The "Analytic" of Kant's Critique of Practical Reason. A Commentary (work in progress, in German)

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Erstes Buch Die Analytik der reinen praktischen Vernunft Erstes Hauptstück Von den Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft § 1. Erklärung 1. Absatz, 1. Satz: Definition: „Praktische Grundsätze sind Sätze - unter sich hat.“ Die zweite Kritik setzt ein mit moralphilsophischer Semantik. Kant liefert uns eine allgemeine Defnition praktischer Sätze, um von dort aus das höchste Prinzip der praktischen Vernunft zu spezifizieren: Ein praktischer Grundsatz wird durch drei Merkmale gekennzeichnet: Er ist erstens ein „Satz“, zweitens wird durch ihn eine „allgemeine Bestimmung des Willens“ ausgedrückt und er hat drittens „mehrere praktische Regeln unter sich“. Damit sind die Merkmale aber nur genannt, nicht erklärt. Sätze sind Urteile in denen „das Verhältnis verschiedener Vorstellungen zur Einheit des Bewußtseins“ assertorisch (wirklich) oder auch apodiktisch (notwendig), nicht aber wie in bloßen Urteilen nur problematisch (möglich) gedacht wird. Deshalb ist ein problematischer Satz eine „contradictio in adjecto“. Nicht alle Urteile also sind Sätze, aber alle Sätze sind Urteile (Logik § 30; Eberhard, VIII 193). Nun werden auch mit der Äußerung „London ist eine Großstadt“ zwei verschiedene Vorstellungen (London und Großstadt) vermittels der Kopula „ist“ zur Einheit des Bewußtseins gebracht. Darüber hinaus gilt für diese Äußerung, daß es sich um ein assertorischen Satz und nicht nur um ein problematisches Urteil handelt, weil London tatsächlich eine Großstadt ist. Damit aber ein Satz ein praktischer Satz ist, 1

Transcript of The "Analytic" of Kant's Critique of Practical Reason. A Commentary (work in progress, in German)

Erstes BuchDie Analytik der reinen praktischen Vernunft

Erstes HauptstückVon den Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft

§ 1. Erklärung

1. Absatz, 1. Satz: Definition: „Praktische Grundsätze sind Sätze - unter sich hat.“

Die zweite Kritik setzt ein mit moralphilsophischer

Semantik. Kant liefert uns eine allgemeine Defnition

praktischer Sätze, um von dort aus das höchste Prinzip der

praktischen Vernunft zu spezifizieren: Ein praktischer

Grundsatz wird durch drei Merkmale gekennzeichnet: Er ist

erstens ein „Satz“, zweitens wird durch ihn eine „allgemeine

Bestimmung des Willens“ ausgedrückt und er hat drittens

„mehrere praktische Regeln unter sich“.

Damit sind die Merkmale aber nur genannt, nicht erklärt.

Sätze sind Urteile in denen „das Verhältnis verschiedener

Vorstellungen zur Einheit des Bewußtseins“ assertorisch

(wirklich) oder auch apodiktisch (notwendig), nicht aber wie

in bloßen Urteilen nur problematisch (möglich) gedacht wird.

Deshalb ist ein problematischer Satz eine „contradictio in adjecto“.

Nicht alle Urteile also sind Sätze, aber alle Sätze sind

Urteile (Logik § 30; Eberhard, VIII 193).

Nun werden auch mit der Äußerung „London ist eine Großstadt“

zwei verschiedene Vorstellungen (London und Großstadt)

vermittels der Kopula „ist“ zur Einheit des Bewußtseins

gebracht. Darüber hinaus gilt für diese Äußerung, daß es

sich um ein assertorischen Satz und nicht nur um ein

problematisches Urteil handelt, weil London tatsächlich eine

Großstadt ist. Damit aber ein Satz ein praktischer Satz ist,

1

muß noch eine zweite Bedingung erfüllt sein, nämlich daß

durch ihn der Wille bestimmt wird. „Wille“ wird von Kant als

ein begriffliches Kausalvermögen verstanden und hat somit

einen kognitiven und konativen Aspekt. Der Wille ermöglicht

es uns nicht nur, die Welt unseren Vorstellungen

entsprechend einzurichten, dieses Vermögen haben auch alle

anderen Wesen, die über ein Begehrungsvermögen im

allgemeinen verfügen (s. dazu KpV, Vorrede???). Er

ermöglicht es uns darüber hinaus, die Welt nach der

Vorstellung von Regeln oder Gesetzen einzurichten (GMS, IV 412;

KpV???) . Der praktische Satz ist genau eine solche Norm,

die eine mögliche Wirkungsart des menschlichen

Kausalvermögens zum Ausdruck bringt.1

„Bestimmung“ des Willens bedeutet, daß durch den Satz die Art

des Wirkens so festgelegt ist, daß andere Arten

ausgeschlossen sind. Kant versteht „determinatio“ als “ponere

praedicatum cum exclusione opposite” (Princ. prim. cogn. met. sct.

II, prop. IV). Nun werden durch den praktischen Grundsatz

dem Willen nicht deskriptiv bestimmte Merkmale

zugeschrieben. Vielmehr erlegen wir dem Willen mit

Handlungsgrundsätzen eine Norm auf, die es erst noch zu

verwirklichen gilt. Dabei kann man an dem „exclusione opposite“

festhalten: Die Willensbestimmung besteht genau darin, daß

wir durch den praktischen Satz die Vielzahl von

Wirkungsarten auf eine Art einschränken. Der Begriff der

Bestimmung ist zweideutig. Zum einen können wir den Willen

bestimmen, indem das Prinzip seines Wirkens beurteilen. Diese

1 Für eine detaillierte Analyse des in der Kant-Literatur viel diskutierten Satzes vonGMS 412 s. Willaschek 1992, § 5.

2

Beurteilungsperspektive kann nicht nur der Handelnde selbst,

sondern auch ein Beobachter einnehmen. Dabei wird dann etwa

ein Prinzip des Handelns als moralisch legal oder

unmoralisch klassifiziert. Der andere Sinn von ‘Bestimmung’

ergibt sich nur aus der Perspektive des Handelnden.

Willensbestimmung meint hier aus der Vielzahl von

Handlungsprinzipien eines auszuwählen, eine Entscheidung zu

treffen und damit die Wirkungsweise des Willens auf das

gewählte Prinzip festzulegen. Bestimmung bedeutet hier nicht

bloß Beurteilung, sondern Handlungswirksamkeit.

Kant spezifiziert die Willensbestimmung zudem noch als

„allgemein“. Man könnte meinen, damit sei eine

Willensbestimmung angesprochen, die nicht nur für ein,

sondern für alle Handlungssubjekte gilt. Ein praktischer

Grundsatz wäre demnach die Bestimmung einer Handlungsart,

die für alle Handlungssubjekte gilt. Nun ist aber, wie Kant

im folgenden Satz schreibt, die „Maxime“ eine Unterart

dieser praktischen Grundsätze. Maximen sind subjektive

Handlungsprinzipien und als solche nicht für alle

Handlungssubjekte gültig. Weil es eine „Ungereimtheit“ ist,

zu sagen: „[k]ein einziges Pferd hat Hörner, aber die

Pferdegattung ist doch gehörnt“ (VIII, 47), die

Eigenschaften von Gattung und Art sich also nicht

widersprechen dürfen, muß hier mit „allgemein“ ein anderer

Sachverhalt angesprochen sein.

Es ist daher naheliegend, den Relativsatz „die mehrere

praktische Regeln unter sich hat“ so zu verstehen, daß damit

die Allgemeinheit der Willensbestimmung genauer spezifiziert

3

wird. Die Rede von „unter sich hat“ weist auf ein

Subsumtionsverhältnis hin: Die Willensbestimmung ist allgemein

und nicht speziell, im Verhältnis zu den praktischen Regeln,

die sie unter sich begreift. Auch wenn allgemeine

Willensbestimmung bereits eine Festlegung auf eine bestimmte

Handlungsart darstellt, so daß andere Handlungsarten

ausgeschlossen sind, handelt es sich doch erst um eine

allgemeine Art zu handeln. Die konkrete Handlung bleibt damit

noch unbestimmt. Erst vermittels einer konkreten

Situationsbeschreibung als Fall jenes Grundsatzes kann dann,

die konkrete Handlungsanweisung abgeleitet werden, die zur

Realisierung der allgemeinen Willensbestimmung führt. Der

„Grundsatz“ und die „praktische Regel“ fungieren also als

Obersatz bzw. Schlußsatz in einem praktischen Syllogismus,

die „Bedingung“ von der Kant spricht, bildet den

Mittelbegriff (zum Vernunftschluß s. Logik § 57 f.; eine

genauere Anaylse des praktischen Syllogismus bei Kant findet

sich unten § 4, Anmerkung???). Ein Blick in Kants Logik

bestätigt diese Analyse: Grundsätze sind Urtheile aus denen

„andere Urteile erwiesen“ werden, die selbst aber „keinem

andern subordinirt werden können“ (Logik § 34).

Ein Beispiel für eine allgemeine Willensbestimmung oder einen

Grundsatz wäre also etwa: Ich will „mein Vermögen durch alle

sicheren Mittel […] vergrößern“ (§ 4, V, 27). Damit ist

lediglich eine Handlungsart aber noch nicht über die konkrete

Handlung entschieden. Der Grundsatz enthält deshalb

seinerseits noch mehrere praktische Regeln „unter sich“. Zum

Beispiel: (i) Gebe nicht mehr Geld aus als du einnimmst,

4

(ii) lege nicht den Großteil deines Geldes in Aktien an,

(iii) hinterziehe Steuern dort, wo Du unendeckt bleibst etc.

Die „praktischen Regeln“ sind also spezielle

Handlungsanweisungen, die normalerweise von der besonderen

Situation des Handelnden abhängig sind.

Um die speziellen praktischen Regeln, die „unter“ den

praktischen Grundsätzen stehen, aufzufinden, ist daher

normalerweise empirische Erkenntnis erforderlich. So müssen

wir etwa wissen, daß der Aktienmarkt selbst für Experten

unvorhersehbar ist und deshalb ein Aktieninvestment kein

geeignetes Mittel ist, um sein Vermögen „sicher“ zu

vergrößern. Dasselbe gilt auch für die dritte praktische

Regel, die freilich rechtlich und moralisch unerlaubt ist.

Doch weil die Maxime als der allgemeine Grundsatz „alle

sicheren“ Mittel zur Vergrößerung des Vermögens zuläßt,

schließt sie auch die unmoralischen und unrechtlichen Mittel

nicht aus. Allein die erste praktische Regel läßt sich auch

ohne empirische Erkenntnis formulieren und folgt analytisch

aus der allgemeinen Willensbestimmung.

2. Satz: „Sie sind subjektiv – erkannt wird“

Müssen die praktischen Grundsätze oder die praktischen

Regeln in Maximen und Gesetze eingeteilt werden? Das

Demonstrativpronomen, mit dem Kant diesen Satz eröffnet,

läßt dies offen. Nun heißt es weiter unten ausdrücklich, daß

„Maxmimen […] zwar Grundsätze, aber nicht Imperativen sind“ (A

37). Versteht man die praktischen Regeln als Imperative ist

die Referenz eindeutig: Praktische Grundsätze teilen sich auf

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in zwei Unterarten: „Maximen“ und „praktische Gesetze“. Kant

hat einen weiten Begriff von „Grundsätze“, der es zuläßt

Maximen und Gesetze unter ihn zu subsumieren. Grundsätze im

allgemeinen sind Prinzipien. Sie können sowohl a priori als

auch empirisch (KrV, B 198), objektiv oder auch subjektiv

sein (KrV, B 644). Als objektive Grudsätze sind sie

„Gesetze“ als subjektive heißen sie „Maximen“ (KrV, B 694).

Maximen sind subjektiv, weil „die Bedingung nur als für den

Willen des Subjekts als gültig […] angesehen wird“. Der

„praktische Grundsatz“ ist die Bedingung der praktischen

Regel. Doch wenn man das Demonstrativpronomen am Beginn des

Satzes auf den praktischen Grundsatz bezieht, kann Kant

nicht auch „Bedingung“ mit dem „praktischer Grundsatz“

identifizieren. Der praktische Grundsatz wäre dann die

Bedingung der Maxime, die selbst eine Art des praktischen

Grundsatzes ist. Es ist naheliegend „Bedingung“ hier als die

Bedingung der Annahme des Grundsatzes zu verstehen. Wenn die

Bedingung der Annahme auf Gründen beruht, die bloß subjektiv

gültig sind, dann ist der Grundsatz eine Maxime. Ist die

Bedingung der Annahme dagegen „für den Willen jedes

vernünftigen Wesens gültig“, haben sie „objektiv[e]“

Gültigkeit und heißen „Gesetze“. Der Unterschied zwischen

Maximen und praktischen Gesetzen wird hier ausschließlich

über den Geltungsbereich bestimmt.

Wie Maximen und praktische Gesetze genauer zu formulieren

sind, erfährt man an dieser Stelle nicht. Als Arten der

praktischen Grundsätze gelten aber auch für sie jene

eingangs formulierten Bedingungen: Sie sind allgemeine

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Sätze, denen besondere praktische Regeln untergeordnet sind.

Der praktische Grundsatz „ich will mein Vermögen durch alle

sicheren Mittel vergrößern“, drückt keine objektive, sondern

nur eine subjektive Verbindlichkeit aus. Der Unterschied

zwischen Maximen und praktischen Gesetzen ist nicht, daß

diese präskriptiv, jene dagegen nur deskriptiv sind.

Vielmehr erlegen wir uns mit der Annahme einer bestimmten

Maxime selbst eine Handlungsart auf. Dabei wird nur nicht in

Anspruch genommen, daß alle Vernunftsubjekte dieser

Handlungsart folgen sollen.

Anmerkung

1. Absatz, 1. Satz: „Wenn man annimmt, daß reine Vernunft - bloße Maximen

sein“

Nur wenn reine Vernunft die Fähigkeit hat, unseren Willen

allein aus sich heraus zum Handeln zu bestimmen, gibt es

praktische Gesetze. Ist reine Vernunft nicht in der Lage,

allein aus sich heraus den Willen zum Handeln zu bestimmen,

sind alle praktischen Grundsätze nur subjektiv gültig

(Maximen). Kant deutet an dieser Stelle den Zusammenhang

zwischen reiner Vernunftbestimmung und praktischen Gesetzen

nur an. Das negative Argument für diesen Zusammenhang läßt

sich wie folgt ausdrücklich machen:

(i)Wir können nur dann nach Regeln handeln, wenn ein

gegebener Wunsch vorausgesetzt wird, auf den sich diese

Regeln beziehen können

(ii) Praktische Gesetze sind Regeln die

voraussetzungslos gebieten.

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(iii) Also sind wir keine rechtmäßigen Adressaten für???

praktische Gesetze.

2. Satz: In einem pathologisch-affizierten - angetroffen werden.

In einem Willen, der nicht unmittelbar durch Vernunft

bestimmt ist, sondern bei dem Vernunft auch bloß als

instrumentelles Vermögen fungiert, können die Maximen dem

praktischen Gesetz „widerstreiten“. „Pathologisch“ muß hier

wörtlich als widerfahren oder erleiden verstanden werden. Nur

weil wir auch Wünsche haben, die nicht von der Vernunft

hervorgebracht sind, sondern die uns zufällig widerfahren,

ist es möglich, daß unsere Maximen nicht ausschließlich

vernünftig sind. Freilich ist dies nur eine notwendige

Bedingung für Handlungen, die nicht ausschließlich

vernünftig sind. Es ist sehr wohl denkbar, daß wir Wünsche

haben, die nicht von der Vernunft hervorgebracht sind, wir

aber immer nur dasjenige wählen, was vernünftig ist. Wir

würden dann, obgleich unser Begehrungsvermögen sinnlich

affiziert ist, ausschließlich vernünftig handeln.

3. Satz: „Z. B. es kann sich jemand – stimmen könne“

Den möglichen Widerspruch zwischen Maxime und praktischem

Gesetz erklärt Kant an einem Beispiel. Die Maxime lautet:

Ich will „keine Beleidigung ungerächet […] erdulden“. Kant

behauptet, daß diese Maxime „kein praktisches Gesetz“ sei.

Seine Begründung fällt nur sehr kurz aus: Sie könne nicht

„als Regel für den Willen eines jeden vernünftigen Wesens,

in ein und derselben Maxime, mit sich selbst […] zusammen

stimmen“. Wenn etwas nicht „mit sich selbst nicht zusammen

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stimmen“ kann, liegt ein Widerspruch vor. Dabei bleibt aber

noch unklar, welche Art von Widerspruch hier gemeint ist.

Aus der Grundlegung sind uns zwei Arten von Widerspruch

bekannt: Der konzeptuelle und der Widerspruch im Willen

(GMS, 424). Die Frage ist also erstens, wo genau der

Widerspruch auftritt und zweitens welche Art von Widerspruch hier

gemeint ist.

Aus folgendem Grund glaubt Kant vermutlich, daß dieser Satz

nicht als praktisches Gesetz gelten könne: Der Rächer

intendiert mit seiner Rache einen Ausgleich und die

Widerherstellung des status quo. Dieser Zustand aber läßt sich

nicht erreichen, wenn der Rache als einer Form der

Beleidigung, selbst wiederum mit Rache begegnet würde und so

weiter ad infinitum. Demnach kann diese Maxime „ohne

Widerspruch nicht einmal als allgemeines Naturgesetz gedacht

werden“ und also liegt hier ein konzeptueller Widerspruch

vor (GMS, IV 424, Hervorhebung J. B.). Maximen, die ohne

Widerspruch nicht gedacht werden können, verletzen eine

vollkommene Pflicht. Setzt man also den Theorierahmen der

Grundlegung voraus, wäre es eine vollkommene Pflicht, einige

Beleidigungen ungerächt zu erdulden (ebd.).

4. Satz: „In der Naturerkenntnis - Objekts bestimmt“

Praktische Grundsätze sind nicht immer auch für alle

Handlungssubjekte gültig („Gesetze“), sie können auch nur

subjektiv gültig („Maximen“) sein. Diese These führt Kant

dazu den prinzipiellen Unterschied zwischen theoretischer

und praktischer Erkenntnis zu erläutern: Theoretische

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Erkenntnis ist Erkenntnis von dem was der Fall ist und nicht

was der Fall sein soll. Der „Gebrauch der Vernunft“ ist daher,

wie Kant sagt, in der Theorie „durch die Beschaffenheit des

Objekts bestimmt“. Kant nennt als Beispiel das Prinzip der

„Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung“. Genauer lautet

dieses Prinzip „Wirkung und Gegenwirkung ist in dem Stoße

der Körper immer gleich“ (Neuer Lehrbegriff, II, S. 19). Dieses

Prinzip ist ein Prinzip von dem „was geschieht“ oder von dem

was der Fall ist. Und weil theoretische Erkenntnis genau

dieses Wissen intendiert, „sind die Prinzipien dessen, was

geschieht, […] zugleich Gesetze der Natur“.

5. Satz: „In der praktischen Erkenntnis - vielfältig richten kann“

In der praktischen Erkenntnis sind „Grundsätze, die man sich

macht, darum noch nicht Gesetze, darunter man unvermeidlich

stehe“. Zwei Dinge sind an diesem Satz bemerkenswert: Kant

spricht im Indikativ von Grundsätzen, die man sich „macht“.

Damit versucht er zunächst praktische Erkenntnis analog zur

Naturerkenntnis als ein ‘Der-Fall-Sein’ zu verstehen. Doch

bereits der zweite Teil bringt die Disanalogie zum Ausdruck.

Denn das „Der-Fall-Sein“ von bestimmten Grundsätzen bedeutet

in der praktischen Erkenntnis gerade nicht, daß man „darunter

[…] unvermeidlich stehe“.

Die Wendung „darunter unvermeidlich stehen“ kann auf zwei

Weisen verstanden werden:

(a) Es ist notwendig der Fall, daß wir diese Grundsätze haben

(die Grundsätze hätten nicht anders sein können).

(b) Die Grundsätze sind allgemein verbindlich (es ist

unbedingt geboten, daß wir diese Grundsätze annehmen).

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Beide Lesarten sind sinnvoll, weil in beiden Fällen für

praktische Grundsätze ihr Gegenteil gilt:

(a) Grundsätze, die wir uns machen hätten andere sein

können, weil wir frei sind.

(b) Die Grundsätze, die wir Annehmen, sind nicht auch

zugleich allgemein verbindliche Gesetze, sondern können auch

nur Maximen sein, weil wir nicht immer schon die Grundsätze

annehmen, die vernünftig sind.

Betrachtet man den engeren Kontext dieses Satzes, wird man

sich wohl für die zweite Lesart entscheiden. Genau um den

Sachverhalt, daß Maximen nicht auch immer verbindliche

Gesetze sind, geht es Kant sowohl zwei Sätze zuvor als auch

unmittelbar im Anschluß, wenn er den Begriff des Imperativs

einführt. Nimmt man die Begründung dieses Satzes hinzu, dann

ergibt sich zudem noch eine Schwierigkeit, die die erste

Lesart unplausibel macht. Praktische Grundsätze sind nicht

auch zugleich Gesetze, weil die Vernunft es im Praktischen

nicht mit Objekten, sondern „mit dem Subjekte zu tun“ habe,

genauer mit dem „Begehrungsvermögen, nach dessen besonderer

Beschaffenheit sich die Regel vielfältig richten kann“. Mit

„Regel“ ist in diesem Fall wahrscheinlich nicht die

besondere praktische Regel, sondern der allgemeine

praktische Grundsatz gemeint. Welchen subjektiven

praktischen Grundsatz (Maxime) man annimmt, hängt von der

„besonderen Beschaffenheit unseres Begehrungsvermögens“ ab.

Was wir Begehren und welche Grundsätze wir annehmen, ist von

Subjekt zu Subjekt verschieden und letztlich für Kant ein

Akt der Freiheit.

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Wenn man nun kontrafaktisch diesen Satz negiert und sich der

Grundsatz nicht nach der besonderen „Beschaffenheit des

Begehrungsvermögens“ richtete, wir also alle notwendig

dasselbe wollten, dann müßte man auch den ersten Teilsatz

negieren und alle „Grundsätze, die man sich macht“ wären

„Gesetze, darunter man unvermeidlich stehe“. Nun ist es

zunächst nicht einzusehen, warum unsere Grundsätze auch

zugleich praktische Gesetze wären, wenn wir alle dasselbe

wollten. Es wäre denkbar, daß wir alle mit Notwendigkeit

dieselben nicht universalisierbaren Grundsätze annehmen und

wir also keine moralisch zurechenbaren Wesen im kantischen

Sinne wären. In der Anmerkung II von § 3 argumentiert Kant

zudem, daß, selbst wenn wir alle hinsichtlich desselben

Weltzustandes dasselbe fühlten, sich daraus dennoch keine

allgemeinen praktischen Gesetze ableiten ließen, weil diese

Übereinstimmung nur empirisch und damit zufällig ist (s.

oben???).

Vor dem Hintergrund dieser kontrafaktischen Annahme scheint

sich die zweite Lesart besser zu bewähren: Wenn wir alle

notwendig dasselbe wollten, dann wären unsere Grundsätze

auch zugleich deskriptive Gesetze, nämlich von dem was der

Mensch will.

Kant würde vermutlich die Frage stellen, woher denn diese

nicht-universalisierbaren Grundsätze kommen können. Für ihn

gibt es genau zwei Möglichkeiten: Vernunft oder

Sinnlichkeit. Von der Vernunft können sie nicht kommen, weil

sie nicht universalisierbar sind. Sind sie aber auf unsere

Sinnlichkeit zurückzuführen, dann handelt es sich lediglich

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um einen empirischen Zufall, daß wir alle dasselbe wollen.

Jene kontrafaktische Annahe läßt sich also für Kant nur

aufrecherhalten, wenn wir alle notwendig durch Vernunft

bestimmt sind. Und dann wären auch tatsächlich alle unsere

Grundsätze immer schon praktische Gesetze.

Satz 6: „Die praktische Regel - vorschreibt“

Kant führt den Begriff des Imperativs ein. Dabei behauptet

er zunächst, daß die „praktische Regel“ ein

„Vernunftprodukt“ ist. Sie schreibt uns eine „Handlung, als

Mittel zur Wirkung als Absicht vor“. Die Rede von

„praktischer Regel“ muß hier terminologisch verstanden

werden. Sie ist jene spezielle Handlungsanweisung, die zur

Verwirklichung des allgemeinen praktischen Grundsatzes führt

(vgl. Satz 1???). Von dieser Praktischen Regel sagt Kant nun

(i) sie ist „Handlung“ (ii) sie ist „Mittel zur Wirkung“ und

(iii) sie ist „Absicht“.

Hinter der komplizierten Wendung „Handlung, als Mittel zur

Wirkung, als Absicht“ steht ein einfacher Sachverhalt: Wenn

wir einen vorausgesetzten Zweck wollen, dann schreibt uns

die praktische Regel eine Handlung vor. Diese Handlung

müssen wir beabsichtigen, weil sie das Mittel zur

Verwirklichung des vorausgesetzten Zwecks ist.

Man kann sich das an dem oben genannten Beispiel

verdeutlichen: Heinz hat den Zweck, sein Vermögen durch alle

sicheren Mittel zu vergrößern. Ist er in der Situation, über

ein finanzielles Vermögen zu verfügen und es ist darüber

hinaus der Fall, daß der Kauf von Gold das einzige sichere

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Mittel sein Vermögen zu vergrößern ist, dann ist die

praktische Regel: „Du sollst dein Geld in Gold anlegen!“

Entsprechend lautet die vorgeschriebene Absicht: „Ich will

mein Geld in Gold anlegen“. Diese Absicht sollte Heinz

haben, wenn er es mit seinem Willen ernst meint, sein

Vermögen durch alle sicheren Mittel zu vergrößern. Es „ernst zu

meinen“, heißt, die Verwirklichung zu wollen und nicht etwa

nur zu wünschen (s. zu dieser Unterscheidung, S.???). Die

vorgeschriebene Absicht ist das Mittel zur Verwirklichung

der ursprünglichen Intention.

Wieso sagt Kant nun, daß diese Regel „jederzeit ein Produkt

der Vernunft“ ist? Kant kann nicht meinen, die Vernunft

bringe die Regel aus reiner Selbsttätigkeit hervor. Daß Gold

ein sicheres Mittel zur Vergrößerung des Vermögens ist, ist

(wenn es wahr wäre) eine empirische Tatsache. Insofern möchte

man meinen, daß die Regel kein Vernunftprodukt, sondern ein

Produkt der Empirie ist. Wenn Kant in diesem Zusammenhang von

„Vernunftprodukt“ spricht, muß er also den empirischen und

nicht reinen Vernunftgebrauch meinen. Vernunft wird hier von

Kant in einem weiten Sinne gebraucht. Genauer noch ist die

„bestimmende Urteilskraft“ gemeint (s. dazu KU, V 179), die

die spezielle praktische Regel aufsucht, die unter dem

allgemeinen praktischen Grundsatz steht.

Satz 7, 8: „Diese Regel – gänzlich unterschieden“

Bei einem Wesen, bei dem der Wille nicht ausschließlich

durch Vernunft bestimmt ist, ist die praktische Regel ein

„Imperativ“: „Du sollst dein Geld in Gold anlegen“. Ein

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Imperativ ist eine Regel, die eine „objektive Nötigung der

Handlung ausdrückt“. Wenn die Vernunft den Willen

ausschließlich bestimmen würde, würden wir notwendig dieser

praktischen Regel folgen. Imperative gelten objektiv und

sind von Maximen unterschieden. Damit wird „objektiv“ nun in

einem weiteren Sinne als im ersten Absatz gebraucht. Dort

hatte Kant objektive Grundsätze zunächst nur mit Gesetzen

gleichgesetzt. Hier zeichnet sich schon ab, daß jede Art von

Imperativ in einem bestimmten Sinne ein objektiver Grundsatz ist. In

welchem Sinne, erläutert Kant, wenn er weiter unten auf die

Arten der Imperative eingeht.

Wie ist es zu verstehen, daß die Vernunft nicht

ausschließlich den Willen bestimmt? Kant nennt an dieser

Stelle keine positive Alternative zur Vernunftbestimmung:

Wodurch sind wir bestimmt, wenn wir nicht durch Vernunft

bestimmt sind? Der Gegenbegriff von „Vernunft“ ist

„Sinnlichkeit“ oder, wenn es um den Willen geht, „Neigung“.

Es wäre also möglich, daß wir sehr wohl wissen, was wir

vernünftigerweise zu tun hätten, aber statt dessen unseren

unmittelbaren Neigungen entsprechend handelten.

Hier treten Probleme auf: Es ist naheliegend, die Bestimmung

durch Neigung so zu verstehen, als würde diese unmittelbar

als ein Naturtrieb handlungswirksam. Nach diesem Modell

wären wir frei, wenn wir aus Vernunft und unfrei, wenn wir

aus Neigung handelten. Diese Interpretation führt dann zu

der absurden Konsequenz, daß wir die Möglichkeit moralisch

bösen Handelns aufgeben müssen.2 Kant kann hier daher nur so2 Carl Leonard Reinhold hat als erster??? auf diese absurde Konsequenz aufmerksamgemacht und eine Revision der Kantischen Freiheitstheorie vorgeschlagen, die nichtdem „Kantischen Buchstaben“, aber dem „kantischen Geist“ entspreche. In dieser

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sinnvoll verstanden werden, wenn man voraussetzt, daß eine

Vernunftbestimmung möglich gewesen wäre. In diesem Sinne

können dann auch jene Passagen gelesen werden, in denen Kant

schreibt, daß das Begehrungsvermögen durch sinnliche

„Antriebe zwar affiziert, aber nicht bestimmt [d. h.

necessitirt] wird“ (KrV, B 562; B 830; KpV, V 32; MS/E, VI

213).

Es läßt sich noch ein zweiter Grund denken, warum wir

Imperativen unterworfen sind. Wenn z. B. derjenige, der

„sein Vermögen durch alle sicheren Mittel vergrößern“ will,

die falsche Meinung hat, daß sein Ziel durch Aktiengeschäfte

zu erreichen ist, so gilt für ihn nicht etwa der Imperativ:

„Investiere in Aktien!“. Vielmehr drückt jeder Imperativ

eine „objektive Nötigung“ aus. Wenn also die praktische Regel

auf falscher Erkenntnis beruht, ist sie kein Imperativ und

damit nicht verbindlich. Der Imperativ hängt daher nicht vom

persönlichen, sondern vom objektiven Wissensstand ab.

Sollenssätze sind also auch deshalb sinnvoll, weil wir uns

irren können.

Wir können uns ein vernünftiges Wesen denken, das immer das

tut, was es subjektiv für vernünftig hält. Dennoch wäre in

bezug auf dieses Wesen die Rede von Imperativen sinnvoll.

Denn wenn es den Zweck wirklich will und nicht etwa nur

wünscht, dann will es auch die Verwirklichung. Diese ist

aber nur möglich, wenn es sich an die objektiv wahren und

nicht nur subjektiv für wahr gehaltenen Mittel-Zweck-

Tradition stehen die meisten gegenwärtigen Kantinterpreten. Sie kommen alle letztlichdarin mit Reinhold überein, daß sie Freiheit als absolute Spontaneität der Willkürbestimmen, aus der wir uns für oder gegen das moralische Gesetz entscheiden können(Hudson 1994; Willaschek 1992; Allison 1990; Carnois 1987; Beck ³1995). Für einenVersuch in dieser Sache am Kantischen Buchstaben festzuhalten s. Bojanowski 2007.

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Beziehungen hält. Der Imperativ kommt hier also über unsere

Irrtumsanfälligkeit ins Spiel. Der Text expliziert die

Wendung „bei dem Vernunft nicht ganz allein Bestimmungsgrund

des Willens ist“ nicht. Daher muß es offen bleiben, ob für

Kant die Irrtumsfähigkeit konstitutiv für Imperative ist.

Kant zieht aber eine andere Möglichkeit in Erwägung: Ein

Wesen bei dem „die Vernunft den Willen gänzlich bestimmte“,

ein Wille, der sowohl theoretisch als auch praktisch

irrtumsimmun ist. Kant nennt einen solchen Willen auch einen

„heiligen Willen“ (KpV, § 7 V 32). Dieser heilige Wille hat

nicht die Wahl zwischen Vernunft und Neigung. Deshalb haben

die Begriffe „Imperativ“, „Nötigung“ in bezug auf ihn keine

Anwendung. Doch obgleich dieses Wesen nicht anders handeln

kann, folgt es dennoch „Regeln“. Der Heilige Wille ist also

ebenso wie wir ein normatives Wesen, nur muß die Befolgung

der Normen nicht wie bei uns gegen normwidrige Antriebe

erzwungen werden.

Satz 9-12: „Jene bestimmen aber – unabhängig sein muß“

Die Imperative bestimmen den Willen in zweifacher Weise: Die

erste Art bestimmt den Willen nur „in Ansehung der Wirkung

und Zulänglichkeit zu derselben“. Es wird also ein Ziel als

gegeben vorausgesetzt und der Imperativ schreibt uns die

Mittel vor, die „zulänglich“ sind, um die intendierte

Wirkung herbeizuführen. Weil diese Art der Willensbestimmung

einen bestimmten Gegenstand des Willens als gegeben

voraussetzt, nennt Kant den Imperativ einen „hypothetischen

Imperativ“. Der hypothetische Imperativ ist nur bedingt

gültig, weil er nur für diejenigen verbindlich ist, die den

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vorausgesetzten Zweck auch tatsächlich wollen. Deshalb sind

hypothetische Imperative keine Gesetze, sondern nur

„Vorschriften der Geschicklichkeit“.3

Der Begriff „Gesetz“ impliziert, wie Kant sagt,

„Notwendigkeit“, genauer muß es heißen: objektive

Notwendigkeit. Er muß daher von „zufällig anklebenden

Bedingungen unabhängig sein“. Kant wird zwei Sätze später

auch von den „Vorschriften“, den hypothetischen Imperativen

sagen, daß ihnen Notwendigkeit zukommt, schränkt sie aber

ein, indem er sagt, daß sie „nur subjektiv bedingt“ sei. Man

kann also festhalten, daß alle Imperative mit Notwendigkeit

gelten. Die kategorischen sind objektiv, die hypothetischen

subjektiv gültig.

In demselben Zusammenhang, in dem Kant den Gesetzesbegriff

expliziert sagt er aber auch, daß „Notwendigkeit […] wenn

sie praktisch sein soll, von pathologischen, mithin dem Willen

zufällig anklebenden Bedingungen unabhängig sein muß“

(Hervorhebung J. B.). Nun ist die Verbindlichkeit der

hypothetischen Imperative von diesen „zufällig anklebenden

Bedingungen“ abhängig. Daher liegt der Schluß nahe, daß Kant

ihnen überhaupt keine praktische, sondern nur theoretische

Notwendigkeit zusprechen will. Und dennoch bezeichnet er sie

als Imperative. Als Imperative drücken sie eine

Handlungsanweisung aus, die dem Handelnden aus

Vernunftperspektive keine Wahl lassen und insofern nicht nur3 Kants Analyse der Imperative fällt in der zweiten Kritik gröber aus als in derGrundlegung. Erstens fehlt die Differenzierung der hypothetischen Imperative in„Ratschläge der Klugheit“ und „Regeln der Geschicklichkeit“ (GMS IV, 416). Er machtzweitens keine Angaben über den modalen Status (apodiktisch, assertorisch,problematisch) der Imperative im allgemeinen (GMS, IV 415). Drittens spricht Kant auchin dieser Passage nicht und sonst eher beiläufig über die Qualität (analytisch,synthetisch) der moralischen Sätze (GMS, IV 417).

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eine praktische Möglichkeit, sondern eine Notwendigkeit

darstellen. Das bedeutet freilich nicht, daß wir gar nicht

anders wollen können, immer schon das tun, was vernünftig

ist und der Imperativ eigentlich ein Indikativ ist. Es

bedeutet nur, daß wir den Verstoß gegen den Imperativ nicht

vernünftigerweise wollen können, weil wir uns damit einen

Widerspruch einhandelten: Wir wollen das Ziel verwirklichen,

aber wir wollen nicht auch die Mittel ergreifen, die zu

seiner Verwirklichung notwendig sind. Dabei kann die

praktische Notwendigkeit des Imperativs durchaus, wie Kant

sagt, „subjektiv bedingt“ sein. Es ist dann nicht das

vorausgesetzte Ziel, das praktisch notwendig ist, sondern

das Mittel zu seiner Verwirklichung. Auch wenn in den

Imperativ in diesem Fall theoretisches Wissen um eine

Kausalbeziehung eingebettet ist, ist es ein Imperativ, der

immer auf unser Begehrungs- und nicht etwa Erkenntnisvermögen

bezogen ist. Es bleibt daher unklar, warum Kant sagt, daß

Notwendigkeit, „wenn sie praktisch sein soll, von

pathologischen, mithin dem Willen zufällig anklebenden

Bedingungen unabhängig sein muß“ (Hervorhebung J. B.).4

Die zweite Art der Willensbestimmung setzt keinen bestimmten

Gegenstand des Willens als gegeben voraus, sondern gebietet

dem Willen unmittelbar, „er mag zu seiner Wirkung

hinreichend sein oder nicht“. Das „er“ bezieht sich hier auf

4 Walter Brinkmann hat uns eine modallogische Analyse von Kants Ethik vorgelegt. DieseStudie ist eine außergewöhnliche Verbindung aus systematischer Eigenständigkeit undhermeneutischer Behutsamkeit. Ihr Titelbegriff ist „praktische Notwendigkeit“. Es istjedoch leider auch ihr nicht zu entnehmen, wie es zu erklären ist, daß Kant denhypothetischen Imperativen praktische Notwendigkeit abspricht. Obwohl Brinkmann aneiner Stelle ausdrücklich bemerkt, daß Kant „’praktisch notwendig’ […] für moralischeVerpflichtungen [reserviert]“, erklärt er, soweit ich sehe, diese Einschränkung nicht(Brinkmann 2003, S. 79).

19

den Willen. Bei der Bestimmung des Willens wird erstens nicht

berücksichtigt „ob ich gar das zu einer begehrten Wirkung

erforderliche Vermögen habe“ und zweitens, „was mir, um diese

hervorzubringen, zu tun sei“. Bei dieser Art der

Willensbestimmung geht es also weder um die Frage, ob der

Wille als Kausalvermögen stark und geschickt genug ist, um

die begehrte Wirkung hervorzubringen, noch welche Mittel

angemessenen sind, um die intendierte Wirkung zu erzielen.

Was dem Willen, wenn er „unmittelbar“ bestimmt wird, positiv

geboten wird, sagt Kant an dieser Stelle nicht. Er sagt

aber, daß das Gebot, weil es keine Bedingung als gegeben

voraussetzt, „kategorisch“ genannt wird. Damit ein Gebot ein

Gesetz sein kann, muß es objektiv notwendig gelten. Deshalb

können nur kategorische Gebote „Gesetze“ heißen. Nur sie

sind „von pathologischen, mithin dem Willen zufällig

anklebenden Bedingungen unabhängig“.

Kant spricht hier im Plural von „kategorischen Imperativen“

und „Gesetzen“. Dabei betont er etwa in der Grundlegung, daß

der kategorische Imperativ nur „ein einziger“ sei (GMS, IV

421). Der Plural bezeichnet hier nicht das Prinzip des

kategorischen Imperatives, sondern seine konkreten

Instanzierungen. Demnach wären dann z. B. die Imperative:

„Sage die Wahrheit!“, „begehe kein Selbstmord!“, „entwickle

deine Talente!“ und „helfe Menschen in Not!“ (GMS, IV 421

ff.) vier kategorische Imperative und die durch sie

bestimmten universalisierbaren Maximen jeweils ein

praktisches Gesetz. Obgleich die Maxime also immer subjektiv

ist, weil ihr die Form „ich will ...“ zugrunde liegt, kann

20

ihr doch auch „zugleich“ Objektivität zukommen, wenn sie

universalisierbar ist. Genau dieser Sachverhalt ist

angesprochen, wenn Kant das Grundgesetz der reinen

praktischen Vernunft so formuliert, daß wir so handeln

sollen, „daß die Maxime [unseres] Willens jederzeit zugleich

als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“

(KpV § 7, Hervorhebung J. B.). Die Maxime: „ich will mir nur

dann Geld leihen, wenn ich weiß, daß ich es zu einem

späteren Zeitpunkt auch zurückzahlen kann“, ist ein Fall

einer Maxime, die zugleich als objektives Gesetz gilt.

Auch die universalisierbaren Maximen als besondere oder

niederrangigen Moralgrundsätze sind unbedingt gültig, weil

sie mit dem höherrangigen obersten Prinzip, aus dem sie sich

ableiten, übereinstimmen. Der oberste Grundsatz ist das

Prinzip des kategorischen Imperativs im Singular, das Kant

im § 7 als „Grundgesetz der praktischen“ Vernunft einführen

wird. Wie Kant die Unbedingheit dieses ersten Prinzips

rechtfertigt, wird im Zusammenhang mit Kants Theorie vom

Moralgesetz als Vernunftfaktum diskutiert werden (s.

unten???).

Mit der Einführung der hypothetischen und kategorischen

Imperative, läßt sich nun eine Taxanomie der praktischen

Sätze angeben. Dabei fällt auf, daß der hypothetische im

Unterschied zum kategorischen Imperativ nicht als eine Art

der praktischen Grundsätze verstanden wird. Diese Einteilung

erhält ihre textliche Unterstützung aus der „Erklärung“ des

§ 1. Dort subsumiert Kant ausdrücklich unter Grundsätze nur

Maximen als subjektive und Gesetze als objektive Grundsätze.

21

Der Sache nach können die hypothetischen Imperative wohl

nicht als Ober- bzw. Grundsätze in einem Syllogismus

fungieren, weil sie keine Regeln sind, von denen wir im

Denken ausgehen, sondern bei denen wir ankommen (s.

unten???). Die Differenzierung der hypothetischen Imperative

in „Regeln der Geschicklichkeit“ und „Ratschläge der

Klugheit“ ist aus der Grundlegung übernommen5:

Satz 13: „Saget jemand – Vorschrift des Willens“

Kant illustriert den Unterschied zwischen hypothetischen und

kategorischen Imperativen an zwei Beispielen. Für den

hypothetischen Imperativ lautet sein Beispielsatz: „Saget

jemanden, z. B. daß er in der Jugend arbeiten und sparen

müsse, um im Alter nicht zu darben.“ Der Finalsatz ist ein

hypothetisches Urteil und läßt sich problemlos in ein Wenn-

Dann-Satz überführen: ‘Wenn Du im Alter nicht darben willst,

dann mußt Du in der Jugend arbeiten und sparen’. Kant nennt

diesen Satz eine „praktische Vorschrift“. Er spricht hier

5 Auch wenn hypothetische Imperative keine praktischen Prinzipien sind kann mandoch sagen, daß sie theoretische Prinzipien sind (ausarbeiten)

Praktische Sätze

Grundsätze(Prinzipien

)

Hypothetische Sätze

Regeln der Geschicklic

hkeit

Ratschläge der

Klugheit

Gesetze(Objektiv,

Kat. Imperativ)

Maximen(Subjektiv)

22

deshalb nur von einer „Vorschrift“, weil er erst noch durch

weitere Argumentation spezifizieren will, welcher Art diese

Vorschrift ist. Im Ergebnis referiert er auf diesen Satz

zwar nicht direkt mit ‘hypothetischer Imperativ’, er nennt

diese „Vorschrift“ aber einen „Imperativ“ und da das

Kontrastbeispiel ausdrücklich ein Fall eines „kategorischen

Imperativ[s]“ ist, berechtigt uns der Text dazu, hier von

einem hypothetischen Imperativ zu sprechen. Als Beispiel für

den kategorischen Imperativ lesen wir in Satz 16: Du

„soll[st] niemals lügenhaft versprechen“. Dieser Satz ist

auch seiner grammatikalischen Form nach ein kategorischer

Satz. Man könnte deshalb meinen, daß sich aus der

grammatikalischen Satzform die Art des Imperatives ableiten

ließe.

Phillipa Foot ist dieser Auffassung gefolgt und hat durch

Gegenbeispiele versucht, Kants Unterscheidung zwischen

kategorischen als moralischen und hypothetischen als

zweckrationalen Imperativen aufzulösen. Ihr erstes Beispiel

ist eine Regel der Etikette: „Eine Einladung, die in der

dritten Person ausgesprochen wird, sollte auch in der

dritten Person beantwortet werden“. Ihr zweites Beispiel ist

eine mögliche Clubregel: „Frauen dürfen sich nicht im

Raucherzimmer aufhalten“ (Foot 1972, S. 308). Foot will

damit zeigen, daß es auch eine nicht-hypothetische,

kategorische Verwendung von „sollen“ in nicht-moralischen

Fällen gibt und deshalb das wesentliche Merkmal des

moralischen Sollens nicht in seiner Kategorizität bestehen

kann. Von diesem Befund ausgehend will Foot im Gegenzug zu

23

Kant zeigen, wie sich Moral als ein System hypothetischer

Imperative formulieren läßt. Mit der Frage, ob Kant zu der

Behauptung berechtigt ist, daß nur moralische Imperative

kategorische Imperative sind, rührt Foot also an den

Fundamenten der Kantischen Moralphilosophie.

Günther Patzig hatte bereits vor Foot in seinem

Wirkungsmächtign Aufsatz dafür argumentiert, daß die

logischen Termini in Kants praktischer Philosophie nur in

einem „analogischen Sinn“ Anwendung finden. Im Unterschied

zu Foot geht es ihm darum, diesen analogischen Sinn

herauszuarbeiten und damit die Kantische Unterscheidung zu

legitimieren. Patzig geht dabei zunächst von demselben

Befund aus wie Foot: Ein Imperativ bei dessen sprachilicher

Formulierung „wenn-dann“ verwendet wird, sei deshalb nicht

auch schon ein hypothetischer Imperativ. Die Tatsache, daß Kant

es in Erwägung ziehe, daß alle Imperative, die kategorisch

scheinen, „versteckterweise“ hypothetisch sein könnten (GMS,

IV 419), sei bereits ein deutlicher Hinweis dafür, daß man

„der äußeren Form eines Gebots […] nicht ansehen könne, ob es

hypothetisch oder kategorisch ist“ (Patzig 19???, S. 211,

Hervorhebung J. B.). Patzig gibt nun nicht nur wie Foot

Beispiele für hypothetische Imperative, die als kategorische

Sätze formuliert sind, sondern auch Beispiele für den

Umgekehrten Fall; kateogorische Imperative, die in

hypothetischer Satzform ausgedrückt sind: „Wenn jemand dir

Geld geliehen hat, so zahle es nach Vereinbarung zurück“.

Aus diesem Befund folgert Patzig, daß „hypothetisch“ und

„kategorisch“ in bezug auf praktische Sätze nicht von der

24

sprachlichen Formulierung der Imperative abhänge. Der

Unterschied zwischen beiden sei daher „kein rein formaler

Unterschied“ (Patzig 19???, 210 f.)

Auf den analogischen Sinn jener Termini stoße man, wenn man

sich klar macht, daß „Hypothetisch“ und „kategorisch“ in der

KrV auf apophantische Sätze angewendet werde. Diese Sätze

können wahr oder falsch sein, was für einen Imperativ gerade

nicht gilt. Der eigentliche Träger von „hypothetisch“ und

„kategorisch“ ist das Gebot, das der Imperativ ausspricht.

Hypothetische Imperative hätten demnach nicht etwa die Form

eines hypothetischen Urteils, bei dem die Gültigkeit des

Nachsatzes durch die des Vordersatzes bedingt ist (wenn p

ist, dann ist q). Der hypothetische Imperativ sei eine

bedingte Forderung und nicht die Aussage einer Grund-Folge-

Verbindung zwischen Wunsch und Forderung (Patzig 19???, S.

209).

Bernd Ludwig hat im Anschluß an Patzig dafür argumentiert,

daß die Rede von „hypothetischen Imperativen“ nur die

Kurzform für „hypothetisch-gebietende Imperative“.

„Hypothetisch“ sei also ebensowenig wie „kategorisch“ ein

Adjektiv, das „Imperativ“ näher bestimmen würde, vielmehr

müsse „hypothetisch“ als eine nähere Bestimmung zu

„gebieten“ verstanden werden. Was hier vorausgesetzt werde,

sei ein bestimmter Wille. Das Gebot, das dieser Imperativ

ausspricht, sei nur unter der Voraussetzung (Hypothese) eines

bestimmten Willens eine gültige Handlungsvorschrift, d. h.

nur unter dieser Voraussetzung überhaupt geboten (Ludwig 1999,

S. 106 f. Für den Diskussionszusammenhang s. Seel 21993, S. 151 f.).

25

Patzig und Ludwig haben überzeugend gezeigt, wie man an der

Kantischen Unterscheidung festhalten kann, ohne behaupten zu

müssen, daß der Imperativ in seiner grammatikalischen Form

als kategorischer oder hypothetischer Satz formuliert werden

müßte. Es ist allerdings fraglich, ob das Problem, so wie es

von diesen Interpreten gesehen wird, sich für Kant überhaupt

stellt. Foot, Patzig und Ludwig scheinen sich in einer

unkantischen Weise auf die Grammatik der Sätze zu

konzentrieren. Wir wissen aber, daß Kant auch in seiner

theoretischen Philosophie zuweilen die logische Form eines

Urteils als hypothetisch bezeichnet, obgleich sie ihrer

grammatikalischen Form nach keine „Wenn-Dann-Sätze“ sind

(Prolegomena???). Die logische Form sollte also nicht mit

der grammatikalischen Form eines Satzes identifiziert

werden. Welche grammatikalische Form wir für die

Formulierung des Imperatives auch wählen mögen, die

entscheidende Frage ist immer, ob der Imperativ nur deshalb

für mich verbindlich ist, weil ein bestimmter Wunsch

vorausgesetzt wird, oder er voraussetzungslos gebietet. Die

logische Form der Imperative ist demnach:

HI: Wenn du p willst, dann sollst du q wollen

KI: Du sollst p wollen

Diese beiden logischen Formen liegen den unterschiedlichen

linguistischen Äußerungen von Imperativen zu Grunde.

Eigentlich haben Patzig und Ludwig genau dafür argumentiert.

Sie haben aber nicht grundsätzlicher gefragt, was Kant unter

„logische Form“ versteht. Eine genauere Analyse dieses

Begriffs könnte zeigen, warum es für Kant unproblematisch

26

ist, daß hypothetische als kategorische und kategorische als

hypothetische Sätze ihren sprachlichen Ausdruck finden

können.

Satz 14 „Man sieht aber leicht - schlecht behelfen zu können“

Hypothetisch ist der Imperativ also, wenn die Vorschrift nur

„subjektiv bedingt“ ist, weil der Wille dann „auf etwas

anderes verwiesen werde, wovon man voraussetzt, daß er es

begehre“. Mit „anderes“ ist das „vorausgesetzte Begehren“

gemeint. Dieses Begehren müsse man „ihm, dem Täter selbst,

überlassen“. Nimmt man nun jenes Beispiel für einen

hypothetischen Imperativ wieder auf, dann ist es das

Begehren, „im Alter nicht zu darben“ welches dem Subjekt der

Handlung selbst überlassen ist.

Mit dem folgenden Interrogativsatz scheint Kant noch genauer

spezifizieren zu wollen, was „dem Täter selbst überlassen“

ist, indem er drei jeweils für sich hinreichende Bedingungen

aufzählt, die das gebotene Mittel (in der Jugend arbeiten und

sparsam sein) unverbindlich machen.

(i) „Andere Hülfquellen, außer seinem selbst erworbenen

Vermögen“

(ii) Keine Hohe Lebenserwartung

(iii) „Im Fall der Not sich dereinst schlecht behelfen

zu können“.

Dem Buchstaben nach behauptet Kant hier also: ‘Man muß dem

Täter das Begehren selbst überlassen, ob er noch andere

Hilfsquellen, außer seinem selbst erworbenen Vermögen

vorhersehe.’ Da es nun aber überhaupt nicht sinnvoll ist,

27

wenn man sagt: ‘Ich überlasse es deinem Begehren, ob du noch

andere Hilfsquellen etc. vorhersiehst’, muß man hier nach

einem anderen Referenten für „Begehren“ suchen.

Kant sagt in demselben Satz auch, daß der Wille im Fall

jener Vorschrift „auf etwas anderes verwiesen werde, wovon man

voraussetzt, daß er es begehre“ (Hervorhebung z. T. J. B.).

Diese Rede von „voraussetzt“ legt nahe, daß damit die

Bedingung ‚Wenn du im Alter nicht darben willst’ gemeint

ist. Und tatsächlich, wenn man sich den Kontrastfall des

kategorischen Imperativs ansieht, wird diese Lesart

bestätigt. Dort sagt Kant nämlich, eine Vorschrift könne nur

dann ein Gesetz sein, wenn sie „bloß sich selbst vorauszusetzen

bedürfe“ und als Beispiel führt er den Satz an: „Er solle

niemals Lügenhaft versprechen“. Es scheint also der Wille

„im Alter nicht zu darben“ zu sein, den man nicht allgemein

voraussetzen kann. Dieser Vorausgesetzte Wille wäre dann der

Grund, weshalb der Imperativ hypothetisch genannt wird. Welche

Rolle die drei einschränkenden Bedingungen spielen, wird

deutlicher, wenn Kant im Folgenden auf die Modalität des

hypothetischen Imperativs zu sprechen kommt.

Satz 15, 16 „Die Vernunft – von dem anderen unterscheiden“

Auch wenn die Vorschrift ein hypothetischer Imperativ ist,

kommt ihr als einer Vernunftregel „Notwendigkeit“ zu. Aus

der ersten Kritik wissen wir, daß eine Regel nur dann notwendig

im strengen Sinne ist, wenn der Sachverhalt, den sie

behauptet nicht anders sein kann und sie ausnahmslos gilt.

Kant hatte zu zeigen versucht, daß diese Art von

28

Notwendigkeit nicht aus der Erfahrung abgeleitet, sondern

durch die Vernunft konstitutiert wird (KrV, B 4). Darauf

kommt Kant zurück, wenn er hier behauptet, die Notwendikgiet

einer Regel könne nur aus der Vernunft entspringen. Sein

eigentliches Argument betrifft aber nicht die Notwendigkeit

im allgemeinen, sondern die Notwendigkeit der hypothetischen

Imperative im besonderen. Für alle Imperative gilt (und nicht

etwa nur für die kategorischen), daß sie notwendig

verbindlich sind. Wäre es dem Handelnden freigestellt, ob er

der Regel folgen will oder nicht, wäre sie kein Imperativ,

sondern nur eine Erlaubnisregel.

