seine
Methode ist synthetisch; er beginnt mit ersten Prinzipien und leitet dann aus
diesen Prinzipien die besonderen Prinzipien ab, nicht analytisch, wo man zu den
höchsten Prinzipien aufsteigt. Kant beginnt mit der Idee eines praktischen
79
Gesetzes und expliziert die notwendigen Bedingungen. Im Unterschied zur
Mathematik (und zu Spinoza) kann es bei Kant keine Axiome geben, weil sie auf
Anschauung beruhen. Kant hat dafür das Faktum der Vernunft. Doch wie bauen
die einzelnen Teile aufeinander auf, was ist jeweils ihre Funktion? Der Term
„Aufgabe“ findet sich in Spinozas Ethik nicht. Ist Kant der erste, der diesen Aspekt
ins Verfahren einführt? Diese Erläuterungen sollten am Beginn des Ersten
Hauptstückes stehen. Hier in § 5 kann ich wieder auf diese Ergebnisse
zurückkommen.
1. Absatz „Vorausgesetzt, daß - allein bestimmbar.“
Kants Argumentation bis zum § 5 läßt sich auf drei Schritte
zusammenfassen: Er geht zunächst von der Voraussetzung aus,
daß praktische Gesetze bedingungslos (a priori notwendig)
verbindlich sind (§ 1., Erklärung). Dann beweist er, daß
alle materialen Prinzipien durch das Begehren eines
bestimmten Gegenstandes bedingt sind, deshalb nicht zur
praktischen Gesetzgebung infrage kommen (§ 2., Lehrsatz I)
und auf das Prinzip der Selbstliebe (eigenen Glückseligkeit)
reduziert werden müssen (§ 3, Lehrsatz II). Im „Lehrsatz
III“ zeigt er schließlich, daß, wenn Maximen sich zu
moralischen Gesetzen qualifizieren können, nur die
gesetzmäßige Form ihnen diesen Status verleihen kann (§ 4).
In § 5 wird dieses hypothetische Ergebnis aus dem dritten
Lehrsatz nun Bestandteil einer selbstgestellten Aufgabe.
Die Aufgabe gliedert sich in zwei Absätze: Der erste Absatz
bringt die Aufgabenstellung, der zweite die Lösung. (Mit
„Aufgabe wird hier ein neues methodisches Mittel eingeführt...). Bei der
Aufgabenstellung setzt Kant voraus, daß „die bloße
80
gesetzgebende Form der Maximen allein der zureichende
Bestimmungsgrund eines Willens sei“. Von dieser
Voraussetzung ausgehend, formuliert er dann die eigentliche
Aufgabe, nämlich die „Beschaffenheit desjenigen Willens zu
finden, der [durch die bloße gesestzgebende Form der
Maximen] allein bestimmbar ist“.
Der Wille in seiner eminenten (nicht defizienten) Form ist
ein durch Vernunft bestimmtes Kausalvermögen. Wenn Kant hier
also von der „Beschaffenheit“ des Willens spricht, dann ist
die Art der Kausalität gemeint. Aber was bedeutet es, daß
ein Wille durch die gesetzgebende Form der Maximen allein
bestimmbar ist? Mit „allein“ schließt Kant alle materialen
Bestimmungsgründe aus. Das wird auch im ersten Teil der
Aufgabenstellung deutlich. Dort heißt es, daß die
gesetzgebende Form nicht etwa zusammen mit der Materie
hinreichend für die Willensbestimmung ist, vielmehr soll die
„gesetzgebende Form der Maximen allein der zureichende
Bestimmungsgrund“ sein (Hervorhebung J. B.). Wäre die
gesetzgebende Form nicht allein hinreichend und die
Willensbestimmung wäre noch durch das Vorliegen eines
Begehrens bedingt, wäre die Gültigkeit der praktischen Regel
subjektiv bedingt und sie würde, wie Kant in § 2 bewiesen
hat, nicht den Rang eines praktischen Gesetz einnehmen
können.
Bei der Einführung der Begriffe „Form“ und „Materie“ wurde
gesagt, daß Form und Materie des Willens sich wie Begriff
und Empfidung zueinander verhalten: Der Begriff ist die
Bestimmung, die Empfindung das Bestimmte. Die praktischen
81
Gesetze bzw. Regeln??? leisten die Bestimmung und ihr Objekt
(die Materie) sind unsere Begehrungen. Wenn Kant also von
„Willensbestimmung“ spricht, dann ist damit der Akt der
Vernunft gemeint, wodurch unsere Begehrungen eine
regelgeleitete Richtung erhalten.
Nun ist aber auch bloß instrumentelles Handeln
regelgeleitet. Dabei wird, wie wir alle wissen, das
instrumentelle Wissen nicht immer nur zur Beförderung des
moralisch Guten eingesetzt. Man muß in diesem Fall daher von
einem regelgeleiteten aber unmoralischen Handeln sprechen.
Die begriffliche Bestimmung des Willens zur Handlung ist
also alleine nicht hinreichend für eine moralisch gute
Willensbestimmung. Vernunft bestimmt in diesem Fall nicht
unmittelbar den Willen, sondern nur vermittelt durch das
begehrte Objekt. Genau diesen Sachverhalt hat Kant im Auge,
wenn er „Form“ durch „gesetzgebend“ spezifiziert. Es geht
also in dieser Aufgabe nicht um jedes regelgeleitete
Begehren, sondern nur um dasjenige, bei dem die gesetzgebende
Form der Bestimmungsgrund des Willens ist.
2. Absatz: „Da die bloße Form des Gesetzes - ein freier Wille“
Der Lösungsweg gliedert sich in zwei hypothetische Sätze
(„Da […]: so […]“, „Wenn […]: so […]“) und einen
kategorischen Lösungssatz, dem eine Defnition vorausgeht.
Der Lösungssatz läßt sich so reformulieren: Ein Wille, der
durch die gesetzgebende Form bestimmt werden kann, ist ein
absolut freier Wille. Welche Argumente führen Kant zu dieser
Lösung? Er beginnt mit der Voraussetzung, daß „die Form des
82
Gesetzes lediglich von der Vernunft vorgestellt werden kann,
und mithin kein Gegenstand der Sinne ist“. Gegen diese
Annahme liegt der Einwand nahe, daß auch Klugheitsratschläge
von der Vernunft vorgestellt werden: Wir müssen unsere
Begehrungen propositionalisieren und in ein kohärentes
System von Absichten bringen. Um diese Art von Ratschlägen
generieren zu können, ist also Vernunft erforderlich. Wenn
Kant hier jedoch „lediglich von der Vernunft vorgestellt“
schreibt, ist damit gemeint, daß die Vorstellung keine
Repräsentation von Empirischem ist oder auf das Gefühl der
Lust und Unlust als etwas Empirisches bezogen wird. Als
solche ist die Vorstellung der gesetzgebenden Form empirisch
unbedingt und damit von allen empirischen Bestimmungsgründen
verschieden. Kant hatte in der ersten Kritik den „Gegenstand
einer empirischen Anschauung“ eine „Erscheinung“ genannt
(KrV, B 34) und es von dem „Noumenon“ als dem „Objekt einer
nichtsinnlichen Anschauung“ unterschieden (KrV, B 307). Von
dieser Terminologie macht er hier Gebrauch, und darf
unmittelbar schließen, daß die gesetzgebende Form als nicht-
empirische Vorstellung „nicht unter die Erscheinungen
gehört:“.
Der Doppelpunkt nach „gehört“ markiert das Ende der
Voraussetzung, die sich nun auf die Behauptung verkürzen
läßt: Die Vorstellung der gesetzgebenden Form ist keine
Erscheinung. Im nächsten Beweisschritt macht Kant erneut von
Ergebnissen der ersten Kritik Gebrauch. Dort hatte er im
Rahmen der zweiten Analgoie der Erfahrung bewiesen, daß nur
alle Erscheinungen als Ursachen („bestimmende Gründe“)
83
selbst auch wieder durch Erscheinungen bedingt sind. Alle
Erscheinung sind auf diese Weise durch das Prinzip der
Kausalität miteinander verknüpft. Das Ganze der
zusammenhängenden Einheit heißt „Natur“ in materieller
Bedeutung (KrV, B 446 f.) und das transezendentale Kausalprinzip
selbst wird deshalb (auch hier in der Aufgabe I) das
(allgemeine) „Naturgesetz“ genannt. Mit der zweiten Analogie der
Erfahrung schließt Kant an Leibniz’ Satz vom zureichenden
Grund an (KrV, B 246, B 264 f., B 811), transformiert ihn aber in
einen transzendentalen Grundsatz und schränkt ihn damit auf
Erscheinungen als einer Teilklasse der Gegenstände überhaupt
ein, indem er ihm eine erkenntniskonstituierende Funktion
zuweist.
Wenn nun die Vorstellung der gesetzgebenden Form selbst
keine Erscheinung ist (Prämisse 1), und nur alle
Erscheinungen dem transzendentalen Naturgesetz unterworfen
sind (Prämisse 2), dann ist, so darf Kant schließen, die
gesetzgebende Form als Bestimmungsgrund des Willens „von
allen Bestimmungsgründen der Begebenheiten in der Natur“
unterschieden.
Ziel der Aufgabenstellung war es die Beschaffenheit
(Kausalität) des Willens aufzufinden, bei dem die
gesetzgebende Form für die Willensbestimmung „allein“
hinreichend ist (Hervorhebung J. B.). Diese Voraussetzung
muß mit auf den Lösungsweg genommen werden. Dehalb heißt es,
daß „auch kein anderer Bestimmungsgrund des Willens für
diesen zum Gesetz dienen kann, als bloß jene allgemeine
gesetzgebende Form:“. Wieder markiert ein Doppelpunkt in
84
diesem Fall hinter „Form“ das Ende der Voraussetzung. Kant
darf nun schlußfolgern: Ein Wille dessen Bestimmungsgrund
die gesetzgebende Form ist, ist nicht durch andere
Erscheinungen verursacht und unterliegt damit nicht dem
„Naturgesetz der Erscheinungen“ („Gesetze der Kausalität“).
Um diese hier nur negativ bestimmte Kausalität des Willens
begrifflich zu fassen, greift Kant schließlich ein drittes
Mal auf die Terminologie der ersten Kritik zurück: Dort hatte
er die Kausalität, „die nicht nach dem Naturgesetze wiederum
unter einer anderen Ursache steht“, als „transzendentale
Idee [der] Freiheit“ bezeichnet (KrV, B 561). Die
transzendentale Freiheit ist eine „Idee“ und kein
Erfahrungsbegriff, weil sie auf die Totalität der Bedingungen
geht. Als Erstursächlichkeit markiert sie eine
Abschlußbedingung und ist damit ein absoluter und nicht etwa
relativer Begriff (KrV, B 356 ff., B 377 ff.). Auf diese
Idee kommt Kant in der Lösung der „Aufgabe I“ zurück, wenn
er die Unabhängigkeit vom Naturgesetz als „Freiheit im
strengsten, d. i. transzendentalen Verstande“ bezeichnet.
Damit ist die gesuchte Beschaffenheit des Willens gefunden
und die Aufgabe gelöst: Ein Wille, der durch die
gesetzgebende Form allein bestimmbar ist, ist ein
transzendental freier Wille.
Die Lösung der Aufgabe kann in sechs Schritten
zusammengefaßt werden:
(i) Die Vorstellung der gesetzgebenden Form ist eine
reine Vernunftvorstellung und keine Erscheinung. (P)
85
(ii) Nur alle Erscheinungen (nicht alle Gegenstände
überhaupt) sind als Ursachen („bestimmende Gründe“)
selbst auch wieder durch andere Erscheinungen bedingt
(„Naturgesetz der Erscheinungen“). (P)
(iii) Also ist die gesetzgebende Form als
Bestimmungsgrund des Willens „von allen
Bestimmungsgründen der Begebenheiten in der Natur
unterschieden“. (i, ii)
(iv) Wenn die gesetzgebende Form der „allein zureichene
Bestimmungsgrund“ des Willen sein kann, dann
unterliegt er nicht dem „Naturgesetz der
Erscheinungen“ („Gesetze der Kausalität“). (iii)
(v) Eine Kausalität, die unabhängig von dem „Naturgesetz
der Erscheinungen ist“, heißt transzendentale
Freiheit. (P)
(vi) Also ist ein Wille, der durch die gesetzgebende Form
bestimmt werden kann, ein absolut freier Wille. (iv,
v)
§ 6. Aufgabe II
1. Absatz „Vorausgesetzt - tauglich ist.“
In § 6 dreht Kant die Aufgabenstellung um. Er setzt die
absolute Freiheit des Willens voraus und macht es sich zur
Aufgabe, „das Gesetz zu finden, welches ihn allein notwendig
zu bestimmen tauglich ist“. Bei dieser Aufgabenstellung
erwartet man, daß Kant mit dem Lösungssatz auch die
Formulierung eines Gesetzes präsentieren würde. Das ist aber
nicht der Fall. Der Lösungssatz kann aber dazu verhelfen,
86
die Fragestellung zu präzisieren. Dort heißt es: Die
„gesetzgebende Form [ist] das einzige, was einen
Bestimmungsgrund des Willens ausmachen kann“. Ein bestimmtes
Gesetz wird also im Lösungssatz gar nicht formuliert,
vielmehr gibt Kant nur die Art des des Gesetzes an. Deshalb
kann man auch die Aufgabestellung dahingehend ergänzen, daß
das Ziel darin besteht, „[die Art des] Gesetz[es] zu finden,
welches ihn allein notwendig zu bestimmen tauglich ist“.
Der Lösungssatz muß aber auch andersherum durch die
Aufgabestellung präzisiert werden: Erstens geht es hier nicht
darum, das Gesetz zu finden, durch den ein Wille im
allgemeinen, sondern ein freier Wille im besonderen, bestimmt
werden kann. Zweitens (und weniger offensichtlich) kann Kant
nicht meinen, die Form sei „das einzige, was einen
Bestimmungsgrund des [freien] Willens ausmachen kann“
(Hervorhebung J. B.). Wäre dies der Fall, könnten wir gar
nicht ungesetzlich handeln, sondern unserer Wille wäre immer
schon durch die gesetzgebende Form bestimmt. Damit käme uns
jener heilige Wille zu, den Kant uns gerade ausdrücklich
abspricht (KpV § 7, V 32). Diese Inkonsistenz läßt sich
vermeiden, wenn man das „allein notwendig“ aus der
Aufgabenstellung auch in den Lösungssatz überträgt. Demnach
ist die „gesetzgebende Form das einzige“, was einen freien
Willen allein notwendig bestimmen kann. Durch diese
Ergänzung sind dann nicht-gesetzmäßige Bestimmungsgründe
sehr wohl möglich, aber sie sind keine Bestimmungsgründe,
die ohne das Vorliegen subjektiver Voraussetzungen
verbindlich, d. h. praktisch notwendig sind. Noch genauer
87
müßte es sowohl in der Aufgabenstellung als auch in der
Lösung „praktisch objektiv notwendig“ heißen. Denn, wie sich
bereits in den §§ 1 und 3 gezeigt hat, kommt auch den
hypothetischen Imperativen Notwendigkeit zu, die allerdings
nur subjektiv bedingt ist (KpV § 1, V 20; § 3, V 26). Eine
zweite Möglichkeit die Konsistenz der Kantischen Theorie zu
wahren besteht darin, die Konklusion dahingehend
abzuschwächen, daß die gesetzgebende Form den freien Willen
bestimmen können muß. Die nicht gesetzmäßige
Willensbestimmung kann dann als eine Unterlassung der
Vernunftbestimmung verstanden werden.
2. Absatz „Da die Materie - Willens ausmachen kann.“
Die Lösung der „Aufgabe II“ besteht aus zwei Teilen. Im
Ausschlußverfahren wird zunächst im ersten negativen Teil
die Materie als Bestimmungsgrund eines freien Willens
ausgeschlossen, um dann im zweiten positiven Teil auf die
gesetzgebende Form als notwendigen Bestimmungsgrund eines
freien Willens zu schließen. Dieses Ausschlußverfahren hatte
Kant bereits in § 4 eingesetzt. Auch die anderen Argumente
sind bereits aus den vorangehenden Paragraphen bekannt:
Unter der Materie der Maxime versteht Kant den „Gegenstand
dessen Wirklichkeit begehret wird“ (§ 2). Die Wirklichkeit
eines Gegenstandes zu begehren heißt, „Lust“ an ihm zu
empfinden. Ob ein Gegenstand Lust, Unlust oder Indifferenz
bereitet, kann nicht a priori erkannt werden (ebd.). Deshalb
behauptet Kant hier im § 6, daß die Materie der Maxime
„niemals anders als empirisch gegeben werden kann“.
88
Empirische Bedingungen unterliegen, dies wurde in der
Aufgabe I im Rekurs auf die erste Kritik deutlich, dem
„Gesetz der Kausalität“ (§ 5). Wenn also die Materie der
Bestimmungsgrund des Willens ist – so Kants erster
Lösungsschritt –, dann ist der Bestimmungsgrund die kausale
Folge empirischer Bedingungen. In seinem zweiten Schritt macht
Kant von seiner Definition der absoluten Freiheit als die
„Unabhängigkeit […] von dem Natrugesetz der Erscheinungen“
aus der Aufgabe I Gebrauch. Also darf er drittens folgern, daß
ein Wille (als Vermögen, nicht Willensakt), dessen
Bestimmungsgrund nur die kausale Folge empirischer
Bedingungen (Materie) sein kann, nicht absolut frei ist.
Der negative Teil des Beweises ist damit abgeschlossen. Kant
kann nun dazu übergehen, die Kausalität eines freien Willens
positiv zu bestimmen: Der Wille ist ein Vermögen durch die
Vorstellung von Gesetzen zu handeln (KpV, V 125; GMS, IV
412). Wenn der freie Wille von der Materie des praktischen
Gesetzes unabhängig ist, dann muß er noch durch ein anderes
Prinzip bestimmbar sein, andernfalls bliebe er unbestimmt,
wäre also kein Wille mehr, sondern nur blinder Trieb (s.
oben???). Neben der Materie aber, so Kants vierter
Lösungsschritt, ist nur die Form des Gesetzes ein möglicher
Bestimmungsgrund des Willens. Damit ist Kant schließlich zu
der Schlußfolgerung berechtigt, daß die gesetzgebende Form
„das einzige [ist], was einen [notwendigen] Bestimmungsgrund
des [freien] Willens ausmachen kann“. Mit diesem Ergebnis
deutet Kant schon an, daß die Freiheit, die er hier bisher
89
nur negativ charakterisiert hat, positiv als eine
Vernunftkausalität verstanden werden muß.
Die Lösung der „Aufgabe II“ läßt sich also auf fünf
Lösungsschritte verkürzen:
(i) Wenn die Materie der Bestimmungsgrund des Willens
ist, dann ist der Bestimmungsgrund die kausale Folge
empirischer Bedingungen. (P)
(ii) Absolute Freiheit ist die „Unabhängigkeit […] von dem
Natrugesetz der Erscheinungen“. (P)
(iii) Ein Wille, dessen Bestimmungsgrund nur die kausale
Folge empirischer Bedingungen (Materie) sein kann,
ist nicht absolut frei. (i,ii)
(iv) Die Form des Gesetzes ist neben der Materie der
einzig mögliche Bestimmungsgrund des Willens. (P)
(v) Also muß ein freier Wille durch die gesetzgebende
Form bestimmbar sein. (iii, iv)
Anmerkung
Diese Anmerkung befaßt sich mit der Erkenntnishierarchie der
Begriffe Freiheit und Moralgesetz. Kants zentrale These ist,
daß das Moralgesetz, wie es in der „Vorrede“ heißt, die ratio
cognoscendi, der Erkenntnisgrund, der Freiheit ist. Die
Anmerkung besteht aus einem Absatz, der in drei Teile
untergliedert werden kann. Im ersten Teil will Kant
beweisen, daß uns nur ein unmittelbares Bewußtsein des
Moralgesetzes nicht aber der Freiheit möglich ist. Im
zweiten und dritten Teil werden dann aus
transzendentalphilosophischer und empirischer Perspektive
90
zusätzliche Belege für den erkenntnismäßigen Vorrang des
Moralgesetzes erbracht. Kant argumentiert zunächst im
zweiten Teil vom Standpunkt der Transzendentalphilosophie,
daß der Freiheitsbegriff in bezug auf die theoretische
Philosophie funktionslos bleibt und nur wegen des
Moralgesetzes „in die Wissenschaft eingeführt werden muß“.
Im dritten und letzten Teil appeliert er an unsere
Selbsterfahrung und will auch aus empirischer Perspektive
die „Ordnung der Begriffe“ (erst Moralgesetz dann Freiheit)
bestätigen.
1. Absatz, Satz 1 und 3 „Freiheit und unbedingtes – zurück“, Von der
Freiheit kann es nicht - Widerspiel der Freiheit, zu erkennen.“
Es ist das Ziel dieser Anmerkung, die Frage zu beantworten,
„wovon unsere Erkenntnis des unbedingt-Praktischen anhebe, ob
von der Freiheit, oder dem praktischen Gesetze“. Dabei muß
der Nebensatz hier als eine vollständige Alternative
verstanden werden: Freiheit oder praktisches Gesetz – tertium
non datur. Die Fragestellung ist mehrdeutig: Unbedingt
praktisch ist zum einen das Moralgesetz, weil es die einzige
Handlungsregel ist, die voraussetzungslos gebietet.
Unbedingt praktisch ist aber auch die transzendentale
Freiheit, weil sie eine Kausalität meint, die alleine aus
sich heraus handlungswirksam ist. Die Formulierung
„unbedingt-Praktisch“ läßt also offen, ob es um die
Erkenntnis der Freiheit oder die Erkenntnis des
Moralgesetzes geht. Und genau diese Offenheit ist
intendiert, weil andernfalls bereits mit der Formulierung
91
des Explanandums eine Vorentscheidung hinsichtlich der
Erkenntnishierarchie getroffen werden würde. Die Frage nach
dem Erkenntnisgrund des „unbedingt-Praktischen“ wird also
auch zugleich Aufschluß darüber geben können, wie das
Verhältnis von Freiheit und Moralgesetz zu denken ist.
Kant formuliert zunächst ein Ergebnis, das die Lösung beider
Aufgaben übergreift: „Freiheit und unbedingtes praktisches
Gesetz weisen also wechselweise auf einander zurück“. Damit
wird deutlich, daß diese Anmerkung sich auf die §§ 5 und 6
bezieht und nicht, wie es die äußerliche Gliederung vermuten
läßt, nur auf die Lösung der „Aufgabe II“. In der „Vorrede“
hatte Kant das Wechselverhältnis von Freiheit und
Moralgesetz bereits präziser auf Begriffe gebracht: Freiheit
ist der Seinsgrund (die „ratio essendi“) des Moralgesetzes
und das Moralgesetz ist der Erkenntnisgrund (die „ratio
cognoscendi“) der Freiheit (s. oben???)13. In dieser
Anmerkung wird Kant nun begründen, warum das Moralgesetz und
nicht die Freiheit in der Erkenntnishierarchie das Primäre
ist.
Die Freiheit scheidet als primärer Erkenntnisgrund aus zwei
Gründen aus: Erstens läßt sich die Wirklichkeit der Freiheit
als „Unabhängigkeit […] vom Naturgesetz der Erscheinungen“
(§ 5) nicht empirisch beweisen, weil sie den Bedingungen der
Erfahrung gerade zuwider ist. Deshalb sagt Kant, daß das
„Gesetz der Erscheinungen […] das gerade Widerspiel der
Freiheit […] zu erkennen [gebe]“. Wenn die Freiheit nicht
durch die Erfahrung erkannt werden kann, bleibt noch ein13 Exkurs: Grundlegung, Abschnitt III: Zirkelproblem. Kants neue Lösung
92
unmittelbares Bewußtsein der Freiheit. Doch wir können uns
der Freiheit nicht „unmittelbar bewußt werden, weil [ihr]14
erster Begriff negativ“ ist. Würden wir Menschen über eine
nicht-sinnliche, intellektuelle Anschauung verfügen, dann
wären wir nicht auf Gegebenes angewiesen, sondern würden die
Gegenstände, die wir erkennen, durch den Verstand
selbsttätig hervorbringen und so unmittelbar anschauen. Bei
einer intellektuellen Anschauung entspränge Erkenntnis nicht
durch die Vermittlung der Produkte jener zwei heterogener
Quellen, Verstand und sinnlicher Anschauung, vielmehr
gelangt es durch eine den Erkenntnisgegenstand selbst
hervorbringende „intellektuelle Anschauung“ unmittelbar zur
Erkenntnis. Bei einem solchen Verstand würden also das
begriffliche Erfassen des Allgemeinen und der anschauliche
bezug auf den Gegenstand zusammenfallen, indem er den
Gegenstand, den es erkennt, auch selbst hervorbringt (KrV, B
42 ff.; B 69; B 72, B 145, B 311 f., B 333 f; KU, V 401-404
(B 339-B 344); 406 ff. (B 348 ff.)). Doch der Begriff der
Freiheit ist zunächst nur negativ, weil wir ihn als
Gegenbegriff zum „Gesetz der Kausalität“ bilden (§ 5), das
wir als Prinzip der Erfahrung erkennen können. Nur zunächst
und als „erster Begriff“ ist er „negativ“, weil, wie Kant
14 Kant bezieht sich an dieser Stelle mit dem Pronomen im maskulinum („sein“) auf„Freiheit“. Hartenstein hat deshalb zu Recht „ihr“ konjiziert. Wenn Kant sich dieDeduktion der Freiheit vornimmt, wird er noch einmal das Pronomen im maskulinumverwenden und es damit so aussehen lassen, als wolle er nicht die Freiheit, sonderndas Moralgesetz deduzieren („das moralische Gesetz beweist seine Readlität dadurch[…], daß es einer bloß negativ gedachten Kausalität […] positive Bestimmung […]hinzufügt“ (Hervorhebung J. B.). Wie der Zusammenhang deutlich werden läßt, ist eineLesart nach der das Moralgesetz seine eigene Realität beweist nicht sinnvollverständlich zu machen. Es trägt daher sehr zur Plausbilität des Textes bei, daß Kantsich hier in der „Anmerkung“ zu den §§ 5 und 6 bereits im maskulinum auf Freiheitbezieht (ausführlicher oben???).
93
noch im Folgenden zeigen wird, seine Kausalität durch das
Moralgesetz positiv bestimmt werden kann.
Satz 3 „Also ist es das moralische Gesetz - auf den Begriff der Freiheit
führt“
Nachdem die Freiheit als Erkenntnisgrund des „unbedingt-
Praktischen“ ausscheidet, schließt Kant, daß es „also […]
das moralische Gesetz [sein muß], welches sich uns zuerst
darbietet“. Im Unterschied zur Freiheit können wir uns des
Moralgesetzes „unmittelbar bewußt werden“. Wir „können“ uns
ihm bewußt werden, weil wir, solange wir bloß auf die
unmittelbare Verwirklichung unserer Bedürfnisse aus sind und
nicht versuchen, unser Handeln an Grundsätzen zu
orientieren, von dem kategorischen Anspruch eines
Moralgesetzes nichts bemerken. Demgemäß formuliert Kant
bereits hier in Klammern die Erkenntnisbedingung des
Moralgesetzes: „Sobald wir uns Maximen des Willens
entwerfen“. Erst also, wenn wir unser Handeln an Grundsätzen
orientieren, werden wir uns „unmittelbar“ dem Anspruch des
Moralgesetzes bewußt, das die Universalisierbarkeit unserer
Maximen fordert. Weil das Moralgesetz ein „Bestimmungsgrund“
ist, der von allen „sinnlichen Bedingungen […] unabhängig“
ist, „führt“, wie Kant sagt, das Moralgesetz direkt auf den
Begriff der Freiheit.
Satz 2„Ich frage hier nun nicht …“
Wie steht es nun mit jener Frage, die Kant im zweiten Satz
der Anmerkung in der Form einer praeteritio stellt, indem er über
94
diese Frage sagt, daß er sie nicht stellen wolle und mit
deren Formulierung er auch bereits eine Antwort nahelegt,
die für die Zurechenbarkeit menschlichen Handelns fatal zu
sein scheint, weil sie die Identität von freiem mit
moralisch gutem Handeln nahelegt:
„Ich frage hier nun nicht: ob sie [Freiheit und unbedingtes praktisches
Gesetz, J. B.] auch in der Tat verschieden sein, und nicht vielmehr ein
unbedingtes Gesetz bloß das Selbstbewußtsein einer reinen praktischen
Vernunft, dieses aber ganz einerlei mit dem positiven Begriffe der
Freiheit sei“ (KpV, V 29, Hervorh. J. B.).
Daß dieses Verhältnis von positiver Freiheit und reiner
praktischer Vernunft tatsächlich Kants Position entspricht,
bestätigt er zwei Paragraphen später in § 8, nachdem er in §
7 den kategorisch gebietenden Imperativ als Grundgesetz der
reinen praktischen Vernunft eingeführt hat: „[E]igene
Gesetzgebung aber der reinen, und, als solche, praktischen
Vernunft ist Freiheit im positiven Verstande“ (KpV, V 33).
Unproblematisch ist der erste Teil jener Frage. Das
Moralgesetz ist als Faktum der Vernunft das
„Selbstbewußtsein“ einer reinen praktischen Vernunft. Unter
dem Anspruch des Moralgesetzes werden wir uns eines
Handlungsgesetzes bewußt, das von allen empirischen
Bestimmungsgründen abstrahiert und dem Willen ein formales
Handlungsprinzip vorschreibt. Schwierigkeiten bereitet
hingegen der zweite Teil, in dem Kant die Identität von
reiner praktischer Vernunft und Freiheit in Erwägung zieht,
die er später auch behaupten wird. Dabei ist es wichtig zu
sehen, daß Kant nicht die Identität zwischen reiner
95
praktischer Vernunft und Freiheit im allgemeinen, sondern
zwischen reiner praktischer Vernunft und dem „positiven Begriffe“
der Freiheit im besonderen meint.
Kant hatte in der ersten Kritik eine Nominaldefinition des
Freiheitsbegriffes gegeben. Dort ging es um die Vernunftidee
der „transzendentalen Freiheit“. Der Gegenbegriff von
„transzendental“ ist „empirisch“. Empirische Freiheit ist
relative Freiheit, transzendentale Freiheit ist absolut
(vgl. § 5; Kritische Beleuchtung???). Das Definiendum war also
der zusammengesetzte Begriff einer „Kausalität aus (absoluter)
Freiheit“. In dem Begriff der „Kausalität“ liegt das
Verhältnis einer Ursache zur Wirkung. Im Begriff der
„Freiheit“ liegt, daß die Ursache „unabhängig von
empirischen Bedingungen“ wirkt. Nun kann man dieses
Verhältnis auch positiv bestimmen als eine Ursache, die ein
Vermögen hat, „eine Reihe von Begebenheiten von selbst
anzufangen, so, daß in ihr selbst nichts anfängt, sondern
sie eine unbedingte Bedingung [ist]“ (KrV, B 581 f.).
Solange sich Kant ausschließlich mit Erstursächlichkeit
überhaupt befaßt und die Frage traktiert, ob
Erstursächlichkeit mit dem Kausalprinzip bzw. mit den
speziellen Kausalgesetzen vereinbar ist, stellt er die
Freiheitsfrage ausschließlich auf theoretischer Ebene. Ob
diesem widerspruchsfreien Begriff auch ein „Inhalt“,
„objektive Realität“, eine „Bedeutung“ zukommt, ist auf der
theoretischen Ebene aufgrund der Endlichkeit (Sinnlichkeit)
unseres Erkenntnisvermögens prinzipiell nicht zu bestimmen.
96
Wenn Kant nun über das Kausalvermögen des Menschen (den
Willen) spricht, ist dies zum einen aus theoretischer
Perspektive möglich: Ein (absolut) freier Wille ist ein
Wille, der „unabhängig von empirischen Bedingungen“ wirkt
(negative Freiheit) und eine Reihe von Begebenheiten von
selbst [anfangen kann]“ (positive Freiheit).
Doch damit hat man bloß eine Nominaldefinition der
Willensfreiheit gegeben. Mit der bloßen Begriffserklärung
„Kausalität aus (absoluter) Freiheit“ ist noch nicht darüber
entschieden, ob diesem Begriff auch ein Gegenstand
korrespondiert. In der ersten Kritik hatte Kant bewiesen, daß
es weder möglich ist einen Fall von absoluter Freiheit in
der sinnlichen Anschauung zu demonstrieren, noch sie als
Bedingung der Möglichkeit von Naturerfahrung etabliert
werden kann. Die objektive Realität dieses Begriffes konnte
nur problematisch angenommen und nicht etwa assertorisch
oder gar apodiktisch behauptet werden.
Deshalb sagt Kant im Rückblick auf die erste Kritik, daß er
dort nur den „negativen“ Begriff der Freiheit sichern konnte
(KpV V, 42). „Negativ“ bedeutet in diesem Zusammenhang
nicht, daß Kant mit der Auflösung der dritten Antinomie nur einem
relativen Freiheitsbegriff Denkmöglichkeit verschafft hat.
In der dritten Antinomie ging es ausdrücklich um „absolute“ und
nicht etwa relative Spontaneität (KrV, B 560). „Negativ“
bedeutet in diesem Zusammenhang, daß der Begriff einer
„Kausalität aus Freiheit“ nicht positiv bestimmt werden
konnte, so daß ihm „objektive Realität“ zukommen würde (KpV,
49 f.).
97
Nun hat Kant in der GMS und KpV ein Gesetz ausfindig
gemacht, das dem Willen als Kausalvermögen eines
vernunftbegabten Wesens notwendig zugrunde liegt. Das heißt,
wenn der Wille als Begehrungsvermögen eines vernünftigen
Wesens frei ist, ist er nicht gesetzlos, sondern ist
notwendig diesen Gesetzen unterworfen. Das bedeutet nicht,
daß er auch immer schon diesem Gesetz entspricht, sondern
nur, daß dieses Gesetz für alle vernünftigen Wesen
verbindlich ist.
Damit ist auch zugleich die Möglichkeit für eine positive
Definition nicht einer Kausalität aus Freiheit im
allgemeinen, sondern der Willensfreiheit eines
Vernunftwesens im besonderen gegeben. Diese Definition
bleibt nicht nur nominal, sondern wird real. Realität heißt
freilich nicht, daß Kant einen Fall von absoluter Freiheit
in der inneren Anschauung als empirische Wahrnehmung
beibringen würde und damit einen realen Definitionsgrund der
Freiheit gefunden hätte. Die Freiheit des Willens als
absolutem Vermögen kann nicht durch die Erfahrung, sondern muß
von einem nicht-empirischen Definitionsgrund aus bestimmt
werden. Dieser Definitionsgrund ist das Moralgesetz, dessen
wir uns als ein Faktum a priori unmittelbar bewußt sind. Das
Moralgesetz als nicht-empirischer Definitionsgrund
ermöglicht die Bestimmung des Begriffs eines „absolut freien
Willens“.
Das Moralgesetz sieht von allen materialen
Bestimmungsgründen ab und gebietet kategorisch. Indem es
fordert, daß die Form und nicht etwa die Materie der Maximen
98
zum Bestimmungsgrund des Willens werden soll, impliziert es,
daß reine Vernunft ohne Voraussetzung eines empirisch-
zufälligen Bestimmungsgrundes praktisch werden kann. Eine
solche Willensbestimmung ist eine Kausalität aus Freiheit im
absoluten und nicht etwa relativen Sinne. Die positive
Definition der Freiheit des Willens gelingt Kant also, indem
er über das Moralgesetz, dessen wir uns „apodiktisch gewiß“
sind, eine Kausalität entdeckt, die jedem Willen eines
Vernunftwesens notwendig zugrunde liegt. Die Kausalität
besteht in der Praktizität der reinen Vernunft, die ohne ein
vorausgesetztes Begehren „für sich selbst“ praktisch sein kann.
Mit dieser positiven Definition ist nicht auch gesagt – und
das ist für die Frage nach der Zurechenbarkeit von moralisch
bösen Handlungen entscheidend –, daß der Wille als einzelner
Willensakt, dann und nur dann frei ist, wenn er das moralisch
Gute will. Vielmehr gelingt es damit, nur den eminenten Fall
rationaler Willensbestimmung als Fall absoluter Freiheit zu
bestimmen. Wir haben für die Willensbestimmung zur bösen
Handlung nicht (und können es auch nicht haben) ein
apodiktisch gewisses Gesetz, von dem aus es möglich wäre,
die Freiheitskausalität zu bestimmen. Dadurch wird aber ein
böser Willensakt nicht zu einem Willensakt, der mittelbar
oder unmittelbar durch Naturkausalität determiniert ist, so
daß eine reine Vernunftbestimmung unmöglich gewesen wäre.
Die Möglichkeit zur Vernunftbestimmung ist bereits durch den
negativen Freiheitsbegriff sichergestellt, der bereits in der
KrV die Möglichkeit der bösen Handlung sicherte (KrV, B 583
f.).
99
Aus praktischer Perspektive ist es das Moralgesetz, das uns
unsere absolute Freiheit versichert. Im Konflikt zwischen
Vernunft und Neigung gebieten wir uns uneingeschränkt
vernünftig zu handeln und wir werden uns dadurch bewußt,
durch keine sinnlichen Motivationsgründe zum Handeln
genötigt zu sein. Die Skepsis der Deterministen kommt aus
theoretischer Perspektive und wird von Kant zurück an die
Auflösung der dritten Antinomie verwiesen.
Satz 4-5 „Wie ist aber - aus dem letzteren“
Kant wirft nun auch explizit die Frage nach der
Erkenntnisbedingung des Moralgesetzes auf, die er in der
Klammer des vorherigen Satzes bereits beantwortet hat: „Wie
ist […] das Bewußtsein jenes moralischen Gesetzes möglich“.
Seine ausführlichere Antwort lautet: „[I]ndem wir auf die
Notwendigkeit […] und auf die Absonderung aller empirischen
Bedingungen dazu uns jene hinweist, Acht haben“. Und er
erläutert dies zudem noch mit einer Analogie: Das Bewußtsein
der Notwendigkeit und Apriorizität des Moralgesetzes
erlangen wir auf dieselbe Weise, wie wir es im Fall der
theoretischen Grundsätze erlangen. Wir abstrahieren von
allen empirischen Bedingungen und erhalten dann den „Begriff
eines reinen Willens“ bzw. den „Begriff des reinen
Verstandes“.
Satz 6 „Daß dieses die wahre Unterordnung - diesen Begriff nicht
aufgedrungen“
100
Die erkenntnismäßige Priorität des Moralgesetzes wird noch
aus einer transzendentalphilosophischen und einer
empirischen Perspektive bestätigt. Dabei wird auch das
Verhältnis der beiden Begriffe, daß sie, wie Kant am Beginn
der Anmerkung sagt, „wechselweise […] aufeinander
zurück[weisen], deutlicher werden: Er argumentiert zunächst
aus transzendentalphilosophischer Perspektive dafür, daß die
Freiheit in bezug auf die theoretische Philosophie
funktionslos bleibt und nur wegen des Moralgesetzes in die
Wissenschaft eingeführt werden muß: „[D]a aus dem Begriffe
der Freiheit in den Erscheinungen nichts erklärt werden
kann, sondern hier immer Naturmechanism den Leitfaden
ausmachen muß, [wäre] man niemals zu dem Wagstücke gekommen
[…], Freiheit in die Wissenschaft einzuführen, wäre nicht
das Sittengesetz […] und hätte uns diesen Begriff nicht
aufgedrungen.“ Übersetzung: Weil der Begriff der „Freiheit“
in bezug auf unsere theoretische Erkenntnis keine Funktion
hat, haben wir von dort aus auch keinen Grund, ihn als
philosophischen Grundbegriff in Anspruch zu nehmen. Erst
wenn wir uns in der Welt als handelnde genauer, moralische
Wesen orientieren, werden wir uns unmittelbar des
Moralgesetzes bewußt, das den Begriff der (absoluten,
transzendentalen) Freiheit voraussetzt. Dies beweist die
epistemische Priorität des Moralgesetzes vor der Freiheit
und zeigt zudem, daß uns ausschließlich die moralische
Praxis berechtigt, den Begriff der „Freiheit in die
Wissenschaft einzuführen“.
101
Satz 7-12 „Aber auch die Erfahrung bestätigt - unbekannt geblieben wäre“
Doch neben diesem transzendentalphilosophischen Argument
entwickelt Kant auch noch ein empirisches Argument, das die
„Ordnung der Begriffe“ bestätigen soll: Anhand zweier
pointiert angeordneter Entscheidungsszenarien will er
zeigen, daß uns erst das Sittengesetz die absolute Freiheit
entdeckt: Im ersten Szenarium steht jemand, der seinen
Geschlechtstrieb für unüberwindbar hält, vor Wahl entweder
seine Wollust zu befriedigen und dann als Konsequenz mit dem
Tod bestraft zu werden, oder sie zu suspendieren und damit
sein Leben zu retten. Im zweiten Fall steht er vor der
Entscheidung, in einem Gerichtsverfahren entweder auf
Drängen seines „Fürsten“ eine Falschaussage über einen
Unschuldigen abzugeben und sich auf diese Weise das Leben zu
retten, oder die Wahrheit zu sagen, in welchem Falle der
„Fürst“ die Tötung veranlassen würde (ebd.).
Im ersten Szenarium läßt Kant zwei Grundtriebe in
Konkurrenz zueinander treten: den Trieb zur
Geschlechtsbefriedigung und den Überlebenstrieb. Er setzt
implizit voraus, daß der Überlebenstrieb in der Regel
stärker ist. Darum sagt er, daß man „nicht lange raten“
müsse, wie in diesem Fall die Antwort ausfallen wird (ebd.).
Unter Androhung der unverzüglichen Todesstrafe werde
derjenige, der seine Wollust für unwiderstehlich hält,
feststellen, daß er sie suspendieren und an dem „Hause, da
er diese Gelegenheit trifft“, vorbeigehen kann. Zweifellos
macht er hier die Erfahrung von Freiheit. Aber – und das ist
es, was Kant durch den Kontrast mit dem zweiten Fall vor
102
Augen führt – die Freiheit, die er hier erfährt, ist nicht
absolut, sondern nur relativ. Denn ‚überleben zu wollen’,
verweist auf einen Naturtrieb. Der Wille ist dann in seiner
Wirkungsart, wie besonders in den §§ 2 und 3 gezeigt wurde
nicht formal, sondern material, durch das Begehren eines
Objekts zur Wirkung bestimmt. Der Zweck, der hier verfolgt
wird, ist kein Vernunft-, sondern ein Naturzweck. Solange
wir Entscheidungskonflikte ausschließlich als Alternative
zwischen zwei konkurrierenden sinnlichen Begehrungen
verstehen, ist das Auswahlkriterium, welche der beiden
Möglichkeiten uns ein größeres Vergnügen versprechicht bzw.
einen geringeren Schmerz bereitet (KpV, V 22 f. (A 40 ff.)). Wir
stellen hier also sehr wohl fest, daß wir durch
Vorstellungen unsere unmittelbaren Handlungsimpulse
überwinden können, doch wir machen dabei nicht die
Erfahrung, daß wir uns von allen sinnlichen Triebfedern frei
machen und aus reiner Vernunft heraus unser Handeln
bestimmen können.
Diese absolute Freiheit erfahren wir erst im moralischen
Konflikt zwischen Vernunft und Neigung. Nachdem Kant im
ersten Fall die beiden fundamentalen Naturtriebe miteinander
in Konflikt treten lassen hat, läßt er nun ein
ungleichartiges Prinzip, die Sittlichkeit, mit dem stärkeren
der beiden Triebe konfligieren. Zudem schließt Kant
strafrechtliche Konsequenzen für den Täter aus, weil der
Staat in Person des „Fürsten“, die Lüge gerade sanktioniert.
Damit ist auch die Angst vor Strafe als ein mögliches nicht-
moralisches Motiv ausgeschlossen.
103
Die Wahrheit zu sagen, ist eine vollkommene Pflicht (GMS, IV
421 f.), die auch dem eigenen Überleben nicht untergeordnet
werden darf. Selbst der vermeintlich stärkste und
fundamentalste Trieb soll sich also dem Anspruch des
Moralgesetzes beugen. Das bedeutet aber auch, daß nicht alle
unsere Handlungsprinzipien durch ein empirisch gegebenes
Begehren bedingt sind, wir vielmehr die Fähigkeit haben, aus
reiner Vernunft einen Handlungsgrund selbst hervorzubringen.
Indem das Moralgesetz durch kein Begehren bedingt ist,
impliziert es, daß wir unser Begehren, worin auch immer es
gerade bestehen mag, suspendieren und seine Verwirklichung
unter die Bedingung des Moralgesetzes stellen können. Da
dieses Gebot nicht von einer uns äußeren Instanz
vorgeschrieben wird, sondern wir selbst es sind, die sich
qua Vernunft dieses Gebot vorschreiben, erfahren wir den
Anspruch des Moralgesetzes als absolute Freiheit, als das
Vermögen unabhängig von unseren sinnlichen Begehrungen aus
reiner Vernunft handeln zu können. Diese Funktion hat in
diesem Zusammenhang auch Kants Schluß vom ’Sollen’ aufs
’Können’. Es soll damit nicht etwa ein (von Kant an anderer
Stelle für unmöglich erklärter) empirischer Freiheitsbeweis
geliefert werden, vielmehr geht es darum, die „Ordnung der
Begriffe“ zu bestätigen:
„Er urteilt also, daß er etwas kann, darum, weil er sich bewußt ist, daß
er es soll und erkennt in sich die Freiheit, die ihm ohne das moralische
Gesetz unbekannt geblieben wäre“.
104
Dieses Argument ist offensichtlich nicht hinreichend, um auf
deterministische Moralskepsis zu antworten. Kant hat damit
nicht etwa an einem Fall sinnlich-anschaulich demonstriert,
daß aus absoluter Spontaneität eine Kausalkette neu begonnen
werden kann. Ein solcher theoretischer Freiheitsbeweis
bleibt auch in der zweiten Kritik prinzipiell unmöglich. Kant
weiß, daß er, um diese Skepsis auszuräumen auch noch das
Theoriestück der 3. Antinomie benötigt (GMS, IV 455 f. (BA
115); KpV, V 30 (A 53), 48 ff. (A 83-87), 94-106 (A 169-
191); KU, V 175 (xviii); Rel., VI 39 f. (B 39 f.), B 49 f.
(58 f.)).15 Mit der Kontrastierung beider Szenarien soll
lediglich demonstriert werden, daß „Sittlichkeit uns zuerst
den Begriff der Freiheit entdecke [und] praktische Vernunft
zuerst der spekulativen das unauflösliche Problem mit diesem
Begriffe aufstelle […]“ (KpV, V 30). Beide Szenarien liefern
also die experimentelle Bestätigung für das zuvor aus reiner
Vernunft entwickelte Ergebnis, daß das Moralgesetz die ratio
cognoscendi der Freiheit ist.
Der Schluß vom ‘Sollen’ aufs ‘Können’ ist stets fester
Bestandteil des Kantischen Argumentationshaushalts gewesen
(vgl. KrV, B 562, B 835; KpV, V 30 (A 54); MS/TL, VI 380 (A 3), 383 (A 9)). Kant
15 Paul Saka verkennt, daß auch für Kant das Determinismus-Problem nicht mit demSchluß vom Sollen aufs Können gelöst wird (Saka 2000, S. 93, 100). Er sieht nicht, wie sehrKant mit ihm übereinstimmt, wenn er glaubt, daß der Schluß ein Problem für dieDeterminismus-Debatte aufgibt. Das wird auch in der Auflösung der dritten Antinomiedeutlich. Kant bringt den Begriff des Sollens nicht etwa ins Spiel, um denWiderspruch zwischen Freiheit und Prädeterminismus aufzulösen. Auf die Sollenssätze,die Imperative, kommt Kant erst zu sprechen, nachdem die Widerspruchsfreiheit bereitsbewiesen ist, um einen Grund anzugeben, uns als frei zu denken (KrV, B 578). Wie sichunten noch zeigen wird, ist es eine bestimmte Art des Sollens (kategorisches Sollen),die nicht determiniusmusverträglich ist. Auch Carsten Held glaubt, daß der Schluß vom Sollen aufs Können, erklären soll, wieFreiheit „in einer kausal bestimmten Welt überhaupt möglich ist“ und, daß dieserSchluß als ein zweites Argument neben der Auflösung der dritten Antinomie dieKompatibilismusfrage beantworten soll (Held 2001, S. 131). Aus Kants Texten kann manlernen, wie beide Argumente systematisch aufeinander aufbauen.
105
will ihn offensichtlich als eine analytische
Begriffsimplikation verstanden wissen. Auch wenn er keine
Antwort auf deterministische Moralskepsis darstellt, kann
man unabhängig davon nach seiner Berechtigung fragen. Kant
geht wie selbstverständlich von einem zum anderen über. Nun
kann man sich am Quadrat der logischen Gegensätze sehr wohl
deutlich machen, daß ‘metaphysisch notwendig’ oder ‘physisch
notwendig’ ‘physisch möglich’ impliziert,16 doch der
sukonträre Gegensatz zu ‘praktisch notwendig’ (Sollen) ist
nicht ‘physisch möglich’, sondern ‘praktisch möglich’ oder,
präziser ausgedrückt, ‘erlaubt’. Daß dies auch Kants von
praktischer Modalität gewesen ist, kann man der
Kategorientafel im „Zweiten Hauptstück“ der KpV entnehmen
(KpV, V 66).
Wir können uns darüber hinaus leicht Situationen denken, in
denen wir nicht ohne weiteres berechtigt sind, aus einem
Sollen auch ein Können abzuleiten. So kann beispielsweise
nicht jeder, der weiß, daß Aufzählungen in der deutschen
Rechtschreibung mit einem Komma abgetrennt werden sollen,
dieses Komma auch schon an den richtigen Stellen setzen. Er
hat ein Bewußtsein der Regel, weiß sogar aus Erfahrung, daß
er häufig gegen diese Regel verstößt und dennoch sagen wir
von ihm, daß er die Kommata bei Aufzählungen nicht setzen
kann. Man kann diesem Einwand mit der Unterscheidung
zwischen dem ‘aktualen’ und dem ‘potentiellen’ Sinn von
‘können’ begegnen: Der Schüler kann aktual das Komma nicht16 ‚Es ist möglich, daß Schweden blond sind’ verhält sich subaltern dazu, daß esnotwendig ist, daß Schweden blond sind. ‚Es ist notwendig, daß Schweden blond sind’,verhält sich konträr zu dem Satz, daß es unmöglich ist, daß Schweden blond sind und stehtim kontradiktorischen Gegensatz zu der Aussage, daß es möglich ist, daß Schweden nicht blondsind.
106
setzen, aber potentiell (durch Einübung), kann er sich das
Vermögen dazu erwerben. Wer das Vermögen hat, sich ein
Vermögen zur Ausübung der gesollten Handlung zu erwerben,
von dem können wir mit Recht sagen, daß er kann, was er
soll.
Nun sind freilich auch Fälle denkbar, in denen von ‘Sollen’
auch auf diesen potentiellen Sinn von ‘Können’ nicht mit
Recht geschlossen werden darf: So gebietet etwa der
tyrannische Befehlshaber seinen Häftlingen unter Androhung
von Strafe physisch (auch potentiell) unmögliche Handlungen.
Obwohl der Häftling eine Handlung ausführen soll, folgt
daraus nicht auch sein Können. Doch auch dieser Fall stellt
nicht eigentlich ein Problem für den Schluß dar. Wir haben
es hier mit einer falschen Verwendung von ‘sollen’ zu tun.
‘Sollen’ drückt, wie Kant an anderer Stelle sagt, eine
praktische Erkenntnis aus (KrV, B 661). In der praktischen
Erkenntnis wird im Unterschied zur theoretischen Erkenntnis
der Gegenstand nicht bloß bestimmt, sondern es geht darum,
„ihn auch wirklich zu machen“ (KrV, B x). Ist die
Verwirklichung des Objektes eines praktischen Satzes
prinzipiell ausgeschlossen, handelt es sich nicht um
praktische Erkenntnis und wir sind in diesem Fall auch keine
Rechtmäßige Adressaten des Sollens. Andersherum gilt aber,
daß, wenn es sich tatsächlich um einen Fall praktischer
Erkenntnis handelt, wir auch ihr gemäß handeln können
müssen. Im zweiten Entscheidungszenarium setzt Kant gerade
implizit voraus, daß der Handelnde eine unmittelbare
Vernunfterkenntnis des Moralgesetzes hat. Deshalb ist er
107
berechtigt auch auf das Können zu schließen. Wer also
bezweifelt, daß wir das Vermögen haben, auf der Basis
kategorisch-gebietender Imperative zu handeln, sollte seine
Kritik nicht gegen den Schluß vom Sollen aufs Können
richten, er sollte vielmehr Kants These vom Moralgesetz als
praktischem Wissen zurückweisen.
Nicht der Schluß vom Sollen aufs Können ist das Spezifische,
wodurch sich der Anspruch des Moralgesetzes von allen
hypothetisch-gebietenden Imperativen unterscheidet. Auch
unter dem Anspruch zweckrationaler Vernunft werden wir uns
unserer Freiheit bewußt. Doch bei hypothetisch gebietenden
Imperativen ist das Sollen durch ein vorausgesetztes
Begehren bedingt. Der ursprüngliche Zweck der Handlung ist
im emphatischen Sinne zufällig. Im moralischen Konfliktfall
bringen wir dagegen auch den ursprünglichen Zweck der
Handlung noch selbst hervor. Deshalb ist das Bewußtsein der
Freiheit im absoluten Sinne der moralischen Verpflichtung
vorbehalten.
§ 7. Grundgesetz
Der reinen praktischen Vernunft
„Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer
allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“.
Der § 7 ist in vier Teile gegliedert: Kant beginnt mit der
Formulierung des Grundgesetzes der reinen praktischen
Vernunft. Darauf folgt eine Anmerkung die sich im
wesentlichen mit dem Unterschied zwischen praktischer
108
Erkenntnis im allgemeinen und moralisch-praktischer
Erkenntnis im besonderen auseinandersetzt. Es ist fällt auf,
daß, obgleich der § 7 aus mehr als einer Anmerkung besteht,
Kant im Unterschied zu den vorhergehenden Paragraphen davon
abgesehen hat die beiden Anmerkungen zu nummerieren. Es wird
sich zeigen, daß weder Kant noch den unzuverlässigen Setzern
eine Unachtsamkeit unterlaufen ist, vielmehr müssen wir die
zweite Anmerkung nicht primär als eine Anmerkung zum
Grundgesetz, sondern zum dritten Teil des § 7, der
„Folgerung“, lesen.
Aus der Grundlegung sind uns unterschiedliche Formulierungen
des kategorischen Imperatives bekannt. Kant hat jedoch
behauptet, daß diese Formulierungen Ausdruck eines
kategorischen Imperatives sind (GMS, IV 438). In § 1 wurde
zudem zwischen den besonderen Pflichten als kategorischen
Imperativen im Plural und dem ihr zugrundeliegenden Prinzip
im Singluar unterschieden. Das hier in § 7 zum ersten Mal
auftretende Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft ist
das zugrundeliegende Prinzip im Singular und Ursprung aller
besonderer Pflichten und Formeln des kategorischen
Imperatives. Damit erteilt nicht nur der Text der
Grundlegung, sondern auch die zweite Kritik allen
Interpretationen eine Absage, die die Bedeutung der
allgemeinen Formel (AF)17 abschwächen und der Zweck-an-sich-
Formel (ZF) den systematischen Vorrang geben möchten (z. B.
Heidegger, Wood 1999).18
17 In der Kant-Literatur wird diese Formel auch (etwas ungenau) Universalisierungs-Formel (UF) genannt. Kant selbst spricht von „allgemeine Formel“ (GMS, IV 436).18 In der Grundlegung unterscheidet Kant explizit „drei Arten, das Prinzip derSittlichkeit vorzustellen“: (i) Naturgesetzformel (NF), (ii) Zweck-an-sich-Formel(ZF) und (iii) Reich-der-Zwecke-Formel (RF). An anderer Stelle ersetzt er RF durch
109
Was eigentlich berechtigt Kant dazu hier an dieser Stelle
der zweiten Kritik das Grundgesetz der reinen praktischen
Vernunft aufzustellen? In der Anmerkung wird Kant dieses
Grundgesetz ein „Faktum der Vernunft“ nennen, das man „nicht
aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein
der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben),
herausvernünfteln kann“. Deshalb liegt die Annahme nahe,
Kant habe das Grundgesetz nicht aus den vorhergehenden
Lehrsätzen, Aufgaben und der Erklärung hergeleitet, sondern
als ein gegebenes Faktum angesetzt. Man fragt sich dann,
warum er das „Erste Hauptstück“ der zweiten Kritik nicht mit
diesem Faktum beginnen läßt. Tatsächlich spricht Kant später
von der „Exposition“ des Sittengesetzes, die an die Stelle
einer Deduktion trete (KpV???). In der Jäsche-Logik lesen
wir, daß das „Exponiren eines Begriffs […] in der an
einander hängenden (successiven) Vorstellung seiner Merkmale
[besteht], so weit dieselben durch Analyse gefunden sind“
(Logik § 105). Der Argumentationsgang bis zum § 7 läßt sich
als diese sukzessive Vorstellung der Merkmale des
Sittengesetzes verstehen: Aus § 1 wissen wir, daß ein
praktisches Gesetz von bloßen Maximen oder Vorschriften
unterschieden ist, weil es kein Begehren als gegeben
voraussetzt und also unbedingt, kategorisch gebietet. § 2
beweist, daß alle materiale Prinzipien ein bestimmtes
Begeghren voraussetzen, sie sich sogar, wie in § 3 gezeigt
wird, auf das, dem der Moral entgegengesetzten, Prinzip der
die Autonomie-Formel (AF) (GMS, IV 432). Über das genaue Verhältnis dieser Formelnherrscht Unklarheit. Klar ist, daß Kant die besonderen Formeln aus der UF gemäß derKategorie der Quantiät ableitet und von den besonderen Formulierungen nur dieFunktion zuteilt, „dem sittlichen Gesetze […] Eingang [zu] verschaffen“. Verweis aufSteve’s Buch???
110
Selbstliebe reduzieren lassen. Der § 4 beweist dann positiv,
daß das moralische Gesetz ein formales Gesetz sein muß und
die Lösung der Aufgaben in den §§ 5 und 6 ergibt, daß ein
durch ein formales Gesetz bestimmter Wille ein freier Wille
sein muß bzw. ein formales Gesetz der einzige notwendige
Bestimmungsgrund eines freien Willens ist.
Ohne die „Exposition“ der Merkmale des moralischen Gesetzes
in den §§ 1-6 bliebe die Formulierung des „Grundgesetz[es]
der reinen praktischen Vernunft“ in § 7 unverständlich.
Weder wüste man wie das Verhältnis von Maxime und
allgemeiner Gesetzgebung zu bestimmen ist noch was überhaupt
als eine allgemeine Gesetzgebung infrage kommt. Nur auf der
Grundlage der Ergebnisse aus den §§ 1-6 ist eine Explikation
des Grundgesetze möglich: Das Grundgesetz kommt als
Imperativ daher. Es gebietet uns nicht etwa nur zu handeln,
sondern auf eine bestimmte Art zu handeln. Kant nennt die
„Handlungsart“ auch die Maxime (KpV, V 60). Aus dem § 1
wissen wir, daß die Maxime der subjektive Handlungsgrundsatz
ist. Dieser soll nun, so gebietet es das Grundgesetz, als
„Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten können“.
Prinzipien sind Grundsätze, die als Obersätze in Syllogismen
fungieren (s. oben???). Die Maxime wird hier als der
Grundsatz gedacht, aus dem besondere praktische Gesetze
entspringen können. In der Grundlegung formuliert Kant den
kategorischen Imperativ auch so, daß „ich […] niemals anders
verfahren [solle] als so, daß ich auch wollen könne, meine
Maxime solle ein allgmeines Gesetz werden“ (Hervorhebung
geändert J. B.). Während die Maxime in der Formulierung der
111
zweiten Kritik ein Prinzip der Gesetzgebung ist und aus ihr
besondere praktische Gesetze entspringen, ist es in der
Grundlegung die Maxime selbst, die sich zum Gesetz
qualifizieren muß. Beide Formulierungen sind aber nicht
inkompatibel: Nur wenn die Maxime selbst als ein allgemeines
Gesetz gilt, können aus ihr auch besondere praktische
Gesetze entspringen. Als Prinzip einer gültigen Gesetzgebung
ist sie selbst ein Gesetz, sie erläßt aber auch besondere
praktische Gesetze.
In der Formulierung des Grundgesetzes heißt es auch, daß die
Maxime „zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung
gelten könne“. Hätte Kant nicht auch genauso gut schreiben
können, daß die Maxime „als Prinzip einer allgemeinen
Gesetzgebung gelten könne“? Ist das „zugleich“ also an
dieser Stelle überflüssig? Mit dem „zugleich“ wird zum
Ausdruck gebracht, daß die Maxime, wenn sie sich zum Prinzip
einer allgemeinen Gesetzgebung qualifiziert, nicht den
Status eines subjektiven Handlungsgrundsatzes verliert. Sie
ist subjektiv und zugleich objektiv. Subjektiv, weil sie ein
Handlungsgrundsatz der ersten Person Singular ist, objektiv,
weil dieser Handlungsgrundsatz als ein allgemeines
praktisches Gesetz gelten kann. Die Norm, die sich der
Handelnde selbst auferlegt, gilt nicht nur für ihn, sondern
zugleich für alle Vernunftsubjekte.
Wie eine Maxime beschaffen sein muß, damit sie sich zur
allgemeinen Gesetzgebung qualifiziert, sagt der Grundsatz
nicht. Wir wissen aber aus dem § 4, daß eine Maxime nur dann
als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung infrage kommt,
112
wenn sie „nicht der Materie, sondern bloß der From nach, den
Bestimmunggrund des Willens [enthält]“. Das bedeutet nicht,
daß eine gesetzesförmige Maxime ein rein formales Prinzip
ohne Inhalt ist. Maximen sind Wollenssätze, die auf die
Verwirklichung gegebener Begehrungen gerichtet sind. Doch
entweder kann das Begehren die Bedingung für die
Verwirklichung der Handlung sein (materiale
Willensbestimmung) oder die Verwirklichung des Begehrens
wird selbst unter die Bedingung gestellt, daß die Form der
Maxime gesetzmäßig ist (formale Willensbestimmung). Damit
ist die Frage, wie eine Maxime, die sich zur allgemeinen
Gesetzgebung qualifiziert, beschaffen sein muß aber nur zum
Teil beantwortet. Wir wissen, daß die Form und nicht die
Materie der Bestimmungsgrund der Maxime sein soll. Wir
wissen aber (noch) nicht, wie die Form einer gesetzmäßigen
Maxime beschaffen ist. In der Grundlegung hatte Kant anhand
von vier Beispielen einen „Kanon der moralischen
Beurteilung“ der Maximen eingeführt: Dabei ist das ‘wollen
können’ das engere und das ‘denken können’ das weitere
Kriterium der Gesetzmäßigkeit einer Maxime. Zudem hatte Kant
seine sogenannte Korrespondenzthese aufgestellt, die besagt,
daß ein Übereinstimmungsverhältnis zwischen dem engeren
Kriterium und den vollkommenen Pflichten auf der einen Seite
und dem weiteren Kriterium und den unvollkommenen Pflichten
auf der anderen Seite besteht (GMS, IV 424). Aus der zweiten
Kritik ist uns bisher nur das weitere Kriterium das ‘denken
können’ bekannt. Im Rahmen des Depositum-Beispiels hatte
Kant zu zeigen versucht, daß die Regel: „Jedermann [darf]
113
ein Depositum ableugnen […], dessen Niederlegung ihm niemand
beweisen kann“, sich nicht zum allgemeinen Gesetz
qualifiziert, weil sie „sich selbst vernichtet“ (s.
oben???). Aber im Unterschied zur Grundlegung macht Kant in
der zweiten Kritik weder den „Kanon der moralischen
Beurteilung“ als solchen noch die Korrespondenzthese
explizit. Das Depositum-Beispiel gibt jedoch Grund zu der
Annahme, daß zumindest der „Kanon der moralischen
Beurteilung“ nach wie vor Gültigkeit hat.
Damit ist es freilich auch legitim, dieselben Einwände, die
sich gegen die AF in der Grundlegung richten, auch auf die
zweite Kritik zu übertragen. Allen Wood hat die Kritik, die
seit jeher an Kants Verallgemeinerungsverfahren erhoben
worden ist, geprüft und auf drei Punkte verdichtet. Er
plädiert dafür, die Bedeutung von AF abzuschwächen und statt
dessen ZF ins Zentrum von Kants Ethik zu rücken. Seine
Strategie besteht darin, zunächst die Korrespondenzthese zu
widerlegen um damit die übergeordnete Bedeutung der AF in
Zweifel zu ziehen. Die Kriterien ‘nicht denken können’ und
‘nicht wollen können’ sind an die AF gebunden und damit auch
die Korrespondenzthese.
1. Die Korrespondenzthese ist falsch: Gegen die
Korrespondenzthese bringt er zwei Argumente vor: Erstens
ließen sich sehr leicht Maximen denken, aus denen eine
Verletzung beider Arten von Pflichten ableitbar ist. Zweitens
gebe es Pflichten, die prima facie vollkommene Pflichten seien,
sich aber sehr wohl ohne Widerspruch denken lassen. Sein
Gegenbeispiel: „Ich will andere Menschen töten, wenn es ein
114
sicherer und effektiver Weg ist, mein eigenes Interesse zu
befördern.“ Wenn man sich die Maxime als ein allgemeines
Gesetz denkt, tritt lediglich ein Widerspruch im Willen und
kein konzeptueller Widerspruch auf. Daraus folgt dann die
absurde Konsequenz, daß es lediglich eine unvollkommene
Pflicht ist, andere Menschen nicht zu töten. Deshalb könne
Kants Korrespondenzthese nicht überzeugen (Wood 1999, p. 97-
100).
2. AF disqualifiziert zu wenig: Wood’s zweiter Punkt richtet
sich gegen das Testverfahren von AF selbst. Demnach
disqualifiziere AF zu wenig und lasse Platz für unmoralische
Maximen. Woods Gegenbeispiel: „Ich will ein falsches
Versprechen abgeben am Dienstag den 21. August gegenüber
einer Person mit dem Namen Hildreth Milton Flitcraft“. Diese
Maxime würde, wenn sie zu einem allgemeinen Gesetz erhoben
würde, es nicht unmöglich machen Geld durch falsche
Versprechen zu erhalten. Wood folgert daraus, daß die AF
„unfähig ist, viele offensichtlich unmoralische Maximen zu
disqualifizieren“ (Wood 1999, 102-105).
3. AF disqualifiziert zu viel: Woods dritter Punkt setzt bei
intuitiv moralisch unschuldigen Maximen an. Sein Beispiel:
Ich will clockwork trains??? kaufen aber niemals verkaufen.
Wenn man diese Maxime sich als allgemeines Gesetz denkt,
ergibt sich, daß jeder clockwork trains kauft, aber niemand
jemals welche verkauft. Die Maxime als allgmeines Gesetz
gedacht ist also widersprüchlich und – so die absurde
Konsequenz – unmoralisch (Wood 1999, 105-107). Kant hat das
Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft nachweislich als
115
ein Moralgesetz gedacht und nicht etwa als ein Gesetz der
praktischen Vernunft im allgemeinen. Das bestätigt sich
auch, wenn er in der „Folgerung“ in § 8 auf eben dieses
Grundgesetz als das „Sittengesetz“ referriert. Der Text erlaubt
es also nicht einmal, den Phyrrosssieg??? einzufahren und
die Rationalitätsstandards des Grundgesetzes auf
moralneutrale Fälle zu übertragen (so etwa bei O’Neill???).
Eine Antwort auf den dritten Punkt ist vermutlich nur
möglich, wenn man durch die Angabe eines zusätzlichen
Kriteriums moralische von moralneutralen Fällen zu
unterscheiden weiß. Es ist deshalb auch verständlich, warum
immer wieder versucht worden ist, Kants materiale
Werttheorie aus dem „Zweiten Abschnitt“ der Grundlegung
stark zu machen. Man will damit Kants Ethik vor den absurden
Konsequenzen, die sich aus der AF ergeben, bewahren. Die KpV
liefert uns bis jetzt (später???) keine Argumente, die eine
schlagkräftige Antwort auf Woods dritten Punkt möglich
machen. Dasselbe gilt auch für das Fehlschlagen der
Korrespondenzthese. An der Trifftigkeit von Woods zweitem
Punkt, lassen sich indes berechtigte Zweifel anmelden.
Bei dem von Wood als „Maxime“ ausgegeben Satz handelt es
sich nicht eigentlich um eine allgemeine Maxime, sondern nur
um eine spezielle praktische Regel, die aus einer Maxime,
die angibt, wie es der Akteur mit gegebenen Versprechen im
allgemeinen bewenden läßt, abgeleitet wird. Man kann von dieser
speziellen praktischen Regel durchaus auf die allgemeine
Maxime zurückschließen und weiß, daß sie nicht ohne
Widerspruch gedacht werden kann. Der Grund, warum aus einer
116
undenkbaren Maxime dennoch eine spezielle praktische Regel
entspringen kann, die widerspruchsfrei denkbar ist, ist auf
die Indexikalien zurückzuführen: „Dienstag den 21. August“
und „Hildreth Milton Flitcraft“. Damit wird aber die Regel
auf einen bestimmten Fall eingeschränkt und das der AF
gerade wesentliche Verallgemeinerungsverfahren wieder
zurückgenommen. Man kann also in Woods Fall nicht mehr von
einer Anwendung der AF sprechen.
(Hier Steve’s Interpretation einarbeiten???)
Anmerkung
1. Absatz, Satz 1-5: „Die reine Geometrie […] aller Maximen angesehen“.
Mit dieser Anmerkung will Kant das Spezifische der
moralisch-praktischen Erkenntnis und damit den Ursprung der
Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes erläutern. Er
beginnt mit einem Kontrastfall der technisch-praktischen
Erkenntis: der reinen Geometrie. Die reine Geometrie ist
insofern ein adäquaterer Vergleichspunkt als technisch-
praktische Erkenntnis, die auf dem Wissen empirischer
Kausalbeziehungen beruht, weil wir in der reinen Geometrie
ebenso wie in der von Kant entwickelten Moraltheorie mit
unmittelbar gewissen Sätzen beginnen (Unterschied zwischen Axiomen
und Postulaten klären). Die reine Geometrie verfügt über
Postulate, die eine Voraussetzung enthalten, nämlich daß man
etwas tun könne, wenn man dazu aufgefordert wird, man soll
es tun. Ein Postulat der Euklidischen Geometrie, die Kant
vor Augen hat, ist etwa: „dass man von jedem Punkt nach
jedem Punkt die Strecke ziehen kann“ (Euklid???). Diese
117
Postulate betreffen das „Dasein“, weil sie die
Hervorbringungsbedingung formulieren. In diesem Fall ist es
die Verbindung der Punkte und damit die Strecke, die
hervorgebracht wird. Doch diese praktischen Regeln stehen
unter einer „problematischen Bedingung des Willens“. Man
kann von einem Punkt p1 zu einem Punkt p2 eine Strecke
ziehen, wenn man dazu aufgefordert wird. Doch es ist jedem
selbst überlassen, ob er diese Strecke ziehen will oder
nicht. Das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft
dagegen gebietet unbedingt, setzt also, das hat Kant seinem
Leser seit dem § 1 immer wieder eingeschärft, keine
„problematische Bedingung des Willens“ voraus und ist
deshalb „objektiv“ gültig. Es wird nicht empirisch, durch
das Gefühl der Lust und Unlust und das Wissen um
Kausalverhältnisse, sondern „a priori“, durch reine
Vernunft, erkannt. Die praktische Vernunft ist also hier
nicht vermittelt durch das Gefühl der Lust und Unlust,
sondern „unmittelbar gesetzgebend“. Wenn die
Willensbestimmung nicht durch das Begehren eines bestimmten
Gegenstandes bedingt ist, ist, wie Kant im § 4 argumentiert
hatte, die „bloße Form des Gesetzes“ die einzige Alternative.