Dennoch ist die Art der Verbindlichkeit und mit ihr die

Notwendigkeit bei den hypothetischen Imperativen in einem

gewissen Sinne eingschränkt. Daß der Imperativ hypothetisch

ist heißt ja gerade, daß er nur unter einer bestimmten

Voraussetzung gilt. Kant spricht in diesem Zusammenhang von

subjektiver Bedingtheit. In dem adversativen Nebensatz ist

allerdings nicht klar, worauf sich das Demonstrativpronomen

„diese“ bezieht. Wer oder was ist nur subjektiv bedingt? Zum

einen kann sich „diese“ auf „Notwendigkeit“ beziehen zum

anderen auf „Vorschrift“. Die Frage ist also, ob die

„Notwendigkeit“ oder die „Vorschrift“ nur „subjektiv

bedingt“ sind. Wieder kann der folgende Satz die

Schwierigkeit lösen. Dort schreibt Kant, daß „[z]u ihrer

Gesetzgebung aber erfordert wird, daß sie bloß sich selbst

vorauszusetzen bedürfe“ (Hervorhebung geändert J. B.). Da

nun Notwendigkeit weder ein möglicher Kandidat zur

Gesetzgebung noch es sinnvoll ist, daß sie „sich selbst

29

voraus[setzt]“, muß sich „dieses“ auf „Vorschrift“ beziehen.

Es ist also die Vorschrift, die subjektiv bedingt ist.

Nun heißt es im Text, daß man die Vorschrift nicht „in allen

Subjekten in gleichem Grade voraussetzen“ kann. Die

Vorschrift bringt die Mittel zum Ausdruck, die zu ergreifen

sind, um den vorausgesetzten Zweck zu verwirklichen. Deshalb

ist es, genau genommen, verwunderlich, wenn es heißt, daß

die Vorschrift nicht vorausgesetzt werden könne. Man würde eher

vermuten, daß die ursprüngliche Absicht die Voraussetzung ist.

Doch Kant bestätigt im folgenden Satz seine Redeweise. „Zu

ihrer Gesetzgebung [der Vorschrift]“ (meine Hervorhebung), ist es

notwendig „daß sie bloß sich selbst vorauszusetzen bedürfe“.

Dann und nur dann sei die Regel „objektiv und allgemein

gültig“.

Der Grundgedanke ist trotzdem deutlich zu erkennen: Solange

die Vorschrift auf einer zufälligen subjektiven Bedingung

beruht, „die ein vernünftig Wesen von dem anderen

unterscheidet“, kommt ihr keine objektive

Allgemeingültigkeit zu und sie ist kein „praktisches Gesetz“

in Kants terminologischem Sinne. Doch meine Rede von

„beruht“ impliziert, daß nicht die Vorschrift selbst,

sondern etwas anderes (das ursprüngliche Begehren)

vorausgesetzt, wird, damit die Vorschrift Gültigkeit hat.

Ich schlage also vor, daß Kant im Fall des hypothetischen

Imperativs nicht meint, daß man nicht die Vorschrift „in

allen Subjekten in gleichem Grade voraussetzen [kann]“,

sondern das Begehren auf dem die Vorschrift beruht.

30

Es ist folglich auch das Begehren gemeint, das nicht bei

allen Menschen „in gleichem Grade“ vorausgesetzt werden

kann. Der Grad bezeichnet hier wohl weniger eine Größe als

vielmehr eine Art und Weise. Damit wäre dann auch der Ort

jener Einschränkungsbedingungen des hypothetischen

Imperativs benannt. Selbst wenn zwei Menschen dasselbe

begehren, so hängt doch der konkrete Imperativ und die Art

und Weise ihres Wirkens von der jeweils unterschiedlichen

empirischen Lebenssituation des Handelnden ab. Greift man

Kants Beispiel auf, dann ist für denjenigen, der eine große

Erbschaft und ein kurzes Leben zu erwarten hat, der

Imperativ: „Spare und arbeite in der Jugend“ nicht

verbindlich. Obwohl hier also dasselbe Begehren vorausgesetzt

wird, folgt nicht dieselbe praktische Regel. Man behauptet

deshalb zuviel, wenn man sagt, hypothetisch-gebietende

Imperative sind dann und nur dann verbindlich, wenn das

Antezdenz wahr ist. Die Wahrheit des Antezedenz ist keine

hinreichende Bedingung für die Verbindlichkeit der

Konsequenz. Denn gilt z. B. nur eine der genannten drei

Bedingungen, ist die Verbindlichkeit aufgehoben.

Es sind also zwei Gründe, warum der hypothetische Imperativ

subjektiv bedingt ist, die Kant, wie man nun sehen kann, in

Satz 14 ineinandergeschoben hat und die getrennt voneinander

explizit gemacht werden müssen: Erstens kann das Begehren

nicht allgemein vorausgesetzt werden und zweitens ist die

Lebenssituation und damit die durch den Imperativ

vorgeschriebenen Mittel subjektrelativ. Damit nun etwas ein

praktisches Gesetz genannt werden kann, muß es „ohne

31

zufällige, subjektive Bedingungen [gelten], die ein

vernünftig Wesen von dem anderen unterscheiden“.

Vorschriften sind also nur dann Gesetze, wenn keine

subjektiven Bedingungen vorausgesetzt werden und sie „bloß

sich selbst voraus[zu]setzen“. Also sind hypothetische

Imperative wegen ihrer Subjektrelativität bei der

praktischen „Gesetzgebung“ disqualifiziert (Hervorhebung J.

B.).

Kant hat damit implizit auch eine Aussage über die

Hierarchie von Gesetzen und Vorschriften gemacht.

Hypothetische Imperative sind den kategorischen Imperativen

untergeordnet, weil sie nur unter einer subjektiv-zufälligen

Vorassetzung verbindlich sind. Sie sind genau dann

verbindlich, wenn das Subjekt den vorausgesetzen Zweck

tatsächlich will und dabei keine kategorische Norm verletzt

wird. Damit erweisen sich die kategorischen Imperative als

oberste Normen von denen die Verbindlichkeit hypothetischer

Imperative abhängig ist.

Satz 16 Nun sagt jemanden - a priori bestimmt werden soll

Das oben bereits zitierte zweite Beispiel illustriert uns

den Fall eines kategorischen Imperatives: Du „soll[st]

niemals lügenhaft versprechen“. Im Unterschied zum ersten

Beispiel haben wir es hier mit einer vorraussetzungslosen

Regel zu tun. Kant sagt ferner, daß die Regel „das bloße

Wollen […] völlig a priori bestimmt“. Auch die

hypothetischen Imperative schreiben ein „Mittel zur Wirkung,

als Absicht“ vor (§ 1, Absatz 2, Satz 6, Hervorhebung J. B.).

32

Insofern sie eine Absicht vorschreiben, betreffen auch sie das

Wollen. Wo also liegt genau der Unterschied zwischen den

Imperativen, „Du sollst in der Jugend arbeiten und sparen“

und „Du sollst niemals Lügenhaft versprechen“?

In beiden Fällen werden uns Handlungen und damit ein Wollen

vorgeschrieben. Es gilt in der Wendung „das bloße Wollen“

das Wort „bloße“ und in der Wendung „völlig a priori“ das

Wort „völlig“ zu betonen. Im Fall des hypothetischen

Imperatives wird ja nicht ausschließlich das Wollen bestimmt,

sondern erstens auch noch ein Zweck vorausgesetzt und zweitens

die Absicht nur als Mittel für den vorausgesetzten Zweck

geboten. Der hypothetische Imperativ bestimmt also nicht

„bloß“ den Willen, sondern er bestimmt einen Willen als

Mittel in bezug auf ein bereits vorausgesetztes Wollen. Wenn

Kant davon spricht, daß der kategorische Imperativ „bloß“ den

Willen bestimmt, muß dies im Sinne einer „unmittelbaren“

oder auch voraussetzungslosen Willensbestimmung verstanden

werden. Entsprechend ist auch eine Willensbestimmung, die

„subjektiv bedingt“ ist auch nicht völlig a priori. Sie ist a

priori, weil das Prinzip, „wer den Zweck will, will (sofern

die Vernunft auf seine Handlungen entscheidenen Einluß hat)

auch das dazu unentbehrliche Mittel, das in seiner Gewalt

ist“, analytisch ist (vgl. GMS, IV 417). Aber sie ist nicht

völlig a priori, weil das vorausgesetzte Begehren nicht selbst

ein Vernunftprodukt ist. Der hypothetische Imperativ setzt

(i) einen bestimmten Gegenstand des Willens als gegeben

voraus und (ii) schreibt Mittel vor, die von der

Lebenssituation des Handlungssubjekts abhängig sind. Beide

33

Momente machen den hypothetischen Imperativ zu einer

empirischen Vorschrift. Der kategorische Imperativ dagegen

bestimmt den Willen voraussetzungslos und ist keine

instrumentelle Vorschrift, die von empirischen Bedingungen

abhängt.

Satz 17-18: „Findet sich - um sie rein zu haben“

(i) Ein praktisches Gesetz ist eine „praktisch richtige“

Regel, die voraussetzungslos gebietet („kategorischer

Imperativ“).

(ii) Die Regel „niemals Lügenhaft versprechen“ gebietet

voraussetzungslos und ist „praktisch richtig“.

(iii)Die Regel „niemals Lügenhaft versprechen“ ist ein

praktisches Gesetz.

Kant zieht nun zunächst die Schlußfolgerung aus diesem

Argument: Wenn nur kategorische Imperative praktische

Gesetze sind und kategorische Imperative sich „allein auf

den Willen unangesehen, was durch die Kausalität desselben

ausgerichtet wird [beziehen]“, dann beziehen sich praktische

Gesetze allein auf den Willen.

Nun wird bei der Willensbestimmung durchs praktische Gesetz

davon abgesehen, welche Wirkung der Wille in der Empirie

hervorbringt. Deshalb sagt Kant, daß wir dabei von der

empirischen „Kausalität [des Willens] abstrahieren“. Und

doch wird durch das praktische Gesetz der Wille bestimmt,

der eine Art von Kausalität darstellt. Der Gegenbegriff zu

„empirisch“ ist „rein“. Abstrahiert man von der empirischen

34

Kausalität, bleibt also nur die reine Kausalität. Ein

Begehrungsvermögen, das durch das praktische Gesetz bestimmt

werden kann, muß zu seiner Wirkung nicht ein empirisch

gegebenes Bedürfnis voraussetzen, sondern wird unmittelbar

durch Begriffe a priori bestimmt. Kant nennt diese

Kausalität, durch die Vernunft „rein“. Wie eine solche reine

Kausalität zu denken ist, wird Kant ausführlich im zweiten

Anhang zum ersten Kapitel der „Analytik“ erklären.

Zusammenfassung § 1:

Neu eingeführte Begriffe: Praktischer Grundsatz, praktische

Regel, Maxime, praktisches Gesetz, Willensbestimmung,

Imperativ, hypothetischer Imperativ, kategorischer Imperativ

In § 1 führt Kant die Grundbegriffe seiner Moralphilosophie

ein: Praktischer Grundsatz, praktische Regel, Maxime,

praktisches Gesetz, hypothetischer und kateogirscher

Imperativ. Kant unterscheidet zwischen drei Arten

praktischer Sätze: Gesetze, Maximen und Vorschriften. Er

argumentiert dafür, daß nur ein kategorischer Imperativ ein

praktisches Gesetz sein kann, hypothetische Imperative

dagegen lediglich „Vorschriften“ sind.

Sein Argument lautet: Hypothetische Imperative setzen einen

bestimmten subjektiven Zweck als gegeben voraus. Deshalb ist

auch die Handlungsvorschrift nur bedingt (hypothetisch) und

nicht universell gültig. In bezug auf diesen vorausgesetzen

Zweck schreiben sie instrumentelle oder prudentielle Regeln

vor, die zur erfolgreichen Verwirklichung jenes Zweckes

führen sollen. Der kategorische Imperativ dagegen setzt

35

keine „zufällige[n], subjektive[n] Bedingungen“ voraus,

sondern gebietet voraussetzungslos. Er schreibt nicht

empirische Regeln zur Verwirklichung des gegeben Zweckes

vor, vielmehr wird der Zweck „völlig a priori“ (durch reine

Vernunft) bestimmt.

Kants strenger Gesetzesbegriff erfordret unbedingte

Notwendigkeit. Also ist nur der kategorische Imperativ als

„praktisches Gesetz“ qualifiziert werden kann. Den

hypothetischen Imperativ dagegen nennt Kant eine bloße

„Vorschrift“. Wenn nur der kategorische Imperativ ein

praktisches Gesetz ist, dann gilt für alle praktische

Gesetze, daß sie sich „allein auf den Willen unangesehen

dessen, was durch die Kausalität desselben ausgerichtet wird

[beziehen]“.

Dieser § 1 ist nur als eine Analyse des Gesetzesbegriffs zu

verstehen. Kant sagt ausdrücklich, daß er damit noch nicht

bewiesen hat, daß es praktische Gesetze gibt. Er behauptet

lediglich, daß wenn es praktische Gesetze gibt, „reine

Vernunft einen […] zur Willensbestimmung hinreichenden Grund

in sich enthalten [muß]“.

§ 2. Lehrsatz I

Neu eingeführte Begriffe: Materie des Begehrungsvermögens,

Lust

1. Absatz, 1. Satz: „Alle praktischen Prinzipien - Gesetze abgeben“

Auf die „Erklärung“ in § 1 folgt der erste „Lehrsatz“ in §

2. Alle „Lehrsätze“ haben die Form eines Beweises. Dabei

36

formuliert Kant jeweils im ersten Absatz das Beweisziel (den

eigentlichen Lehrsatz also) und liefert im Anschluß daran

den Beweis.

Der Lehrsatz lautet: „Alle praktische Prinzipien, die ein

Objekt (Materie) des Begehrungsvermögens, als Bestimmungsgrund

des Willens, voraussetzen, sind insgesamt empirisch und

können keine praktischen Gesetze abgeben“. Es wird darauf

ankommen, nicht nur Kants Rede vom „Objekt (Materie) des

Begehrungsvermögens“ zu analysieren, sondern auch, was es

heißt, daß ein Objekt als Bestimmungsgrund vorausgesetzt wird.

Der Beweis des Lehrsatzes liefert uns eine Definition, die

als Einstieg für diese Analyse hilfreich sein wird. Mit der

Formulierung des Lehrsatzes kündigt sich bereits eine

zweiteilige Aufgabenstellung an: Kant will erstens beweisen,

daß alle materialen praktischen Prinzipien „empirisch“ sind

(Absatz 2) und zweitens, warum diese Prinzipien „keine

praktischen Gesetze abgeben“ können (Absatz 3).

2. Absatz, Satz 1 „Ich verstehe unter - begehret wird“

Erster Teil des Beweises: „Materie des Begehrungsvermögen“ defnitert

Kant als einen „Gegenstand dessen Wirklichkeit begehret

wird“. Der Gegenbegriff zu „Materie“ ist „Form“. In der

theoretischen Philosophie spricht Kant von den „Begriffen“

als der Form, den „Empfindungen“ als Materie der Erkenntnis

(KrV, B 74). Form und Materie des Willens verhalten sich wie

Begriff und Empfidung zueinander: Der Begriff ist die

Bestimmung, die Empfindung das Bestimmte. Die praktischen

Gesetze bzw. Regeln??? leisten die Bestimmung und ihr Objekt

37

(die Materie) sind unsere Begehrungen. Wenn Kant also von

„Willensbestimmung“ spricht, dann ist damit der Akt der

Vernunft gemeint, wodurch unsere Begehrungen eine

regelgeleitete Richtung erhalten. Es ist weit verbreitet,

bereits das Objekt der Regeln als unsere „Wollungen“ zu

bezeichnen. Wollen bei Kant dagegen ist, wie in § 1 bereits

deutlich wurde, ein kognitiver Akt, der beinhaltet, daß wir

nach der Vorstellung von Gesetzen handeln. Eine Wollung im

eminenten Sinne ist also immer schon ein regelgeleites

Begehren oder, anders ausgedrückt, geformte Materie.

Man kann dementsprechend Kants berühmten Satz aus der ersten

Kritik auf die praktische Erkenntnis umwandeln: Alle

Vorstellungen von praktischen Regeln ohne Inhalt (Materie,

begehrtes Objekt) sind wirkungslos, das Begehren eines

Objekts ohne Vorstellung von praktischen Regeln, ist blinder

Trieb. Praktische Erkenntnis ist die Verwirklichung eines

Gegenstandes nach Vernunftregeln (KrV, B X). Daher ist es

bei der praktischen Erkenntis ebenso notwendig, daß die

praktischen Gesetze sich auf einen begehrten Gegenstand

richten, als die Begehrungen Gesetzen zu unterwerfen (vgl.

KrV, B 75).

Satz 2 „Wenn die Begierde - alsdenn jederzeit empirisch“

Auf die Definition folgt die Wiederholung des ersten Teils

des Beweisziels: Wenn die Begierde nach dem Gegenstand (i)

vor der praktischen Regel vorhergeht und (ii) die Bedingung

ist, sich die praktische Regel zum Prinzip zu machen, ist

das Prinzip ein empirisches Prinzip. Warum unterscheidet

38

Kant zwischen diesen zwei Momenten des Vorhergehens und des

Bedingens? Empirisch ist, wie sich unten zeigen wird, das

praktische Prinzip auch dann bereits, wenn die Begierde die

Bedingung ist. Das zweite Moment ist also für sich genommen

bereits hinreichend. Interpretierte man das „vorhergeht“ in

einem logischen und nicht zeitlichen Sinn, dann wären beide

Momente identisch. Tatsächlich hält Kant nicht strikt an

beiden Momenten fest, beschränkt sich an anderen Stellen

ausschließlich „vorhergehen“ und gebraucht es im Sinne von

„bedingen“ (z. B. KpV, V 36, 41). Die praktischen Regeln,

die durch die Begierde eines Gegenstandes bedingt sind, sind

hpothetische Imperative. Die Regel erhält dabei ihren Inhalt

nur relativ auf jenes Begehren. Sie kann eine

Geschicklichkeitsregel oder eine Klugheitsregel sein. Zum

Beispiel ist das Begehren „sein Vermögen durch alle sicheren

Mittel zu vergrößern“ die Bedingung der praktischen Regel,

„investiere nur einen kleinen Teil des Geldes in Aktien“.

Sich diese Regel „zum Prinzip machen“, bedeutet, sein

Handeln im allgemeinen nach dieser Regel auszurichten.

Satz 3-6„Denn der Bestimmungsgrund – zur Wirklichmachung desselben

bestimmt wird“

Auf die Exposition des Beweisziels folgt das entscheidende

Argument, warum praktische Regeln empirisch sind, wenn ihnen

ein „Begehren vorhergeht“. Einen Gegenstand zu begehren

heißt, daß die „Vorstellung eines Objekts“ auf die

Empfindung des Subjekts bezogen wird und das Subjekt

emotional so auf die Vorstellung reagiert, daß es die

39

„Wirklichmachung“ des vorgestellten Objekts wünscht. Diese

Art der Empfindung wird „Lust“ genannt.6 Wenn also das

Begehren die Bedingung für die praktische Regel ist, dann

muß die Lust „als Bedingung der Möglichkeit der Bestimmung

der Willkür vorausgesetzt werden“. Wir müssen hier

„Bestimmung“ wieder als die formierende Vernunft- bzw.

Verstandesttätigkeit lesen, die sich auf das gegebene Objekt

(Materie) richtet und ihm auf diese Weise eine

regelgeleitete Richtung gibt. Die Vernunfttäigkeit ist hier

also nicht absolut (losgelöst), sie bestimmt die „Willkür“

nicht ausschließlich aus sich heraus, vielmehr sind die

Regeln, die sie vorschreibt, durch die Lust bedingt. Mit

dieser Bedingung würde auch die Verbindlichkeit der

praktischen Regel wegfallen. Ob aber – und das ist der

zentrale Punkt des Arguments – eine Vorstellung „Lust oder

Unlust oder Indifferen[z]“ bei uns auslöst, muß durch die

zeitliche Anschauung im inneren Sinn erkannt werden. Deshalb

sagt Kant daß die Erkenntnis der Lust nicht „a priori“,

sondern „jederzeit empirisch“ ist. Wenn aber die

Voraussetzung der praktischen Regel empirisch ist, ist auch

die praktische Regel nur unter dieser empirischen

Voraussetzung und nicht a priori gültig.

Wenn wir also beispielsweise die Vorstellung ‘vermögend zu

sein’ auf uns beziehen, so kann diese Vorstellung in uns

6 Kant kennt bekanntlich zwei Arten der Lust, die praktische und die kontemplative(KU, V 222 (§ 12), MS, VI 212). Die kontemplative Lust unterscheidet sich darin vonder praktischen, daß sie nicht von der Existenz des Gegenstandes abhängig ist. KantsTheorie des Geschmacksurteils hatte eine Erweiterung des Lustbegriffs um denkontemplativen Aspekt erforderlich gemacht. Der Lustbegriff muß unten durch dieUnterscheidung zwischen intellektueller und sinnlicher Lust weiter differenziertwerden. Die kontemplative Lust ist hingegen nicht konstitutiv für Kants Moraltheorie.Deshalb ist, wenn in der Folge von „Lust“ die Rede ist, immer die praktische Lustgemeint ist.

40

eine Lustempfidung hervorrufen. Kann, weil es eine

empirische Frage ist und nicht etwa „apriori erkannt werden

kann“, ob Vorstellungen bei uns Lust, Unlust oder

Indifferenz auslösen. Entsprechend kann auch der Imperativ,

dessen Verbindlichkeit durch die Lustempfindung bedingt ist,

nicht für alle sinnlichen Vernunftsubjekte a priori

verbindlich sein. Damit hat Kant sein erstes Beweisziel

erreicht und kann im letzten Satz schlußfolgern: Wenn das

prakische Prinzip durch ein Begehren bedingt ist, dann ist

„der Bestimmungsgrund der Willkür jederzeit empirisch,

mithin auch das praktische materiale Prinzip, welches ihn

als Bedingung voraussetzte“.7

Man hat hypothetische Imperative oft deshalb für empirische

Prinzipien erklärt, weil in sie empirische Kausalbeziehungen

eingebettet sind. Kant setzt hier dagegen bei der

Verbindlichkeitsstiftung dieser Regeln an: der Lust. Demnach

gilt also, daß eine Norm genau dann empirisch ist, wenn die

Verbindlichkeit einer praktischen Norm durch die Lust an

einem Gegenstand bedingt ist.

Der erste Teil des Beweises läßt sich also im Wesentlichen

auf drei Schritte reduzieren:

(i) Wenn das Begehren eines vorgestellten Gegenstandes die

Bedingung dafür ist, daß wir eine praktische Regel uns

zum praktischen Prinzip machen, dann ist die Lust am

7 Wenn Kant hier sagt, daß die Materie (Lust am begehrten Gegenstand) nicht dieBedingung der Willensbestimmung sein darf, dann bedeutet das nicht, daß moralischesHandeln frei von jeder Materie sein muß. Auf dieser Annahme beruht Giovanni SalasHauptkritikpunkt, der sich durch seinen gesamten Kommentar zieht (Sala???). Es istentscheidend, sich klar zu machen, daß unserer Wollen auch im moralischen Handelnsehr wohl eine Materie hat und haben muß, sie aber eben nicht die Bedingung derWillensbestimmung sein darf. Wenn Kant in § 4. mit dem positiven Teil seinerBeweisführung beginnt wird dieser Punkt noch deutlicher werden.

41

vorgestellten Gegenstand die Bedingung der Gültikeit der

praktischen Regel.

(ii) Was Lust, Unlust oder Indifferenz hervorruft kann nur

a posteriori erkannt werden.

(iii) Also ist die praktische Regel, die durch das Begehren

eines vorgestellten Gegenstandes bedingt ist, empirisch.

3. Absatz: „Da nun – ein praktisches Gesetz abgeben“

Zweiter Teil des Beweises: Der zweite Teil des Beweises soll nun

zeigen, warum ein empirisch-praktisches Prinzip kein

praktisches Gesetz sein kann. Kant macht dabei in der ersten

Prämisse Gebrauch von der oben etablierten Konklusion aus

dem ersten Teil des Beweises:

(i) Eine praktische Regel, die durch Lustempfindung bedingt

ist, ist empirisch.

Von dieser Voraussetzung ausgehend überprüft Kant nun den

Allgemeinheitsgrad, den diesen empirisch-praktischen

Prinzipien zukommen kann. Er greift dabei auf die Begriffe

Gesetz und Maxime zurück, die er in § 1 eingeführt hatte:

(ii) Maximen sind Handlungsgrundsätze die bei einem

sinnlichen Vernunftwesen nicht notwendig auch objektiv-

allgemeingültig sind; praktische Gesetze gelten mit

„objektive[r] Notwendigkeit, die a priori erkannt“ wird.

(iii) Also kann eine praktische Regel, die durch eine

Lustempfindung bedingt ist, eine Maxime und kein

praktisches Gesetz sein.

42

Zwei Dinge noch offen:

1. Erklären, warum Salas Deutung verkehrt ist und Beck im Recht ist: Es geht hier

nicht darum, daß wir, wenn wir moralisch handeln, wir auf keinen Gegenstand

gerichtet sind (formale Bestimmung). Es geht nur darum, daß für das praktische

Prinzip keine Lust vorausgesetzt werden darf, damit sie universelle Verbindlichkeit

erhalten kann. Diesen Punkt habe ich in Fußnote 6 begonnen auszuarbeiten.

2. Hedonismus

§ 3. Lehrsatz II

Neu eingeführte Begriffe: Empfänglichkeit, Sinn, Gefühl,

Selbstliebe, Glückseligkeit

1. Absatz, 1. Satz: „Alle materiale praktische Prinzipien - oder eigenen

Glückseligkeit“

Der erste Lehrsatz hat bewiesen, daß alle praktischen

Regeln, die durch das Gefühl der Lust bedingt sind,

materiale Prinzipien sind und nicht die Verbindlichkeit

eines praktischen Gesetzes haben können. Mit dem zweiten

Lehrsatz wird nun das allgemeine Grundprinzip aller

materialen praktischen Regeln als „Prinzip der Selbstliebe“

oder, wie Kant auch sagt, Prinzip [der] eigenen

Glückseligkeit, bestimmt. Der Lehrsatz lautet: Alle

„materialen praktischen Prinzipien“ sind kategorial nicht

voneinander unterschieden und lassen sich unter das „Prinzip

der Selbstliebe“ subsumieren. Damit richtet sich der zweite

Lehrsatz ausdrücklich gegen alle Moraltheorien, die das

Prinzip der Selbstliebe oder Glückseligkeit zu ihrem

Fundamentalbegriff erklären. Diese „Glücksethiken“ scheitern

letztlich daran, jene kategorische Verbindlichkeit zu

erklären, die Kant für die genuin moralisch-praktische hält.

43

Nun will Kant aber, wie in § 8 noch deutlich werden wird,

auch selbst die rationalistischen Moraltheorien als

Glücksethiken entlarven (KpV, V 41). Es folgt also, daß

bereits hier im „Lehrsatz II“ die Grundlagen für

Verurteilung der gesamten moralphilosophische Tradition

gelegt werden.

2. Absatz, 1-2 Satz: „Die Lust aus der Vorstellung - das Begehrungsvermögen

bestimmt“

Im ersten Beweisschritt zeigt Kant, warum wir nur durch eine

„Empfindung der Annehmlichkeit“ bestimmt sind, wenn die Lust

an der Wirklichkeit eines Objekts die Grundlage unseres

Handelns ist. Im einzelnen argumentiert er wie folgt: Zuerst

wird der Lust als eine Empfindung definiert, bei der wir die

Existenz eines vorgestellten Gegenstandes begehren. Wir

haben oben bereits festgestellt, daß es sich bei dieser Art

von Lust um, wie Kant später sagen wird, „praktische“ und

nicht etwa „kontemplative“ Lust handelt, bei der wir an der

Wirklichkeit des Gegenstandes kein Interesse haben. Man muß

sich klar machen, daß wir praktische Lust nicht nur dann

empfinden, wenn der begehrte Gegenstand wirklich ist,

sondern auch bereits an der Vorstellung der Wirklichkeit des

begehrten Gegenstandes. Würden wir nur Lust im Moment der

Verwirklichung empfinden, wäre es eine offene Frage, was uns

vor der Verwirklichung antreibt. Deshalb muß, bereits die

Vorstellung von der Verwirklichung als lustvoll begiffen

werden.

44

In beiden Fällen aber, darauf kommt es Kant hier an, ist die

Lust „von dem Dasein eines Gegenstandes abhäng[ig]“. Dieser

Punkt ist deshalb von Bedeutung, weil er deutlich machen

kann, warum Lust eine Empfindung und nicht etwa ein Begriff

ist. Um nämlich die Existenz oder das „Dasein“ eines

Gegenstandes wahrnehmen zu können, muß es uns möglich sein,

Vorstellungen von dem Gegenstand empfangen zu können. Kant

nennt diese Fähigkeit hier „Empfänglichkeit“8 und ordnet sie

unserem „Sinne (Gefühl)“ zu, der dem Verstand als Vermögen

der Begriffe gegenübergestellt ist.

In diesem Zusammenhang entwickelt Kant auch den

Strukturunterschied zwischen objektiver Erkenntnis auf der

einen Seite und subjektiver Empfindung auf der anderen: Im

Falle objektiver Erkenntnis „bezieht“ der Verstand die

Vorstellungen mit „Begriffen“ auf ein „Objekt“. Bei

subjektiven Empfindungen werden die Vorstellung dagegen

„nach Gefühlen“ auf das „Subjekt“ bezogen. Dieselbe

Vorstellung (z. B. die einer roten Eiskugel) kann sowohl auf

ein Objekt als auch auf das Subjekt bezogen werden. Wenn die

Vorstellung mit dem Objekt übereinstimmt, liegt ein Fall von

objektiver Erkenntnis vor, stimmt dagegen die Vorstellung

der Wirklichkeit des Objekts mit den Begehrungen des

Subjekts überein, liegt ein Fall von Lustempfindung vor.

Damit hat Kant bereits sein erstes Zwischenziel erreicht:

Wenn Lust die Bedingung für die Handlungswirksamkeit unseres

Begehrungsvermögens ist, dann handeln wir auf der Basis

einer „Empfindung der Annehmlichkeit“, die wir uns von der

8 Kant spricht an anderen Stellen statt von „Empfänglickeit“ auch von „Rezeptivitiät“(vgl. KrV, B 33; KpV, V 58).

45

Wirklichkeit des Gegenstandes versprechen. Im zweiten und

dritten Beweisschritt wird Kant zeigen, warum sich alle

praktische Regeln, die auf diese Empfindung der

Annehmlichkeit gründen auf das „Prinzip der Selbstliebe“

reduzieren lassen.

Satz 3-4: „Nun ist aber – oder eigenen Glückseligkeit gehören“

Mit den Begriffen „Glückseligkeit“ und „Selbstliebe“ führt

Kant zwei Begriffe ein, die systematisch aufeinander

aufbauen. Glückseligkeit ist „das Bewußtsein eines

vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die

unterbrochen sein ganzes Dasein begleitet“. Die

Glückseligkeit betrifft also nicht nur einen bestimmten

Zeitpunkt, sondern die Annehmlichkeit des Lebens als Ganzes.

Mit dieser Definition ist nur die Dauer, das „protensive“

Moment, angesprochen. Glückseligkeit in ihrer vollkommenen

Form erfordert aber auch noch die maximale Größe

(Intensität) sowie Vielfalt (Extensität) der Annehmlichkeit

(vgl. KrV, B 834). Mit „Glückseligkeit“ wird der Zustand der

Person bestimmt. Kant geht es aber um Handlungsregeln,

genauer um die Prinzipien die den Handlungsregeln zu Grunde

liegen. Wenn Glückseligkeit die leitende Handlungsabsicht

ist, dann ist die eigene Annehmlichkeit in ihrer

vollkommenen Form der Größe, Vielfalt und Dauer der Zweck

der Handlung. Wer sich diesen Zweck zum Prinzip des Handelns

macht, handelt nach dem „Prinzip der Selbstliebe“.

Damit ist der Beweis vollständig:

46

(i) Materiale praktische Prinzipien sind Prinzipien, die

durch das Begehren der Wirklichkeit eines Gegenstandes

(Lust) bedingt sind. (P, aus § 2)

(ii) Lust an der Vorstellung der Wirklichkeit eines

Gegenstandes ist als eine „Empfindung der

Annehmlichkeit“ handlungswirsam.

(iii) Glückseligkeit ist das Bewußtsein der Annehmlichkeit,

die ununterbrochen das ganze Leben begleitet.

(iv) Das Handlungsprinzip, das Glückseligkeit als

Bedingung voraussetzt, heißt „Prinzip der Selbstliebe“.

(v) Also gründen sich alle materialen praktischen Regeln auf

dem Prinzip der Selbstliebe.

Man könnte gegen diese Konklusion einwenden, daß sie ihrer

Extension nach zu weit angesetzt ist. Kant scheint seinen

Lehrsatz nur auf diejenigen materialen Prinzipien

einzuschränken, „die den Bestimmungsgrund der Willkür in der

aus irgend eines Gegenstandes Wirklichkeit zu empfindenden,

Lust oder Unlust setzen“. Der Relativsatz legt nahe, es

könnte auch materiale Prinzipien geben, die nicht „den

Bestimmungsgrund der Willkür in der, aus irgend eines

Gegenstandes Wirklichkeit zu empfindenden, Lust oder Unlust

setzten“. Es zeigt sich indes bereits in der „Folgerung“ und

es wird auch unten in § 8 bei der Zurückweisung aller

traditionellen Moraltheorien noch deutlich werden (KpV, V

41), warum dieser Relativsatz explikativ und nicht konzessiv

[???] verstanden werden muß. Kant will also tatsächlich

47

behauptetn, daß alle materialen Prinzipien auf dem Prinzip

der Selbstliebe gründen.

Folgerung

In der „Folgerung“ werden mit den Begriffen „oberes

Begehrungsvermögen“ und „unteres Begehrungsvermögen“ zwei

Begriffe vorausgesetzt, die erst in der „Anmerkung“

eingeführt werden. Diese „Folgerung“ folgt daher nicht

unmittelbar aus dem Lehrsatz und ist also keine Folgerung im

Sinne eines „Corollariums“, wie Kant es in der Logik

verstanden wissen will (Logik, § 39). Kant glaubt mit seiner

Ethik im Gegenzug zur Tradition einen kategorialen und nicht

bloß graduellen Unterschied zwischen oberem und unterem

Begehrungsvermögen etablieren zu können. Das obere

Begehrungsvermögen kann auf der Grundlage eines reinen

Vernunftprinzips handlungswirksam werden, das untere dagegen

nur, wenn eine empirisch bedingte Lust vorausgesetzt wird.

Nun hat Kant im „Lehrsatz II“ bewiesen, daß alle materialen

praktischen Regeln auf dem Prinzip der Selbstliebe gründen

und damit durch das Gefühl der Lust bedingt sind. Deshalb

darf Kant in der „Folgerung“ schließen, daß alle empirischen

oder „maerialen“ praktischen Regeln den Bestimmungsgrund des

Willens im unteren Begehrungsvermögen ansetzen. Setzt man

Kants kategoriale Unterscheidung zwischen oberem und unterem

Begehrungsvermögen voraus, dann wäre er auch noch zu der

Folgerung berechtigt, daß es kein oberes Begehrungsvermögen

geben würde, wenn das Begehrungsvermögen nur durch materiale

praktische Prinzipien handlungswirksam werden könnte.

48

Tatsächlich geht Kant aber noch einen Schritt weiter und

„folgert“, daß, wenn es keine bloß formalen praktischen

Regeln „gäbe“ (meine Hervorhebung), es auch kein oberes

Begehrungsvermögen geben würde.

Zunächst einmal bestätigt Kant mit dieser Aussage die oben

favorisierte explikative Lesart des Schlußsatz aus dem

Beweis des zweiten Lehrsatzes: Er behauptet nämlich, daß

„[a]lle materiale praktische Regeln […] den Bestimmungsgrund

des Willens im unteren Begehrungsvermögen [setzen]“

(Hervorhebung z. T. J. B.). Also ist der Bestimmungsgrund

des unteren Begehrungsvermögen das Gefühl der Lust. Damit

müssen dann auch alle materialen praktischen Regeln durch

das Gefühl der Lust bedingt sein.

Doch das ist nicht der Sachverhalt, auf den es Kant mit

dieser Aussage eigentlich ankommt. Vielmehr macht er eine

kontrafaktische Annahme über die „bloß formalen praktische

Regeln“, indem er annimmt, sie würden nicht existieren und

schließt von dort auf die Nichtexistenz des oberen

Begehrungsvermögens. Doch von „bloß formalen praktischen

Regeln“ war bisher noch gar nicht die Rede gewesen, noch

weniger hat Kant den Beweis ihrer Wirklichkeit erbracht. Was

also berechtigt ihn, die notwendige Abhängigkeit von

formalen praktischen Regeln und oberem Begehrungsvermögen zu

behaupten? Antwort: Ein Wesen, das über ein auf Vernunft

bezogenes Begehrungsvermögen verfügt, kann sein Handeln nach

praktischen Regeln ausrichten. Diese Regeln können material

oder formal sein. Materiale Regeln sind durch die Lust an

einem Gegenstand bedingt. Nun bezeichnet das obere

49

Begehrungsvermögen die Fähigkeit aus einem reinen

Vernunftmotiv, ohne Voraussetzung einer Lust handeln zu

können. Also darf das Handeln nach materialen praktischen

Regeln nicht als eine Ausübung des oberen

Begehrungsvermögens verstanden werden. Formale Regeln

dagegen – das sagt Kant an dieser Stelle nicht ausdrücklich

– setzen keine Lust an einem Gegenstand voraus, vielmehr

sind sie Prinzipien der reinen Vernunft. Deshalb sagt Kant,

daß nur ein Handeln nach formalen praktischen Regeln eine

Ausübung des oberen Begehrungsvermögens ist. Gäbe es keine

formalen Regeln, dann würde (weil mit der Unterscheidung

zwischen formalen und materialen Regeln die Regeln des

Begehrungsvermögens erschöpft sind) es auch kein oberes

Begehrungsvermögen geben. Damit blickt Kant in dieser

„Folgerung“ bereits auf den dritten Lehrsatz voraus. Dort

wendet er sich den formalen Regeln zu, um in ihnen die

Verallgemeinerbarkeit zu finden, die ein praktisches Gesetz

braucht.

Anmerkung I

(Der kategoriale Unterschied zwischen oberem und unterem

Begehrungsvermögen)

„Man muß sich wundern – gesetzgebend zu sein“

Die erste Anmerkung richtet sich nun explizit gegen die

Unterscheidung zwischen oberem und unterem

Begehrungsvermögen, wie sie von den „sonst scharfsinnige[n]

Männer[n]“ getroffen worden ist. Damit ist vermutlich in

50

erster Linie Baumgarten gemeint.9 Sein Fehler besteht Kant

zufolge darin, sowohl für die Bestimmung des oberen als des

unteren Begehrungsvermögen ein „Gefühl der Lust“

vorauszusetzen und den Unterschied nur so anzusetzten, daß

beim oberen Begehrungsvermögen die als lustvoll empfundene

Vorstellung ein Verstandesprodukt beim unteren dagegen ein

Produkt der Sinnlichkeit ist. Kants Argument gegen diese

Unterscheidung lautet: Wenn eine Vorstellung „die Willkür

nur dadurch bestimmen kann, daß sie ein Gefühl der Lust im

Subjekte voraussetzet“, dann ist die „Art“ der Vorstellung

nicht mehr von Bedeutung (Hervorhebung J. B.). Es kommt dann

lediglich auf den „Grad“ der Lust an, den die Vorstellung

bewirkt. Für die Unterscheidung zwischen dem oberen und

unteren Begehrungsvermögen ist es also nicht ausreichend,

nur zwischen Vernunft- und Verstandesvorstellungen zu

unterscheiden. Vielmehr muß das Begehrungsvermögen auch

durch reine Vernunftvorstellungen und nicht etwa nur durch

Lust und Unlust motivierbar sein. Ansonsten wären oberes und

unteres Begehrungsvermögen nicht kategorial, sondern nur

„dem Grade“ nach verschieden (KpV, V 23, A 42). Moral und

Glückseligkeit würden damit auf demselben Prinzip beruhen

und die Annahme eines oberen Begehrungsvermögens haltlos

werden (KpV, V 24, A 44).

9 Baumgarten entwickelt in seiner Metaphysica, die Kant bekanntlich seinen Vorlesungenzu Grunde legte, eine Theorie vom oberen und unteren Begehrungsvermögen (Metaphysica§ 499-517). Dem unteren Begehrungsvermögen liegen „dunkle“ (§ 500), dem oberendagegen „deutlich[e]“ Vorstellungen zu Grunde (§ 510). Nun wird Deutlichkeit als „eingrösserer und höherer“ undeutliche Erkenntnis dagegen als ein „niedriger Grad derErkenntniß“ verstanden. Daran wird bereits deutlich, daß oberes und unteresBegehrungsvermögen tatsächlich, wie Kant sagt nur dem „Grade“ und nicht der „Art“nach verschieden sind (KpV, V 23).

51

Diese begriffliche Präzision hat eine große Reichweite; mit

ihr werden auch das „Prinzip der eigenen Glückseligkeit“ und

das Prinzip der Sittlichkeit kategorial getrennt. Zur

Illustration dieses Unterschiedes zwischen Sittlichkeit und

Glückseligkeit legt Kant vier Beispiele vor. Dabei geht es

jeweils um die Wahl zwischen zwei Gütern, wobei eines auf

geistigen das andere auf sinnlichen Vorstellungen beruht:

1. Ein „Lehrreiches Buch“ lesen oder zur „Jagd“ gehen

2. Eine „schöne Rede“ hören oder eine „Mahlzeit“ einnehmen

3. „Vernünftige Gespräche“ führen oder „sich an den

Spieltisch setzen“

4. Einem „Armen […] wohlzutun“ oder in die „Komödie“ gehen

Die systematische Funktion dieser Beispiele besteht darin,

zu zeigen, daß, solange die Entscheidungskonflikte auf der

Basis des Gefühls der „Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit“

entschieden werden, es dem Handelnden „gänzlich einerlei

[ist], durch welche Vorstellungsart er affiziert werde“.

Kant gibt drei Kriterien an, die bei der Wahl zwischen zwei

„Annehmlichkeiten“ den Ausschlag geben: (i) „wie lange“,

(ii) „wie leicht erworben und (iii) „wie oft wiederholt“.

Wenn die Alternativen hinsichtlich ihrer Annehmlichkeit

geprüft werden, ist die Herkunft der Vorstellungen

unerheblich. Die Frage ist nur, „wie viel und großes Vergnügen sie

ihm auf die längste Zeit verschaffen“.

Dieser Konzeption setzt Kant seinen eigenen Begriff des

oberen Begehrungsvermögens entgegen: Ein Begehrungsverögen

ist genau dann ein oberes Begehrungsvermögen, wenn reine

Vernunft „durch die bloße Form der praktischen Regel den

52

Willen bestimmen [kann]“. Die praktische Regel darf nicht

durch „Vorstellungen des Angenehmen oder Unangenehmen, als

der Materie des Begehrungsvermögens“ bedingt sein. Nur wenn

die Vernunft nicht etwa nur die Mittel auffindet, sondern

auch noch den Zweck des Wollens selbsttätig hervorbringt und

damit den Willen „unmittelbar“ bestimmt, kann man mit Recht

von einem oberen Begehrungsvermögen sprechen, dem „das

pathologisch bestimmbare untergeordnet“ ist. Das obere ist

also vom unteren Begehrungsvermögen darin „spezifisch“

unterschieden, daß beim oberen „reine Vernunft […] für sich

allein praktisch“ ist, während für die Praktizität des

unteren Begehrungsvermögens immer ein bestimmtes Gefühl

vorausgesetzt werden muß. Kant läßt indes hier noch offen, ob

reine Vernunft auch tatsächlich „für sich allein praktisch“

ist. Er behauptet lediglich, daß es entweder „gar kein

[oberes] Begehrungsvermögen gibt oder reine Vernunft […] für

sich allein praktisch sein [muß]“ (A 44 f.). Dieses

disjunktive Urteil wird dann später dahingehend aufgelöst,

daß der zweite Disjunkt???, der hier noch problematisch ist,

dort assertorisch ausgesagt wird.

Was genau bedeutet es, wenn Kant davon spricht, daß „reine

Vernunft für sich allein praktisch“ ist? Die Rede von „für

sich allein“ wird als „ohne Voraussetzung irgend eines

Gefühls, mithin ohne Vorstellungen des Angenehmen oder

Unangenehmen“ erläutert. Diese Bestimmung ist negativ. Die

reine Vernunft ist in ihrer Praktizität unabhängig von einem

vorausgesetzen Gefühl. Nun sind die Prinzipien der reinen

Vernunft formale Prinzipien. Positiv kann man daher sagen,

53

daß die Vernunft, wenn sie unabhängig von einem

vorausgesetzen Gefühl praktisch ist, durch ein formales

Prinzip bestimmt.

„Praktizität“ als „Willensbestimmung“ ist zweideutig. Zum

einen kann damit der Akt der Gesetzgebung gemeint sein, zum

anderen aber auch der Akt der Ausführung. In der ersteren

Bedeutung bestimmt die Vernunft das Begehrungsvermögen,

insofern sie ihm durch ein Gesetz die Handlungsweise

vorschreibt. In der zweiten Bedeutung dagegen bestimmt die

Vernunft das Begehrungsvermögen so, daß der Wille

handlungswirksam wird. „Willensbestimmung“ beinhaltet also

ein kognitives und konatives Moment. Am Ende der Anmerkung I

kommt Kant ausdrücklich auf den Gesetzgebungsaspekt zu

sprechen: Die Vernunft bestimmt in einem praktischen Gesetze

umittelbar den Willen […] und nur, daß sie als reine

Vernunft praktisch sein kann, macht es ihr möglich,

gesetzgebend zu sein.“ Kant legt hier die Sinnbetonung auf

„gesetzgebend“, weil „Gesetz“ der Kontrastbegriff zu

„Ratschlägen“ und „Regeln“ ist. Wäre Vernunft nicht „für

sich allein praktisch“, dann gäbe es keine praktischen

Gesetze, sondern nur Ratschläge oder Regeln, weil für die

„Willensbestimmung“ immer erst ein Gefühl vorausgesetzt

werden müßte.

Damit ist aber nicht entschieden, ob „Willensbestimmung“ nur

im Sinne der Gesetzgebung oder auch im Sinne der Ausführung

gemeint ist. Wenn man über diese Anmerkung hinaus Kants

ganze Theorie als Ganze betrachtet, muß die Antwort lauten:

sowohl als auch. Denn für eine moralisch gute Handlung ist

54

es nicht hinreichend, daß wir durch reine Vernunft wissen,

was moralisch geboten ist, wir müssen auch noch umwillen der

Gesetzlichkeit handeln können. Das Prinzip der Gesetzgebung

muß also auch zugleich das Prinzip der Ausführung sein. Wie

moralische Handlungen wirklich werden, geht über die in

erster Linie normativ ethischen Überlegungen des „Ersten

Haupstücks“ hinaus. Kant wird sich mit dieser

moralpsychologischen Problematik im „Dritten Hauptstück“

befassen.

Anmerkung II

(Die Zurückweisung der Glücksethik)

Die zweite Anmerkung zielt auf eine genaue Explikation des

„allerwichtigsten Unterschiedes, der nur in praktischen

Untersuchungen in Betrachtung kommen kann“: dem Unterschied

zwischen Gesetz und Maxime. Sie teilt sich auf in zwei

Absätze und zwei Beweisziele. Kant hatte bereits mit dem

ersten Lehrsatz bewiesen, daß aus allen materialen

Prinzipien keine praktischen Gesetze abgeleitet werden

können. Im „Lehrsatz II“ wurden dann alle materialen

Prinzipien auf das „Prinzip der Selbstliebe“ bzw. „eigenen

Glückseligkeit“ zurückgeführt. Im ersten Teil dieser

Anmkerung zeigt Kant nun, warum das „Prinzip der eigenen

Glückseligkeit“ ein materiales Prinzip ist und damit aus ihm

lediglich ein „subjektiv notwendiges Gesetz (als

Naturgestz)“ aber kein objektives praktisches Gesetz

abgeleitet werden kann. Im zweiten Teil spitzt Kant seine

Kritik an den Glücksethiken noch weiter zu: Er geht von der

55

kontrafaktischen Annahme aus, daß alle Menschen, wenn sie

nach Glückseligkeit streben, auch denselben Weltzustand und

Mittel zu seiner Verwirklichung begehren. Er will beweisen,

daß selbst unter dieser Voraussetzung Glückseligkeit nicht

zum Fundamentalprinzip der Moraltheorie taugt, weil es

lediglich Maximen aber keine Gesetze begründen kann.

1. Absatz: „Glücklich zu sein - gegründet“

Zentrale These: Aus dem Prinzip der Glückseligkeit (oder

Selbstliebe) lassen sich keine praktischen Gesetze

begründen.

Das Prinzip der Glückseligkeit scheint zunächst ein

aussichtsreicher Kandidat für ein objektives praktisches

Gesetz zu sein. Es ist „notwendig das Verlangen jedes

vernünftigen aber endlichen Wesens glücklich zu sein“ und

deshalb ein „unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines

Begehrungsvermögens“. Denn – so lautet Kants Begründung –

„die Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein ist nicht etwa

ein ursprünglicher Besitz […], sondern ein durch seine

endliche Natur selbst ihm aufgedrungenes Problem.“ Der

Begriff der Glückseligkeit impliziert aber nicht bloß die

momentane, sondern die Annehmlichkeit unseres „ganze[n]

Daseins“. Um über den Augenblick hinaus das Leben als Ganzes

planen zu können und die partikularen Absichten in ein

harmonisches Ganzes zu bringen, ist Vernunft erforderlich.

Deshalb ist Glückseligkeit nicht der Zweck aller endlicher,

sondern „jedes vernünftigen aber endlichen Wesens“

(Hervorhebung J. B.).

56

Doch obgleich Glückseligkeit „notwendig das Verlangen“ jedes

Menschen ist, ist es als Fundamentalprinzip der Moral

ungeeignet. Bereits in § 1 hat Kant die Bedingungen

dargelegt, die ein praktischer Satz erfüllen muß, um ein

praktisches Gesetz zu sein. Er wiederholt hier diesen

Anspruch: Ein praktisches Gesetz muß „objektiv in allen

Fällen für alle vernünftige Wesen eben denselben Bestimmungsgrund

enthalten“. Das „Prinzip der Glückseligkeit“, erfüllt diese

Bedingungen nicht. Was wir zu unserer „Zufriedenheit“ oder

Glückseligkeit bedürfen, bestimmt ein „subjektiv zum Grunde

liegendes Gefühl der Lust oder Unlust“. Weil dieses Gefühl

von Subjekt zu Subjekt verschieden ist, ist „der Begriff der

Glückseligkeit […] nur der allgemeine Titel der subjektiven

Bestimmungsgründe, und bestimmt nichts spezifisch“. Damit

ist das Prinzip der Glückseligkeit für die Gesetzgebung

disqualifiziert.

Auch wenn sich aus dem Prinzip der Glückseligkeit keine

Gesetze ableiten lassen, so doch „praktische Vorschriften“.

„Vorschrift“ wird von Kant terminologisch von „Gesetz“

unterschieden. Für alle Vorschriften gilt, daß sie

„subjektiv notwendig“ sind. Sie sind „subjektiv“, weil sie

ein Gefühl der „Lust und Unlust“ voraussetzen, das „niemals

als allgemein auf dieselben Gegenstände gerichtet [ist]“.

Sie sind „notwendig“, weil ihre Verletzung nicht zur

Verwirklichung des gewollten Objekts führt. In diesem

Zusammenhang deutet Kant auch den in praktischer Hinsicht

analytischen Charakter dieser Sätze an: Wem die [Wirkung]

beliebt, der muß sich auch gefallen lassen, die [Ursache] zu

57

sein.“ Wollen ist im Unterschied zum Wünschen ein

handlungswirksames Begehren. Es ist ein Widerspruch zu

sagen, „wir wollen eine Wirkung“ und wollen doch nicht ihre

Ursache sein.10 Vorschriften sind also subjektiv notwendige

praktische Sätze. Kant hatte sie in § 1 auch als

„hypothetische Imerative“ bezeichnet. „Hypothetisch“ drückt

dabei das subjektive Moment und „Imperativ“ die

Notwendigkeit aus.

Hypothetische Imperative beruhen auf der Erkenntnis von

Kausalbeziehungen und sind deshalb „theoretische

Prinzipien“. Als „Regeln der Geschicklichkeit“ schreiben uns

hypothetische Imperative „Mittel zu Absichten“ vor.11 Die

praktischen Regeln, die wir erhalten, wenn wir das Prinzip

der Glückseligkeit bzw. Selbstliebe zugrunde legen, lassen

sich also nicht ohne Erkenntnis von Kausalbeziehungen

gewinnen. Daß „derjenige, der gerne Brot essen möchte, sich

eine Mühle auszudenken habe“, beruht auf unserem Wissen

darüber, daß Brot aus Mehl besteht, Mehl aus Getreidekörnern

und die Körner in irgendeiner Form gemahlen werden müssen,

um Mehl zu erhalten. Der Beispielsatz drückt ein empirisches

Kausalverhältnis aus. Das konative Moment der

Willensbestimmung wird in diesem Satz vorausgesetzt. Deshalb

kommt der Vernunft hier nur eine instrumentelle Funktion in

bezug auf einen schon gegebenen Zweck zu.

10 In der „Grundlegung“ hatte Kant das analytische Prinzip dieser Imperative soformuliert: „Wer den Zweck will, will auch (der Vernunft gemäß nothwendig) dieeinzigen Mittel, die dazu in seiner Gewalt sind.“ Im § 7 bezeichnet Kant eherbeiläufig den kategorischen Imperativ als „synthetischen Satz a priori“. Ich werde indiesem Zusammenhang auch das das analytische Prinzip der hypothetischen Imperativeeiner genaueren Analyse unterziehen (s. S.???).11 Kant nennt die praktischen Vorschriften, die zur Glückseligkeit führen sollen inGMS „Ratschläge der Klugheit“ (GMS, IV 416). Eine solche Binnendifferenzierung derhypothetischen Imperative unterbleibt hier (vgl. § 1).

58

Wie dieser Satz subjektive Notwendigkeit erhalten soll, ist

nicht unmittelbar verständlich, schließlich muß wer Brot

essen will, das Brot nicht selbst herstellen. Hier bestätigt

sich, daß der hypothetische Imperativ aus zwei Gründen

hypothetisch ist (vgl. § 1. S.???): Erstens kann das

vorausgesetzte Begeghren nicht allgemein vorausgesetzt

werden und zweitens ist die Lebenssituation und damit auch die

durch den Imperativ vorgeschriebenen Mittel subjektrelativ.

In diesem Zusammenhang ist die zweite Bedingung

entscheidend. Nicht alle, die Brot essen wollen, müssen sich

eine Mühle ausdenken, aber für ein Handlungssubjekt in den

entsprechenden Lebensumständen schreibt dieser Imperativ das

notwendige Mittel vor.

Kant gebraucht dieses Beispiel aber gerade ausdrücklich

nicht um die Praktizität, sondern um den deskriptiven oder

„theoretischen“ Inhalt der „Regeln der Geschicklichkeit“ zu

illustrieren. Kant will deshalb den Begriff „praktisch“ auf

Regeln einschränken, die eine Bestimmung des Willens

aussagen. Er bezieht sich hier explizit auf die sogenannten

„praktischen“ Sätze der „Mathematik“ und „Naturlehre“.

Euklids Streckensatz??? lautet bespielsweise: „[M]an [kann]

von jedem Punkt nach jedem Punkt die Strecke ziehen […]“

(Euklid,???). Diese Regel steht unter einer problematischen

Bedingung. Man darf von einem Punkt p1 zu einem Punkt p2

eine Strecke ziehen, wenn man dazu aufgefordert wird. Es ist

jedoch jedem selbst überlassen, ob er diese Strecke ziehen

will oder nicht. Weil diesem Satz das konative Moment fehlt,

kommt in ihm auch keine „Willensbestimmung“ zum Ausdruck.

59

Deshalb sagt Kant, daß diese Sätze „eigentlich technisch“ und

nicht „praktisch“ heißen sollten.

Warum aber gebraucht Kant zwei Jahre nach der

Veröffentlichung der zweiten Kritik in der KU dennoch die

scheinbar widersprüchliche Wendung „technisch-praktische

Regel“ (KU, V 172)? Man hat Kant vorgeworfen, er habe sich

zu Unrecht in seinen späteren Schriften von seiner Theorie

der Imperative aus den moralphilosophischen

Grundlegungsschriften abgewendet und den hypothetischen

Imperativen den „Charakter praktischer Sätze ganz zu nehmen

versucht“ (Patzig 1973???, S. 215, vgl. auch Pollok 2007, S.

???). Tatsächlich hat Kant, wie sich hier in dieser Passage

der zweiten Kritik deutlich zeigt, bereits in seinen

moralphilosophischen Grundlegungsschriften um den

deskriptiven Anteil dieser Sätze gewußt. Die Antwort auf die

Frage, warum er die technischen Regeln dennoch praktisch

nennt, fällt wohl dahingehend aus, daß das theoretische

Wissen um eine Kausalbeziehung in eine Regel eingebettet

ist, die ein Wollen voraussetzt.

Damit wird nun auch verständlich, warum Kant hier in der

„Anmerkung II“ zuächst die Prinzipien der Selbstliebe als

„theoretische Prinzipien“ bezeichnet, sie dann aber

praktische Vorschriften nennt. Prinzipien sind Grundsätze.

Die Grundsätze oder Voraussetzungen, die den hypothetischen

Imperativen zu Grunde liegen sind Maximen. Der Imperativ

selbst, die „praktische Regel“, wie Kant auch sagt, ist aber

kein Grundsatz, sondern lediglich eine Vorschrift.

Vorschriften in Kants terminologischen Sinne gründen also

60

sowohl auf theoretischen (Kausalbeziehungen) als auch auf

praktischen (Maximen) Grundsätzen (Prinzipien).

Das Argument des ersten Teils der Anmerkung II läßt sich im

Kern auf drei Schritte reduzieren:

(i) Worin die Glückseligkeit von endlichen Vernunftwesen

besteht, kann nur empirisch erkannt werden und ist

subjektiv-different.

(ii) Ein praktisches Gesetz muß „objektiv in allen Fällen

und für alle vernünftigen Wesen eben denselben

Bestimmungsgrund des Willens enthalten“.

(iii) Aus dem Prinzip der Glückseligkeit lassen sich keine

praktischen Gesetze ableiten.

2. Absatz: „Aber gesetzt – in Betrachtung kommen mag“

Zentrale These: Das Prinzip der Glückseligkeit (oder Selbstliebe)

begründet selbst dann keine praktischen Gesetze, wenn alle

Menschen im Streben nach Glückseligkeit zugleich auch

denselben Weltzustand und dieselben Mittel zu seiner

Verwirklichung begehren würden.

Kant setzt mit der kontrafaktischen Annahme einer

allgemeinen Willensharmonie zwischen den endlichen

Vernunftwesen an. Dabei geht es ausdrücklich nicht nur um

eine Übereinstimmung dessen, „was sie für Objekte ihrer

Gefühle des Vergnügens oder Schmerzes“ haben, sondern auch

eine Übereinstimmung „in Ansehung der Mittel“, die zur

Verwirklichung des gewollten Objektes führen. Kant ist sich

grundsätzlich im Klaren, daß alleine das Wollen desselben

61

Gegenstandes genau das Gegenteil von Harmonie hervorbringen

kann. Er macht dies in der „Anmerkung“ zum „Lehrsatz III“

deutlich, wenn er das von Crusius überlieferte Wort von

König Franz I. zitiert (Crusius, Anweisung vernünftig zu

leben § 125???): „Was mein Bruder Karl haben will (Mailand),

das will ich auch haben.“ Das Wollen derselben Mittel (z. B.

Krieg) kann an der Disharmonie zwischen beiden nichts

ändern. Man muß daher vermutlich Kants Voraussetzung

präzisieren: Wenn Franz und Karl beide nicht gegenüber

demselben Objekt (Mailand), sondern gegenüber demselben

Weltzustand und denselben Mitteln zu seiner Verwirklichung

Lust bzw. Unlust empfinden, dann ist der Bestimmungsgrund

ihres Handelns tatsächlich derselbe. Kants kontrafaktische

Annahme scheint nur in der präzisierten Formulierung

sinnvoll zu sein, weil nur diese Form der Übereinstimmung

die Möglichkeit praktischer Gesetze nahelegt.

Kant behauptet nun, daß selbst wenn diese Form der

Übereinstimmung vorliegt, das Prinzip der Selbstliebe

(Glückseligkeit) dennoch „für kein praktisches Gesetz ausgegeben

werden [könnte]“. Seine Begründung lautet: „Denn diese Einhelligkeit wäre selbst doch nur zufällig. Der

Bestimmungsgrund wäre immer doch nur subjektiv gültig und bloß

empirisch, und hätte diejenige Notwedigkeit nicht, die in einem jeden

Gesetze gedacht wird, nämlich die objektive aus Gründen a priori; man

müßte denn diese Notwendigkeit gar nicht für praktisch, sondern bloß

physisch ausgeben, nämlich daß die Handlung durch unsere Neigung uns

eben so unausbleiblich abgenötigt würde, als das Gähnen, wenn wir andere

gähnen sehen.“

62

Man könnte einwenden aus der Tatsache, daß die Empfindungen

empirisch erkannt werden, folgt noch nicht ihre

Zufälligkeit. Auch die Newtonischen Naturgesetze sind

Gesetze der Erfahrung und gelten nach Kants eigener Theorie

mit Notwendigkeit (KrV???). Kant adressiert diesen Einwand

in der zitierten Passage ausdrücklich und beantwortet ihn

mit der Unterscheidung zwischen theoretischer

(„physisch[er]) und „praktischer Notwendigkeit“: In jeder

Art von Gesetz (sowohl theoretische als auch praktische

Gesetze) wird „objektive [Notwendigkeit] aus Gründen a

priori gedacht“. Die Bedeutung von „objektiv aus gründen a

priori“ ist im theoretischen und praktischen Fall jedoch

verschieden. Man kann sich das an einem Beispiel klar

machen:

Praktischer Satz: Wenn Du die Wurzeln der Pflanzen nicht

verbrennen willst, dann gieße sie dann, wenn die Sonne nicht

scheint.

Dieser praktische Satz kann, wie Kant sagen würde, der

„Grund“ (Logik IX 86) eines Imperatives sein:

Imperativ: Gieße die Pflanzen dann, wenn die Sonne nicht

scheint.

Er kann der Grund eines Imperatives sein, weil dieser

Imperativ nur dann verbindlich ist, wenn der vorausgesetzte

Zweck, die Pflanzen nicht zu verbrennen, tatsächlich gewollt

wird. Genau das heißt es ja, daß der Imperativ nur

„subjektiv notwendig“ ist. Das Gebot, das dieser Imperativ

ausdrückt, gilt also deshalb nicht als praktisches Gesetz, weil es

63

subjektiv bedingt ist. Nun sind diese beide Sätze auf die

Verwirklichung einer Absicht gerichtet. Man kann aber auch

von diesem intentionalen, praktischen Aspekt abstrahieren,

und alleine den theoretischen Gehalt explizieren. Man erhält

dann einen objektiv notwendigen Satz:

Theoretische Regel: Wenn Pflanzen bei Sonnenschein gegossen

werden verbrennen die Wurzeln.

Diese theoretische Regel ist objektiv notwendig, wenn sie

nicht bloß eine Assoziation zweier subjektiver Empfindungen

ausdrückt, sondern die Verbindung der Zustände der Wurzeln

(erst, ‘unverbrannt’ dann ‘verbrannt’) zeitlich unumkehrbar

ist und damit nicht der Beliebigkeit des Subjekts, dem

Zufall unterliegt. Man ist dann zu der Behauptung

berechtigt, daß der Sonnenschein das Zeitverhältnis der

beiden Zustände bestimmt (determiniert) und die Ursache für

das Verbrennen der Wurzeln ist. Das Verhältnis der beiden

Zustände der Wurzel ist keine nur zeitliche abfolge, sondern

kausal. Hätte die Sonne nicht geschienen, dann wäre die

Wurzel nicht verbrannt. In diesem Sinne darf man sagen, daß

das Verbrennen der Wurzel unter der Voraussetzung des

Sonnenscheins notwendig war.

Doch diese kausale Determiniation ist von der

Vernunftdetermination grundsätzlich unterschieden. Bei der

„Willensbestimmung“ wird im eminenten Fall unser Handeln

durch praktische Erkenntnis ‘determiniert’. Erkenntnis, das

hatte Kant in der Kategoriendeduktion der ersten Kritik

gezeigt, impliziert Notwendigkeit (KrV???). Das bedeutet

freilich nicht, daß der Hadelnde nicht etwas anderes hätte

64

wollen können, es bedeutet nur, daß ein anderes Wollen,

nicht vernünftig gewesen wäre.

Auch wenn wir auf der Basis von instrumentellem Wissen

handeln, liegt unserem Handeln Erkenntnis zu Grunde. In

unserem Beispiel ist es die Erkenntnis des

Kausalzusammenhanges der verbrennenden Wurzeln und des

Sonnenscheins. Diese Erkenntnis ist aber nur relativ auf ein

gegebenes Begehren bezogen, das selbst nicht ein Fall von

Erkenntnis ist. Wenn nun alle Menschen hinsichtlich ihrer

Gefühle von Lust und Unlust übereinstimmen würden, wären

diese nicht durch einen Vernunftgrund determiniert, weil sie

kein Fall von Erkenntnis sind. Sie sind also prakisch

zufällig, weil das Begehren nicht aus Vernunftgründen

gerechtfertigt werden kann. Deshalb behauptet Kant, daß,

wenn das Lust- und Unlustempfinden aller Menschen in bezug

auf den hervorzubringenden Zustand der Welt und die Mittel

zu seiner Verwirklichung identisch wären, die Notwendigkeit

des Gesetzes „bloß physisch“ und nicht „praktisch“ ist.

Er erklärt die physische Notwendigkeit durch eine Analogie:

Wäre die Harmonie aller menschlichen Willensakte physisch

notwendig, dann würde uns unser Handeln von unseren

Neigungen „abgenötigt“, wie uns das Gähnen abgenötigt wird,

wenn wir andere gähnen sehen.

Eigenes Gähnen Gähnen anderer::

Handeln Neigungen

Diese Analogie beruht auf der Vorausetzung, daß das

Betrachten einer gähnenden Person nach einem Naturgesetz

65

auch das Gähnen der betrachtenden Person verursacht. Ist

dieses Gesetz wahr, dann hätte, wenn das Gähnen der

betrachteten Person auftritt, das Gähnen der betrachtenden

Person nicht unterbleiben können. Die Analogie soll freilich

auch – in ironischer Form – die harmonische Beziehung

zwischen den Handlungssubjekten einfangen: Es ist durch ein

Naturgesetz geregelt, daß die Empfindungen des einen auch

die Empfindungen des anderen sind.

Im zweiten Teil der Analogie ist es nun zunächst nicht

unmittelbar verständlich, warum Kant sagt, die „Handlung“

werde „abgenötigt“. Bisher war es ausschließlich um die

Notwendigkeit des Gesetzes und nicht die der „Handlung“

gegangen. Warum geht Kant hier von den Fragen praktischer

Gesetzgebung zur Behauptung eines Naturdeterminismus über?

Der entscheidende Punkt dieses Kantischen

Gedankenexperiments ist es gerade, daß für praktische

Willensbestimmung auf der Grundlage einer hedonistischen

Willensharmonie kein Platz mehr ist. Es ist nicht mehr

sinnvoll von ‘Verpflichtung’ und ‘praktischer Nötigung’ zu

sprechen, wenn die Willenssubjekte in ihren Lust- und

Unlustempfindungen zur Übereinstimmung determiniert sind.

Nun wollen aber auch die von Kant später in § 7 ins Spiel

gebrachten reinen Vernunftwesen, die einen „heiligen Willen“

haben, der keinen Neigungen ausgesetzt ist, alle dasselbe

und handeln immer schon so wie es vernüftig ist. Gleichwohl

möchten wir sagen, sind sie moralisch zurechenbare Wesen,

deren Handlungen nicht „physisch“ determiniert sind. Es ist

hier wiederum entscheidend auf die Art der Determination zu

66

achten. Der Unterschied zwischen einer hedonistischen und

einer rationalen Willensharmonie besteht nämlich darin, daß

der heilige Wille auf der Basis von reinen Vernunftgründen

handelt, die praktisch objektiv notwendig sind. Bei einer

allgemeinen hedonistischen Willensharmonie setzt die

„Gesetzgebung“ ein Gefühl der Lust oder Unlust voraus und

die Regel ist daher praktisch nur subjektiv notwendig. Aus

theoretischer Perspektive ließe sich dagegen diese

Willensharmonie nach objektiv notwendigen Gesetzen

beschreiben.

Kants Gedankenexperiment zeigt, daß selbst unter der

Voraussetzung einer hedonistischen Willensharmonie sich

„keine praktische[n] Gesetze […], sondern nur Anratungen zum

Behuf unserer Begierden“ begründen lassen. Praktische

Grundsätze, die nur subjektiv gültig sind, hatte Kant

Maximen genannt. Er hatte die zweite Kritik sogar mit der

Einteilung der praktischen Grundsätze in Maximen und Gesetze

einsetzen lassen. Hier unterstreicht er den Vorrang dieser

Differenz und bezeichnet sie als den „allerwichtigsten

Unterschied, der nur in praktischen Untersuchungen in

Betrachtung kommen mag“. Mit diesem Unterschied muß nämlich

auch, wie wir unten sehen werden, der Unterschied zwischen

dem Moralprinzip der Kantischen Ethik und den anderen

Moraltheorien markiert werden. Würde Kant diesen Unterschied

aufgeben und erlauben, daß „bloß subjektive Prinzipien zum

Range praktischer Gesetze erhoben würden“, würde er damit

auch die kategoriale Trennung von Glücksethik und

67

Pflichtethik einebnen. Gerade für diesen Unterschied aber

will er mit seiner Theorie argumentieren.

§ 4. Lehrsatz III

Neu eingeführte Begriffe: „Form“ (bereits in der Folgerung

von § 3, wird aber auch hier nicht erklärt)

1. Absatz: „Wenn ein vernünftiges Wesen - des Willens enthalten"

Die Lehrsätze I und II hatten bewiesen, warum ein,

„materiales praktisches Prinzip“ (ein Prinzip, das durch

Lust oder Unlust an einem Gegenstand bedingt ist), kein

allgemeines Gesetz werden kann (Lehrsatz I) und auf dem

Prinzip der Selbstliebe gründet (Lehrsatz II). Der dritte

Lehrsatz markiert nun den Beginn des positiven Teils von

Kants Moraltheorie. Er möchte beweisen, daß nach dem

bisherigen Stand der Argumentation nur noch ein formales

Prinzip für die moralische Gesetzgebung infrage kommen kann.

Damit ist aber bewußt noch offen gelassen, ob es tatsächlich

ein praktisches Gesetz gibt. Im Unterschied zu allen anderen

drei Lehrsätzen ist der dritte Lehrsatz daher als

Bedingungssatz formuliert: „Wenn ein vernünftiges Wesen sich

seine Maximen als praktische allgemeine Gesetze denken soll

[…]“. Daß ein vernünftiges Wesen sich seine Maxime als

Gesetze denken soll, wird also im Beweis des Lehrsatz III

gerade nicht bewiesen und bis zum § 7??? offen gelassen.

Unter der Voraussetzung also, daß es moralische Gesetze

gibt, so lautet der dritte Lehrsatz, müssen die Maximen

nicht etwa „der Materie, sondern bloß der Form nach, den

Bestimmungsgrund des Willens enthalten“.

68

2. Absatz: „Die Materie eines - zum praktischen Gesetz mache“

Der Beweis des „Lehrsatz III“ kann auf drei Schritte

reduziert werden:

(i) Wenn die praktische Regel durch das Gefühl der Lust

oder Unlust an einem Gegenstand bedingt ist, dann ist

die Regel kein praktisches Gesetz (aus § 2)

(ii) Wenn man von “jede[m] Gegenstand des

Willens (als Bestimmungsgrund) abstrahiert, „bleibt

nichts übrig, als „die bloße Form einer allgemeinen

Gesetzgebung“.

(iii) Also können wir uns „Maximen gar nicht

zugleich als allgemeine Gesetze denken“ oder die

„bloße Form der Maximen“ macht sie zu praktischen

Gesetzen

Die erste Prämisse gibt nur das Ergebnis aus dem ersten

Lehrsatz wieder. Die zweite Prämisse geht darüber hinaus,

indem sie behauptet, daß die Alternative zwischen Form und

Materie die möglichen Arten der Willensbestimmung erschöpft.

Wenn also der erste Lehrsatz wahr ist und materiale

praktische Regeln keine praktischen Gesetze sind, ist der

einzig verbleibende Kandidat ein formales Prinzip. Kant geht

von hier nun, wie sich in der hypothetischen Formulierung

des Lehrsatzes bereits andeutet, nicht gleich zu der

Behauptung über, daß praktische Gesetze auch tatsächlich

formale Gesetze sind. Er schlägt vielmehr den bescheideneren

Weg ein und vertritt lediglich die schwächere Behauptung:

69

Nach dem bisherigen Stand der Untersuchung sind nur die

formalen Prinzipien noch mögliche Kandidaten für praktische

Gesetze. Kant zieht aber ausdrücklich auch die Möglichkeit

in Erwägung, daß „Maximen gar nicht zugleich als allgemeine

Gesetze [zu] denken“ sind. Der Kant-Skeptiker, der

behauptet, es gebe keine praktischen Gesetze und auch die

Moral sei letztlich nur ein System hypothetischer Imperative

(z. B. Foot???), ist mit dem Beweis in § 4. also noch nicht

aus dem Feld geschlagen.

Die Hauptschwierigkeit in diesem Beweis bereitet Kants Rede

von „bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung“ oder „bloße

Form der Maximen“. Leider wird die formale Willensbestimmung

im Beweis selbst nicht weiter expliziert, so daß unklar

bleiben muß, was mit der „bloßen Form der Maximen“

eigentlich gemeint ist. In der „Anmerkung“ zu diesem

Lehrsatz illustriert Kant jedoch die formale

Willensbestimmung an einem Beispiel. Von dort aus wird dann

eine genauere Erläuterung dieser für die Kantische Ethik so

zentralen Wendung möglich sein. (Hier auf der Grundlage von Steve’s

Buch mehr sagen)

Anmerkung

1. Absatz, Satz 1-7: „Welche Form - kein Depositum gäbe“

Im Unterschied zur theoretischen Erkenntnis hat Kant in der

praktischen Erkenntnis sehr großes Zutrauen in die

Fähigkeiten des „gemein[en] Verstand[es]“. Dieser sei, so

behauptet er, „ohne Unterweisung“ fähig, zu beurteilen,

„[w]elche Form in der Maxime sich zur allgemeinen

Gesetzgebung schicke“. Doch obwohl Kant wiederholt betont

70

hat, daß es „keine weit ausholende Scharfsinnigkeit“ brauche

(GMS, IV 403), um die moralische Qualität einer bestimmten

Maxime zu identifizieren, hat man in der Kantforschung immer

wieder viel Scharfsinn darauf verwendet, um zu erklären,

worin genau der formale Fehler einer moralisch verwerflichen

Maxime liegt. Erschwerend kommt noch hinzu, daß das

Evaluationsverfahren, so wie Kant es uns exemplarisch

vorführt, seiner Struktur nach nicht in allen Fällen

identisch ist. Hier in der „Anmerkung“ des § 4 der KpV will

Kant zeigen, warum die Maxime „mein Vermögen durch alle

sicheren Mittel zu vergrößern“ der Form nach sich nicht „zur

allgemeinen Gesetzgebung schicke“. Dabei prüft er nicht

unmittelbar die Maxime, sondern subsummiert unter die Maxime

als Obersatz einen Untersatz, der einen möglichen „Fall

[der] Maxime“ bildet. Dieser Fall muß also die Bedingung der

sicheren Vermögensvergrößerung erfüllen. In dem von Kant

konstruierten Fall, kommt derjenige, der sich jene Maxime

zueigen gemacht hat, in die Situation, daß bei ihm ein

Wertgegenstand zur Verwahrung (ein sogenanntes „Depositum“)

abgegeben worden ist, „dessen Eigentümer verstorben ist und

keine Handschrift darüber zurückgelassen hat“. Kant schließt

von dem Tod des Depositeurs und der fehlenden Dokumentierung

unmittelbar darauf, daß die „Niederlegung ihm niemand

beweisen kann“. Dehalb kann die Unterschlagung des

Depositums als ein sicheres Mittel zur Vermögensvergrößerung

gelten und erfüllt also die Bedingung der Maxime.

Wäre unserer Intellekt nur ein instrumentelles Vermögen,

würde der Imperativ lauten: „Unterschlage das Depositum“.

71

Als Vernunftwesen prüfen wir die Rationalität der Handlung

aber darüber hinaus noch mit der Frage, „ob jene Maxime auch

als allgemeines praktisches Gesetz gelten könne“. Damit

stoßen wir in die moralische Dimension der

Handlungsbewertung vor. Kant muß nun erklären, worin genau

der formale Fehler einer gesetzwidrigen Maxime besteht. Dazu

„wende[t]“ er, wie er sagt, die Maxime auf den gegenwärtigen

Fall an. Er prüft also nicht unmittelbar die

Gesetzförmigkeit der Maxime, sondern untersucht einen

Handlungsfall, der aus dieser Maxime folgt: die

Unterschlagung des Depositums. Genau dann, wenn ich „durch

meine Maxime zugleich ein solches Gesetz geben könnte“, kann

die Maxime als allgemeines Gesetz gelten. Die Maxime wird

hier also als Prinzip der Gesetzgebung gedacht und ist selbst ein

Gesetz, wenn sich aus ihm gültige praktische Gesetze

begründen lassen. Kant überprüft die Gesetzmäßigkeit der

Maxime an den besonderen praktischen Regeln, die aus dieser

Maxime entspringen.12 Damit nimmt er in § 4 bereits die Form

des Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft vorweg:

„Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zuglich

als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (§ 7,

Hervorhebung J. B.).

Um beurteilen zu können, ob die Maxime als Prinzip einer

allgmeinen Gesetzgebung fungieren kann, müssen wir wissen,

welche spezielle praktische Regel, durch die Maxime im

Depositums-Fall begründet werden soll. Da die Maxime

12 Cramer meint, daß sich darin eine Veränderung des Testverfahrens gegenüber der„Grundlegung“ bekunde. Wenn man sich indes die Beispiele der „Grundlegung“ genauansieht, bemerkt man, daß Kant dort nur die Reihenfolge umdreht. Er geht vomkonkreten Einzelfall auf und sucht dann die Maxime auf (belegen und ausführen!!!???)

72

ausdrücklich „alle“ sicheren Mittel zur Reichtumsvergrößerung

vorsieht, sind auch widermoralische Mittel nicht

ausgeschlossen. Deshalb lautet die als Gesetz zur

Disposition stehende Regel: „Jedermann [darf] ein Depositum

ableugnen […], dessen Niederlegung ihm niemand beweisen

kann.“ Damit kann Kant nun zur moralischen Qualifizierung

übergehen. Seine etwas überraschende Diagnose lautet, „daß

ein solches Prinzip, als Gesetz, sich selbst vernichten

würde, weil es machen würde - so das Argument -, daß es gar

kein Depositum gäbe“. Überraschend ist die Diagnose deshalb,

weil die praktische Regel, die hier auf ihre Gesetzmäßigkeit

geprüft wird unter einer einschränkenden Bedingung steht:

„dessen Niederlegung ihm niemand beweisen kann“. Die Frage

ist also, warum Kant behauptet, daß „es gar kein Depositum

gäbe“, wenn Deposita generell nur dann nicht zurückgegeben

würden, wenn die „Niederlegung […] niemand beweisen kann“.

Es scheint so, als würde Kant hier nur den speziellen Fall der

Depositums-Praxis ohne Dokumentierung ausschließen. Diese Art

des Depositums „gäbe“ es nicht mehr, wenn jeder nach der

Regel handeln würde, undokumentierte Leihgaben

einzubehalten. Die Klasse der fälschlich einbehaltenen

Deposita ist indes, wie Conrad Kramer richtig bemerkt hat,

nicht koextensiv mit der Klasse aller Deposita. Die kausale

Folge dieser besonderen Depositums-Praxis wäre also nicht,

daß es generell keine Deposita mehr „gäbe“ (vgl. Cramer IX

Kant-Kongress???, S. 126).

Gegen eine solche konsequentialistische Deutung könnte man

versuchen, eine logisch-semantische Lesart plausibel zu

73

machen. Demnach müßte „gäbe“ im Sinne des voranstehenden

„sich selbst vernichten“ verstanden werden: Mit „Depositum“

meint man einen Gegenstand der zur Aufbewahrung hinterlegt

worden ist. Das Depositum ist also nicht etwa ein Geschenk,

sondern eine fremde Sache, die man dem Eigentümer oder

dessen Erben zurückzugeben hat. Um die notwendige Bedingung

der „fremden“ Sache beraubt, hört die Leihgabe auf, das zu

sein was sie ist und wird, wie Kant sagt, „vernichtet“

(Höffe 2002, S. 73; vgl. auch Cramer IX-Kant Kongress???, S.

125). Hier ist nun der Punkt erreicht, wo die

konsequentialistische und die logisch-semantische Deutung

übereinkommen: Wenn alle Handlungssubjekte nach der Regel

handelten, bei ihnen hinterlegte Leihgaben „abzuleugnen“ und

als Geschenk zu behandeln, „gäbe“ es (im Sinne von

Existieren), die Praxis der Leihgabe nicht mehr, weil es

eine notwendige Bedingung des Konzepts „Leihgabe“ ist, daß

diese nicht etwa als Geschenk behandelt, sondern an

Ausleihenden zurückgegeben wird. Verallgemeinert man also

die Depositumsunterschlagung zu einer allgemeinen Regel,

dann unterminiert sie genau das Prinzip auf das sich hier

die erfolgreiche Vergrößerung des Vermögens gründet: die

Leihgabe. Um diese Konsequenzen einzusehen braucht man keine

Erfahrung über die Psychologie der Handlungssubjekte und den

kausalen Weltverlauf. Es genügt, wie Kant sagen würde, reine

Vernunft.

Man hat mit dieser Analyse aber noch nicht den speziellen Fall

erklärt. Wie sich oben gezeigt hat, will Kant ja nicht eine

Regel zurückweisen, die Deposita im allgemeinen „vernichtet“,

74

sondern nur eine spezielle Regel der Depositums-Praxis: Alle

undokumentierten Deposita, deren Eigentümer verstorben sind,

werden unterschlagen. Die Schwiergikeit besteht darin, zu

erklären, warum Kant behauptet, daß diese besondere Regel,

das Konzept des Depositums im allgeinen vernichten würde.

Vermutlich ist die Antwort in der einschränkenden Bedingung

zu finden: Die Tatsache, daß keine „Hanschrift“ über das

Depositum existiert, rückt den Fall aus der rechtlichen in

die moralische Sphäre. Der Akteur kann für sein

Fehlverhalten rechtlich nicht belangt werden. Mehr noch:

wenn er sich dafür entscheidet, das Depositum zurückzugeben,

sind Folgeüberlegungen, wie Angst vor Strafe, weitgehend

ausgeschlossen. Das macht diesen Fall zu einem für Kant

typischen moralischen Konfliktfall zwischen Vernunft und

Neigung. In der Moral geht es überhaupt nur um die Form der

freiwilligen und nicht etwa erzwungenen oder erzwingbaren

Depositums-Rückgabe. Kant ist also berechtigt zu behaupten,

„daß es gar kein Depositum gäbe“, wenn es zu einer

allgmeinen Regel würde undokumentierte Deposita, deren

Eigentümer verstorben sind, zu unterschlagen, weil es hier

überhaupt nur um den moralischen Fall der

Depositumsunterschlagung geht. In einer moralischen Welt,

dem „Reich der Zwecke“ ist die Depositumsrückgabe im

undokumentierten Fall, die unerzwungene Ehrlichkeit

konstitutiv für das Konzept des Depositums.

Man kann das am Depositum exemplifizierte moralische

Qualifikationsverfahren auf folgendes Schema bringen:

75

I. Technisch-Praktische Vernunft:

1. Obersatz: „Ich habe […] es mir zu Maxime gemacht, mein

Vermögen durch alle sicheren Mittel zu vergrößern.“

2. Untersatz (Situationsbeschreibung): „Jetzt ist ein Depositum in

meinen Händen, dessen Eigentümer verstorben ist und keine

Handschrift darüber zurückgelassen hat.

3. Schlußsatz (Handlung/Intention???): Ich will das Depositum

Unterschlagen.

II. Moralisch-Praktische Vernunft:

1. Formulierung der situationsbezogenen Handlungsregel (aus dem Syllogismus

der technisch-praktischen Vernunft) „Jedermann [darf] ein Depositum

ableugnen, dessen Niederlegung ihm niemand beweisen kann“.

2. Überprüfung der situationsbezogenen Handlungsregel: Diese Regel läßt

sich nicht ohne Widerspruch denken, weil es konstitutiv für

das (moralische) Depositum ist, daß es unerzwungen an den

Eigentümer zurückgegeben wird.

3. Überprüfung der Maxime: Aus der Maxime folgen praktische

Regeln, die nicht gesetzmäßig sind. Also ist die Maxime „zur

allgemeinen Gesetzgebung“ untauglich.

Satz 8-9 Ein praktisches Gesetz - sich selbst aufreiben

Wenn man sich das moralische Qualifikationsverfahren

ansieht, ist es verwunderlich, wieso Kant sich so sicher

war, daß der „gemeinste Versand ohne Unterweisung“

unterscheiden kann, welche Maxime zur allgmeinen

Gesetzegbung geeignet ist. Im zweiten Teil desselben

Absatzes kürzt Kant das Verfahren ab. Er abstrahiert

76

zunächst von dem besonderen Fall der

Depositumsunterschlagung und gibt uns ein Verfahren an die

Hand, das die Identifikation ungesetzmäßiger Maximen

wesentlich erleichtert. Dafür expliziert er zunächst die

triviale Bedingung eines praktischen Gesetzes, nämlich daß

es sich „zur allgemeinen Gesetzgebung qualifizieren“ können

muß. Er macht zweitens die hier implizite und in den

Lehrsätzen I und II gerechtfertigte Voraussetzung explizit,

daß „Neigung[en]“ subjektiv different sind. Ein allgemeines

Gesetz dagegen, auch das wissen wir aus den vorangegangenen

Paragraphen, beansprucht objektiv apriori gültig zu sein.

Damit ist Kant zu der Schlußfolgerung berechtigt, daß

praktische Regeln, die durch Neigungen bedingt sind, nicht

„zu einer allgemeinen Gesetzgebung tauglich [sind]“. Wir

können also bei der Überprüfung der moralischen Qualität

einer Maxime sie immer dann bereits als ungesetzmäßig

ausscheiden, wenn der „Bestimmungsgrund“ der Maxime eine

„Neigung“, ein Gefühl der Lust oder Unlust ist.

Im konkreten Fall der Depositumsunterschlagung war der

Bestimmungsgrund die Vermögensvergrößerung mit „alle[n]

sichere[n] Mitteln“. Diese Maxime ist nicht durch moralische

Überlegungen eingeschränkt, sondern beanspruht unbedingte

Gültigkeit. Deshalb nennt Kant den Bestimmungsgrund der

Maxime „Habsucht“. Wie alle Neigungen muß sich auch die

Habsucht „in der Form eines allgemeinen Gesetzes […] selbst

aufreiben“, weil ein subjektives Gefühl keine objektiven

praktischen Gesetze begründen kann.

77

2. Absatz „Es ist daher wunderlich - ist schlechterdings

unmöglich“

Im ersten Absatz hat Kant an einem Beispiel erläutert, wie

formale Überlegungen die Gesetzwidrigkeit von Maximen

aufdecken können. Dabei hat sich auch exemplarisch

bestätigt, was im „Lehrsatz I“ bewiesen wurde, daß ein

materiales Prinzip keine praktischen Gesetze begründen kann.

Im zweiten Absatz wendet Kant sich nun wieder dem Prinzip

der Glückseligkeit zu, auf die, wie er im Lehrsatz II

bewiesen hatte, alle materialen Prinzipien zurückgeführt

werden können. Im einzelnen schließt seine Argumentation an

die „Anmerkung II“ des zweiten Lehrsatzes an, in der er

erläutert hatte, warum Glückseligkeit, obwohl sie „notwendig

das Verlangen jedes vernünftigen aber endlichen Wesens

[ist]“ nicht das Grundprinzip einer Moraltheorie sein kann.

Kant argumentiert hier jedoch ohne jene kontrafaktische

Verschärfung, nach der alle Menschen gegenüber denselben

Weltzuständen und den Mitteln zu ihrer Verwirklichung Lust

und Unlust empfinden. Er baut vielmehr seine Argumentation

aus dem ersten Absatz aus, und erläutert, warum die Begierde

nach Glückseligkeit bei allen Handlungssubjekten „das

äußerste Widerspiel der Einstimmung, de[n] ärgste[n]

Widerstreit und die gänzliche Vernichtung der Maxime“

hervorbringt. Hier neu ansetzen???: Denn, so lautet das Argument,

das worin das „Wohlbefinden“ besteht ist von Subjekt zu

Subjekt verschieden und mit ihm auch das Handlungsziel. Die

zufällige Übereinstimmung mit den Absichten anderer ist zur

Gesetzgebung nicht hinreichend. (Drei Punkte offen: 1. Wer sind die

78

„verständigen Männer“, 2. Von wem ist das „gewisse Spottgedicht“ (Oh,

wundervolle Harmonie, was er will, will auch sie“, 3. Bei Crusius (Anweisung

vernünftig zu leben § 125) die Stelle über die Brüder König Franz und Kaiser Karl

nachschlagen. Das Besondere dieses Teils ist es, daß Kant hier im Unterschied zu

Lehrsatz II, Anmerkung II betont wieso Glückseligkeit nicht zur Übereinstimmung

des Willensobjekts führt.)

Kant geht schließlich noch einen Schritt weiter. Bisher hat

er nur behauptet, daß das Prinzip der Glückseligkeit als

empirisches Prinzip auf der intersubjektiven Ebene keine

praktischen Gesetze begründen kann. Nun weitet er diese

Behauptung auch auf die bloß subjektive Ebene aus. Seine

zentrale These ist also, daß sich aus dem Prinzip der

Glückseligkeit weder eine „innere“ noch eine „äußere

Gesetzgebung“ ableiten läßt. Und seine Begründung lautet,

daß „Neigungen“ nicht nur von Subjekt zu Subjekt verschieden

sind, sondern auch innerhalb desselben Subjekts „bald die

[Neigung], bald eine andere im Vorzuge des Einflusses

[ist]“.

§ 5. Aufgabe I

Dieser § muß mit einer Erklärung der Gliederung in Erklärung, Lehrsatz,

Anmkerung, Folgerung und Aufgabe beginnen (s. dazu auch Logik § 39. Dort

erklärt Kant eine Reihe dieser Begriffe. Das Scholium ist die Anmerkung!). Kant

verfährt hier more geometrico. Doch was genau bedeuet diese Methode? Seine

Methode ist synthetisch; er beginnt mit ersten Prinzipien und leitet dann aus

diesen Prinzipien die besonderen Prinzipien ab, nicht analytisch, wo man zu den

höchsten Prinzipien aufsteigt. Kant beginnt mit der Idee eines praktischen

79

Gesetzes und expliziert die notwendigen Bedingungen. Im Unterschied zur

Mathematik (und zu Spinoza) kann es bei Kant keine Axiome geben, weil sie auf

Anschauung beruhen. Kant hat dafür das Faktum der Vernunft. Doch wie bauen

die einzelnen Teile aufeinander auf, was ist jeweils ihre Funktion? Der Term

„Aufgabe“ findet sich in Spinozas Ethik nicht. Ist Kant der erste, der diesen Aspekt

ins Verfahren einführt? Diese Erläuterungen sollten am Beginn des Ersten

Hauptstückes stehen. Hier in § 5 kann ich wieder auf diese Ergebnisse

zurückkommen.

1. Absatz „Vorausgesetzt, daß - allein bestimmbar.“

Kants Argumentation bis zum § 5 läßt sich auf drei Schritte

zusammenfassen: Er geht zunächst von der Voraussetzung aus,

daß praktische Gesetze bedingungslos (a priori notwendig)

verbindlich sind (§ 1., Erklärung). Dann beweist er, daß

alle materialen Prinzipien durch das Begehren eines

bestimmten Gegenstandes bedingt sind, deshalb nicht zur

praktischen Gesetzgebung infrage kommen (§ 2., Lehrsatz I)

und auf das Prinzip der Selbstliebe (eigenen Glückseligkeit)

reduziert werden müssen (§ 3, Lehrsatz II). Im „Lehrsatz

III“ zeigt er schließlich, daß, wenn Maximen sich zu

moralischen Gesetzen qualifizieren können, nur die

gesetzmäßige Form ihnen diesen Status verleihen kann (§ 4).

In § 5 wird dieses hypothetische Ergebnis aus dem dritten

Lehrsatz nun Bestandteil einer selbstgestellten Aufgabe.

Die Aufgabe gliedert sich in zwei Absätze: Der erste Absatz

bringt die Aufgabenstellung, der zweite die Lösung. (Mit

„Aufgabe wird hier ein neues methodisches Mittel eingeführt...). Bei der

Aufgabenstellung setzt Kant voraus, daß „die bloße

80

gesetzgebende Form der Maximen allein der zureichende

Bestimmungsgrund eines Willens sei“. Von dieser

Voraussetzung ausgehend, formuliert er dann die eigentliche

Aufgabe, nämlich die „Beschaffenheit desjenigen Willens zu

finden, der [durch die bloße gesestzgebende Form der

Maximen] allein bestimmbar ist“.

Der Wille in seiner eminenten (nicht defizienten) Form ist

ein durch Vernunft bestimmtes Kausalvermögen. Wenn Kant hier

also von der „Beschaffenheit“ des Willens spricht, dann ist

die Art der Kausalität gemeint. Aber was bedeutet es, daß

ein Wille durch die gesetzgebende Form der Maximen allein

bestimmbar ist? Mit „allein“ schließt Kant alle materialen

Bestimmungsgründe aus. Das wird auch im ersten Teil der

Aufgabenstellung deutlich. Dort heißt es, daß die

gesetzgebende Form nicht etwa zusammen mit der Materie

hinreichend für die Willensbestimmung ist, vielmehr soll die

„gesetzgebende Form der Maximen allein der zureichende

Bestimmungsgrund“ sein (Hervorhebung J. B.). Wäre die

gesetzgebende Form nicht allein hinreichend und die

Willensbestimmung wäre noch durch das Vorliegen eines

Begehrens bedingt, wäre die Gültigkeit der praktischen Regel

subjektiv bedingt und sie würde, wie Kant in § 2 bewiesen

hat, nicht den Rang eines praktischen Gesetz einnehmen

können.

Bei der Einführung der Begriffe „Form“ und „Materie“ wurde

gesagt, daß Form und Materie des Willens sich wie Begriff

und Empfidung zueinander verhalten: Der Begriff ist die

Bestimmung, die Empfindung das Bestimmte. Die praktischen

81

Gesetze bzw. Regeln??? leisten die Bestimmung und ihr Objekt

(die Materie) sind unsere Begehrungen. Wenn Kant also von

„Willensbestimmung“ spricht, dann ist damit der Akt der

Vernunft gemeint, wodurch unsere Begehrungen eine

regelgeleitete Richtung erhalten.

Nun ist aber auch bloß instrumentelles Handeln

regelgeleitet. Dabei wird, wie wir alle wissen, das

instrumentelle Wissen nicht immer nur zur Beförderung des

moralisch Guten eingesetzt. Man muß in diesem Fall daher von

einem regelgeleiteten aber unmoralischen Handeln sprechen.

Die begriffliche Bestimmung des Willens zur Handlung ist

also alleine nicht hinreichend für eine moralisch gute

Willensbestimmung. Vernunft bestimmt in diesem Fall nicht

unmittelbar den Willen, sondern nur vermittelt durch das

begehrte Objekt. Genau diesen Sachverhalt hat Kant im Auge,

wenn er „Form“ durch „gesetzgebend“ spezifiziert. Es geht

also in dieser Aufgabe nicht um jedes regelgeleitete

Begehren, sondern nur um dasjenige, bei dem die gesetzgebende

Form der Bestimmungsgrund des Willens ist.

2. Absatz: „Da die bloße Form des Gesetzes - ein freier Wille“

Der Lösungsweg gliedert sich in zwei hypothetische Sätze

(„Da […]: so […]“, „Wenn […]: so […]“) und einen

kategorischen Lösungssatz, dem eine Defnition vorausgeht.

Der Lösungssatz läßt sich so reformulieren: Ein Wille, der

durch die gesetzgebende Form bestimmt werden kann, ist ein

absolut freier Wille. Welche Argumente führen Kant zu dieser

Lösung? Er beginnt mit der Voraussetzung, daß „die Form des

82

Gesetzes lediglich von der Vernunft vorgestellt werden kann,

und mithin kein Gegenstand der Sinne ist“. Gegen diese

Annahme liegt der Einwand nahe, daß auch Klugheitsratschläge

von der Vernunft vorgestellt werden: Wir müssen unsere

Begehrungen propositionalisieren und in ein kohärentes

System von Absichten bringen. Um diese Art von Ratschlägen

generieren zu können, ist also Vernunft erforderlich. Wenn

Kant hier jedoch „lediglich von der Vernunft vorgestellt“

schreibt, ist damit gemeint, daß die Vorstellung keine

Repräsentation von Empirischem ist oder auf das Gefühl der

Lust und Unlust als etwas Empirisches bezogen wird. Als

solche ist die Vorstellung der gesetzgebenden Form empirisch

unbedingt und damit von allen empirischen Bestimmungsgründen

verschieden. Kant hatte in der ersten Kritik den „Gegenstand

einer empirischen Anschauung“ eine „Erscheinung“ genannt

(KrV, B 34) und es von dem „Noumenon“ als dem „Objekt einer

nichtsinnlichen Anschauung“ unterschieden (KrV, B 307). Von

dieser Terminologie macht er hier Gebrauch, und darf

unmittelbar schließen, daß die gesetzgebende Form als nicht-

empirische Vorstellung „nicht unter die Erscheinungen

gehört:“.

Der Doppelpunkt nach „gehört“ markiert das Ende der

Voraussetzung, die sich nun auf die Behauptung verkürzen

läßt: Die Vorstellung der gesetzgebenden Form ist keine

Erscheinung. Im nächsten Beweisschritt macht Kant erneut von

Ergebnissen der ersten Kritik Gebrauch. Dort hatte er im

Rahmen der zweiten Analgoie der Erfahrung bewiesen, daß nur

alle Erscheinungen als Ursachen („bestimmende Gründe“)

83

selbst auch wieder durch Erscheinungen bedingt sind. Alle

Erscheinung sind auf diese Weise durch das Prinzip der

Kausalität miteinander verknüpft. Das Ganze der

zusammenhängenden Einheit heißt „Natur“ in materieller

Bedeutung (KrV, B 446 f.) und das transezendentale Kausalprinzip

selbst wird deshalb (auch hier in der Aufgabe I) das

(allgemeine) „Naturgesetz“ genannt. Mit der zweiten Analogie der

Erfahrung schließt Kant an Leibniz’ Satz vom zureichenden

Grund an (KrV, B 246, B 264 f., B 811), transformiert ihn aber in

einen transzendentalen Grundsatz und schränkt ihn damit auf

Erscheinungen als einer Teilklasse der Gegenstände überhaupt

ein, indem er ihm eine erkenntniskonstituierende Funktion

zuweist.

Wenn nun die Vorstellung der gesetzgebenden Form selbst

keine Erscheinung ist (Prämisse 1), und nur alle

Erscheinungen dem transzendentalen Naturgesetz unterworfen

sind (Prämisse 2), dann ist, so darf Kant schließen, die

gesetzgebende Form als Bestimmungsgrund des Willens „von

allen Bestimmungsgründen der Begebenheiten in der Natur“

unterschieden.

Ziel der Aufgabenstellung war es die Beschaffenheit

(Kausalität) des Willens aufzufinden, bei dem die

gesetzgebende Form für die Willensbestimmung „allein“

hinreichend ist (Hervorhebung J. B.). Diese Voraussetzung

muß mit auf den Lösungsweg genommen werden. Dehalb heißt es,

daß „auch kein anderer Bestimmungsgrund des Willens für

diesen zum Gesetz dienen kann, als bloß jene allgemeine

gesetzgebende Form:“. Wieder markiert ein Doppelpunkt in

84

diesem Fall hinter „Form“ das Ende der Voraussetzung. Kant

darf nun schlußfolgern: Ein Wille dessen Bestimmungsgrund

die gesetzgebende Form ist, ist nicht durch andere

Erscheinungen verursacht und unterliegt damit nicht dem

„Naturgesetz der Erscheinungen“ („Gesetze der Kausalität“).

Um diese hier nur negativ bestimmte Kausalität des Willens

begrifflich zu fassen, greift Kant schließlich ein drittes

Mal auf die Terminologie der ersten Kritik zurück: Dort hatte

er die Kausalität, „die nicht nach dem Naturgesetze wiederum

unter einer anderen Ursache steht“, als „transzendentale

Idee [der] Freiheit“ bezeichnet (KrV, B 561). Die

transzendentale Freiheit ist eine „Idee“ und kein

Erfahrungsbegriff, weil sie auf die Totalität der Bedingungen

geht. Als Erstursächlichkeit markiert sie eine

Abschlußbedingung und ist damit ein absoluter und nicht etwa

relativer Begriff (KrV, B 356 ff., B 377 ff.). Auf diese

Idee kommt Kant in der Lösung der „Aufgabe I“ zurück, wenn

er die Unabhängigkeit vom Naturgesetz als „Freiheit im

strengsten, d. i. transzendentalen Verstande“ bezeichnet.

Damit ist die gesuchte Beschaffenheit des Willens gefunden

und die Aufgabe gelöst: Ein Wille, der durch die

gesetzgebende Form allein bestimmbar ist, ist ein

transzendental freier Wille.

Die Lösung der Aufgabe kann in sechs Schritten

zusammengefaßt werden:

(i) Die Vorstellung der gesetzgebenden Form ist eine

reine Vernunftvorstellung und keine Erscheinung. (P)

85

(ii) Nur alle Erscheinungen (nicht alle Gegenstände

überhaupt) sind als Ursachen („bestimmende Gründe“)

selbst auch wieder durch andere Erscheinungen bedingt

(„Naturgesetz der Erscheinungen“). (P)

(iii) Also ist die gesetzgebende Form als

Bestimmungsgrund des Willens „von allen

Bestimmungsgründen der Begebenheiten in der Natur

unterschieden“. (i, ii)

(iv) Wenn die gesetzgebende Form der „allein zureichene

Bestimmungsgrund“ des Willen sein kann, dann

unterliegt er nicht dem „Naturgesetz der

Erscheinungen“ („Gesetze der Kausalität“). (iii)

(v) Eine Kausalität, die unabhängig von dem „Naturgesetz

der Erscheinungen ist“, heißt transzendentale

Freiheit. (P)

(vi) Also ist ein Wille, der durch die gesetzgebende Form

bestimmt werden kann, ein absolut freier Wille. (iv,

v)

§ 6. Aufgabe II

1. Absatz „Vorausgesetzt - tauglich ist.“

In § 6 dreht Kant die Aufgabenstellung um. Er setzt die

absolute Freiheit des Willens voraus und macht es sich zur

Aufgabe, „das Gesetz zu finden, welches ihn allein notwendig

zu bestimmen tauglich ist“. Bei dieser Aufgabenstellung

erwartet man, daß Kant mit dem Lösungssatz auch die

Formulierung eines Gesetzes präsentieren würde. Das ist aber

nicht der Fall. Der Lösungssatz kann aber dazu verhelfen,

86

die Fragestellung zu präzisieren. Dort heißt es: Die

„gesetzgebende Form [ist] das einzige, was einen

Bestimmungsgrund des Willens ausmachen kann“. Ein bestimmtes

Gesetz wird also im Lösungssatz gar nicht formuliert,

vielmehr gibt Kant nur die Art des des Gesetzes an. Deshalb

kann man auch die Aufgabestellung dahingehend ergänzen, daß

das Ziel darin besteht, „[die Art des] Gesetz[es] zu finden,

welches ihn allein notwendig zu bestimmen tauglich ist“.

Der Lösungssatz muß aber auch andersherum durch die

Aufgabestellung präzisiert werden: Erstens geht es hier nicht

darum, das Gesetz zu finden, durch den ein Wille im

allgemeinen, sondern ein freier Wille im besonderen, bestimmt

werden kann. Zweitens (und weniger offensichtlich) kann Kant

nicht meinen, die Form sei „das einzige, was einen

Bestimmungsgrund des [freien] Willens ausmachen kann“

(Hervorhebung J. B.). Wäre dies der Fall, könnten wir gar

nicht ungesetzlich handeln, sondern unserer Wille wäre immer

schon durch die gesetzgebende Form bestimmt. Damit käme uns

jener heilige Wille zu, den Kant uns gerade ausdrücklich

abspricht (KpV § 7, V 32). Diese Inkonsistenz läßt sich

vermeiden, wenn man das „allein notwendig“ aus der

Aufgabenstellung auch in den Lösungssatz überträgt. Demnach

ist die „gesetzgebende Form das einzige“, was einen freien

Willen allein notwendig bestimmen kann. Durch diese

Ergänzung sind dann nicht-gesetzmäßige Bestimmungsgründe

sehr wohl möglich, aber sie sind keine Bestimmungsgründe,

die ohne das Vorliegen subjektiver Voraussetzungen

verbindlich, d. h. praktisch notwendig sind. Noch genauer

87

müßte es sowohl in der Aufgabenstellung als auch in der

Lösung „praktisch objektiv notwendig“ heißen. Denn, wie sich

bereits in den §§ 1 und 3 gezeigt hat, kommt auch den

hypothetischen Imperativen Notwendigkeit zu, die allerdings

nur subjektiv bedingt ist (KpV § 1, V 20; § 3, V 26). Eine

zweite Möglichkeit die Konsistenz der Kantischen Theorie zu

wahren besteht darin, die Konklusion dahingehend

abzuschwächen, daß die gesetzgebende Form den freien Willen

bestimmen können muß. Die nicht gesetzmäßige

Willensbestimmung kann dann als eine Unterlassung der

Vernunftbestimmung verstanden werden.

2. Absatz „Da die Materie - Willens ausmachen kann.“

Die Lösung der „Aufgabe II“ besteht aus zwei Teilen. Im

Ausschlußverfahren wird zunächst im ersten negativen Teil

die Materie als Bestimmungsgrund eines freien Willens

ausgeschlossen, um dann im zweiten positiven Teil auf die

gesetzgebende Form als notwendigen Bestimmungsgrund eines

freien Willens zu schließen. Dieses Ausschlußverfahren hatte

Kant bereits in § 4 eingesetzt. Auch die anderen Argumente

sind bereits aus den vorangehenden Paragraphen bekannt:

Unter der Materie der Maxime versteht Kant den „Gegenstand

dessen Wirklichkeit begehret wird“ (§ 2). Die Wirklichkeit

eines Gegenstandes zu begehren heißt, „Lust“ an ihm zu

empfinden. Ob ein Gegenstand Lust, Unlust oder Indifferenz

bereitet, kann nicht a priori erkannt werden (ebd.). Deshalb

behauptet Kant hier im § 6, daß die Materie der Maxime

„niemals anders als empirisch gegeben werden kann“.