Satz 7-9 „Die Sache ist befremdlich genug […] wenigstens zu denken, nicht
unmöglich.“
Bis hierher ist uns die Analyse kategorischer
Verbindlichkeit aus den vorhergehenden Paragraphen bekannt.
Kant kommt nun aber zusätzlich auch noch auf den den Grund
118
kateogrischer Verbindlichkeit zu sprechen und steuert damit
direkt auf seine Theorie vom Vernunftfaktum zu:„Der Gedanke a priori von einer möglichen allgemeinen Gesetzgebung, der
also bloß problematisch ist, wird, ohne von der Erfahrung oder einem
äußeren Willen etwas zu entlehnen, als Gesetz unbedingt geboten.“
Kant nennt diesen Sachverhalt „befremdlich“ und in der
praktischen Erkenntnis einzigartig. Ein nur problematischer
Gedanke ist ein widerspruchsfreier Gedanke, dessen Gehalt
kein Gegenstand in der Erfahrung korrespondiert oder der
selbst nicht Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung ist.
Ein nur problematischer Satz kann also gedacht aber nicht
erkannt werden. Die drei paradigmatischen Fälle bloß
problematischer Sätze bei Kant lauten: ‘Die Seele ist
Unsterblich’, ‘Der Wille ist frei’ und ‘Gott existiert’.
Kant hatte in der ersten Kritik zu beweisen versucht, daß
ihnen weder in einer uns möglichen Erfahrung noch als
Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung objektive Realität
zukommt, sie aber dennoch widerspruchsfrei gedacht werden
können (KrV, B xxvi). Was genau denken wir, wenn wir den
Gedanken einer „möglichen allgemeinen Gesetzgebung“ haben?
Aus der zweiten Kritik wissen wir, daß ein praktisches
Gesetz voraussetzungslos, d. h. kategorisch gültig sein muß.
Wir haben auch keine Gründe anzunehmen, daß der „Kanon der
moralischen Beurteilung“ aus der Grundlegung ungültig
geworden ist. Das ‘denken können’ ist also notwendige, das
‘wollen können’ hinreichende Bedingung einer allgemeinen
Gesetzgebung (vgl. GMS, IV 424). Der Gedanke einer
allgemeinen Gesetzgebung wird „a priori“ erkannt, weil durch
ihn nur die Form der Gesetzmäßigkeit gedacht wird und das
119
Gesetz nicht etwa durch das Gefühl der Lust und Unlust und
dem Wissen um empirische Kausalbeziehungen material bestimmt
wird. Der Begriff des Gesetzes selbst kann nicht empirisch
sein, denn, so würde Kant argumentieren, er ist die
Voraussetzung dafür, daß wir überhaupt empirische Erkenntnis
im Vollsinn des Wortes machen können. Dieser
widerspruchsfreie Gedanke einer allgemeinen Gesetzgebung
soll dem Willen, genauer, „der Form seiner Maximen“, als
Richtschnur dienen. Darin liegt auch der wesentliche
Unterschied zur theoretischen Erkenntnis. Während dort durch
einen bloß problematischen Gedanken nichts bestimmt werden
kann, ist hier der problematische Gedanke einer allgemeinen
Gesetzgebung Grund der Willensbestimmung und damit Grund der
Wirklichkeit eines Objektes: der Handlung. Dieser
Sachverhalt unterscheidet die moralisch-praktische
Erkenntnis aber nicht bloß von der theoretischen, sondern
auch von aller übrigen regelgeleiteten Praxis. Bei der
technisch-praktischen Willensbestimmung ist die Regel immer
durch ein vorausgesetzes Begehren bedingt. Im Fall der
moralisch-praktischen Erkenntnis dagegen ist der
Bestimmungsgrund der widerspruchsfreie Gedanke einer
allgemeinen Gesetzgebung.
Satz 10-11 „Man kann das Bewußtsein - ankündigt.“
Die beiden Schlußsätze der Anmerkung befassen sich mit zwei
Schlüsselthemen der Kantischen Moralphilosophie: der
Synthetizität des kategorischen Imperatives und seiner
Theorie vom Vernunftfaktum; sie sollen hier getrennt
120
voneinander in umgekehrter Reihenfolge behandelt werden.
Beide Theoreme erfordern es, eine komparative Perspektive
auf die Grundlegung einzunehmen, um sie im ersten Fall durch
komplementäre Erläuterungen im zweiten Fall durch den
Kontrast besser verständlich zu machen.
(A) Faktum der Vernunft
Auf die Frage nach dem Ursprung der Erkenntnis des
Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft, lautet Kants
berühmte Antwort: Es ist ein „Faktum der Vernunft“. Das
Bewußtsein des Moralgesetzes lasse sich „nicht aus
vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein der
Freiheit […] herausvernünfteln“. In der Grundlegung noch
hatte Kant diesen Weg eingeschlagen und den drohenden
Zirkel, von Moralgesetz und Freiheit dadurch aufgelöst, daß
er eine „Deduktion des Begriffs der Freiheit“ angestrengt
hatte (GMS, IV 447). Man muß sich zunächst den
Argumentationsverlauf aus der Grundlegung klar machen, um
erklären zu können, was genau das Novum der Theorie vom
Vernunftfaktum ist:
Der Zirkel besteht darin, daß wir auf der einen Seite die
Freiheit des Willens voraussetzen, „um uns […] unter
sittlichen Gesetzen zu denken“ und uns auf der anderen Seite
„nachher“ als diesen Gesetzen unterworfen denken, weil wir
die Freiheit des Willens vorausgesetzt haben (GMS, IV 450,
Hervorhebung J. B. vgl. Schönecker 1999, S. 333). Die
Gefahr, vor der Kant mit diesem Zirkel warnen will, ist die,
daß wir die Freiheit des Willens bloß voraussetzen, ohne ein
121
Argument für ihre Annahme zu liefern. „Gutgesinnte Seelen“
werden diese Voraussetzung zwar „gerne einräumen“, nicht
aber der Moralskeptiker, der als Prädeterminist diese
Voraussetzung bestreitet. Kant will die Gültigkeit des
Moralgesetzes nun gerade nicht voraussetzen, sondern
beweisen. Für diesen Beweis muß er mit Recht behaupten
können, daß der Mensch sich die Idee der Freiheit zusprechen
kann. Solange aber diese Voraussetzung nur von „gutgesinnten
Seelen“ umwillen des Moralgesetzes zugestanden wird, handelt
es sich bloß um die „Erbittung eines Prinzips“, eine petitio
principii, und nicht um eine Begründung (GMS, IV 453,
Hervorhebung J. B.). Die Gültigkeit des Moralgesetzes als
dasjenige, was es zu begründen gilt, hinge von einer
Voraussetzung ab, die selbst unbegründet ist.
Um die Gefahr des Zirkels abzuwenden, will Kant nachweisen,
daß wir „jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat,
notwendig auch die Idee der Freiheit leihen müssen“ (GMS, IV
448). Dabei greift Kant zunächst auf seine
erkenntniskritische Differenz von Ding an sich und
Erscheinung zurück. Er hat damit einen Bereich angezeigt,
der sich prinzipiell unserer Erkenntnis als endlicher
Vernunftwesen entzieht, aber denkmöglich ist, und damit
Platz für die Anwendung regulativer Vernunftideen
geschaffen. Im zweiten Schritt wendet Kant diese
Unterscheidung auf das Subjekt an und argumentiert, daß es
als Vernunftwesen einen Grund dazu bietet, „zwei
Standpunkte“ einzunehmen: Es kann sich sowohl als sinnliches
Wesen, das unter „Naturgesetzen (Heteronomie)“ als auch als
122
intellegibles Wesen „unter Gesetzen, die, von der Natur
unabhängig, nicht empirisch, sondern bloß in der Vernunft
gegründet sind“, betrachten. In seinem dritten und letzten
Argumentationsschritt greift Kant auf seine Begriffsanalyse
aus dem zweiten Unterabschnitt des „Dritten Abschnitts“ der
Grundlegung zurück. Einem verbreiteten Mißverständnis
zufolge habe Kant dabei fälschlich von der Freiheit der
theoretischen Vernunft („Freiheit zu denken“) auf die
Freiheit der praktischen Vernunft („Freiheit zu handeln“)
geschlossen und auf diese Weise die Freiheit des Willens
beweisen wollen (Henrich 1975, S. 72; ders. 1973, S. 245
ff., im Anschluß daran Schönecker 1999, S. 209 f., 299 f.
Für eine ausführlichere Analyse dieses Arguments s.
Bojanowski 2006). Doch Kant argumentiert hier lediglich
begriffsanalytisch; er will aufklären, was wir im Begriff
eines Vernunftwesens mit einem Willen implizit vorausgesetzt
haben. Dabei analysiert er zunächst den Begriff der
„Vernunft“ in der Weise, daß es unmöglich sei, „eine
Vernunft zu denken, die mit ihrem eigenen Bewußtsein in
Ansehung ihrer Urteile anderwärtsher eine Lenkung empfinge“.
Es liegt in dem Begriff ‘Vernunft’, daß sie ursprünglich,
produktiv und nicht etwa rezeptiv ist. Bei einem
vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, „denken wir uns eine
Vernunft, die praktisch ist“ (Hervorhebung J. B). Kant
analysiert hier nicht etwa erst den Begriff der ‘theoretischen
Vernunft’, um dann im nächsten Schritt auf die Freiheit der
praktischen Vernunft zu schließen. Den Begriff, den Kant
vielmehr analysiert – und das ist entscheidend – ist der
123
Begriff einer ‘Vernunft überhaupt’. ‘Vernunft überhaupt’ wird
in diesem Zusammenhang als ein Vermögen gedacht,
ursprünglich Vorstellungen hervorzubringen; sie hat nicht
etwa immer ausschließlich theoretische Vorstellungen,
vielmehr lassen sich diese Vorstellungen in zwei Arten
unterteilen: theoretische und praktische.
Um es kurz zu machen: Kants Argument kann den Zirkel
letztlich nicht auflösen. Praktische Vernunftvorstellungen
sind bei einem sinnlich-vernünftigen Wesen Vorstellungen von
dem, was der Fall sein soll. Es sind also letztlich die
Imperative, die uns einen Grund geben, uns die regulative
Idee der Freiheit zusprechen (vgl. auch KrV, B 575). Doch es
ist nicht jede Art von Imperativ, sondern nur der
kategorische, der uns berechtigt, dem Menschen die Idee der
transzendentalen (absoluten) Freiheit zuzusprechen. Denn nur
ein Handeln nach kategorischen Imperativen setzt voraus, daß
Vernunft allein aus sich heraus handlungswirksam wird. Damit
ist man jedoch bei der Antwort auf die Frage, warum wir
berechtigt sind, uns die Idee der transzendentalen Freiheit
des Willens zuschreiben, wieder am Ausgangspunkt angelangt:
Wir dürfen uns die Idee der transzendentalen Freiheit des
Willens zuschreiben, weil wir uns als moralisch verpflichtet
denken.
Wenn man diesen Argumentationsverlauf mit Kants Theorie vom
Vernunftfaktum aus der zweiten Kritik vergleicht, ergibt
sich folgendes Bild: Während er in der Grundlegung die
drohende Zirkelgefahr durch eine Deduktion der Freiheit
abzuwenden versuchte, um von dort auf die Verbindlichkeit
124
des Moralgesetzes zu schließen, setzt er in der zweiten
Kritik mit dem unmittelbaren Bewußtsein moralischer
Verpflichtung an und deduziert, wie sich unten noch zeigen
wird (S.???) und wie es sich im Rahmen des moralischen
Dilemmas in § 6 bereits ankündigte, aus dem Moralgesetz die
Freiheit. Gleich die erste Anmerkung der zweiten Kritik
befaßt sich erneut mit der Zirkelgefahr. Nun wird diese
Gefahr abgewendet, indem das wechselseitige Verhältnis von
Freiheit und Moralgesetz als das Verhältnis von ratio essendi
und ratio cognoscendi bestimmt wird. Damit ist Kant auch von der
Deduktion des Moralgesetzes über die Deduktion seines
Seinsgrundes abgerückt.
In der Grundlegung hatte er tatsächlich noch mit seinem
Zwei-Standpunkte-Argument und der begriffsanalytischen
Deduktion versucht, das Moralgesetz „aus vorhergehnden Datis
der Vernunft […] heraus[zu]vernünfteln“. In der zweiten
Kritik ist das Bewußtsein der Freiheit nicht, so muß man
„Datis“ wörtlich übersetzen, das primär durch die Vernunft
gegebene, ist kein ‘Datum der Vernunft’. Vielmehr ist uns das
Bewußtsein des Moralgesetzes selbst, wie Kant im letzten
Satz dieser Anmerkung erklärt, durch den Gebrauch der
Vernunft „gegeben“. Aus diesem Grund ist es auch eine
Verkürzung, wenn man einseitig nur den aktivischen Sinn des
facere hervorhebt und das Vernunftfaktum ausschließlich als
eine Vernunfttat, eine Handlung der Vernunft verstehen will.
Auch wenn das Faktum „kein empirisches, sondern das einzige
Faktum der reinen Vernunft“ ist, teilt es doch mit dem
empirischen Faktum die Eigenschaft, ein dem Bewußtsein
125
gegebener und unhintergehbarer Ausgangspunkt zu sein. Logisch
ist dieses Bewußtsein freilich hintergehbar, weil nicht nur
in der Grundlegung, sondern auch in der zweiten Kritik gilt,
daß die Freiheit die ratio essendi des Moralgesetzes ist. Im
Unterschied zur Grundlegung ist das Bewußtsein der
moralischen Verbindlichkeit nicht vermittelt durch ein
Bewußtsein der Freiheit. Vielmehr behauptet Kant, daß das
Moralgesetz „sich für sich selbst – sich aus sich selbst
heraus – uns aufdringt“.
(B) Synthetizität des Moralgesetzes
Wenn Kant die Gegebenheitsweise des Moralgesetzes näher
bestimmt, spezifiziert er dabei auch nebenbei noch dessen
logische Form. Wir wissen bereits, daß das Moralgesetz ein
kategorischer Satz ist. Zudem behauptet Kant nun, daß es
sich „uns aufdringt als [ein] synthetischer Satz a priori“,
der als Faktum der Vernunft „weder [auf der] reinen noch
empirischen Anschauung gegründet ist“. In der theoretischen
Philosophie ist ein synthetischer Satz ein Satz, in dem dem
Subjektbegriff ein Prädikat zugesprochen wird, das nicht im
Subjektbegriff bereits enthalten ist. Im Unterschied zu
analytischen Sätzen, die lediglich den Subjektbegriff
erläutern, sind synthetische Sätze erkenntniserweiternde
Sätze. Die Frage, von der Kant die Möglichkeit der
Philosophie als Wissenschaft abhängig gemacht hat, ist
bekanntlich, wie und ob es möglich ist, Subjekt und Prädikat
nicht vermittels sinnlicher Anschauung, nicht a posteriori,
126
sondern a priori, vor aller wirklichen Erfahrung, zu
verknüpfen (KrV, B 10 f.).
Kant erklärt die Begriffe ‘synthetisch’ und ‘analytisch’ in
der zweiten Kritik nicht. Wenn er also sagt, daß das
Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft ein
„synthetischer Satz a priori“ ist, ist es naheliegend, sich
das Grundgesetz selbst vorzulegen und dort nach dem Prädikat
zu suchen, das im Subjektbegriff nicht bereits enthalten
ist. Demnach wäre dann in dem Subjekt, an das der Imperativ
adressiert ist („Handle“), nicht analytisch bereits die
Gesetzmäßigkeit der Maximen enthalten. Genauer muß man
sagen, daß die Gesetzmäßigkeit der Maximen nicht analytisch
im Wollen des Subjekts enthalten ist. Das kann man einer
Passage aus der Grundlegung entnehmen, in der Kant
ausführlicher mit der logischen Form des kategorischen
Imperativs befaßt hat:„Ich verknüpfe mit dem Willen ohne vorausgesetzte Bedingung aus irgend
einer Neigung die Tat a priori, mithin [objektiv] notwendig […]. Dieses
ist also ein praktischer Satz, der das Wollen einer Handlung nicht aus
einem anderen, schon vorausgesetzten analytisch ableitet (denn wir haben
keinen so vollkommenen Willen), sondern mit dem Begriffe des Willens
eines vernünftigen Wesens unmittelbar als etwas, das in ihm nicht
enthalten ist, verknüpft“ (GMS, IV 420)
Der kategorische Imperativ ist ein Satz a priori, weil er
nicht empirisch, sondern durch reine Vernunft erkannt wird;
er ist synthetisch, weil er den Willen des Menschen, der als
sinnliches Wesen nicht immer schon ausschließlich die
Gesetzmäßigkeit seiner Maximen will, mit einem Willen
verknüpft, der ausschließlich das Gute will. Daß das
Moralgesetz für uns verbindlich und diese Verknüpfung
127
gerechtfertigt ist, kann also nicht analytisch aus dem
menschlichen Willen abgeleitet werden.
Nun könnte man meinen, daß Synthetizität nicht nur für die
kategorischen, sondern für jede Art von Imperativ
charakteristisch ist. ‘Sollen’ bringt ein Gebot zum
Ausdruck, das nur dann sinnvoll ist, wenn der Wille nicht
von sich aus bereits das will, was geboten ist. Jede Art von
Imperativ scheint den Willen mit etwas zu verknüpfen, was
nicht bereits in ihm enthalten ist. So ist es beispielweise
möglich, daß jemand gesunde Zähne haben will, aber nicht
weiß, daß die Vermeidung von raffiniertem Zucker ein
notwendiges Mittel für die Verwirklichung seines Willens
ist. Aus dem Wollen, gesunde Zähne zu haben, läßt sich also
nicht analytisch auch bereits das Wollen der Vermeidung von
raffiniertem Zucker ableiten.
Gleichwohl hat Kant behauptet, daß hypothetische Imperative
„was das Wollen betrifft […] analytisch [sind]“. Denn, so
lautet sein Argument, „in dem Wollen eines Objekts als
meiner Wirkung wird schon meine Kausalität als handelnde
Ursache, d. i. der Gebrauch der Mittel gedacht, und der
Imperativ zieht den Begriff notwendiger Handlungen zu diesem
Zwecke schon aus dem Begriff eines Wollens dieses Zwecks
heraus“ (GMS, IV 417). Es sind also nicht die konkreten
Mittel, die sich analytisch aus dem Wollen ableiten lassen,
dazu ist synthetische Erkenntnis erforderlich. Vielmehr
bedeutet ‘etwas zu wollen’ und nicht nur zu wünschen, auch die
Mittel zur Verwirklichung des Gewollten zu wollen. Der Wille
ist ein vernunftfähiges Kausalvermögen. Um die begehrte
128
Wirkung hervorzubringen müssen wir auch die Ursache, die die
Wirkung wirklich macht, wollen. Dementsprechend formuliert
Kant das analytische Prinzip des hypothetischen Imperatives
auch so: „Wer den Zweck will, will […] auch das dazu
unentbehrlich notwendige Mittel, das in seiner Gewalt ist“
(ebd.). Er hat allerdings dieses analytische Prinzip unter
eine einschränkende Bedingung gestellt: „sofern die Vernunft
auf seine Handlungen entscheidenden Einfluß hat“. Der Wille
ist zwar ein vernunftfähiges Begehrungsvermögen, es ist aber
gleichwohl möglich, daß die Vernunft nicht den
„entscheidenden Einfluß“ auf den Willen hat. In diesem Fall
handelt es sich dann lediglich um eine defiziente Form des
Wollens.
Es ist also sehr wohl möglich, daß wir etwas wollen und
nicht zugleich auch die Mittel zur Verwirklichung wollen.
Wir verstoßen damit allerdings gegen die Standards praktischer
Rationalität. Gerade weil es möglich ist, daß wir gegen
diese Standards verstoßen können, kommen die praktischen
Regeln als Imperative daher. Deshalb befaßt sich Kant auch
mit der Frage nach der Synthetiziät und Analytizität der
Imperative; er will erklären, „wie alle diese Imperative
möglich [sind]“ (ebd.). Er will, um es anders auszudrücken,
erklären, warum diese Imperative für uns verbindlich sind,
d. h. ihre Befolgung uns nicht freigestellt ist. Kant
behauptet nun, daß, wenn ein Imperativ analytisch ist, die
Frage nach der Verbindlichkeit „keiner besonderen Erörterung
[bedarf]“ (ebd.). Warum nicht? Weil wir, indem wir das
gewollte Objekt verwirklichen wollen uns auch bereits zu
129
seinen Verwirklichungsbedingungen (den Mitteln) verpflichtet
haben. Wir können freilich die Verpflichtung aufheben, indem
wir von der Verwirklichung Abstand nehmen. Doch wir können
nur auf Kosten eines Selbstwiderspruchs etwas wollen und
zugleich nicht die Mittel zur Verwirklichung des gewollten
Gegenstandes wollen; wir verstoßen damit gegen eine Norm
praktischer Rationalität. Wir mögen eine falsche Meinung
über die Kausalbeziehungen haben und deshalb möglicherweise
Mittel ergreifen, mit denen das gewollte Objekt nicht
verwirklicht werden kann; dies ist aber nur ein
theoretischer nicht praktischer Regelverstoß; ein
(technisch-)praktischer Regelverstoß läge erst dann vor,
wenn wir nicht die Mittel ergreifen, von denen wir glauben,
daß sie zur Verwirklichung des gewollten Gegenstandes
führen.
Im Unterschied zum hypothetischen ist der kategorische
Imperativ, was das wollen anbetrifft, synthetisch. Und genau
wie in der theoretischen Philosophie ist auch in der
praktischen Philosophie die Frage nach der Möglichkeit der
synthetischen Sätze a priori „die einzige der Auflösung
bedürftige Frage“ (GMS, IV 419). Denn bei synthtisch-
praktischen Sätzen, kann die Verbindlichkeit nicht aus einem
vorausgesetzen Wollen abgeleitet werden, mit dem wir uns
bereits auf die Verwirklichung eines Objekts festgelegt
haben und damit auch den Verwirklichungsbedingungen
verpflichtet sind. Den Grund der Verbindlichkeit, den
Verbindlichkeitsstifter, ausfindig zu machen, ist deshalb im
130
Fall des kategorischen Imperativs eine sehr viel
schwierigere Aufgabe als bei den hypothetischen Imperativen.
In der zweiten Kritik erläutert Kant seine Rede vom
„synthetischen Satz a priori“ nicht. Er erklärt aber, an
welche Bedingung die Synthetiziät dieses Satzes geknüpft
ist. Demnach würde das Moralgesetz „analytisch sein […],
wenn man die Freiheit des Willens voraussetzte“. Diese These
ist in der Kant-Literatur als Kants Analytizitätsthese
bekannt (vgl. GMS, ???; KpV???; Allison 1990). Seit Carl
Leonard Reinhold ist ein großer Teil der Kant-Forschung der
Meinung, diese These führe die Kantische Moraltheorie ad
absurdum.19 Kant impliziere damit, daß ein böser Wille unfrei
sei. Sein fundamentaler Irrtum bestehe darin, daß er
behaupte, der Wille sei dann und nur dann frei, wenn sein
Wirken durch einen reinen Vernunftzweck bestimmt ist. Die
Identität von einem moralisch guten Willen und einem freien
Willen führe dazu, daß nur noch im Falle von guten
Handlungen auch mit Recht davon gesprochen werden könne, daß
der Wille frei sei. Obgleich Kant die Wirklichkeit moralisch
böser Handlungen faktisch in seinen Texten nicht anzweifle,
könne seine Theorie nicht erklären, wie wir mit Recht auch
noch von bösen Handlungen sprechen dürfen. Was also liegt
näher als mit Reinhold und seinen Nachfolgern den Versuch zu
unternehmen, den kantischen Geist gegen Kants Buchstaben zu
19 Gerold Prauss hat in seiner wirkungsmächtigen Studie im Anschluß an Reinhold diesesArgument gegen Kants Theorie gewendet, um im Gegenzug dazu „mit“ Kant seineeigentliche Theorie zu entwickeln. Für einen Versuch in dieser Sache am KantischenBuchstaben festzuhalten s. Bojanowski 2007 (vgl. Fußnote 2???)
131
verteidigen, die Identitätsthese zu korrigieren und damit
seine Freiheitstheorie vor Inkonsistenz zu bewahren?20
Ob eine solche Korrektur tatsächlich erforderlich ist, hängt
davon ab, wie man die Analytiziätsthese versteht. Diese
These besagt, daß das Moralgesetz ein analytischer Satz sein
würde, „wenn man die Freiheit des Willens voraussetze“.
Wüßten wir also, daß der Wille (als Vermögen) frei ist,
könnten wir daraus auch die Verbindlichkeit des Moralgesetzes
ableiten. Kant behauptet nicht, daß wir aus dem Wissen, daß
der Wille (als Vermögen) frei ist, ableiten könnten, daß der
Wille notwendig auch dem Sittengesetz gemäß handeln würde.
Wie wir oben gesehen haben, folgt ja auch aus der
Analytizität des Prinzips der hypothetischen Imperative
gerade nicht, daß ein Regelverstoß und damit ein Fall von
praktischer Irrationalität unmöglich wäre. Analytizität
bedeutet dort lediglich, daß aus dem vorausgesetzen Willen
auch die Verbindlichkeit des Imperatives abgeleitet werden
kann und deshalb die Frage nach dem Grund der
Verbindlichkeit, „keiner besonderen Erörterung [bedarf]“,
denn mit dem Wollen des Zwecks haben wir uns auch bereits zu
den Verwirklichungsbedingungen verpflichtet. Aus dem
vorausgesetzen Wollen folgt also lediglich die Verbindlichkeit
des Imperativs nicht aber, daß wir auch den Imperativ
befolgen.
Analog könnten wir aus dem Wissen um die Freiheit des Willens
lediglich ableiten, daß dieser Wille ein Wille „unter
sittlichen Gesetzen“ ist (GMS, IV 447). Denn bei einem20 Selbst die Interpretationen von Hudson 1994; Willaschek 1992, S. 149-182 undAllison 1990, die an der Kantischen Theorie grundsätzlich festhalten wollen, kommennicht umhin, Kant an dieser Stelle zu korrigieren.
132
(absolut) freien Willen (als Vermögen) müssen wir uns, wie
Kant in den §§ 5 und 6 gezeigt hatte, die Handlungen nicht
durch ein vorausgesetzes Begehren bedingt denken, vielmehr
besitzt der freie Wille die Fähigkeit, die gesetzmäßige Form
der Maxime (das Moralgesetz) zum Bestimmungsgrund seines
Handelns zu machen. Ein freier Wille (als Vermögen) will
also, das läßt sich a priori erkennen, die Gesetzmäßigkeit
der Maxime. Das bedeutet aber gerade nicht, daß dieses
Vermögen in seiner eminenten Form auch immer aktualisiert
sein muß und die Maximen immer auch bereits moralisch gute
Maximen sind. Die Analytiziätsthese darf nicht so verstanden
werden, daß wir aus einem freien Willensakt analytisch die
Befolgung des Moralgesetzes ableiten können. Vielmehr gilt
auch für die moralische Willensbestimmung dieselbe
Einschränkungsbedingung: „[S]ofern die Vernunft aus seine
Handlungen entscheidenden Einfluß hat“, will der freie Wille
die Gesetzmäßigkeit seiner Maximen. Damit bleibt genau wie
in der technisch-praktischen Willensbestimmung eine
Pflichtverletzung und Übertretung des Imperativs auf Kosten
der Rationalitäsanforderungen immer möglich. Es handelt sich
dann allerdings um eine defiziente Form des Wollens, weil
der freie Wille sein Vermögen, aus reiner Vernunft zu
handeln, nicht aktualisiert.
Doch um zu der Voraussetzung der Freiheit berechtigt zu
sein, so Kants nächster Argumentationsschritt, müßten wir
erkennen können, daß der Wille frei ist, „wozu aber, als
positivem Begriffe, eine intellektuelle Anschauung erfordert
werden würde, die man hier gar nicht annehmen darf“. Wir
133
Menschen, so muß man sich das „hier“ zurechtlegen, können
die Gegenstände nur in unserer sinnlichen Anschauung durch
die Anschauungsformen Raum und Zeit erkennen. In der
„Dialektik“ der ersten Kritik hatte Kant gezeigt, daß uns
deshalb eine kausale Abschlußerkenntnis prinzipiell
unmöglich ist (Stelle???). Der positive Begriff der Freiheit
als Erstursächlichkeit würde indes gerade diese Art von
Erkenntnis erfordern. Deshalb sagt Kant, daß nur einer
intellektuellen Anschauug, einer Anschauung, die ihren
Erkenntnisgegenstand auch selbst hervorbringt, eine
theoretische Erkenntnis der Freiheit des Willens möglich
ist.
Doch im Unterschied zur Grundlegung will Kant in der zweiten
Kritik nun nicht einmal mehr für die problematische
Voraussetzung der Freiheit argumentieren, um von dort auf
die Verbindlichkeit des Moralgesetzes schließen zu können.
Vielmehr behauptet er, wie wir gesehen haben, daß uns die
Verbindlichkeit des Moralgesetzes im Vernunftgebrauch
unmittelbar bewußt wird und er wird von dort umgekehrt auf
die objektive Realität der Freiheit in praktischer Hinsicht
schließen können (s. dazu oben???). Die Vernunft erweist
sich dabei als „ursprünglich – und nicht etwa relativ in bezug
auf ein vorausgesetzes Begehren – gesetzgebend (sic volo,
sic iubeo)“. Kant zitiert hier frei nach Juvenal. Eigentlich
lautet der Satz: "Hoc volo, sic iubeo, stat pro rationae voluntas" (Das
will ich, so befehl ich es, als Grund genügt (mein) Wille,
Satiren VI, 223). Doch selbst aus der verkürzten Form läßt sich
entnehmen, daß der Verbindlichkeitsstifter des Moralgesetzes
134
das Wollen ist. Denn auch in der zweiten Kritik gilt, daß
das „moralische Sollen […] eigenes notwendiges Wollen [ist]
als Gliedes einer intelligiblen Welt“ (GMS, IV 455).
Folgerung
„Reine Vernunft - das Sittengesetz nennen.“
Diese „Folgerung“ ergibt sich nicht nur aus der Anmerkung
des § 7. Sie nimmt die Voraussetzung wieder auf, mit der
Kant die Anmerkung des § 1 eröffnet hatte:
„Wenn man annimmt, daß reine Vernunft einen praktisch, d. i. zur
Willensbestimmung hinreichenden Grund in sich enthalten könne, so gibt
es praktische Gesetze; wo aber nicht, so werden alle praktische
Grundsätze bloße Maximen sein.“
Das „wo aber nicht“ macht deutlich, daß die Praktizität der
reinen Vernunft als eine notwendige Bedingung für die Existenz
der praktischen Gesetze verstanden werden muß. Dieser
notwendige Zusammenhang ermöglicht auch einen Rückschluß von
der Existenz der praktischen Gesetze auf die Praktizität der
reinen Vernunft. Nun wissen wir, aus der Anmerkung zum
Grundgesetz in § 7, daß das praktische Gesetz ein „Faktum
der Vernunft“ ist. Deshalb ist Kant in der „Folgerung“
dieses Paragraphen zu dem Schluß berechtigt, daß „[r]eine
Vernunft […] für sich allein praktisch [ist]“.
„Praktizität“ und „Willensbestimmung“ sind zweideutig. Zum
einen kann damit der Akt der Gesetzgebung gemeint sein, zum
anderen aber auch der Akt der Ausführung. In der ersten
Bedeutung bestimmt die Vernunft das Begehrungsvermögen,
insofern sie ihm ein Gesetz vorschreibt. In der zweiten
135
Bedeutung bestimmt dagegen die Vernunft das
Begehrungsvermögen so, daß der Wille handlungswirksam wird.
Kant macht in dieser Folgerung nur den Gesetzgebungsaspekt
explizit: „Reine Vernunft […] gibt (dem Menschen) ein
allgemeines Gesetz“ (Hervorhebung J. B.). Das Grundgesetz
der reinen praktischen Vernunft gebietet uns jedoch in einer
bestimmten Form zu „handeln“ (Hervorhebung J. B.). Für die
moralisch gute Handlung ist es nicht hinreichend, daß wir
durch reine Vernunft wissen, was moralisch geboten ist, wir
müssen darüber hinaus auch noch umwillen der Gesetzlichkeit
handeln können. Das Prinzip der Gesetzgebung muß also auch
zugleich das Prinzip der Ausführung sein.
Anmerkung
Diese Anmerkung bezieht sich in erster Linie auf einen
Aspekt der „Folgerung“, von dem bisher noch nicht die Rede
gewesen ist: Dort hatte Kant behauptet, daß reine Vernunft
„dem Menschen“ das Sittengesetz gibt (Hervorhebung J. B.). Man
könnte meinen, er wolle damit die Gültigkeit des
Moralgesetzes auf den Menschen einschränken. In der
Anmerkung erklärt er nun, warum dieser Zusatz nicht als eine
Einschränkung der Gültigkeit des Grundgesetzes der reinen
praktischen Vernunft auf den Menschen verstanden werden
darf, es vielmehr für alle Vernunftwesen gilt. Allerdings ist
die Art der Geltung jeweils eine andere, und mit genau der
Explikation dieses Unterschiedes befaßt sich diese
Anmerkung.
136
Erster Absatz, Satz 1-2 „Das vorher genannte - als a priori praktisch
betrachtet.“
Bevor Kant sich mit dem Geltungsbereich des Moralgesetzes
befaßt, kommt er zunächst auf die Theorie vom Vernunftfaktum
zurück. Dabei bestätigt sich, daß es eine Verkürzung ist,
vom Vernunftfaktum nur als einer Tat der Vernunft zu
sprechen. Vielmehr muß Kants Rede vom „Faktum“ auch als ein
„der Fall sein“ verstanden werden. Eine Analyse des
moralischen Urteils der Menschen könne beweisen, daß der
kategorische Imperativ nicht das ideosynkratische Produkt
seiner Philosophie ist, sondern es „unleugbar“ dem
moralischen Urteil aller Menschen zugrunde liege (vgl. auch KrV,
B 835; GMS, IV 403 f.; KpV, V 36). Er will damit auch dafür
argumentieren, daß die moralische Praxis, von der er
spricht, unsere menschliche Praxis ist. Die Analyse des
moralischen Urteils wird indes von Kant an dieser Stelle nur
angedeutet: Im moralischen Urteilen halte der Mensch „die
Maxime des Willens bei einer Handlung jederzeit an den
reinen Willen“. Die Maxime an den reinen Willen zu halten,
bedeutet, sie ausschließlich nach Vernunftprinzipien
(Gesetzmäßigkeit) zu beurteilen und von allen „Neigungen“ zu
abstrahieren. Dabei implizieren wir, das hatte Kant bereits
in der „Folgerung“ aus der Theorie vom Vernunftfaktum
abgeleitet, daß unser Handeln nicht durch ein Begehren
bedingt ist, wir aus einem reinen Vernunftgrund heraus
handeln können und Vernunft also „sich als a priori
praktisch betrachtet“.
137
Satz 2-6 „Dieses Prinzip der Sittlichkeit - als moralischer Nötigung bedarf.“
Mit der Bestimmung des Geltungsbereichs des Moralgesetzes
wendet Kant sich nun dem Hauptpunkt dieser Anmerkung zu. Er
behauptet, daß dieses Gesetz nicht nur für den Menschen,
sondern für alle Vernunftwesen, genauer für alle
Vernunftwesen, die einen Willen haben, gültig ist. Mit
„Wille“ ist ein Vermögen gemeint, „[seine] Kausalität durch
die Vorstellungen von Regeln zu bestimmen“ (vgl. oben???).
Wir wissen, daß Kant mit Regeln nicht nur empirische Regeln,
sondern „Grundsätze“ meint. Grundsätze, bilden als Maximen
den Obersatz in einem praktischen Syllogismus. Sollen sie
gültige praktische Grundsätze sein, sind sie „Prinzipien a
priori“. Um rechtmäßiger Adressat des Moralgesetzes zu sein,
muß man also das Vermögen haben, nach Prinzipien a priori
handeln zu können.