88

Empirische Bedingungen unterliegen, dies wurde in der

Aufgabe I im Rekurs auf die erste Kritik deutlich, dem

„Gesetz der Kausalität“ (§ 5). Wenn also die Materie der

Bestimmungsgrund des Willens ist – so Kants erster

Lösungsschritt –, dann ist der Bestimmungsgrund die kausale

Folge empirischer Bedingungen. In seinem zweiten Schritt macht

Kant von seiner Definition der absoluten Freiheit als die

„Unabhängigkeit […] von dem Natrugesetz der Erscheinungen“

aus der Aufgabe I Gebrauch. Also darf er drittens folgern, daß

ein Wille (als Vermögen, nicht Willensakt), dessen

Bestimmungsgrund nur die kausale Folge empirischer

Bedingungen (Materie) sein kann, nicht absolut frei ist.

Der negative Teil des Beweises ist damit abgeschlossen. Kant

kann nun dazu übergehen, die Kausalität eines freien Willens

positiv zu bestimmen: Der Wille ist ein Vermögen durch die

Vorstellung von Gesetzen zu handeln (KpV, V 125; GMS, IV

412). Wenn der freie Wille von der Materie des praktischen

Gesetzes unabhängig ist, dann muß er noch durch ein anderes

Prinzip bestimmbar sein, andernfalls bliebe er unbestimmt,

wäre also kein Wille mehr, sondern nur blinder Trieb (s.

oben???). Neben der Materie aber, so Kants vierter

Lösungsschritt, ist nur die Form des Gesetzes ein möglicher

Bestimmungsgrund des Willens. Damit ist Kant schließlich zu

der Schlußfolgerung berechtigt, daß die gesetzgebende Form

„das einzige [ist], was einen [notwendigen] Bestimmungsgrund

des [freien] Willens ausmachen kann“. Mit diesem Ergebnis

deutet Kant schon an, daß die Freiheit, die er hier bisher

89

nur negativ charakterisiert hat, positiv als eine

Vernunftkausalität verstanden werden muß.

Die Lösung der „Aufgabe II“ läßt sich also auf fünf

Lösungsschritte verkürzen:

(i) Wenn die Materie der Bestimmungsgrund des Willens

ist, dann ist der Bestimmungsgrund die kausale Folge

empirischer Bedingungen. (P)

(ii) Absolute Freiheit ist die „Unabhängigkeit […] von dem

Natrugesetz der Erscheinungen“. (P)

(iii) Ein Wille, dessen Bestimmungsgrund nur die kausale

Folge empirischer Bedingungen (Materie) sein kann,

ist nicht absolut frei. (i,ii)

(iv) Die Form des Gesetzes ist neben der Materie der

einzig mögliche Bestimmungsgrund des Willens. (P)

(v) Also muß ein freier Wille durch die gesetzgebende

Form bestimmbar sein. (iii, iv)

Anmerkung

Diese Anmerkung befaßt sich mit der Erkenntnishierarchie der

Begriffe Freiheit und Moralgesetz. Kants zentrale These ist,

daß das Moralgesetz, wie es in der „Vorrede“ heißt, die ratio

cognoscendi, der Erkenntnisgrund, der Freiheit ist. Die

Anmerkung besteht aus einem Absatz, der in drei Teile

untergliedert werden kann. Im ersten Teil will Kant

beweisen, daß uns nur ein unmittelbares Bewußtsein des

Moralgesetzes nicht aber der Freiheit möglich ist. Im

zweiten und dritten Teil werden dann aus

transzendentalphilosophischer und empirischer Perspektive

90

zusätzliche Belege für den erkenntnismäßigen Vorrang des

Moralgesetzes erbracht. Kant argumentiert zunächst im

zweiten Teil vom Standpunkt der Transzendentalphilosophie,

daß der Freiheitsbegriff in bezug auf die theoretische

Philosophie funktionslos bleibt und nur wegen des

Moralgesetzes „in die Wissenschaft eingeführt werden muß“.

Im dritten und letzten Teil appeliert er an unsere

Selbsterfahrung und will auch aus empirischer Perspektive

die „Ordnung der Begriffe“ (erst Moralgesetz dann Freiheit)

bestätigen.

1. Absatz, Satz 1 und 3 „Freiheit und unbedingtes – zurück“, Von der

Freiheit kann es nicht - Widerspiel der Freiheit, zu erkennen.“

Es ist das Ziel dieser Anmerkung, die Frage zu beantworten,

„wovon unsere Erkenntnis des unbedingt-Praktischen anhebe, ob

von der Freiheit, oder dem praktischen Gesetze“. Dabei muß

der Nebensatz hier als eine vollständige Alternative

verstanden werden: Freiheit oder praktisches Gesetz – tertium

non datur. Die Fragestellung ist mehrdeutig: Unbedingt

praktisch ist zum einen das Moralgesetz, weil es die einzige

Handlungsregel ist, die voraussetzungslos gebietet.

Unbedingt praktisch ist aber auch die transzendentale

Freiheit, weil sie eine Kausalität meint, die alleine aus

sich heraus handlungswirksam ist. Die Formulierung

„unbedingt-Praktisch“ läßt also offen, ob es um die

Erkenntnis der Freiheit oder die Erkenntnis des

Moralgesetzes geht. Und genau diese Offenheit ist

intendiert, weil andernfalls bereits mit der Formulierung

91

des Explanandums eine Vorentscheidung hinsichtlich der

Erkenntnishierarchie getroffen werden würde. Die Frage nach

dem Erkenntnisgrund des „unbedingt-Praktischen“ wird also

auch zugleich Aufschluß darüber geben können, wie das

Verhältnis von Freiheit und Moralgesetz zu denken ist.

Kant formuliert zunächst ein Ergebnis, das die Lösung beider

Aufgaben übergreift: „Freiheit und unbedingtes praktisches

Gesetz weisen also wechselweise auf einander zurück“. Damit

wird deutlich, daß diese Anmerkung sich auf die §§ 5 und 6

bezieht und nicht, wie es die äußerliche Gliederung vermuten

läßt, nur auf die Lösung der „Aufgabe II“. In der „Vorrede“

hatte Kant das Wechselverhältnis von Freiheit und

Moralgesetz bereits präziser auf Begriffe gebracht: Freiheit

ist der Seinsgrund (die „ratio essendi“) des Moralgesetzes

und das Moralgesetz ist der Erkenntnisgrund (die „ratio

cognoscendi“) der Freiheit (s. oben???)13. In dieser

Anmerkung wird Kant nun begründen, warum das Moralgesetz und

nicht die Freiheit in der Erkenntnishierarchie das Primäre

ist.

Die Freiheit scheidet als primärer Erkenntnisgrund aus zwei

Gründen aus: Erstens läßt sich die Wirklichkeit der Freiheit

als „Unabhängigkeit […] vom Naturgesetz der Erscheinungen“

(§ 5) nicht empirisch beweisen, weil sie den Bedingungen der

Erfahrung gerade zuwider ist. Deshalb sagt Kant, daß das

„Gesetz der Erscheinungen […] das gerade Widerspiel der

Freiheit […] zu erkennen [gebe]“. Wenn die Freiheit nicht

durch die Erfahrung erkannt werden kann, bleibt noch ein13 Exkurs: Grundlegung, Abschnitt III: Zirkelproblem. Kants neue Lösung

92

unmittelbares Bewußtsein der Freiheit. Doch wir können uns

der Freiheit nicht „unmittelbar bewußt werden, weil [ihr]14

erster Begriff negativ“ ist. Würden wir Menschen über eine

nicht-sinnliche, intellektuelle Anschauung verfügen, dann

wären wir nicht auf Gegebenes angewiesen, sondern würden die

Gegenstände, die wir erkennen, durch den Verstand

selbsttätig hervorbringen und so unmittelbar anschauen. Bei

einer intellektuellen Anschauung entspränge Erkenntnis nicht

durch die Vermittlung der Produkte jener zwei heterogener

Quellen, Verstand und sinnlicher Anschauung, vielmehr

gelangt es durch eine den Erkenntnisgegenstand selbst

hervorbringende „intellektuelle Anschauung“ unmittelbar zur

Erkenntnis. Bei einem solchen Verstand würden also das

begriffliche Erfassen des Allgemeinen und der anschauliche

bezug auf den Gegenstand zusammenfallen, indem er den

Gegenstand, den es erkennt, auch selbst hervorbringt (KrV, B

42 ff.; B 69; B 72, B 145, B 311 f., B 333 f; KU, V 401-404

(B 339-B 344); 406 ff. (B 348 ff.)). Doch der Begriff der

Freiheit ist zunächst nur negativ, weil wir ihn als

Gegenbegriff zum „Gesetz der Kausalität“ bilden (§ 5), das

wir als Prinzip der Erfahrung erkennen können. Nur zunächst

und als „erster Begriff“ ist er „negativ“, weil, wie Kant

14 Kant bezieht sich an dieser Stelle mit dem Pronomen im maskulinum („sein“) auf„Freiheit“. Hartenstein hat deshalb zu Recht „ihr“ konjiziert. Wenn Kant sich dieDeduktion der Freiheit vornimmt, wird er noch einmal das Pronomen im maskulinumverwenden und es damit so aussehen lassen, als wolle er nicht die Freiheit, sonderndas Moralgesetz deduzieren („das moralische Gesetz beweist seine Readlität dadurch[…], daß es einer bloß negativ gedachten Kausalität […] positive Bestimmung […]hinzufügt“ (Hervorhebung J. B.). Wie der Zusammenhang deutlich werden läßt, ist eineLesart nach der das Moralgesetz seine eigene Realität beweist nicht sinnvollverständlich zu machen. Es trägt daher sehr zur Plausbilität des Textes bei, daß Kantsich hier in der „Anmerkung“ zu den §§ 5 und 6 bereits im maskulinum auf Freiheitbezieht (ausführlicher oben???).

93

noch im Folgenden zeigen wird, seine Kausalität durch das

Moralgesetz positiv bestimmt werden kann.

Satz 3 „Also ist es das moralische Gesetz - auf den Begriff der Freiheit

führt“

Nachdem die Freiheit als Erkenntnisgrund des „unbedingt-

Praktischen“ ausscheidet, schließt Kant, daß es „also […]

das moralische Gesetz [sein muß], welches sich uns zuerst

darbietet“. Im Unterschied zur Freiheit können wir uns des

Moralgesetzes „unmittelbar bewußt werden“. Wir „können“ uns

ihm bewußt werden, weil wir, solange wir bloß auf die

unmittelbare Verwirklichung unserer Bedürfnisse aus sind und

nicht versuchen, unser Handeln an Grundsätzen zu

orientieren, von dem kategorischen Anspruch eines

Moralgesetzes nichts bemerken. Demgemäß formuliert Kant

bereits hier in Klammern die Erkenntnisbedingung des

Moralgesetzes: „Sobald wir uns Maximen des Willens

entwerfen“. Erst also, wenn wir unser Handeln an Grundsätzen

orientieren, werden wir uns „unmittelbar“ dem Anspruch des

Moralgesetzes bewußt, das die Universalisierbarkeit unserer

Maximen fordert. Weil das Moralgesetz ein „Bestimmungsgrund“

ist, der von allen „sinnlichen Bedingungen […] unabhängig“

ist, „führt“, wie Kant sagt, das Moralgesetz direkt auf den

Begriff der Freiheit.

Satz 2„Ich frage hier nun nicht …“

Wie steht es nun mit jener Frage, die Kant im zweiten Satz

der Anmerkung in der Form einer praeteritio stellt, indem er über

94

diese Frage sagt, daß er sie nicht stellen wolle und mit

deren Formulierung er auch bereits eine Antwort nahelegt,

die für die Zurechenbarkeit menschlichen Handelns fatal zu

sein scheint, weil sie die Identität von freiem mit

moralisch gutem Handeln nahelegt:

„Ich frage hier nun nicht: ob sie [Freiheit und unbedingtes praktisches

Gesetz, J. B.] auch in der Tat verschieden sein, und nicht vielmehr ein

unbedingtes Gesetz bloß das Selbstbewußtsein einer reinen praktischen

Vernunft, dieses aber ganz einerlei mit dem positiven Begriffe der

Freiheit sei“ (KpV, V 29, Hervorh. J. B.).

Daß dieses Verhältnis von positiver Freiheit und reiner

praktischer Vernunft tatsächlich Kants Position entspricht,

bestätigt er zwei Paragraphen später in § 8, nachdem er in §

7 den kategorisch gebietenden Imperativ als Grundgesetz der

reinen praktischen Vernunft eingeführt hat: „[E]igene

Gesetzgebung aber der reinen, und, als solche, praktischen

Vernunft ist Freiheit im positiven Verstande“ (KpV, V 33).

Unproblematisch ist der erste Teil jener Frage. Das

Moralgesetz ist als Faktum der Vernunft das

„Selbstbewußtsein“ einer reinen praktischen Vernunft. Unter

dem Anspruch des Moralgesetzes werden wir uns eines

Handlungsgesetzes bewußt, das von allen empirischen

Bestimmungsgründen abstrahiert und dem Willen ein formales

Handlungsprinzip vorschreibt. Schwierigkeiten bereitet

hingegen der zweite Teil, in dem Kant die Identität von

reiner praktischer Vernunft und Freiheit in Erwägung zieht,

die er später auch behaupten wird. Dabei ist es wichtig zu

sehen, daß Kant nicht die Identität zwischen reiner

95

praktischer Vernunft und Freiheit im allgemeinen, sondern

zwischen reiner praktischer Vernunft und dem „positiven Begriffe“

der Freiheit im besonderen meint.

Kant hatte in der ersten Kritik eine Nominaldefinition des

Freiheitsbegriffes gegeben. Dort ging es um die Vernunftidee

der „transzendentalen Freiheit“. Der Gegenbegriff von

„transzendental“ ist „empirisch“. Empirische Freiheit ist

relative Freiheit, transzendentale Freiheit ist absolut

(vgl. § 5; Kritische Beleuchtung???). Das Definiendum war also

der zusammengesetzte Begriff einer „Kausalität aus (absoluter)

Freiheit“. In dem Begriff der „Kausalität“ liegt das

Verhältnis einer Ursache zur Wirkung. Im Begriff der

„Freiheit“ liegt, daß die Ursache „unabhängig von

empirischen Bedingungen“ wirkt. Nun kann man dieses

Verhältnis auch positiv bestimmen als eine Ursache, die ein

Vermögen hat, „eine Reihe von Begebenheiten von selbst

anzufangen, so, daß in ihr selbst nichts anfängt, sondern

sie eine unbedingte Bedingung [ist]“ (KrV, B 581 f.).

Solange sich Kant ausschließlich mit Erstursächlichkeit

überhaupt befaßt und die Frage traktiert, ob

Erstursächlichkeit mit dem Kausalprinzip bzw. mit den

speziellen Kausalgesetzen vereinbar ist, stellt er die

Freiheitsfrage ausschließlich auf theoretischer Ebene. Ob

diesem widerspruchsfreien Begriff auch ein „Inhalt“,

„objektive Realität“, eine „Bedeutung“ zukommt, ist auf der

theoretischen Ebene aufgrund der Endlichkeit (Sinnlichkeit)

unseres Erkenntnisvermögens prinzipiell nicht zu bestimmen.

96

Wenn Kant nun über das Kausalvermögen des Menschen (den

Willen) spricht, ist dies zum einen aus theoretischer

Perspektive möglich: Ein (absolut) freier Wille ist ein

Wille, der „unabhängig von empirischen Bedingungen“ wirkt

(negative Freiheit) und eine Reihe von Begebenheiten von

selbst [anfangen kann]“ (positive Freiheit).

Doch damit hat man bloß eine Nominaldefinition der

Willensfreiheit gegeben. Mit der bloßen Begriffserklärung

„Kausalität aus (absoluter) Freiheit“ ist noch nicht darüber

entschieden, ob diesem Begriff auch ein Gegenstand

korrespondiert. In der ersten Kritik hatte Kant bewiesen, daß

es weder möglich ist einen Fall von absoluter Freiheit in

der sinnlichen Anschauung zu demonstrieren, noch sie als

Bedingung der Möglichkeit von Naturerfahrung etabliert

werden kann. Die objektive Realität dieses Begriffes konnte

nur problematisch angenommen und nicht etwa assertorisch

oder gar apodiktisch behauptet werden.

Deshalb sagt Kant im Rückblick auf die erste Kritik, daß er

dort nur den „negativen“ Begriff der Freiheit sichern konnte

(KpV V, 42). „Negativ“ bedeutet in diesem Zusammenhang

nicht, daß Kant mit der Auflösung der dritten Antinomie nur einem

relativen Freiheitsbegriff Denkmöglichkeit verschafft hat.

In der dritten Antinomie ging es ausdrücklich um „absolute“ und

nicht etwa relative Spontaneität (KrV, B 560). „Negativ“

bedeutet in diesem Zusammenhang, daß der Begriff einer

„Kausalität aus Freiheit“ nicht positiv bestimmt werden

konnte, so daß ihm „objektive Realität“ zukommen würde (KpV,

49 f.).

97

Nun hat Kant in der GMS und KpV ein Gesetz ausfindig

gemacht, das dem Willen als Kausalvermögen eines

vernunftbegabten Wesens notwendig zugrunde liegt. Das heißt,

wenn der Wille als Begehrungsvermögen eines vernünftigen

Wesens frei ist, ist er nicht gesetzlos, sondern ist

notwendig diesen Gesetzen unterworfen. Das bedeutet nicht,

daß er auch immer schon diesem Gesetz entspricht, sondern

nur, daß dieses Gesetz für alle vernünftigen Wesen

verbindlich ist.

Damit ist auch zugleich die Möglichkeit für eine positive

Definition nicht einer Kausalität aus Freiheit im

allgemeinen, sondern der Willensfreiheit eines

Vernunftwesens im besonderen gegeben. Diese Definition

bleibt nicht nur nominal, sondern wird real. Realität heißt

freilich nicht, daß Kant einen Fall von absoluter Freiheit

in der inneren Anschauung als empirische Wahrnehmung

beibringen würde und damit einen realen Definitionsgrund der

Freiheit gefunden hätte. Die Freiheit des Willens als

absolutem Vermögen kann nicht durch die Erfahrung, sondern muß

von einem nicht-empirischen Definitionsgrund aus bestimmt

werden. Dieser Definitionsgrund ist das Moralgesetz, dessen

wir uns als ein Faktum a priori unmittelbar bewußt sind. Das

Moralgesetz als nicht-empirischer Definitionsgrund

ermöglicht die Bestimmung des Begriffs eines „absolut freien

Willens“.

Das Moralgesetz sieht von allen materialen

Bestimmungsgründen ab und gebietet kategorisch. Indem es

fordert, daß die Form und nicht etwa die Materie der Maximen

98

zum Bestimmungsgrund des Willens werden soll, impliziert es,

daß reine Vernunft ohne Voraussetzung eines empirisch-

zufälligen Bestimmungsgrundes praktisch werden kann. Eine

solche Willensbestimmung ist eine Kausalität aus Freiheit im

absoluten und nicht etwa relativen Sinne. Die positive

Definition der Freiheit des Willens gelingt Kant also, indem

er über das Moralgesetz, dessen wir uns „apodiktisch gewiß“

sind, eine Kausalität entdeckt, die jedem Willen eines

Vernunftwesens notwendig zugrunde liegt. Die Kausalität

besteht in der Praktizität der reinen Vernunft, die ohne ein

vorausgesetztes Begehren „für sich selbst“ praktisch sein kann.

Mit dieser positiven Definition ist nicht auch gesagt – und

das ist für die Frage nach der Zurechenbarkeit von moralisch

bösen Handlungen entscheidend –, daß der Wille als einzelner

Willensakt, dann und nur dann frei ist, wenn er das moralisch

Gute will. Vielmehr gelingt es damit, nur den eminenten Fall

rationaler Willensbestimmung als Fall absoluter Freiheit zu

bestimmen. Wir haben für die Willensbestimmung zur bösen

Handlung nicht (und können es auch nicht haben) ein

apodiktisch gewisses Gesetz, von dem aus es möglich wäre,

die Freiheitskausalität zu bestimmen. Dadurch wird aber ein

böser Willensakt nicht zu einem Willensakt, der mittelbar

oder unmittelbar durch Naturkausalität determiniert ist, so

daß eine reine Vernunftbestimmung unmöglich gewesen wäre.

Die Möglichkeit zur Vernunftbestimmung ist bereits durch den

negativen Freiheitsbegriff sichergestellt, der bereits in der

KrV die Möglichkeit der bösen Handlung sicherte (KrV, B 583

f.).

99

Aus praktischer Perspektive ist es das Moralgesetz, das uns

unsere absolute Freiheit versichert. Im Konflikt zwischen

Vernunft und Neigung gebieten wir uns uneingeschränkt

vernünftig zu handeln und wir werden uns dadurch bewußt,

durch keine sinnlichen Motivationsgründe zum Handeln

genötigt zu sein. Die Skepsis der Deterministen kommt aus

theoretischer Perspektive und wird von Kant zurück an die

Auflösung der dritten Antinomie verwiesen.

Satz 4-5 „Wie ist aber - aus dem letzteren“

Kant wirft nun auch explizit die Frage nach der

Erkenntnisbedingung des Moralgesetzes auf, die er in der

Klammer des vorherigen Satzes bereits beantwortet hat: „Wie

ist […] das Bewußtsein jenes moralischen Gesetzes möglich“.

Seine ausführlichere Antwort lautet: „[I]ndem wir auf die

Notwendigkeit […] und auf die Absonderung aller empirischen

Bedingungen dazu uns jene hinweist, Acht haben“. Und er

erläutert dies zudem noch mit einer Analogie: Das Bewußtsein

der Notwendigkeit und Apriorizität des Moralgesetzes

erlangen wir auf dieselbe Weise, wie wir es im Fall der

theoretischen Grundsätze erlangen. Wir abstrahieren von

allen empirischen Bedingungen und erhalten dann den „Begriff

eines reinen Willens“ bzw. den „Begriff des reinen

Verstandes“.

Satz 6 „Daß dieses die wahre Unterordnung - diesen Begriff nicht

aufgedrungen“

100

Die erkenntnismäßige Priorität des Moralgesetzes wird noch

aus einer transzendentalphilosophischen und einer

empirischen Perspektive bestätigt. Dabei wird auch das

Verhältnis der beiden Begriffe, daß sie, wie Kant am Beginn

der Anmerkung sagt, „wechselweise […] aufeinander

zurück[weisen], deutlicher werden: Er argumentiert zunächst

aus transzendentalphilosophischer Perspektive dafür, daß die

Freiheit in bezug auf die theoretische Philosophie

funktionslos bleibt und nur wegen des Moralgesetzes in die

Wissenschaft eingeführt werden muß: „[D]a aus dem Begriffe

der Freiheit in den Erscheinungen nichts erklärt werden

kann, sondern hier immer Naturmechanism den Leitfaden

ausmachen muß, [wäre] man niemals zu dem Wagstücke gekommen

[…], Freiheit in die Wissenschaft einzuführen, wäre nicht

das Sittengesetz […] und hätte uns diesen Begriff nicht

aufgedrungen.“ Übersetzung: Weil der Begriff der „Freiheit“

in bezug auf unsere theoretische Erkenntnis keine Funktion

hat, haben wir von dort aus auch keinen Grund, ihn als

philosophischen Grundbegriff in Anspruch zu nehmen. Erst

wenn wir uns in der Welt als handelnde genauer, moralische

Wesen orientieren, werden wir uns unmittelbar des

Moralgesetzes bewußt, das den Begriff der (absoluten,

transzendentalen) Freiheit voraussetzt. Dies beweist die

epistemische Priorität des Moralgesetzes vor der Freiheit

und zeigt zudem, daß uns ausschließlich die moralische

Praxis berechtigt, den Begriff der „Freiheit in die

Wissenschaft einzuführen“.

101

Satz 7-12 „Aber auch die Erfahrung bestätigt - unbekannt geblieben wäre“

Doch neben diesem transzendentalphilosophischen Argument

entwickelt Kant auch noch ein empirisches Argument, das die

„Ordnung der Begriffe“ bestätigen soll: Anhand zweier

pointiert angeordneter Entscheidungsszenarien will er

zeigen, daß uns erst das Sittengesetz die absolute Freiheit

entdeckt: Im ersten Szenarium steht jemand, der seinen

Geschlechtstrieb für unüberwindbar hält, vor Wahl entweder

seine Wollust zu befriedigen und dann als Konsequenz mit dem

Tod bestraft zu werden, oder sie zu suspendieren und damit

sein Leben zu retten. Im zweiten Fall steht er vor der

Entscheidung, in einem Gerichtsverfahren entweder auf

Drängen seines „Fürsten“ eine Falschaussage über einen

Unschuldigen abzugeben und sich auf diese Weise das Leben zu

retten, oder die Wahrheit zu sagen, in welchem Falle der

„Fürst“ die Tötung veranlassen würde (ebd.).

Im ersten Szenarium läßt Kant zwei Grundtriebe in

Konkurrenz zueinander treten: den Trieb zur

Geschlechtsbefriedigung und den Überlebenstrieb. Er setzt

implizit voraus, daß der Überlebenstrieb in der Regel

stärker ist. Darum sagt er, daß man „nicht lange raten“

müsse, wie in diesem Fall die Antwort ausfallen wird (ebd.).

Unter Androhung der unverzüglichen Todesstrafe werde

derjenige, der seine Wollust für unwiderstehlich hält,

feststellen, daß er sie suspendieren und an dem „Hause, da

er diese Gelegenheit trifft“, vorbeigehen kann. Zweifellos

macht er hier die Erfahrung von Freiheit. Aber – und das ist

es, was Kant durch den Kontrast mit dem zweiten Fall vor

102

Augen führt – die Freiheit, die er hier erfährt, ist nicht

absolut, sondern nur relativ. Denn ‚überleben zu wollen’,

verweist auf einen Naturtrieb. Der Wille ist dann in seiner

Wirkungsart, wie besonders in den §§ 2 und 3 gezeigt wurde

nicht formal, sondern material, durch das Begehren eines

Objekts zur Wirkung bestimmt. Der Zweck, der hier verfolgt

wird, ist kein Vernunft-, sondern ein Naturzweck. Solange

wir Entscheidungskonflikte ausschließlich als Alternative

zwischen zwei konkurrierenden sinnlichen Begehrungen

verstehen, ist das Auswahlkriterium, welche der beiden

Möglichkeiten uns ein größeres Vergnügen versprechicht bzw.

einen geringeren Schmerz bereitet (KpV, V 22 f. (A 40 ff.)). Wir

stellen hier also sehr wohl fest, daß wir durch

Vorstellungen unsere unmittelbaren Handlungsimpulse

überwinden können, doch wir machen dabei nicht die

Erfahrung, daß wir uns von allen sinnlichen Triebfedern frei

machen und aus reiner Vernunft heraus unser Handeln

bestimmen können.

Diese absolute Freiheit erfahren wir erst im moralischen

Konflikt zwischen Vernunft und Neigung. Nachdem Kant im

ersten Fall die beiden fundamentalen Naturtriebe miteinander

in Konflikt treten lassen hat, läßt er nun ein

ungleichartiges Prinzip, die Sittlichkeit, mit dem stärkeren

der beiden Triebe konfligieren. Zudem schließt Kant

strafrechtliche Konsequenzen für den Täter aus, weil der

Staat in Person des „Fürsten“, die Lüge gerade sanktioniert.

Damit ist auch die Angst vor Strafe als ein mögliches nicht-

moralisches Motiv ausgeschlossen.

103

Die Wahrheit zu sagen, ist eine vollkommene Pflicht (GMS, IV

421 f.), die auch dem eigenen Überleben nicht untergeordnet

werden darf. Selbst der vermeintlich stärkste und

fundamentalste Trieb soll sich also dem Anspruch des

Moralgesetzes beugen. Das bedeutet aber auch, daß nicht alle

unsere Handlungsprinzipien durch ein empirisch gegebenes

Begehren bedingt sind, wir vielmehr die Fähigkeit haben, aus

reiner Vernunft einen Handlungsgrund selbst hervorzubringen.

Indem das Moralgesetz durch kein Begehren bedingt ist,

impliziert es, daß wir unser Begehren, worin auch immer es

gerade bestehen mag, suspendieren und seine Verwirklichung

unter die Bedingung des Moralgesetzes stellen können. Da

dieses Gebot nicht von einer uns äußeren Instanz

vorgeschrieben wird, sondern wir selbst es sind, die sich

qua Vernunft dieses Gebot vorschreiben, erfahren wir den

Anspruch des Moralgesetzes als absolute Freiheit, als das

Vermögen unabhängig von unseren sinnlichen Begehrungen aus

reiner Vernunft handeln zu können. Diese Funktion hat in

diesem Zusammenhang auch Kants Schluß vom ’Sollen’ aufs

’Können’. Es soll damit nicht etwa ein (von Kant an anderer

Stelle für unmöglich erklärter) empirischer Freiheitsbeweis

geliefert werden, vielmehr geht es darum, die „Ordnung der

Begriffe“ zu bestätigen:

„Er urteilt also, daß er etwas kann, darum, weil er sich bewußt ist, daß

er es soll und erkennt in sich die Freiheit, die ihm ohne das moralische

Gesetz unbekannt geblieben wäre“.

104

Dieses Argument ist offensichtlich nicht hinreichend, um auf

deterministische Moralskepsis zu antworten. Kant hat damit

nicht etwa an einem Fall sinnlich-anschaulich demonstriert,

daß aus absoluter Spontaneität eine Kausalkette neu begonnen

werden kann. Ein solcher theoretischer Freiheitsbeweis

bleibt auch in der zweiten Kritik prinzipiell unmöglich. Kant

weiß, daß er, um diese Skepsis auszuräumen auch noch das

Theoriestück der 3. Antinomie benötigt (GMS, IV 455 f. (BA

115); KpV, V 30 (A 53), 48 ff. (A 83-87), 94-106 (A 169-

191); KU, V 175 (xviii); Rel., VI 39 f. (B 39 f.), B 49 f.

(58 f.)).15 Mit der Kontrastierung beider Szenarien soll

lediglich demonstriert werden, daß „Sittlichkeit uns zuerst

den Begriff der Freiheit entdecke [und] praktische Vernunft

zuerst der spekulativen das unauflösliche Problem mit diesem

Begriffe aufstelle […]“ (KpV, V 30). Beide Szenarien liefern

also die experimentelle Bestätigung für das zuvor aus reiner

Vernunft entwickelte Ergebnis, daß das Moralgesetz die ratio

cognoscendi der Freiheit ist.

Der Schluß vom ‘Sollen’ aufs ‘Können’ ist stets fester

Bestandteil des Kantischen Argumentationshaushalts gewesen

(vgl. KrV, B 562, B 835; KpV, V 30 (A 54); MS/TL, VI 380 (A 3), 383 (A 9)). Kant

15 Paul Saka verkennt, daß auch für Kant das Determinismus-Problem nicht mit demSchluß vom Sollen aufs Können gelöst wird (Saka 2000, S. 93, 100). Er sieht nicht, wie sehrKant mit ihm übereinstimmt, wenn er glaubt, daß der Schluß ein Problem für dieDeterminismus-Debatte aufgibt. Das wird auch in der Auflösung der dritten Antinomiedeutlich. Kant bringt den Begriff des Sollens nicht etwa ins Spiel, um denWiderspruch zwischen Freiheit und Prädeterminismus aufzulösen. Auf die Sollenssätze,die Imperative, kommt Kant erst zu sprechen, nachdem die Widerspruchsfreiheit bereitsbewiesen ist, um einen Grund anzugeben, uns als frei zu denken (KrV, B 578). Wie sichunten noch zeigen wird, ist es eine bestimmte Art des Sollens (kategorisches Sollen),die nicht determiniusmusverträglich ist. Auch Carsten Held glaubt, daß der Schluß vom Sollen aufs Können, erklären soll, wieFreiheit „in einer kausal bestimmten Welt überhaupt möglich ist“ und, daß dieserSchluß als ein zweites Argument neben der Auflösung der dritten Antinomie dieKompatibilismusfrage beantworten soll (Held 2001, S. 131). Aus Kants Texten kann manlernen, wie beide Argumente systematisch aufeinander aufbauen.

105

will ihn offensichtlich als eine analytische

Begriffsimplikation verstanden wissen. Auch wenn er keine

Antwort auf deterministische Moralskepsis darstellt, kann

man unabhängig davon nach seiner Berechtigung fragen. Kant

geht wie selbstverständlich von einem zum anderen über. Nun

kann man sich am Quadrat der logischen Gegensätze sehr wohl

deutlich machen, daß ‘metaphysisch notwendig’ oder ‘physisch

notwendig’ ‘physisch möglich’ impliziert,16 doch der

sukonträre Gegensatz zu ‘praktisch notwendig’ (Sollen) ist

nicht ‘physisch möglich’, sondern ‘praktisch möglich’ oder,

präziser ausgedrückt, ‘erlaubt’. Daß dies auch Kants von

praktischer Modalität gewesen ist, kann man der

Kategorientafel im „Zweiten Hauptstück“ der KpV entnehmen

(KpV, V 66).

Wir können uns darüber hinaus leicht Situationen denken, in

denen wir nicht ohne weiteres berechtigt sind, aus einem

Sollen auch ein Können abzuleiten. So kann beispielsweise

nicht jeder, der weiß, daß Aufzählungen in der deutschen

Rechtschreibung mit einem Komma abgetrennt werden sollen,

dieses Komma auch schon an den richtigen Stellen setzen. Er

hat ein Bewußtsein der Regel, weiß sogar aus Erfahrung, daß

er häufig gegen diese Regel verstößt und dennoch sagen wir

von ihm, daß er die Kommata bei Aufzählungen nicht setzen

kann. Man kann diesem Einwand mit der Unterscheidung

zwischen dem ‘aktualen’ und dem ‘potentiellen’ Sinn von

‘können’ begegnen: Der Schüler kann aktual das Komma nicht16 ‚Es ist möglich, daß Schweden blond sind’ verhält sich subaltern dazu, daß esnotwendig ist, daß Schweden blond sind. ‚Es ist notwendig, daß Schweden blond sind’,verhält sich konträr zu dem Satz, daß es unmöglich ist, daß Schweden blond sind und stehtim kontradiktorischen Gegensatz zu der Aussage, daß es möglich ist, daß Schweden nicht blondsind.

106

setzen, aber potentiell (durch Einübung), kann er sich das

Vermögen dazu erwerben. Wer das Vermögen hat, sich ein

Vermögen zur Ausübung der gesollten Handlung zu erwerben,

von dem können wir mit Recht sagen, daß er kann, was er

soll.

Nun sind freilich auch Fälle denkbar, in denen von ‘Sollen’

auch auf diesen potentiellen Sinn von ‘Können’ nicht mit

Recht geschlossen werden darf: So gebietet etwa der

tyrannische Befehlshaber seinen Häftlingen unter Androhung

von Strafe physisch (auch potentiell) unmögliche Handlungen.

Obwohl der Häftling eine Handlung ausführen soll, folgt

daraus nicht auch sein Können. Doch auch dieser Fall stellt

nicht eigentlich ein Problem für den Schluß dar. Wir haben

es hier mit einer falschen Verwendung von ‘sollen’ zu tun.

‘Sollen’ drückt, wie Kant an anderer Stelle sagt, eine

praktische Erkenntnis aus (KrV, B 661). In der praktischen

Erkenntnis wird im Unterschied zur theoretischen Erkenntnis

der Gegenstand nicht bloß bestimmt, sondern es geht darum,

„ihn auch wirklich zu machen“ (KrV, B x). Ist die

Verwirklichung des Objektes eines praktischen Satzes

prinzipiell ausgeschlossen, handelt es sich nicht um

praktische Erkenntnis und wir sind in diesem Fall auch keine

Rechtmäßige Adressaten des Sollens. Andersherum gilt aber,

daß, wenn es sich tatsächlich um einen Fall praktischer

Erkenntnis handelt, wir auch ihr gemäß handeln können

müssen. Im zweiten Entscheidungszenarium setzt Kant gerade

implizit voraus, daß der Handelnde eine unmittelbare

Vernunfterkenntnis des Moralgesetzes hat. Deshalb ist er

107

berechtigt auch auf das Können zu schließen. Wer also

bezweifelt, daß wir das Vermögen haben, auf der Basis

kategorisch-gebietender Imperative zu handeln, sollte seine

Kritik nicht gegen den Schluß vom Sollen aufs Können

richten, er sollte vielmehr Kants These vom Moralgesetz als

praktischem Wissen zurückweisen.

Nicht der Schluß vom Sollen aufs Können ist das Spezifische,

wodurch sich der Anspruch des Moralgesetzes von allen

hypothetisch-gebietenden Imperativen unterscheidet. Auch

unter dem Anspruch zweckrationaler Vernunft werden wir uns

unserer Freiheit bewußt. Doch bei hypothetisch gebietenden

Imperativen ist das Sollen durch ein vorausgesetztes

Begehren bedingt. Der ursprüngliche Zweck der Handlung ist

im emphatischen Sinne zufällig. Im moralischen Konfliktfall

bringen wir dagegen auch den ursprünglichen Zweck der

Handlung noch selbst hervor. Deshalb ist das Bewußtsein der

Freiheit im absoluten Sinne der moralischen Verpflichtung

vorbehalten.

§ 7. Grundgesetz

Der reinen praktischen Vernunft

„Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer

allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“.

Der § 7 ist in vier Teile gegliedert: Kant beginnt mit der

Formulierung des Grundgesetzes der reinen praktischen

Vernunft. Darauf folgt eine Anmerkung die sich im

wesentlichen mit dem Unterschied zwischen praktischer

108

Erkenntnis im allgemeinen und moralisch-praktischer

Erkenntnis im besonderen auseinandersetzt. Es ist fällt auf,

daß, obgleich der § 7 aus mehr als einer Anmerkung besteht,

Kant im Unterschied zu den vorhergehenden Paragraphen davon

abgesehen hat die beiden Anmerkungen zu nummerieren. Es wird

sich zeigen, daß weder Kant noch den unzuverlässigen Setzern

eine Unachtsamkeit unterlaufen ist, vielmehr müssen wir die

zweite Anmerkung nicht primär als eine Anmerkung zum

Grundgesetz, sondern zum dritten Teil des § 7, der

„Folgerung“, lesen.

Aus der Grundlegung sind uns unterschiedliche Formulierungen

des kategorischen Imperatives bekannt. Kant hat jedoch

behauptet, daß diese Formulierungen Ausdruck eines

kategorischen Imperatives sind (GMS, IV 438). In § 1 wurde

zudem zwischen den besonderen Pflichten als kategorischen

Imperativen im Plural und dem ihr zugrundeliegenden Prinzip

im Singluar unterschieden. Das hier in § 7 zum ersten Mal

auftretende Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft ist

das zugrundeliegende Prinzip im Singular und Ursprung aller

besonderer Pflichten und Formeln des kategorischen

Imperatives. Damit erteilt nicht nur der Text der

Grundlegung, sondern auch die zweite Kritik allen

Interpretationen eine Absage, die die Bedeutung der

allgemeinen Formel (AF)17 abschwächen und der Zweck-an-sich-

Formel (ZF) den systematischen Vorrang geben möchten (z. B.

Heidegger, Wood 1999).18

17 In der Kant-Literatur wird diese Formel auch (etwas ungenau) Universalisierungs-Formel (UF) genannt. Kant selbst spricht von „allgemeine Formel“ (GMS, IV 436).18 In der Grundlegung unterscheidet Kant explizit „drei Arten, das Prinzip derSittlichkeit vorzustellen“: (i) Naturgesetzformel (NF), (ii) Zweck-an-sich-Formel(ZF) und (iii) Reich-der-Zwecke-Formel (RF). An anderer Stelle ersetzt er RF durch

109

Was eigentlich berechtigt Kant dazu hier an dieser Stelle

der zweiten Kritik das Grundgesetz der reinen praktischen

Vernunft aufzustellen? In der Anmerkung wird Kant dieses

Grundgesetz ein „Faktum der Vernunft“ nennen, das man „nicht

aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein

der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben),

herausvernünfteln kann“. Deshalb liegt die Annahme nahe,

Kant habe das Grundgesetz nicht aus den vorhergehenden

Lehrsätzen, Aufgaben und der Erklärung hergeleitet, sondern

als ein gegebenes Faktum angesetzt. Man fragt sich dann,

warum er das „Erste Hauptstück“ der zweiten Kritik nicht mit

diesem Faktum beginnen läßt. Tatsächlich spricht Kant später

von der „Exposition“ des Sittengesetzes, die an die Stelle

einer Deduktion trete (KpV???). In der Jäsche-Logik lesen

wir, daß das „Exponiren eines Begriffs […] in der an

einander hängenden (successiven) Vorstellung seiner Merkmale

[besteht], so weit dieselben durch Analyse gefunden sind“

(Logik § 105). Der Argumentationsgang bis zum § 7 läßt sich

als diese sukzessive Vorstellung der Merkmale des

Sittengesetzes verstehen: Aus § 1 wissen wir, daß ein

praktisches Gesetz von bloßen Maximen oder Vorschriften

unterschieden ist, weil es kein Begehren als gegeben

voraussetzt und also unbedingt, kategorisch gebietet. § 2

beweist, daß alle materiale Prinzipien ein bestimmtes

Begeghren voraussetzen, sie sich sogar, wie in § 3 gezeigt

wird, auf das, dem der Moral entgegengesetzten, Prinzip der

die Autonomie-Formel (AF) (GMS, IV 432). Über das genaue Verhältnis dieser Formelnherrscht Unklarheit. Klar ist, daß Kant die besonderen Formeln aus der UF gemäß derKategorie der Quantiät ableitet und von den besonderen Formulierungen nur dieFunktion zuteilt, „dem sittlichen Gesetze […] Eingang [zu] verschaffen“. Verweis aufSteve’s Buch???

110

Selbstliebe reduzieren lassen. Der § 4 beweist dann positiv,

daß das moralische Gesetz ein formales Gesetz sein muß und

die Lösung der Aufgaben in den §§ 5 und 6 ergibt, daß ein

durch ein formales Gesetz bestimmter Wille ein freier Wille

sein muß bzw. ein formales Gesetz der einzige notwendige

Bestimmungsgrund eines freien Willens ist.

Ohne die „Exposition“ der Merkmale des moralischen Gesetzes

in den §§ 1-6 bliebe die Formulierung des „Grundgesetz[es]

der reinen praktischen Vernunft“ in § 7 unverständlich.

Weder wüste man wie das Verhältnis von Maxime und

allgemeiner Gesetzgebung zu bestimmen ist noch was überhaupt

als eine allgemeine Gesetzgebung infrage kommt. Nur auf der

Grundlage der Ergebnisse aus den §§ 1-6 ist eine Explikation

des Grundgesetze möglich: Das Grundgesetz kommt als

Imperativ daher. Es gebietet uns nicht etwa nur zu handeln,

sondern auf eine bestimmte Art zu handeln. Kant nennt die

„Handlungsart“ auch die Maxime (KpV, V 60). Aus dem § 1

wissen wir, daß die Maxime der subjektive Handlungsgrundsatz

ist. Dieser soll nun, so gebietet es das Grundgesetz, als

„Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten können“.

Prinzipien sind Grundsätze, die als Obersätze in Syllogismen

fungieren (s. oben???). Die Maxime wird hier als der

Grundsatz gedacht, aus dem besondere praktische Gesetze

entspringen können. In der Grundlegung formuliert Kant den

kategorischen Imperativ auch so, daß „ich […] niemals anders

verfahren [solle] als so, daß ich auch wollen könne, meine

Maxime solle ein allgmeines Gesetz werden“ (Hervorhebung

geändert J. B.). Während die Maxime in der Formulierung der

111

zweiten Kritik ein Prinzip der Gesetzgebung ist und aus ihr

besondere praktische Gesetze entspringen, ist es in der

Grundlegung die Maxime selbst, die sich zum Gesetz

qualifizieren muß. Beide Formulierungen sind aber nicht

inkompatibel: Nur wenn die Maxime selbst als ein allgemeines

Gesetz gilt, können aus ihr auch besondere praktische

Gesetze entspringen. Als Prinzip einer gültigen Gesetzgebung

ist sie selbst ein Gesetz, sie erläßt aber auch besondere

praktische Gesetze.

In der Formulierung des Grundgesetzes heißt es auch, daß die

Maxime „zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung

gelten könne“. Hätte Kant nicht auch genauso gut schreiben

können, daß die Maxime „als Prinzip einer allgemeinen

Gesetzgebung gelten könne“? Ist das „zugleich“ also an

dieser Stelle überflüssig? Mit dem „zugleich“ wird zum

Ausdruck gebracht, daß die Maxime, wenn sie sich zum Prinzip

einer allgemeinen Gesetzgebung qualifiziert, nicht den

Status eines subjektiven Handlungsgrundsatzes verliert. Sie

ist subjektiv und zugleich objektiv. Subjektiv, weil sie ein

Handlungsgrundsatz der ersten Person Singular ist, objektiv,

weil dieser Handlungsgrundsatz als ein allgemeines

praktisches Gesetz gelten kann. Die Norm, die sich der

Handelnde selbst auferlegt, gilt nicht nur für ihn, sondern

zugleich für alle Vernunftsubjekte.

Wie eine Maxime beschaffen sein muß, damit sie sich zur

allgemeinen Gesetzgebung qualifiziert, sagt der Grundsatz

nicht. Wir wissen aber aus dem § 4, daß eine Maxime nur dann

als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung infrage kommt,

112

wenn sie „nicht der Materie, sondern bloß der From nach, den

Bestimmunggrund des Willens [enthält]“. Das bedeutet nicht,

daß eine gesetzesförmige Maxime ein rein formales Prinzip

ohne Inhalt ist. Maximen sind Wollenssätze, die auf die

Verwirklichung gegebener Begehrungen gerichtet sind. Doch

entweder kann das Begehren die Bedingung für die

Verwirklichung der Handlung sein (materiale

Willensbestimmung) oder die Verwirklichung des Begehrens

wird selbst unter die Bedingung gestellt, daß die Form der

Maxime gesetzmäßig ist (formale Willensbestimmung). Damit

ist die Frage, wie eine Maxime, die sich zur allgemeinen

Gesetzgebung qualifiziert, beschaffen sein muß aber nur zum

Teil beantwortet. Wir wissen, daß die Form und nicht die

Materie der Bestimmungsgrund der Maxime sein soll. Wir

wissen aber (noch) nicht, wie die Form einer gesetzmäßigen

Maxime beschaffen ist. In der Grundlegung hatte Kant anhand

von vier Beispielen einen „Kanon der moralischen

Beurteilung“ der Maximen eingeführt: Dabei ist das ‘wollen

können’ das engere und das ‘denken können’ das weitere

Kriterium der Gesetzmäßigkeit einer Maxime. Zudem hatte Kant

seine sogenannte Korrespondenzthese aufgestellt, die besagt,

daß ein Übereinstimmungsverhältnis zwischen dem engeren

Kriterium und den vollkommenen Pflichten auf der einen Seite

und dem weiteren Kriterium und den unvollkommenen Pflichten

auf der anderen Seite besteht (GMS, IV 424). Aus der zweiten

Kritik ist uns bisher nur das weitere Kriterium das ‘denken

können’ bekannt. Im Rahmen des Depositum-Beispiels hatte

Kant zu zeigen versucht, daß die Regel: „Jedermann [darf]

113

ein Depositum ableugnen […], dessen Niederlegung ihm niemand

beweisen kann“, sich nicht zum allgemeinen Gesetz

qualifiziert, weil sie „sich selbst vernichtet“ (s.

oben???). Aber im Unterschied zur Grundlegung macht Kant in

der zweiten Kritik weder den „Kanon der moralischen

Beurteilung“ als solchen noch die Korrespondenzthese

explizit. Das Depositum-Beispiel gibt jedoch Grund zu der

Annahme, daß zumindest der „Kanon der moralischen

Beurteilung“ nach wie vor Gültigkeit hat.

Damit ist es freilich auch legitim, dieselben Einwände, die

sich gegen die AF in der Grundlegung richten, auch auf die

zweite Kritik zu übertragen. Allen Wood hat die Kritik, die

seit jeher an Kants Verallgemeinerungsverfahren erhoben

worden ist, geprüft und auf drei Punkte verdichtet. Er

plädiert dafür, die Bedeutung von AF abzuschwächen und statt

dessen ZF ins Zentrum von Kants Ethik zu rücken. Seine

Strategie besteht darin, zunächst die Korrespondenzthese zu

widerlegen um damit die übergeordnete Bedeutung der AF in

Zweifel zu ziehen. Die Kriterien ‘nicht denken können’ und

‘nicht wollen können’ sind an die AF gebunden und damit auch

die Korrespondenzthese.

1. Die Korrespondenzthese ist falsch: Gegen die

Korrespondenzthese bringt er zwei Argumente vor: Erstens

ließen sich sehr leicht Maximen denken, aus denen eine

Verletzung beider Arten von Pflichten ableitbar ist. Zweitens

gebe es Pflichten, die prima facie vollkommene Pflichten seien,

sich aber sehr wohl ohne Widerspruch denken lassen. Sein

Gegenbeispiel: „Ich will andere Menschen töten, wenn es ein

114

sicherer und effektiver Weg ist, mein eigenes Interesse zu

befördern.“ Wenn man sich die Maxime als ein allgemeines

Gesetz denkt, tritt lediglich ein Widerspruch im Willen und

kein konzeptueller Widerspruch auf. Daraus folgt dann die

absurde Konsequenz, daß es lediglich eine unvollkommene

Pflicht ist, andere Menschen nicht zu töten. Deshalb könne

Kants Korrespondenzthese nicht überzeugen (Wood 1999, p. 97-

100).

2. AF disqualifiziert zu wenig: Wood’s zweiter Punkt richtet

sich gegen das Testverfahren von AF selbst. Demnach

disqualifiziere AF zu wenig und lasse Platz für unmoralische

Maximen. Woods Gegenbeispiel: „Ich will ein falsches

Versprechen abgeben am Dienstag den 21. August gegenüber

einer Person mit dem Namen Hildreth Milton Flitcraft“. Diese

Maxime würde, wenn sie zu einem allgemeinen Gesetz erhoben

würde, es nicht unmöglich machen Geld durch falsche

Versprechen zu erhalten. Wood folgert daraus, daß die AF

„unfähig ist, viele offensichtlich unmoralische Maximen zu

disqualifizieren“ (Wood 1999, 102-105).

3. AF disqualifiziert zu viel: Woods dritter Punkt setzt bei

intuitiv moralisch unschuldigen Maximen an. Sein Beispiel:

Ich will clockwork trains??? kaufen aber niemals verkaufen.

Wenn man diese Maxime sich als allgemeines Gesetz denkt,

ergibt sich, daß jeder clockwork trains kauft, aber niemand

jemals welche verkauft. Die Maxime als allgmeines Gesetz

gedacht ist also widersprüchlich und – so die absurde

Konsequenz – unmoralisch (Wood 1999, 105-107). Kant hat das

Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft nachweislich als

115

ein Moralgesetz gedacht und nicht etwa als ein Gesetz der

praktischen Vernunft im allgemeinen. Das bestätigt sich

auch, wenn er in der „Folgerung“ in § 8 auf eben dieses

Grundgesetz als das „Sittengesetz“ referriert. Der Text erlaubt

es also nicht einmal, den Phyrrosssieg??? einzufahren und

die Rationalitätsstandards des Grundgesetzes auf

moralneutrale Fälle zu übertragen (so etwa bei O’Neill???).

Eine Antwort auf den dritten Punkt ist vermutlich nur

möglich, wenn man durch die Angabe eines zusätzlichen

Kriteriums moralische von moralneutralen Fällen zu

unterscheiden weiß. Es ist deshalb auch verständlich, warum

immer wieder versucht worden ist, Kants materiale

Werttheorie aus dem „Zweiten Abschnitt“ der Grundlegung

stark zu machen. Man will damit Kants Ethik vor den absurden

Konsequenzen, die sich aus der AF ergeben, bewahren. Die KpV

liefert uns bis jetzt (später???) keine Argumente, die eine

schlagkräftige Antwort auf Woods dritten Punkt möglich

machen. Dasselbe gilt auch für das Fehlschlagen der

Korrespondenzthese. An der Trifftigkeit von Woods zweitem

Punkt, lassen sich indes berechtigte Zweifel anmelden.

Bei dem von Wood als „Maxime“ ausgegeben Satz handelt es

sich nicht eigentlich um eine allgemeine Maxime, sondern nur

um eine spezielle praktische Regel, die aus einer Maxime,

die angibt, wie es der Akteur mit gegebenen Versprechen im

allgemeinen bewenden läßt, abgeleitet wird. Man kann von dieser

speziellen praktischen Regel durchaus auf die allgemeine

Maxime zurückschließen und weiß, daß sie nicht ohne

Widerspruch gedacht werden kann. Der Grund, warum aus einer

116

undenkbaren Maxime dennoch eine spezielle praktische Regel

entspringen kann, die widerspruchsfrei denkbar ist, ist auf

die Indexikalien zurückzuführen: „Dienstag den 21. August“

und „Hildreth Milton Flitcraft“. Damit wird aber die Regel

auf einen bestimmten Fall eingeschränkt und das der AF

gerade wesentliche Verallgemeinerungsverfahren wieder

zurückgenommen. Man kann also in Woods Fall nicht mehr von

einer Anwendung der AF sprechen.

(Hier Steve’s Interpretation einarbeiten???)

Anmerkung

1. Absatz, Satz 1-5: „Die reine Geometrie […] aller Maximen angesehen“.

Mit dieser Anmerkung will Kant das Spezifische der

moralisch-praktischen Erkenntnis und damit den Ursprung der

Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes erläutern. Er

beginnt mit einem Kontrastfall der technisch-praktischen

Erkenntis: der reinen Geometrie. Die reine Geometrie ist

insofern ein adäquaterer Vergleichspunkt als technisch-

praktische Erkenntnis, die auf dem Wissen empirischer

Kausalbeziehungen beruht, weil wir in der reinen Geometrie

ebenso wie in der von Kant entwickelten Moraltheorie mit

unmittelbar gewissen Sätzen beginnen (Unterschied zwischen Axiomen

und Postulaten klären). Die reine Geometrie verfügt über

Postulate, die eine Voraussetzung enthalten, nämlich daß man

etwas tun könne, wenn man dazu aufgefordert wird, man soll

es tun. Ein Postulat der Euklidischen Geometrie, die Kant

vor Augen hat, ist etwa: „dass man von jedem Punkt nach

jedem Punkt die Strecke ziehen kann“ (Euklid???). Diese

117

Postulate betreffen das „Dasein“, weil sie die

Hervorbringungsbedingung formulieren. In diesem Fall ist es

die Verbindung der Punkte und damit die Strecke, die

hervorgebracht wird. Doch diese praktischen Regeln stehen

unter einer „problematischen Bedingung des Willens“. Man

kann von einem Punkt p1 zu einem Punkt p2 eine Strecke

ziehen, wenn man dazu aufgefordert wird. Doch es ist jedem

selbst überlassen, ob er diese Strecke ziehen will oder

nicht. Das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft

dagegen gebietet unbedingt, setzt also, das hat Kant seinem

Leser seit dem § 1 immer wieder eingeschärft, keine

„problematische Bedingung des Willens“ voraus und ist

deshalb „objektiv“ gültig. Es wird nicht empirisch, durch

das Gefühl der Lust und Unlust und das Wissen um

Kausalverhältnisse, sondern „a priori“, durch reine

Vernunft, erkannt. Die praktische Vernunft ist also hier

nicht vermittelt durch das Gefühl der Lust und Unlust,

sondern „unmittelbar gesetzgebend“. Wenn die

Willensbestimmung nicht durch das Begehren eines bestimmten

Gegenstandes bedingt ist, ist, wie Kant im § 4 argumentiert

hatte, die „bloße Form des Gesetzes“ die einzige Alternative.

Satz 7-9 „Die Sache ist befremdlich genug […] wenigstens zu denken, nicht

unmöglich.“

Bis hierher ist uns die Analyse kategorischer

Verbindlichkeit aus den vorhergehenden Paragraphen bekannt.

Kant kommt nun aber zusätzlich auch noch auf den den Grund

118

kateogrischer Verbindlichkeit zu sprechen und steuert damit

direkt auf seine Theorie vom Vernunftfaktum zu:„Der Gedanke a priori von einer möglichen allgemeinen Gesetzgebung, der

also bloß problematisch ist, wird, ohne von der Erfahrung oder einem

äußeren Willen etwas zu entlehnen, als Gesetz unbedingt geboten.“

Kant nennt diesen Sachverhalt „befremdlich“ und in der

praktischen Erkenntnis einzigartig. Ein nur problematischer

Gedanke ist ein widerspruchsfreier Gedanke, dessen Gehalt

kein Gegenstand in der Erfahrung korrespondiert oder der

selbst nicht Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung ist.

Ein nur problematischer Satz kann also gedacht aber nicht

erkannt werden. Die drei paradigmatischen Fälle bloß

problematischer Sätze bei Kant lauten: ‘Die Seele ist

Unsterblich’, ‘Der Wille ist frei’ und ‘Gott existiert’.

Kant hatte in der ersten Kritik zu beweisen versucht, daß

ihnen weder in einer uns möglichen Erfahrung noch als

Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung objektive Realität

zukommt, sie aber dennoch widerspruchsfrei gedacht werden

können (KrV, B xxvi). Was genau denken wir, wenn wir den

Gedanken einer „möglichen allgemeinen Gesetzgebung“ haben?

Aus der zweiten Kritik wissen wir, daß ein praktisches

Gesetz voraussetzungslos, d. h. kategorisch gültig sein muß.

Wir haben auch keine Gründe anzunehmen, daß der „Kanon der

moralischen Beurteilung“ aus der Grundlegung ungültig

geworden ist. Das ‘denken können’ ist also notwendige, das

‘wollen können’ hinreichende Bedingung einer allgemeinen

Gesetzgebung (vgl. GMS, IV 424). Der Gedanke einer

allgemeinen Gesetzgebung wird „a priori“ erkannt, weil durch

ihn nur die Form der Gesetzmäßigkeit gedacht wird und das

119

Gesetz nicht etwa durch das Gefühl der Lust und Unlust und

dem Wissen um empirische Kausalbeziehungen material bestimmt

wird. Der Begriff des Gesetzes selbst kann nicht empirisch

sein, denn, so würde Kant argumentieren, er ist die

Voraussetzung dafür, daß wir überhaupt empirische Erkenntnis

im Vollsinn des Wortes machen können. Dieser

widerspruchsfreie Gedanke einer allgemeinen Gesetzgebung

soll dem Willen, genauer, „der Form seiner Maximen“, als

Richtschnur dienen. Darin liegt auch der wesentliche

Unterschied zur theoretischen Erkenntnis. Während dort durch

einen bloß problematischen Gedanken nichts bestimmt werden

kann, ist hier der problematische Gedanke einer allgemeinen

Gesetzgebung Grund der Willensbestimmung und damit Grund der

Wirklichkeit eines Objektes: der Handlung. Dieser

Sachverhalt unterscheidet die moralisch-praktische

Erkenntnis aber nicht bloß von der theoretischen, sondern

auch von aller übrigen regelgeleiteten Praxis. Bei der

technisch-praktischen Willensbestimmung ist die Regel immer

durch ein vorausgesetzes Begehren bedingt. Im Fall der

moralisch-praktischen Erkenntnis dagegen ist der

Bestimmungsgrund der widerspruchsfreie Gedanke einer

allgemeinen Gesetzgebung.

Satz 10-11 „Man kann das Bewußtsein - ankündigt.“

Die beiden Schlußsätze der Anmerkung befassen sich mit zwei

Schlüsselthemen der Kantischen Moralphilosophie: der

Synthetizität des kategorischen Imperatives und seiner

Theorie vom Vernunftfaktum; sie sollen hier getrennt

120

voneinander in umgekehrter Reihenfolge behandelt werden.

Beide Theoreme erfordern es, eine komparative Perspektive

auf die Grundlegung einzunehmen, um sie im ersten Fall durch

komplementäre Erläuterungen im zweiten Fall durch den

Kontrast besser verständlich zu machen.

(A) Faktum der Vernunft

Auf die Frage nach dem Ursprung der Erkenntnis des

Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft, lautet Kants

berühmte Antwort: Es ist ein „Faktum der Vernunft“. Das

Bewußtsein des Moralgesetzes lasse sich „nicht aus

vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein der

Freiheit […] herausvernünfteln“. In der Grundlegung noch

hatte Kant diesen Weg eingeschlagen und den drohenden

Zirkel, von Moralgesetz und Freiheit dadurch aufgelöst, daß

er eine „Deduktion des Begriffs der Freiheit“ angestrengt

hatte (GMS, IV 447). Man muß sich zunächst den

Argumentationsverlauf aus der Grundlegung klar machen, um

erklären zu können, was genau das Novum der Theorie vom

Vernunftfaktum ist:

Der Zirkel besteht darin, daß wir auf der einen Seite die

Freiheit des Willens voraussetzen, „um uns […] unter

sittlichen Gesetzen zu denken“ und uns auf der anderen Seite

„nachher“ als diesen Gesetzen unterworfen denken, weil wir

die Freiheit des Willens vorausgesetzt haben (GMS, IV 450,

Hervorhebung J. B. vgl. Schönecker 1999, S. 333). Die

Gefahr, vor der Kant mit diesem Zirkel warnen will, ist die,

daß wir die Freiheit des Willens bloß voraussetzen, ohne ein

121

Argument für ihre Annahme zu liefern. „Gutgesinnte Seelen“

werden diese Voraussetzung zwar „gerne einräumen“, nicht

aber der Moralskeptiker, der als Prädeterminist diese

Voraussetzung bestreitet. Kant will die Gültigkeit des

Moralgesetzes nun gerade nicht voraussetzen, sondern

beweisen. Für diesen Beweis muß er mit Recht behaupten

können, daß der Mensch sich die Idee der Freiheit zusprechen

kann. Solange aber diese Voraussetzung nur von „gutgesinnten

Seelen“ umwillen des Moralgesetzes zugestanden wird, handelt

es sich bloß um die „Erbittung eines Prinzips“, eine petitio

principii, und nicht um eine Begründung (GMS, IV 453,

Hervorhebung J. B.). Die Gültigkeit des Moralgesetzes als

dasjenige, was es zu begründen gilt, hinge von einer

Voraussetzung ab, die selbst unbegründet ist.

Um die Gefahr des Zirkels abzuwenden, will Kant nachweisen,

daß wir „jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat,

notwendig auch die Idee der Freiheit leihen müssen“ (GMS, IV

448). Dabei greift Kant zunächst auf seine

erkenntniskritische Differenz von Ding an sich und

Erscheinung zurück. Er hat damit einen Bereich angezeigt,

der sich prinzipiell unserer Erkenntnis als endlicher

Vernunftwesen entzieht, aber denkmöglich ist, und damit

Platz für die Anwendung regulativer Vernunftideen

geschaffen. Im zweiten Schritt wendet Kant diese

Unterscheidung auf das Subjekt an und argumentiert, daß es

als Vernunftwesen einen Grund dazu bietet, „zwei

Standpunkte“ einzunehmen: Es kann sich sowohl als sinnliches

Wesen, das unter „Naturgesetzen (Heteronomie)“ als auch als

122

intellegibles Wesen „unter Gesetzen, die, von der Natur

unabhängig, nicht empirisch, sondern bloß in der Vernunft

gegründet sind“, betrachten. In seinem dritten und letzten

Argumentationsschritt greift Kant auf seine Begriffsanalyse

aus dem zweiten Unterabschnitt des „Dritten Abschnitts“ der

Grundlegung zurück. Einem verbreiteten Mißverständnis

zufolge habe Kant dabei fälschlich von der Freiheit der

theoretischen Vernunft („Freiheit zu denken“) auf die

Freiheit der praktischen Vernunft („Freiheit zu handeln“)

geschlossen und auf diese Weise die Freiheit des Willens

beweisen wollen (Henrich 1975, S. 72; ders. 1973, S. 245

ff., im Anschluß daran Schönecker 1999, S. 209 f., 299 f.

Für eine ausführlichere Analyse dieses Arguments s.

Bojanowski 2006). Doch Kant argumentiert hier lediglich

begriffsanalytisch; er will aufklären, was wir im Begriff

eines Vernunftwesens mit einem Willen implizit vorausgesetzt

haben. Dabei analysiert er zunächst den Begriff der

„Vernunft“ in der Weise, daß es unmöglich sei, „eine

Vernunft zu denken, die mit ihrem eigenen Bewußtsein in

Ansehung ihrer Urteile anderwärtsher eine Lenkung empfinge“.

Es liegt in dem Begriff ‘Vernunft’, daß sie ursprünglich,

produktiv und nicht etwa rezeptiv ist. Bei einem

vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, „denken wir uns eine

Vernunft, die praktisch ist“ (Hervorhebung J. B). Kant

analysiert hier nicht etwa erst den Begriff der ‘theoretischen

Vernunft’, um dann im nächsten Schritt auf die Freiheit der

praktischen Vernunft zu schließen. Den Begriff, den Kant

vielmehr analysiert – und das ist entscheidend – ist der

123

Begriff einer ‘Vernunft überhaupt’. ‘Vernunft überhaupt’ wird

in diesem Zusammenhang als ein Vermögen gedacht,

ursprünglich Vorstellungen hervorzubringen; sie hat nicht

etwa immer ausschließlich theoretische Vorstellungen,

vielmehr lassen sich diese Vorstellungen in zwei Arten

unterteilen: theoretische und praktische.

Um es kurz zu machen: Kants Argument kann den Zirkel

letztlich nicht auflösen. Praktische Vernunftvorstellungen

sind bei einem sinnlich-vernünftigen Wesen Vorstellungen von

dem, was der Fall sein soll. Es sind also letztlich die

Imperative, die uns einen Grund geben, uns die regulative

Idee der Freiheit zusprechen (vgl. auch KrV, B 575). Doch es

ist nicht jede Art von Imperativ, sondern nur der

kategorische, der uns berechtigt, dem Menschen die Idee der

transzendentalen (absoluten) Freiheit zuzusprechen. Denn nur

ein Handeln nach kategorischen Imperativen setzt voraus, daß

Vernunft allein aus sich heraus handlungswirksam wird. Damit

ist man jedoch bei der Antwort auf die Frage, warum wir

berechtigt sind, uns die Idee der transzendentalen Freiheit

des Willens zuschreiben, wieder am Ausgangspunkt angelangt:

Wir dürfen uns die Idee der transzendentalen Freiheit des

Willens zuschreiben, weil wir uns als moralisch verpflichtet

denken.

Wenn man diesen Argumentationsverlauf mit Kants Theorie vom

Vernunftfaktum aus der zweiten Kritik vergleicht, ergibt

sich folgendes Bild: Während er in der Grundlegung die

drohende Zirkelgefahr durch eine Deduktion der Freiheit

abzuwenden versuchte, um von dort auf die Verbindlichkeit

124

des Moralgesetzes zu schließen, setzt er in der zweiten

Kritik mit dem unmittelbaren Bewußtsein moralischer

Verpflichtung an und deduziert, wie sich unten noch zeigen

wird (S.???) und wie es sich im Rahmen des moralischen

Dilemmas in § 6 bereits ankündigte, aus dem Moralgesetz die

Freiheit. Gleich die erste Anmerkung der zweiten Kritik

befaßt sich erneut mit der Zirkelgefahr. Nun wird diese

Gefahr abgewendet, indem das wechselseitige Verhältnis von

Freiheit und Moralgesetz als das Verhältnis von ratio essendi

und ratio cognoscendi bestimmt wird. Damit ist Kant auch von der

Deduktion des Moralgesetzes über die Deduktion seines

Seinsgrundes abgerückt.

In der Grundlegung hatte er tatsächlich noch mit seinem

Zwei-Standpunkte-Argument und der begriffsanalytischen

Deduktion versucht, das Moralgesetz „aus vorhergehnden Datis

der Vernunft […] heraus[zu]vernünfteln“. In der zweiten

Kritik ist das Bewußtsein der Freiheit nicht, so muß man

„Datis“ wörtlich übersetzen, das primär durch die Vernunft

gegebene, ist kein ‘Datum der Vernunft’. Vielmehr ist uns das

Bewußtsein des Moralgesetzes selbst, wie Kant im letzten

Satz dieser Anmerkung erklärt, durch den Gebrauch der

Vernunft „gegeben“. Aus diesem Grund ist es auch eine

Verkürzung, wenn man einseitig nur den aktivischen Sinn des

facere hervorhebt und das Vernunftfaktum ausschließlich als

eine Vernunfttat, eine Handlung der Vernunft verstehen will.

Auch wenn das Faktum „kein empirisches, sondern das einzige

Faktum der reinen Vernunft“ ist, teilt es doch mit dem

empirischen Faktum die Eigenschaft, ein dem Bewußtsein

125

gegebener und unhintergehbarer Ausgangspunkt zu sein. Logisch

ist dieses Bewußtsein freilich hintergehbar, weil nicht nur

in der Grundlegung, sondern auch in der zweiten Kritik gilt,

daß die Freiheit die ratio essendi des Moralgesetzes ist. Im

Unterschied zur Grundlegung ist das Bewußtsein der

moralischen Verbindlichkeit nicht vermittelt durch ein

Bewußtsein der Freiheit. Vielmehr behauptet Kant, daß das

Moralgesetz „sich für sich selbst – sich aus sich selbst

heraus – uns aufdringt“.

(B) Synthetizität des Moralgesetzes

Wenn Kant die Gegebenheitsweise des Moralgesetzes näher

bestimmt, spezifiziert er dabei auch nebenbei noch dessen

logische Form. Wir wissen bereits, daß das Moralgesetz ein

kategorischer Satz ist. Zudem behauptet Kant nun, daß es

sich „uns aufdringt als [ein] synthetischer Satz a priori“,

der als Faktum der Vernunft „weder [auf der] reinen noch

empirischen Anschauung gegründet ist“. In der theoretischen

Philosophie ist ein synthetischer Satz ein Satz, in dem dem

Subjektbegriff ein Prädikat zugesprochen wird, das nicht im

Subjektbegriff bereits enthalten ist. Im Unterschied zu

analytischen Sätzen, die lediglich den Subjektbegriff

erläutern, sind synthetische Sätze erkenntniserweiternde

Sätze. Die Frage, von der Kant die Möglichkeit der

Philosophie als Wissenschaft abhängig gemacht hat, ist

bekanntlich, wie und ob es möglich ist, Subjekt und Prädikat

nicht vermittels sinnlicher Anschauung, nicht a posteriori,

126

sondern a priori, vor aller wirklichen Erfahrung, zu

verknüpfen (KrV, B 10 f.).

Kant erklärt die Begriffe ‘synthetisch’ und ‘analytisch’ in

der zweiten Kritik nicht. Wenn er also sagt, daß das

Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft ein

„synthetischer Satz a priori“ ist, ist es naheliegend, sich

das Grundgesetz selbst vorzulegen und dort nach dem Prädikat

zu suchen, das im Subjektbegriff nicht bereits enthalten

ist. Demnach wäre dann in dem Subjekt, an das der Imperativ

adressiert ist („Handle“), nicht analytisch bereits die

Gesetzmäßigkeit der Maximen enthalten. Genauer muß man

sagen, daß die Gesetzmäßigkeit der Maximen nicht analytisch

im Wollen des Subjekts enthalten ist. Das kann man einer

Passage aus der Grundlegung entnehmen, in der Kant

ausführlicher mit der logischen Form des kategorischen

Imperativs befaßt hat:„Ich verknüpfe mit dem Willen ohne vorausgesetzte Bedingung aus irgend

einer Neigung die Tat a priori, mithin [objektiv] notwendig […]. Dieses

ist also ein praktischer Satz, der das Wollen einer Handlung nicht aus

einem anderen, schon vorausgesetzten analytisch ableitet (denn wir haben

keinen so vollkommenen Willen), sondern mit dem Begriffe des Willens

eines vernünftigen Wesens unmittelbar als etwas, das in ihm nicht

enthalten ist, verknüpft“ (GMS, IV 420)

Der kategorische Imperativ ist ein Satz a priori, weil er

nicht empirisch, sondern durch reine Vernunft erkannt wird;

er ist synthetisch, weil er den Willen des Menschen, der als

sinnliches Wesen nicht immer schon ausschließlich die

Gesetzmäßigkeit seiner Maximen will, mit einem Willen

verknüpft, der ausschließlich das Gute will. Daß das

Moralgesetz für uns verbindlich und diese Verknüpfung

127

gerechtfertigt ist, kann also nicht analytisch aus dem

menschlichen Willen abgeleitet werden.

Nun könnte man meinen, daß Synthetizität nicht nur für die

kategorischen, sondern für jede Art von Imperativ

charakteristisch ist. ‘Sollen’ bringt ein Gebot zum

Ausdruck, das nur dann sinnvoll ist, wenn der Wille nicht

von sich aus bereits das will, was geboten ist. Jede Art von

Imperativ scheint den Willen mit etwas zu verknüpfen, was

nicht bereits in ihm enthalten ist. So ist es beispielweise

möglich, daß jemand gesunde Zähne haben will, aber nicht

weiß, daß die Vermeidung von raffiniertem Zucker ein

notwendiges Mittel für die Verwirklichung seines Willens

ist. Aus dem Wollen, gesunde Zähne zu haben, läßt sich also

nicht analytisch auch bereits das Wollen der Vermeidung von

raffiniertem Zucker ableiten.

Gleichwohl hat Kant behauptet, daß hypothetische Imperative

„was das Wollen betrifft […] analytisch [sind]“. Denn, so

lautet sein Argument, „in dem Wollen eines Objekts als

meiner Wirkung wird schon meine Kausalität als handelnde

Ursache, d. i. der Gebrauch der Mittel gedacht, und der

Imperativ zieht den Begriff notwendiger Handlungen zu diesem

Zwecke schon aus dem Begriff eines Wollens dieses Zwecks

heraus“ (GMS, IV 417). Es sind also nicht die konkreten

Mittel, die sich analytisch aus dem Wollen ableiten lassen,

dazu ist synthetische Erkenntnis erforderlich. Vielmehr

bedeutet ‘etwas zu wollen’ und nicht nur zu wünschen, auch die

Mittel zur Verwirklichung des Gewollten zu wollen. Der Wille

ist ein vernunftfähiges Kausalvermögen. Um die begehrte

128

Wirkung hervorzubringen müssen wir auch die Ursache, die die

Wirkung wirklich macht, wollen. Dementsprechend formuliert

Kant das analytische Prinzip des hypothetischen Imperatives

auch so: „Wer den Zweck will, will […] auch das dazu

unentbehrlich notwendige Mittel, das in seiner Gewalt ist“

(ebd.). Er hat allerdings dieses analytische Prinzip unter

eine einschränkende Bedingung gestellt: „sofern die Vernunft

auf seine Handlungen entscheidenden Einfluß hat“. Der Wille

ist zwar ein vernunftfähiges Begehrungsvermögen, es ist aber

gleichwohl möglich, daß die Vernunft nicht den

„entscheidenden Einfluß“ auf den Willen hat. In diesem Fall

handelt es sich dann lediglich um eine defiziente Form des

Wollens.

Es ist also sehr wohl möglich, daß wir etwas wollen und

nicht zugleich auch die Mittel zur Verwirklichung wollen.

Wir verstoßen damit allerdings gegen die Standards praktischer

Rationalität. Gerade weil es möglich ist, daß wir gegen

diese Standards verstoßen können, kommen die praktischen

Regeln als Imperative daher. Deshalb befaßt sich Kant auch

mit der Frage nach der Synthetiziät und Analytizität der

Imperative; er will erklären, „wie alle diese Imperative

möglich [sind]“ (ebd.). Er will, um es anders auszudrücken,

erklären, warum diese Imperative für uns verbindlich sind,

d. h. ihre Befolgung uns nicht freigestellt ist. Kant

behauptet nun, daß, wenn ein Imperativ analytisch ist, die

Frage nach der Verbindlichkeit „keiner besonderen Erörterung

[bedarf]“ (ebd.). Warum nicht? Weil wir, indem wir das

gewollte Objekt verwirklichen wollen uns auch bereits zu

129

seinen Verwirklichungsbedingungen (den Mitteln) verpflichtet

haben. Wir können freilich die Verpflichtung aufheben, indem

wir von der Verwirklichung Abstand nehmen. Doch wir können

nur auf Kosten eines Selbstwiderspruchs etwas wollen und

zugleich nicht die Mittel zur Verwirklichung des gewollten

Gegenstandes wollen; wir verstoßen damit gegen eine Norm

praktischer Rationalität. Wir mögen eine falsche Meinung

über die Kausalbeziehungen haben und deshalb möglicherweise

Mittel ergreifen, mit denen das gewollte Objekt nicht

verwirklicht werden kann; dies ist aber nur ein

theoretischer nicht praktischer Regelverstoß; ein

(technisch-)praktischer Regelverstoß läge erst dann vor,

wenn wir nicht die Mittel ergreifen, von denen wir glauben,

daß sie zur Verwirklichung des gewollten Gegenstandes

führen.

Im Unterschied zum hypothetischen ist der kategorische

Imperativ, was das wollen anbetrifft, synthetisch. Und genau

wie in der theoretischen Philosophie ist auch in der

praktischen Philosophie die Frage nach der Möglichkeit der

synthetischen Sätze a priori „die einzige der Auflösung

bedürftige Frage“ (GMS, IV 419). Denn bei synthtisch-

praktischen Sätzen, kann die Verbindlichkeit nicht aus einem

vorausgesetzen Wollen abgeleitet werden, mit dem wir uns

bereits auf die Verwirklichung eines Objekts festgelegt

haben und damit auch den Verwirklichungsbedingungen

verpflichtet sind. Den Grund der Verbindlichkeit, den

Verbindlichkeitsstifter, ausfindig zu machen, ist deshalb im

130

Fall des kategorischen Imperativs eine sehr viel

schwierigere Aufgabe als bei den hypothetischen Imperativen.

In der zweiten Kritik erläutert Kant seine Rede vom

„synthetischen Satz a priori“ nicht. Er erklärt aber, an

welche Bedingung die Synthetiziät dieses Satzes geknüpft

ist. Demnach würde das Moralgesetz „analytisch sein […],

wenn man die Freiheit des Willens voraussetzte“. Diese These

ist in der Kant-Literatur als Kants Analytizitätsthese

bekannt (vgl. GMS, ???; KpV???; Allison 1990). Seit Carl

Leonard Reinhold ist ein großer Teil der Kant-Forschung der

Meinung, diese These führe die Kantische Moraltheorie ad

absurdum.19 Kant impliziere damit, daß ein böser Wille unfrei

sei. Sein fundamentaler Irrtum bestehe darin, daß er

behaupte, der Wille sei dann und nur dann frei, wenn sein

Wirken durch einen reinen Vernunftzweck bestimmt ist. Die

Identität von einem moralisch guten Willen und einem freien

Willen führe dazu, daß nur noch im Falle von guten

Handlungen auch mit Recht davon gesprochen werden könne, daß

der Wille frei sei. Obgleich Kant die Wirklichkeit moralisch

böser Handlungen faktisch in seinen Texten nicht anzweifle,

könne seine Theorie nicht erklären, wie wir mit Recht auch

noch von bösen Handlungen sprechen dürfen. Was also liegt

näher als mit Reinhold und seinen Nachfolgern den Versuch zu

unternehmen, den kantischen Geist gegen Kants Buchstaben zu

19 Gerold Prauss hat in seiner wirkungsmächtigen Studie im Anschluß an Reinhold diesesArgument gegen Kants Theorie gewendet, um im Gegenzug dazu „mit“ Kant seineeigentliche Theorie zu entwickeln. Für einen Versuch in dieser Sache am KantischenBuchstaben festzuhalten s. Bojanowski 2007 (vgl. Fußnote 2???)

131

verteidigen, die Identitätsthese zu korrigieren und damit

seine Freiheitstheorie vor Inkonsistenz zu bewahren?20

Ob eine solche Korrektur tatsächlich erforderlich ist, hängt

davon ab, wie man die Analytiziätsthese versteht. Diese

These besagt, daß das Moralgesetz ein analytischer Satz sein

würde, „wenn man die Freiheit des Willens voraussetze“.

Wüßten wir also, daß der Wille (als Vermögen) frei ist,

könnten wir daraus auch die Verbindlichkeit des Moralgesetzes

ableiten. Kant behauptet nicht, daß wir aus dem Wissen, daß

der Wille (als Vermögen) frei ist, ableiten könnten, daß der

Wille notwendig auch dem Sittengesetz gemäß handeln würde.

Wie wir oben gesehen haben, folgt ja auch aus der

Analytizität des Prinzips der hypothetischen Imperative

gerade nicht, daß ein Regelverstoß und damit ein Fall von

praktischer Irrationalität unmöglich wäre. Analytizität

bedeutet dort lediglich, daß aus dem vorausgesetzen Willen

auch die Verbindlichkeit des Imperatives abgeleitet werden

kann und deshalb die Frage nach dem Grund der

Verbindlichkeit, „keiner besonderen Erörterung [bedarf]“,

denn mit dem Wollen des Zwecks haben wir uns auch bereits zu

den Verwirklichungsbedingungen verpflichtet. Aus dem

vorausgesetzen Wollen folgt also lediglich die Verbindlichkeit

des Imperativs nicht aber, daß wir auch den Imperativ

befolgen.

Analog könnten wir aus dem Wissen um die Freiheit des Willens

lediglich ableiten, daß dieser Wille ein Wille „unter

sittlichen Gesetzen“ ist (GMS, IV 447). Denn bei einem20 Selbst die Interpretationen von Hudson 1994; Willaschek 1992, S. 149-182 undAllison 1990, die an der Kantischen Theorie grundsätzlich festhalten wollen, kommennicht umhin, Kant an dieser Stelle zu korrigieren.

132

(absolut) freien Willen (als Vermögen) müssen wir uns, wie

Kant in den §§ 5 und 6 gezeigt hatte, die Handlungen nicht

durch ein vorausgesetzes Begehren bedingt denken, vielmehr

besitzt der freie Wille die Fähigkeit, die gesetzmäßige Form

der Maxime (das Moralgesetz) zum Bestimmungsgrund seines

Handelns zu machen. Ein freier Wille (als Vermögen) will

also, das läßt sich a priori erkennen, die Gesetzmäßigkeit

der Maxime. Das bedeutet aber gerade nicht, daß dieses

Vermögen in seiner eminenten Form auch immer aktualisiert

sein muß und die Maximen immer auch bereits moralisch gute

Maximen sind. Die Analytiziätsthese darf nicht so verstanden

werden, daß wir aus einem freien Willensakt analytisch die

Befolgung des Moralgesetzes ableiten können. Vielmehr gilt

auch für die moralische Willensbestimmung dieselbe

Einschränkungsbedingung: „[S]ofern die Vernunft aus seine

Handlungen entscheidenden Einfluß hat“, will der freie Wille

die Gesetzmäßigkeit seiner Maximen. Damit bleibt genau wie

in der technisch-praktischen Willensbestimmung eine

Pflichtverletzung und Übertretung des Imperativs auf Kosten

der Rationalitäsanforderungen immer möglich. Es handelt sich

dann allerdings um eine defiziente Form des Wollens, weil

der freie Wille sein Vermögen, aus reiner Vernunft zu

handeln, nicht aktualisiert.

Doch um zu der Voraussetzung der Freiheit berechtigt zu

sein, so Kants nächster Argumentationsschritt, müßten wir

erkennen können, daß der Wille frei ist, „wozu aber, als

positivem Begriffe, eine intellektuelle Anschauung erfordert

werden würde, die man hier gar nicht annehmen darf“. Wir

133

Menschen, so muß man sich das „hier“ zurechtlegen, können

die Gegenstände nur in unserer sinnlichen Anschauung durch

die Anschauungsformen Raum und Zeit erkennen. In der

„Dialektik“ der ersten Kritik hatte Kant gezeigt, daß uns

deshalb eine kausale Abschlußerkenntnis prinzipiell

unmöglich ist (Stelle???). Der positive Begriff der Freiheit

als Erstursächlichkeit würde indes gerade diese Art von

Erkenntnis erfordern. Deshalb sagt Kant, daß nur einer

intellektuellen Anschauug, einer Anschauung, die ihren

Erkenntnisgegenstand auch selbst hervorbringt, eine

theoretische Erkenntnis der Freiheit des Willens möglich

ist.

Doch im Unterschied zur Grundlegung will Kant in der zweiten

Kritik nun nicht einmal mehr für die problematische

Voraussetzung der Freiheit argumentieren, um von dort auf

die Verbindlichkeit des Moralgesetzes schließen zu können.

Vielmehr behauptet er, wie wir gesehen haben, daß uns die

Verbindlichkeit des Moralgesetzes im Vernunftgebrauch

unmittelbar bewußt wird und er wird von dort umgekehrt auf

die objektive Realität der Freiheit in praktischer Hinsicht

schließen können (s. dazu oben???). Die Vernunft erweist

sich dabei als „ursprünglich – und nicht etwa relativ in bezug

auf ein vorausgesetzes Begehren – gesetzgebend (sic volo,

sic iubeo)“. Kant zitiert hier frei nach Juvenal. Eigentlich

lautet der Satz: "Hoc volo, sic iubeo, stat pro rationae voluntas" (Das

will ich, so befehl ich es, als Grund genügt (mein) Wille,

Satiren VI, 223). Doch selbst aus der verkürzten Form läßt sich

entnehmen, daß der Verbindlichkeitsstifter des Moralgesetzes

134

das Wollen ist. Denn auch in der zweiten Kritik gilt, daß

das „moralische Sollen […] eigenes notwendiges Wollen [ist]

als Gliedes einer intelligiblen Welt“ (GMS, IV 455).

Folgerung

„Reine Vernunft - das Sittengesetz nennen.“

Diese „Folgerung“ ergibt sich nicht nur aus der Anmerkung

des § 7. Sie nimmt die Voraussetzung wieder auf, mit der

Kant die Anmerkung des § 1 eröffnet hatte:

„Wenn man annimmt, daß reine Vernunft einen praktisch, d. i. zur

Willensbestimmung hinreichenden Grund in sich enthalten könne, so gibt

es praktische Gesetze; wo aber nicht, so werden alle praktische

Grundsätze bloße Maximen sein.“

Das „wo aber nicht“ macht deutlich, daß die Praktizität der

reinen Vernunft als eine notwendige Bedingung für die Existenz

der praktischen Gesetze verstanden werden muß. Dieser

notwendige Zusammenhang ermöglicht auch einen Rückschluß von

der Existenz der praktischen Gesetze auf die Praktizität der

reinen Vernunft. Nun wissen wir, aus der Anmerkung zum

Grundgesetz in § 7, daß das praktische Gesetz ein „Faktum

der Vernunft“ ist. Deshalb ist Kant in der „Folgerung“

dieses Paragraphen zu dem Schluß berechtigt, daß „[r]eine

Vernunft […] für sich allein praktisch [ist]“.

„Praktizität“ und „Willensbestimmung“ sind zweideutig. Zum

einen kann damit der Akt der Gesetzgebung gemeint sein, zum

anderen aber auch der Akt der Ausführung. In der ersten

Bedeutung bestimmt die Vernunft das Begehrungsvermögen,

insofern sie ihm ein Gesetz vorschreibt. In der zweiten

135

Bedeutung bestimmt dagegen die Vernunft das

Begehrungsvermögen so, daß der Wille handlungswirksam wird.

Kant macht in dieser Folgerung nur den Gesetzgebungsaspekt

explizit: „Reine Vernunft […] gibt (dem Menschen) ein

allgemeines Gesetz“ (Hervorhebung J. B.). Das Grundgesetz

der reinen praktischen Vernunft gebietet uns jedoch in einer

bestimmten Form zu „handeln“ (Hervorhebung J. B.). Für die

moralisch gute Handlung ist es nicht hinreichend, daß wir

durch reine Vernunft wissen, was moralisch geboten ist, wir

müssen darüber hinaus auch noch umwillen der Gesetzlichkeit

handeln können. Das Prinzip der Gesetzgebung muß also auch

zugleich das Prinzip der Ausführung sein.

Anmerkung

Diese Anmerkung bezieht sich in erster Linie auf einen

Aspekt der „Folgerung“, von dem bisher noch nicht die Rede

gewesen ist: Dort hatte Kant behauptet, daß reine Vernunft

„dem Menschen“ das Sittengesetz gibt (Hervorhebung J. B.). Man

könnte meinen, er wolle damit die Gültigkeit des

Moralgesetzes auf den Menschen einschränken. In der

Anmerkung erklärt er nun, warum dieser Zusatz nicht als eine

Einschränkung der Gültigkeit des Grundgesetzes der reinen

praktischen Vernunft auf den Menschen verstanden werden

darf, es vielmehr für alle Vernunftwesen gilt. Allerdings ist

die Art der Geltung jeweils eine andere, und mit genau der

Explikation dieses Unterschiedes befaßt sich diese

Anmerkung.

136

Erster Absatz, Satz 1-2 „Das vorher genannte - als a priori praktisch

betrachtet.“

Bevor Kant sich mit dem Geltungsbereich des Moralgesetzes

befaßt, kommt er zunächst auf die Theorie vom Vernunftfaktum

zurück. Dabei bestätigt sich, daß es eine Verkürzung ist,

vom Vernunftfaktum nur als einer Tat der Vernunft zu

sprechen. Vielmehr muß Kants Rede vom „Faktum“ auch als ein

„der Fall sein“ verstanden werden. Eine Analyse des

moralischen Urteils der Menschen könne beweisen, daß der

kategorische Imperativ nicht das ideosynkratische Produkt

seiner Philosophie ist, sondern es „unleugbar“ dem

moralischen Urteil aller Menschen zugrunde liege (vgl. auch KrV,

B 835; GMS, IV 403 f.; KpV, V 36). Er will damit auch dafür

argumentieren, daß die moralische Praxis, von der er

spricht, unsere menschliche Praxis ist. Die Analyse des

moralischen Urteils wird indes von Kant an dieser Stelle nur

angedeutet: Im moralischen Urteilen halte der Mensch „die

Maxime des Willens bei einer Handlung jederzeit an den

reinen Willen“. Die Maxime an den reinen Willen zu halten,

bedeutet, sie ausschließlich nach Vernunftprinzipien

(Gesetzmäßigkeit) zu beurteilen und von allen „Neigungen“ zu

abstrahieren. Dabei implizieren wir, das hatte Kant bereits

in der „Folgerung“ aus der Theorie vom Vernunftfaktum

abgeleitet, daß unser Handeln nicht durch ein Begehren

bedingt ist, wir aus einem reinen Vernunftgrund heraus

handeln können und Vernunft also „sich als a priori

praktisch betrachtet“.

137

Satz 2-6 „Dieses Prinzip der Sittlichkeit - als moralischer Nötigung bedarf.“

Mit der Bestimmung des Geltungsbereichs des Moralgesetzes

wendet Kant sich nun dem Hauptpunkt dieser Anmerkung zu. Er

behauptet, daß dieses Gesetz nicht nur für den Menschen,

sondern für alle Vernunftwesen, genauer für alle

Vernunftwesen, die einen Willen haben, gültig ist. Mit

„Wille“ ist ein Vermögen gemeint, „[seine] Kausalität durch

die Vorstellungen von Regeln zu bestimmen“ (vgl. oben???).

Wir wissen, daß Kant mit Regeln nicht nur empirische Regeln,

sondern „Grundsätze“ meint. Grundsätze, bilden als Maximen

den Obersatz in einem praktischen Syllogismus. Sollen sie

gültige praktische Grundsätze sein, sind sie „Prinzipien a

priori“. Um rechtmäßiger Adressat des Moralgesetzes zu sein,

muß man also das Vermögen haben, nach Prinzipien a priori

handeln zu können.

Kant konzipiert die Gültigkeit des Moralgesetzes analog zur

Gültigkeit der reinen Verstandesbegriffe aus der ersten

Kritik. Dort hatte er behauptet, daß diese Begriffe sich

„auf Gegenstände der [sinnlichen] Anschauung überhaupt“

erstrecken und nicht nur in bezug auf unsere raumzeitliche

Anschauung gültig sind (KrV, B 148). Entsprechend gilt auch

das Moralgesetz nicht nur für „Menschen […], sondern geht

auf alle endlichen Wesen, die Vernunft und Willen haben“.

Welche Art sinnlicher Natur ein Vernunftwesen hat, ist für

die Verbindlichkeit des Moralgesetzes unerheblich. Damit

unterscheidet sich Kants Moralprinzip grundsätzlich von

denen empirischer Ethiken, die bekanntlich gerade bei der

besonderen menschlichen Natur ansetzen und die Gültigkeit

138

des Moralprinzips auf den Menschen einschränken (z. B. David

Hume, ECPM, Sec. I???). Folgt man diesem Ansatz, so würde

eine andere sinnliche Natur auch eine andere Ethik nach sich

ziehen.

Kant geht noch einen Schritt weiter und weitet die

Gültigkeit des Moralprinzips nicht nur auf alle „endlichen“,

sondern zusätzlich auch noch auf alle „unendlichen“

Vernunftwesen aus. Im Unterschied zu endlichen sind

unendliche Vernunftwesen keinen sinnlichen Begehrungen

ausgesetzt, so daß bei ihnen kein Konflikt zwischen Vernunft

und Neigung auftreten kann. Es ist in diesem Zusammenhang

nicht von Bedeutung, ob es diese unendlichen Vernunftwesen

tatsächlich gibt. Kant dient dieser Gedanke nur als

Kontrastfolie zu einem sinnlichen Vernunftwesen, um damit

den Grund der „Nötigung“ die Imperativität des

Moralgesetzes, zu erklären: Ein unendliches Vernunftwesen

tut immer schon das, was vernünftig ist und hat, wie Kant

sagt, einen „heiligen Willen“, einen Willen also, „der keiner

dem moralischen Gesetz widerstreitenden Maxime fähig wäre“.

Endliche Vernunftwesen haben dagegen Wünsche, die „dem

reinen objektiven Bestimmungsgrunde [des Moralgesetzes] oft

entgegen sein [können]“. Was objektiv, aus Vernunftgründen

notwendig ist, ist bei einem solchen Wesen also nicht a

priori auch subjektiv notwendig. Die Befolgung des

Moralgesetz kommt bei uns deshalb als „Pflicht“ daher.

Ebensowenig sind aber die der Moral entgegengesetzten

Wünsche subjektiv notwendig. Das menschliche

Begehrungsvermögen ist zwar „pathologisch affiziert[e]“ aber

139

dadurch „nicht bestimmt“, oder, wie Kant an anderer Stelle

sagt, nicht „necessitiert“ (KrV, B 562). Wir haben vielmehr

das Vermögen, unsere subjektiven Bestimmungsgründe mit dem

objektiven Gesetz zur Deckung zu bringen. Um also ein

rechtmäßiger Adressat von Imperativen zu sein, dürfen wir

weder vollständig durch die Vernunft noch vollständig durch

unsere Begehrungen prädeterminiert sein. In dem Spielraum

zwischen objektiver Gesetzgebung und subjektivem Begehren

liegt der Grund der „Nötigung […] durch bloße Vernunft“.

Diese objektive Nötigung ist nicht ein physischer, sondern

„intellektueller Zwang“, ein Zwang durch Vernunftgründe:

Jedes Vernunftwesen kann nicht anders als aus der

Vernunftperspektive so zu Urteilen, daß es seine bloß

subjektiven Interessen dem Moralgesetz unterordnen soll.

Satz 7- „In der allergenugsamsten - sehr gefährlich ist.“

Nachdem Kant den Ursprung praktischer Nötigung erklärt hat,

will er die Heiligkeit als eine „praktische Idee“

etablieren. Es hat sich gezeigt, daß Kant einen Willen genau

dann „heilig“ nennt, wenn er zu „keiner Maxime fähig [ist],

die nicht zugleich objektiv Gesetz sein k[ö]nnte“. Das

„Heile“ also liegt in der notwendigen Übereinstimmung

zwischen dem objektiven und subjektiven Prinzip. Besteht

dagegen zwischen den subjektiven und objektiven Prinzipien

eine mögliche Diskrepanz, liegt eine wurzelhafte Störung

oder, wie Kant sagt, „Corruption“ oder „Verderbtheit“ vor

(Rel, VI 43 f.), die unmoralisches Handeln ermöglicht. Doch

140

obgleich der Mensch prinzipiell „verderbt“ ist (ebd.), soll

ihm die Heiligkeit „notwendig zum Urbilde dienen“.

Das Urbild wird von Kant auch „Ideal“ oder „Prototypon“

genannt (KrV, B 597, B 599, B 606) und ist ebenso wie die

Idee ein Vernunftbegriff. Im Unterschied zur Idee gibt das

Urbild aber nicht eine allgemeine Regel an, vielmehr stellt

das Ideal als Urbild eine Idee „in indiviuo, d. i. als ein

einzelnes, durch die Idee allein bestimmbares, oder gar

bestimmtes Ding“ vor. Das Nachbild (auch „Kopien“ oder

„ectypa“, KrV, B 606) ist der menschliche Wille, der dem

Urbild des heiligen Willen entsprechend nachgebildet werden

soll. Dabei ist es uns freilich nicht möglich, unsere

sinnliche Natur gleichsam abzulegen und uns in heilige Wesen

zu verwandeln, die Heiligkeit ist vielmehr nur ein „Urbild

[…] welchem sich ins Unendliche zu nähern das einzige ist,

was allen endlichen vernünftigen Wesen zusteht“.

Doch auch wenn wir einen heiligen Willen nicht verwirklichen

können, darf dieses Ideal gleichwohl nicht als

„Hirngespinst“ (nihil negativum, KrV, B 348) verworfen werden.

Vielmehr dient es als ein „unentbehrliches Richtmaß der

Vernunft […], die des Begriffs von dem, was in seiner Art

ganz vollständig ist, bedarf, um darnach den Grad und die

Mängel des Unvollständigen zu schätzen und abzumessen“ (KrV, B

598 f.). Das bestmögliche Produkt, das uns zu realisieren

möglich ist, ist „Tugend“, die Fähigkeit im Konfliktfall

zwischen Vernunft und Neigung, die Stärke zu haben, den

Neigungen zu widerstehen und die Pflicht zu befolgen (vgl.

MS/TL, VI 394, 477). Auch in bezug auf tugendhaftes

141

Verhalten bleibt das Ideal der Heiligkeit, ausschließlich

das zu tun, was vernünftig ist, leitend. Ob wir aber in

allen Fällen vollkommen tugendhaft handeln, können wir nicht

mit „apodiktische[r] Gewißheit“ sagen, weil Tugend nicht ein

ursprünglich, sondern „natürlich erworbenes Vermögen“ ist

(Hervorhebung J. B.).

§ 8. Lehrsatz IV

Der Lehrsatz IV bildet den systematischen Höhepunkt der

Kantischen Ethik. Er etabliert die Autonmoie als das

Grundprinzip seiner Moraltheorie und reduziert alle anderen

Moraltheorien auf das Prinzip der Heteronomie.

1. Absatz, Satz 1- „Die Autonomie - des Willens entgegen“

In den vorangehenden Lehrsätzen und Aufgaben hatte Kant

jeweils das Ergebnis, den Lehrsatz oder die Lösung, in einem

ersten Absatz dem Beweis oder dem Lösungsweg vorangestellt.

Auch wenn Kant im „Lehrsatz IV“ den Lehrsatz samt Beweis in

einem einzigen Absatz präsentiert, ändert sich nichts an

dieser Struktur. Kant nimmt auch hier im ersten Satz das

Ergebnis des Beweises vorweg und eröffnet die Argumentation

mit der Formulierung des eigentlichen Lehrsatzes:

„Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen

Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten; alle Heteronomie der Willkür

gründet dagegen nicht allein gar keine Verbindlichkeit, sondern ist

vielmehr dem Prinzip derselben und der Sittlichkeit des Willens

entgegen.“

Der Lehrsatz besteht aus einem positiven und einen negativen

Teil: Der positive Teil bestimmt mit der Autonomie das

142

Prinzip auf das Moralgesetze gegeründet sind. Der negative

Teil erklärt die Heteronomie als Gegenprinzip aus dem sich

ein praktisches Gesetz nicht begründen läßt (Heteronomie).

Kant geht sogar noch weiter, indem er sagt, daß das Prinzip

der Heteronomie „der Sittlichkeit des Willens entgegen“ ist.

Heteronomie verhält sich also der praktischen Gesetzgebung

gegenüber nicht neutral, so als könnten aus ihr

instrumentelle aber keine moralischen Regeln abgeleitet

werden, vielmehr behauptet Kant, daß, wenn ein

Begehrungsvermögen heteronom bestimmt ist, es notwendig

unmoralisch ist. Aus den §§ 1-6 wissen wir bereits, daß eine

Maxime, damit sie sich zur praktischen Gesetzgebung

qualifizieren kann, nicht durch einen materialen, sondern

nur durch einen formalen Bestimmungsgrund bedingt sein darf.

Im Beweis des Lehrsatzes wird Kant den Zusammenhang zwischen

Autonomie und formaler Gesetzgebung auf der einen Seite und

Heteronomie und materialer Gesetzgebung auf der anderen

Seite explizieren.

Satz 2-5: „In der Unabhängigkeit - zusammenstimmen können“

Der Beweis des Lehrsatzes folgt der Struktur des Lehrsatzes

und zerfällt in einen positiven (Satz 2-5) und einen

negativen (Satz 6) Teil. Die erste Prämisse wiederholt noch

einmal die beiden notwendigen und zusammen hinreichenden

Bedingungen eines Moralgesetzes:

(i) „Das Prinzip der Sittlichkeit [besteht] in der

Unabhängigkeit […] von aller Materie des Gesetzes […]

und zugliech doch Bestimmung der Willkür durch die

143

bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren eine

Maxime fähig sein muß.“ (P)

An dieses Ergebnis erinnert Kant zunächst und greift dann

auf seine Definitionen der Freiheit aus den §§ 5 und 6

zurück, um mit ihnen für die Autonomie als

Fundamentalprinzip zu argumentieren:

(ii) Die Unabhängigkeit des Willens von der Materie

(begehrtes Objekt) ist negative Freiheit. (P)

(iii) Die gesetzgebende Form einer Maxime wird a priori

durch reinen praktische Vernunft erkannt. (P)

(iv) Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft ist

positive Freiheit (Autonomie). (P)

(v) „Also drückt das moralische Gesetz nichts anderes

aus, als die Autonomie […], d. i. die Freiheit.“ (i,

ii, iii, iv)

Man kann sich fragen, ob Kant die zweite Prämisse überhaupt

braucht. Schließlich will er lediglich für die Autonomie als

positive Freiheit argumentieren. Müßte es deshalb in der

Konklusion nicht genauer heißen ‘d. i. die positive Freiheit’?

Bei einem heiligen Wesen könnte die zweite Prämisse

wegfallen, weil eine Bestimmung durch Neigungen unmöglich

ist. Doch bei uns Menschen muß Kant zunächst für die

negative Freiheit argumentieren, weil negative Freiheit eine

notwendige Bedingung ihrer Autonomie ist. Nur weil wir

unabhängig von Naturursachen wirken können, können wir

überhaupt auch nach selbstgegebenen Gesetzen handeln.

Deshalb darf Kant in der Konklusion dann auch ohne weiteres

von der positiven auch auf die negative Freiheit übergehen.

144

Kant geht aber noch einen Schritt weiter und behauptet, daß

die Freiheit „selbst die formale Bedingung aller Maximen

[ist], unter der sie allein mit dem obersten praktischen

Gesetze zusammenstimmen können“. Hier wird das Verhältnis

der besonderen Grundsätze des Handelnden zum „obersten

praktischen Gesetze“, dem Moralgesetz im Singular

angesprochen. Nur wenn die Maximen durch Autonomie bestimmt

sind, können sie mit dem Moralgesetz übereinstimmen, denn,

so lautet das bereits bekannte Argument, nur dann sind sie

durch die gesetzmäßige Form bestimmt. Damit wird das Prinzip

der Freiheit als Autonomie zum Moralitätsstifter der

Maximen, und Kant könnte von hier aus ohne weiteres jene

Formel des kategorischen Imperatives ableiten, die uns aus

der Grundlegung als Autonomieformel bekannt ist (GMS, IV

432; zum Verhältnis der Formeln s. oben???).

Satz 6 „Wenn daher die Materie - gesetzmäßig sein sollte“

Auf den Beweis des positiven Teils folgt der Beweis des

negativen Teils des Lehrsatzes. Kant setzt mit einer

kontrafaktischen Voraussetzung an:

(i) Die Materie des Wollens („Objekt einer Begierde“)

kommt „in das praktische Gesetz als Bedingung der

Möglichkeit desselben hinzu. (P)

Man muß sich klarmachen, daß die praktische Regel unter

dieser Voraussetzung ihren Gesetzesstatus verliert. Ein

bedingtes praktisches Gesetz ist für Kant eine contradictio in

adjecto. Von dieser Prämisse schließt Kant unmittelbar auf

eine heteronome Willensbestimmung. Diesem Schluß liegen zwei

145

Voraussetzungen zugrunde: erstens die implizite und in den §§

2 und 5 bewiesene Voraussetzung, daß ein durch die Materie

bedingtes Wollen durchs Naturgesetz bedingt ist, weil es auf

dem Gefühl der Lust und Unlust beruht und zweitens die

Definition der Heteronomie.

(ii) Durch die Materie bedingtes Wollen ist durchs

Naturgesetz bedingt. (P)

(iii) Heteronomie ist die „Abhängigkeit vom

Naturgesetze, irgend einem Antriebe oder Neigung zu

folgen, und der Wille gibt sich nicht selbst das

Gesetz, sondern nur die Vorschrift zur vernünftigen

Befolgung pathologischer Gesetze“. (P)

(iv) Wenn also die Materie des Wollens („Objekt einer

Begierde“) „in das praktische Gesetz als Bedingung der

Möglichkeit desselben hinzukommt, so wird daraus

Heteronomie der Willkür. (i, ii, iii)

Im positiven Teil des Beweises hatte Kant die Autonomie als

das Prinzip des Moralgesetzes und damit der reinen

praktischen Vernunft etabliert. Deshalb ist er nun auch zu

dem Schluß berechtigt, daß die heteronome Maxime nicht nur

„keine Verbindlichkeit […] stiftet“ und es uns also nicht

nur freigestellt ist, ob wir der praktischen Regel folgen

wollen, sondern sie „dem Prinzip einer reinen praktischen

Vernunft entgegen [ist]“.

Gleichwohl ist es möglich, daß die „Handlung“, die aus der

heteronomen Maxime folgt, dennoch „gesetzmäßig“ ist

(Hervorhebung J. B.). Damit spricht Kant den Unterschied

zwischen „Moralität“ und „Legalität“ an: Auch wenn die

146

Maxime nicht universalisierbar ist, können aus ihr dennoch

einzelne Handlungen entspringen, die mit dem Gebot des

Moralgesetzes koinzidieren. Man kann dabei etwa an den

„Krämer“ aus der Grundlegung denken, der seine Produkte aus

Klugheit nicht zu einem überhöhten Preis verkauft. Denn, „wo

viel Verkehr ist“, da würde es sich leicht herumsprechen –

so kann man das Argument fortsetzen –, daß dieser Kaufmann

ein Betrüger ist und er hätte Grund, zu befürchten, daß die

Kunden ausbleiben (GMS, 397, Passage in KpV???). Hinter dem

Verhalten dieses Kaufmannes steckt also das Profitstreben,

das sich unter anderen Umständen, nämlich dort, wo kaum

Verkehr ist, so auswirken kann, daß er tatsächlich seine

Kunden nicht ehrlich bedient. Wenn Kant in diesem

Zusammenhang von „Handlung“ spricht, muß er bei der

Handlungsbeschreibung von der Maxime absehen, weil sie in

diesem Fall gerade nicht gesetzmäßig ist. Dieselbe Maxime

führt je nach Situation zu verschiedenen

Handlungsresultaten, und man kann es den moralisch legalen

Handlungen nicht ansehen, ob sie auch aus einer moralisch

guten Gesinnung entspringen (zur Unterscheidung zwischen

Moralität und Legalität s. oben???).

Anmerkung I

Im Beweis hatte Kant behauptet, daß Autonomie die

Unabhängigkeit von der Materie und Willensbestimmung durch

die Form der Gesetzmäßigkeit ist. In der ersten Anmerkung

will Kant erklären, wie es möglich sein kann, daß alles

Wollen eine Materie hat, diese aber gleichwohl nicht der

147

„Bestimmungsgrund und Bedingung der Maxime“ sein muß. Dazu

rekapituliert er zunächst noch einmal drei zentrale

Ergebnisse der §§ 1-4, erklärt dann negativ am Beispiel

„fremder Wesen Glückseligkeit“, welche Rolle der Materie in

der moralisch guten Willensbestimmung nicht zukommen darf,

um dann schließlich positiv an demselben Beispiel zu

demonstrieren, wie die Materie in der moralisch guten

Willensbestimmung nicht eliminiert, sondern lediglich

limitiert wird.