Kant konzipiert die Gültigkeit des Moralgesetzes analog zur
Gültigkeit der reinen Verstandesbegriffe aus der ersten
Kritik. Dort hatte er behauptet, daß diese Begriffe sich
„auf Gegenstände der [sinnlichen] Anschauung überhaupt“
erstrecken und nicht nur in bezug auf unsere raumzeitliche
Anschauung gültig sind (KrV, B 148). Entsprechend gilt auch
das Moralgesetz nicht nur für „Menschen […], sondern geht
auf alle endlichen Wesen, die Vernunft und Willen haben“.
Welche Art sinnlicher Natur ein Vernunftwesen hat, ist für
die Verbindlichkeit des Moralgesetzes unerheblich. Damit
unterscheidet sich Kants Moralprinzip grundsätzlich von
denen empirischer Ethiken, die bekanntlich gerade bei der
besonderen menschlichen Natur ansetzen und die Gültigkeit
138
des Moralprinzips auf den Menschen einschränken (z. B. David
Hume, ECPM, Sec. I???). Folgt man diesem Ansatz, so würde
eine andere sinnliche Natur auch eine andere Ethik nach sich
ziehen.
Kant geht noch einen Schritt weiter und weitet die
Gültigkeit des Moralprinzips nicht nur auf alle „endlichen“,
sondern zusätzlich auch noch auf alle „unendlichen“
Vernunftwesen aus. Im Unterschied zu endlichen sind
unendliche Vernunftwesen keinen sinnlichen Begehrungen
ausgesetzt, so daß bei ihnen kein Konflikt zwischen Vernunft
und Neigung auftreten kann. Es ist in diesem Zusammenhang
nicht von Bedeutung, ob es diese unendlichen Vernunftwesen
tatsächlich gibt. Kant dient dieser Gedanke nur als
Kontrastfolie zu einem sinnlichen Vernunftwesen, um damit
den Grund der „Nötigung“ die Imperativität des
Moralgesetzes, zu erklären: Ein unendliches Vernunftwesen
tut immer schon das, was vernünftig ist und hat, wie Kant
sagt, einen „heiligen Willen“, einen Willen also, „der keiner
dem moralischen Gesetz widerstreitenden Maxime fähig wäre“.
Endliche Vernunftwesen haben dagegen Wünsche, die „dem
reinen objektiven Bestimmungsgrunde [des Moralgesetzes] oft
entgegen sein [können]“. Was objektiv, aus Vernunftgründen
notwendig ist, ist bei einem solchen Wesen also nicht a
priori auch subjektiv notwendig. Die Befolgung des
Moralgesetz kommt bei uns deshalb als „Pflicht“ daher.
Ebensowenig sind aber die der Moral entgegengesetzten
Wünsche subjektiv notwendig. Das menschliche
Begehrungsvermögen ist zwar „pathologisch affiziert[e]“ aber
139
dadurch „nicht bestimmt“, oder, wie Kant an anderer Stelle
sagt, nicht „necessitiert“ (KrV, B 562). Wir haben vielmehr
das Vermögen, unsere subjektiven Bestimmungsgründe mit dem
objektiven Gesetz zur Deckung zu bringen. Um also ein
rechtmäßiger Adressat von Imperativen zu sein, dürfen wir
weder vollständig durch die Vernunft noch vollständig durch
unsere Begehrungen prädeterminiert sein. In dem Spielraum
zwischen objektiver Gesetzgebung und subjektivem Begehren
liegt der Grund der „Nötigung […] durch bloße Vernunft“.
Diese objektive Nötigung ist nicht ein physischer, sondern
„intellektueller Zwang“, ein Zwang durch Vernunftgründe:
Jedes Vernunftwesen kann nicht anders als aus der
Vernunftperspektive so zu Urteilen, daß es seine bloß
subjektiven Interessen dem Moralgesetz unterordnen soll.
Satz 7- „In der allergenugsamsten - sehr gefährlich ist.“
Nachdem Kant den Ursprung praktischer Nötigung erklärt hat,
will er die Heiligkeit als eine „praktische Idee“
etablieren. Es hat sich gezeigt, daß Kant einen Willen genau
dann „heilig“ nennt, wenn er zu „keiner Maxime fähig [ist],
die nicht zugleich objektiv Gesetz sein k[ö]nnte“. Das
„Heile“ also liegt in der notwendigen Übereinstimmung
zwischen dem objektiven und subjektiven Prinzip. Besteht
dagegen zwischen den subjektiven und objektiven Prinzipien
eine mögliche Diskrepanz, liegt eine wurzelhafte Störung
oder, wie Kant sagt, „Corruption“ oder „Verderbtheit“ vor
(Rel, VI 43 f.), die unmoralisches Handeln ermöglicht. Doch
140
obgleich der Mensch prinzipiell „verderbt“ ist (ebd.), soll
ihm die Heiligkeit „notwendig zum Urbilde dienen“.
Das Urbild wird von Kant auch „Ideal“ oder „Prototypon“
genannt (KrV, B 597, B 599, B 606) und ist ebenso wie die
Idee ein Vernunftbegriff. Im Unterschied zur Idee gibt das
Urbild aber nicht eine allgemeine Regel an, vielmehr stellt
das Ideal als Urbild eine Idee „in indiviuo, d. i. als ein
einzelnes, durch die Idee allein bestimmbares, oder gar
bestimmtes Ding“ vor. Das Nachbild (auch „Kopien“ oder
„ectypa“, KrV, B 606) ist der menschliche Wille, der dem
Urbild des heiligen Willen entsprechend nachgebildet werden
soll. Dabei ist es uns freilich nicht möglich, unsere
sinnliche Natur gleichsam abzulegen und uns in heilige Wesen
zu verwandeln, die Heiligkeit ist vielmehr nur ein „Urbild
[…] welchem sich ins Unendliche zu nähern das einzige ist,
was allen endlichen vernünftigen Wesen zusteht“.
Doch auch wenn wir einen heiligen Willen nicht verwirklichen
können, darf dieses Ideal gleichwohl nicht als
„Hirngespinst“ (nihil negativum, KrV, B 348) verworfen werden.
Vielmehr dient es als ein „unentbehrliches Richtmaß der
Vernunft […], die des Begriffs von dem, was in seiner Art
ganz vollständig ist, bedarf, um darnach den Grad und die
Mängel des Unvollständigen zu schätzen und abzumessen“ (KrV, B
598 f.). Das bestmögliche Produkt, das uns zu realisieren
möglich ist, ist „Tugend“, die Fähigkeit im Konfliktfall
zwischen Vernunft und Neigung, die Stärke zu haben, den
Neigungen zu widerstehen und die Pflicht zu befolgen (vgl.
MS/TL, VI 394, 477). Auch in bezug auf tugendhaftes
141
Verhalten bleibt das Ideal der Heiligkeit, ausschließlich
das zu tun, was vernünftig ist, leitend. Ob wir aber in
allen Fällen vollkommen tugendhaft handeln, können wir nicht
mit „apodiktische[r] Gewißheit“ sagen, weil Tugend nicht ein
ursprünglich, sondern „natürlich erworbenes Vermögen“ ist
(Hervorhebung J. B.).
§ 8. Lehrsatz IV
Der Lehrsatz IV bildet den systematischen Höhepunkt der
Kantischen Ethik. Er etabliert die Autonmoie als das
Grundprinzip seiner Moraltheorie und reduziert alle anderen
Moraltheorien auf das Prinzip der Heteronomie.
1. Absatz, Satz 1- „Die Autonomie - des Willens entgegen“
In den vorangehenden Lehrsätzen und Aufgaben hatte Kant
jeweils das Ergebnis, den Lehrsatz oder die Lösung, in einem
ersten Absatz dem Beweis oder dem Lösungsweg vorangestellt.
Auch wenn Kant im „Lehrsatz IV“ den Lehrsatz samt Beweis in
einem einzigen Absatz präsentiert, ändert sich nichts an
dieser Struktur. Kant nimmt auch hier im ersten Satz das
Ergebnis des Beweises vorweg und eröffnet die Argumentation
mit der Formulierung des eigentlichen Lehrsatzes:
„Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen
Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten; alle Heteronomie der Willkür
gründet dagegen nicht allein gar keine Verbindlichkeit, sondern ist
vielmehr dem Prinzip derselben und der Sittlichkeit des Willens
entgegen.“
Der Lehrsatz besteht aus einem positiven und einen negativen
Teil: Der positive Teil bestimmt mit der Autonomie das
142
Prinzip auf das Moralgesetze gegeründet sind. Der negative
Teil erklärt die Heteronomie als Gegenprinzip aus dem sich
ein praktisches Gesetz nicht begründen läßt (Heteronomie).
Kant geht sogar noch weiter, indem er sagt, daß das Prinzip
der Heteronomie „der Sittlichkeit des Willens entgegen“ ist.
Heteronomie verhält sich also der praktischen Gesetzgebung
gegenüber nicht neutral, so als könnten aus ihr
instrumentelle aber keine moralischen Regeln abgeleitet
werden, vielmehr behauptet Kant, daß, wenn ein
Begehrungsvermögen heteronom bestimmt ist, es notwendig
unmoralisch ist. Aus den §§ 1-6 wissen wir bereits, daß eine
Maxime, damit sie sich zur praktischen Gesetzgebung
qualifizieren kann, nicht durch einen materialen, sondern
nur durch einen formalen Bestimmungsgrund bedingt sein darf.
Im Beweis des Lehrsatzes wird Kant den Zusammenhang zwischen
Autonomie und formaler Gesetzgebung auf der einen Seite und
Heteronomie und materialer Gesetzgebung auf der anderen
Seite explizieren.
Satz 2-5: „In der Unabhängigkeit - zusammenstimmen können“
Der Beweis des Lehrsatzes folgt der Struktur des Lehrsatzes
und zerfällt in einen positiven (Satz 2-5) und einen
negativen (Satz 6) Teil. Die erste Prämisse wiederholt noch
einmal die beiden notwendigen und zusammen hinreichenden
Bedingungen eines Moralgesetzes:
(i) „Das Prinzip der Sittlichkeit [besteht] in der
Unabhängigkeit […] von aller Materie des Gesetzes […]
und zugliech doch Bestimmung der Willkür durch die
143
bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren eine
Maxime fähig sein muß.“ (P)
An dieses Ergebnis erinnert Kant zunächst und greift dann
auf seine Definitionen der Freiheit aus den §§ 5 und 6
zurück, um mit ihnen für die Autonomie als
Fundamentalprinzip zu argumentieren:
(ii) Die Unabhängigkeit des Willens von der Materie
(begehrtes Objekt) ist negative Freiheit. (P)
(iii) Die gesetzgebende Form einer Maxime wird a priori
durch reinen praktische Vernunft erkannt. (P)
(iv) Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft ist
positive Freiheit (Autonomie). (P)
(v) „Also drückt das moralische Gesetz nichts anderes
aus, als die Autonomie […], d. i. die Freiheit.“ (i,
ii, iii, iv)
Man kann sich fragen, ob Kant die zweite Prämisse überhaupt
braucht. Schließlich will er lediglich für die Autonomie als
positive Freiheit argumentieren. Müßte es deshalb in der
Konklusion nicht genauer heißen ‘d. i. die positive Freiheit’?
Bei einem heiligen Wesen könnte die zweite Prämisse
wegfallen, weil eine Bestimmung durch Neigungen unmöglich
ist. Doch bei uns Menschen muß Kant zunächst für die
negative Freiheit argumentieren, weil negative Freiheit eine
notwendige Bedingung ihrer Autonomie ist. Nur weil wir
unabhängig von Naturursachen wirken können, können wir
überhaupt auch nach selbstgegebenen Gesetzen handeln.
Deshalb darf Kant in der Konklusion dann auch ohne weiteres
von der positiven auch auf die negative Freiheit übergehen.
144
Kant geht aber noch einen Schritt weiter und behauptet, daß
die Freiheit „selbst die formale Bedingung aller Maximen
[ist], unter der sie allein mit dem obersten praktischen
Gesetze zusammenstimmen können“. Hier wird das Verhältnis
der besonderen Grundsätze des Handelnden zum „obersten
praktischen Gesetze“, dem Moralgesetz im Singular
angesprochen. Nur wenn die Maximen durch Autonomie bestimmt
sind, können sie mit dem Moralgesetz übereinstimmen, denn,
so lautet das bereits bekannte Argument, nur dann sind sie
durch die gesetzmäßige Form bestimmt. Damit wird das Prinzip
der Freiheit als Autonomie zum Moralitätsstifter der
Maximen, und Kant könnte von hier aus ohne weiteres jene
Formel des kategorischen Imperatives ableiten, die uns aus
der Grundlegung als Autonomieformel bekannt ist (GMS, IV
432; zum Verhältnis der Formeln s. oben???).
Satz 6 „Wenn daher die Materie - gesetzmäßig sein sollte“
Auf den Beweis des positiven Teils folgt der Beweis des
negativen Teils des Lehrsatzes. Kant setzt mit einer
kontrafaktischen Voraussetzung an:
(i) Die Materie des Wollens („Objekt einer Begierde“)
kommt „in das praktische Gesetz als Bedingung der
Möglichkeit desselben hinzu. (P)
Man muß sich klarmachen, daß die praktische Regel unter
dieser Voraussetzung ihren Gesetzesstatus verliert. Ein
bedingtes praktisches Gesetz ist für Kant eine contradictio in
adjecto. Von dieser Prämisse schließt Kant unmittelbar auf
eine heteronome Willensbestimmung. Diesem Schluß liegen zwei
145
Voraussetzungen zugrunde: erstens die implizite und in den §§
2 und 5 bewiesene Voraussetzung, daß ein durch die Materie
bedingtes Wollen durchs Naturgesetz bedingt ist, weil es auf
dem Gefühl der Lust und Unlust beruht und zweitens die
Definition der Heteronomie.
(ii) Durch die Materie bedingtes Wollen ist durchs
Naturgesetz bedingt. (P)
(iii) Heteronomie ist die „Abhängigkeit vom
Naturgesetze, irgend einem Antriebe oder Neigung zu
folgen, und der Wille gibt sich nicht selbst das
Gesetz, sondern nur die Vorschrift zur vernünftigen
Befolgung pathologischer Gesetze“. (P)
(iv) Wenn also die Materie des Wollens („Objekt einer
Begierde“) „in das praktische Gesetz als Bedingung der
Möglichkeit desselben hinzukommt, so wird daraus
Heteronomie der Willkür. (i, ii, iii)
Im positiven Teil des Beweises hatte Kant die Autonomie als
das Prinzip des Moralgesetzes und damit der reinen
praktischen Vernunft etabliert. Deshalb ist er nun auch zu
dem Schluß berechtigt, daß die heteronome Maxime nicht nur
„keine Verbindlichkeit […] stiftet“ und es uns also nicht
nur freigestellt ist, ob wir der praktischen Regel folgen
wollen, sondern sie „dem Prinzip einer reinen praktischen
Vernunft entgegen [ist]“.
Gleichwohl ist es möglich, daß die „Handlung“, die aus der
heteronomen Maxime folgt, dennoch „gesetzmäßig“ ist
(Hervorhebung J. B.). Damit spricht Kant den Unterschied
zwischen „Moralität“ und „Legalität“ an: Auch wenn die
146
Maxime nicht universalisierbar ist, können aus ihr dennoch
einzelne Handlungen entspringen, die mit dem Gebot des
Moralgesetzes koinzidieren. Man kann dabei etwa an den
„Krämer“ aus der Grundlegung denken, der seine Produkte aus
Klugheit nicht zu einem überhöhten Preis verkauft. Denn, „wo
viel Verkehr ist“, da würde es sich leicht herumsprechen –
so kann man das Argument fortsetzen –, daß dieser Kaufmann
ein Betrüger ist und er hätte Grund, zu befürchten, daß die
Kunden ausbleiben (GMS, 397, Passage in KpV???). Hinter dem
Verhalten dieses Kaufmannes steckt also das Profitstreben,
das sich unter anderen Umständen, nämlich dort, wo kaum
Verkehr ist, so auswirken kann, daß er tatsächlich seine
Kunden nicht ehrlich bedient. Wenn Kant in diesem
Zusammenhang von „Handlung“ spricht, muß er bei der
Handlungsbeschreibung von der Maxime absehen, weil sie in
diesem Fall gerade nicht gesetzmäßig ist. Dieselbe Maxime
führt je nach Situation zu verschiedenen
Handlungsresultaten, und man kann es den moralisch legalen
Handlungen nicht ansehen, ob sie auch aus einer moralisch
guten Gesinnung entspringen (zur Unterscheidung zwischen
Moralität und Legalität s. oben???).
Anmerkung I
Im Beweis hatte Kant behauptet, daß Autonomie die
Unabhängigkeit von der Materie und Willensbestimmung durch
die Form der Gesetzmäßigkeit ist. In der ersten Anmerkung
will Kant erklären, wie es möglich sein kann, daß alles
Wollen eine Materie hat, diese aber gleichwohl nicht der
147
„Bestimmungsgrund und Bedingung der Maxime“ sein muß. Dazu
rekapituliert er zunächst noch einmal drei zentrale
Ergebnisse der §§ 1-4, erklärt dann negativ am Beispiel
„fremder Wesen Glückseligkeit“, welche Rolle der Materie in
der moralisch guten Willensbestimmung nicht zukommen darf,
um dann schließlich positiv an demselben Beispiel zu
demonstrieren, wie die Materie in der moralisch guten
Willensbestimmung nicht eliminiert, sondern lediglich
limitiert wird.
Satz 1-4 „Zum praktischen Gesetze - abgeben kann.“
In § 1 hatte Kant erklärt, daß ein praktisches Gesetz
kategorisch d. h. unbedingte Gültigkeit impliziert. Er hatte
dann in § 2 bewiesen, daß ein praktisches Gesetz nicht
durch eine „materiale (empirische) Bedingung“ bedingt sein
kann, weil die Materie „immer auf subjektiven Bedingungen
[beruht], die ihr keine Allgemeinheit […] verschaffen“. In §
3 wurden dann alle materialen Prinzipien auf das „Prinzip der
eigenen Glückseligkeit“ zurückgeführt und anschließend in der
Anmerkung II zwischen der „Naturnotwendigkeit“ auf der einen
Seite und der praktischen Notwendigkeit des Moralgesetzes
auf der anderen unterschieden. Nach dieser kurzen
Rekapitulation kommt Kant auf den eigentlichen Hauptpunkt
dieser Anmerkung zu sprechen: Auch wenn die Materie nicht
der Bestimmungsgrund einer gesetzesartigen Maxime sein darf,
sei es dennoch „unleugbar“, daß alles Wollen „einen
Gegenstand, mithin eine Materie haben müsse“. Es ist
„unleugbar“, weil „Wollen“ die Lust an der „Erwartung der
148
Existenz [eines] Gegenstandes“ impliziert. Wir erwarten uns
von dem verwirklichten Gegenstand, daß er uns so affiziert,
daß wir ein Gefühl der Lust empfinden. Wie also muß man sich
die moralische Willensbestimmung denken? Wollen ist
notwendig das Begehren eines Gegenstandes, aber der begehrte
Gegenstand darf „nicht […] der Bestimmungsgrund und
Bedingung der Maxime [sein]“.
Satz 5-9 „So wird fremder Wesen Glückseligkeit – aber sie nicht
vorauszusetzen.“
Kant erläutert nun zunächst negativ an einem Beispiel,
welche Rolle der Materie bei der moralisch guten
Willensbestimmung nicht zukommen kann. Das Beispiel ist so
gewählt, daß das Objekt der Begierde, „fremder Wesen
Glückseligkeit“, prima facie zur Bildung einer moralisch guten
Maxime zu führen scheint. Kant will zeigen, warum diese
Materie sehr wohl das „Objekt“ nicht aber auch der
„Bestimmungsgrund“ einer moralisch guten Maxime sein darf.
Sein Argument lautet: Wir können „nicht bei jedem
vernünftigen Wesen (bei Gott gar nicht) voraussetzen […],
daß wir in dem Wohlsein anderer […] ein Bedürfnis finden“.
Eine Maxime läßt sich aber nur dann verallgemeinern, wenn
sie nicht auf einer nur subjektiven Voraussetzung beruht.
Gott als übersinnliches Wesen hat keine Bedürfnisse. Deshalb
kann man bei ihm das Begehren der Glückseligkeit fremder Wesen
nicht voraussetzen. Als Vernunftwesen steht er dennoch nicht
jenseits der Moral. Kant hatte darüber hinaus in der
Anmerkung II von § 4 gezeigt, daß selbt wenn alle
149
vernünftige Wesen hinsichtlich ihrer Lust und
Unlustempfindungen übereinstimmen würden, sich auf dieser
Übereinstimmung dennoch keine praktische Notwendigkeit
begründen ließe (s. unten???). Von diesem Argument muß er
hier keinen Gebrauch machen, weil das Bedürfnis der
Glückseligkeit fremder Wesen noch nicht einmal die
notwendige Bedingung der intersubjektiven Übereinstimmung
erfüllt. Auch ohne dieses Argument ist Kant bereits zu der
Folgerung berechtigt, daß, die Glückseligkeit fremder Wesen
als Materie und Bestimmungsgrund der Maxime „nicht zum
Gesetze taugen [kann]“. Vielmehr soll nun andersherum „die
bloße Form eines Gesetzes“ uns einen Grund geben, die
„Materie zum Willen hinzuzufügen, aber sie nicht
vorauszusetzen“.
Satz 10-12 „Die Materie sei z. B. - allein entspringen könnte.“
Auch den positiven Fall, welche Rolle der Materie bei der
moralisch guten Willensbestimmung zukommen darf, erläutert
Kant am Beispiel der Glückseligkeit anderer. Er zeigt, wie
uns die Form des Gesetzes einen Grund geben kann, die
„Materie zum Willen hinzuzufügen“ und so der Ursprung
praktischer „Verbindlichkeit“ ist. Dabei setzt er nun allerdings
ein Begehren voraus, das tatsächlich der Gegenstand jedes
endlichen Wesens ist: die „eigene Glückseligkeit“. Diese
darf auch der Gegenstand und Materie unseres Willens sein,
jedoch nur unter einer Einschränkungsbedingung: Sie muß auch
„anderer ihre [Glückseligkeit] in dieselbe mit
einschließe[n]“. Denn, nur eine Maxime, die nicht bloß
150
subjektiv bedingt ist, kann ein „objektives praktisches Gesetz
werden“. Die Glückseligkeit anderer zu befördern entspringt
also nicht, so darf Kant schlußfolgern, aus „der
Voraussetzung, daß dieses ein Objekt für jedes seine Willkür
sei, sondern bloß daraus, daß die Form der Allgemeinheit […]
der Bestimmungsgrund des Willens wird. Nur auf diese Weise
kann eine „Maxime der Selbstliebe“ (eigene Glückseligkeit)
auch die „objektive Gültigkeit eines Gesetzes“ erhalten.
Damit hat Kant an einem Beispiel gezeigt, wie die Materie
des Willens nicht auch zugleich der Bestimmungsgrund, der
Grund für die Ausführung der Handlung, sein muß. Auch wenn
der Wille nicht durch die Materie bestimmt ist, bedeutet das
also nicht auch noch, daß ein durch die Form bestimmter
Wille keine Materie hat.21 Zur Erkenntnis, daß wir das
Begehren nach eigener Glückseligkeit nicht absolut setzen
dürfen, gelangen wir nicht durch den „Zusatz einer äußeren
Triebfeder“, in diesem Fall dem Begehren, die Glückseligkeit
anderer zu befördern, vielmehr wird uns durch bloß formale
Erwägungen bewußt, daß die Maxime nur dann ein allgemeines
Gesetz werden kann, wenn sie die Glückseligkeit anderer
einschließt. Deshalb sagt Kant, daß es „die bloße
gesetzliche Form […] allein [war], dadurch ich meine auf
Neigung gegründete Maxime einschränkte, um ihr die
Allgemeinheit eines Gesetzes zu verschaffen“. Damit hat er
auch gezeigt, wieso nicht ein vorausgesetztes Begehren (die
Glückseligkeit anderer), sondern ein reines Vernunftprinzip
der Ursprung der „Verbindlichkeit“ ist.
21 Gegen Sala???
151
Anmerkung II
Eine Einleitung schreiben, die die gesamte Anmerkung II umfaßt (Kants Argument
gegen die moralphilosophische Tradition. Seine Theorie als die erste wirklich
rationalistische...) In der Anmerkung II erläutert Kant, warum
Glückseligkeit bzw. Selbstliebe nicht als Moralprinzip
tauglich sind und er argumentiert dafür, daß sie als
Bestimmungsgrund des Willens dem Prinzip der Sittlichkeit
sogar widersprechen.
1. Absatz „Das gerade Widerspiel - aufrecht zu erhalten.“
Im Beweis des § 8 hatte Kant behauptet, daß die heteronom
bestimmte Maxime „dem Prinzip einer reinen praktischen
Vernunft […] entgegen ist“. Eine heteronom bestimmte Maxime
ist durch die Materie, den begehrten Gegenstand, bestimmt.
Nun hatte Kant im § 3 bewiesen, daß alle materialen
praktischen Prinzipien sich auf das Prinzip der eigenen
Glückseligkeit reduzieren lassen. Deshalb darf er zum
Auftakt dieser Anmerkung II auch behaupten, daß das Prinzip
der „eigenen Glückseligkeit […] das gerade Widerspiel des
Prinzips der Sittlichkeit ist“. Damit geht Kant noch nicht
über die vorherigen §§ hinaus. Er will nun aber zusätzlich
anhand zweier Szenarien, die Art des „Widerspiels“ erläutern
und mit ihnen auch zugleich Irrtumsimmunität der
„himmlische[n] Stimme“ der Vernunft demonstrieren. „[S]elbst
das gemeinste Auge“ könne den kategorialen Unterschied
zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit erkennen. Mit
seiner Moraltheorie glaubt Kant also den sensus communis auf
152
seiner Seite zu haben und schreibt dagegen das Glücksprinzip
den „kopfverwirrenden Spekulationen der Schulen“ zu.
Das „Widerspiel“ oder, wie Kant auch sagt, der „Widerstreit“
zwischen dem Prinzip der Sittlichkeit und dem der
Glückseligkeit sei „nicht bloß logisch […], sondern
praktisch“. Kant erläutert den Begriff des Widerstreits im
allgemeinen an dieser Stelle nicht. In der ersten Kritik
hatte er zwischen ‘Widerspruch’ und ‘Widerstreit’
unterschieden:„Wenn zwei einander entgegengesetzte Urteile eine unstatthafte Bedingung
voraussetzen, so fallen sie, unerachtet ihres Widerstreits (der
gleichwohl kein eigentlicher Widerspruch ist), alle beide weg, weil die
Bedingung wegfällt unter der allein jeder dieser Sätze gelten sollte (KrV,
B 531).
Kant erläutert dies an einem Beispiel: Wenn jemand über
einen Körper sagt, daß er „entweder gut oder er nicht gut
[riecht]“, sind damit die Möglichkeiten noch nicht
erschöpft, es kann nämlich noch „ein Drittes statt[finden],
nämlich, daß er gar nicht rieche (ausdufte), und so können
beide widerstreitende Sätze falsch sein“ (KrV, B 531). Die
„unstatthafte Bedingung“ war in diesem Fall, daß dem Körper
so etwas wie „Geruch“ zukommt. Trifft diese Bedingung nicht
zu, dann ist die Alternative „riecht gut oder riecht nicht
gut“ nicht erschöpfend. Bei einem geruchlosen Körper läuft
sowohl das Prädikat des „Gutriechens“ als auch des „nicht
Gutriechens“ leer. Es liegt hier also „kein eigentlicher
Widerspruch“ vor, weil die beiden Sätze nicht
kontradiktorisch, sondern nur konträr entgegengesetzt sind
und deshalb beide falsch sein können. Kant reserviert
153
‘Widerspruch’ hier also explizit für die kontradiktorische
Opposition, bei der bekanntlich nur einer der beiden falsch
sein kann und wir von der Falschheit des einen auf die
Wahrheit des anderen schließen können.
Der zweiten Kritik kann man entnehmen, daß Kant den Begriff
des Widerstreits weiter faßt, so daß er auch den
kontradiktorischen Gegensatz einschließt. Dies läßt sich an
seinem Beispiel für den logischen „Widerstreit“ ablesen:
„[E]mpirisch-bedingte Regeln [sind] notwendige[n]
Erkenntnisprinzipien“. Nun wissen wir aber, daß Erfahrung
nach Kant „uns zwar [lehrt], daß etwas so oder so beschaffen
sei, aber nicht, daß es nicht anders sein könne“ (KrV, B 3).
Also ist das kontradiktorische Gegenteil jenes Urteils
analytisch wahr: „Empirisch-bedingte Regeln sind nicht
notwendige Erkenntnisprinzipien“. Der von Kant als logischer
Widerstreit ausgegebene Satz ist also, wie er es in der ersten
Kritik genannt hat, ein „eigentlicher Widerspruch“. Die
Frage ist, ob das auch für den praktischen Widerstreit gilt, um
den es Kant hier eigentlich zu tun ist.
2. Absatz, Satz 1: „Wenn ein dir sonst beliebter - nicht das mindeste
einzuwenden hättest“
Für den Begriff des praktischen Widerstreits liefert Kant
uns ebenfalls keine allgemeine Definition. Statt dessen
präsentiert er uns zwei Beispiele moralischer Evaluation,
anhand derer er einen praktischen Widerstreit demonstrieren
will. Wir müssen also die Bedeutung aus diesen Beispielen
ableiten. Einem chemischen Versuchsverfahren gleich soll die
154
Reaktionen der gemeinen Menschenvernunft an diesen
Beispielen getestet werden. Beide sind analog aufgebaut: Es
sind (lange) hypothetische Sätze bei denen Voraussetzung und
Folge durch einen Doppelpunkt abgetrennt sind. In der
Voraussetzung wird unmoralisches Handeln auf der Grundlage
des Prinzips der Selbstliebe gerechtertigt oder empfohlen.
In der Folge werden dann vom Standpunkt der „gemeinen
Menschenvernunft“ diese Versuche als absurd zurückgewiesen
werden.
Der erste Fall befaßt sich mit der Bewertung eines
paradigmatischen Falls unmoralischen Handelns, der Lüge, die
Kant in der Voraussetzung moralneutral als „falsch
abgelegte[s] Zeugniss“ bezeichnet. Der Handelnde versucht
seine Falschaussage zu rechtfertigen, indem er „zuerst“ (i)
seine „heilige Pflicht“ die „eigene Glückseligkeit“ geltend
macht, (ii) die „Vorteile“ aufzählt, die ihm durch die Lüge
zuteil werden und (iii) auf die „Klugheit“ hinweist, mit der
er bei seiner Falschaussage vorgegangen sei. Um nun den
„praktischen Widerstreit“ ausfindig zu machen, muß man die
Konstruktion „zuerst - dann aber“ beachten. Nachdem der
Handelnde nämlich „zuerst“ jene drei Gründe angeführt hat,
macht er „dann aber“ auch noch „im ganzen Ernst“ geltend,
daß er damit eine „wahre Menschenpflicht“ ausgeübt habe. Es
ist die Spannung zwischen dem „zuerst“ und dem „dann aber“,
die die gemeine Menschenvernunft auf den
Rechtfertigungsversuch mit Gelächter reagieren oder mit
„Abscheu davon zurückgeben“ läßt. Mit der ersten Reaktion
wird der Anspruch der Vernünftigkeit in Zweifel gezogen. Die
155
zweite Reaktion nimmt dagegen den Rechtfertigungsversuch
ernst und will dem Handelnden auf der Grundlage seines
eigenen Prinzips der Glückseligkeit „Maßregeln“ und nicht
etwa Strafen verhängen. Damit soll dem Handelnden deutlich
gemacht werden, daß auch er selbst das Prinzip seines
Handelns nicht wollen kann. Beide Reaktionsweisen offenbaren
die Absurdität oder den „Widerstreit“ des
Rechtfertigungsversuches.
Damit ist aber noch nicht geklärt, welcher Art der
Widerstreit ist. Kant hat in den §§ 2 und 3 gezeigt, daß das
Prinzip der Selbstliebe (Glückseligkeit) und mit ihm bloße
Klugheitserwägungen vom Moralprinzip kategorial verschieden
sind. Wer nach dem Prinzip der Selbstliebe handelt, macht
sich die „Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein
ganzes Leben begleitet“ zum Prinzip (§ 3). Nun ist es
freilich möglich, wenn wir beispielsweise einem Freund in
Not helfen, daß das Angenehme und das moralisch Gebotene
koinzidieren. Wir haben dann zu dem, was moralisch geboten
ist, auch eine Neigung. Wer aber nach dem Prinzip der
Selbstliebe handelt, ist nur dann bereit, das moralisch
Gebotene zu tun, wenn eine Koinzidenz nicht aber ein
Konflikt zwischen Pflicht und Neigung vorliegt. Das
Moralgesetz gebietet voraussetzungslos und seine
Verbindlichkeit ist damit von dem Vorliegen einer Neigung
unabhängig. Das Prinzip der Moral und das Prinzip der
Selbstliebe schließen sich also gegenseitig aus. Demnach ist
es sehr wohl möglich, gleichzeitig etwas Angenehmes??? und
moralisch Gutes??? zu tun, aber unmöglich aus dem Prinzip der
156
Selbstliebe und aus dem Prinzip der Moral zu handeln.
Vielmehr soll das Moralprinzip das Prinzip der Selbstliebe
einschränken. Also sind sowohl der subkonträre Gegensatz,
der es erlaubt, daß man zugleich nach dem Prinzip der
Selbstliebe und dem Prinzip der Moral handelt als auch der
konräre Gegensatz, bei dem man weder nach dem Prinzip der
Selbstliebe noch nach dem Moralprinzip handelt, unmöglich.
Es muß sich also nicht nur beim logischen, sondern auch beim
„praktischen Widerstreit“ um einen kontradiktorischen
Gegensatz handeln.
Kant hatte darüber hinaus in § 3 alle materialen Prinzipien
auf das Prinzip der Selbstliebe zurückführen können, und
seit § 4 darauf bestanden, daß nur der moralische
Bestimmungsgrund des Handelns ausschließlich formal ist. Mit
der Materie und Form sind die Arten der Willensbestimmung
erschöpft. Es kann also kein Drittes und damit auch keine
„unstatthafte Bedingung“, wie Kant es in der KrV genannt
hatte, geben (KrV, B 531), durch die der kontradiktorische
in einen konträren Gegensatz überführt werden könnte. Der
Unterschied zwischen dem logischen und dem praktischen
Widerstreit kann also nicht in der Art des Widerstreits
gefunden werden, so als wäre der logische ein Widerstreit im
engen (Widerspruch) und der praktische ein Widerstreit im
weiten Sinne. Vielmehr ist der Unterschied vermutlich
bereits durch das Beiwort benannt. Der praktische
Widerspruch ist auch ein logischer Widerspruch, aber er ist
nicht „bloß logisch“, sondern praktisch, weil er in den
Prinzipien unseres Handlungsvermögens, dem Willen auftritt.
157
Satz 2 „Oder setzet – oder er habe den Verstand verloren“
Der zweite Fall bestätigt diese Diagnose. Hier haben wir es
nicht mit einer Rechtfertigung, sondern einer Empfehlung zu
tun. Genauer geht es um die Empfehlung eines „Haushalter[s]“
mit den folgenden Charaktereigenschaften: Er ist (i) ein
„kluger Mensch, der sich auf seinen eigenen Vorteil
meisterhaft versteht“, (ii) „fein zu leben“ vermag, indem er
auf die „Erweiterung seiner Kenntnisse“ aus ist. Darüber
hinaus hat er (iii) auch beim „Wohltun der Dürftigen […]
sein Vergnügen und verwendet hierzu „fremdes Geld“, sobald
er weiß, „daß er es unentdeckt und ungehindert tun könne“.