Satz 1-4 „Zum praktischen Gesetze - abgeben kann.“

In § 1 hatte Kant erklärt, daß ein praktisches Gesetz

kategorisch d. h. unbedingte Gültigkeit impliziert. Er hatte

dann in § 2 bewiesen, daß ein praktisches Gesetz nicht

durch eine „materiale (empirische) Bedingung“ bedingt sein

kann, weil die Materie „immer auf subjektiven Bedingungen

[beruht], die ihr keine Allgemeinheit […] verschaffen“. In §

3 wurden dann alle materialen Prinzipien auf das „Prinzip der

eigenen Glückseligkeit“ zurückgeführt und anschließend in der

Anmerkung II zwischen der „Naturnotwendigkeit“ auf der einen

Seite und der praktischen Notwendigkeit des Moralgesetzes

auf der anderen unterschieden. Nach dieser kurzen

Rekapitulation kommt Kant auf den eigentlichen Hauptpunkt

dieser Anmerkung zu sprechen: Auch wenn die Materie nicht

der Bestimmungsgrund einer gesetzesartigen Maxime sein darf,

sei es dennoch „unleugbar“, daß alles Wollen „einen

Gegenstand, mithin eine Materie haben müsse“. Es ist

„unleugbar“, weil „Wollen“ die Lust an der „Erwartung der

148

Existenz [eines] Gegenstandes“ impliziert. Wir erwarten uns

von dem verwirklichten Gegenstand, daß er uns so affiziert,

daß wir ein Gefühl der Lust empfinden. Wie also muß man sich

die moralische Willensbestimmung denken? Wollen ist

notwendig das Begehren eines Gegenstandes, aber der begehrte

Gegenstand darf „nicht […] der Bestimmungsgrund und

Bedingung der Maxime [sein]“.

Satz 5-9 „So wird fremder Wesen Glückseligkeit – aber sie nicht

vorauszusetzen.“

Kant erläutert nun zunächst negativ an einem Beispiel,

welche Rolle der Materie bei der moralisch guten

Willensbestimmung nicht zukommen kann. Das Beispiel ist so

gewählt, daß das Objekt der Begierde, „fremder Wesen

Glückseligkeit“, prima facie zur Bildung einer moralisch guten

Maxime zu führen scheint. Kant will zeigen, warum diese

Materie sehr wohl das „Objekt“ nicht aber auch der

„Bestimmungsgrund“ einer moralisch guten Maxime sein darf.

Sein Argument lautet: Wir können „nicht bei jedem

vernünftigen Wesen (bei Gott gar nicht) voraussetzen […],

daß wir in dem Wohlsein anderer […] ein Bedürfnis finden“.

Eine Maxime läßt sich aber nur dann verallgemeinern, wenn

sie nicht auf einer nur subjektiven Voraussetzung beruht.

Gott als übersinnliches Wesen hat keine Bedürfnisse. Deshalb

kann man bei ihm das Begehren der Glückseligkeit fremder Wesen

nicht voraussetzen. Als Vernunftwesen steht er dennoch nicht

jenseits der Moral. Kant hatte darüber hinaus in der

Anmerkung II von § 4 gezeigt, daß selbt wenn alle

149

vernünftige Wesen hinsichtlich ihrer Lust und

Unlustempfindungen übereinstimmen würden, sich auf dieser

Übereinstimmung dennoch keine praktische Notwendigkeit

begründen ließe (s. unten???). Von diesem Argument muß er

hier keinen Gebrauch machen, weil das Bedürfnis der

Glückseligkeit fremder Wesen noch nicht einmal die

notwendige Bedingung der intersubjektiven Übereinstimmung

erfüllt. Auch ohne dieses Argument ist Kant bereits zu der

Folgerung berechtigt, daß, die Glückseligkeit fremder Wesen

als Materie und Bestimmungsgrund der Maxime „nicht zum

Gesetze taugen [kann]“. Vielmehr soll nun andersherum „die

bloße Form eines Gesetzes“ uns einen Grund geben, die

„Materie zum Willen hinzuzufügen, aber sie nicht

vorauszusetzen“.

Satz 10-12 „Die Materie sei z. B. - allein entspringen könnte.“

Auch den positiven Fall, welche Rolle der Materie bei der

moralisch guten Willensbestimmung zukommen darf, erläutert

Kant am Beispiel der Glückseligkeit anderer. Er zeigt, wie

uns die Form des Gesetzes einen Grund geben kann, die

„Materie zum Willen hinzuzufügen“ und so der Ursprung

praktischer „Verbindlichkeit“ ist. Dabei setzt er nun allerdings

ein Begehren voraus, das tatsächlich der Gegenstand jedes

endlichen Wesens ist: die „eigene Glückseligkeit“. Diese

darf auch der Gegenstand und Materie unseres Willens sein,

jedoch nur unter einer Einschränkungsbedingung: Sie muß auch

„anderer ihre [Glückseligkeit] in dieselbe mit

einschließe[n]“. Denn, nur eine Maxime, die nicht bloß

150

subjektiv bedingt ist, kann ein „objektives praktisches Gesetz

werden“. Die Glückseligkeit anderer zu befördern entspringt

also nicht, so darf Kant schlußfolgern, aus „der

Voraussetzung, daß dieses ein Objekt für jedes seine Willkür

sei, sondern bloß daraus, daß die Form der Allgemeinheit […]

der Bestimmungsgrund des Willens wird. Nur auf diese Weise

kann eine „Maxime der Selbstliebe“ (eigene Glückseligkeit)

auch die „objektive Gültigkeit eines Gesetzes“ erhalten.

Damit hat Kant an einem Beispiel gezeigt, wie die Materie

des Willens nicht auch zugleich der Bestimmungsgrund, der

Grund für die Ausführung der Handlung, sein muß. Auch wenn

der Wille nicht durch die Materie bestimmt ist, bedeutet das

also nicht auch noch, daß ein durch die Form bestimmter

Wille keine Materie hat.21 Zur Erkenntnis, daß wir das

Begehren nach eigener Glückseligkeit nicht absolut setzen

dürfen, gelangen wir nicht durch den „Zusatz einer äußeren

Triebfeder“, in diesem Fall dem Begehren, die Glückseligkeit

anderer zu befördern, vielmehr wird uns durch bloß formale

Erwägungen bewußt, daß die Maxime nur dann ein allgemeines

Gesetz werden kann, wenn sie die Glückseligkeit anderer

einschließt. Deshalb sagt Kant, daß es „die bloße

gesetzliche Form […] allein [war], dadurch ich meine auf

Neigung gegründete Maxime einschränkte, um ihr die

Allgemeinheit eines Gesetzes zu verschaffen“. Damit hat er

auch gezeigt, wieso nicht ein vorausgesetztes Begehren (die

Glückseligkeit anderer), sondern ein reines Vernunftprinzip

der Ursprung der „Verbindlichkeit“ ist.

21 Gegen Sala???

151

Anmerkung II

Eine Einleitung schreiben, die die gesamte Anmerkung II umfaßt (Kants Argument

gegen die moralphilosophische Tradition. Seine Theorie als die erste wirklich

rationalistische...) In der Anmerkung II erläutert Kant, warum

Glückseligkeit bzw. Selbstliebe nicht als Moralprinzip

tauglich sind und er argumentiert dafür, daß sie als

Bestimmungsgrund des Willens dem Prinzip der Sittlichkeit

sogar widersprechen.

1. Absatz „Das gerade Widerspiel - aufrecht zu erhalten.“

Im Beweis des § 8 hatte Kant behauptet, daß die heteronom

bestimmte Maxime „dem Prinzip einer reinen praktischen

Vernunft […] entgegen ist“. Eine heteronom bestimmte Maxime

ist durch die Materie, den begehrten Gegenstand, bestimmt.

Nun hatte Kant im § 3 bewiesen, daß alle materialen

praktischen Prinzipien sich auf das Prinzip der eigenen

Glückseligkeit reduzieren lassen. Deshalb darf er zum

Auftakt dieser Anmerkung II auch behaupten, daß das Prinzip

der „eigenen Glückseligkeit […] das gerade Widerspiel des

Prinzips der Sittlichkeit ist“. Damit geht Kant noch nicht

über die vorherigen §§ hinaus. Er will nun aber zusätzlich

anhand zweier Szenarien, die Art des „Widerspiels“ erläutern

und mit ihnen auch zugleich Irrtumsimmunität der

„himmlische[n] Stimme“ der Vernunft demonstrieren. „[S]elbst

das gemeinste Auge“ könne den kategorialen Unterschied

zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit erkennen. Mit

seiner Moraltheorie glaubt Kant also den sensus communis auf

152

seiner Seite zu haben und schreibt dagegen das Glücksprinzip

den „kopfverwirrenden Spekulationen der Schulen“ zu.

Das „Widerspiel“ oder, wie Kant auch sagt, der „Widerstreit“

zwischen dem Prinzip der Sittlichkeit und dem der

Glückseligkeit sei „nicht bloß logisch […], sondern

praktisch“. Kant erläutert den Begriff des Widerstreits im

allgemeinen an dieser Stelle nicht. In der ersten Kritik

hatte er zwischen ‘Widerspruch’ und ‘Widerstreit’

unterschieden:„Wenn zwei einander entgegengesetzte Urteile eine unstatthafte Bedingung

voraussetzen, so fallen sie, unerachtet ihres Widerstreits (der

gleichwohl kein eigentlicher Widerspruch ist), alle beide weg, weil die

Bedingung wegfällt unter der allein jeder dieser Sätze gelten sollte (KrV,

B 531).

Kant erläutert dies an einem Beispiel: Wenn jemand über

einen Körper sagt, daß er „entweder gut oder er nicht gut

[riecht]“, sind damit die Möglichkeiten noch nicht

erschöpft, es kann nämlich noch „ein Drittes statt[finden],

nämlich, daß er gar nicht rieche (ausdufte), und so können

beide widerstreitende Sätze falsch sein“ (KrV, B 531). Die

„unstatthafte Bedingung“ war in diesem Fall, daß dem Körper

so etwas wie „Geruch“ zukommt. Trifft diese Bedingung nicht

zu, dann ist die Alternative „riecht gut oder riecht nicht

gut“ nicht erschöpfend. Bei einem geruchlosen Körper läuft

sowohl das Prädikat des „Gutriechens“ als auch des „nicht

Gutriechens“ leer. Es liegt hier also „kein eigentlicher

Widerspruch“ vor, weil die beiden Sätze nicht

kontradiktorisch, sondern nur konträr entgegengesetzt sind

und deshalb beide falsch sein können. Kant reserviert

153

‘Widerspruch’ hier also explizit für die kontradiktorische

Opposition, bei der bekanntlich nur einer der beiden falsch

sein kann und wir von der Falschheit des einen auf die

Wahrheit des anderen schließen können.

Der zweiten Kritik kann man entnehmen, daß Kant den Begriff

des Widerstreits weiter faßt, so daß er auch den

kontradiktorischen Gegensatz einschließt. Dies läßt sich an

seinem Beispiel für den logischen „Widerstreit“ ablesen:

„[E]mpirisch-bedingte Regeln [sind] notwendige[n]

Erkenntnisprinzipien“. Nun wissen wir aber, daß Erfahrung

nach Kant „uns zwar [lehrt], daß etwas so oder so beschaffen

sei, aber nicht, daß es nicht anders sein könne“ (KrV, B 3).

Also ist das kontradiktorische Gegenteil jenes Urteils

analytisch wahr: „Empirisch-bedingte Regeln sind nicht

notwendige Erkenntnisprinzipien“. Der von Kant als logischer

Widerstreit ausgegebene Satz ist also, wie er es in der ersten

Kritik genannt hat, ein „eigentlicher Widerspruch“. Die

Frage ist, ob das auch für den praktischen Widerstreit gilt, um

den es Kant hier eigentlich zu tun ist.

2. Absatz, Satz 1: „Wenn ein dir sonst beliebter - nicht das mindeste

einzuwenden hättest“

Für den Begriff des praktischen Widerstreits liefert Kant

uns ebenfalls keine allgemeine Definition. Statt dessen

präsentiert er uns zwei Beispiele moralischer Evaluation,

anhand derer er einen praktischen Widerstreit demonstrieren

will. Wir müssen also die Bedeutung aus diesen Beispielen

ableiten. Einem chemischen Versuchsverfahren gleich soll die

154

Reaktionen der gemeinen Menschenvernunft an diesen

Beispielen getestet werden. Beide sind analog aufgebaut: Es

sind (lange) hypothetische Sätze bei denen Voraussetzung und

Folge durch einen Doppelpunkt abgetrennt sind. In der

Voraussetzung wird unmoralisches Handeln auf der Grundlage

des Prinzips der Selbstliebe gerechtertigt oder empfohlen.

In der Folge werden dann vom Standpunkt der „gemeinen

Menschenvernunft“ diese Versuche als absurd zurückgewiesen

werden.

Der erste Fall befaßt sich mit der Bewertung eines

paradigmatischen Falls unmoralischen Handelns, der Lüge, die

Kant in der Voraussetzung moralneutral als „falsch

abgelegte[s] Zeugniss“ bezeichnet. Der Handelnde versucht

seine Falschaussage zu rechtfertigen, indem er „zuerst“ (i)

seine „heilige Pflicht“ die „eigene Glückseligkeit“ geltend

macht, (ii) die „Vorteile“ aufzählt, die ihm durch die Lüge

zuteil werden und (iii) auf die „Klugheit“ hinweist, mit der

er bei seiner Falschaussage vorgegangen sei. Um nun den

„praktischen Widerstreit“ ausfindig zu machen, muß man die

Konstruktion „zuerst - dann aber“ beachten. Nachdem der

Handelnde nämlich „zuerst“ jene drei Gründe angeführt hat,

macht er „dann aber“ auch noch „im ganzen Ernst“ geltend,

daß er damit eine „wahre Menschenpflicht“ ausgeübt habe. Es

ist die Spannung zwischen dem „zuerst“ und dem „dann aber“,

die die gemeine Menschenvernunft auf den

Rechtfertigungsversuch mit Gelächter reagieren oder mit

„Abscheu davon zurückgeben“ läßt. Mit der ersten Reaktion

wird der Anspruch der Vernünftigkeit in Zweifel gezogen. Die

155

zweite Reaktion nimmt dagegen den Rechtfertigungsversuch

ernst und will dem Handelnden auf der Grundlage seines

eigenen Prinzips der Glückseligkeit „Maßregeln“ und nicht

etwa Strafen verhängen. Damit soll dem Handelnden deutlich

gemacht werden, daß auch er selbst das Prinzip seines

Handelns nicht wollen kann. Beide Reaktionsweisen offenbaren

die Absurdität oder den „Widerstreit“ des

Rechtfertigungsversuches.

Damit ist aber noch nicht geklärt, welcher Art der

Widerstreit ist. Kant hat in den §§ 2 und 3 gezeigt, daß das

Prinzip der Selbstliebe (Glückseligkeit) und mit ihm bloße

Klugheitserwägungen vom Moralprinzip kategorial verschieden

sind. Wer nach dem Prinzip der Selbstliebe handelt, macht

sich die „Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein

ganzes Leben begleitet“ zum Prinzip (§ 3). Nun ist es

freilich möglich, wenn wir beispielsweise einem Freund in

Not helfen, daß das Angenehme und das moralisch Gebotene

koinzidieren. Wir haben dann zu dem, was moralisch geboten

ist, auch eine Neigung. Wer aber nach dem Prinzip der

Selbstliebe handelt, ist nur dann bereit, das moralisch

Gebotene zu tun, wenn eine Koinzidenz nicht aber ein

Konflikt zwischen Pflicht und Neigung vorliegt. Das

Moralgesetz gebietet voraussetzungslos und seine

Verbindlichkeit ist damit von dem Vorliegen einer Neigung

unabhängig. Das Prinzip der Moral und das Prinzip der

Selbstliebe schließen sich also gegenseitig aus. Demnach ist

es sehr wohl möglich, gleichzeitig etwas Angenehmes??? und

moralisch Gutes??? zu tun, aber unmöglich aus dem Prinzip der

156

Selbstliebe und aus dem Prinzip der Moral zu handeln.

Vielmehr soll das Moralprinzip das Prinzip der Selbstliebe

einschränken. Also sind sowohl der subkonträre Gegensatz,

der es erlaubt, daß man zugleich nach dem Prinzip der

Selbstliebe und dem Prinzip der Moral handelt als auch der

konräre Gegensatz, bei dem man weder nach dem Prinzip der

Selbstliebe noch nach dem Moralprinzip handelt, unmöglich.

Es muß sich also nicht nur beim logischen, sondern auch beim

„praktischen Widerstreit“ um einen kontradiktorischen

Gegensatz handeln.

Kant hatte darüber hinaus in § 3 alle materialen Prinzipien

auf das Prinzip der Selbstliebe zurückführen können, und

seit § 4 darauf bestanden, daß nur der moralische

Bestimmungsgrund des Handelns ausschließlich formal ist. Mit

der Materie und Form sind die Arten der Willensbestimmung

erschöpft. Es kann also kein Drittes und damit auch keine

„unstatthafte Bedingung“, wie Kant es in der KrV genannt

hatte, geben (KrV, B 531), durch die der kontradiktorische

in einen konträren Gegensatz überführt werden könnte. Der

Unterschied zwischen dem logischen und dem praktischen

Widerstreit kann also nicht in der Art des Widerstreits

gefunden werden, so als wäre der logische ein Widerstreit im

engen (Widerspruch) und der praktische ein Widerstreit im

weiten Sinne. Vielmehr ist der Unterschied vermutlich

bereits durch das Beiwort benannt. Der praktische

Widerspruch ist auch ein logischer Widerspruch, aber er ist

nicht „bloß logisch“, sondern praktisch, weil er in den

Prinzipien unseres Handlungsvermögens, dem Willen auftritt.

157

Satz 2 „Oder setzet – oder er habe den Verstand verloren“

Der zweite Fall bestätigt diese Diagnose. Hier haben wir es

nicht mit einer Rechtfertigung, sondern einer Empfehlung zu

tun. Genauer geht es um die Empfehlung eines „Haushalter[s]“

mit den folgenden Charaktereigenschaften: Er ist (i) ein

„kluger Mensch, der sich auf seinen eigenen Vorteil

meisterhaft versteht“, (ii) „fein zu leben“ vermag, indem er

auf die „Erweiterung seiner Kenntnisse“ aus ist. Darüber

hinaus hat er (iii) auch beim „Wohltun der Dürftigen […]

sein Vergnügen und verwendet hierzu „fremdes Geld“, sobald

er weiß, „daß er es unentdeckt und ungehindert tun könne“.

Während im ersten Fall sich jemand für eine Lüge auf der

Grundlage des Prinzips der eigenen Glückseligkeit

rechtfertigen wollte, soll nun im zweiten Fall jemand als

Eigentumsverwalter empfohlen werden, der auf der Grundlage

des Glückseligkeitsprinzips das ihm anvertraute Eigentum als

sein eigenes behandelt. Die Absurdität dieser Empfehlung ist

offenbar: Hier wird ein Dieb oder Betrüger als

Eigentumsverwalter empfohlen. Kant erwägt auch in diesem

Fall zwei Reaktionen der „gemeinen Menschenvernunft“: Die

erste unterstellt, daß diese Empfehlung nicht mit einem

Geltungsanspruch verbunden ist, der Empfehlende also um die

Unvernünftigkeit seiner Aussage weiß und sie nur ausspricht,

um den Adressaten „zum besten [zu] haben“. Die zweite

Reaktion bezweifelt nicht den Geltungsanspruch, aber das

Selbstwissen, indem sie davon ausgeht, der Empfehlende „habe

den Verstand verloren“.

158

Satz 3-4 „So deutlich und scharf sind die Grenzen - etwas mehr Deutlichkeit zu

verschaffen“

Beide Fälle wertet Kant als eine Bestätigung für die

kategoriale Trennung von „Sittlichkeit und Selbstliebe,

deren „Grenzen – wie er sagt – deutlich und scharf“

voneinander getrennt sind. Sie bestätigen aber auch, die im

Rahmen der Vernunftfaktumstheorie behauptete

Irrtumsimmunität der „gemeinen Menschenvernunft“, die den

Unterschied zwischen Sittlichkeit und Selbstliebe „nicht

verfehlen kann“. Auch wenn es sich bei diesem Urteil um eine

so „offenbare[en] Wahrheit“ handelt, läßt Kant dennoch der

Demonstration eine Analyse des „Urteil[s] der gemeinen

Menschenvernunft folgen“, um ihm auf diese Weise „mehr

Deutlichkeit zu verschaffen“. Diese Analyse erstreckt sich

über die Absätze 3-8 und ergibt, daß Sittlichkeit und

Glückseligkeit hinsichtlich der folgenden fünf Merkmale

unterschieden werden:

(i) Geltungsbereich

(ii) Erkenntnisgrund

(iii) Befolgungsmöglichkeit

(iv) Evaluation

(v) Verstoßanhndung

Absatz 3-4 „Das Prinzip der Glückseligkeit - der Vernunft und Willen hat.“

(i) Geltungsbereich

Seit § 3 wissen wir, daß das „Prinzip der Glückseligkeit“

und aus der Anmerkung I des § 8, daß sogar das Prinzip der

159

„allgemeinen Glückseligkeit“ sehr wohl „ [zu] Maximen, aber

niemals […] zu Gesetzen des Willens tauglich ist“. Maximen

haben nur subjektive Gültigkeit, Gesetze sind dagegen

objektiv gültig. Deshalb sagt Kant, „die Maxime der

Selbstliebe (Klugheit) rät bloß an“, während das Gesetz der

Sittlichkeit „gebietet“. Sein Argument: Bei den Ratschlägen

der Klugheit muß „ein Objekt der Willkür der Regel […] zum

Grunde gelegt werden“. Dieses Objekt ist ein Gegenstand der

Lust. Was Lust bewirkt und durch welche Mittel sie

verwirklicht werden kann, beruht auf empirischer Erkenntnis.

Empirische Erkenntnis kann bestenfalls „generelle, aber

niemals universelle Regeln“ liefern. Genau diese Universalität

wird aber erfordert, wenn die Regel ein praktisches Gesetz

sein soll. Also lassen sich aus dem Prinzip der

Glückseligkeit im Unterschied zum Prinzip der Sittlichkeit

keine praktischen Gesetzen ableiten.

Absatz 5 „Was nach dem Prinzip - selbst ohne Weltklugheit damit umzugehen.“

(ii) Erkenntnisgrund

Kant hat die Differenz des Erkenntnisgrundes bereits

benannt: Ratschläge der Klugheit werden empirisch das

Moralgesetz a priori erkannt. Um zu wissen, wie wir unsere

verschiedenen Bedürfnisse in ein kohärentes System von

Absichten bringen können und welche Mittel wir zu ihrer

Verwirklichung zu ergreifen haben, benötigen wir

„Weltkenntnis“. Weder können wir mit Sicherheit vorhersagen,

was wir im Laufe unserer Lebensgeschichte für begehrenswert

erachten werden noch wie sich die Mittel in dem komplexen

160

kausalen Verhältnis zwischen Selbst und Welt auswirken

werden. Was „wahren dauerhaften Vorteil bringt, ist […] in

undurchdringliches Dunkel eingehüllt“. Viel Klugheit ist

erforderlich, die Regel durch „geschickte Ausnahmen […] den

Zwecken des Lebens anzupassen“. Was moralisch geboten ist, sei

dagegen „ganz leicht und ohne Bedenken einzusehen“. Kant

hatte dies an den beiden moralischen Evaluationsfällen

demonstriert. Um zu wissen was moralisch geboten ist, kommen

wir „ohne Weltklugheit“ aus, weil wir keiner empirischen

Erkenntnis bedürfen und uns das moralische Gesetz

unmittelbar und a priori bewußt ist.

Absatz 6 „Dem kategorischen Gebote - das kann er auch.“

(iii) Befolgungsmöglichkeit:

Auch hinsichtlich der Befolgungsmöglichkeit der

Handlungsvorschriften unterscheiden sich Moral und

Glückseligkeit grundlegend. Dem kategorischen Gebot des

Moralgesetzes zu entsprechen, ist „in jedes Gewalt zu aller

Zeit“. Im Gegensatz dazu ist es „nur selten“, daß wir der

„Vorschrift der Glückseligkeit“ folge leisten können. Kant

begründet diese Differenz damit, daß die Vorschriften der

Glückseligkeit im Unterschied zu den moralischen

Vorschriften nicht beim Wollen ansetzten. Wenn sie beim

Wollen ansetzten würden, würden sie uns gebieten, unsere

Glückseligkeit zu wollen. Nun ist es aber „töricht“ etwas zu

gebieten, was jeder „schon unausbleiblich von selbst will“.

Die Vorschriften der Glückseligkeit richten sich daher nicht

auf das Wollen, sondern nur auf die Mittel, die zur zur

161

Verwirklichung des vorausgesetzten Zwecks (Glückseligkeit)

führen. Nun sind aber unsere „Kräfte und das physische

Vermögen“ begrenzt und damit auch unsere Fähigkeit, alle

möglichen Objekte, die wir begehren, verwirklichen zu

können. Deshalb sagt Kant, daß die Ratschläge der Klugheit

uns Maßregeln „darreichen“, uns also lehren maßzuhalten und

unsere Ansprüche mit unseren Fähigkeiten, unser Wollen mit

unserem Können zur Deckung zu bringen. Das Moralgesetz ist

dagegen nicht durch ein bestimmtes Begehren bedingt, sondern

setzt unmittelbar beim Wollen des Handelnden an. Dieser

Ansatz ist berechtigt, weil im Unterschied zur „Vorschrift

der Glückseligkeit“ dem Moralgesetz „nicht jedermann gerne

gehorchen [will]“. Wenn Kant hier davon spricht, daß die

„Maßregeln, wie [man] dieses Gesetz befolgen könne […] nicht

gelehrt werden […] dürfen,“ so muß das „dürfen“ im Sinne von

„müssen“ gelesen werden. Es müssen keine Maßregeln gelehrt

werden, weil im moralischen Fall sich niemand beschränken

muß, sondern jeder bereits „alles das kann, was er will“.

[Gesinnungsethik-Vorwurf?]

[Aber gibt es nicht auch Maßregeln, die uns zu moralischen Menschen machen

Pädagogik, ApH??? Warum bedürfen wir überhaupt der Aufklärung und

Erziehung, wenn wir doch schon immer richtig urteilen und auch demgemäß

handeln können? Kennt Kant nicht auch empirische Maßregeln, die es

wahrscheinlicher machen, daß aus uns moralischere Menschen werden? Kant

geht es hier wohl eher darum, daß Moralität kein Zweck-Mittel-Verhältnis ist. Es

geht lediglich darum, die formal richtige Maxime zu ergreifen und nicht das

richtige Mittel zu finden???].

162

Absatz 7 „Der im Spiel verloren hat - denn ich habe meine Kasse bereichert“

(iv) Würde:

Kant will am Fall eines Menschen, der im Spiel verliert bzw.

betrügt, die evaluativen Differenzen zwischen Glückseligkeit

und Sittlichkeit aufweisen. Derjenige, der aus mangelnder

Fertigkeit im Spiel verliert, wird sich „ärgern“. Gewinnt er

dagegen das Spiel, indem er seinen Gegner betrügt und sein

Verhalten nicht am Glückseligkeitsprinzip, sondern am

Moralgesetz mißt, muß er sich selbst „verachten“ und über

sich selbst sagen, „ich bin ein Nichtswürdiger“. So

wirkungsmächtig der Begriff der „Würde“ auch gewesen ist,

diese Wirkung geht nicht auf die zweite Kritik, sondern auf

die Grundlegung zurück. In der zweiten Kritik gebraucht Kant

diesen Begriff, ohne ihn terminologisch einzuführen. In der

Grundlegung heißt es:Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Waseinen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalentgesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin keinÄquivalent verstattet, das hat eine Würde. Was sich auf die allgemeinenmenschlichen Neigungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis;das, was, auch ohne ein Bedürfniß vorauszusetzen, einem gewissenGeschmacke, d.i. einem Wohlgefallen am bloßen zwecklosen Spiel unsererGemüthskräfte, gemäß ist, einen Affektionspreis; [D]as aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck ansich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d. i. einenPreis, sondern einen inneren Wert, d. i. Würde. Nun ist die Moralitätdie Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sichselbst sein kann; weil nur durch sie es möglich ist, ein gesetzgebendGlied im Reiche der Zwecke zu sein. Also ist die Sittlichkeit und dieMenschheit, sofern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würdehat.22

22 Die aussagekräftigste Stelle aus der zweiten Kritik findet sich am Beginn derMethodenlehre: „Zwar kann man nicht in Abrede sein, daß, um ein entweder nochungebildetes, oder auch verwildertes Gemüth zuerst ins Gleis des moralisch Guten zubringen, es einiger vorbereitenden Anleitungen bedürfe, es durch seinen eigenenVortheil zu locken, oder durch den Schaden zu schrecken; allein so bald diesesMaschinenwerk, dieses Gängelband nur einige Wirkung gethan hat, so muß durchaus derreine moralische Bewegungsgrund an die Seele gebracht werden, der nicht allein

163

Der Gegenbegriff von ‘Würde’ ist ‘Preis’. Eine Sache, die

einen Preis hat, hat einen relativen Wert. Wenn etwas eine

Würde hat, kommt ihm dagegen ein unbedingter oder absoluter

Wert zu, weil es nicht durch es nicht durch den Preis als

ihr Äquivalent ersetzt werden kann. Die Frage ist nun,

welche Bedingung ein Gegenstand erfüllen muß, damit ihm ein

unbedingter Wert zukommt. Kants Antwort: Moralfähigkeit. Die

Begründung: Nur durch das Sittengesetz, können wir auf der

Basis von unbedingten Zwecken handeln. Ein Vernunftwesen mit

einem Willen zu sein, heißt, sich selbst einen unbedingten

Zweck aufzuerlegen. Das Moralgesetz ist unbedingt, weil es

keine subjektiven Bedürfnisse als gegeben voraussetzt,

sondern wir es uns aus reiner Vernunft selbst auferlegen.

Damit ist die „Autonomie […] der Grund der Würde der

menschlichen und jeder vernünftigen Natur“ (GMS, 436).

Wenn Kant nun in der zweiten Kritik davon spricht, daß der

Betrüger sich als ein „Nichtswürdiger“ erfährt, so ist

folgender Sachverhalt angesprochen: Der Betrüger ordnet das

unbedingte Gebot des Moralgesetzes seinem subjektiv-

bedingten Zweck (finanzielle Bereicherung) unter. Mit demdadurch, daß er der einzige ist, welcher einen Charakter (praktische consequenteDenkungsart nach unveränderlichen Maximen) gründet, sondern auch darum, weil er denMenschen seine eigene Würde fühlen lehrt, dem Gemüthe eine ihm selbst unerwarteteKraft giebt, sich von aller sinnlichen Anhänglichkeit, so fern sie herrschend werdenwill, loszureißen und in der Unabhängigkeit seiner intelligibelen Natur und derSeelengröße, dazu er sich bestimmt sieht, für die Opfer, die er darbringt, reichlicheEntschädigung zu finden. Wir wollen also diese Eigenschaft unseres Gemüths, dieseEmpfänglichkeit eines reinen moralischen Interesse und mithin die bewegende Kraft derreinen Vorstellung der Tugend, wenn sie gehörig ans menschliche Herz gebracht wird,als die mächtigste und, wenn es auf die Dauer und Pünktlichkeit in Befolgungmoralischer Maximen ankommt, einzige Triebfeder zum Guten durch Beobachtungen, dieein jeder anstellen kann, beweisen; wobei doch zugleich erinnert werden muß, daß,wenn diese Beobachtungen nur die Wirklichkeit eines solchen Gefühls, nicht aberdadurch zu Stande gebrachte sittliche Besserung beweisen, dieses der einzigenMethode, die objectiv praktischen Gesetze der reinen Vernunft durch bloße reineVorstellung der Pflicht subjectiv praktisch zu machen, keinen Abbruch thue, gleichals ob sie eine leere Phantasterei wäre“ (KpV, V153).

164

Moralgesetz gibt er den unbedingten Wert auf und handelt so,

als lebte er in einer Welt, in der alles einen Preis hätte.

Er handelt also auf dieselbe Weise wie ein Wesen handelt,

das keine Vernunft bzw. bei dem die Vernunft nur eine

instrumentelle Funktion hat. Nun heißt eine Würde zu haben,

gerade ein autonomes Wesen zu sein, das sich selbst ein

unbedingt gebietendes Sittengesetz auferlegt. Widerspricht

man in seinem Handeln diesem Gesetz, macht man sich zu einem

„Nichtswürdige[n]“.

8. Absatz, Satz 1-5 „Endlich ist noch etwas in der Idee - verbunden werden

müßte“

(v) Verstoßahndung

Kant will nun schließlich den fundamentalen Unterschied

zwischen seinem Prinzip der Sittlichkeit und dem der

Glückseligkeit auch noch am Umgang mit Regelverstößen

sichtbar machen. Er behauptet, daß nur die „Übertretung“ des

Sittengesetzes mit der Idee der „Strafwürdigkeit“ des Täters

begleitet ist. Der Begriff der ‘Glückseligkeit’ sei dagegen

mit dem Begriff der ‘Strafe’ nicht kompatibel. Deshalb habe

ich hier in der Überschrift den neutralen Begriff der

„Verstoßahndung“ gewählt. ‘Strafe’ wird von Kant als ein

„bloßes Übel für sich selbst“ verstanden. Damit hält er die

präventiven Zwecke aus dem Strafbegriff heraus. Das Übel

wird dem Täter nicht als Prävention, sondern um der Strafe

selbst willen zugefügt. „In jeder Strafe […] muß zuerst

Gerechtigkeit sein, und diese macht das Wesentliche dieses

Begriffs aus“. Nicht Prävention sondern Vergeltung ist nach

165

Kant also das Wesen der Strafe. Dem Täter wird ein seiner

Tat äquivalentes „physisches Übel“ zugefügt weder um ihn

oder andere zu erziehen noch um andere zu schützen, sondern

allein weil er es verdient hat. Wenn man der „Strafe“ nur

eine general- oder spezialpräventive Funktion zuspricht,

dann ist im einzelnen Fall die Berechtigung der „Strafe“ von

ihrer Präventionsfähigkeit abhängig. Demnach würde Strafe,

in Fällen, in denen sie als Präventionsmaßnahme nicht

greift, ihren Sinn verlieren.

Man könnte meinen, Kant würde an dieser Stelle mit dem

Begriff der Strafe moralische und rechtliche Erwägungen

ineinanderschieben. Es sieht so aus, als wolle er hier das

„moralisch Böse“ zu einer rechtlichen Kategorie herabsetzen.

Doch dieser Eindruck täuscht. Kant weiß, daß jedem

menschlichen Richter „die eigentliche Moralität der

Handlungen (Verdienst und Schuld) […] verborgen [bleibt]“

und der Mensch daher Moralität „nicht nach völliger

Gerechtigkeit richten kann“ (KrV, B 570; vgl. KpV???). Wenn

Kant hier im moralphilosophischen Kontext von

„Gerechtigkeit“ und „Strafe“ spricht, so ist damit

vermutlich nicht ein menschlicher, sondern göttlicher

Richter gemeint, den Kant, weil er die Fähigkeit hat, die

wahren Beweggründe des Menschen zu kennen, auch den

„Herzenskündiger“ nennt (Rel???). Strafe, sagt Kant, sei ein

„physisches Übel“, das als „Folge nach Prinzipien“ mit dem

„moralisch-Bösen“ verbunden werden müßte, wenn es nicht „als

natürliche Folge mit dem moralisch-Bösen verbunden wäre“.

Wendet man den Irrealis in den Realis um, dann erhält man, daß

166

das physische Übel mit dem moralisch-Bösen als natürliche

Folge notwendig verbunden ist. Vielleicht deutet Kant hier

das Theoriestück des höchsten Guts aus der Dialektik an. Wir

müssen die Welt so denken, daß Glückseligkeit und

Glückswürdigkeit in einem proportionalen Verhältnis

zueinander stehen. Proportionalität von Glückseligkeit und

Glückswürdigkeit ist das höchste Gut. Demnach denken wir uns

die Welt so, als ob Gott die Welt so eingerichtet hat, daß

der moralisch Böse, der Unglückswürdige, durch physische

Übel als eine „natürliche Folge“ bestraft werde. Doch (und nun

kommt der von Kant intendierte Irrealis) selbst wenn die

Strafe nicht als eine natürliche Folge mit dem moralisch

bösen Handeln verbunden wäre, würde sie doch logisch nämlich

„nach Prinzipien einer sittlichen Gesetzgebung“ folgen. Kant

wird nun zeigen, warum auf der Grundlage einer

eudaimonistischen Straftheorie diese Konsequenz nicht

zutrifft.

Satz 6-7: „Wenn nun alles Verbrechen – nunmehro abgehalten wären“

Das Prinzip des eudaimonistischen Straftheoretikers ist die

Glückseligkeit. Demnach begeht ein Verbrechen, wer sich sich

ein physisches Übel (Strafe) zuzieht. Kant will nun zeigen,

daß der Eudaimonist sich einen Widerspruch einhandelt, wenn

er die folgenden beiden Sätze zugleich behaupten will:

(a) Das Verbrechen ist aufgrund intrinsischer Eigenschaften

„ohne auf die physischen Folgen in Ansehung des Täters zu

sehen, für sich strafbar“

167

(b) Der moralisch Böse hat sein Anrecht auf Glückseligkeit

(„wenigstens zum Teil“) aufgehoben.

Entweder das Verbrechen besteht darin, daß der Täter sich

durch seine Tat mit der Strafe ein physisches Übel zuzieht

oder die Tat selbst ist ein Verbrechen. Eine dritte

Möglichkeit ist ausgeschlossen. Entscheidet man sich nun für

den ersten Disjunkt??? und hält so an der eudaimonistischen

Strafauffassung fest, ergibt sich die absurde Konequenz,

„wonach die Strafe der Grund sein [würde], etwas ein

Verbrechen zu nennen […]“ und nicht andersherum wäre das

Verbrechen der Grund der Strafe (Hervorhebung J. B.). Daher

wäre es nur konsequent, so Kant weiter, wenn der

eudaimonistische Straftheoretiker für eine Abschaffung der

Strafe plädierte. Denn, so lautet sein Argument, wenn das

„Böse“ der Handlung in der Strafe liegt (die aus Kants

Perspektive dann freilich nur ein „Übel“ genannt werden

könnte), bedeutet die Abschaffung der Strafe auch die

Abschaffung des sogenannten „Bösen“. Liegt aber das Böse

nicht in der Handlung, sondern in der Strafe, wäre es

ungerecht, den „Täter“ für sein „Verbrechen“ zu bestrafen.

Auf der Grundlage des Prinzips der Selbstliebe müsse also

„Gerechtigkeit […] darin bestehen, alle Bestrafung zu

unterlassen“.

Satz 8: „Vollends aber alles Strafen – uns hiebei aufzuhalten“

Neben dieser ersten eudaimonistischen

Argumentationsstrategie, die für die Abschaffung plädiert,

erwägt Kant kurz eine zweite, die es ermöglichen soll, am

168

Prinzip der Selbstliebe und dem Begriff der Strafe zugleich

festhalten zu können. Demnach wäre „Strafen […] nur als

Maschinenwerk in der Hand einer höheren Macht anzusehen“.

Seine Funktion wäre es, den Menschen „in Tätigkeit zu

setzen“, um ihn auf diese Weise auf seine „Endabsicht (der

Glückseligkeit)“ abzurichten. Dieses Argument wird mit der

kurzen Bemerkung zurückgewiesen, daß es einen die „Freiheit

[des Willens] aufhebende[n] Mechanism“ voraussetze. Die

Freiheit des Willens ist jedoch – so läßt sich Kants

Argument ausführen – die Voraussetzung nicht nur für die

Moralfähigkeit, sondern auch dafür, daß wir überhaupt

sinnvoll von „Strafen“ sprechen können. Denn Strafe als

„Übel für sich selbst“ setzt voraus, daß der Täter ein

Normenbewußtsein hatte und sich auch dementsprechend hätte

verhalten können. Ist nun aber ein „Strafen“ notwendig, um

das Verhalten des Menschen so zu konditionieren, daß es die

Glückseligkeit fördert, dann löst sich der Strafbegriff in

einen Sanktions- oder Maßregelbegriff auf. Ganz in Kants

Sinne unterscheiden wir deshalb auch auch zwischen einem

Maßregelrecht und einem Strafrecht. [Machte man diese

Unterscheidung auch zu Kants Zeiten??? Welche historischen Positionen hat Kant

hier im Kopf??? Schulz???].

9. Absatz, Satz 1 „Feiner noch – nach eigener Glückseligkeit aussetzen“

Damit ist die Analyse des moralischen Urteils abgeschlossen.

Kant kommt nun noch auf einen weitern Aspekt des

Unterschiedes zwischen Glückseligkeit und Moral zu sprechen,

der nicht unmittelbar das Urteil betrifft: das moralische

169

Gefühl. Genauer geht es ihm um jene Ethiken, die versucht

haben, das moralisch Gute durch ein spezifisch moralisches

Gefühl zu bestimmen. Demnach sei das „Bewußtsein der Tugend

unmittelbar mit Zufriedenheit und Vergenügen, das des

Lasters aber mit Seelenunruhe und Schmerz“ verbunden sei.

Folgt man dieser Theorie, dann sind die moralisch gute

Handlung und die Handlung, die zur Glückseligkeit führt,

identisch.

Satz 2-6 „Ohne das hieher zu ziehen - Vorstellung machen zu können“

Kant will nun die „Täuschung“ aufdecken, die diesem Ansatz

zu Grunde liegt: Wenn man behauptet, daß derjenige der

moralisch gut oder böse handelt, notwendig vom Gefühl der

Zufriedenheit „ergötzt“ bzw. von der „Gemütsunruhe geplagt“

sei, dann muß dem Handelnden „schon zum voraus […] in

einigem Grade moralisch gut [sein]“. Hätte der Handelnde

nicht im Voraus bereits ein Bewußtsein dessen, was moralisch

geboten ist, könnte er jene Gefühle gar nicht haben. Sie

können daher nicht als Primär, sondern müssen als

abgeleitete Modi verstanden werden. Deshalb folgert Kant,

daß „der Begriff der Moralität und Pflicht vor aller

Rücksicht auf […] Zufriedenheit vorhergehen und […] von

dieser gar nicht abgeleitet werden [kann]“. Kant scheidet

damit das moralische Gefühl als Erkenntnisgrund der

moralischen Verpflichtung aus. Wir fühlen sie nicht „vor der

Erkenntnis der Verbindlichkeit [und können sie nicht] zum

Grunde der letzteren machen“.

170

Satz 7 „Daß übrigens - zu gründen und zu kultivieren“

Auch wenn das Gefühl der Selbstzufriedenheit nicht

konstitutiv für moralische Verpflichtung ist, spricht Kant

ihm seine Funktion in der Moral nicht gänzlich ab. Vielmehr

bewirkt die „öftere Ausübung“ von Handlungen, die dem

Moralgesetz entsprechen tatsächlich ein „Gefühl der

Zufriedenheit“, welches Kant später „Selbstzufriedenheit“

nennt (KpV, V 117 (A 212)). Und als Resultat der moralisch

guten Handlung „gehört es selbst zur Pflicht, dieses Gefühl

„zu gründen und zu kultivieren“.

Satz 8 „aber der Begriff der Pflicht - Neigungen setzen würde“

Nach diesem Einschub über den systematischen Ort und die

eigentliche Funktion des moralischen Gefühls, kehrt Kant zu

seinem eigentlichen Beweisziel zurück und präsentiert ein

weiteres Argument dafür, warum das moralische Gefühl als ein

Derivat verstanden werden muß: Wäre es kein Derivat „müßten

wir uns ein Gefühl eines Gesetzes als eines solchen denken,

und das zum Gegenstande der Empfindung machen, was nur durch

Vernunft gedacht werden kann“. In diesem Gedanken wähnt Kant

einen „platte[en] Widerspruch“, weil der Begriff des

‚Gesetzes’ Universalität impliziert. Nur die Vernunft kann

Universalität denken. Gefühle haben dagegen immer etwas

Partikulares als ihren Gegenstand. Insofern besteht in dem

zusammengesetzten Begriff ‚Gefühl eines Gesetzes’ ein

Selbstwiderspruch. Kant behauptet nun, ohne ein Argument

auszuarbeiten, daß sich dieser Widerspruch nur vermeiden

lasse, indem man den „Begriff der Pflicht ganz aufheb[t]“.

171

Er würde vermutlich so argumentieren: ‘Pflicht’ impliziert

einem universellen und uneingeschränkt gebietenden

praktischen Gesetz unterworfen zu sein. Auf der Basis eines

Gefühls läßt sich dieses Gesetz nicht rechtfertigen. Deshalb

muß eine Ethik, die den Primat des moralischen Gefühls

vertritt auch zugleich den Begriff der Pflicht aufgeben. Was

also wäre, wenn diese Ethik auf den Begriff der ‚Pflicht’

verzichtete? Kant erwägt diese Möglichkeit einer

naturalisierten Ethik. Pflicht würde so sagt Kant durch ein

„mechanisches Spiel, feinerer, mit den gröberen […]

Neigungen“ ersetzt werden, weil diese Gefühle unmittelbar in

uns auftreten. Moral wäre damit nicht mehr eine Sache

vernünftigen Urteilens, sondern von Reiz und Reaktion.

10. Absatz „Wenn wir nun unseren formalen obersten Grundsatz -

Im gesamten „Ersten Haupstück“ geht es Kant darum, den

kategorialen Unterschied von Moral und Glückseligkeit zu

erklären. Moralische Sollensansprüche lassen sich nur auf

der Grundlage eines formalen und nicht etwa materialen

Prinzips rechtfertigen. Kant geht nun dazu über seine

allgemeine Rede von materialen Prinzipien zu differenzieren,

indem er eine Taxonomie der „praktische[n] materialen

Bestimmungsgründe“ entwickelt. Die schematische Darstellung

soll dem Leser unmittelbar vor Augen führen, daß die

bestehenden Moraltheorien „alle mögliche andere Fälle, außer

einen einzigen formalen, erschöpft [haben]“. Kant hält es

daher auch für unmöglich auf dem Feld der materialen Ethik

durch eine weitere Binnendifferenzierung eine Moraltheorie

172

zu rechtfertigen, die mit kategorischen Ansprüchen auftritt.

Das Schema ist erschöpfend, weil die Bestimmungsgründe des

Willens nur entweder „subjektiv“ („empirisch“) oder

„objektiv“ („rational“) sein können und damit das ganze

Spektrum erfaßt ist. Die objektiven und subjektiven

Bestimmungsgründe unterteilen sich dann jeweils noch einmal

in „innere“ und „äußere“. Damit ergeben sich vier

unterschiedliche Klassen, denen Kant nun gemäß ihrem

moralphilosophischen Fundamentalprinzip eine bzw. zwei

philosophiehistorische Positionen zuordnet. Praktische

materiale Bestimmungsgründe sind:

I. Subjektiv 1. äußere

i. Erziehung (Montaigne), ii. bürgerliche Verfassung (Mandeville)

2. innere: iii. physisches Gefühl (Epikur), iv. moralisches Gefühl (Hutcheson)

II. Objektiv1. innere:

v. vollkommener Wille des Menschen (Wolff,Stoiker)

2. äußere: vi. vollkommener Wille Gottes (Crusius u. a.

theologische Moralisten)

173

11. Absatz, Satz 1-2 „Die auf der linken Seite stehenden - Vernunftbegriff

zu denken)“

Kant erläutert die Ansätze der traditionellen

moralphilosophischen Positionen nicht. Es bleibt bei der

schlagwortartigen Kategorisierung. Was verbirgt sich hinter

den Schlagworten? Die Vorlesungsnachschriften von Kants

Ethikvorlesung können uns hier weiterhelfen. Folgen wir

Kants Taxonomie von links nach rechts. Da sind zunächst

Moraltheorien, die den Ursprung der Moral in einem „äußeren

materialen Bestimmungsgrund“ ansetzen (Hervorhebung J. B.).

Man kann eine solche Position einen subjektiven

Externalismus nennen. Externalismus bedeutet in diesem

Zusammenhang, daß der Grund der Verbindlichkeit auf eine

Autorität außerhalb des moralisch Handelnden zurückzuführen

ist. Der Grund ist „subjektiv“, weil er nicht allgemeine,

sondern nur bedingte Gültigkeit beanspruchen kann. Kant

nennt zwei Arten des subjektiven Externalismus: Die eine

Materiale praktische

Bestimmungsgründe

Subjektive Objektive

äußere innere innere äußere

Der Erziehung(nach

Montaigne)

Der bürgerlichen Verfassung

(nach Mandeville)

Des physischen Gefühls (nach

Epikur)

Des moralischen

Gefühls (nach Hutcheson)

Der Vollkommenheit (nach Wolff und den Stoikern)

Des Willens Gottes (nach Crusius und anderen

theologischen Moralisten

174

Theorie sieht den Ursprung der Moral in der menschlichen

„Erziehung“. Damit verbindet sich nicht bloß die Behauptung,

daß wir durch die Erziehung das moralische Urteilen

erlernen. Vielmehr wird eine Gewohnheitstheorie der Moral

vertreten, wonach die historisch und kulturell bedingte

Erziehung letztlich darüber entscheidet, was moralisch

wertvoll ist. In der zweiten Kritik sowie in der

Ethikvorlesung ist der Protagonist der Gewohnheitstheorie

Montainge: „In Afrika [ist] der Diebstahl erlaubt, […] in

China [ist es] den Eltern erlaubt, ihre Kinder auf die

Straße zu werfen; die Eskimo erdrosseln sie, und in

Brasilien begraben sie sie lebendig.“ (Ethik, S. 23). Dieser

ethnologische Befund wird dann so gedeutet, daß in der Moral

keine allgemein verbindlichen, objektiven Standards zu haben

sind. Statt dessen werden durch Erziehung im jeweiligen

sozialen Kontext diese Standards herausgebildet. Es ist

unschwer zu sehen, warum diese Form der Moralbegründung aus

fundamentalistischer Perspektive letztlich in der Luft

hängt. Die frage, woher die Erzieher ihre moralischen

Wertmaßstäbe haben läßt sich offenbar nicht zirkelfrei

beantworten. Kant geht nicht auf die Details dieser

Positionen ein. Ihm genügt es, sie letztlich alle als

materiale Ethiken zu entlarven.

Die zweite Art des subjektiven Externalismus verortet den

Ursprung der Moral in der bürgerlichen Verfassung. „Die

Obrigkeit kann alle Handlungen erlauben und auch verbieten“

(Ethik, 23). Bei dieser Position, die Kant in der zweiten

Kritik Mandeville und in der Vorlesung Hobbes zuschreibt,

175

sind die moralischen Standards nicht universell, sondern nur

partikular gültig. Der Gehalt der erlassenen Gesetze beruht

auf der Willkür des Staates und ist nicht selbst wieder an

ein Vernunftprinzip gebunden. Damit wird deutlich, warum

auch das Prinzip der bürgerlichen Verfassung nicht in der

Lage ist, kategorische Verbindlichkeit zu begründen.

Der subjektive Externalismus ist eine der beiden Arten des

moralischen Subjektivismus. Die andere Art können wir den

subjektiven Internalismus nennen, weil er den Ursprung der

Moral in die „innere“ Spähre des Menschen, das Gefühl,

verlegt. Kant unterscheidet zwischen physischen und

moralischen Gefühlen. Entsprechend teilt sich auch der

subjektive Internalismus in zwei Unterarten auf. Sowohl in

der zweiten Kritik als auch in der Vorlesung ordnet Kant das

physische Gefühl Epikur und das moralische Gefühl Hutcheson

zu. In der Vorlesung hat Kant das physische Gefühl genauer

durch „Selbstliebe“ bestimmt und diese ferner in „Eitelkeit“

und „Eigennutz“ eingeteilt. Aus dem § 3 der zweiten Kritik

wissen wir, daß Kant alle materialen Prinzipien und damit auch

das moralische Gefühl auf das Prinzip der Selbstliebe

reduziert. Sind damit auch die inhaltlichen Differenzen

zwischen physischem und moralischem Gefühl hinfällig

geworden? Vermutlich nicht. Denn auch wenn physisches und

moralisches Gefühl auf dasselbe Prinzip zurückführbar sind,

muß ihre Identität nicht vollständig sein. Welche Art der

Realisierung die „Selstliebe“ annimmt, bleibt offen. Trotz

gemeinsamer Wurzel kann Kant deshalb an der Einteilung in

physisches und moralisches Gefühl festhalten. Wir können uns

176

aus Selbstliebe selbst bemitleiden („Eitelkeit“) oder auch

mit anderen mitempfinden (Moral). Aus der Sicht von Kants

formaler Ethik ist freilich ein Gefühl, das auf Selbstliebe

gründet nur dem Grad aber nicht der Art nach vom „physischen

Gefühl“ unterschieden.

Empirische (subjektiven) Bestimmungsgründe sind für die

Begründung einer Moral, die mit uneingeschränkten

Sollensansprüchen auftritt, ungeeignet. Dafür hat Kant im

Grunde in allen acht Paragraphen der zweiten Kritik

argumentiert und benötigt nun kein zusätzliches Argument

mehr. Es bleiben aber noch die „rationalen“ (objektiven)

Bestimmungsgründe. Sowohl der Begriff der ‚inneren

Vollkommenheit’ als auch ‚Gott’ (äußere Vollkommenheit),

sind beide „nur durch Vernunftbegriffe zu denken“. Deshalb

kostet es Kant im Fall der „rationalen“ Bestimmungsgründe, wie

er sie ausdrücklich nennt, weitere analytische Arbeit, um

diese Begriffe ebenfalls als material zu entlarven, sie

damit auf das Heteronomieprinzip zurückzuführen und so

schließlich als moralphilosophischen Ansatzpunkt

auszuschließen.

Wir sind damit bei der zweiten Unterart der materialen

praktischen Bestimmungsgründe angelangt. Im Fall der objektiven

Bestimmungsgründe haben wir es dem Anspruch nach mit einem

moralischen Objektivismus zu tun. Der Objektivismus versucht

die Moral aus Vernunftprinzipien zu begründen. Die

Gültigkeit der Normen ist damit weder historisch-kulturell

begrenzt noch auf den Menschen beschränkt, sondern erstreckt

sich auf alle Vernunftwesen. Ebenso wie der moralische

177

Subjektivismus teilt sich auch der Objektivismus in eine

interne und externe Art auf. Wir können also analog zur

Einteilung des Subjektivismus von einem objektiven

Internalismus und einem objektiven Externalismus sprechen.