Während im ersten Fall sich jemand für eine Lüge auf der
Grundlage des Prinzips der eigenen Glückseligkeit
rechtfertigen wollte, soll nun im zweiten Fall jemand als
Eigentumsverwalter empfohlen werden, der auf der Grundlage
des Glückseligkeitsprinzips das ihm anvertraute Eigentum als
sein eigenes behandelt. Die Absurdität dieser Empfehlung ist
offenbar: Hier wird ein Dieb oder Betrüger als
Eigentumsverwalter empfohlen. Kant erwägt auch in diesem
Fall zwei Reaktionen der „gemeinen Menschenvernunft“: Die
erste unterstellt, daß diese Empfehlung nicht mit einem
Geltungsanspruch verbunden ist, der Empfehlende also um die
Unvernünftigkeit seiner Aussage weiß und sie nur ausspricht,
um den Adressaten „zum besten [zu] haben“. Die zweite
Reaktion bezweifelt nicht den Geltungsanspruch, aber das
Selbstwissen, indem sie davon ausgeht, der Empfehlende „habe
den Verstand verloren“.
158
Satz 3-4 „So deutlich und scharf sind die Grenzen - etwas mehr Deutlichkeit zu
verschaffen“
Beide Fälle wertet Kant als eine Bestätigung für die
kategoriale Trennung von „Sittlichkeit und Selbstliebe,
deren „Grenzen – wie er sagt – deutlich und scharf“
voneinander getrennt sind. Sie bestätigen aber auch, die im
Rahmen der Vernunftfaktumstheorie behauptete
Irrtumsimmunität der „gemeinen Menschenvernunft“, die den
Unterschied zwischen Sittlichkeit und Selbstliebe „nicht
verfehlen kann“. Auch wenn es sich bei diesem Urteil um eine
so „offenbare[en] Wahrheit“ handelt, läßt Kant dennoch der
Demonstration eine Analyse des „Urteil[s] der gemeinen
Menschenvernunft folgen“, um ihm auf diese Weise „mehr
Deutlichkeit zu verschaffen“. Diese Analyse erstreckt sich
über die Absätze 3-8 und ergibt, daß Sittlichkeit und
Glückseligkeit hinsichtlich der folgenden fünf Merkmale
unterschieden werden:
(i) Geltungsbereich
(ii) Erkenntnisgrund
(iii) Befolgungsmöglichkeit
(iv) Evaluation
(v) Verstoßanhndung
Absatz 3-4 „Das Prinzip der Glückseligkeit - der Vernunft und Willen hat.“
(i) Geltungsbereich
Seit § 3 wissen wir, daß das „Prinzip der Glückseligkeit“
und aus der Anmerkung I des § 8, daß sogar das Prinzip der
159
„allgemeinen Glückseligkeit“ sehr wohl „ [zu] Maximen, aber
niemals […] zu Gesetzen des Willens tauglich ist“. Maximen
haben nur subjektive Gültigkeit, Gesetze sind dagegen
objektiv gültig. Deshalb sagt Kant, „die Maxime der
Selbstliebe (Klugheit) rät bloß an“, während das Gesetz der
Sittlichkeit „gebietet“. Sein Argument: Bei den Ratschlägen
der Klugheit muß „ein Objekt der Willkür der Regel […] zum
Grunde gelegt werden“. Dieses Objekt ist ein Gegenstand der
Lust. Was Lust bewirkt und durch welche Mittel sie
verwirklicht werden kann, beruht auf empirischer Erkenntnis.
Empirische Erkenntnis kann bestenfalls „generelle, aber
niemals universelle Regeln“ liefern. Genau diese Universalität
wird aber erfordert, wenn die Regel ein praktisches Gesetz
sein soll. Also lassen sich aus dem Prinzip der
Glückseligkeit im Unterschied zum Prinzip der Sittlichkeit
keine praktischen Gesetzen ableiten.
Absatz 5 „Was nach dem Prinzip - selbst ohne Weltklugheit damit umzugehen.“
(ii) Erkenntnisgrund
Kant hat die Differenz des Erkenntnisgrundes bereits
benannt: Ratschläge der Klugheit werden empirisch das
Moralgesetz a priori erkannt. Um zu wissen, wie wir unsere
verschiedenen Bedürfnisse in ein kohärentes System von
Absichten bringen können und welche Mittel wir zu ihrer
Verwirklichung zu ergreifen haben, benötigen wir
„Weltkenntnis“. Weder können wir mit Sicherheit vorhersagen,
was wir im Laufe unserer Lebensgeschichte für begehrenswert
erachten werden noch wie sich die Mittel in dem komplexen
160
kausalen Verhältnis zwischen Selbst und Welt auswirken
werden. Was „wahren dauerhaften Vorteil bringt, ist […] in
undurchdringliches Dunkel eingehüllt“. Viel Klugheit ist
erforderlich, die Regel durch „geschickte Ausnahmen […] den
Zwecken des Lebens anzupassen“. Was moralisch geboten ist, sei
dagegen „ganz leicht und ohne Bedenken einzusehen“. Kant
hatte dies an den beiden moralischen Evaluationsfällen
demonstriert. Um zu wissen was moralisch geboten ist, kommen
wir „ohne Weltklugheit“ aus, weil wir keiner empirischen
Erkenntnis bedürfen und uns das moralische Gesetz
unmittelbar und a priori bewußt ist.
Absatz 6 „Dem kategorischen Gebote - das kann er auch.“
(iii) Befolgungsmöglichkeit:
Auch hinsichtlich der Befolgungsmöglichkeit der
Handlungsvorschriften unterscheiden sich Moral und
Glückseligkeit grundlegend. Dem kategorischen Gebot des
Moralgesetzes zu entsprechen, ist „in jedes Gewalt zu aller
Zeit“. Im Gegensatz dazu ist es „nur selten“, daß wir der
„Vorschrift der Glückseligkeit“ folge leisten können. Kant
begründet diese Differenz damit, daß die Vorschriften der
Glückseligkeit im Unterschied zu den moralischen
Vorschriften nicht beim Wollen ansetzten. Wenn sie beim
Wollen ansetzten würden, würden sie uns gebieten, unsere
Glückseligkeit zu wollen. Nun ist es aber „töricht“ etwas zu
gebieten, was jeder „schon unausbleiblich von selbst will“.
Die Vorschriften der Glückseligkeit richten sich daher nicht
auf das Wollen, sondern nur auf die Mittel, die zur zur
161
Verwirklichung des vorausgesetzten Zwecks (Glückseligkeit)
führen. Nun sind aber unsere „Kräfte und das physische
Vermögen“ begrenzt und damit auch unsere Fähigkeit, alle
möglichen Objekte, die wir begehren, verwirklichen zu
können. Deshalb sagt Kant, daß die Ratschläge der Klugheit
uns Maßregeln „darreichen“, uns also lehren maßzuhalten und
unsere Ansprüche mit unseren Fähigkeiten, unser Wollen mit
unserem Können zur Deckung zu bringen. Das Moralgesetz ist
dagegen nicht durch ein bestimmtes Begehren bedingt, sondern
setzt unmittelbar beim Wollen des Handelnden an. Dieser
Ansatz ist berechtigt, weil im Unterschied zur „Vorschrift
der Glückseligkeit“ dem Moralgesetz „nicht jedermann gerne
gehorchen [will]“. Wenn Kant hier davon spricht, daß die
„Maßregeln, wie [man] dieses Gesetz befolgen könne […] nicht
gelehrt werden […] dürfen,“ so muß das „dürfen“ im Sinne von
„müssen“ gelesen werden. Es müssen keine Maßregeln gelehrt
werden, weil im moralischen Fall sich niemand beschränken
muß, sondern jeder bereits „alles das kann, was er will“.
[Gesinnungsethik-Vorwurf?]
[Aber gibt es nicht auch Maßregeln, die uns zu moralischen Menschen machen
Pädagogik, ApH??? Warum bedürfen wir überhaupt der Aufklärung und
Erziehung, wenn wir doch schon immer richtig urteilen und auch demgemäß
handeln können? Kennt Kant nicht auch empirische Maßregeln, die es
wahrscheinlicher machen, daß aus uns moralischere Menschen werden? Kant
geht es hier wohl eher darum, daß Moralität kein Zweck-Mittel-Verhältnis ist. Es
geht lediglich darum, die formal richtige Maxime zu ergreifen und nicht das
richtige Mittel zu finden???].
162
Absatz 7 „Der im Spiel verloren hat - denn ich habe meine Kasse bereichert“
(iv) Würde:
Kant will am Fall eines Menschen, der im Spiel verliert bzw.
betrügt, die evaluativen Differenzen zwischen Glückseligkeit
und Sittlichkeit aufweisen. Derjenige, der aus mangelnder
Fertigkeit im Spiel verliert, wird sich „ärgern“. Gewinnt er
dagegen das Spiel, indem er seinen Gegner betrügt und sein
Verhalten nicht am Glückseligkeitsprinzip, sondern am
Moralgesetz mißt, muß er sich selbst „verachten“ und über
sich selbst sagen, „ich bin ein Nichtswürdiger“. So
wirkungsmächtig der Begriff der „Würde“ auch gewesen ist,
diese Wirkung geht nicht auf die zweite Kritik, sondern auf
die Grundlegung zurück. In der zweiten Kritik gebraucht Kant
diesen Begriff, ohne ihn terminologisch einzuführen. In der
Grundlegung heißt es:Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Waseinen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalentgesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin keinÄquivalent verstattet, das hat eine Würde. Was sich auf die allgemeinenmenschlichen Neigungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis;das, was, auch ohne ein Bedürfniß vorauszusetzen, einem gewissenGeschmacke, d.i. einem Wohlgefallen am bloßen zwecklosen Spiel unsererGemüthskräfte, gemäß ist, einen Affektionspreis; [D]as aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck ansich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d. i. einenPreis, sondern einen inneren Wert, d. i. Würde. Nun ist die Moralitätdie Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sichselbst sein kann; weil nur durch sie es möglich ist, ein gesetzgebendGlied im Reiche der Zwecke zu sein. Also ist die Sittlichkeit und dieMenschheit, sofern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würdehat.22
22 Die aussagekräftigste Stelle aus der zweiten Kritik findet sich am Beginn derMethodenlehre: „Zwar kann man nicht in Abrede sein, daß, um ein entweder nochungebildetes, oder auch verwildertes Gemüth zuerst ins Gleis des moralisch Guten zubringen, es einiger vorbereitenden Anleitungen bedürfe, es durch seinen eigenenVortheil zu locken, oder durch den Schaden zu schrecken; allein so bald diesesMaschinenwerk, dieses Gängelband nur einige Wirkung gethan hat, so muß durchaus derreine moralische Bewegungsgrund an die Seele gebracht werden, der nicht allein
163
Der Gegenbegriff von ‘Würde’ ist ‘Preis’. Eine Sache, die
einen Preis hat, hat einen relativen Wert. Wenn etwas eine
Würde hat, kommt ihm dagegen ein unbedingter oder absoluter
Wert zu, weil es nicht durch es nicht durch den Preis als
ihr Äquivalent ersetzt werden kann. Die Frage ist nun,
welche Bedingung ein Gegenstand erfüllen muß, damit ihm ein
unbedingter Wert zukommt. Kants Antwort: Moralfähigkeit. Die
Begründung: Nur durch das Sittengesetz, können wir auf der
Basis von unbedingten Zwecken handeln. Ein Vernunftwesen mit
einem Willen zu sein, heißt, sich selbst einen unbedingten
Zweck aufzuerlegen. Das Moralgesetz ist unbedingt, weil es
keine subjektiven Bedürfnisse als gegeben voraussetzt,
sondern wir es uns aus reiner Vernunft selbst auferlegen.
Damit ist die „Autonomie […] der Grund der Würde der
menschlichen und jeder vernünftigen Natur“ (GMS, 436).
Wenn Kant nun in der zweiten Kritik davon spricht, daß der
Betrüger sich als ein „Nichtswürdiger“ erfährt, so ist
folgender Sachverhalt angesprochen: Der Betrüger ordnet das
unbedingte Gebot des Moralgesetzes seinem subjektiv-
bedingten Zweck (finanzielle Bereicherung) unter. Mit demdadurch, daß er der einzige ist, welcher einen Charakter (praktische consequenteDenkungsart nach unveränderlichen Maximen) gründet, sondern auch darum, weil er denMenschen seine eigene Würde fühlen lehrt, dem Gemüthe eine ihm selbst unerwarteteKraft giebt, sich von aller sinnlichen Anhänglichkeit, so fern sie herrschend werdenwill, loszureißen und in der Unabhängigkeit seiner intelligibelen Natur und derSeelengröße, dazu er sich bestimmt sieht, für die Opfer, die er darbringt, reichlicheEntschädigung zu finden. Wir wollen also diese Eigenschaft unseres Gemüths, dieseEmpfänglichkeit eines reinen moralischen Interesse und mithin die bewegende Kraft derreinen Vorstellung der Tugend, wenn sie gehörig ans menschliche Herz gebracht wird,als die mächtigste und, wenn es auf die Dauer und Pünktlichkeit in Befolgungmoralischer Maximen ankommt, einzige Triebfeder zum Guten durch Beobachtungen, dieein jeder anstellen kann, beweisen; wobei doch zugleich erinnert werden muß, daß,wenn diese Beobachtungen nur die Wirklichkeit eines solchen Gefühls, nicht aberdadurch zu Stande gebrachte sittliche Besserung beweisen, dieses der einzigenMethode, die objectiv praktischen Gesetze der reinen Vernunft durch bloße reineVorstellung der Pflicht subjectiv praktisch zu machen, keinen Abbruch thue, gleichals ob sie eine leere Phantasterei wäre“ (KpV, V153).
164
Moralgesetz gibt er den unbedingten Wert auf und handelt so,
als lebte er in einer Welt, in der alles einen Preis hätte.
Er handelt also auf dieselbe Weise wie ein Wesen handelt,
das keine Vernunft bzw. bei dem die Vernunft nur eine
instrumentelle Funktion hat. Nun heißt eine Würde zu haben,
gerade ein autonomes Wesen zu sein, das sich selbst ein
unbedingt gebietendes Sittengesetz auferlegt. Widerspricht
man in seinem Handeln diesem Gesetz, macht man sich zu einem
„Nichtswürdige[n]“.
8. Absatz, Satz 1-5 „Endlich ist noch etwas in der Idee - verbunden werden
müßte“
(v) Verstoßahndung
Kant will nun schließlich den fundamentalen Unterschied
zwischen seinem Prinzip der Sittlichkeit und dem der
Glückseligkeit auch noch am Umgang mit Regelverstößen
sichtbar machen. Er behauptet, daß nur die „Übertretung“ des
Sittengesetzes mit der Idee der „Strafwürdigkeit“ des Täters
begleitet ist. Der Begriff der ‘Glückseligkeit’ sei dagegen
mit dem Begriff der ‘Strafe’ nicht kompatibel. Deshalb habe
ich hier in der Überschrift den neutralen Begriff der
„Verstoßahndung“ gewählt. ‘Strafe’ wird von Kant als ein
„bloßes Übel für sich selbst“ verstanden. Damit hält er die
präventiven Zwecke aus dem Strafbegriff heraus. Das Übel
wird dem Täter nicht als Prävention, sondern um der Strafe
selbst willen zugefügt. „In jeder Strafe […] muß zuerst
Gerechtigkeit sein, und diese macht das Wesentliche dieses
Begriffs aus“. Nicht Prävention sondern Vergeltung ist nach
165
Kant also das Wesen der Strafe. Dem Täter wird ein seiner
Tat äquivalentes „physisches Übel“ zugefügt weder um ihn
oder andere zu erziehen noch um andere zu schützen, sondern
allein weil er es verdient hat. Wenn man der „Strafe“ nur
eine general- oder spezialpräventive Funktion zuspricht,
dann ist im einzelnen Fall die Berechtigung der „Strafe“ von
ihrer Präventionsfähigkeit abhängig. Demnach würde Strafe,
in Fällen, in denen sie als Präventionsmaßnahme nicht
greift, ihren Sinn verlieren.
Man könnte meinen, Kant würde an dieser Stelle mit dem
Begriff der Strafe moralische und rechtliche Erwägungen
ineinanderschieben. Es sieht so aus, als wolle er hier das
„moralisch Böse“ zu einer rechtlichen Kategorie herabsetzen.
Doch dieser Eindruck täuscht. Kant weiß, daß jedem
menschlichen Richter „die eigentliche Moralität der
Handlungen (Verdienst und Schuld) […] verborgen [bleibt]“
und der Mensch daher Moralität „nicht nach völliger
Gerechtigkeit richten kann“ (KrV, B 570; vgl. KpV???). Wenn
Kant hier im moralphilosophischen Kontext von
„Gerechtigkeit“ und „Strafe“ spricht, so ist damit
vermutlich nicht ein menschlicher, sondern göttlicher
Richter gemeint, den Kant, weil er die Fähigkeit hat, die
wahren Beweggründe des Menschen zu kennen, auch den
„Herzenskündiger“ nennt (Rel???). Strafe, sagt Kant, sei ein
„physisches Übel“, das als „Folge nach Prinzipien“ mit dem
„moralisch-Bösen“ verbunden werden müßte, wenn es nicht „als
natürliche Folge mit dem moralisch-Bösen verbunden wäre“.
Wendet man den Irrealis in den Realis um, dann erhält man, daß
166
das physische Übel mit dem moralisch-Bösen als natürliche
Folge notwendig verbunden ist. Vielleicht deutet Kant hier
das Theoriestück des höchsten Guts aus der Dialektik an. Wir
müssen die Welt so denken, daß Glückseligkeit und
Glückswürdigkeit in einem proportionalen Verhältnis
zueinander stehen. Proportionalität von Glückseligkeit und
Glückswürdigkeit ist das höchste Gut. Demnach denken wir uns
die Welt so, als ob Gott die Welt so eingerichtet hat, daß
der moralisch Böse, der Unglückswürdige, durch physische
Übel als eine „natürliche Folge“ bestraft werde. Doch (und nun
kommt der von Kant intendierte Irrealis) selbst wenn die
Strafe nicht als eine natürliche Folge mit dem moralisch
bösen Handeln verbunden wäre, würde sie doch logisch nämlich
„nach Prinzipien einer sittlichen Gesetzgebung“ folgen. Kant
wird nun zeigen, warum auf der Grundlage einer
eudaimonistischen Straftheorie diese Konsequenz nicht
zutrifft.
Satz 6-7: „Wenn nun alles Verbrechen – nunmehro abgehalten wären“
Das Prinzip des eudaimonistischen Straftheoretikers ist die
Glückseligkeit. Demnach begeht ein Verbrechen, wer sich sich
ein physisches Übel (Strafe) zuzieht. Kant will nun zeigen,
daß der Eudaimonist sich einen Widerspruch einhandelt, wenn
er die folgenden beiden Sätze zugleich behaupten will:
(a) Das Verbrechen ist aufgrund intrinsischer Eigenschaften
„ohne auf die physischen Folgen in Ansehung des Täters zu
sehen, für sich strafbar“
167
(b) Der moralisch Böse hat sein Anrecht auf Glückseligkeit
(„wenigstens zum Teil“) aufgehoben.
Entweder das Verbrechen besteht darin, daß der Täter sich
durch seine Tat mit der Strafe ein physisches Übel zuzieht
oder die Tat selbst ist ein Verbrechen. Eine dritte
Möglichkeit ist ausgeschlossen. Entscheidet man sich nun für
den ersten Disjunkt??? und hält so an der eudaimonistischen
Strafauffassung fest, ergibt sich die absurde Konequenz,
„wonach die Strafe der Grund sein [würde], etwas ein
Verbrechen zu nennen […]“ und nicht andersherum wäre das
Verbrechen der Grund der Strafe (Hervorhebung J. B.). Daher
wäre es nur konsequent, so Kant weiter, wenn der
eudaimonistische Straftheoretiker für eine Abschaffung der
Strafe plädierte. Denn, so lautet sein Argument, wenn das
„Böse“ der Handlung in der Strafe liegt (die aus Kants
Perspektive dann freilich nur ein „Übel“ genannt werden
könnte), bedeutet die Abschaffung der Strafe auch die
Abschaffung des sogenannten „Bösen“. Liegt aber das Böse
nicht in der Handlung, sondern in der Strafe, wäre es
ungerecht, den „Täter“ für sein „Verbrechen“ zu bestrafen.
Auf der Grundlage des Prinzips der Selbstliebe müsse also
„Gerechtigkeit […] darin bestehen, alle Bestrafung zu
unterlassen“.
Satz 8: „Vollends aber alles Strafen – uns hiebei aufzuhalten“
Neben dieser ersten eudaimonistischen
Argumentationsstrategie, die für die Abschaffung plädiert,
erwägt Kant kurz eine zweite, die es ermöglichen soll, am
168
Prinzip der Selbstliebe und dem Begriff der Strafe zugleich
festhalten zu können. Demnach wäre „Strafen […] nur als
Maschinenwerk in der Hand einer höheren Macht anzusehen“.
Seine Funktion wäre es, den Menschen „in Tätigkeit zu
setzen“, um ihn auf diese Weise auf seine „Endabsicht (der
Glückseligkeit)“ abzurichten. Dieses Argument wird mit der
kurzen Bemerkung zurückgewiesen, daß es einen die „Freiheit
[des Willens] aufhebende[n] Mechanism“ voraussetze. Die
Freiheit des Willens ist jedoch – so läßt sich Kants
Argument ausführen – die Voraussetzung nicht nur für die
Moralfähigkeit, sondern auch dafür, daß wir überhaupt
sinnvoll von „Strafen“ sprechen können. Denn Strafe als
„Übel für sich selbst“ setzt voraus, daß der Täter ein
Normenbewußtsein hatte und sich auch dementsprechend hätte
verhalten können. Ist nun aber ein „Strafen“ notwendig, um
das Verhalten des Menschen so zu konditionieren, daß es die
Glückseligkeit fördert, dann löst sich der Strafbegriff in
einen Sanktions- oder Maßregelbegriff auf. Ganz in Kants
Sinne unterscheiden wir deshalb auch auch zwischen einem
Maßregelrecht und einem Strafrecht. [Machte man diese
Unterscheidung auch zu Kants Zeiten??? Welche historischen Positionen hat Kant
hier im Kopf??? Schulz???].
9. Absatz, Satz 1 „Feiner noch – nach eigener Glückseligkeit aussetzen“
Damit ist die Analyse des moralischen Urteils abgeschlossen.
Kant kommt nun noch auf einen weitern Aspekt des
Unterschiedes zwischen Glückseligkeit und Moral zu sprechen,
der nicht unmittelbar das Urteil betrifft: das moralische
169
Gefühl. Genauer geht es ihm um jene Ethiken, die versucht
haben, das moralisch Gute durch ein spezifisch moralisches
Gefühl zu bestimmen. Demnach sei das „Bewußtsein der Tugend
unmittelbar mit Zufriedenheit und Vergenügen, das des
Lasters aber mit Seelenunruhe und Schmerz“ verbunden sei.
Folgt man dieser Theorie, dann sind die moralisch gute
Handlung und die Handlung, die zur Glückseligkeit führt,
identisch.
Satz 2-6 „Ohne das hieher zu ziehen - Vorstellung machen zu können“
Kant will nun die „Täuschung“ aufdecken, die diesem Ansatz
zu Grunde liegt: Wenn man behauptet, daß derjenige der
moralisch gut oder böse handelt, notwendig vom Gefühl der
Zufriedenheit „ergötzt“ bzw. von der „Gemütsunruhe geplagt“
sei, dann muß dem Handelnden „schon zum voraus […] in
einigem Grade moralisch gut [sein]“. Hätte der Handelnde
nicht im Voraus bereits ein Bewußtsein dessen, was moralisch
geboten ist, könnte er jene Gefühle gar nicht haben. Sie
können daher nicht als Primär, sondern müssen als
abgeleitete Modi verstanden werden. Deshalb folgert Kant,
daß „der Begriff der Moralität und Pflicht vor aller
Rücksicht auf […] Zufriedenheit vorhergehen und […] von
dieser gar nicht abgeleitet werden [kann]“. Kant scheidet
damit das moralische Gefühl als Erkenntnisgrund der
moralischen Verpflichtung aus. Wir fühlen sie nicht „vor der
Erkenntnis der Verbindlichkeit [und können sie nicht] zum
Grunde der letzteren machen“.
170
Satz 7 „Daß übrigens - zu gründen und zu kultivieren“
Auch wenn das Gefühl der Selbstzufriedenheit nicht
konstitutiv für moralische Verpflichtung ist, spricht Kant
ihm seine Funktion in der Moral nicht gänzlich ab. Vielmehr
bewirkt die „öftere Ausübung“ von Handlungen, die dem
Moralgesetz entsprechen tatsächlich ein „Gefühl der
Zufriedenheit“, welches Kant später „Selbstzufriedenheit“
nennt (KpV, V 117 (A 212)). Und als Resultat der moralisch
guten Handlung „gehört es selbst zur Pflicht, dieses Gefühl
„zu gründen und zu kultivieren“.
Satz 8 „aber der Begriff der Pflicht - Neigungen setzen würde“
Nach diesem Einschub über den systematischen Ort und die
eigentliche Funktion des moralischen Gefühls, kehrt Kant zu
seinem eigentlichen Beweisziel zurück und präsentiert ein
weiteres Argument dafür, warum das moralische Gefühl als ein
Derivat verstanden werden muß: Wäre es kein Derivat „müßten
wir uns ein Gefühl eines Gesetzes als eines solchen denken,
und das zum Gegenstande der Empfindung machen, was nur durch
Vernunft gedacht werden kann“. In diesem Gedanken wähnt Kant
einen „platte[en] Widerspruch“, weil der Begriff des
‚Gesetzes’ Universalität impliziert. Nur die Vernunft kann
Universalität denken. Gefühle haben dagegen immer etwas
Partikulares als ihren Gegenstand. Insofern besteht in dem
zusammengesetzten Begriff ‚Gefühl eines Gesetzes’ ein
Selbstwiderspruch. Kant behauptet nun, ohne ein Argument
auszuarbeiten, daß sich dieser Widerspruch nur vermeiden
lasse, indem man den „Begriff der Pflicht ganz aufheb[t]“.
171
Er würde vermutlich so argumentieren: ‘Pflicht’ impliziert
einem universellen und uneingeschränkt gebietenden
praktischen Gesetz unterworfen zu sein. Auf der Basis eines
Gefühls läßt sich dieses Gesetz nicht rechtfertigen. Deshalb
muß eine Ethik, die den Primat des moralischen Gefühls
vertritt auch zugleich den Begriff der Pflicht aufgeben. Was
also wäre, wenn diese Ethik auf den Begriff der ‚Pflicht’
verzichtete? Kant erwägt diese Möglichkeit einer
naturalisierten Ethik. Pflicht würde so sagt Kant durch ein
„mechanisches Spiel, feinerer, mit den gröberen […]
Neigungen“ ersetzt werden, weil diese Gefühle unmittelbar in
uns auftreten. Moral wäre damit nicht mehr eine Sache
vernünftigen Urteilens, sondern von Reiz und Reaktion.
10. Absatz „Wenn wir nun unseren formalen obersten Grundsatz -
Im gesamten „Ersten Haupstück“ geht es Kant darum, den
kategorialen Unterschied von Moral und Glückseligkeit zu
erklären. Moralische Sollensansprüche lassen sich nur auf
der Grundlage eines formalen und nicht etwa materialen
Prinzips rechtfertigen. Kant geht nun dazu über seine
allgemeine Rede von materialen Prinzipien zu differenzieren,
indem er eine Taxonomie der „praktische[n] materialen
Bestimmungsgründe“ entwickelt. Die schematische Darstellung
soll dem Leser unmittelbar vor Augen führen, daß die
bestehenden Moraltheorien „alle mögliche andere Fälle, außer
einen einzigen formalen, erschöpft [haben]“. Kant hält es
daher auch für unmöglich auf dem Feld der materialen Ethik
durch eine weitere Binnendifferenzierung eine Moraltheorie
172
zu rechtfertigen, die mit kategorischen Ansprüchen auftritt.
Das Schema ist erschöpfend, weil die Bestimmungsgründe des
Willens nur entweder „subjektiv“ („empirisch“) oder
„objektiv“ („rational“) sein können und damit das ganze
Spektrum erfaßt ist. Die objektiven und subjektiven
Bestimmungsgründe unterteilen sich dann jeweils noch einmal
in „innere“ und „äußere“. Damit ergeben sich vier
unterschiedliche Klassen, denen Kant nun gemäß ihrem
moralphilosophischen Fundamentalprinzip eine bzw. zwei
philosophiehistorische Positionen zuordnet. Praktische
materiale Bestimmungsgründe sind:
I. Subjektiv 1. äußere
i. Erziehung (Montaigne), ii. bürgerliche Verfassung (Mandeville)
2. innere: iii. physisches Gefühl (Epikur), iv. moralisches Gefühl (Hutcheson)
II. Objektiv1. innere:
v. vollkommener Wille des Menschen (Wolff,Stoiker)
2. äußere: vi. vollkommener Wille Gottes (Crusius u. a.
theologische Moralisten)
173
11. Absatz, Satz 1-2 „Die auf der linken Seite stehenden - Vernunftbegriff
zu denken)“
Kant erläutert die Ansätze der traditionellen
moralphilosophischen Positionen nicht. Es bleibt bei der
schlagwortartigen Kategorisierung. Was verbirgt sich hinter
den Schlagworten? Die Vorlesungsnachschriften von Kants
Ethikvorlesung können uns hier weiterhelfen. Folgen wir
Kants Taxonomie von links nach rechts. Da sind zunächst
Moraltheorien, die den Ursprung der Moral in einem „äußeren
materialen Bestimmungsgrund“ ansetzen (Hervorhebung J. B.).
Man kann eine solche Position einen subjektiven
Externalismus nennen. Externalismus bedeutet in diesem
Zusammenhang, daß der Grund der Verbindlichkeit auf eine
Autorität außerhalb des moralisch Handelnden zurückzuführen
ist. Der Grund ist „subjektiv“, weil er nicht allgemeine,
sondern nur bedingte Gültigkeit beanspruchen kann. Kant
nennt zwei Arten des subjektiven Externalismus: Die eine
Materiale praktische
Bestimmungsgründe
Subjektive Objektive
äußere innere innere äußere
Der Erziehung(nach
Montaigne)
Der bürgerlichen Verfassung
(nach Mandeville)
Des physischen Gefühls (nach
Epikur)
Des moralischen
Gefühls (nach Hutcheson)
Der Vollkommenheit (nach Wolff und den Stoikern)
Des Willens Gottes (nach Crusius und anderen
theologischen Moralisten
174
Theorie sieht den Ursprung der Moral in der menschlichen
„Erziehung“. Damit verbindet sich nicht bloß die Behauptung,
daß wir durch die Erziehung das moralische Urteilen
erlernen. Vielmehr wird eine Gewohnheitstheorie der Moral
vertreten, wonach die historisch und kulturell bedingte
Erziehung letztlich darüber entscheidet, was moralisch
wertvoll ist. In der zweiten Kritik sowie in der
Ethikvorlesung ist der Protagonist der Gewohnheitstheorie
Montainge: „In Afrika [ist] der Diebstahl erlaubt, […] in
China [ist es] den Eltern erlaubt, ihre Kinder auf die
Straße zu werfen; die Eskimo erdrosseln sie, und in
Brasilien begraben sie sie lebendig.“ (Ethik, S. 23). Dieser
ethnologische Befund wird dann so gedeutet, daß in der Moral
keine allgemein verbindlichen, objektiven Standards zu haben
sind. Statt dessen werden durch Erziehung im jeweiligen
sozialen Kontext diese Standards herausgebildet. Es ist
unschwer zu sehen, warum diese Form der Moralbegründung aus
fundamentalistischer Perspektive letztlich in der Luft
hängt. Die frage, woher die Erzieher ihre moralischen
Wertmaßstäbe haben läßt sich offenbar nicht zirkelfrei
beantworten. Kant geht nicht auf die Details dieser
Positionen ein. Ihm genügt es, sie letztlich alle als
materiale Ethiken zu entlarven.
Die zweite Art des subjektiven Externalismus verortet den
Ursprung der Moral in der bürgerlichen Verfassung. „Die
Obrigkeit kann alle Handlungen erlauben und auch verbieten“
(Ethik, 23). Bei dieser Position, die Kant in der zweiten
Kritik Mandeville und in der Vorlesung Hobbes zuschreibt,
175
sind die moralischen Standards nicht universell, sondern nur
partikular gültig. Der Gehalt der erlassenen Gesetze beruht
auf der Willkür des Staates und ist nicht selbst wieder an
ein Vernunftprinzip gebunden. Damit wird deutlich, warum
auch das Prinzip der bürgerlichen Verfassung nicht in der
Lage ist, kategorische Verbindlichkeit zu begründen.
Der subjektive Externalismus ist eine der beiden Arten des
moralischen Subjektivismus. Die andere Art können wir den
subjektiven Internalismus nennen, weil er den Ursprung der
Moral in die „innere“ Spähre des Menschen, das Gefühl,
verlegt. Kant unterscheidet zwischen physischen und
moralischen Gefühlen. Entsprechend teilt sich auch der
subjektive Internalismus in zwei Unterarten auf. Sowohl in
der zweiten Kritik als auch in der Vorlesung ordnet Kant das
physische Gefühl Epikur und das moralische Gefühl Hutcheson
zu. In der Vorlesung hat Kant das physische Gefühl genauer
durch „Selbstliebe“ bestimmt und diese ferner in „Eitelkeit“
und „Eigennutz“ eingeteilt. Aus dem § 3 der zweiten Kritik
wissen wir, daß Kant alle materialen Prinzipien und damit auch
das moralische Gefühl auf das Prinzip der Selbstliebe
reduziert. Sind damit auch die inhaltlichen Differenzen
zwischen physischem und moralischem Gefühl hinfällig
geworden? Vermutlich nicht. Denn auch wenn physisches und
moralisches Gefühl auf dasselbe Prinzip zurückführbar sind,
muß ihre Identität nicht vollständig sein. Welche Art der
Realisierung die „Selstliebe“ annimmt, bleibt offen. Trotz
gemeinsamer Wurzel kann Kant deshalb an der Einteilung in
physisches und moralisches Gefühl festhalten. Wir können uns
176
aus Selbstliebe selbst bemitleiden („Eitelkeit“) oder auch
mit anderen mitempfinden (Moral). Aus der Sicht von Kants
formaler Ethik ist freilich ein Gefühl, das auf Selbstliebe
gründet nur dem Grad aber nicht der Art nach vom „physischen
Gefühl“ unterschieden.
Empirische (subjektiven) Bestimmungsgründe sind für die
Begründung einer Moral, die mit uneingeschränkten
Sollensansprüchen auftritt, ungeeignet. Dafür hat Kant im
Grunde in allen acht Paragraphen der zweiten Kritik
argumentiert und benötigt nun kein zusätzliches Argument
mehr. Es bleiben aber noch die „rationalen“ (objektiven)
Bestimmungsgründe. Sowohl der Begriff der ‚inneren
Vollkommenheit’ als auch ‚Gott’ (äußere Vollkommenheit),
sind beide „nur durch Vernunftbegriffe zu denken“. Deshalb
kostet es Kant im Fall der „rationalen“ Bestimmungsgründe, wie
er sie ausdrücklich nennt, weitere analytische Arbeit, um
diese Begriffe ebenfalls als material zu entlarven, sie
damit auf das Heteronomieprinzip zurückzuführen und so
schließlich als moralphilosophischen Ansatzpunkt
auszuschließen.
Wir sind damit bei der zweiten Unterart der materialen
praktischen Bestimmungsgründe angelangt. Im Fall der objektiven
Bestimmungsgründe haben wir es dem Anspruch nach mit einem
moralischen Objektivismus zu tun. Der Objektivismus versucht
die Moral aus Vernunftprinzipien zu begründen. Die
Gültigkeit der Normen ist damit weder historisch-kulturell
begrenzt noch auf den Menschen beschränkt, sondern erstreckt
sich auf alle Vernunftwesen. Ebenso wie der moralische
177
Subjektivismus teilt sich auch der Objektivismus in eine
interne und externe Art auf. Wir können also analog zur
Einteilung des Subjektivismus von einem objektiven
Internalismus und einem objektiven Externalismus sprechen.
Weil Kant sich argumentativ mit dem Objektivismus
auseinandersetzt, liefert uns der Text der zweiten Kritik
selbst hinreichende Erläuterung. Die Vorlesungsnachschrift
wird uns nun nicht mehr als Kompelement, sondern als
Kontrastfolie dienen.