Weil Kant sich argumentativ mit dem Objektivismus

auseinandersetzt, liefert uns der Text der zweiten Kritik

selbst hinreichende Erläuterung. Die Vorlesungsnachschrift

wird uns nun nicht mehr als Kompelement, sondern als

Kontrastfolie dienen.

Satz 3-7 „Allein der erstere Begriff - desselben werden können)“

Beiden rationalen Moralprinzipien liegt der Begriff der

Vollkommenheit zugrunde. Deshalb verschränkt Kant die

Argumentationen gegen beide rationalen Moralprinzipien

ineinander. Er beginnt mit einer Definition der

Vollkommenheitsbegriffe. Dabei schließt er den theoretischen

Begriffsanteil aus, weil nur der praktische Begriff der

Vollkommenheit auf die Willensbestimmung gerichtet ist.

Vollkommenheit im praktischen Sinne meint „die Tauglichkeit,

oder Zulänglichkeit eines Dinges zu allerlei Zwecken“. Als

innere Vollkommenheit ist sie eine „Beschaffenheit des

Menschen“, die Kant „Talent“ nennt. Als äußere

Vollkommenheit gedacht, ist sie „Vollkommenheit in Substanz,

d. i. Gott“. Schematisch läßt sich die Begriffsbestimmung

wie folgt darstellen:

178

Im Anschluß an diese Begriffsbestimmung entwickelt Kant nun

sein Argument gegen die praktischen Vollkommenheitsbegriffe

als moralphilosophische Fundamentalprinzipien: Wenn

praktische Vollkommenheit die Angemessenheit von etwas zu

einem bestimmten Zweck ist, dann muß der „Zweck […] als

Objekt […] der Willensbestimmung […] vorhergehen“. Dies gilt

nun sowohl für den Fall der inneren als auch der äußeren

Vollkommenheit. Auch wenn also das Prinzip der

Vollkommenheit rational zu sein scheint, setzt es doch einen

Zweck als empirisch gegeben voraus. Damit hat Kant sich in

eine Position gebracht, von der er den sogenannten

Rationalisten vorwerfen kann, prinzipiell nicht über die

eudaimonistischen Ethiken hinauszukommen: Insofern auch ihre

Theorie letztlich einen empirisch gegebenen Zweck an den

Anfang der Willensbestimmung stellen muß, taugen die

Begriffe der inneren und äußeren Vollkommenheit „zum

epikurischen Prinzip der Glückseligkeitslehre, niemals aber zum

reinen Vernunftprinzip der Sittenlehre und der Pflicht […].“

Kant erweist sich so gesehen mit seiner formalen Ethik als der

konsequenteste unter den Rationalisten. Er liefert mit

Vollkommenheit

theoretische(Vollständigkeit eines Dinges)

praktische (Zulänglichkeit eines Dinges zu

allerlei Zwecken)

transzendentale(Vollständigkeit eines Dinges in

seiner Art)

metaphysische(Vollständigkeit eines Dinges bloß

als Dinges überhaupt)

innerliche(als Beschaffenh. des Menschen, d. i.

Talent, Geschicklichkeit)

äußerliche(als Substanz, d.

i. Gott = Zulänglichkeit zu allen Zwecken)

179

diesem Ergebnis auch zugleich eine Bestätigung des „Lehrsatz

II“, in dem er behauptet hatte, daß alle materialen praktische

Prinzpien sich auf das Prinzip der eigenen Glückseligkeit

zurückführen lassen.

Kants eigene Ethik suchen wir innerhalb dieser Taxonomie der

materialen praktischen Bestimmungsgründe vergeblich. Sie ist

nicht etwa eine Unterart der objektiven materialen

Bestimmungsgründe, sondern liegt jenseits dieser Systematik.

In den Vorlesungen hat Kant behauptet, „das principium

morale est intellectuale internum“ (Ethik, 25). Dabei hat er

aber vermutlich noch nicht erkannt, daß das traditionelle

Moralprinzip des internalistischen Objektivismus nicht

eigentlich kategorische Verbindlichkeit rechtfertigen kann.23

In der zweiten Kritik hält er an einer Art des

internalistischen Objektivismus fest. Er erkennt jedoch, daß

der traditionelle Begriff der Vollkommenheit den

Anforderungen einer unversalistischen Ethik nicht gerecht

wird und setzt dagegen den kategorischen Imperativ als

formales Prinzip.

Es ist behauptet worden, daß sich die Taxonomie der

materialen praktischen Bestimmungsgründe in der zweiten

Kritik nicht nur gegenüber den Vorlesungsnachschriften,

sondern auch fundamental von Kants Systematik in der

Grundlegung unterscheidet. Nachdem Kant den Lehrsatz II

aufgestellt habe, demzufolge alle materialen Prinzipien

einschließlich der rationalen unter das allegmeine Prinzip

der Glückseligkeit oder Selbstliebe fallen, habe er die

Zweiteilung empirisch/rational aus der Grundlegung in der23 Verweis???

180

zweiten Kritik durch subjektiv/objektiv ersetzt (Beck, 105).

Doch bereits ein genauerer Blick in den Text zeigt, daß Kant

auch in der zweiten Kritik, wie oben bei der Kommentierung

des 10. Absatzes bereits angemerkt wurde, von den objektiven

als „rationalen“ Prinzipien spricht. Systematisch wichtiger

jedoch ist, daß die Erkenntnis aus Lehrsatz II nicht

eigentlich ein Novum ist. Schon in der Grundlegung wird

gegen den internalistischen Objektivismus (Rationalismus),

den Kant auch hier allen anderen überkommenen

moralphilosophischen Positionen vorzieht, ein Zirkelvorwurf

erhoben. Dieser Zirkel besteht kurz gesagt darin, daß der

Begriff der moralischen Vollkommenheit „die Sittlichkeit,

die er erklären soll, insgeheim vorauszusetzen nicht

vermeiden kann“ (GMS, IV 443). Auch in der Grundlegung liegt

das Problem mit dem Rationalismus also darin, daß der Zweck,

in bezug auf den die Fähigkeiten und Talente vollkommen sein

sollen, selbst nicht durch den Vernunftbegriff der

Vollkommeheit begründet werden kann. Daß dieser Zweck, wenn

er nicht durch Vernunftbegriffe bestimmt werden kann,

empirisch gegeben sein muß, ist trivial. Es ist

offensichtlich, daß Kant in der zweiten Kritik die

subjektiven (empirischen) Prinzipien noch durch eine weitere

Unterart, die äußeren Bestimmungsgründe (Erziehung,

bürgerliche Verfassung) spezifiziert hat. Ein grundsätzlicher

Unterschied zwischen der Systematik der zweiten Kritik und

der Grundlegung ist indes nicht zu erkennen.24

24 Man könnte meinen, daß Prinzip der Einteilung sei in beiden Schriften einanderes. In der Grundlegung werden die „Prinzipien der Sittlichkeit aus demangenommenen Grundbegriffe der Heteronomie“ eingeteilt. In der zweiten Kritikhingegen befaßt Kant sich mit der Einteilung aller „praktische[n] materiale[n]Bestimmungsgründe im Prinzip der Sittlichkeit“. Damit ist aber nur ein Unterschieddem Namen nicht der Sache nach benannt: Materiale praktische Bestimmungsgründe

181

Satz 7 (Fortsetzung) „so folgt erstlich - tauglich ist“

Kant zieht schließlich die Bilanz aus seiner Klassifizierung

der überkommenen Moraltheorien:

1. Die traditionellen Moraltheorien basieren alle auf

einem materialen Prinzip.

2. Die traditionellen Moraltheorien erschöpfen alle

möglichen materialen Prinzipien.

Nun hatten die Lehrsätze 2-4 bewiesen, daß alle materialen

Prinzipien für die Fundierung einer Ethik ausscheiden und

als Alternative nur ein formales Prinzip in Frage kommt.

Deshalb sagt Kant:

3. Das „formale praktische Prinzip“ ist das einzige,

„welches zum Prinzip der Sittlichkeit, sowohl in der

Beurteilung, als auch in der Anwendung […] tauglich

ist“.

Beiläufig wird hier zwischen „Beurteilung“ und „Anwendung“

unterschieden. Diese Unterscheidung ist eine Disambiguierung

des Begriffs der Willensbestimmung. Genauer sagt Kant, daß

der kategorische Imperativ das einzige Prinzip sei, das

„sowohl in der Beurteilung als auch der Anwendung auf den

menschlichen Willen, in Bestimmung desselben, tauglich ist“.

Der Begriff der Beurteilung bereitet dabei keine

Verständnisschwierigkeiten: Handeln wird auf der Grundlage

des kategorischen Imperatives beurteilt. Diese

Beurteilungsperspektive kann nicht nur der Handelnde selbst,

sondern auch ein Beobachter einnehmen. Dabei wird dann etwa

sind heteronome Bestimmungsgründe.

182

ein Prinzip des Handelns als moralisch legal oder

unmoralisch klassifiziert. ‘Anwendung’ muß vermutlich im

Sinne von ‘Ausführung’ verstanden werden. Demnach wenden wir

den kategorischen Imperativ an, wenn wir unser Handeln nach

Prinzipien ausrichten, die dadurch legitimiert sind.

Anwendung des kategorischen Imperatives impliziert also

seine Handlungswirksamkeit. Hinter der Unterscheidung

zwischen Beurteilung und Anwendung verbirgt sich vermutlich,

was Kant in seinen Vorlesungen in Anlehnung an Baumgarten

[Stellenangabe???] noch das „principium diiudicationis“ und

„principium exicutionis“ nannte. Daß der kategorische

Imperativ ein Prinzip der Beurteilung der Handlung ist, ist

offenbar. Entscheidend ist jedoch, daß er zugleich auch als

ein Prinzip der Ausführung oder Anwendung gedacht werden

muß. Dann und nur dann, wenn der kategorische Imperativ auch

die Ausführung unseres Handelns bestimmen kann und nicht

erst ein empirischer Zweck vorausgesetzt wird, sind

moralisch gute Handlungen real möglich [Stellen aus den

Vorlesungsschriften nachtragen???].

I. Von der Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft

In den §§ 1-8 liefert Kant uns ein „System der Grundsätze“

der reinen praktischen Vernunft. Er beginnt mit einer

Definition oder „Erklärung“ dessen, was praktische

Grundsätze sind (§ 1). Im Anschluß daran beweist er in den

Lehrsätzen 1-3 erstens, warum alle materialen praktischen

Prinzipien empirisch sind (§ 2) zweitens, warum sie als

183

empirische Prinzipien Prinzipien der Selbstliebe sind und

schließlich drittens, warum nur ein formales Prinzip den

Anforderungen einer kategorisch gebietenden Ethik gerecht

wird. Von diesem Ergebnis ausgehend legt Kant sich in den §§

5 und 6 zwei Aufgaben vor: Die erste Aufgabe zielt auf die

Beschaffenheit des Begehrungsvermögens, das durch ein

formales Prinzip bestimmbar ist. Die zweite Aufgabe setzt

bei der Lösung der ersten Aufgabe – ein freier Wille – an

und fragt andersherum, wie das Gesetz beschaffen sein muß,

das einen freien Willen „allein notwendig“ bestimmen kann.

Auf die Lösung – ein formales praktisches Gesetz – folgt die

Exposition dieses formalen Gesetzes in § 7. Beide Aufgaben

führen zusammen mit der Exposition des Moralgesetzes

schließlich auf die Autonomie, die Kant als Prinzip des

Moralgesetzes im vierten und letzten Lehrsatz etabliert.

Mit diesem System der Grundsätze ist das „Erste Haupstück“

allerdings noch nicht abgeschlossen. Ihm sind vielmehr noch

zwei Abschnitte angehängt, die dazu dienen, möglichen

Einwänden und Mißverständnissen vorzubeugen. Der erste

Abschnitt befaßt sich mit der Frage nach der „Deduktion der

Grundsätze der reinen praktischen Vernunft“. Mit dem zweiten

Abschnitt wendet Kant sich einer Kritik von ??? zu, der in

seiner Rezension der Grundlegung??? kritisiert hatte, Kant

würde mit dem Konzept einer Vernunftkausalität die

Prinzipien des theoretischen Vernunftgebrauchs verletzen.

Der Chronologie des Textes folgend soll hier zunächst die

Deduktionsproblematik erörtert werden.

184

In der Überschrift heißt es allgemein, „Von der Deduktion

der Grundsätze“ der praktischen Vernunft (Hervorhebung J. B.).

Im Text wird Kant dann genauer von der Deduktion des „obersten

Grundsatzes der praktischen Vernunft“ sprechen (Hervorhebung

J. B.). Damit wird die Deduktion auf das Moralgesetz

eingeschränkt. Doch weil die Grundsätze den obersten

Grundsatz, das Moralgesetz, in einem noch zu

spezifizierenden Sinn begründen, liegt in dieser Rede kein

Widerspruch. Ich werde hier der Kürze halber von der

„Deduktion des Moralgesetzes“ sprechen.25

Man muß sich zunächst fragen, was Deduktion des

Moralgesetzes überhaupt heißen kann. Die Gültigkeit der

Moralgesetzes als eines synthetischen Satzes a priori läßt sich

nicht empirisch beweisen. In der ersten Kritik hat Kant ein

zweistufiges Verfahren entwickelt, mit dem er die Gültigkeit

der nicht-empirischen Begriffe, der Kategorien des

Verstandes, nachweist. Auf der ersten Stufe, der

„metaphysischen Deduktion“, sucht er zunächst die reinen

Elemente des Denkens auf, um dann auf der zweiten Stufe, der

„transzendentalen Deduktion“, zu beweisen, daß sie für die

Konstitution der Erfahrungsgegenstände notwendig sind (KrV,

B 159).

Die transzendentale Deduktion einer Sache anzustreben

bedeutet, sich nicht mit der Frage nach dem, was der Fall

ist („quid facti“), zufrieden zu geben, vielmehr wird hier nach

der Rechtmäßigkeit des Anspruchs („quid iuris“) gefragt (KrV, B 116).

Wenn wir empirische Begriffe wie „Stein“ oder „Baum“

verwenden, können wir auf die Erfahrung rekurrieren um ihre25 Verweis auf Ludwigs Aufsatz

185

objektive Realität zu beweisen. Die objektive Realität reiner

Begriffe kann dagegen nicht durch Erfahrung bewiesen werden,

weil Erfahrung immer nur zeigen kann, wie ein Begriff durch

Reflexion auf Erfahrung erworben worden ist. Damit aber ist

über die Rechtmäßigkeit der Verwendung nichts gesagt (KrV, B

117). Empirisch läßt sich die Verwendung bloß

„illustrieren“, nicht aber auch „deduzieren“ (KrV, B 126).

Der zentrale Vorwurf, den Kant gegen die Empiristen erhebt,

lautet daher: Wer verkennt, daß reine Begriffe einen „ganz

anderen Geburtsbrief“ als Erfahrungsbegriffe haben, und dann

wie – Locke – eine empirische „Deduktion“ anstrengt und damit

die Frage nach dem Verhältnis zwischen Begrifflichem und

Sinnlichem als eine „questionem facti“ versteht, untergräbt

bereits im Ansatz die Apriorizität der Verstandesbegriffe

und damit ihre Notwendigkeit (KrV, B 119).

Es wäre also zu erwarten, daß Kant, nachdem er in den §§

1-8 die reinen Elemente des notwendig gebietenden

Handlungsgesetzes exponiert hat, nun eine transzendentale

Deduktion folgen läßt, die uns die Rechtmäßigkeit des Anspruches

versichert. Tatsächlich folgt auf jene Exposition ein

Abschnitt, der mit der Überschrift „Von der Deduktion der

Grundsätze der reinen praktischen Vernunft“ betitelt ist

(KpV, V 42 (A 72), Hervorhebung J. B.). Es wird sich jedoch

zeigen, daß Kant eine solche Deduktion nicht liefert, sie

auch explizit nicht zu liefern beabsichtigt und sogar für

unmöglich erklärt. Man könnte meinen, daß sich dies auch

bereits in der Überschrift ankündigt. Dort heißt es ja

gerade nicht „Die Deduktion der Grundsätze“, sondern

186

lediglich „Von der Deduktion der Grundsätze“ (Hervorhebung J.

B.). Mit diesem „Von“ ist ja zunächst nicht mehr gesagt, als

daß in diesem Abschnitt Gedanken zur und über eine Deduktion

der Grundsätze zu erwarten sind. Doch auch in der ersten

Kritik ist das Zweite Hauptstück mit „Von der Deduktion der

reinen Verstandesbegriffe“ überschrieben (Hervorhebung J.

B.), und wie wir wissen, hat Kant in diesem Hauptstück dann

auch die Deduktion der reinen Verstandesbegriffe

durchgeführt. Es ist sicherlich unangemessen, die

Überschrift bereits als die Ankündigung einer Deduktion zu

verstehen. Demnach würde Kant sich dann eine Inkonsistenz

einhandeln, indem er „im Widerspruch zum Titel dieses

Abschnitts [bestreitet], es könne eine Deduktion des

Grundsatzes der reinen praktischen Vernunft geben“

(Beck31995, S. 164). Ebenso verkehrt ist es aber, wie wir es

Kants Sprachgebrauch aus der ersten Kritik entnehmen können,

aus der Überschrift bereits eine Bescheidung des Kantischen

Anspruchs ableiten zu wollen.

1. Absatz, Satz 1- „Diese Analytik tut dar - zur Tat bestimmt“

Kant eröffnet diesen Abschnitt mit einer kurzen

Zusammenfassung eines der zwei zentralen Ergebnisse nicht

nur, der §§ 1-8, sondern, wie er sagt, der gesamten Analytik:

Reine Vernunft ist für sich selbst praktisch.

„[Die] Analytik tut dar, daß reine Vernunft praktisch sein, d. i. fürsich, unabhängig von allem Empirischen, den Willen bestimmen könne – unddieses zwar durch ein Faktum, worin sich reine Vernunft bei uns in derTat praktisch beweiset, nämlich Autonomie in dem Grundsatze derSittlichkeit, wodurch sie den Willen zur Tat bestimmt.“

187

Der erste Teil des Satzes reformuliert die „Folgerung“ aus

dem § 7. Der zweite Teil greift einen Gedanken wieder auf,

den Kant in der Anmerkung desselben Paragraphen ausgeführt

hat. Es bleibt allerdings unklar, welchen Anspruch er

eigentlich erhebt, denn „tut dar“ kann im Sinne eines

Beweises oder auch bloß als phänomenologischer Aufweis

gemeint sein. Es wird sich zeigen, daß ein großer Teil

[stärker???] der Argumentation dieses Abschnitts über die

Deduktion als eine Disambiguisierung des „tut dar“

verstanden werden muß. Bereits der zweite Teil des Satzes

setzt dabei an. Kant formuliert dort positiv, daß der Wille

„durch ein Faktum“, das Moralgesetz, bestimmt ist, wenn

reine Vernunft praktisch ist. Durch das Moralgesetz als

Faktum der Vernunft wird der Wille „zur Tat bestimmt“. Das

Moralgesetz bestimmt uns zur Tat, weil es ein Imperativ ist.

Wenn wir durch diesen Imperativ bestimmt werden, ist reine

Vernunft allein aus sich heraus praktisch, weil der

Imperativ kategorisch gebietet, d. h. keinen empirisch

bedingten Motivationsgrund als gegeben voraussetzt.

Kategorische Verpflichtung, dies hat Kant in den §§ 2-4

bewiesen, ist nur auf der Grundlage eines formalen Gesetzes

möglich. Ein formales Gesetz ist ein reines Vernunftgesetz.

Also ist Vernunft allein aus sich heraus praktisch, wenn sie

den Willen zur moralisch guten Handlung bestimmt.

Satz 2 „– Sie zeigt zugleich - ist anderwärts hinreichend worden“

Das zweite zentrale Ergebnis des Grundsatzkapitels ist, daß

das Faktum der Vernunft mit dem „Bewußtsein der Freiheit

188

unzertrennlich, ja mit ihm einerlei sei“. Zu diesem Ergebnis

war Kant in der Anmerkung des § 6 und im Lehrsatz IV des § 8

gelangt. In der Anmerkung des § 6 hatte Kant bewiesen, daß

erst durch den uneingeschränkten Sollensanspruch des

Moralgesetzes uns unsere absolute Freiheit bewußt wird.

Uneingeschränktes Sollen impliziert uneingeschränktes

Können, d. i. absolute oder wie Kant sie auch nennt

„transzendentale“ (nicht nur relative) Freiheit. Deshalb ist

das Moralgesetz, wie Kant in der Vorrede sagt, die „ratio

cognoscendi“, der Bewußtseinsgrund, der transzendentalen

Freiheit (Vorrede???). Kant sagt nicht, moralisch gutes

handeln und freies handeln sind vollkommen identisch. Er

sagt, das Faktum der Vernunft sei „einerlei mit dem Bewußtsein

[der Freiheit]“. Damit ist gerade nicht impliziert, daß

Handeln dann und nur dann frei ist, wenn es moralisch gut

ist. Hätte Kant dies behauptet, wäre moralisch böses Handeln

begrifflich unmöglich. Faktum der Vernunft und Freiheit sind

indes nur insofern „einerlei“, als wir uns nicht der

moralischen Verbindlichkeit bewußt werden können, ohne uns

dabei auch zugleich unseres Könnens, unserer absoluten

Freiheit bewußt zu sein.

Kant legt sich nun die Frage vor, wie dieser absolute

Freiheitsbegriff mit den Ergebnissen seiner theoretischen

Philosophie vereibar ist. Der Wille ist das Kausalvermögen

des Menschen mit dem er in der empirischen Welt wirkt und

sich „gleich anderen wirksamen Ursachen, notwendig den

Gesetzen der Kausalität unterworfen erkennt“. Durch das

Moralgesetz wird sich der Mensch nun aber nicht nur als ein

189

bedingtes Wesen, sondern als ein „Wesen an sich selbst“

bewußt, weil es nicht nur unter Voraussetzung von

Naturursachen, sondern auch durch ein formales

Vernunftprinzip handeln kann. Nun ist dieses Bewußtsein von

uns als „intelligible“ Wesen aber, wie Kant sich beeilt zu

sagen, keine „besonder[e] Anschauung“. Wäre es eine

besondere Anschauung, müßte es eine intellektuelle

Anschauung vom Übersinnlichen sein. Doch genau diese hatte

Kant in der ersten Kritik aus erkenntniskritischen Gründen

ausgeschlossen. Kant will also nur behaupten, daß wir durch

das Moralgesetz notwendig ein Bewußtsein der Freiheit haben

und das Freiheit „wenn sie uns beigelegt wird, uns in eine

intelligibele Ordnung der Dinge versetzt“ (Hervorhebung J.

B.). Der Beweis dafür, daß Freiheit „wenn sie uns beigelegt

wird, uns in eine intelligibele Ordnung versetzte – so Kant

weiter – ist anderwärts hinreichend [erbracht] worden“.

Dieses „anderwärts“ wird nicht weiter spezifiziert.

Vermutlich ist damit der „dritte Abschnitt“ der Grundlegung

angesprochen. Dort entwickelt er zunächst ein analytisches

Argument entwickelt, warum wir ein Vernunftwesen mit einem

Willen auch als frei denken müssen (GMS, IV 448).

Anschließend führt er auf der Grundlage seiner

erkenntniskritischen Differenz von Ding an sich und

Erscheinung seine Theorie der „zwei Standpunkte“ ein.

Demnach müssen wir uns sowohl als Mitglieder der

„Sinnenwelt“ als auch der „intellegibelen Welt betrachten

(GMS, IV 452). Schließlich argumentiert er dafür, daß „wenn

wir uns als frei denken“, wir uns in unserem Wirken als

190

unabhängig von aller Naturkausalität denken und uns so „als

Glieder in die Verstandeswelt [versetzen]“ (GMS, IV 453).

2. Absatz „Wenn wir nun damit - indem sie vielmehr alle Aussicht dahin

gänzlich abschnitt“

Das Erkenntnisverhältnis von Freiheit und Moralgesetz ist

der Grund, warum Kant sich nun mit einem „merkwürdige[n]

Kontrast“ zum „analytischen Teil“ der ersten Kritik befaßt. Der

„analytische Teil“ der ersten Kritik sei von „reiner sinnlicher

Anschauung“ ausgegangen. Bevor wir uns dem Kontrast im

einzelnen zuwenden, muß man sich fragen, was Kant eigentlich

meint, wenn er hier von dem „analytischen Teil“ der ersten

Kritik spricht. Die transzendentale Ästhetik, in der Kant seine

Lehre von den reinen Anschauungsformen entwickelt, gehört

zur „Transzendentalen Elementarlehre“ und nicht etwa zur

„Transzendentalen Analytik“. Es ist naheliegend, daß Kant

mit der Rede vom „analytischen Teil“ die „Transzendentale

Analytik“ meint. Dann würde er allerdings, „Transzendentale

Elementarlehre“ und „Transzendentalen Analytik“

ineinanderschieben. Eine solche „Transzendentale

Elementarlehre“ gibt es in der zweiten Kritik nicht. Schon

deshalb gibt Kants Äußerung (wo???Kritische Beleuchtung???),

er habe die Gliederung der ersten Kritik in der zweiten

Kritik umgekehrt, Rätsel auf (s. dazu oben???).

Kommen wir auf den Kontrastpunkt zwischen erster und zweiter

Kritik zurück. In der Kritik der reinen Vernunft waren die

Anschauungsformen Raum und Zeit „das erste Datum“ und haben

„Erkenntnis a priori“ in bezug auf Erfahrungsgegenstände

191

erst ermöglicht. Wenn Kant in diesem Zusammenhang von

Erkenntnis a priori spricht, ist damit synthetische Erkenntnis

a priori gemeint, weil es für analytische Erkenntnis a

priori (Begriffsanalyse) nicht der reinen Anschauungsformen

bedürfte. Kurz: Im „analytischen Teil“ der KrV waren die

Anschauungsformen Raum und Zeit die Ermöglichungsbedingungen

der synthetisch-apirorischen Grundsätze des reinen

Verstandes. Die Verknüpfung des Subjektbegriffs mit dem

Prädikatbegriff in einem synthetisch-apriorischen Satz wird

durch ein Drittes, nämlich die Anschauung legitimiert.

Deshalb sagt Kant, synthetische Grundsätze a priori können

nur in bezug „auf Gegenstände möglicher Erfahrung

stattfinden“. Zugleich hatte Kant aber auch bewiesen, daß

„über die Erfahrungsgegenstände hinaus […] der spekulativen

Vernunft alles Positive der Erkenntnis mit völligem Rechte

abgesprochen [werden muß]“. Kant betont hier „Erkenntnis“, weil

er nicht auch implizieren will, daß wir uns nicht

erfahrungstranszendente Gegenstände „denken“ können

(Hervorhebung J. B.). Der Begriff eines „Noumenon“, eines

reinen Verstandeswesens, kann widerspruchsfrei gedacht, wenn

auch nicht erkannt werden. Wir haben, wie Kant auch sagt,

keine „Aussicht“, keine Theorie dieser Gegenstände. Ein

ausgezeichneter Fall eines solchen Verstandeswesens ist der

Begriff der transzendentalen Freiheit. Er ist

erfahrungstranszendent und kann daher nicht positiv bestimmt

werden. Kant konnte aber beweisen, daß er mit den

synthetisch-apriorischen Grundsätzen widerspruchsfrei

vereinbar und also denkbar ist.

192

3. Absatz „Dagegen gibt das moralische Gesetz - erkennen läßt“

Auch das moralische Gesetz gibt uns keine „Aussicht“ auf

eine „Verstandeswelt“, eine Welt erfahrungstranszendenter

Gegenstände. Doch – und darin liegt nun der entscheidende

Unterschied zur ersten Kritik – das Moralgesetz gibt uns ein

theoretisch „unerklärliches Faktum an die Hand, das auf eine

reine Verstandeswelt Anzeige gibt, ja diese so gar positiv

bestimmt“. Durch das Moralgesetz werden wir uns bewußt, daß

wir nicht nur allein auf der Grundlage von empirisch

bedingten, sondern auch von unbedingten Vernunftgründen

handeln können. Auf diese Weise gibt das Moralgesetz eine

„Anzeige“ darauf, daß sich die Welt nicht allein auf

Erfahrungsgegenstände reduzieren läßt, sondern wir uns davon

unabhängig bestimmen können. Dieses Faktum bestimmt diese

Unabhängigkeit „positiv“, weil es ein reines Vernunftgesetz

formuliert und damit „ein Gesetz [der reinen Verstandeswelt]

erkennen läßt“. Hier deutet sich schon die Umkehr der

Argumentationsstrategie aus der Grundlegung an. Dort hatte

Kant gesagt, daß die Freiheit uns auf etwas „Drittes“

hinweist (GMS, 447). Dieses Dritte, so stellt sich heraus,

ist die Verstandeswelt (GMS, 451 f.). Hier in der KpV ist es

nun das Moralgesetz, das „auf eine reine Verstandeswelt

Anzeige gibt“.

4. Absatz „Dieses Gesetz - zu erteilen“

Nachdem Kant das Moralgesetz als ein Gesetz der

Verstandeswelt ausgezeichnet hat, bestimmt er nun das

193

Verhältnis von der Verstandeswelt zur Sinnenwelt. Dazu führt

er zunächst seinen Naturbegriff ein:

Wie man sieht umfaßt Kants Naturbegriff sowohl das Sinnliche

als auch das Übersinnliche. Das Moralgesetz soll der

„sinnlichen Natur […] die Form […] einer übersinnlichen

Natur verschaffen, ohne doch jener ihrem Mechanism Abbruch

zu tun“. Wie soll das möglich sein? Kant wird oft als Zwei-

Welten-Theoretiker verstanden. Demnach vertrete er die

Existenz zweier ontologisch distinkter Welten, einer

Sinnenwelt, in der alle Ereignisse prädeterminiert sind und

einer Verstandeswelt, in der alle Ereignisse durch

Freiheitskausalität bestimmt sind. Folgt man der gänigen

Kritik, steht Kant mit dieser Theorie vor folgendem Dilemma:

Entweder er hält an einem universellem Prädeterminismus und

absoluter Freiheit fest und kann dann nicht erklären, wie

beides in einer Welt möglich sein soll oder er hält daran

fest, daß Freiheitskausalität in der Sinnenwelt möglich ist

und muß damit den Prädeterminismus einschränken. Kant sagt

an dieser Stelle ausdrücklich, daß das Moralgesetz der

Sinnenwelt die Form der Verstandeswelt vorschreibt. Mit anderen

Natur (Existenz der Dinge unter

Gesetzen)

Sinnliche Natur von Vernunftwesen

(Existenz unter empirisch bedingten Gesetzen =

Heteronomie)

Übersinnliche Natur von Vernunftwesen

(Existenz nach Gesetzen, die von aller empirischen

Bedingung unabhängig sind = Autonomie)

194

Worten muß es also möglich sein, in der Sinnenwelt dem

Moralgesetz entsprechend zu handeln. Wir müssen die

Sinnenwelt so denken können, daß in ihr Handeln nach dem

Moralgesetz möglich ist. Das bedeutet auch, daß der

„Mechanism“ der Sinnenwelt nicht so beschaffen sein kann,

daß er grundsätzlich ein Handeln nach reinen Vernunftgründen

ausschließt. Kants epistemischer Prädeterminismus darf also

nicht so verstanden werden, daß alle Ereignisse überhaupt

prädeterminiert sind. Vielmehr können wir widerspruchsfrei

eine Kausalität aus Freiheit denken, die im Fall endlicher

Vernunftwesen Ursache der Handlungen ist. Das bedeutet auch,

daß die Rede von einem universellen Prädeterminismus

irreführend ist. Er muß vielmehr auf die Teilklasse der

Gegenstände theoretischer Erkenntnis eingeschränkt werden

(s. dazu Bojanowski 2006, Kap.???).

Hier weiter: Den Unterschied zwischen den beiden Naturen in die vorherige

Passage mit einabauen. Die Rede vom höchsten Gut erklären!

Gesetze, bei denen die Existenz der Gegenstände von der

Erkenntnis abhängt, sind praktische Gesetze. Das Moralgesetz

ist das einzige praktische Gesetz (§4,7???). Also ist das

Moralgesetz und damit die Autonomie das „Grundgesetz einer

übersinnlichen Natur und einer reinen Verstandeswelt“. Kant

greift in diesem Zusammenhang nun [Leibnitz???]

Unterscheidung von „natura archetypa“ und „natura ectypa“

auf. [Kontrastieren wie bei Leibnitz wie bei Kant???]. Die

Verstandeswelt ist eine natura arechtypa, weil sie das

Urbild enthält nach der die Sinnenwelt als natura ectypa

gestaltet oder „nachgebildet“ werden soll.

195

Um zu beweisen, daß unserem Willen tatsächlich die Idee der

Verwirklichung einer Verstandeswelt in der Sinnenwelt

zugrunde liegt, verweist Kant auf die Selbsterfahrung. Jeder

könne dies durch „Aufmerksamkeit auf sich selbst“

feststellen.

5. und 6. Absatz Satz 1-5 „Daß diese Idee - und so in allen übrigen

Fällen“

Kant gibt nun zwei Beispiele, anhand derer er zeigen möchte,

worauf wir genau aufmerksam werden, wenn wir uns bei unserer

Willensbildung selbst beobachten. Das erste Beispiel

betrifft das Lügenverbot, das zweite das Selbstmordverbot.

Er setzt bei der Maximenbildung an. Das Kriterium, woran wir

die praktische Gültigkeit der Maximen messen, ist ihre

mögliche Tauglichkeit als „allgemeines Naturgesetz“. „Natur“

muß hier in dem oben erläuterten, weiten Sinne als „Existenz

der Dinge unter Gesetzen“ verstanden werden muß. Fall der

wahren oder falschen Aussage, „nötigt“ uns das Moralgesetz

zur Wahrhaftigkeit. Denn, so Kants Argument, „Aussagen für

beweisend und dennoch als vorsätzlich unwahr gelten zu

lassen“ ist widersprüchlich und kann deshalb „nicht mit der

Allgemeinheit eines Naturgesetzes bestehen“. [Bearbeiten, WK-

Test???]

Komplizierter ist der zweite Fall. Daß es uns nicht erlaubt

ist, „willkürlich“ über das eigene Leben zu disponieren,

wird deutlich, wenn wir uns fragen, „ob sich eine Natur nach

einem Gesetze [erhalten] könne“, die es der Willkür der

Individuen überläßt, ihr Leben zu beenden. Warum stellt Kant

196

diese Frage? Wie kommt die Erhaltung der Natur überhaupt ins

Spiel? Vermutlich wäre Kants Antwort in etwa diese: Der

Gesetzesbegriff impliziert Universelle Gültigkeit. In einer

Naturordnung, in der es den Individuen prinzipiell möglich

ist, sich vollständig zu vernichten, verlöre das Moralgesetz

seine Anwendung und damit seine Gültigkeit. Das widerspricht

aber der Voraussetzung ein universelles Gesetz zu sein.

Vermutlich sagt Kant deshalb, daß niemand sich willkürlich

töten dürfe, weil damit „keine bleibende Naturordnung“

gewährleistet wäre. „[U]nd so in allen übrigen Fällen“,

setzt Kant hinzu, womit einmal mehr deutlich wird, daß er

keine Schwierigkeiten bei der Anwendung des kategorischen

Imperativs gesehen hat. [Bearbeiten, WW-Test??? Welcher Sinn von

„Natur“???]

Satz 6- „Nun ist aber in der wirklichen Natur - als reiner vernünftiger Wesen

ansehen“

Kant wird nun die objektive Realität in praktischer Hinsicht

des Begriffs einer „übersinnlichen Natur beweisen“. Dabei

gesteht er zunächst zu, daß der Mensch in der „wirklichen

Natur“ nicht immer schon „von selbst“ auf der Basis von

moralisch guten Maximen handelt. Vielmehr sind wir immer

auch von „Privatneigungen“ bestimmt. Diese Privatneigungen

sind empirisch gegeben und es läßt sich von ihnen ausgehend

eine Welt erkennen, die durch „pathologische (physische)

Gesetze“ bestimmt ist, nicht aber eine Welt, die „durch

unseren Willen nach reinen praktischen Gesetzen möglich

[ist]“.

197

Obwohl das Moralgesetz nicht wie die Neigungen empirisch

gegeben ist und sich nicht als empirisches Faktum in der

Sinnenwelt aufzeigen läßt, will Kant dennoch beweisen, daß

ihm objektive Realität, d. h. ein Inhalt, zukommt. Das

Moralgesetz, dessen wir uns unmittelbar bewußt sind,

impliziert, daß „durch unseren Willen zugleich eine

Naturordnung entspringen müßte“. Wenn also, wie Kant meint,

die übersinnliche Naturordnung tatsächlich ein „Objekt

unseres Willens, als reiner Vernünftiger Wesen“ darstellt,

dann kommt diesem Begriff „objektive Realität“ zu, nicht

objektive Realität in theoretischer sondern „in praktischer

Beziehung“. Die Frage ist also, was „objektive Realität in

praktischer Beziehung“ bedeutet?

In der Analytik der KrV nennt Kant zwei Bedingungen, die

erfüllt sein müssen, damit eine Erkenntnis „objektive

Realität“ beanspruchen kann. Zum einen muß sie „sich auf

einen Gegenstand beziehen“ und zum anderen muß dieser, auf

den sie sich bezieht, „Bedeutung und Sinn“ haben (KrV, B

194). Die objektive Realität empirischer Begriffe ist

unproblematisch, „weil wir hier jederzeit die Erfahrung bei

der Hand haben […]“ (KrV, B 116 f.). Dagegen kann den nicht-

empirischen, reinen Verstandesbegriffen ihre objektive

Realität nicht verschafft werden, indem man auf die

empirische Anschauung bezug nimmt. Denn die Notwendigkeit und

nicht etwa bloße Regelmäßigkeit, die diese Begriffe

beanspruchen, läßt sich prinzipiell nicht durch die

Erfahrung beweisen (KrV, B 123). Kants entscheidende

Einsicht in seiner theoretischen Philosophie besteht nun

198

darin, daß die objektive Realität der reinen Begriffe sich

nicht durch Objekte der empirischen Anschauung beweisen

läßt, wohl aber dadurch, daß sie überhaupt erst

Objekterkenntnis ermöglichen (KrV, B 125). Die reinen

Verstandesbegriffe sind also insofern nicht „ganz leer,

nichtig und ohne Bedeutung“ als sie Bedingungen der

Möglichkeit der Erfahrungsgegenstände überhaupt sind. Jenes

„Dritte“, das die objektive Realität des Begriffes verbürgt,

ist bei den reinen Verstandesbegriffen daher mögliche

Erfahrung (KrV, B 794, Hervorhebung Kant).

Nun kann Kant für den Begriff der übersinnlichen Natur nicht

auf wirkliche oder mögliche Erfahrung rekurrieren, um ihm

damit seine objektive Realität zu verschaffen. Was einem

Begriff in praktischer Hinsicht objektive Realität verschafft

ist vielmehr die Tatsache, daß er ein „Objekt unseres

Willens“ ist. Daß das Moralgesetz unseren Willen bestimmt,

„beweist - wie Kant oben bereits ausgeführt hat - die

gemeinste Aufmerksamkeit auf sich selbst“. Kant hatte dann

bewiesen, daß das Moralgesetz auch die Idee der

Verwirklichung einer übersinnlichen Natur impliziert. Damit

kann er nun zu Recht schließen, daß dem Begriff der

übersinnlichen Natur objektive Realität in praktischer

Hinsicht zukommt.

7. Absatz „Der Unterschied also - reine praktische Vernunft genannt werden

kann“

Kant faßt nun pointiert den Unterschied zwischen sinnlichen

und übersinnlichen Gesetzen des Willens zusammen. Bei den

199

sinnlichen Gesetzen sind „die Objekte Ursachen der

Vorstellungen“, die den Willen in seinem Wirken bestimmen.

Bei den übersinnlichen Gesetzen dagegen ist der Wille selbst

als vernunftfähiges Kausalvermögen Ursache von den Objekten.

Der Grund des Wirkens liegt in der Vernunft selbst, so daß

man mit Recht sagen kann, daß wir in diesem Fall von der

„reine[n] praktische[n] Vernunft“ bestimmt sind. Was ist

gemeint, wenn von Objekten als Ursachen bzw. Wirkungen die

Rede ist? Als Ursachen von Vorstellungen sind empirische

Objekte gemeint, wie etwa Schokolade, mit der ich in meinem

Leben irgendwann in Kontakt gekommen sein muß, um die

Vorstellung davon begehrens- oder verabschenswert zu finden.

Als das Objekt der reinen praktischen Vernunft muß hier wohl

die Verwirklichung der Idee einer übersinnlichen Natur bzw.

einer Verstandeswelt gelten. Genau sie bezeichnet Kant zuvor

ausdrücklich als „Objekt unseres Willens“.

8. Absatz „Die zwei Aufgaben also – sind sehr verschieden“

Nachdem Kant die selbstgenetische Leistung der reinen

praktischen Vernunft in bezug auf die Objektkonstitution

herausgearbeitet hat, markiert er zunächst thesenartig, den

unterschiedlichen Aufgabenbereich von theoretischer und

praktischer Philosophie, um im Folgenden dann diesen

Unterschied weiter auszuführen. Theoretische Philosophie, so

schreibt er, soll die Frage beantworten, „wie reine Vernunft

[…] a priori Objekte erkennen [kann]. In der praktischen

Philosophie dagegen ist das Problem, „wie [die reine

Vernunft] unmittelbar ein Bestimmungsgrund des Willens […]

200

sein könne“. Sowohl in der theoretischen Philosophie als

auch in der praktischen Philosophie geht es um die

Möglichkeit von Grundsätzen a priori. Nur sind sie in der

theoretischen Philosophie auf die „Erkenntnis“ und in der

praktischen auf die „Bestimmung des Willens“, das Handeln,

gerichtet.

9. Absatz „Die erste - möglich zu machen“

(i) Die Aufgabe der theoretischen Philosophie:

Die Frage, „wie reine Vernunft […] a priori Objekte erkennen

[kann] hatte Kant in der ersten Kritik dahingehend beantwortet,

daß Erkenntnis nicht über sinnliche Anschauung hinausgeht

und auch nicht-empirische Erkenntnis nur in bezug auf diese

Empirie möglich ist. Die synthetischen Grundsätze a priori,

die Kant in der ersten Kritik formuliert, können daher „nichts

weiter ausrichten, als Erfahrung […] möglich zu machen“.

10. Absatz „Die zweite - gar nicht“

(ii) Die Aufgabe der praktischen Philosophie:

In der praktischen Philosophie wird nicht die Frage nach

apriorischer Erkenntnis beantwort, vielmehr ist das Problem,

wie Kant es thesenartig formuliert hatte, „wie [die reine

Vernunft] unmittelbar ein Bestimmungsgrund des Willens […]

sein könne“. Kant erläuterte in diesem Zusammenhang auch

noch einmal genauer, was es heißt, daß ein Bestimmungsgrund

„unmittelbar“ also nicht unter Voraussetzung eines

empirischen Begehrens den Willen bestimmt. Demnach soll der

„Gedanke der Allgemeingültigkeit“ und damit eine reine

201

Vernunftvorstellung hinreichend sein, um das Objekt (die

Idee der übersinnlichen Natur) hervorzubringen (vgl. Absatz

8). Dies aber ist nichts anderes als eine nicht-empirische,

apriorische Willensbestimmung. Die Frage der zweiten Kritik

ist also, ob unsere Vernunft die Maxime unseres Willens „nur

vermittelst empirischer Vorstellung“ oder auch durch einen

„Begriff der reinen Vernunft (von der Gesetzmäßigkeit

derselben [d. i. die Maxime] überhaupt)“ bestimmen kann.

Kant schließt ausdrücklich die Frage aus, „[o]b die

Kausalität des Willens zur Wirklichkeit der Objekte

zulange“. Ob wir auch in der Lage sind, die Idee der

übersinnlichen Natur in der Sinnenwelt zu verwirklichen, ist

keine Frage der praktischen Philosophie. „Nur auf die

Willensbestimmung und den Bestimmungsgrund der Maxime

desselben, als eines freien Willens, kommt es hier an, nicht

auf den Erfolg“. Kants praktische Philosophie fragt nur

danach, „ob und wie reine Vernunft praktisch, d. i.

unmittelbar willensbestimmend, sein könne“.

Trifft Kants Theorie also der Vorwurf der Gesinnungsethik?

Ist es ausreichend, daß wir eine reine Gesinnung haben und

uns um die Konsequenzen der Handlung nicht zu bekümmern

brauchen? Entscheidend ist wohl, daß Kant hier nicht über

die Aufgaben des Handelnden spricht, sondern über die

Aufgabe einer Ethik als nicht-empirischer

Fundamentaltheorie. A priori läßt sich nur sagen, wie die

Maximen des Handelns beschaffen sein sollen. Kant ist davon

überzeugt, daß diese Art des Erfolges, die Gesetzmäßigkeit

202

der Maximen, jederzeit in der Macht des Handelnden steht.

[Bearbeiten: Wille/ Wunsch s. Höffe, KR]

Absatz 11 „In diesem Geschäfte kann sie – gar wohl verteidigen“

Bei der Frage, „ob und wie reine Vernunft praktisch […] sein

könne“ muß eine Moraltheorie „von reinen praktischen

Gesetzen und deren Wirklichkeit anfangen“. Anders als die

theoretische Philosophie fängt sie nicht mit der Anschauung,

sondern mit dem Begriff der Freiheit an. Der Begriff der

Freiheit ist der „Begriff ihres [d. i. der praktischen

Gesetze] Daseins in der intelligibelen Welt“. Denn der

Begriff der Freiheit „bedeutet nichts anderes“ als eine

intelligible Welt in der alles nach reinen praktischen

Gesetzen wirkt. Die praktischen Gesetze sind nur „in

Beziehung auf Freiheit des Willens möglich“, d. h. ???

Wenn man einen freien Willen voraussetzt, dann ist er auch

notwendig dem Moralgesetz unterworfen (Ergebnis von § 6).

Andersherum ist die Freiheit des Willens notwendig, weil das

Moralgesetz als „praktische[s] Postulat“ notwendig ist.

Wie die Freiheit möglich ist läßt sich nicht weiter

erklären. Erklären heißt etwas auf Ursachen oder Bedingungen

zurückzuführen. Freiheit im transzendentalen Sinne ist

unbedingt. Deshalb ist eine Erklärung der Freiheit als

Erstursächlichkeit prinzipiell ausgeschlossen. Was Kant aber

im Rahmen der dritten Antinomie in der ersten Kritik bewiesen hat,

ist daß sich Freiheit als Erstursächlichkeit

widerspruchsfrei denken läßt und nicht in Konflikt gerät mit

den transzendentalen Grundsätzen der Naturerfahrung.

203

12. Absatz, Satz 1 „Die Exposition - gezeigt worden“

Was Kant in bezug auf das Moralgesetz bisher geleistet hat,

bezeichnet er nun als die „Exposition des obersten

Grundsatzes“. Die Exposition liefert (i) eine inhaltliche

Bestimmung, (ii) Abgrenzung gegen andere praktische

Grundsätze. Die inhaltliche Bestimmung hatte ergeben, daß es

ein formales und apriorisches Prinzip ist. Die Abgrenzung zu

den anderen praktischen Grundsätzen besteht darin, daß sie

alle auf einem materialen Prinzip beruhen und damit

letztlich alle dem Heteronomieverdikt zum Opfer fallen

müssen.

Satz 2-5 „Mit der Deduktion - angesehen werden kann“

Nach der inhaltlichen Bestimmung und negativen Abgrenzung

könnte man nun eine „Rechtfertigung“, eine „Deduktion“ des

obersten Grundsatzes erwarten. Denn auch der Grundsatz der

Moralphilosophie ist ein „synthetische[r] Satz a priori“. In

bezug auf diese Sätze hatte Kant in der theoretischen

Philosophie verlangt, daß sie einer Rechtfertigung bedürfen,

weil dem Subjektbegriff ein Prädikat zugesprochen wird, das

nicht im Subjektbegriff bereits enthalten ist. Für

synthetische Sätze a posteriori liefert die empirische Erfahrung

einen Rechfertigungsgrund der Verknüpfung von Subjekt und

Prädikatbegriff. Die Rechtfertigung von synthetischen Sätzen

a priori gelang Kant nicht in bezug auf wirkliche, sondern

mögliche Erfahrung (s. oben???). Nur weil wir die

Erfahrungsgegenstände gemäß dieser synthetisch-apriorischen

204

Grundsätze beurteilen, können sie „als Gegenstände der

Erfahrung erkannt werden“. Die theoretischen Grundsätze sind

insofern Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung. Der nur

implizite aber entscheidende Zwischenschritt ist, daß wir

tatsächlich wahre oder falsche Erkenntnisse machen. Von

diesem Faktum geht er aus und kann von dort auf seine

Ermöglichungsbedingungen zurückschließen. Kant will nun

erklären, warum er „[e]inen solchen Gang […] mit der

Deduktion des moralischen Gesetzes nicht nehmen [kann]“:

„[Das Moralgesetz] betrifft nicht das Erkenntnis von der Beschaffenheitder Gegenstände, die der Vernunft irgend wodurch anderwärts gegebenwerden mögen, sondern ein Erkenntnis, so fern es der Grund von derExistenz der Gegenstände selbst werden kann und die Vernunft durchdieselbe Kausalität in einem vernünftigen Wesen hat, d. i. reineVernunft, die als ein unmittelbar den Willen bestimmendes Vermögenangesehen werden kann.“

In der Theorie sind uns Gegenstände gegeben, die nur

vermittels der Grundsätze des Verstandes bestimmt bzw.

erkannt werden können. Deshalb muß „alle mögliche Erfahrung

diesen Gesetzen angemessen sein […]“. Im Gegensatz dazu

werden durch das Moralgesetz keine Gegenstände erkannt, die

der Vernunft „irgend wodurch anderwärts gegeben werden“,

vielmehr ist das moralische Gesetz eine Erkenntnis, die

selbst „der Grund von der Existenz der Gegenstände“ werden

kann. Kurz: Während das theoretische Erkenntnisvermögen „für

sich selbst gar nichts erkennt“ und bei der Erkenntnis immer auf

etwas sinnlich Gegebenes angewiesen ist (KrV, B 145), bringt die

praktische Vernunft den Gegenstand, den Zweck des Willens (oder

nicht auch die Handlung???) selbsttätig hervor. Wieso wird

damit eine Deduktion unmöglich gemacht? Wenn der Grundsatz

205

auch zugleich der Gegenstand des Willens ist, sind Grundsatz

und Gegenstand nicht voneinander unterschieden. Also kann

bereits die Frage der Übereinstimmung von Gegenstand und

Grundsatz, überhaupt nicht entstehen. Zudem kann, wenn kein

Gegenstand gegeben ist, auch keine empirische Erkenntnis

entstehen, und wenn nicht das Faktum empirischer Erkenntnis

vorausgesetzt werden kann, ist es auch nicht möglich auf

deren Ermöglichungsbedingungen zurückschließen.

Absatz 13 Satz 1 „Nun ist aber - angenommen werden“

Auch wenn also die Frage von Übereinstimmung des Grundsatzes

und Gegenstand überhaupt nicht entstehen kann, kann man

dennoch nach einem Rechtfertigungsgrund für die Annahme des

reinen praktischen Vernunftvermögens selbst fragen. Welchen

Grund haben wir, praktische Erkenntnis als die Fähigkeit zu

bestimmen, „Grund von der Existenz der Gegenstände zu sein“?

Kant wird nun erklären, warum er auch in bezug auf die

Annahme dieses Grundvermögens prinzipiell eine Deduktion

schuldig bleiben muß: Die Fähikgeit „Grund von der Existenz

der Gegenstände zu sein“, ist ein „Grundvermögen“. Ein

„Grundvermögen“ ist ein Anfangspunkt dessen „Möglichkeit […]

durch nichts begriffen werden [kann]“, weil die Möglichkeit

von etwas zu begreifen, heißt, die Gründe bzw. Ursachen

anzugeben. Dennoch dürfen Grundvermögen nicht „erdichtet“

werden. Wie kann ihre Annahme gerechtfertigt werden?

Satz 2-3 „Daher kann uns - unmöglich gehalten werden kann“

206

Im theoretischen Vernunftgebrauch war es die Erfahrung, die

Kant dazu berechtigte Grundvermögen anzunehmen. „Dieses

Surrogat, statt einer Deduktion, aus Erkenntnisquellen a

priori, empirische Beweise anzuführen, ist uns hier aber in

Ansehung des reinen praktischen Vernunftvermögens auch

benommen“. Die Alternative, die Kant aufzeigt ist: (a) eine

Deduktion aus Erkenntnisquellen a priori und (b) eine

Deduktion auf der Basis von empirischen Beweisen. Meint

Kant, daß er in der KrV nicht den ersten, sondern den

zweiten Weg eingeschlagen hat? Würde das nicht gerade seiner

ausdrücklichen Position der ersten Kritik widersprechen in der

er erklärt hatte, daß die in den Verstandeskategorien

implizierte Notwendigkeit keine „empirische“, sondern nur

eine transzendentale Deduktion erlaube??? Offensichtlich ist

jedenfalls, warum Kant empirische Beweise in bezug auf die

reine praktische Vernunft nicht gelten lassen kann. Wenn

etwas durch die Erfahrung bewiesen wird, dann muß es seiner

Möglichkeit nach auch „von Erfahrungsprinzipien abhängig

sein“. Doch reine praktische Vernunft ist gerade, wie Kant

oben gezeigt hatte in der Genese ihres Gegenstandes und der

Hervorbringung der Handlung von Erfahrungsprinzipien

unabhängig. Deshalb muß ein empirischer „Beweisgrund“ in

bezug auf dieses Grundvermögen ausscheiden. Die Frage

bleibt, ob er auch in bezug auf die reine theoretische Vernunft

ausscheidet. Kant läßt das offen. Weder hebt er „rein“ noch

„praktisch“ hervor, so daß es naheliegt, daß nur beide

Begriffe zusammen hinreichend sind um eine empirische

Deduktion auszuschließen [Absätze zu „Grundvermögen“ Überarbeiten???]

207

Satz 4-5 „Auch ist das moralische Gesetz - steht dennoch für sich selbst fest“

Die Kehrseite dessen, daß uns keine Gegenstände gegeben sind,

in bezug auf die das Moralgesetz seine Gültigkeit erhalten

könnte, ist, daß der Grundsatz, das Moralgesetz, selbst

„gegeben“ ist, nicht als Gegenstand der Erfahrung, sondern

„als ein Faktum der reinen Vernunft, dessen wir uns a priori

bewußt sind und welches apodiktisch gewiß ist“. Gerade

deshalb scheidet auch eine empirische Deduktion, selbst wenn

man „auf die apodiktische Gewißheit Verzicht tun wollte“

prinzipiell aus. Kant kommt daher zu dem Schluß, daß sich

die „objektive Realität des moralischen Gesetzes durch keine

Deduktion […] bewiesen werden [kann]“ [hier noch einmal alle

Gründe zusammenfassen???]

14. Absatz „Etwas anderes aber und ganz Widersinnisches - zuerst objektive

Realität“

Nachdem Kant erklärt hat, warum eine Deduktion des

Moralgesetzes unmöglich ist, wird er statt dessen die

objektive Realität der Freiheit in praktischer Hinsicht

deduzieren. Als Deduktionsgrund dient ihm dazu nicht das

Faktum der empirischen Erkenntnis, sondern das Moralgesetz

als Faktum der reinen Vernunft. Das Moralgesetz wird damit

„selbst zum Prinzip der Deduktion eines unerforschlichen

Vermögens […], welches keine Erfahrung beweisen [kann]“.

Dieses Verfahren wird von Kant als „widersinnisch“

bezeichnet. Es ist nicht etwa „widersinnisch“, weil Kant

sich über die Widersprüchlichkeit seiner Theorie vom „Faktum

208

a priori“ im Klaren ist und daher auch seiner weiteren

Argumentation grundsätzlich mißtrauen würde (Prauss, 1983, 68 f.),

vielmehr ist dieses Verfahren den Erwartungen zuwider.

Erwarten würde man, daß Kant zuerst ein Argument für die

Freiheit als Erstursächlichkeit präsentiert, die ja gerade

die Voraussetzung für kategorische Verpflichtung ist, um dann

mit Recht darauf schließen zu können, daß wir auch

kategorischen Gesetzen unterworfen sind. Genau in dieser

Reihenfolge hatte Kant noch in der Grundlegung argumentiert.

Doch nun stellt er diese Argumentationsstrategie aus der

Grundlegung buchstäblich auf den Kopf und das Moralgesetz wir

„umgekehrt“ „selbst zum Prinzip der Deduktion“.

Weil Kant in der Grundlegung tatsächlich in dieser

naheliegenden Weise argumentiert und damit versucht hatte,

den kategorischen Imperativ zu deduzieren, ist es auch

wahrscheinlich, daß er sich auf seine eigene Deduktion aus

dem „dritten Abschnitt Grundlegung bezieht (GMS, 446-455),

wenn er hier in diesem Zusammenhang von der „vergeblich gesuchten

Deduktion des moralischen Prinzips“ spricht (Hervorhebung, J.

B.). Kant revidiert damit in der zweiten Kritik seinen Ansatz:

Glaubte er in der Grundlegung noch eine Deduktion für den

kategorischen Imperativ liefern zu müssen, argumentiert er

nun dafür, warum eine solche Deduktion prinzipiell unmöglich

ist. Hatte Kant dort zunächst für die Denkmöglichkeit der

Freiheit von dieser für die Annahme einer Verstandeswelt

argumentiert und über die Dualität von Verstandes- und

Sinnenwelt die Verbindlichkeit des Moralgesetzes bewiesen,

argumentiert er in der zweiten Kritik für die epistemische

209

Priorität des moralische Gesetzes (§ 6, Anmerkung) und macht

dieses selbst zur Deduktionsgrundlage der Freiheit.

Wie verfährt Kant nun bei dieser Deduktion? Er beginnt mit

einem Ergebnisbericht aus der ersten Kritik. Dort hatte er die

Denkmöglichkeit der Idee der Freiheit bewiesen. Anschließend

formuliert er seinen gesteigerten Anspruch, den er nun mit

seiner Deduktion in der zweiten Kritik verbindet: Es soll

„nicht bloß die Möglichkeit, sondern die Wirklichkeit [der

Freiheit]“ bewiesen werden. Dafür setzt Kant zunächst

voraus, daß das „moralische Gesetz […] ein Gesetz der

Kausalität durch Freiheit [ist]“. Kant könnte von hier aus

seine Deduktion in zwei Zügen beenden. Doch er erinnert

zunächst daran, daß die Idee einer übersinnlichen Natur eine

Natur nach Freiheitsgesetzen ist (KpV, A 74) und schließt

von dort, daß das Moralgesetz als „ein Gesetz der Kausalität

durch Freiheit“ die Bedingung der Möglichkeit einer

„übersinnlichen Natur“ ist. Anschließend zieht er eine

Analogie zwischen praktischen und theoretischen Grundsätzen:

So wie das Moralgesetz ein Gesetz der übersinnlichen Natur

ist, ist das transzendentale Kausalprinzip ein „Gesetz der

Kausalität in der sinnlichen Natur“.

Moralgesetz :: Gesetz der übersinnlichen Natur

Transzendentales Kausalprinzip :: Gesetz der sinnlichen

Natur

Moralgesetz und der Grundsatz der zweiten Analogie der Erfahrung

sind also die Kausalgesetze der übersinnlichen Natur auf der

einen Seite und sinnlichen Natur auf der anderen.

210

Erst mit dem folgenden Argument kehrt Kant zu seiner

Deduktion zurück: Das Moralgesetz „bestimmt […] das Gesetz

für eine Kausalität, deren Begriff in der [spekulativen

Philosophie] nur negativ war“. Mit diesem „Begriff“ ist der

Begriff der Freiheit gemeint, der also positiv durch das

Moralgesetz bestimmt wird. Etwas positiv bestimmen heißt

synthetisch urteilen. Synthetisch Urteilen heißt dem

Subjektbegriff einen Prädikatbegriff zuschreiben, der nicht

im Subjektbegriff bereits enthalten ist. Damit erhält der

Begriff einer „Kausalität aus Freiheit“ durch das

Moralgesetz als apodiktisch gewisses Vernunftfaktum einen

bestimmten Inhalt d. i. „objektive Realität“. Damit endet

Kants Deduktion der Freiheit. Es folgen Erläuterungen.

Absatz 15

Daß sich an diese Deduktion bloß Erläuterungen anschließen

ist keineswegs unumstritten. Bereits die Wendung „Kreditiv

des moralischen Gesetzes“ läßt nämlich offen, ob das

Moralgesetz durch etwas beglaubigt (kreditiert) wird oder es

selbst etwas anderes beglaubigt. Versteht man ihn als

genitivus obiectivus, wird die objektive Realität des Moralgesetzes

beglaubigt und zwar dadurch, daß es Prinzip der Deduktion

der Freiheit ist. Doch es wäre ein offenbarer Zirkel, wenn

zunächst aus der Faktizität des Moralgesetzes die Freiheit

deduziert würde, um anschließend aus der Wirklichkeit der

Freiheit das Moralgesetz abzuleiten. Es wäre auch nicht

gültig, daraus, daß etwas das Prinzip einer Deduktion ist,

zu folgern, daß es auch selbst ein gültiges Prinzip ist. Der

211

genitivus obiectivus brächte Kant also in erhebliche

Argumentationsprobleme.26

Der Kontext legt freilich ein ganz anderes Verständnis nahe:

Nachdem Kant zunächst erklärt hatte, daß an die Stelle der

Deduktion des Moralgesetzes die Deduktion der Freiheit tritt

und bei dieser Deduktion das Moralgesetz selbst als Faktum

den Ausgangspunkt bildet, beweist er schließlich die

Wirklichkeit der Freiheit und verschafft ihr objektive

Realität. Genau auf diesen Sachverhalt bezieht Kant sich,

wenn er jenen zweideutigen Satz mit einem

Demonstrativpronomen einleitet und erklärt, daß „[d]iese Art

von Kreditiv des moralischen Gesetzes […] statt aller

Rechtfertigung a priori völlig hinreichend [ist]“

(Hervorhebung J. B.). Nachdem er gezeigt hat, daß Freiheit

die ratio essendi, der Ermöglichungsgrund des Moralgesetzes ist

26 Dennoch hat man immer wieder den Genitiv als genitivus obiectivus verstanden wissenwollen, so als würde Kant hier einen Beglaubigungsgrund für das Moralgesetzbeibringen. Dabei wird nicht einmal die Möglichkeit einer alternativen Interpretationerwogen (Beck 31995; Gunkel 1989). Gunkel ist der Auffassung, daß sich in diesem Terminusauch eine Bescheidung des kantischen Anspruches hinsichtlich der Deduktion desKategorischen Imperatives ausspricht. Noch in der Grundlegung habe Kant seinDeduktionsverfahren an der KrV orientiert und zeigen wollen, wie ein KategorischerImperativ möglich ist. Von dieser „starken“ Deduktion habe Kant dann in der KpVAbstand genommen. Er beanspruche hier nicht mehr zu zeigen, wie der kategorischeImperativ möglich ist, sondern nur noch daß er möglich ist. Um Mißverständnissenvorzubeugen, habe Kant in bezug auf dieses „Minimalprogramm“ nicht länger von„Deduktion“, sondern nur noch von „einer Art Kreditiv“ gesprochen, die er demMoralgesetz verschafft habe. In dem Wandel der Terminologie manifestiere sich auchdie fundamentale Wende, die Kant hinsichtlich seiner Deduktionsstrategie zwischenGrundlegung und KpV vollzogen habe (Gunkel 1989, S. 179, 199 ff., 217). Dieses Mißverständniszeigt sehr deutlich, zu welchen Konsequenzen ein unangemessenes Verständnis derWendung „Kreditiv des moralischen Gesetzes“ führen kann. Beck glaubt, daß dieFreiheit das Moralgesetz beglaubigen könne, weil die Freiheit unabhängig vomMoralgesetz im theoretischen Gebrauch „beglaubigt“ worden sei (Beck 31995, S. 167).Der scheinbare Vorzug des Wortes „Beglaubigen“ ist, daß man nicht so genau weiß,welchen epistemischen Status der Freiheit hier zugebilligt wird. Kein Zweifel solltedaran bestehen, daß die erste Kritik theoretisch lediglich die widerspruchsfreieDenkmöglichkeit der Freiheit bewiesen hat. Wie sie damit selbst ein Prinzip der„Beglaubigung“ sein kann, ist nicht ersichtlich. Beck scheint hier die Problemlagemit jener der Grundlegung zu identifizieren. Doch die Besonderheit der KpV liegt geradedarin, wie Beck selbst weiß (Beck 31995, S. 165), daß Kant nicht zunächst mitmoralneutralen Argumenten die Freiheit sichert, sondern vom Vernunftfaktum auf dieWirklichkeit der Freiheit schließt.

212

und das Moralgesetz als Faktum aufgewiesen hatte, kann er

nun auf die Wirklichkeit der Freiheit schließen. Wenn Kant

vom „Kreditiv des moralischen Gesetzes“ spricht, dann

deshalb, weil es selbst als Beglaubigungsgrund für die

Freiheit dient, die nicht unmittelbar erkennbar ist. Dieses

Ergebnis vor Augen blickt er nun zurück auf das Ergebnis der

dritten Antinomie aus der ersten Kritik und will die

Komplementarität der beiden Theoriestücke beweisen.

Doch wenn Kant in jener zitierten Passage behauptet, „das

moralische Gesetz beweist seine Realität dadurch […]

genugtuend, daß es einer bloß negativ gedachten Kausalität

[…] positive Bestimmung […] hinzufügt“ (ebd., Hervorhebung

J. B.), scheint damit genau jener unverständliche

Sachverhalt ausgedrückt zu sein, daß das moralische Gesetz

seine eigene Realität beweist, indem es die Kausalität der

Freiheit positiv bestimmt. Es ist naheliegend und wäre nicht

ungewöhnlich, wenn Kant sich mit dem Possessivpronomen nicht

auf das Moralgesetz, sondern auf ein Nomen oder Pronomen im

Maskulinum oder Neutrum Singular des vorhergehenden Satzes

beziehen würde. Aber man sucht dort vergeblich nach

Ausdrücken wie „Begriff der Freiheit“ oder „Prinzip der

Freiheit“, die eine alternative Referenz zulassen würden.

Was indessen grammatikalisch geboten ist, muß nicht auch

sachlich richtig sein. Der Sache nach muß Kant sich mit

„seine“ auf „Freiheit“ beziehen, denn wie er nach einem

Kurzreferat des Ergebnisses der dritten Antinomie seine Deduktion

der Freiheit noch einmal zusammenfaßt: „Ich konnte aber

diesen Gedanken [den der Freiheit] nicht realisieren, d. i. ihn

213

nicht in Erkenntnis eines so handelnden Wesens […] verwandeln.

Diesen leeren Platz füllt nun reine praktische Vernunft,

durch […] das moralische Gesetz aus“ (KpV, V 49 (A 85)).

Genau dies ist der zentrale Gedanke jener Deduktion der

Freiheit, die sich mit Erläuterungen über drei Absätze

erstreckt (KpV, 47 ff. (A 82-86)). Es ist abwegig

anzunehmen, als könnte und würde Kant en passant noch das

Moralgesetz beglaubigen, das doch bereits vorher als „Faktum

der reinen Vernunft“ etabliert worden und selbst

Ausgangspunkt der Deduktion gewesen ist.

Es ist deshalb an dieser Stelle aus systematischen Gründen

geboten, eine Konjektur vorzunehmen und „seine“ durch „ihre“

zu ersetzen. Den Verdacht der Willkürlichkeit, der einem

solchen Vorschlag anhängt, kann man neben dem sachlichen

auch noch mit einem philologischen Argument entkräften:

In der Anmerkung zu den §§ 5 und 6, in der Kant das

Verhältnis von Moralgesetz und Freiheit diskutiert,

verwendet er ebenfalls das „falsche“ Reflexivpronomen, indem

er sich auf „Freiheit“ mit „sein“ bezieht. Hartenstein hat

an dieser Stelle zu Recht „ihr“ konjiziert (KpV, 32 (A 53)).

Ebenso wäre es sinnvoll, im Rahmen jener Deduktion der

Freiheit zu schreiben: „Denn das moralische Gesetz beweist

ihre [die Realität der Freiheit, Konjektur J. B.] Realität

[…] dadurch auch für die Kritik der spekulativen Vernunft

genugtuend, daß es einer bloß negativ gedachten Kausalität

[…] positive Bestimmung […] hinzufügt“. Kurz: Die Freiheit

wird durch das Moralgesetz beglaubigt und nicht andersherum.

214

Mit diesem Ergebnis ist man aber positiv seit der Deduktion

der Freiheit nicht weitergekommen. Kant behauptet nun

zusätzlich, daß diese Deduktion der Freiheit „statt aller

Rechtfertigung a priori völlig hinreichend“ sei. Warum? Weil

es einer in der ersten Kritik nur „gedachten“ und also nicht

inhaltlich bestimmten Kausalität „positive Bestimmung,

nämlich den Begriff einer den Willen unmittelbar […]

bestimmenden Vernunft hinzufügt“. Mit dieser „positive[n]

Bestimmung“ ist Kants Definition der Autonomie gemeint, als

die Möglichkeit aus einem reinen Vernunftgrund heraus

handlungsfähig zu sein. Der Wille, so kann man ergänzen, ist

das vernunftfähige Kausalvermögen des Menschen, das in der

empirischen Welt Wirkungen hervorbringt. Indem das

Moralgesetz als ein Gesetz der Freiheit ein Gesetz dieses

Willens ist, der Wirkungen in der empirischen Welt erzeugt,

wird die Idee der Freiheit nicht in einem „transzendenten“,

sondern „immanenten“ Sinne gebraucht. Um Mißverständnisse zu

vermeiden, setzt Kant aber hinzu, daß diese Bestimmung der

Freiheit, ihr „objektive, obgleich nur praktische Realität zu

geben vermag“ (Hervorhebung J. B.). Wäre sie theoretisch,

hätte Kant entweder (a) Freiheit als Erstursächlichkeit als

ein Prinzip der Erfahrung etablieren müssen oder (b) einen

Fall von Erstursächlichkeit in der sinnlichen Anschauung

demonstrieren müssen. Doch Freiheit ist den Bedingungen der

Möglichkeit der Erfahrung gerade zuwider und daher läßt sich

Freiheit auch prinzipiell nicht in der sinnlichen Anschauung

demonstrieren. Deshalb kann dem Begriff der Freiheit keine

objektive Realität in theoretischer Hinsicht zukommen.

215

Absatz 16, Satz 1-3 „Die Bestimmung der Kausalität - das Unbedingte

dahin zu versetzen“

Auch wenn sich die objektive Realität der Freiheit aus

theoretischer Perspektive nicht beweisen läßt, hat Kant doch

mit der Auflösung der dritten Antinomie ihre widerspruchsfreie

Denkmöglichkeit sichern können. Genau dieses Theoriestück

referiert Kant nun noch einmal in seinen wesentlichen

Grundzügen: Auch wenn es „unmöglich ist [von

Erstursächlichkeit] ein Beispiel in irgend einer Erfahrung

zu geben“, konnte Kant doch den „Gedanken“ der Freiheit

„verteidigen“. Kant macht hier von seiner Unterscheidung von

„Erkennen“ und „Denken“ Gebrauch. Erkennens setzt immer

einen Bezug auf den Gegenstand in der Anschauung voraus.

Denken dagegen „kann ich was ich will, solange ich mir nicht

widerspreche“ (KrV???). Um Freiheit widerspruchsfrei denken

zu können, setzt er seine transzendentale Differenz ein, die

ihn legitimiert Dinge als Erscheinungen und nicht als

Erscheinungen, sondern an sich selbst („Noumenon“) zu

betrachten. Auf diese Weise ist es „nicht widersprechen[d]“

die Handlungen eines Verstandeswesens mit einem Willen als

„physische bedingt […] und doch zugleich […] als physisch

unbedingt anzusehen. Auf diese Weise wird Freiheit zu einem

„regulativen Prinzip der Vernunft“, d. h., daß wir den

Menschen nicht als frei erkennen können, wir aber berechtigt

sind, sein Handeln nach diesem Prinzip zu beurteilen???

216

Satz 4-5 „Ich konnte aber diesen Gedanken - unbezweifelte Realität verschafft

wird“

Nachdem Kant dieses negative Ergebnis aus der ersten Kritik

referiert hat, wird er nun den Fortschritt der zweiten Kritik

hinsichtlich des Freiheitsbegriffs herausarbeiten: Aus

theoretischer Perspektive ist es unmöglich den Gedanken der

Freiheit zu „realisieren“, d. h. ihm einen Gehalt zu geben.

Genau „diesen leeren Platz füllt nun reine praktische

Vernunft, durch ein bestimmtes Gesetz der Kausalität in

einer intelligiblen Welt (durch Freiheit), nämlich das

moralische Gesetz aus“. Dem in theoretischer Hinsicht nur

problematischen, d. h. widerspruchsfreien aber leeren

Begriff, wird durch das apodiktisch sichere Moralgesetz

„unbezweifelte Realität“ in praktischer Hinsicht verschafft.

Satz 6-12 „Selbst den Begriff der Kausalität - oder ihr Bestimmungsgrund ist“

Kant wendet sich nun einem Einwand zu, den Pistorius in

einer Rezension an ihn herangetragen hatte: Noch in der

Analytik der ersten Kritik habe Kant die Kategorie der Kausalität

auf Erscheinungen eingeschränkt. Indem er sie in seiner

Moralphilosophie auf Nicht-Empirisches anwendet überschreite

er die von ihm selbst errichteten „Grenzen der Sinnlichkeit“

und damit die Grenzen dessen, was sich sinnvoll behaupten

läßt (Pistorius 1786, S. 110-113). Kant ist sich dieses Problems

bewußt. Wer den Begriff der Kausalität über die „gedachte[n]

Grenzen“ der Sinnlichkeit ausdehnt, müßte erklären, „wie das

logische Verhältnis des Grundes zur Folge bei einer anderen

Art von Anschauung, als die sinnliche ist, synthetisch

217

gebraucht werden könne, d. i. wie causa noumenon möglich

sei“. Als endliche Wesen verfügen wir jedoch nur über eine

sinnliche Anschauung, so daß wir den Begriff einer ‚causa

noumenon’ oder, was dasselbe ist, einer ‚Kausalität aus

Freiheit’, theoretisch prinzipiell nicht realisieren können.

Warum ist Kant dennoch legitimiert, den Kausalitätsbegriff

in Verbindung mit Freiheit zu verwenden? Kants Antwort

lautet, „weil dieser Begriff immer im Verstande auch

unabhängig von aller Anschauung, a priori angetroffen wird“.

Kant hatte in der ersten Kritik die Verstandeskategorien als

reine Verstandesbegriffe deduzieren können. Als solche haben

sie ihren Ursprung nicht in der Erfahrung, sondern gehen als

formale Prinzipien der Erfahrung voraus. Wenn nun beim

Gebrauch der Kategorie von „aller Bedingung der sinnlichen

Anschauung […] abstrahiert wird, wird also kein Objekt

bestimmt, sondern nur das Denken eines Objekts überhaupt [also

nicht ausschließlich eines empirischen Objekts; J. B.], nach

verschiedenen Modis, ausgedrückt“ (KrV, B 304). Deshalb hat der

transzendentale und nicht etwa empirische Gebrauch der

Kategorien nicht einen inhaltlich, sondern „nur der Form

nach, bestimmbaren Gegenstand“ (ebd.) und alle reinen

Verstandesbegriffe müssen ohne Anschauung leer bleiben (KrV, B

75).

Mit dem Begriff der causa noumenon soll nun nicht etwa eine

freie Handlung erkannt, sondern bloß als frei gedacht werden.

Und weil Kant den Begriff der Kausalität als reinen und nicht

etwa empirischen Begriff deduzieren konnte, ist er dazu

legitimiert, ihn nicht nur auf Erscheinungen, sondern auch

218

auf Dinge, sofern sie nicht Gegenstand der sinnlichen

Anschauung sind, auszudehnen. Damit ist Kants Deduktion der

Kausalität als eines reinen Verstandesbegriffs zugleich die

Grundlage für die Möglichkeit einer Kausalität aus Freiheit.

Wenn der Satz wahr wäre: Für alle x gilt, wenn x kausal

wirksam ist, dann ist es eine Erscheinung“, dann wäre der

Begriff einer causa noumenon selbstwidersprüchlich. Indem Kant

den Begriff der Kausalität gerade nicht als einen

Erfahrungsbegriff, sondern als einen reinen

Verstandesbegriff deduziert, ist „causa noumenon“ kein

„Unding“, sondern widerspruchfrei denkbar. Um die Idee der

Freiheit als regulatives Prinzip annehmen zu dürfen, ist

dieses Ergebnis ausreichend. Kant muß weder ihre reale

Möglichkeit noch ihre Wirklichkeit beweisen.

Es gibt sehr wohl einen Unterschied zwischen der ersten und

zweiten Kritik hinsichtlich des epistemischen Status der

Freiheit. Doch er besteht gerade nicht darin, daß Kant seine

Theorie in der zweiten Kritik nun dahingehend modifiziert, daß

der Begriff einer causa noumenon widerspruchsfrei denkbar ist.

Der entscheidende Fortschritt der zweiten Kritik auf den Kant

wiederholt hinweist ist vielmehr der, daß die Kausalität aus

Freiheit positiv bestimmt wird und auf diese Weise der

Begriff, der theoretisch leer blieb (und bleiben muß),

praktisch „durchs moralische Gesetz“ eine „Bedeutung“

erhält. Er wird also nicht durch sinnliche Anschauung

positiv bestimmt, vielmehr „in keiner anderen als

praktischen Absicht [ge]braucht“ und ist „bloß ein formaler,

aber doch wesentlicher Gedanke“.

219

II. Von dem Befugnisse der reinen Vernunft, im praktischen Gebrauche, zu

einer Erweiterung, die ihr im spekulativen für sich nicht möglich ist

1. Absatz, Satz 1-2 „An dem moralischen Prinzip - ihres Vermögens zu

vereinigen“

Mit der Frage nach der möglichen Verwendung des Begriffes

einer ‚Kausalität aus Freiheit’ am Ende des ersten

Abschnitts, ist auch der Übergang zum zweiten Abschnitt

hergestellt. Kant faßt noch einmal das zentrale Ergebnis

seiner Überlegungen zum Kausalitätsbegriff zusammen, bevor

er anschließend die Leitfrage des zweiten Abschnitts

aufwirft: Durch das moralische Gesetz wird der Begriff einer

‚Kausalität aus Freiheit’, der theoretisch nur

widerspruchsfrei „gedacht“ werden konnte, positiv bestimmt.

Damit wird „unser Erkenntnis über die Grenzen [der

Sinnenwelt] erweitert“. Genau diese Erweiterung war in der

ersten Kritik „für nichtig“ erklärt worden. Die Leitfrage

dieses zweiten Abschnitts ist nun: „Wie ist [der] praktische

Gebrauch der reinen Vernunft mit dem theoretischen eben

derselben, in Ansehung der Grenzbestimmung ihres Vermögens

zu vereinigen?“ [Frage wieder aufnehmen???]

2. Absatz, Satz 1-5 „David Hume, von dem man sagen kann - jemals

korrespondieren kann“

Um die Frage nach der Vereinbarkeit vom praktischen und

theoretischen Vernunftgebrauch zu beantworten, beginnt Kant

mit einer kurzen Zusammenfassung von David Humes

220

Kausalitätstheorie. Der Begriff der Ursache enthalte, daß

die Existenz von A notwendig auch die Existenz von B

hervorbringe: „[W]enn A gesetzt wird, […] erkenne [ich], daß

etwas davon ganz Verschiedenes, B, notwendig auch existieren

müsse.“ Es ist der Begriff der ‚Notwendigkeit’, der Hume

hier Probleme bereitet, denn – und darin kommen Hume und

Kant überein – „Notwendigkeit kann nur einer Verknüpfung

beigelegt werden, so fern sie a priori erkannt wird“. Aus

der Erfahrung kann man nur lernen, daß eine Verknüpfung

tatsächlich bestehe „aber nicht, daß sie so notwendigerweise

sei“ (Hervorhebung J. B.). Unabhängig von der Erfahrung, „a

priori“, sind für Hume synthetische Erkenntnisse unmöglich.

Von hier aus kann man die gewünschte Konklusion ziehen und

den Begriff der Ursache für sinnlos erklären: Wenn weder

empirisch noch a priori eine notwendige Verknüpfung zweier

Ereignisse erkannt werden kann, muß „der Begriff einer

Ursache selbst lügenhaft“ sein. Im Rahmen von Kants

juristischer Terminologie heißt das, daß der Begriff der

Ursache „nicht rechtmäßig erworben“ ist. Er muß für Hume

aber auch prinzipiell nicht deduzierbar bleiben, weil diesem

Begriff „gar kein Objekt jemals korrespondieren kann“.

Humes Lösung, die Kant aber nicht akzeptiert, besteht darin,

die „objektive Notwendigkeit“ in eine „subjektive

Notwendigkeit“ umzuwandeln. Demnach beruht die notwendige

Verknüpfung der Ereignisse A und B auf der wiederholten

Erfahrung, daß beide nacheinander auftreten. Diese

Verknüpfung ist notwendig, weil wir nach mehrfach

wiederholter Erfahrung derselben Aufeinanderfolge nicht anders

221

können als das Auftreten des einen Zustandes mit dem

Auftreten des anderen Zustandes zu verknüpfen. Sie ist aber

nur subjektiv, weil damit nichts über die Objekte ausgesagt

wird, sondern nur über die „Gewohnheit“ des Subjekts.

Satz 6-8 „So ward nun zuerst – fest gründet und unwiderleglich macht“

Indem Hume den Begriff der objektiven Notwendigkeit und mit

ihm den der Ursache für sinnlos hält und an ihre Stelle

„Gewohnheit“ und „subjektive Notwendigkeit“ setzt, hat er

den „Empirismus als einzige Quelle der Prinzipien eingeführt“.

Der Empirismus ist „Quelle der Prinzipien“, weil das Prinzip

der Kausalität nicht (wie bei Kant) seinen Ursprung im

Verstand, sondern in der Erfahrung hat. Dieser Empirismus

bedeutet für Kant aber auch den „härteste[n] Skeptizism

selbst in Ansehung der ganzen Naturwissenschaft“. Seine

Begründung: Wir können bei keinem Ereignis sagen, „es müsse

etwas vor ih[m] vorhergegangen sein, worauf [es] notwendig

folgte, d. i. [es] müsse eine Ursache haben […]“.

3. Absatz, Satz 1 „Die Mathematik war so lange - übergeht)“

Kant glaubt, daß der Empirismus und mit ihm der Skeptizismus

nicht bei der Naturerfahrung halt macht. In einer

Nebenbemerkung erklärt er, warum der „Empirismus in

Grundsätzen unvermeidlich auf den Skeptizim, selbst in

Ansehung der Mathematik [führt]“. Um diese Behauptung zu

beweisen, geht Kant zunächst von Humes Voraussetzung aus,

daß die Sätze der Mathematik „alle analytisch wären“ und

sich also auf den „Satz des Widerspruchs“ zurückführen

222

lassen. Kant teilt diese Voraussetzung nicht. Vielmehr ist

er davon überzeugt, daß die Sätze der Mathematik „alle

synthetisch sind“. Dabei geht man genauso wie beim

Kausalverhältnis „von […] A zu eine[m] ganz verschiedenen B“

über. Während es sich aber beim Kausalbegriff um die

Existenz von A und B handle, sind in der Mathematik bloß

„Bestimmungen“ gemeint (Hervorhebung J. B.). Dabei kann man

mit Kant etwa an den Begriff der Geraden denken, der nicht

analytisch enthält, daß die Gerade die kürzeste Linie

zwischen zwei Punkten ist. Um mit Recht diese Eigenschaft

dem Begriff der Geraden zuschreiben zu können, müssen wir

auf ein „Drittes“ nämlich die reine sinnliche Anschauung

rekurrieren. Deshalb sagt Kant, daß die Verbindung von A

(Gerade) und B (kürzeste Linie zwischen zwei Punkten) nicht

analytisch, sondern synthetisch ist. Kant argumentiert hier

nicht noch einmal eigens für den synthetischen Charakter der

Mathematik, wie er es in der ersten Kritik getan hat (KrV, B14-

17), sondern behauptet ihn nur.

Satz 2-3 „Aber endlich muß - oder zur Mathematik)“

Die Voraussetzung des synthetischen Charakters der

Mathematik, die lediglich in Klammern abgehandelt wird, ist

essentiell für seinen Beweis. Denn nur wenn man zustimmt,

daß mathematische Sätze synthetisch sind, folgt auch der

zweite entscheidende Schritt. Dafür setzt Kant zunächst

voraus, daß man den „Empirismus“ für wahr hält, und damit

Erfahrung die einzige Grundlage der Erkenntnis ist. Nun

hatte Hume gezeigt, daß in der Erfahrung die Verknüpfung

223

zweier Ereignisse nur subjektiv und nicht objektiv notwendig

ist. Dasselbe gilt damit aber auch für die synthetischen

Sätze der Mathematik, denn – so muß man Kants Argument wohl

verstehen – die „Zeugen“ würden auch im Fall der

mathematischen Sätze nur sagen können, daß sie es in der

reinen Anschauung „jederzeit auch so wahrgenommen hätten

folglich, ob es gleich eben nicht notwendig wäre, doch

fernhin, es so erwarten dürfen“. Damit aber verliert die

Mathematik ihren Anspruch auf „apodiktische Gewißheit“ und

muß sie gegen stochastische eintauschen. Kants Vorwurf ist

also in Kürze der: Hätte Hume den synthetischen Charakter

der mathematischen Sätze erkannt, dann hätte er seinen

„Skeptizismus“ auch auf die Mathematik ausdehnen müssen.

Damit würde dann der Skeptizismus „in allem wissenschaftlichen

theoretischen Gebrauche der Vernunft“ gelten (Hervorhebung

z. T. J. B.).

Satz 4 „Ob der gemeine Vernunftgebrauch – jeden selbst beurteilen lassen“

Kant unterscheidet hier ausdrücklich den

„wissenschaftlichen“ von dem „gemeinen Vernunftgebrauch“.

Damit berührt er ein Grundproblem der Kantforschung: Ist

Kants Ausgangspunkt in der ersten Kritik allein die

wissenschaftliche oder auch die alltägliche Erfahrung?

[Literatur???] Die Alternative, die Kant hier vorschwebt ist

also: „allgemeiner Skeptizims“ oder ein auf die

wissenschaftliche Erfahrung eingeschränkter besonderer

Skeptizismus. Kant läßt diese Frage unbeantwortet.

Beachtenswert ist seine Nebenbemerkung, daß ein „allgemeiner

224

Skeptizism […] nur die Gelehrten treffen würde“. In der

vorreflexiven Einstellung, so muß man Kant wohl verstehen,

läßt sich ein allgemeiner Skeptizismus gar nicht

durchhalten. Dieser entsteht überhaupt erst, wenn wir aus

den unmittelbaren Vollzügen heraustreten und eine

selbstreflexive Einstellung einnehmen. Kant behauptet also,

daß Humes Theorie dem ‚common sense’ zuwider ist und wir als

erkennende und handelnde Wesen objektiv notwendige

Verknüpfungen voraussetzen.

4. Absatz, Satz 1- „Was nun meine Bearbeitung - auf folgende Art“

Nachdem die Reichweite des Skeptizismus bestimmt worden ist,

bestätigt Kant zunächst jene berühmte Briefnotiz in der er

erklärt hat, daß es David Hume war, der ihn zuerst aus dem

dogmatischen Schlummer geweckt hat [Nachweis???]. Die erste

Kritik, heißt es hier, sei „durch jene Humische Zweifelllehre

veranlaßt“ worden. Aber sie geht doch weit über Humes

Projekt hinaus. Sie ist nicht nur mit Humes speziellen

Kausalitätsproblem und dem ihn anhängenden Skeptizismus

beschäftigt, sondern befaßt sich mit dem „ganze Feld der

reinen theoretischen Vernunft“ und befaßt sich insofern mit

der „Metaphysik überhaupt“.

Satz 2-3 „Daß Hume – Laufs der Wahrnehmungen“

Von hier aus geht Kant nun unmittelbar zu seiner Antwort auf

Hume über, die er in der ersten Kritik gegeben hat: Er gibt

Hume in zwei Punkten Recht: Erstens: Der „Begriff der Ursache“

muß in bezug auf „Dinge an sich selbst“ tatsächlich als „trüglich

225

und falsches Blendwerk“ zurückgewiesen werden. Zweitens: Der

Begriff ‚Ursache’ impliziert objektive Notwendigkeit.

Deshalb kommt ein „empirische[r] Ursprung“ dieses Begriffes

nicht in Frage.

Absatz 5, Satz 1 „Aus meinen Untersuchungen - erkennbar sind“

Nach der Aufzählung dieser beiden Gemeinsamkeiten erfolgt

nun die Abgrenzung. Diese hatte sich bereits in seinem

ersten Punkt abgezeichnet, in dem er von „Dingen an sich

selbst spricht“. Um das Problem der Kausalität zu lösen,

macht er seine transzendentalphilosophische Differenz von

Ding an sich und Erscheinung geltend: In bezug auf Dinge an

sich ist es „unmöglich […] einzusehen, wie, wenn A [als

Ursache] gesetzt wird, es widersprechend sein solle B [als

Wirkung], welches von A ganz verschieden ist, nicht zu

setzen“. Indem Kant auf einen konzeptuellen Widerspruch aus

ist [Vorsicht! Nicht nur logischer Widerspruch. Vgl. KrV „lahme Berufung auf

Prinzip des Widerspruchs. Das Kriterium ist die Möglichkeit der Erfahrung???],

zeigt er, daß es ihm darum geht, ein apriorisches Argument

zu konstruieren. Dieser Widerspruch – und das ist Kants

zentrale These – läßt sich konstruieren, wenn man den

Kausalitätsbegriff in bezug auf Erfahrungsgegenstände

(Erscheinungen) anwendet:

[Es läßt sich] doch ganz wohl denken […], daß [die Dinge] alsErscheinungen in einer Erfahrung auf gewisse Weise (z. B. in Ansehung derZeitverhältnisse) notwendig verbunden sein müssen und nicht getrenntwerden können, ohne derjenigen Verbindung zu widersprechen, vermittelsderen dieses Erfahrung möglich ist, in welcher sie Gegenstände und unsallein erkennbar sind.

226

Der Widerspruch entsteht also, wenn man voraussetzt, daß

Erfahrung nur durch eine bestimmte „Verbindung“ möglich und

Kausalität eine Art dieser Verbindung ist. Kant spricht von

dem „Zeitverhältnisse“, in dem die Erscheinungen als

Erfahrungsgegenständlichkeit verbunden sein müssen. Die Zustände A

und B dürfen nicht umkehrbar, sondern müssen als zeitlich

bestimmt gedacht werden, wenn Erfahrung vorliegen soll (erst

A, dann B). Zwei Erscheinungen sind genau dann notwendig

verbunden, wenn sie zeitlich unumkehrbar sind. Ein solches

unumkehrbares Verhältnis liegt vor, wenn die Erscheinungen

kausal verknüpft sind und also A Ursache von B ist. Weil nur

durch dieses Kausalverhältnis Erfahrung als bestimmte

Erkenntnis möglich ist, ist Kausalität Bedingung der

Möglichkeit der Erfahrung. Es wäre also ein Widerspruch,

wenn man behaupten wollte, die Erscheinung A wäre nicht mit

einer Erscheinung B notwendig verbunden, weil ‚Erscheinung’

gerade heißt, „notwendig verbunden“, zu sein??? Warum sagt

Kant: „z. B. in Ansehung des Zeitverhältnisses“ (Hervorhebung

J. B.)? Weil sich gemäß der Kategorie der Relation noch

andere relationale Verhältnisse denken lassen, in denen

Erscheinungen stehen: Die Relation der „Inhärenz und

Subsistenz (substantia et accidens)“ sowie die der „Gemeinschaft

(Wechselwirkung zwischen dem Handelnden und Leidenden)“

(KrV, B 106).

Satz 2 „Und so fand es sich auch - aus dem Grunde heben konnte“

Mit diesem Beweis hat Kant zwei Dinge erreicht: Er hat erstens

die „objektive Realität“ des Begriffs der „Ursache“

227

[Kausalität] bewiesen und konnte zweitens den Begriff der

„Ursache“ [Kausalität] als einen „Begriff a priori“

deduzieren. Objektive Realität hat der Begriff, weil er in bezug

auf „Erscheinung“ seine Anwendung hat. Er ist a priori und

nicht empirisch, weil er die „Notwendigkeit der Verknüpfung“

impliziert. Kant muß sich also bei der Deduktion des

Begriffes nicht auf „empirische Quellen“ stützen, sondern er

kann ihn aus reiner Vernunft deduzieren. Damit glaubt er dem

Empirismus und mit ihm dem Skeptizismus hinsichtlich

Naturwissenschaft und Mathematik die Grundlage entzogen zu

haben.

Absatz 6, Satz 1-3 „Aber wie wird es - bezogen werden“

Erst jetzt wendet Kant sich dem für die zweite Kritik

entscheidenden Problem zu: „[W]ie wird es mit der Anwendung

dieser Kategorie der Kausalität […] auf Dinge, die nicht

Gegenstände möglicher Erfahrung sind, sondern über dieser

Grenze hinaus liegen? Diese Frage muß Kant beantworten, wenn

er erklären will, wie er sinnvoll von einer Kausalität aus

Freiheit sprechen kann. Seine Antwort lautet:

„Aber eben dieses, daß ich gewiesen habe, es lassen sich dadurch [durchreine Verstandesbegriffe] doch Objekte denken, obgleich nicht a prioribestimmen: dieses ist es, was ihnen einen Platz im reinen Verstandegibt, von dem sie auf Objekte überhaupt (sinnliche oder nicht sinnliche)bezogen werden.“

Es lassen sich Objekte „denken“, weil es nicht

widersprüchlich ist, den Begriff der Kausalität auf Objekte

zu beziehen [Vorher scheint es, als sei es nur nicht widersprüchlich, ihn auf

Erscheinungen zu beziehen???]. Sie lassen sich nicht „a priori

bestimmen“, weil uns als sinnliche Wesen für die Bestimmung

228

des Zeitverhältnisses immer sinnliche Anschauung gegeben

werden muß. Einen „Platz im reinen Verstande“ haben sie

dennoch, weil sie Notwendigkeit implizieren. Als notwendige

Begriffe a priori können sie auf sinnliche und nicht-

sinnliche Objekte bezogen werden???

Satz 4-5 „Wenn etwas noch fehlt - enthielte“

Um nun etwas durch diese Begriffe zu erkennen, bedarf es

zusätzlich noch einer „Bedingung der Anwendung“: der

„Anschauung“. Ist keine Anschauung gegeben, kann es nicht

zur theoretischen Erkenntnis des gedachten Objektes kommen.

In der sinnlichen Anschauung sind keine übersinnlichen

Objekte gegeben. Als sinnlich anschauende Wesen können wir

daher prinzipiell keine Erkenntnis vom Übersinnlichen haben.

Den übersinnlichen Erkenntnisgegenstand nennt Kant auch

„Noumenon“ oder „Ding an sich selbst“. Auch wenn wir keine

Erkenntnis eines „Noumenon“ machen können, ist es doch

legitim, ihn vermittels der reinen Verstandesbegriffe zu

„denken“, weil er als reiner Verstandesbegriff auf Objekte

im allgemeinen („Objekte überhaupt“) und nicht etwa auf

Objekte der sinnlichen Anschauung im besonderen

eingeschränkt wurde.

Das Argument nimmt nun die entscheidende Wendung: Auch wenn

der Verstandesbegriff in bezug auf „Dinge an sich selbst“ zu

keiner theoretischen Erkenntnis fähig ist, kann er

widerspruchsfrei „zu irgend einem anderen (vielleicht dem

praktischen) Behuf einer Bestimmung zur Anwendung desselben

fähig sein“. Wenn der „Begriff der Kausalität“ – wie Hume

229

behauptet hatte – tatsächlich widersprüchlich wäre, wäre

dieser argumentative Zug verstellt. Nur weil der Begriff der

Kausalität als reiner Verstandesbegriff widerspruchsfrei

denkbar ist, besteht die Möglichkeit ihn auch im Praktischen

anzuwenden???

Absatz 7, Satz 1-3 „Um nun diese Bedingung der Anwendung - Gehör

gegeben hätte“

Kant will nun die „Bedingung der Anwendung“ des

Kausalitätsbegriffes auf Noumena herausarbeiten. Dazu stellt

er zunächst die Frage, warum der Begriff der Kausalität

nicht auf Erfahrungsgegenstände beschränkt bleiben sollte.

Antwort: weil das Moralgesetz eine Kausalität der reinen

Vernunft impliziert. Den Versuch den Kausalitätsbegriff in

der theoretischen Erkenntnis aufs Übersinnliche anzuwenden, um

damit „unser Erkenntnis von der Seite der Gründe zu

vollenden und zu begrenzen“ weist Kant dagegen zurück: Eine

„unendliche Kluft zwischen jener Grenze und dem, was wir

kennen [bliebe] unausgefüllt übrig“???

Absatz 8, Satz 1 „Außer dem Verhältnisse aber - eines Gesetzes praktisch

ist“

Nicht das Verhältnis zwischen Verstand und

Erkenntnisgegenstand, sondern das zwischen Verstand und

Begehrungsvermögen erfordert es, den Begriff der Kausalität

über Erfahrungsgegenstände auszudehnen. Es ist also keine

theoretische, sondern eine praktische Notwendigkeit, den

230

Begriff der Kausalität auch auf nicht-empirisches

auszudehnen.

Kant präzisiert seine Terminologie an dieser Stelle, indem

er sagt, es sei das Verhältnis der „Vernunft“ zum

Begehrungsvermögen, das jene Ausdehnung erforderlich macht

(Hervorhebung J. B.). Wie schon in seiner theoretischen

Philosophie hat Kant die Unterscheidung zwischen Vernunft

und Verstand auch in seiner praktischen Philosophie

sprachlich nicht immer durchgehalten. Zuweilen verwendet er

‘Vernunft’ in einem weiteren Sinne, der auch

Zweckrationalität einschließt. Andersherum verwendet er

manchmal aber auch ‘Verstand’ in einem nicht-funktionalen

Sinne. Doch auch wenn diese Unterscheidung sprachlich nicht

immer präsent ist, hat er der Sache nach immer zwischen

pragmatisch-technischer und moralischer Vernunftanwendung

unterschieden. Verwendet man Vernunft in diesem weiten

Sinne, kann man sagen: Wenn unsere Vernunft den Willen in

regulativer Funktion bestimmt, handeln wir zweckrational;

ist die Vernunft hingegen konstitutiv, schreibt sie ihm

einen moralischen Zweck vor. Allein die konstitutive

Funktion der Willensbestimmung ist für Kant ein Problem. Daß

der Wille durch zweckrationale Überlegungen bestimmt sein

kann, steht für ihn außer Frage und ist eine Tatsache der

empirischen Psychologie. Diese Art der Willensbestimmung

wird von Kant jeweils nur als Kontrastfolie zur moralischen

Willensbestimmung abgehandelt.

Satz 2-3 „Die objektive Realität - der Vernunft vollkommen rechtfertigt“

231

Nachdem der prinzipielle Unterschied von theoretischer und

praktischer Vernunftanwendung eingeführt ist, gibt Kant nun

Gründe dafür an, warum der Gedanke einer „Kausalität mit

Freiheit“ notwendig ist: Das Moralgesetz ist ein Faktum der

Vernunft (vgl.oben???). In ihm bekundet sich unser Wille als

ein vernunftfähiges Begehungsvermögen, das von allem

Empirischen unabhängig und durch einen reinen Vernunftgrund

bestimmbar ist. Ein Wille, der unabhängig vom Empirischen

und durch einen reinen Vernunftgrund bestimmbar ist, nennt

Kant einen „reinen Willen“. Die objektive Realität eines

reinen Willen ist mit dem Faktum der Vernunft, dessen wir

uns „unmittelbar“ und „apodiktisch gewiß“ sind, gesichert.

Von hier aus, kann man auf die Notwendigkeit des Gedankens

einer „Kausalität mit Freiheit“ schließen: „Im Begriffe eines Willens aber ist der Begriff der Kausalität […]enthalten, mithin in dem eines reinen Willens der Begriff einerKausalität mit Freiheit, d. i. die nicht nach Naturgesetzen bestimmbar,folglich keiner empirischen Anschauung, als Beweises seiner Realität,fähig ist, dennoch aber, in dem reinen praktischen Gesetze a priori,seine objektive Realität […] rechtfertigt“

Kurz: ‚Wille’ impliziert Kausalität und ‚reiner Wille’

Vernunftkausalität. Damit macht der Begriff eines reinen

Willens, der im Moralgesetz gedacht wird, die Annahme einer

„Kausalität mit Freiheit“ oder (was dasselbe ist) einer

„causa noumenon“ notwendig. Diese Kausalität kann man nicht

in sinnlicher Anschauung erkennen, sie hat aber durch das

Moralgesetz, das uns „unmittelbar“ und apodiktisch gewiß“

ist, einen bestimmten Inhalt und damit „objektive Realität“.

Weil nur die Kausalität eines Willens bestimmt wird, wie er

wirken soll und nicht etwa ein Fall von Freiheitskausalität in

der sinnlichen Anschauung demonstriert worden ist, ist die

232

objektive Realität einer „causa noumenon“ praktisch und nicht

theoretisch.

Satz 4 „Nun ist der Begriff - werden könne“

Kant geht nun direkt auf Pistorius’ Vorwurf ein [Rezension

einarbeiten???] und beantwortet die Frage, warum der Begriff

einer „causa noumenon“ nicht selbstwidersprüchlich ist. Eine

Selbstwidersprüchlichkeit ist naheliegend, weil man meinen

könnte, daß der Begriff der ‚Ursache’ überhaupt nur auf

Erfahrungsgegenstände bezogen werden kann und daher die

Ursächlichkeit eines Erfahrungstranszendenten Gegenstandes

unmöglich widerspruchsfrei gedacht werden kann. Doch dieser

Widerspruch, so lautet Kants Begründung, wird dadurch

vermieden:„daß der Begriff einer Ursache, als gänzlich vom reinen Verstandeentsprungen, zugleich auch seiner objektiven Realität in Ansehung derGegenstände überhaupt durch die Deduktion gesichert, dabei seinemUrsprunge nach von allen sinnlichen Bedingungen unabhängig, also fürsich auf Phänomene nicht eingeschränkt […] auf Dinge als reineVerstandeswesen allerdings angewendet werden könne“.

Es ist also legitim den Kausalitätsbegriff aufs

Übersinnliche anzuwenden, weil er als ein reiner

Verstandesbegriff deduziert worden ist. Reine

Verstandesbegriffe sind zwar Bedingungen der Möglichkeit der

Erfahrung, aber nicht aus der Erfahrung gewonnen. Vielmehr

haben sie ihren Ursprung im Verstand und können damit auf

Objekte im allgemeinen und nicht etwa nur auf die

empirischen Objekte im besonderen angewendet werden [vgl.

oben, anpassen???].

Satz 5-6 „Weil aber dieser Anwendung - machen mich befugt halte“

233

Kant schränkt nun den Anspruch ein, den er mit dem Begriff

einer causa noumenon erhebt. Weil ihm keine sinnliche

Anschauung korrespondiert, ist er ein theoretisch leerer

Begriff. Er beeilt sich aber zu sagen, daß eine theoretische

Erkenntnis auch nicht erforderlich sei. Vielmehr ist es

hinreichend, wenn er legitimiert ist „den Begriff der

Kausalität mit dem der Freiheit […] zu verbinden und damit

ein Wesen mit einem reinen Willen zu „bezeichnen“. Dazu

legitimiert ihn der „nicht empirische Ursprung des Begriffes

der Ursache“. Den „Gebrauch“, den Kant von dem Begriff einer

„causa noumenon“ macht, ist also nur „praktisch“ und nicht

theoretisch. Denn er bezieht den Begriff der ‚Kausalität aus

Freiheit’ auf das Moralgesetz und das Moralgesetz bestimmt

die „Realität“, d. h. den Inhalt dieser Kausalität.

9. Absatz „Hätte ich, mit Humen - auf Noumenen hinreichend ist“

Humes Theorie dient nun noch einmal als Kontrastfolie. Hätte

Kant wie Hume den Begriff der Kausalität im theoretischen

Vernunftgebrauch als einen „unmögliche[n] Begriff für

gänzlich unbrauchbar erklärt“, wäre er auch nicht

legitimiert gewesen ihn in praktischer Hinsicht zu

verwenden. Denn, so lautet Kants Argument, „von nichts

[läßt] sich auch kein Gebrauch machen“. Der Begriff der

Kausalität ist „nichts“, weil er widersprüchlich, ein „nihil

negativum“, ist (KrV???). Indem Kant bewiesen hat, daß der

Begriff einer „empirisch unbedingten Kausalität“

widerspruchsfrei denkbar ist und „sich auf ein unbestimmt

Objekt bezieht“, ist der Weg für eine praktische Anwendung

234

frei. Statt durch sinnliche Anschauung erhält er durch das

moralische Gesetz seine „Bedeutung“. Der Begriff einer

„empirisch unbedingten Kausalität“ hat damit „wirkliche

Anwendung, die sich in concreto in Gesinnungen oder Maximen

darstellen läßt, d. i. praktische Realität, die angegeben

werden kann“. Wir können bestimmen, wie eine Gesinnung oder

Maxime beschaffen sein muß damit sie moralisch gut ist.

Dabei setzen wir voraus, daß ein reiner Vernunftgrund

handlungswirksam wird. Die konkrete Maxime muß dann als ein

spezielles (oder konkretes) freiheitskausales Gesetz verstanden

werden, dem das Moralgesetz als allgemeines Gesetz zugrunde

liegt. Diese Bestimmung der ‚causa noumenon’ ist

ausreichend, um ihn berechtigterweise in Anspruch nehmen zu

können. Damit hat Kant sein Beweisziel erreicht. Er hat

gezeigt, warum er, wie es in der Überschrift dieses zweiten

Abschnitts heißt, „im praktischen Gebrauche [der reinen

Vernunft] zu einer Erweiterung“ legitimiert ist, „die […] im

spekulativen für sich nicht möglich ist“ (KpV, A 87).

Absatz 10 „Aber diese einmal eingeleitete –

Kausalität ist nur einer von zwölf reinen

Verstandesbegriffen. Was Kant hier exemplarisch für den

Kausalitätsbegriff bewiesen hat, das überträgt er nun in

Analogie auch auf „alle übrigen Kategorien“. Die „einmal

eingeleitete objektive Realität eines reinen

Verstandesbegriffs im Felde des Übersinnlichen […] auch

objektive, nur keine andere als bloß praktische Realität“.

Für diesen zusätzlichen Anspruch muß Kant nicht mehr

235

argumentieren. Denn was für den Kausalitätsbegriff als

reinen Verstandesbegriff gilt, das gilt auch für die übrigen

reinen Verstandesbegriffe. Wenn sie als reine

Verstandesbegriffe deduziert worden sind, können sie auf

Gegenstände überhaupt und nicht etwa nur auf Erscheinungen im

besonderen bezogen werden. Damit aber ist es analog auch bei

ihnen möglich, „so fern sie mit dem Bestimmungsgrunde des

reinen Willens in notwendiger Verbindung stehen“, ihnen

objektive Realität zuzusprechen. Auch die übrigen reinen

Verstandesbegriffe werden also im nicht-empirischen Gebrauch

immer „nur auf das Verhältnis der Vernunft zum Willen, mithin

immer nur aufs Praktische Beziehung haben“. Das gilt auch für

die Annahme „übersinnliche[r] Wesen (als Gott), die nicht zu

den Gegenständen des „Wissens“ sondern „nur zur Befugnis (in

praktischer Absicht aber gar zur Notwendigkeit), sie

anzunehmen und vorauszusetzen gezählt werden. Mit diesem

Gedanken, deutet Kant am Ende des Ersten Haupstückes den

Argumentationsverlauf der Postulatenlehre aus der Dialektik an.

236