Satz 3-7 „Allein der erstere Begriff - desselben werden können)“
Beiden rationalen Moralprinzipien liegt der Begriff der
Vollkommenheit zugrunde. Deshalb verschränkt Kant die
Argumentationen gegen beide rationalen Moralprinzipien
ineinander. Er beginnt mit einer Definition der
Vollkommenheitsbegriffe. Dabei schließt er den theoretischen
Begriffsanteil aus, weil nur der praktische Begriff der
Vollkommenheit auf die Willensbestimmung gerichtet ist.
Vollkommenheit im praktischen Sinne meint „die Tauglichkeit,
oder Zulänglichkeit eines Dinges zu allerlei Zwecken“. Als
innere Vollkommenheit ist sie eine „Beschaffenheit des
Menschen“, die Kant „Talent“ nennt. Als äußere
Vollkommenheit gedacht, ist sie „Vollkommenheit in Substanz,
d. i. Gott“. Schematisch läßt sich die Begriffsbestimmung
wie folgt darstellen:
178
Im Anschluß an diese Begriffsbestimmung entwickelt Kant nun
sein Argument gegen die praktischen Vollkommenheitsbegriffe
als moralphilosophische Fundamentalprinzipien: Wenn
praktische Vollkommenheit die Angemessenheit von etwas zu
einem bestimmten Zweck ist, dann muß der „Zweck […] als
Objekt […] der Willensbestimmung […] vorhergehen“. Dies gilt
nun sowohl für den Fall der inneren als auch der äußeren
Vollkommenheit. Auch wenn also das Prinzip der
Vollkommenheit rational zu sein scheint, setzt es doch einen
Zweck als empirisch gegeben voraus. Damit hat Kant sich in
eine Position gebracht, von der er den sogenannten
Rationalisten vorwerfen kann, prinzipiell nicht über die
eudaimonistischen Ethiken hinauszukommen: Insofern auch ihre
Theorie letztlich einen empirisch gegebenen Zweck an den
Anfang der Willensbestimmung stellen muß, taugen die
Begriffe der inneren und äußeren Vollkommenheit „zum
epikurischen Prinzip der Glückseligkeitslehre, niemals aber zum
reinen Vernunftprinzip der Sittenlehre und der Pflicht […].“
Kant erweist sich so gesehen mit seiner formalen Ethik als der
konsequenteste unter den Rationalisten. Er liefert mit
Vollkommenheit
theoretische(Vollständigkeit eines Dinges)
praktische (Zulänglichkeit eines Dinges zu
allerlei Zwecken)
transzendentale(Vollständigkeit eines Dinges in
seiner Art)
metaphysische(Vollständigkeit eines Dinges bloß
als Dinges überhaupt)
innerliche(als Beschaffenh. des Menschen, d. i.
Talent, Geschicklichkeit)
äußerliche(als Substanz, d.
i. Gott = Zulänglichkeit zu allen Zwecken)
179
diesem Ergebnis auch zugleich eine Bestätigung des „Lehrsatz
II“, in dem er behauptet hatte, daß alle materialen praktische
Prinzpien sich auf das Prinzip der eigenen Glückseligkeit
zurückführen lassen.
Kants eigene Ethik suchen wir innerhalb dieser Taxonomie der
materialen praktischen Bestimmungsgründe vergeblich. Sie ist
nicht etwa eine Unterart der objektiven materialen
Bestimmungsgründe, sondern liegt jenseits dieser Systematik.
In den Vorlesungen hat Kant behauptet, „das principium
morale est intellectuale internum“ (Ethik, 25). Dabei hat er
aber vermutlich noch nicht erkannt, daß das traditionelle
Moralprinzip des internalistischen Objektivismus nicht
eigentlich kategorische Verbindlichkeit rechtfertigen kann.23
In der zweiten Kritik hält er an einer Art des
internalistischen Objektivismus fest. Er erkennt jedoch, daß
der traditionelle Begriff der Vollkommenheit den
Anforderungen einer unversalistischen Ethik nicht gerecht
wird und setzt dagegen den kategorischen Imperativ als
formales Prinzip.
Es ist behauptet worden, daß sich die Taxonomie der
materialen praktischen Bestimmungsgründe in der zweiten
Kritik nicht nur gegenüber den Vorlesungsnachschriften,
sondern auch fundamental von Kants Systematik in der
Grundlegung unterscheidet. Nachdem Kant den Lehrsatz II
aufgestellt habe, demzufolge alle materialen Prinzipien
einschließlich der rationalen unter das allegmeine Prinzip
der Glückseligkeit oder Selbstliebe fallen, habe er die
Zweiteilung empirisch/rational aus der Grundlegung in der23 Verweis???
180
zweiten Kritik durch subjektiv/objektiv ersetzt (Beck, 105).
Doch bereits ein genauerer Blick in den Text zeigt, daß Kant
auch in der zweiten Kritik, wie oben bei der Kommentierung
des 10. Absatzes bereits angemerkt wurde, von den objektiven
als „rationalen“ Prinzipien spricht. Systematisch wichtiger
jedoch ist, daß die Erkenntnis aus Lehrsatz II nicht
eigentlich ein Novum ist. Schon in der Grundlegung wird
gegen den internalistischen Objektivismus (Rationalismus),
den Kant auch hier allen anderen überkommenen
moralphilosophischen Positionen vorzieht, ein Zirkelvorwurf
erhoben. Dieser Zirkel besteht kurz gesagt darin, daß der
Begriff der moralischen Vollkommenheit „die Sittlichkeit,
die er erklären soll, insgeheim vorauszusetzen nicht
vermeiden kann“ (GMS, IV 443). Auch in der Grundlegung liegt
das Problem mit dem Rationalismus also darin, daß der Zweck,
in bezug auf den die Fähigkeiten und Talente vollkommen sein
sollen, selbst nicht durch den Vernunftbegriff der
Vollkommeheit begründet werden kann. Daß dieser Zweck, wenn
er nicht durch Vernunftbegriffe bestimmt werden kann,
empirisch gegeben sein muß, ist trivial. Es ist
offensichtlich, daß Kant in der zweiten Kritik die
subjektiven (empirischen) Prinzipien noch durch eine weitere
Unterart, die äußeren Bestimmungsgründe (Erziehung,
bürgerliche Verfassung) spezifiziert hat. Ein grundsätzlicher
Unterschied zwischen der Systematik der zweiten Kritik und
der Grundlegung ist indes nicht zu erkennen.24
24 Man könnte meinen, daß Prinzip der Einteilung sei in beiden Schriften einanderes. In der Grundlegung werden die „Prinzipien der Sittlichkeit aus demangenommenen Grundbegriffe der Heteronomie“ eingeteilt. In der zweiten Kritikhingegen befaßt Kant sich mit der Einteilung aller „praktische[n] materiale[n]Bestimmungsgründe im Prinzip der Sittlichkeit“. Damit ist aber nur ein Unterschieddem Namen nicht der Sache nach benannt: Materiale praktische Bestimmungsgründe
181
Satz 7 (Fortsetzung) „so folgt erstlich - tauglich ist“
Kant zieht schließlich die Bilanz aus seiner Klassifizierung
der überkommenen Moraltheorien:
1. Die traditionellen Moraltheorien basieren alle auf
einem materialen Prinzip.
2. Die traditionellen Moraltheorien erschöpfen alle
möglichen materialen Prinzipien.
Nun hatten die Lehrsätze 2-4 bewiesen, daß alle materialen
Prinzipien für die Fundierung einer Ethik ausscheiden und
als Alternative nur ein formales Prinzip in Frage kommt.
Deshalb sagt Kant:
3. Das „formale praktische Prinzip“ ist das einzige,
„welches zum Prinzip der Sittlichkeit, sowohl in der
Beurteilung, als auch in der Anwendung […] tauglich
ist“.
Beiläufig wird hier zwischen „Beurteilung“ und „Anwendung“
unterschieden. Diese Unterscheidung ist eine Disambiguierung
des Begriffs der Willensbestimmung. Genauer sagt Kant, daß
der kategorische Imperativ das einzige Prinzip sei, das
„sowohl in der Beurteilung als auch der Anwendung auf den
menschlichen Willen, in Bestimmung desselben, tauglich ist“.
Der Begriff der Beurteilung bereitet dabei keine
Verständnisschwierigkeiten: Handeln wird auf der Grundlage
des kategorischen Imperatives beurteilt. Diese
Beurteilungsperspektive kann nicht nur der Handelnde selbst,
sondern auch ein Beobachter einnehmen. Dabei wird dann etwa
sind heteronome Bestimmungsgründe.
182
ein Prinzip des Handelns als moralisch legal oder
unmoralisch klassifiziert. ‘Anwendung’ muß vermutlich im
Sinne von ‘Ausführung’ verstanden werden. Demnach wenden wir
den kategorischen Imperativ an, wenn wir unser Handeln nach
Prinzipien ausrichten, die dadurch legitimiert sind.
Anwendung des kategorischen Imperatives impliziert also
seine Handlungswirksamkeit. Hinter der Unterscheidung
zwischen Beurteilung und Anwendung verbirgt sich vermutlich,
was Kant in seinen Vorlesungen in Anlehnung an Baumgarten
[Stellenangabe???] noch das „principium diiudicationis“ und
„principium exicutionis“ nannte. Daß der kategorische
Imperativ ein Prinzip der Beurteilung der Handlung ist, ist
offenbar. Entscheidend ist jedoch, daß er zugleich auch als
ein Prinzip der Ausführung oder Anwendung gedacht werden
muß. Dann und nur dann, wenn der kategorische Imperativ auch
die Ausführung unseres Handelns bestimmen kann und nicht
erst ein empirischer Zweck vorausgesetzt wird, sind
moralisch gute Handlungen real möglich [Stellen aus den
Vorlesungsschriften nachtragen???].
I. Von der Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft
In den §§ 1-8 liefert Kant uns ein „System der Grundsätze“
der reinen praktischen Vernunft. Er beginnt mit einer
Definition oder „Erklärung“ dessen, was praktische
Grundsätze sind (§ 1). Im Anschluß daran beweist er in den
Lehrsätzen 1-3 erstens, warum alle materialen praktischen
Prinzipien empirisch sind (§ 2) zweitens, warum sie als
183
empirische Prinzipien Prinzipien der Selbstliebe sind und
schließlich drittens, warum nur ein formales Prinzip den
Anforderungen einer kategorisch gebietenden Ethik gerecht
wird. Von diesem Ergebnis ausgehend legt Kant sich in den §§
5 und 6 zwei Aufgaben vor: Die erste Aufgabe zielt auf die
Beschaffenheit des Begehrungsvermögens, das durch ein
formales Prinzip bestimmbar ist. Die zweite Aufgabe setzt
bei der Lösung der ersten Aufgabe – ein freier Wille – an
und fragt andersherum, wie das Gesetz beschaffen sein muß,
das einen freien Willen „allein notwendig“ bestimmen kann.
Auf die Lösung – ein formales praktisches Gesetz – folgt die
Exposition dieses formalen Gesetzes in § 7. Beide Aufgaben
führen zusammen mit der Exposition des Moralgesetzes
schließlich auf die Autonomie, die Kant als Prinzip des
Moralgesetzes im vierten und letzten Lehrsatz etabliert.
Mit diesem System der Grundsätze ist das „Erste Haupstück“
allerdings noch nicht abgeschlossen. Ihm sind vielmehr noch
zwei Abschnitte angehängt, die dazu dienen, möglichen
Einwänden und Mißverständnissen vorzubeugen. Der erste
Abschnitt befaßt sich mit der Frage nach der „Deduktion der
Grundsätze der reinen praktischen Vernunft“. Mit dem zweiten
Abschnitt wendet Kant sich einer Kritik von ??? zu, der in
seiner Rezension der Grundlegung??? kritisiert hatte, Kant
würde mit dem Konzept einer Vernunftkausalität die
Prinzipien des theoretischen Vernunftgebrauchs verletzen.
Der Chronologie des Textes folgend soll hier zunächst die
Deduktionsproblematik erörtert werden.
184
In der Überschrift heißt es allgemein, „Von der Deduktion
der Grundsätze“ der praktischen Vernunft (Hervorhebung J. B.).
Im Text wird Kant dann genauer von der Deduktion des „obersten
Grundsatzes der praktischen Vernunft“ sprechen (Hervorhebung
J. B.). Damit wird die Deduktion auf das Moralgesetz
eingeschränkt. Doch weil die Grundsätze den obersten
Grundsatz, das Moralgesetz, in einem noch zu
spezifizierenden Sinn begründen, liegt in dieser Rede kein
Widerspruch. Ich werde hier der Kürze halber von der
„Deduktion des Moralgesetzes“ sprechen.25
Man muß sich zunächst fragen, was Deduktion des
Moralgesetzes überhaupt heißen kann. Die Gültigkeit der
Moralgesetzes als eines synthetischen Satzes a priori läßt sich
nicht empirisch beweisen. In der ersten Kritik hat Kant ein
zweistufiges Verfahren entwickelt, mit dem er die Gültigkeit
der nicht-empirischen Begriffe, der Kategorien des
Verstandes, nachweist. Auf der ersten Stufe, der
„metaphysischen Deduktion“, sucht er zunächst die reinen
Elemente des Denkens auf, um dann auf der zweiten Stufe, der
„transzendentalen Deduktion“, zu beweisen, daß sie für die
Konstitution der Erfahrungsgegenstände notwendig sind (KrV,
B 159).
Die transzendentale Deduktion einer Sache anzustreben
bedeutet, sich nicht mit der Frage nach dem, was der Fall
ist („quid facti“), zufrieden zu geben, vielmehr wird hier nach
der Rechtmäßigkeit des Anspruchs („quid iuris“) gefragt (KrV, B 116).
Wenn wir empirische Begriffe wie „Stein“ oder „Baum“
verwenden, können wir auf die Erfahrung rekurrieren um ihre25 Verweis auf Ludwigs Aufsatz
185
objektive Realität zu beweisen. Die objektive Realität reiner
Begriffe kann dagegen nicht durch Erfahrung bewiesen werden,
weil Erfahrung immer nur zeigen kann, wie ein Begriff durch
Reflexion auf Erfahrung erworben worden ist. Damit aber ist
über die Rechtmäßigkeit der Verwendung nichts gesagt (KrV, B
117). Empirisch läßt sich die Verwendung bloß
„illustrieren“, nicht aber auch „deduzieren“ (KrV, B 126).
Der zentrale Vorwurf, den Kant gegen die Empiristen erhebt,
lautet daher: Wer verkennt, daß reine Begriffe einen „ganz
anderen Geburtsbrief“ als Erfahrungsbegriffe haben, und dann
wie – Locke – eine empirische „Deduktion“ anstrengt und damit
die Frage nach dem Verhältnis zwischen Begrifflichem und
Sinnlichem als eine „questionem facti“ versteht, untergräbt
bereits im Ansatz die Apriorizität der Verstandesbegriffe
und damit ihre Notwendigkeit (KrV, B 119).
Es wäre also zu erwarten, daß Kant, nachdem er in den §§
1-8 die reinen Elemente des notwendig gebietenden
Handlungsgesetzes exponiert hat, nun eine transzendentale
Deduktion folgen läßt, die uns die Rechtmäßigkeit des Anspruches
versichert. Tatsächlich folgt auf jene Exposition ein
Abschnitt, der mit der Überschrift „Von der Deduktion der
Grundsätze der reinen praktischen Vernunft“ betitelt ist
(KpV, V 42 (A 72), Hervorhebung J. B.). Es wird sich jedoch
zeigen, daß Kant eine solche Deduktion nicht liefert, sie
auch explizit nicht zu liefern beabsichtigt und sogar für
unmöglich erklärt. Man könnte meinen, daß sich dies auch
bereits in der Überschrift ankündigt. Dort heißt es ja
gerade nicht „Die Deduktion der Grundsätze“, sondern
186
lediglich „Von der Deduktion der Grundsätze“ (Hervorhebung J.
B.). Mit diesem „Von“ ist ja zunächst nicht mehr gesagt, als
daß in diesem Abschnitt Gedanken zur und über eine Deduktion
der Grundsätze zu erwarten sind. Doch auch in der ersten
Kritik ist das Zweite Hauptstück mit „Von der Deduktion der
reinen Verstandesbegriffe“ überschrieben (Hervorhebung J.
B.), und wie wir wissen, hat Kant in diesem Hauptstück dann
auch die Deduktion der reinen Verstandesbegriffe
durchgeführt. Es ist sicherlich unangemessen, die
Überschrift bereits als die Ankündigung einer Deduktion zu
verstehen. Demnach würde Kant sich dann eine Inkonsistenz
einhandeln, indem er „im Widerspruch zum Titel dieses
Abschnitts [bestreitet], es könne eine Deduktion des
Grundsatzes der reinen praktischen Vernunft geben“
(Beck31995, S. 164). Ebenso verkehrt ist es aber, wie wir es
Kants Sprachgebrauch aus der ersten Kritik entnehmen können,
aus der Überschrift bereits eine Bescheidung des Kantischen
Anspruchs ableiten zu wollen.
1. Absatz, Satz 1- „Diese Analytik tut dar - zur Tat bestimmt“
Kant eröffnet diesen Abschnitt mit einer kurzen
Zusammenfassung eines der zwei zentralen Ergebnisse nicht
nur, der §§ 1-8, sondern, wie er sagt, der gesamten Analytik:
Reine Vernunft ist für sich selbst praktisch.
„[Die] Analytik tut dar, daß reine Vernunft praktisch sein, d. i. fürsich, unabhängig von allem Empirischen, den Willen bestimmen könne – unddieses zwar durch ein Faktum, worin sich reine Vernunft bei uns in derTat praktisch beweiset, nämlich Autonomie in dem Grundsatze derSittlichkeit, wodurch sie den Willen zur Tat bestimmt.“
187
Der erste Teil des Satzes reformuliert die „Folgerung“ aus
dem § 7. Der zweite Teil greift einen Gedanken wieder auf,
den Kant in der Anmerkung desselben Paragraphen ausgeführt
hat. Es bleibt allerdings unklar, welchen Anspruch er
eigentlich erhebt, denn „tut dar“ kann im Sinne eines
Beweises oder auch bloß als phänomenologischer Aufweis
gemeint sein. Es wird sich zeigen, daß ein großer Teil
[stärker???] der Argumentation dieses Abschnitts über die
Deduktion als eine Disambiguisierung des „tut dar“
verstanden werden muß. Bereits der zweite Teil des Satzes
setzt dabei an. Kant formuliert dort positiv, daß der Wille
„durch ein Faktum“, das Moralgesetz, bestimmt ist, wenn
reine Vernunft praktisch ist. Durch das Moralgesetz als
Faktum der Vernunft wird der Wille „zur Tat bestimmt“. Das
Moralgesetz bestimmt uns zur Tat, weil es ein Imperativ ist.
Wenn wir durch diesen Imperativ bestimmt werden, ist reine
Vernunft allein aus sich heraus praktisch, weil der
Imperativ kategorisch gebietet, d. h. keinen empirisch
bedingten Motivationsgrund als gegeben voraussetzt.
Kategorische Verpflichtung, dies hat Kant in den §§ 2-4
bewiesen, ist nur auf der Grundlage eines formalen Gesetzes
möglich. Ein formales Gesetz ist ein reines Vernunftgesetz.
Also ist Vernunft allein aus sich heraus praktisch, wenn sie
den Willen zur moralisch guten Handlung bestimmt.
Satz 2 „– Sie zeigt zugleich - ist anderwärts hinreichend worden“
Das zweite zentrale Ergebnis des Grundsatzkapitels ist, daß
das Faktum der Vernunft mit dem „Bewußtsein der Freiheit
188
unzertrennlich, ja mit ihm einerlei sei“. Zu diesem Ergebnis
war Kant in der Anmerkung des § 6 und im Lehrsatz IV des § 8
gelangt. In der Anmerkung des § 6 hatte Kant bewiesen, daß
erst durch den uneingeschränkten Sollensanspruch des
Moralgesetzes uns unsere absolute Freiheit bewußt wird.
Uneingeschränktes Sollen impliziert uneingeschränktes
Können, d. i. absolute oder wie Kant sie auch nennt
„transzendentale“ (nicht nur relative) Freiheit. Deshalb ist
das Moralgesetz, wie Kant in der Vorrede sagt, die „ratio
cognoscendi“, der Bewußtseinsgrund, der transzendentalen
Freiheit (Vorrede???). Kant sagt nicht, moralisch gutes
handeln und freies handeln sind vollkommen identisch. Er
sagt, das Faktum der Vernunft sei „einerlei mit dem Bewußtsein
[der Freiheit]“. Damit ist gerade nicht impliziert, daß
Handeln dann und nur dann frei ist, wenn es moralisch gut
ist. Hätte Kant dies behauptet, wäre moralisch böses Handeln
begrifflich unmöglich. Faktum der Vernunft und Freiheit sind
indes nur insofern „einerlei“, als wir uns nicht der
moralischen Verbindlichkeit bewußt werden können, ohne uns
dabei auch zugleich unseres Könnens, unserer absoluten
Freiheit bewußt zu sein.
Kant legt sich nun die Frage vor, wie dieser absolute
Freiheitsbegriff mit den Ergebnissen seiner theoretischen
Philosophie vereibar ist. Der Wille ist das Kausalvermögen
des Menschen mit dem er in der empirischen Welt wirkt und
sich „gleich anderen wirksamen Ursachen, notwendig den
Gesetzen der Kausalität unterworfen erkennt“. Durch das
Moralgesetz wird sich der Mensch nun aber nicht nur als ein
189
bedingtes Wesen, sondern als ein „Wesen an sich selbst“
bewußt, weil es nicht nur unter Voraussetzung von
Naturursachen, sondern auch durch ein formales
Vernunftprinzip handeln kann. Nun ist dieses Bewußtsein von
uns als „intelligible“ Wesen aber, wie Kant sich beeilt zu
sagen, keine „besonder[e] Anschauung“. Wäre es eine
besondere Anschauung, müßte es eine intellektuelle
Anschauung vom Übersinnlichen sein. Doch genau diese hatte
Kant in der ersten Kritik aus erkenntniskritischen Gründen
ausgeschlossen. Kant will also nur behaupten, daß wir durch
das Moralgesetz notwendig ein Bewußtsein der Freiheit haben
und das Freiheit „wenn sie uns beigelegt wird, uns in eine
intelligibele Ordnung der Dinge versetzt“ (Hervorhebung J.
B.). Der Beweis dafür, daß Freiheit „wenn sie uns beigelegt
wird, uns in eine intelligibele Ordnung versetzte – so Kant
weiter – ist anderwärts hinreichend [erbracht] worden“.
Dieses „anderwärts“ wird nicht weiter spezifiziert.
Vermutlich ist damit der „dritte Abschnitt“ der Grundlegung
angesprochen. Dort entwickelt er zunächst ein analytisches
Argument entwickelt, warum wir ein Vernunftwesen mit einem
Willen auch als frei denken müssen (GMS, IV 448).
Anschließend führt er auf der Grundlage seiner
erkenntniskritischen Differenz von Ding an sich und
Erscheinung seine Theorie der „zwei Standpunkte“ ein.
Demnach müssen wir uns sowohl als Mitglieder der
„Sinnenwelt“ als auch der „intellegibelen Welt betrachten
(GMS, IV 452). Schließlich argumentiert er dafür, daß „wenn
wir uns als frei denken“, wir uns in unserem Wirken als
190
unabhängig von aller Naturkausalität denken und uns so „als
Glieder in die Verstandeswelt [versetzen]“ (GMS, IV 453).
2. Absatz „Wenn wir nun damit - indem sie vielmehr alle Aussicht dahin
gänzlich abschnitt“
Das Erkenntnisverhältnis von Freiheit und Moralgesetz ist
der Grund, warum Kant sich nun mit einem „merkwürdige[n]
Kontrast“ zum „analytischen Teil“ der ersten Kritik befaßt. Der
„analytische Teil“ der ersten Kritik sei von „reiner sinnlicher
Anschauung“ ausgegangen. Bevor wir uns dem Kontrast im
einzelnen zuwenden, muß man sich fragen, was Kant eigentlich
meint, wenn er hier von dem „analytischen Teil“ der ersten
Kritik spricht. Die transzendentale Ästhetik, in der Kant seine
Lehre von den reinen Anschauungsformen entwickelt, gehört
zur „Transzendentalen Elementarlehre“ und nicht etwa zur
„Transzendentalen Analytik“. Es ist naheliegend, daß Kant
mit der Rede vom „analytischen Teil“ die „Transzendentale
Analytik“ meint. Dann würde er allerdings, „Transzendentale
Elementarlehre“ und „Transzendentalen Analytik“
ineinanderschieben. Eine solche „Transzendentale
Elementarlehre“ gibt es in der zweiten Kritik nicht. Schon
deshalb gibt Kants Äußerung (wo???Kritische Beleuchtung???),
er habe die Gliederung der ersten Kritik in der zweiten
Kritik umgekehrt, Rätsel auf (s. dazu oben???).
Kommen wir auf den Kontrastpunkt zwischen erster und zweiter
Kritik zurück. In der Kritik der reinen Vernunft waren die
Anschauungsformen Raum und Zeit „das erste Datum“ und haben
„Erkenntnis a priori“ in bezug auf Erfahrungsgegenstände
191
erst ermöglicht. Wenn Kant in diesem Zusammenhang von
Erkenntnis a priori spricht, ist damit synthetische Erkenntnis
a priori gemeint, weil es für analytische Erkenntnis a
priori (Begriffsanalyse) nicht der reinen Anschauungsformen
bedürfte. Kurz: Im „analytischen Teil“ der KrV waren die
Anschauungsformen Raum und Zeit die Ermöglichungsbedingungen
der synthetisch-apirorischen Grundsätze des reinen
Verstandes. Die Verknüpfung des Subjektbegriffs mit dem
Prädikatbegriff in einem synthetisch-apriorischen Satz wird
durch ein Drittes, nämlich die Anschauung legitimiert.
Deshalb sagt Kant, synthetische Grundsätze a priori können
nur in bezug „auf Gegenstände möglicher Erfahrung
stattfinden“. Zugleich hatte Kant aber auch bewiesen, daß
„über die Erfahrungsgegenstände hinaus […] der spekulativen
Vernunft alles Positive der Erkenntnis mit völligem Rechte
abgesprochen [werden muß]“. Kant betont hier „Erkenntnis“, weil
er nicht auch implizieren will, daß wir uns nicht
erfahrungstranszendente Gegenstände „denken“ können
(Hervorhebung J. B.). Der Begriff eines „Noumenon“, eines
reinen Verstandeswesens, kann widerspruchsfrei gedacht, wenn
auch nicht erkannt werden. Wir haben, wie Kant auch sagt,
keine „Aussicht“, keine Theorie dieser Gegenstände. Ein
ausgezeichneter Fall eines solchen Verstandeswesens ist der
Begriff der transzendentalen Freiheit. Er ist
erfahrungstranszendent und kann daher nicht positiv bestimmt
werden. Kant konnte aber beweisen, daß er mit den
synthetisch-apriorischen Grundsätzen widerspruchsfrei
vereinbar und also denkbar ist.
192
3. Absatz „Dagegen gibt das moralische Gesetz - erkennen läßt“
Auch das moralische Gesetz gibt uns keine „Aussicht“ auf
eine „Verstandeswelt“, eine Welt erfahrungstranszendenter
Gegenstände. Doch – und darin liegt nun der entscheidende
Unterschied zur ersten Kritik – das Moralgesetz gibt uns ein
theoretisch „unerklärliches Faktum an die Hand, das auf eine
reine Verstandeswelt Anzeige gibt, ja diese so gar positiv
bestimmt“. Durch das Moralgesetz werden wir uns bewußt, daß
wir nicht nur allein auf der Grundlage von empirisch
bedingten, sondern auch von unbedingten Vernunftgründen
handeln können. Auf diese Weise gibt das Moralgesetz eine
„Anzeige“ darauf, daß sich die Welt nicht allein auf
Erfahrungsgegenstände reduzieren läßt, sondern wir uns davon
unabhängig bestimmen können. Dieses Faktum bestimmt diese
Unabhängigkeit „positiv“, weil es ein reines Vernunftgesetz
formuliert und damit „ein Gesetz [der reinen Verstandeswelt]
erkennen läßt“. Hier deutet sich schon die Umkehr der
Argumentationsstrategie aus der Grundlegung an. Dort hatte
Kant gesagt, daß die Freiheit uns auf etwas „Drittes“
hinweist (GMS, 447). Dieses Dritte, so stellt sich heraus,
ist die Verstandeswelt (GMS, 451 f.). Hier in der KpV ist es
nun das Moralgesetz, das „auf eine reine Verstandeswelt
Anzeige gibt“.
4. Absatz „Dieses Gesetz - zu erteilen“
Nachdem Kant das Moralgesetz als ein Gesetz der
Verstandeswelt ausgezeichnet hat, bestimmt er nun das
193
Verhältnis von der Verstandeswelt zur Sinnenwelt. Dazu führt
er zunächst seinen Naturbegriff ein:
Wie man sieht umfaßt Kants Naturbegriff sowohl das Sinnliche
als auch das Übersinnliche. Das Moralgesetz soll der
„sinnlichen Natur […] die Form […] einer übersinnlichen
Natur verschaffen, ohne doch jener ihrem Mechanism Abbruch
zu tun“. Wie soll das möglich sein? Kant wird oft als Zwei-
Welten-Theoretiker verstanden. Demnach vertrete er die
Existenz zweier ontologisch distinkter Welten, einer
Sinnenwelt, in der alle Ereignisse prädeterminiert sind und
einer Verstandeswelt, in der alle Ereignisse durch
Freiheitskausalität bestimmt sind. Folgt man der gänigen
Kritik, steht Kant mit dieser Theorie vor folgendem Dilemma:
Entweder er hält an einem universellem Prädeterminismus und
absoluter Freiheit fest und kann dann nicht erklären, wie
beides in einer Welt möglich sein soll oder er hält daran
fest, daß Freiheitskausalität in der Sinnenwelt möglich ist
und muß damit den Prädeterminismus einschränken. Kant sagt
an dieser Stelle ausdrücklich, daß das Moralgesetz der
Sinnenwelt die Form der Verstandeswelt vorschreibt. Mit anderen
Natur (Existenz der Dinge unter
Gesetzen)
Sinnliche Natur von Vernunftwesen
(Existenz unter empirisch bedingten Gesetzen =
Heteronomie)
Übersinnliche Natur von Vernunftwesen
(Existenz nach Gesetzen, die von aller empirischen
Bedingung unabhängig sind = Autonomie)
194
Worten muß es also möglich sein, in der Sinnenwelt dem
Moralgesetz entsprechend zu handeln. Wir müssen die
Sinnenwelt so denken können, daß in ihr Handeln nach dem
Moralgesetz möglich ist. Das bedeutet auch, daß der
„Mechanism“ der Sinnenwelt nicht so beschaffen sein kann,
daß er grundsätzlich ein Handeln nach reinen Vernunftgründen
ausschließt. Kants epistemischer Prädeterminismus darf also
nicht so verstanden werden, daß alle Ereignisse überhaupt
prädeterminiert sind. Vielmehr können wir widerspruchsfrei
eine Kausalität aus Freiheit denken, die im Fall endlicher
Vernunftwesen Ursache der Handlungen ist. Das bedeutet auch,
daß die Rede von einem universellen Prädeterminismus
irreführend ist. Er muß vielmehr auf die Teilklasse der
Gegenstände theoretischer Erkenntnis eingeschränkt werden
(s. dazu Bojanowski 2006, Kap.???).
Hier weiter: Den Unterschied zwischen den beiden Naturen in die vorherige
Passage mit einabauen. Die Rede vom höchsten Gut erklären!
Gesetze, bei denen die Existenz der Gegenstände von der
Erkenntnis abhängt, sind praktische Gesetze. Das Moralgesetz
ist das einzige praktische Gesetz (§4,7???). Also ist das
Moralgesetz und damit die Autonomie das „Grundgesetz einer
übersinnlichen Natur und einer reinen Verstandeswelt“. Kant
greift in diesem Zusammenhang nun [Leibnitz???]
Unterscheidung von „natura archetypa“ und „natura ectypa“
auf. [Kontrastieren wie bei Leibnitz wie bei Kant???]. Die
Verstandeswelt ist eine natura arechtypa, weil sie das
Urbild enthält nach der die Sinnenwelt als natura ectypa
gestaltet oder „nachgebildet“ werden soll.
195
Um zu beweisen, daß unserem Willen tatsächlich die Idee der
Verwirklichung einer Verstandeswelt in der Sinnenwelt
zugrunde liegt, verweist Kant auf die Selbsterfahrung. Jeder
könne dies durch „Aufmerksamkeit auf sich selbst“
feststellen.
5. und 6. Absatz Satz 1-5 „Daß diese Idee - und so in allen übrigen
Fällen“
Kant gibt nun zwei Beispiele, anhand derer er zeigen möchte,
worauf wir genau aufmerksam werden, wenn wir uns bei unserer
Willensbildung selbst beobachten. Das erste Beispiel
betrifft das Lügenverbot, das zweite das Selbstmordverbot.
Er setzt bei der Maximenbildung an. Das Kriterium, woran wir
die praktische Gültigkeit der Maximen messen, ist ihre
mögliche Tauglichkeit als „allgemeines Naturgesetz“. „Natur“
muß hier in dem oben erläuterten, weiten Sinne als „Existenz
der Dinge unter Gesetzen“ verstanden werden muß. Fall der
wahren oder falschen Aussage, „nötigt“ uns das Moralgesetz
zur Wahrhaftigkeit. Denn, so Kants Argument, „Aussagen für
beweisend und dennoch als vorsätzlich unwahr gelten zu
lassen“ ist widersprüchlich und kann deshalb „nicht mit der
Allgemeinheit eines Naturgesetzes bestehen“. [Bearbeiten, WK-
Test???]
Komplizierter ist der zweite Fall. Daß es uns nicht erlaubt
ist, „willkürlich“ über das eigene Leben zu disponieren,
wird deutlich, wenn wir uns fragen, „ob sich eine Natur nach
einem Gesetze [erhalten] könne“, die es der Willkür der
Individuen überläßt, ihr Leben zu beenden. Warum stellt Kant
196
diese Frage? Wie kommt die Erhaltung der Natur überhaupt ins
Spiel? Vermutlich wäre Kants Antwort in etwa diese: Der
Gesetzesbegriff impliziert Universelle Gültigkeit. In einer
Naturordnung, in der es den Individuen prinzipiell möglich
ist, sich vollständig zu vernichten, verlöre das Moralgesetz
seine Anwendung und damit seine Gültigkeit. Das widerspricht
aber der Voraussetzung ein universelles Gesetz zu sein.
Vermutlich sagt Kant deshalb, daß niemand sich willkürlich
töten dürfe, weil damit „keine bleibende Naturordnung“
gewährleistet wäre. „[U]nd so in allen übrigen Fällen“,
setzt Kant hinzu, womit einmal mehr deutlich wird, daß er
keine Schwierigkeiten bei der Anwendung des kategorischen
Imperativs gesehen hat. [Bearbeiten, WW-Test??? Welcher Sinn von
„Natur“???]
Satz 6- „Nun ist aber in der wirklichen Natur - als reiner vernünftiger Wesen
ansehen“
Kant wird nun die objektive Realität in praktischer Hinsicht
des Begriffs einer „übersinnlichen Natur beweisen“. Dabei
gesteht er zunächst zu, daß der Mensch in der „wirklichen
Natur“ nicht immer schon „von selbst“ auf der Basis von
moralisch guten Maximen handelt. Vielmehr sind wir immer
auch von „Privatneigungen“ bestimmt. Diese Privatneigungen
sind empirisch gegeben und es läßt sich von ihnen ausgehend
eine Welt erkennen, die durch „pathologische (physische)
Gesetze“ bestimmt ist, nicht aber eine Welt, die „durch
unseren Willen nach reinen praktischen Gesetzen möglich
[ist]“.
197
Obwohl das Moralgesetz nicht wie die Neigungen empirisch
gegeben ist und sich nicht als empirisches Faktum in der
Sinnenwelt aufzeigen läßt, will Kant dennoch beweisen, daß
ihm objektive Realität, d. h. ein Inhalt, zukommt. Das
Moralgesetz, dessen wir uns unmittelbar bewußt sind,
impliziert, daß „durch unseren Willen zugleich eine
Naturordnung entspringen müßte“. Wenn also, wie Kant meint,
die übersinnliche Naturordnung tatsächlich ein „Objekt
unseres Willens, als reiner Vernünftiger Wesen“ darstellt,
dann kommt diesem Begriff „objektive Realität“ zu, nicht
objektive Realität in theoretischer sondern „in praktischer
Beziehung“. Die Frage ist also, was „objektive Realität in
praktischer Beziehung“ bedeutet?
In der Analytik der KrV nennt Kant zwei Bedingungen, die
erfüllt sein müssen, damit eine Erkenntnis „objektive
Realität“ beanspruchen kann. Zum einen muß sie „sich auf
einen Gegenstand beziehen“ und zum anderen muß dieser, auf
den sie sich bezieht, „Bedeutung und Sinn“ haben (KrV, B
194). Die objektive Realität empirischer Begriffe ist
unproblematisch, „weil wir hier jederzeit die Erfahrung bei
der Hand haben […]“ (KrV, B 116 f.). Dagegen kann den nicht-
empirischen, reinen Verstandesbegriffen ihre objektive
Realität nicht verschafft werden, indem man auf die
empirische Anschauung bezug nimmt. Denn die Notwendigkeit und
nicht etwa bloße Regelmäßigkeit, die diese Begriffe
beanspruchen, läßt sich prinzipiell nicht durch die
Erfahrung beweisen (KrV, B 123). Kants entscheidende
Einsicht in seiner theoretischen Philosophie besteht nun
198
darin, daß die objektive Realität der reinen Begriffe sich
nicht durch Objekte der empirischen Anschauung beweisen
läßt, wohl aber dadurch, daß sie überhaupt erst
Objekterkenntnis ermöglichen (KrV, B 125). Die reinen
Verstandesbegriffe sind also insofern nicht „ganz leer,
nichtig und ohne Bedeutung“ als sie Bedingungen der
Möglichkeit der Erfahrungsgegenstände überhaupt sind. Jenes
„Dritte“, das die objektive Realität des Begriffes verbürgt,
ist bei den reinen Verstandesbegriffen daher mögliche
Erfahrung (KrV, B 794, Hervorhebung Kant).
Nun kann Kant für den Begriff der übersinnlichen Natur nicht
auf wirkliche oder mögliche Erfahrung rekurrieren, um ihm
damit seine objektive Realität zu verschaffen. Was einem
Begriff in praktischer Hinsicht objektive Realität verschafft
ist vielmehr die Tatsache, daß er ein „Objekt unseres
Willens“ ist. Daß das Moralgesetz unseren Willen bestimmt,
„beweist - wie Kant oben bereits ausgeführt hat - die
gemeinste Aufmerksamkeit auf sich selbst“. Kant hatte dann
bewiesen, daß das Moralgesetz auch die Idee der
Verwirklichung einer übersinnlichen Natur impliziert. Damit
kann er nun zu Recht schließen, daß dem Begriff der
übersinnlichen Natur objektive Realität in praktischer
Hinsicht zukommt.
7. Absatz „Der Unterschied also - reine praktische Vernunft genannt werden
kann“
Kant faßt nun pointiert den Unterschied zwischen sinnlichen
und übersinnlichen Gesetzen des Willens zusammen. Bei den
199
sinnlichen Gesetzen sind „die Objekte Ursachen der
Vorstellungen“, die den Willen in seinem Wirken bestimmen.
Bei den übersinnlichen Gesetzen dagegen ist der Wille selbst
als vernunftfähiges Kausalvermögen Ursache von den Objekten.
Der Grund des Wirkens liegt in der Vernunft selbst, so daß
man mit Recht sagen kann, daß wir in diesem Fall von der
„reine[n] praktische[n] Vernunft“ bestimmt sind. Was ist
gemeint, wenn von Objekten als Ursachen bzw. Wirkungen die
Rede ist? Als Ursachen von Vorstellungen sind empirische
Objekte gemeint, wie etwa Schokolade, mit der ich in meinem
Leben irgendwann in Kontakt gekommen sein muß, um die
Vorstellung davon begehrens- oder verabschenswert zu finden.
Als das Objekt der reinen praktischen Vernunft muß hier wohl
die Verwirklichung der Idee einer übersinnlichen Natur bzw.
einer Verstandeswelt gelten. Genau sie bezeichnet Kant zuvor
ausdrücklich als „Objekt unseres Willens“.
8. Absatz „Die zwei Aufgaben also – sind sehr verschieden“
Nachdem Kant die selbstgenetische Leistung der reinen
praktischen Vernunft in bezug auf die Objektkonstitution
herausgearbeitet hat, markiert er zunächst thesenartig, den
unterschiedlichen Aufgabenbereich von theoretischer und
praktischer Philosophie, um im Folgenden dann diesen
Unterschied weiter auszuführen. Theoretische Philosophie, so
schreibt er, soll die Frage beantworten, „wie reine Vernunft
[…] a priori Objekte erkennen [kann]. In der praktischen
Philosophie dagegen ist das Problem, „wie [die reine
Vernunft] unmittelbar ein Bestimmungsgrund des Willens […]
200
sein könne“. Sowohl in der theoretischen Philosophie als
auch in der praktischen Philosophie geht es um die
Möglichkeit von Grundsätzen a priori. Nur sind sie in der
theoretischen Philosophie auf die „Erkenntnis“ und in der
praktischen auf die „Bestimmung des Willens“, das Handeln,
gerichtet.
9. Absatz „Die erste - möglich zu machen“
(i) Die Aufgabe der theoretischen Philosophie:
Die Frage, „wie reine Vernunft […] a priori Objekte erkennen
[kann] hatte Kant in der ersten Kritik dahingehend beantwortet,
daß Erkenntnis nicht über sinnliche Anschauung hinausgeht
und auch nicht-empirische Erkenntnis nur in bezug auf diese
Empirie möglich ist. Die synthetischen Grundsätze a priori,
die Kant in der ersten Kritik formuliert, können daher „nichts
weiter ausrichten, als Erfahrung […] möglich zu machen“.
10. Absatz „Die zweite - gar nicht“
(ii) Die Aufgabe der praktischen Philosophie:
In der praktischen Philosophie wird nicht die Frage nach
apriorischer Erkenntnis beantwort, vielmehr ist das Problem,
wie Kant es thesenartig formuliert hatte, „wie [die reine
Vernunft] unmittelbar ein Bestimmungsgrund des Willens […]
sein könne“. Kant erläuterte in diesem Zusammenhang auch
noch einmal genauer, was es heißt, daß ein Bestimmungsgrund
„unmittelbar“ also nicht unter Voraussetzung eines
empirischen Begehrens den Willen bestimmt. Demnach soll der
„Gedanke der Allgemeingültigkeit“ und damit eine reine
201
Vernunftvorstellung hinreichend sein, um das Objekt (die
Idee der übersinnlichen Natur) hervorzubringen (vgl. Absatz
8). Dies aber ist nichts anderes als eine nicht-empirische,
apriorische Willensbestimmung. Die Frage der zweiten Kritik
ist also, ob unsere Vernunft die Maxime unseres Willens „nur
vermittelst empirischer Vorstellung“ oder auch durch einen
„Begriff der reinen Vernunft (von der Gesetzmäßigkeit
derselben [d. i. die Maxime] überhaupt)“ bestimmen kann.
Kant schließt ausdrücklich die Frage aus, „[o]b die
Kausalität des Willens zur Wirklichkeit der Objekte
zulange“. Ob wir auch in der Lage sind, die Idee der
übersinnlichen Natur in der Sinnenwelt zu verwirklichen, ist
keine Frage der praktischen Philosophie. „Nur auf die
Willensbestimmung und den Bestimmungsgrund der Maxime
desselben, als eines freien Willens, kommt es hier an, nicht
auf den Erfolg“. Kants praktische Philosophie fragt nur
danach, „ob und wie reine Vernunft praktisch, d. i.
unmittelbar willensbestimmend, sein könne“.
Trifft Kants Theorie also der Vorwurf der Gesinnungsethik?
Ist es ausreichend, daß wir eine reine Gesinnung haben und
uns um die Konsequenzen der Handlung nicht zu bekümmern
brauchen? Entscheidend ist wohl, daß Kant hier nicht über
die Aufgaben des Handelnden spricht, sondern über die
Aufgabe einer Ethik als nicht-empirischer
Fundamentaltheorie. A priori läßt sich nur sagen, wie die
Maximen des Handelns beschaffen sein sollen. Kant ist davon
überzeugt, daß diese Art des Erfolges, die Gesetzmäßigkeit
202
der Maximen, jederzeit in der Macht des Handelnden steht.
[Bearbeiten: Wille/ Wunsch s. Höffe, KR]
Absatz 11 „In diesem Geschäfte kann sie – gar wohl verteidigen“
Bei der Frage, „ob und wie reine Vernunft praktisch […] sein
könne“ muß eine Moraltheorie „von reinen praktischen
Gesetzen und deren Wirklichkeit anfangen“. Anders als die
theoretische Philosophie fängt sie nicht mit der Anschauung,
sondern mit dem Begriff der Freiheit an. Der Begriff der
Freiheit ist der „Begriff ihres [d. i. der praktischen
Gesetze] Daseins in der intelligibelen Welt“. Denn der
Begriff der Freiheit „bedeutet nichts anderes“ als eine
intelligible Welt in der alles nach reinen praktischen
Gesetzen wirkt. Die praktischen Gesetze sind nur „in
Beziehung auf Freiheit des Willens möglich“, d. h. ???
Wenn man einen freien Willen voraussetzt, dann ist er auch
notwendig dem Moralgesetz unterworfen (Ergebnis von § 6).
Andersherum ist die Freiheit des Willens notwendig, weil das
Moralgesetz als „praktische[s] Postulat“ notwendig ist.
Wie die Freiheit möglich ist läßt sich nicht weiter
erklären. Erklären heißt etwas auf Ursachen oder Bedingungen
zurückzuführen. Freiheit im transzendentalen Sinne ist
unbedingt. Deshalb ist eine Erklärung der Freiheit als
Erstursächlichkeit prinzipiell ausgeschlossen. Was Kant aber
im Rahmen der dritten Antinomie in der ersten Kritik bewiesen hat,
ist daß sich Freiheit als Erstursächlichkeit
widerspruchsfrei denken läßt und nicht in Konflikt gerät mit
den transzendentalen Grundsätzen der Naturerfahrung.
203
12. Absatz, Satz 1 „Die Exposition - gezeigt worden“
Was Kant in bezug auf das Moralgesetz bisher geleistet hat,
bezeichnet er nun als die „Exposition des obersten
Grundsatzes“. Die Exposition liefert (i) eine inhaltliche
Bestimmung, (ii) Abgrenzung gegen andere praktische
Grundsätze. Die inhaltliche Bestimmung hatte ergeben, daß es
ein formales und apriorisches Prinzip ist. Die Abgrenzung zu
den anderen praktischen Grundsätzen besteht darin, daß sie
alle auf einem materialen Prinzip beruhen und damit
letztlich alle dem Heteronomieverdikt zum Opfer fallen
müssen.
Satz 2-5 „Mit der Deduktion - angesehen werden kann“
Nach der inhaltlichen Bestimmung und negativen Abgrenzung
könnte man nun eine „Rechtfertigung“, eine „Deduktion“ des
obersten Grundsatzes erwarten. Denn auch der Grundsatz der
Moralphilosophie ist ein „synthetische[r] Satz a priori“. In
bezug auf diese Sätze hatte Kant in der theoretischen
Philosophie verlangt, daß sie einer Rechtfertigung bedürfen,
weil dem Subjektbegriff ein Prädikat zugesprochen wird, das
nicht im Subjektbegriff bereits enthalten ist. Für
synthetische Sätze a posteriori liefert die empirische Erfahrung
einen Rechfertigungsgrund der Verknüpfung von Subjekt und
Prädikatbegriff. Die Rechtfertigung von synthetischen Sätzen
a priori gelang Kant nicht in bezug auf wirkliche, sondern
mögliche Erfahrung (s. oben???). Nur weil wir die
Erfahrungsgegenstände gemäß dieser synthetisch-apriorischen
204
Grundsätze beurteilen, können sie „als Gegenstände der
Erfahrung erkannt werden“. Die theoretischen Grundsätze sind
insofern Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung. Der nur
implizite aber entscheidende Zwischenschritt ist, daß wir
tatsächlich wahre oder falsche Erkenntnisse machen. Von
diesem Faktum geht er aus und kann von dort auf seine
Ermöglichungsbedingungen zurückschließen. Kant will nun
erklären, warum er „[e]inen solchen Gang […] mit der
Deduktion des moralischen Gesetzes nicht nehmen [kann]“:
„[Das Moralgesetz] betrifft nicht das Erkenntnis von der Beschaffenheitder Gegenstände, die der Vernunft irgend wodurch anderwärts gegebenwerden mögen, sondern ein Erkenntnis, so fern es der Grund von derExistenz der Gegenstände selbst werden kann und die Vernunft durchdieselbe Kausalität in einem vernünftigen Wesen hat, d. i. reineVernunft, die als ein unmittelbar den Willen bestimmendes Vermögenangesehen werden kann.“
In der Theorie sind uns Gegenstände gegeben, die nur
vermittels der Grundsätze des Verstandes bestimmt bzw.
erkannt werden können. Deshalb muß „alle mögliche Erfahrung
diesen Gesetzen angemessen sein […]“. Im Gegensatz dazu
werden durch das Moralgesetz keine Gegenstände erkannt, die
der Vernunft „irgend wodurch anderwärts gegeben werden“,
vielmehr ist das moralische Gesetz eine Erkenntnis, die
selbst „der Grund von der Existenz der Gegenstände“ werden
kann. Kurz: Während das theoretische Erkenntnisvermögen „für
sich selbst gar nichts erkennt“ und bei der Erkenntnis immer auf
etwas sinnlich Gegebenes angewiesen ist (KrV, B 145), bringt die
praktische Vernunft den Gegenstand, den Zweck des Willens (oder
nicht auch die Handlung???) selbsttätig hervor. Wieso wird
damit eine Deduktion unmöglich gemacht? Wenn der Grundsatz
205
auch zugleich der Gegenstand des Willens ist, sind Grundsatz
und Gegenstand nicht voneinander unterschieden. Also kann
bereits die Frage der Übereinstimmung von Gegenstand und
Grundsatz, überhaupt nicht entstehen. Zudem kann, wenn kein
Gegenstand gegeben ist, auch keine empirische Erkenntnis
entstehen, und wenn nicht das Faktum empirischer Erkenntnis
vorausgesetzt werden kann, ist es auch nicht möglich auf
deren Ermöglichungsbedingungen zurückschließen.
Absatz 13 Satz 1 „Nun ist aber - angenommen werden“
Auch wenn also die Frage von Übereinstimmung des Grundsatzes
und Gegenstand überhaupt nicht entstehen kann, kann man
dennoch nach einem Rechtfertigungsgrund für die Annahme des
reinen praktischen Vernunftvermögens selbst fragen. Welchen
Grund haben wir, praktische Erkenntnis als die Fähigkeit zu
bestimmen, „Grund von der Existenz der Gegenstände zu sein“?
Kant wird nun erklären, warum er auch in bezug auf die
Annahme dieses Grundvermögens prinzipiell eine Deduktion
schuldig bleiben muß: Die Fähikgeit „Grund von der Existenz
der Gegenstände zu sein“, ist ein „Grundvermögen“. Ein
„Grundvermögen“ ist ein Anfangspunkt dessen „Möglichkeit […]
durch nichts begriffen werden [kann]“, weil die Möglichkeit
von etwas zu begreifen, heißt, die Gründe bzw. Ursachen
anzugeben. Dennoch dürfen Grundvermögen nicht „erdichtet“
werden. Wie kann ihre Annahme gerechtfertigt werden?
Satz 2-3 „Daher kann uns - unmöglich gehalten werden kann“
206
Im theoretischen Vernunftgebrauch war es die Erfahrung, die
Kant dazu berechtigte Grundvermögen anzunehmen. „Dieses
Surrogat, statt einer Deduktion, aus Erkenntnisquellen a
priori, empirische Beweise anzuführen, ist uns hier aber in
Ansehung des reinen praktischen Vernunftvermögens auch
benommen“. Die Alternative, die Kant aufzeigt ist: (a) eine
Deduktion aus Erkenntnisquellen a priori und (b) eine
Deduktion auf der Basis von empirischen Beweisen. Meint
Kant, daß er in der KrV nicht den ersten, sondern den
zweiten Weg eingeschlagen hat? Würde das nicht gerade seiner
ausdrücklichen Position der ersten Kritik widersprechen in der
er erklärt hatte, daß die in den Verstandeskategorien
implizierte Notwendigkeit keine „empirische“, sondern nur
eine transzendentale Deduktion erlaube??? Offensichtlich ist
jedenfalls, warum Kant empirische Beweise in bezug auf die
reine praktische Vernunft nicht gelten lassen kann. Wenn
etwas durch die Erfahrung bewiesen wird, dann muß es seiner
Möglichkeit nach auch „von Erfahrungsprinzipien abhängig
sein“. Doch reine praktische Vernunft ist gerade, wie Kant
oben gezeigt hatte in der Genese ihres Gegenstandes und der
Hervorbringung der Handlung von Erfahrungsprinzipien
unabhängig. Deshalb muß ein empirischer „Beweisgrund“ in
bezug auf dieses Grundvermögen ausscheiden. Die Frage
bleibt, ob er auch in bezug auf die reine theoretische Vernunft
ausscheidet. Kant läßt das offen. Weder hebt er „rein“ noch
„praktisch“ hervor, so daß es naheliegt, daß nur beide
Begriffe zusammen hinreichend sind um eine empirische
Deduktion auszuschließen [Absätze zu „Grundvermögen“ Überarbeiten???]
207
Satz 4-5 „Auch ist das moralische Gesetz - steht dennoch für sich selbst fest“
Die Kehrseite dessen, daß uns keine Gegenstände gegeben sind,
in bezug auf die das Moralgesetz seine Gültigkeit erhalten
könnte, ist, daß der Grundsatz, das Moralgesetz, selbst
„gegeben“ ist, nicht als Gegenstand der Erfahrung, sondern
„als ein Faktum der reinen Vernunft, dessen wir uns a priori
bewußt sind und welches apodiktisch gewiß ist“. Gerade
deshalb scheidet auch eine empirische Deduktion, selbst wenn
man „auf die apodiktische Gewißheit Verzicht tun wollte“
prinzipiell aus. Kant kommt daher zu dem Schluß, daß sich
die „objektive Realität des moralischen Gesetzes durch keine
Deduktion […] bewiesen werden [kann]“ [hier noch einmal alle
Gründe zusammenfassen???]
14. Absatz „Etwas anderes aber und ganz Widersinnisches - zuerst objektive
Realität“
Nachdem Kant erklärt hat, warum eine Deduktion des
Moralgesetzes unmöglich ist, wird er statt dessen die
objektive Realität der Freiheit in praktischer Hinsicht
deduzieren. Als Deduktionsgrund dient ihm dazu nicht das
Faktum der empirischen Erkenntnis, sondern das Moralgesetz
als Faktum der reinen Vernunft. Das Moralgesetz wird damit
„selbst zum Prinzip der Deduktion eines unerforschlichen
Vermögens […], welches keine Erfahrung beweisen [kann]“.
Dieses Verfahren wird von Kant als „widersinnisch“
bezeichnet. Es ist nicht etwa „widersinnisch“, weil Kant
sich über die Widersprüchlichkeit seiner Theorie vom „Faktum
208
a priori“ im Klaren ist und daher auch seiner weiteren
Argumentation grundsätzlich mißtrauen würde (Prauss, 1983, 68 f.),
vielmehr ist dieses Verfahren den Erwartungen zuwider.
Erwarten würde man, daß Kant zuerst ein Argument für die
Freiheit als Erstursächlichkeit präsentiert, die ja gerade
die Voraussetzung für kategorische Verpflichtung ist, um dann
mit Recht darauf schließen zu können, daß wir auch
kategorischen Gesetzen unterworfen sind. Genau in dieser
Reihenfolge hatte Kant noch in der Grundlegung argumentiert.
Doch nun stellt er diese Argumentationsstrategie aus der
Grundlegung buchstäblich auf den Kopf und das Moralgesetz wir
„umgekehrt“ „selbst zum Prinzip der Deduktion“.
Weil Kant in der Grundlegung tatsächlich in dieser
naheliegenden Weise argumentiert und damit versucht hatte,
den kategorischen Imperativ zu deduzieren, ist es auch
wahrscheinlich, daß er sich auf seine eigene Deduktion aus
dem „dritten Abschnitt Grundlegung bezieht (GMS, 446-455),
wenn er hier in diesem Zusammenhang von der „vergeblich gesuchten
Deduktion des moralischen Prinzips“ spricht (Hervorhebung, J.
B.). Kant revidiert damit in der zweiten Kritik seinen Ansatz:
Glaubte er in der Grundlegung noch eine Deduktion für den
kategorischen Imperativ liefern zu müssen, argumentiert er
nun dafür, warum eine solche Deduktion prinzipiell unmöglich
ist. Hatte Kant dort zunächst für die Denkmöglichkeit der
Freiheit von dieser für die Annahme einer Verstandeswelt
argumentiert und über die Dualität von Verstandes- und
Sinnenwelt die Verbindlichkeit des Moralgesetzes bewiesen,
argumentiert er in der zweiten Kritik für die epistemische
209
Priorität des moralische Gesetzes (§ 6, Anmerkung) und macht
dieses selbst zur Deduktionsgrundlage der Freiheit.
Wie verfährt Kant nun bei dieser Deduktion? Er beginnt mit
einem Ergebnisbericht aus der ersten Kritik. Dort hatte er die
Denkmöglichkeit der Idee der Freiheit bewiesen. Anschließend
formuliert er seinen gesteigerten Anspruch, den er nun mit
seiner Deduktion in der zweiten Kritik verbindet: Es soll
„nicht bloß die Möglichkeit, sondern die Wirklichkeit [der
Freiheit]“ bewiesen werden. Dafür setzt Kant zunächst
voraus, daß das „moralische Gesetz […] ein Gesetz der
Kausalität durch Freiheit [ist]“. Kant könnte von hier aus
seine Deduktion in zwei Zügen beenden. Doch er erinnert
zunächst daran, daß die Idee einer übersinnlichen Natur eine
Natur nach Freiheitsgesetzen ist (KpV, A 74) und schließt
von dort, daß das Moralgesetz als „ein Gesetz der Kausalität
durch Freiheit“ die Bedingung der Möglichkeit einer
„übersinnlichen Natur“ ist. Anschließend zieht er eine
Analogie zwischen praktischen und theoretischen Grundsätzen:
So wie das Moralgesetz ein Gesetz der übersinnlichen Natur
ist, ist das transzendentale Kausalprinzip ein „Gesetz der
Kausalität in der sinnlichen Natur“.
Moralgesetz :: Gesetz der übersinnlichen Natur
≈
Transzendentales Kausalprinzip :: Gesetz der sinnlichen
Natur
Moralgesetz und der Grundsatz der zweiten Analogie der Erfahrung
sind also die Kausalgesetze der übersinnlichen Natur auf der
einen Seite und sinnlichen Natur auf der anderen.
210
Erst mit dem folgenden Argument kehrt Kant zu seiner
Deduktion zurück: Das Moralgesetz „bestimmt […] das Gesetz
für eine Kausalität, deren Begriff in der [spekulativen
Philosophie] nur negativ war“. Mit diesem „Begriff“ ist der
Begriff der Freiheit gemeint, der also positiv durch das
Moralgesetz bestimmt wird. Etwas positiv bestimmen heißt
synthetisch urteilen. Synthetisch Urteilen heißt dem
Subjektbegriff einen Prädikatbegriff zuschreiben, der nicht
im Subjektbegriff bereits enthalten ist. Damit erhält der
Begriff einer „Kausalität aus Freiheit“ durch das
Moralgesetz als apodiktisch gewisses Vernunftfaktum einen
bestimmten Inhalt d. i. „objektive Realität“. Damit endet
Kants Deduktion der Freiheit. Es folgen Erläuterungen.
Absatz 15
Daß sich an diese Deduktion bloß Erläuterungen anschließen
ist keineswegs unumstritten. Bereits die Wendung „Kreditiv
des moralischen Gesetzes“ läßt nämlich offen, ob das
Moralgesetz durch etwas beglaubigt (kreditiert) wird oder es
selbst etwas anderes beglaubigt. Versteht man ihn als
genitivus obiectivus, wird die objektive Realität des Moralgesetzes
beglaubigt und zwar dadurch, daß es Prinzip der Deduktion
der Freiheit ist. Doch es wäre ein offenbarer Zirkel, wenn
zunächst aus der Faktizität des Moralgesetzes die Freiheit
deduziert würde, um anschließend aus der Wirklichkeit der
Freiheit das Moralgesetz abzuleiten. Es wäre auch nicht
gültig, daraus, daß etwas das Prinzip einer Deduktion ist,
zu folgern, daß es auch selbst ein gültiges Prinzip ist. Der
211
genitivus obiectivus brächte Kant also in erhebliche
Argumentationsprobleme.26
Der Kontext legt freilich ein ganz anderes Verständnis nahe:
Nachdem Kant zunächst erklärt hatte, daß an die Stelle der
Deduktion des Moralgesetzes die Deduktion der Freiheit tritt
und bei dieser Deduktion das Moralgesetz selbst als Faktum
den Ausgangspunkt bildet, beweist er schließlich die
Wirklichkeit der Freiheit und verschafft ihr objektive
Realität. Genau auf diesen Sachverhalt bezieht Kant sich,
wenn er jenen zweideutigen Satz mit einem
Demonstrativpronomen einleitet und erklärt, daß „[d]iese Art
von Kreditiv des moralischen Gesetzes […] statt aller
Rechtfertigung a priori völlig hinreichend [ist]“
(Hervorhebung J. B.). Nachdem er gezeigt hat, daß Freiheit
die ratio essendi, der Ermöglichungsgrund des Moralgesetzes ist
26 Dennoch hat man immer wieder den Genitiv als genitivus obiectivus verstanden wissenwollen, so als würde Kant hier einen Beglaubigungsgrund für das Moralgesetzbeibringen. Dabei wird nicht einmal die Möglichkeit einer alternativen Interpretationerwogen (Beck 31995; Gunkel 1989). Gunkel ist der Auffassung, daß sich in diesem Terminusauch eine Bescheidung des kantischen Anspruches hinsichtlich der Deduktion desKategorischen Imperatives ausspricht. Noch in der Grundlegung habe Kant seinDeduktionsverfahren an der KrV orientiert und zeigen wollen, wie ein KategorischerImperativ möglich ist. Von dieser „starken“ Deduktion habe Kant dann in der KpVAbstand genommen. Er beanspruche hier nicht mehr zu zeigen, wie der kategorischeImperativ möglich ist, sondern nur noch daß er möglich ist. Um Mißverständnissenvorzubeugen, habe Kant in bezug auf dieses „Minimalprogramm“ nicht länger von„Deduktion“, sondern nur noch von „einer Art Kreditiv“ gesprochen, die er demMoralgesetz verschafft habe. In dem Wandel der Terminologie manifestiere sich auchdie fundamentale Wende, die Kant hinsichtlich seiner Deduktionsstrategie zwischenGrundlegung und KpV vollzogen habe (Gunkel 1989, S. 179, 199 ff., 217). Dieses Mißverständniszeigt sehr deutlich, zu welchen Konsequenzen ein unangemessenes Verständnis derWendung „Kreditiv des moralischen Gesetzes“ führen kann. Beck glaubt, daß dieFreiheit das Moralgesetz beglaubigen könne, weil die Freiheit unabhängig vomMoralgesetz im theoretischen Gebrauch „beglaubigt“ worden sei (Beck 31995, S. 167).Der scheinbare Vorzug des Wortes „Beglaubigen“ ist, daß man nicht so genau weiß,welchen epistemischen Status der Freiheit hier zugebilligt wird. Kein Zweifel solltedaran bestehen, daß die erste Kritik theoretisch lediglich die widerspruchsfreieDenkmöglichkeit der Freiheit bewiesen hat. Wie sie damit selbst ein Prinzip der„Beglaubigung“ sein kann, ist nicht ersichtlich. Beck scheint hier die Problemlagemit jener der Grundlegung zu identifizieren. Doch die Besonderheit der KpV liegt geradedarin, wie Beck selbst weiß (Beck 31995, S. 165), daß Kant nicht zunächst mitmoralneutralen Argumenten die Freiheit sichert, sondern vom Vernunftfaktum auf dieWirklichkeit der Freiheit schließt.
212
und das Moralgesetz als Faktum aufgewiesen hatte, kann er
nun auf die Wirklichkeit der Freiheit schließen. Wenn Kant
vom „Kreditiv des moralischen Gesetzes“ spricht, dann
deshalb, weil es selbst als Beglaubigungsgrund für die
Freiheit dient, die nicht unmittelbar erkennbar ist. Dieses
Ergebnis vor Augen blickt er nun zurück auf das Ergebnis der
dritten Antinomie aus der ersten Kritik und will die
Komplementarität der beiden Theoriestücke beweisen.
Doch wenn Kant in jener zitierten Passage behauptet, „das
moralische Gesetz beweist seine Realität dadurch […]
genugtuend, daß es einer bloß negativ gedachten Kausalität
[…] positive Bestimmung […] hinzufügt“ (ebd., Hervorhebung
J. B.), scheint damit genau jener unverständliche
Sachverhalt ausgedrückt zu sein, daß das moralische Gesetz
seine eigene Realität beweist, indem es die Kausalität der
Freiheit positiv bestimmt. Es ist naheliegend und wäre nicht
ungewöhnlich, wenn Kant sich mit dem Possessivpronomen nicht
auf das Moralgesetz, sondern auf ein Nomen oder Pronomen im
Maskulinum oder Neutrum Singular des vorhergehenden Satzes
beziehen würde. Aber man sucht dort vergeblich nach
Ausdrücken wie „Begriff der Freiheit“ oder „Prinzip der
Freiheit“, die eine alternative Referenz zulassen würden.
Was indessen grammatikalisch geboten ist, muß nicht auch
sachlich richtig sein. Der Sache nach muß Kant sich mit
„seine“ auf „Freiheit“ beziehen, denn wie er nach einem
Kurzreferat des Ergebnisses der dritten Antinomie seine Deduktion
der Freiheit noch einmal zusammenfaßt: „Ich konnte aber
diesen Gedanken [den der Freiheit] nicht realisieren, d. i. ihn
213
nicht in Erkenntnis eines so handelnden Wesens […] verwandeln.
Diesen leeren Platz füllt nun reine praktische Vernunft,
durch […] das moralische Gesetz aus“ (KpV, V 49 (A 85)).
Genau dies ist der zentrale Gedanke jener Deduktion der
Freiheit, die sich mit Erläuterungen über drei Absätze
erstreckt (KpV, 47 ff. (A 82-86)). Es ist abwegig
anzunehmen, als könnte und würde Kant en passant noch das
Moralgesetz beglaubigen, das doch bereits vorher als „Faktum
der reinen Vernunft“ etabliert worden und selbst
Ausgangspunkt der Deduktion gewesen ist.
Es ist deshalb an dieser Stelle aus systematischen Gründen
geboten, eine Konjektur vorzunehmen und „seine“ durch „ihre“
zu ersetzen. Den Verdacht der Willkürlichkeit, der einem
solchen Vorschlag anhängt, kann man neben dem sachlichen
auch noch mit einem philologischen Argument entkräften:
In der Anmerkung zu den §§ 5 und 6, in der Kant das
Verhältnis von Moralgesetz und Freiheit diskutiert,
verwendet er ebenfalls das „falsche“ Reflexivpronomen, indem
er sich auf „Freiheit“ mit „sein“ bezieht. Hartenstein hat
an dieser Stelle zu Recht „ihr“ konjiziert (KpV, 32 (A 53)).
Ebenso wäre es sinnvoll, im Rahmen jener Deduktion der
Freiheit zu schreiben: „Denn das moralische Gesetz beweist
ihre [die Realität der Freiheit, Konjektur J. B.] Realität
[…] dadurch auch für die Kritik der spekulativen Vernunft
genugtuend, daß es einer bloß negativ gedachten Kausalität
[…] positive Bestimmung […] hinzufügt“. Kurz: Die Freiheit
wird durch das Moralgesetz beglaubigt und nicht andersherum.
214
Mit diesem Ergebnis ist man aber positiv seit der Deduktion
der Freiheit nicht weitergekommen. Kant behauptet nun
zusätzlich, daß diese Deduktion der Freiheit „statt aller
Rechtfertigung a priori völlig hinreichend“ sei. Warum? Weil
es einer in der ersten Kritik nur „gedachten“ und also nicht
inhaltlich bestimmten Kausalität „positive Bestimmung,
nämlich den Begriff einer den Willen unmittelbar […]
bestimmenden Vernunft hinzufügt“. Mit dieser „positive[n]
Bestimmung“ ist Kants Definition der Autonomie gemeint, als
die Möglichkeit aus einem reinen Vernunftgrund heraus
handlungsfähig zu sein. Der Wille, so kann man ergänzen, ist
das vernunftfähige Kausalvermögen des Menschen, das in der
empirischen Welt Wirkungen hervorbringt. Indem das
Moralgesetz als ein Gesetz der Freiheit ein Gesetz dieses
Willens ist, der Wirkungen in der empirischen Welt erzeugt,
wird die Idee der Freiheit nicht in einem „transzendenten“,
sondern „immanenten“ Sinne gebraucht. Um Mißverständnisse zu
vermeiden, setzt Kant aber hinzu, daß diese Bestimmung der
Freiheit, ihr „objektive, obgleich nur praktische Realität zu
geben vermag“ (Hervorhebung J. B.). Wäre sie theoretisch,
hätte Kant entweder (a) Freiheit als Erstursächlichkeit als
ein Prinzip der Erfahrung etablieren müssen oder (b) einen
Fall von Erstursächlichkeit in der sinnlichen Anschauung
demonstrieren müssen. Doch Freiheit ist den Bedingungen der
Möglichkeit der Erfahrung gerade zuwider und daher läßt sich
Freiheit auch prinzipiell nicht in der sinnlichen Anschauung
demonstrieren. Deshalb kann dem Begriff der Freiheit keine
objektive Realität in theoretischer Hinsicht zukommen.
215
Absatz 16, Satz 1-3 „Die Bestimmung der Kausalität - das Unbedingte
dahin zu versetzen“
Auch wenn sich die objektive Realität der Freiheit aus
theoretischer Perspektive nicht beweisen läßt, hat Kant doch
mit der Auflösung der dritten Antinomie ihre widerspruchsfreie
Denkmöglichkeit sichern können. Genau dieses Theoriestück
referiert Kant nun noch einmal in seinen wesentlichen
Grundzügen: Auch wenn es „unmöglich ist [von
Erstursächlichkeit] ein Beispiel in irgend einer Erfahrung
zu geben“, konnte Kant doch den „Gedanken“ der Freiheit
„verteidigen“. Kant macht hier von seiner Unterscheidung von
„Erkennen“ und „Denken“ Gebrauch. Erkennens setzt immer
einen Bezug auf den Gegenstand in der Anschauung voraus.
Denken dagegen „kann ich was ich will, solange ich mir nicht
widerspreche“ (KrV???). Um Freiheit widerspruchsfrei denken
zu können, setzt er seine transzendentale Differenz ein, die
ihn legitimiert Dinge als Erscheinungen und nicht als
Erscheinungen, sondern an sich selbst („Noumenon“) zu
betrachten. Auf diese Weise ist es „nicht widersprechen[d]“
die Handlungen eines Verstandeswesens mit einem Willen als
„physische bedingt […] und doch zugleich […] als physisch
unbedingt anzusehen. Auf diese Weise wird Freiheit zu einem
„regulativen Prinzip der Vernunft“, d. h., daß wir den
Menschen nicht als frei erkennen können, wir aber berechtigt
sind, sein Handeln nach diesem Prinzip zu beurteilen???
216
Satz 4-5 „Ich konnte aber diesen Gedanken - unbezweifelte Realität verschafft
wird“
Nachdem Kant dieses negative Ergebnis aus der ersten Kritik
referiert hat, wird er nun den Fortschritt der zweiten Kritik
hinsichtlich des Freiheitsbegriffs herausarbeiten: Aus
theoretischer Perspektive ist es unmöglich den Gedanken der
Freiheit zu „realisieren“, d. h. ihm einen Gehalt zu geben.
Genau „diesen leeren Platz füllt nun reine praktische
Vernunft, durch ein bestimmtes Gesetz der Kausalität in
einer intelligiblen Welt (durch Freiheit), nämlich das
moralische Gesetz aus“. Dem in theoretischer Hinsicht nur
problematischen, d. h. widerspruchsfreien aber leeren
Begriff, wird durch das apodiktisch sichere Moralgesetz
„unbezweifelte Realität“ in praktischer Hinsicht verschafft.
Satz 6-12 „Selbst den Begriff der Kausalität - oder ihr Bestimmungsgrund ist“
Kant wendet sich nun einem Einwand zu, den Pistorius in
einer Rezension an ihn herangetragen hatte: Noch in der
Analytik der ersten Kritik habe Kant die Kategorie der Kausalität
auf Erscheinungen eingeschränkt. Indem er sie in seiner
Moralphilosophie auf Nicht-Empirisches anwendet überschreite
er die von ihm selbst errichteten „Grenzen der Sinnlichkeit“
und damit die Grenzen dessen, was sich sinnvoll behaupten
läßt (Pistorius 1786, S. 110-113). Kant ist sich dieses Problems
bewußt. Wer den Begriff der Kausalität über die „gedachte[n]
Grenzen“ der Sinnlichkeit ausdehnt, müßte erklären, „wie das
logische Verhältnis des Grundes zur Folge bei einer anderen
Art von Anschauung, als die sinnliche ist, synthetisch
217
gebraucht werden könne, d. i. wie causa noumenon möglich
sei“. Als endliche Wesen verfügen wir jedoch nur über eine
sinnliche Anschauung, so daß wir den Begriff einer ‚causa
noumenon’ oder, was dasselbe ist, einer ‚Kausalität aus
Freiheit’, theoretisch prinzipiell nicht realisieren können.
Warum ist Kant dennoch legitimiert, den Kausalitätsbegriff
in Verbindung mit Freiheit zu verwenden? Kants Antwort
lautet, „weil dieser Begriff immer im Verstande auch
unabhängig von aller Anschauung, a priori angetroffen wird“.
Kant hatte in der ersten Kritik die Verstandeskategorien als
reine Verstandesbegriffe deduzieren können. Als solche haben
sie ihren Ursprung nicht in der Erfahrung, sondern gehen als
formale Prinzipien der Erfahrung voraus. Wenn nun beim
Gebrauch der Kategorie von „aller Bedingung der sinnlichen
Anschauung […] abstrahiert wird, wird also kein Objekt
bestimmt, sondern nur das Denken eines Objekts überhaupt [also
nicht ausschließlich eines empirischen Objekts; J. B.], nach
verschiedenen Modis, ausgedrückt“ (KrV, B 304). Deshalb hat der
transzendentale und nicht etwa empirische Gebrauch der
Kategorien nicht einen inhaltlich, sondern „nur der Form
nach, bestimmbaren Gegenstand“ (ebd.) und alle reinen
Verstandesbegriffe müssen ohne Anschauung leer bleiben (KrV, B
75).
Mit dem Begriff der causa noumenon soll nun nicht etwa eine
freie Handlung erkannt, sondern bloß als frei gedacht werden.
Und weil Kant den Begriff der Kausalität als reinen und nicht
etwa empirischen Begriff deduzieren konnte, ist er dazu
legitimiert, ihn nicht nur auf Erscheinungen, sondern auch
218
auf Dinge, sofern sie nicht Gegenstand der sinnlichen
Anschauung sind, auszudehnen. Damit ist Kants Deduktion der
Kausalität als eines reinen Verstandesbegriffs zugleich die
Grundlage für die Möglichkeit einer Kausalität aus Freiheit.
Wenn der Satz wahr wäre: Für alle x gilt, wenn x kausal
wirksam ist, dann ist es eine Erscheinung“, dann wäre der
Begriff einer causa noumenon selbstwidersprüchlich. Indem Kant
den Begriff der Kausalität gerade nicht als einen
Erfahrungsbegriff, sondern als einen reinen
Verstandesbegriff deduziert, ist „causa noumenon“ kein
„Unding“, sondern widerspruchfrei denkbar. Um die Idee der
Freiheit als regulatives Prinzip annehmen zu dürfen, ist
dieses Ergebnis ausreichend. Kant muß weder ihre reale
Möglichkeit noch ihre Wirklichkeit beweisen.
Es gibt sehr wohl einen Unterschied zwischen der ersten und
zweiten Kritik hinsichtlich des epistemischen Status der
Freiheit. Doch er besteht gerade nicht darin, daß Kant seine
Theorie in der zweiten Kritik nun dahingehend modifiziert, daß
der Begriff einer causa noumenon widerspruchsfrei denkbar ist.
Der entscheidende Fortschritt der zweiten Kritik auf den Kant
wiederholt hinweist ist vielmehr der, daß die Kausalität aus
Freiheit positiv bestimmt wird und auf diese Weise der
Begriff, der theoretisch leer blieb (und bleiben muß),
praktisch „durchs moralische Gesetz“ eine „Bedeutung“
erhält. Er wird also nicht durch sinnliche Anschauung
positiv bestimmt, vielmehr „in keiner anderen als
praktischen Absicht [ge]braucht“ und ist „bloß ein formaler,
aber doch wesentlicher Gedanke“.
219
II. Von dem Befugnisse der reinen Vernunft, im praktischen Gebrauche, zu
einer Erweiterung, die ihr im spekulativen für sich nicht möglich ist
1. Absatz, Satz 1-2 „An dem moralischen Prinzip - ihres Vermögens zu
vereinigen“
Mit der Frage nach der möglichen Verwendung des Begriffes
einer ‚Kausalität aus Freiheit’ am Ende des ersten
Abschnitts, ist auch der Übergang zum zweiten Abschnitt
hergestellt. Kant faßt noch einmal das zentrale Ergebnis
seiner Überlegungen zum Kausalitätsbegriff zusammen, bevor
er anschließend die Leitfrage des zweiten Abschnitts
aufwirft: Durch das moralische Gesetz wird der Begriff einer
‚Kausalität aus Freiheit’, der theoretisch nur
widerspruchsfrei „gedacht“ werden konnte, positiv bestimmt.
Damit wird „unser Erkenntnis über die Grenzen [der
Sinnenwelt] erweitert“. Genau diese Erweiterung war in der
ersten Kritik „für nichtig“ erklärt worden. Die Leitfrage
dieses zweiten Abschnitts ist nun: „Wie ist [der] praktische
Gebrauch der reinen Vernunft mit dem theoretischen eben
derselben, in Ansehung der Grenzbestimmung ihres Vermögens
zu vereinigen?“ [Frage wieder aufnehmen???]
2. Absatz, Satz 1-5 „David Hume, von dem man sagen kann - jemals
korrespondieren kann“
Um die Frage nach der Vereinbarkeit vom praktischen und
theoretischen Vernunftgebrauch zu beantworten, beginnt Kant
mit einer kurzen Zusammenfassung von David Humes
220
Kausalitätstheorie. Der Begriff der Ursache enthalte, daß
die Existenz von A notwendig auch die Existenz von B
hervorbringe: „[W]enn A gesetzt wird, […] erkenne [ich], daß
etwas davon ganz Verschiedenes, B, notwendig auch existieren
müsse.“ Es ist der Begriff der ‚Notwendigkeit’, der Hume
hier Probleme bereitet, denn – und darin kommen Hume und
Kant überein – „Notwendigkeit kann nur einer Verknüpfung
beigelegt werden, so fern sie a priori erkannt wird“. Aus
der Erfahrung kann man nur lernen, daß eine Verknüpfung
tatsächlich bestehe „aber nicht, daß sie so notwendigerweise
sei“ (Hervorhebung J. B.). Unabhängig von der Erfahrung, „a
priori“, sind für Hume synthetische Erkenntnisse unmöglich.
Von hier aus kann man die gewünschte Konklusion ziehen und
den Begriff der Ursache für sinnlos erklären: Wenn weder
empirisch noch a priori eine notwendige Verknüpfung zweier
Ereignisse erkannt werden kann, muß „der Begriff einer
Ursache selbst lügenhaft“ sein. Im Rahmen von Kants
juristischer Terminologie heißt das, daß der Begriff der
Ursache „nicht rechtmäßig erworben“ ist. Er muß für Hume
aber auch prinzipiell nicht deduzierbar bleiben, weil diesem
Begriff „gar kein Objekt jemals korrespondieren kann“.
Humes Lösung, die Kant aber nicht akzeptiert, besteht darin,
die „objektive Notwendigkeit“ in eine „subjektive
Notwendigkeit“ umzuwandeln. Demnach beruht die notwendige
Verknüpfung der Ereignisse A und B auf der wiederholten
Erfahrung, daß beide nacheinander auftreten. Diese
Verknüpfung ist notwendig, weil wir nach mehrfach
wiederholter Erfahrung derselben Aufeinanderfolge nicht anders
221
können als das Auftreten des einen Zustandes mit dem
Auftreten des anderen Zustandes zu verknüpfen. Sie ist aber
nur subjektiv, weil damit nichts über die Objekte ausgesagt
wird, sondern nur über die „Gewohnheit“ des Subjekts.
Satz 6-8 „So ward nun zuerst – fest gründet und unwiderleglich macht“
Indem Hume den Begriff der objektiven Notwendigkeit und mit
ihm den der Ursache für sinnlos hält und an ihre Stelle
„Gewohnheit“ und „subjektive Notwendigkeit“ setzt, hat er
den „Empirismus als einzige Quelle der Prinzipien eingeführt“.
Der Empirismus ist „Quelle der Prinzipien“, weil das Prinzip
der Kausalität nicht (wie bei Kant) seinen Ursprung im
Verstand, sondern in der Erfahrung hat. Dieser Empirismus
bedeutet für Kant aber auch den „härteste[n] Skeptizism
selbst in Ansehung der ganzen Naturwissenschaft“. Seine
Begründung: Wir können bei keinem Ereignis sagen, „es müsse
etwas vor ih[m] vorhergegangen sein, worauf [es] notwendig
folgte, d. i. [es] müsse eine Ursache haben […]“.
3. Absatz, Satz 1 „Die Mathematik war so lange - übergeht)“
Kant glaubt, daß der Empirismus und mit ihm der Skeptizismus
nicht bei der Naturerfahrung halt macht. In einer
Nebenbemerkung erklärt er, warum der „Empirismus in
Grundsätzen unvermeidlich auf den Skeptizim, selbst in
Ansehung der Mathematik [führt]“. Um diese Behauptung zu
beweisen, geht Kant zunächst von Humes Voraussetzung aus,
daß die Sätze der Mathematik „alle analytisch wären“ und
sich also auf den „Satz des Widerspruchs“ zurückführen
222
lassen. Kant teilt diese Voraussetzung nicht. Vielmehr ist
er davon überzeugt, daß die Sätze der Mathematik „alle
synthetisch sind“. Dabei geht man genauso wie beim
Kausalverhältnis „von […] A zu eine[m] ganz verschiedenen B“
über. Während es sich aber beim Kausalbegriff um die
Existenz von A und B handle, sind in der Mathematik bloß
„Bestimmungen“ gemeint (Hervorhebung J. B.). Dabei kann man
mit Kant etwa an den Begriff der Geraden denken, der nicht
analytisch enthält, daß die Gerade die kürzeste Linie
zwischen zwei Punkten ist. Um mit Recht diese Eigenschaft
dem Begriff der Geraden zuschreiben zu können, müssen wir
auf ein „Drittes“ nämlich die reine sinnliche Anschauung
rekurrieren. Deshalb sagt Kant, daß die Verbindung von A
(Gerade) und B (kürzeste Linie zwischen zwei Punkten) nicht
analytisch, sondern synthetisch ist. Kant argumentiert hier
nicht noch einmal eigens für den synthetischen Charakter der
Mathematik, wie er es in der ersten Kritik getan hat (KrV, B14-
17), sondern behauptet ihn nur.
Satz 2-3 „Aber endlich muß - oder zur Mathematik)“
Die Voraussetzung des synthetischen Charakters der
Mathematik, die lediglich in Klammern abgehandelt wird, ist
essentiell für seinen Beweis. Denn nur wenn man zustimmt,
daß mathematische Sätze synthetisch sind, folgt auch der
zweite entscheidende Schritt. Dafür setzt Kant zunächst
voraus, daß man den „Empirismus“ für wahr hält, und damit
Erfahrung die einzige Grundlage der Erkenntnis ist. Nun
hatte Hume gezeigt, daß in der Erfahrung die Verknüpfung
223
zweier Ereignisse nur subjektiv und nicht objektiv notwendig
ist. Dasselbe gilt damit aber auch für die synthetischen
Sätze der Mathematik, denn – so muß man Kants Argument wohl
verstehen – die „Zeugen“ würden auch im Fall der
mathematischen Sätze nur sagen können, daß sie es in der
reinen Anschauung „jederzeit auch so wahrgenommen hätten
folglich, ob es gleich eben nicht notwendig wäre, doch
fernhin, es so erwarten dürfen“. Damit aber verliert die
Mathematik ihren Anspruch auf „apodiktische Gewißheit“ und
muß sie gegen stochastische eintauschen. Kants Vorwurf ist
also in Kürze der: Hätte Hume den synthetischen Charakter
der mathematischen Sätze erkannt, dann hätte er seinen
„Skeptizismus“ auch auf die Mathematik ausdehnen müssen.
Damit würde dann der Skeptizismus „in allem wissenschaftlichen
theoretischen Gebrauche der Vernunft“ gelten (Hervorhebung
z. T. J. B.).
Satz 4 „Ob der gemeine Vernunftgebrauch – jeden selbst beurteilen lassen“
Kant unterscheidet hier ausdrücklich den
„wissenschaftlichen“ von dem „gemeinen Vernunftgebrauch“.
Damit berührt er ein Grundproblem der Kantforschung: Ist
Kants Ausgangspunkt in der ersten Kritik allein die
wissenschaftliche oder auch die alltägliche Erfahrung?
[Literatur???] Die Alternative, die Kant hier vorschwebt ist
also: „allgemeiner Skeptizims“ oder ein auf die
wissenschaftliche Erfahrung eingeschränkter besonderer
Skeptizismus. Kant läßt diese Frage unbeantwortet.
Beachtenswert ist seine Nebenbemerkung, daß ein „allgemeiner
224
Skeptizism […] nur die Gelehrten treffen würde“. In der
vorreflexiven Einstellung, so muß man Kant wohl verstehen,
läßt sich ein allgemeiner Skeptizismus gar nicht
durchhalten. Dieser entsteht überhaupt erst, wenn wir aus
den unmittelbaren Vollzügen heraustreten und eine
selbstreflexive Einstellung einnehmen. Kant behauptet also,
daß Humes Theorie dem ‚common sense’ zuwider ist und wir als
erkennende und handelnde Wesen objektiv notwendige
Verknüpfungen voraussetzen.
4. Absatz, Satz 1- „Was nun meine Bearbeitung - auf folgende Art“
Nachdem die Reichweite des Skeptizismus bestimmt worden ist,
bestätigt Kant zunächst jene berühmte Briefnotiz in der er
erklärt hat, daß es David Hume war, der ihn zuerst aus dem
dogmatischen Schlummer geweckt hat [Nachweis???]. Die erste
Kritik, heißt es hier, sei „durch jene Humische Zweifelllehre
veranlaßt“ worden. Aber sie geht doch weit über Humes
Projekt hinaus. Sie ist nicht nur mit Humes speziellen
Kausalitätsproblem und dem ihn anhängenden Skeptizismus
beschäftigt, sondern befaßt sich mit dem „ganze Feld der
reinen theoretischen Vernunft“ und befaßt sich insofern mit
der „Metaphysik überhaupt“.
Satz 2-3 „Daß Hume – Laufs der Wahrnehmungen“
Von hier aus geht Kant nun unmittelbar zu seiner Antwort auf
Hume über, die er in der ersten Kritik gegeben hat: Er gibt
Hume in zwei Punkten Recht: Erstens: Der „Begriff der Ursache“
muß in bezug auf „Dinge an sich selbst“ tatsächlich als „trüglich
225
und falsches Blendwerk“ zurückgewiesen werden. Zweitens: Der
Begriff ‚Ursache’ impliziert objektive Notwendigkeit.
Deshalb kommt ein „empirische[r] Ursprung“ dieses Begriffes
nicht in Frage.
Absatz 5, Satz 1 „Aus meinen Untersuchungen - erkennbar sind“
Nach der Aufzählung dieser beiden Gemeinsamkeiten erfolgt
nun die Abgrenzung. Diese hatte sich bereits in seinem
ersten Punkt abgezeichnet, in dem er von „Dingen an sich
selbst spricht“. Um das Problem der Kausalität zu lösen,
macht er seine transzendentalphilosophische Differenz von
Ding an sich und Erscheinung geltend: In bezug auf Dinge an
sich ist es „unmöglich […] einzusehen, wie, wenn A [als
Ursache] gesetzt wird, es widersprechend sein solle B [als
Wirkung], welches von A ganz verschieden ist, nicht zu
setzen“. Indem Kant auf einen konzeptuellen Widerspruch aus
ist [Vorsicht! Nicht nur logischer Widerspruch. Vgl. KrV „lahme Berufung auf
Prinzip des Widerspruchs. Das Kriterium ist die Möglichkeit der Erfahrung???],
zeigt er, daß es ihm darum geht, ein apriorisches Argument
zu konstruieren. Dieser Widerspruch – und das ist Kants
zentrale These – läßt sich konstruieren, wenn man den
Kausalitätsbegriff in bezug auf Erfahrungsgegenstände
(Erscheinungen) anwendet:
[Es läßt sich] doch ganz wohl denken […], daß [die Dinge] alsErscheinungen in einer Erfahrung auf gewisse Weise (z. B. in Ansehung derZeitverhältnisse) notwendig verbunden sein müssen und nicht getrenntwerden können, ohne derjenigen Verbindung zu widersprechen, vermittelsderen dieses Erfahrung möglich ist, in welcher sie Gegenstände und unsallein erkennbar sind.
226
Der Widerspruch entsteht also, wenn man voraussetzt, daß
Erfahrung nur durch eine bestimmte „Verbindung“ möglich und
Kausalität eine Art dieser Verbindung ist. Kant spricht von
dem „Zeitverhältnisse“, in dem die Erscheinungen als
Erfahrungsgegenständlichkeit verbunden sein müssen. Die Zustände A
und B dürfen nicht umkehrbar, sondern müssen als zeitlich
bestimmt gedacht werden, wenn Erfahrung vorliegen soll (erst
A, dann B). Zwei Erscheinungen sind genau dann notwendig
verbunden, wenn sie zeitlich unumkehrbar sind. Ein solches
unumkehrbares Verhältnis liegt vor, wenn die Erscheinungen
kausal verknüpft sind und also A Ursache von B ist. Weil nur
durch dieses Kausalverhältnis Erfahrung als bestimmte
Erkenntnis möglich ist, ist Kausalität Bedingung der
Möglichkeit der Erfahrung. Es wäre also ein Widerspruch,
wenn man behaupten wollte, die Erscheinung A wäre nicht mit
einer Erscheinung B notwendig verbunden, weil ‚Erscheinung’
gerade heißt, „notwendig verbunden“, zu sein??? Warum sagt
Kant: „z. B. in Ansehung des Zeitverhältnisses“ (Hervorhebung
J. B.)? Weil sich gemäß der Kategorie der Relation noch
andere relationale Verhältnisse denken lassen, in denen
Erscheinungen stehen: Die Relation der „Inhärenz und
Subsistenz (substantia et accidens)“ sowie die der „Gemeinschaft
(Wechselwirkung zwischen dem Handelnden und Leidenden)“
(KrV, B 106).
Satz 2 „Und so fand es sich auch - aus dem Grunde heben konnte“
Mit diesem Beweis hat Kant zwei Dinge erreicht: Er hat erstens
die „objektive Realität“ des Begriffs der „Ursache“
227
[Kausalität] bewiesen und konnte zweitens den Begriff der
„Ursache“ [Kausalität] als einen „Begriff a priori“
deduzieren. Objektive Realität hat der Begriff, weil er in bezug
auf „Erscheinung“ seine Anwendung hat. Er ist a priori und
nicht empirisch, weil er die „Notwendigkeit der Verknüpfung“
impliziert. Kant muß sich also bei der Deduktion des
Begriffes nicht auf „empirische Quellen“ stützen, sondern er
kann ihn aus reiner Vernunft deduzieren. Damit glaubt er dem
Empirismus und mit ihm dem Skeptizismus hinsichtlich
Naturwissenschaft und Mathematik die Grundlage entzogen zu
haben.
Absatz 6, Satz 1-3 „Aber wie wird es - bezogen werden“
Erst jetzt wendet Kant sich dem für die zweite Kritik
entscheidenden Problem zu: „[W]ie wird es mit der Anwendung
dieser Kategorie der Kausalität […] auf Dinge, die nicht
Gegenstände möglicher Erfahrung sind, sondern über dieser
Grenze hinaus liegen? Diese Frage muß Kant beantworten, wenn
er erklären will, wie er sinnvoll von einer Kausalität aus
Freiheit sprechen kann. Seine Antwort lautet:
„Aber eben dieses, daß ich gewiesen habe, es lassen sich dadurch [durchreine Verstandesbegriffe] doch Objekte denken, obgleich nicht a prioribestimmen: dieses ist es, was ihnen einen Platz im reinen Verstandegibt, von dem sie auf Objekte überhaupt (sinnliche oder nicht sinnliche)bezogen werden.“
Es lassen sich Objekte „denken“, weil es nicht
widersprüchlich ist, den Begriff der Kausalität auf Objekte
zu beziehen [Vorher scheint es, als sei es nur nicht widersprüchlich, ihn auf
Erscheinungen zu beziehen???]. Sie lassen sich nicht „a priori
bestimmen“, weil uns als sinnliche Wesen für die Bestimmung
228
des Zeitverhältnisses immer sinnliche Anschauung gegeben
werden muß. Einen „Platz im reinen Verstande“ haben sie
dennoch, weil sie Notwendigkeit implizieren. Als notwendige
Begriffe a priori können sie auf sinnliche und nicht-
sinnliche Objekte bezogen werden???
Satz 4-5 „Wenn etwas noch fehlt - enthielte“
Um nun etwas durch diese Begriffe zu erkennen, bedarf es
zusätzlich noch einer „Bedingung der Anwendung“: der
„Anschauung“. Ist keine Anschauung gegeben, kann es nicht
zur theoretischen Erkenntnis des gedachten Objektes kommen.
In der sinnlichen Anschauung sind keine übersinnlichen
Objekte gegeben. Als sinnlich anschauende Wesen können wir
daher prinzipiell keine Erkenntnis vom Übersinnlichen haben.
Den übersinnlichen Erkenntnisgegenstand nennt Kant auch
„Noumenon“ oder „Ding an sich selbst“. Auch wenn wir keine
Erkenntnis eines „Noumenon“ machen können, ist es doch
legitim, ihn vermittels der reinen Verstandesbegriffe zu
„denken“, weil er als reiner Verstandesbegriff auf Objekte
im allgemeinen („Objekte überhaupt“) und nicht etwa auf
Objekte der sinnlichen Anschauung im besonderen
eingeschränkt wurde.
Das Argument nimmt nun die entscheidende Wendung: Auch wenn
der Verstandesbegriff in bezug auf „Dinge an sich selbst“ zu
keiner theoretischen Erkenntnis fähig ist, kann er
widerspruchsfrei „zu irgend einem anderen (vielleicht dem
praktischen) Behuf einer Bestimmung zur Anwendung desselben
fähig sein“. Wenn der „Begriff der Kausalität“ – wie Hume
229
behauptet hatte – tatsächlich widersprüchlich wäre, wäre
dieser argumentative Zug verstellt. Nur weil der Begriff der
Kausalität als reiner Verstandesbegriff widerspruchsfrei
denkbar ist, besteht die Möglichkeit ihn auch im Praktischen
anzuwenden???
Absatz 7, Satz 1-3 „Um nun diese Bedingung der Anwendung - Gehör
gegeben hätte“
Kant will nun die „Bedingung der Anwendung“ des
Kausalitätsbegriffes auf Noumena herausarbeiten. Dazu stellt
er zunächst die Frage, warum der Begriff der Kausalität
nicht auf Erfahrungsgegenstände beschränkt bleiben sollte.
Antwort: weil das Moralgesetz eine Kausalität der reinen
Vernunft impliziert. Den Versuch den Kausalitätsbegriff in
der theoretischen Erkenntnis aufs Übersinnliche anzuwenden, um
damit „unser Erkenntnis von der Seite der Gründe zu
vollenden und zu begrenzen“ weist Kant dagegen zurück: Eine
„unendliche Kluft zwischen jener Grenze und dem, was wir
kennen [bliebe] unausgefüllt übrig“???
Absatz 8, Satz 1 „Außer dem Verhältnisse aber - eines Gesetzes praktisch
ist“
Nicht das Verhältnis zwischen Verstand und
Erkenntnisgegenstand, sondern das zwischen Verstand und
Begehrungsvermögen erfordert es, den Begriff der Kausalität
über Erfahrungsgegenstände auszudehnen. Es ist also keine
theoretische, sondern eine praktische Notwendigkeit, den
230
Begriff der Kausalität auch auf nicht-empirisches
auszudehnen.
Kant präzisiert seine Terminologie an dieser Stelle, indem
er sagt, es sei das Verhältnis der „Vernunft“ zum
Begehrungsvermögen, das jene Ausdehnung erforderlich macht
(Hervorhebung J. B.). Wie schon in seiner theoretischen
Philosophie hat Kant die Unterscheidung zwischen Vernunft
und Verstand auch in seiner praktischen Philosophie
sprachlich nicht immer durchgehalten. Zuweilen verwendet er
‘Vernunft’ in einem weiteren Sinne, der auch
Zweckrationalität einschließt. Andersherum verwendet er
manchmal aber auch ‘Verstand’ in einem nicht-funktionalen
Sinne. Doch auch wenn diese Unterscheidung sprachlich nicht
immer präsent ist, hat er der Sache nach immer zwischen
pragmatisch-technischer und moralischer Vernunftanwendung
unterschieden. Verwendet man Vernunft in diesem weiten
Sinne, kann man sagen: Wenn unsere Vernunft den Willen in
regulativer Funktion bestimmt, handeln wir zweckrational;
ist die Vernunft hingegen konstitutiv, schreibt sie ihm
einen moralischen Zweck vor. Allein die konstitutive
Funktion der Willensbestimmung ist für Kant ein Problem. Daß
der Wille durch zweckrationale Überlegungen bestimmt sein
kann, steht für ihn außer Frage und ist eine Tatsache der
empirischen Psychologie. Diese Art der Willensbestimmung
wird von Kant jeweils nur als Kontrastfolie zur moralischen
Willensbestimmung abgehandelt.
Satz 2-3 „Die objektive Realität - der Vernunft vollkommen rechtfertigt“
231
Nachdem der prinzipielle Unterschied von theoretischer und
praktischer Vernunftanwendung eingeführt ist, gibt Kant nun
Gründe dafür an, warum der Gedanke einer „Kausalität mit
Freiheit“ notwendig ist: Das Moralgesetz ist ein Faktum der
Vernunft (vgl.oben???). In ihm bekundet sich unser Wille als
ein vernunftfähiges Begehungsvermögen, das von allem
Empirischen unabhängig und durch einen reinen Vernunftgrund
bestimmbar ist. Ein Wille, der unabhängig vom Empirischen
und durch einen reinen Vernunftgrund bestimmbar ist, nennt
Kant einen „reinen Willen“. Die objektive Realität eines
reinen Willen ist mit dem Faktum der Vernunft, dessen wir
uns „unmittelbar“ und „apodiktisch gewiß“ sind, gesichert.
Von hier aus, kann man auf die Notwendigkeit des Gedankens
einer „Kausalität mit Freiheit“ schließen: „Im Begriffe eines Willens aber ist der Begriff der Kausalität […]enthalten, mithin in dem eines reinen Willens der Begriff einerKausalität mit Freiheit, d. i. die nicht nach Naturgesetzen bestimmbar,folglich keiner empirischen Anschauung, als Beweises seiner Realität,fähig ist, dennoch aber, in dem reinen praktischen Gesetze a priori,seine objektive Realität […] rechtfertigt“
Kurz: ‚Wille’ impliziert Kausalität und ‚reiner Wille’
Vernunftkausalität. Damit macht der Begriff eines reinen
Willens, der im Moralgesetz gedacht wird, die Annahme einer
„Kausalität mit Freiheit“ oder (was dasselbe ist) einer
„causa noumenon“ notwendig. Diese Kausalität kann man nicht
in sinnlicher Anschauung erkennen, sie hat aber durch das
Moralgesetz, das uns „unmittelbar“ und apodiktisch gewiß“
ist, einen bestimmten Inhalt und damit „objektive Realität“.
Weil nur die Kausalität eines Willens bestimmt wird, wie er
wirken soll und nicht etwa ein Fall von Freiheitskausalität in
der sinnlichen Anschauung demonstriert worden ist, ist die
232
objektive Realität einer „causa noumenon“ praktisch und nicht
theoretisch.
Satz 4 „Nun ist der Begriff - werden könne“
Kant geht nun direkt auf Pistorius’ Vorwurf ein [Rezension
einarbeiten???] und beantwortet die Frage, warum der Begriff
einer „causa noumenon“ nicht selbstwidersprüchlich ist. Eine
Selbstwidersprüchlichkeit ist naheliegend, weil man meinen
könnte, daß der Begriff der ‚Ursache’ überhaupt nur auf
Erfahrungsgegenstände bezogen werden kann und daher die
Ursächlichkeit eines Erfahrungstranszendenten Gegenstandes
unmöglich widerspruchsfrei gedacht werden kann. Doch dieser
Widerspruch, so lautet Kants Begründung, wird dadurch
vermieden:„daß der Begriff einer Ursache, als gänzlich vom reinen Verstandeentsprungen, zugleich auch seiner objektiven Realität in Ansehung derGegenstände überhaupt durch die Deduktion gesichert, dabei seinemUrsprunge nach von allen sinnlichen Bedingungen unabhängig, also fürsich auf Phänomene nicht eingeschränkt […] auf Dinge als reineVerstandeswesen allerdings angewendet werden könne“.
Es ist also legitim den Kausalitätsbegriff aufs
Übersinnliche anzuwenden, weil er als ein reiner
Verstandesbegriff deduziert worden ist. Reine
Verstandesbegriffe sind zwar Bedingungen der Möglichkeit der
Erfahrung, aber nicht aus der Erfahrung gewonnen. Vielmehr
haben sie ihren Ursprung im Verstand und können damit auf
Objekte im allgemeinen und nicht etwa nur auf die
empirischen Objekte im besonderen angewendet werden [vgl.
oben, anpassen???].
Satz 5-6 „Weil aber dieser Anwendung - machen mich befugt halte“
233
Kant schränkt nun den Anspruch ein, den er mit dem Begriff
einer causa noumenon erhebt. Weil ihm keine sinnliche
Anschauung korrespondiert, ist er ein theoretisch leerer
Begriff. Er beeilt sich aber zu sagen, daß eine theoretische
Erkenntnis auch nicht erforderlich sei. Vielmehr ist es
hinreichend, wenn er legitimiert ist „den Begriff der
Kausalität mit dem der Freiheit […] zu verbinden und damit
ein Wesen mit einem reinen Willen zu „bezeichnen“. Dazu
legitimiert ihn der „nicht empirische Ursprung des Begriffes
der Ursache“. Den „Gebrauch“, den Kant von dem Begriff einer
„causa noumenon“ macht, ist also nur „praktisch“ und nicht
theoretisch. Denn er bezieht den Begriff der ‚Kausalität aus
Freiheit’ auf das Moralgesetz und das Moralgesetz bestimmt
die „Realität“, d. h. den Inhalt dieser Kausalität.
9. Absatz „Hätte ich, mit Humen - auf Noumenen hinreichend ist“
Humes Theorie dient nun noch einmal als Kontrastfolie. Hätte
Kant wie Hume den Begriff der Kausalität im theoretischen
Vernunftgebrauch als einen „unmögliche[n] Begriff für
gänzlich unbrauchbar erklärt“, wäre er auch nicht
legitimiert gewesen ihn in praktischer Hinsicht zu
verwenden. Denn, so lautet Kants Argument, „von nichts
[läßt] sich auch kein Gebrauch machen“. Der Begriff der
Kausalität ist „nichts“, weil er widersprüchlich, ein „nihil
negativum“, ist (KrV???). Indem Kant bewiesen hat, daß der
Begriff einer „empirisch unbedingten Kausalität“
widerspruchsfrei denkbar ist und „sich auf ein unbestimmt
Objekt bezieht“, ist der Weg für eine praktische Anwendung
234
frei. Statt durch sinnliche Anschauung erhält er durch das
moralische Gesetz seine „Bedeutung“. Der Begriff einer
„empirisch unbedingten Kausalität“ hat damit „wirkliche
Anwendung, die sich in concreto in Gesinnungen oder Maximen
darstellen läßt, d. i. praktische Realität, die angegeben
werden kann“. Wir können bestimmen, wie eine Gesinnung oder
Maxime beschaffen sein muß damit sie moralisch gut ist.
Dabei setzen wir voraus, daß ein reiner Vernunftgrund
handlungswirksam wird. Die konkrete Maxime muß dann als ein
spezielles (oder konkretes) freiheitskausales Gesetz verstanden
werden, dem das Moralgesetz als allgemeines Gesetz zugrunde
liegt. Diese Bestimmung der ‚causa noumenon’ ist
ausreichend, um ihn berechtigterweise in Anspruch nehmen zu
können. Damit hat Kant sein Beweisziel erreicht. Er hat
gezeigt, warum er, wie es in der Überschrift dieses zweiten
Abschnitts heißt, „im praktischen Gebrauche [der reinen
Vernunft] zu einer Erweiterung“ legitimiert ist, „die […] im
spekulativen für sich nicht möglich ist“ (KpV, A 87).
Absatz 10 „Aber diese einmal eingeleitete –
Kausalität ist nur einer von zwölf reinen
Verstandesbegriffen. Was Kant hier exemplarisch für den
Kausalitätsbegriff bewiesen hat, das überträgt er nun in
Analogie auch auf „alle übrigen Kategorien“. Die „einmal
eingeleitete objektive Realität eines reinen
Verstandesbegriffs im Felde des Übersinnlichen […] auch
objektive, nur keine andere als bloß praktische Realität“.
Für diesen zusätzlichen Anspruch muß Kant nicht mehr
235
argumentieren. Denn was für den Kausalitätsbegriff als
reinen Verstandesbegriff gilt, das gilt auch für die übrigen
reinen Verstandesbegriffe. Wenn sie als reine
Verstandesbegriffe deduziert worden sind, können sie auf
Gegenstände überhaupt und nicht etwa nur auf Erscheinungen im
besonderen bezogen werden. Damit aber ist es analog auch bei
ihnen möglich, „so fern sie mit dem Bestimmungsgrunde des
reinen Willens in notwendiger Verbindung stehen“, ihnen
objektive Realität zuzusprechen. Auch die übrigen reinen
Verstandesbegriffe werden also im nicht-empirischen Gebrauch
immer „nur auf das Verhältnis der Vernunft zum Willen, mithin
immer nur aufs Praktische Beziehung haben“. Das gilt auch für
die Annahme „übersinnliche[r] Wesen (als Gott), die nicht zu
den Gegenständen des „Wissens“ sondern „nur zur Befugnis (in
praktischer Absicht aber gar zur Notwendigkeit), sie
anzunehmen und vorauszusetzen gezählt werden. Mit diesem
Gedanken, deutet Kant am Ende des Ersten Haupstückes den
Argumentationsverlauf der Postulatenlehre aus der Dialektik an.
236