Straßennetzwerkanalysen zur Unterstützung sozialräumlicher Untersuchungen - das Projekt CoMStaR

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Straßennetzwerkanalysen zur Unterstützung sozialräumlicher Untersuchungen – das Projekt CoMStaR Frauke ANDERS und Reinhard KÖNIG, Jens STEINHÖFEL, Hermann KÖHLER, Dominik KALISCH Zusammenfassung Stadt- und Raumplanung stehen heute aufgrund globaler Umstrukturierungen und Urbani- sierung vor der großen Herausforderung, nachhaltige Planungsstrategien anzubieten. Bishe- rige die Nachhaltigkeit fokussierende Entwicklungskonzepte wie z.B. Verdichtung, Misch- nutzungen oder Polyzentralität resultieren vornehmlich aus ökonomischen und ökologi- schen Überlegungen. Das vorliegende Forschungsvorhaben möchte unter besonderer Be- rücksichtigung der Wechselwirkungen zwischen räumlichen und sozialen Strukturen ein methodisches Instrumentarium zu Verfügung stellen, das die soziale Dimension der Nach- haltigkeit in der Planung zu berücksichtigen hilft, indem es eine Bewertung der aktuellen städtebaulichen Leitbilder hinsichtlich ihrer sozialen Nachhaltigkeit ermöglicht und darüber hinaus die Entwicklung neuartiger Planungskonzepte erlaubt. Simulationstechniken wie beispielsweise agentenbasierte Modelle und graphenbasierte Analyseverfahren sowie deren geeignete Kombination eröffnen neue Zugänge zu planungsrelevanten Fragestellungen. Unter Hinzunahme kleinräumiger empirischer Daten können Effekte der baulichen Struktur auf die räumliche Organisation der Bevölkerung und vice versa untersucht werden. Durch den Abgleich von Simulation und Empirie sollen sich schließlich theoretische Konzepte ableiten lassen, die der Bewertung bestimmter baulicher Strukturen zugrunde gelegt werden können. Diese Grundlagen könnten wiederum in eine generative Software einfließen, wel- che als Vorschlagssystem für nachhaltige stadtplanerische Entwürfe dienen soll. In diesem Beitrag wird insbesondere die graphenbasierte Analyse des Straßennetzwerkes vor dem Hintergrund einer sozialräumlichen Gliederung der Stadtstruktur beschrieben. Es werden Methoden aufgezeigt, um typische Kenngrößen eines Netzwerkes zu ermitteln und mit sozialen Daten zu korrelieren. 1 Stadtstrukturen und ihre milieuprägenden Auswirkungen 1.1 Sozial nachhaltige Stadtentwicklung Studien haben gezeigt, dass in Deutschland (und besonders in Deutschland) das soziale Umfeld, in dem ein Kind aufwächst, einen immens großen Einfluss auf die späteren Ent- wicklungsmöglichkeiten und Bildungschancen des Kindes hat. Sollte man daher nicht ver- suchen, genau dieses soziale Umfeld positiv zu gestalten? Von welchen Faktoren die Aus- prägung unterschiedlicher sozialer Milieus abhängt, ist schon oft untersucht und beschrie- ben worden (BOURDIEU 1987). Eine nachhaltige Stadtentwicklung, die auch den sozialen Faktor einbezieht, sollte daher solche Überlegungen berücksichtigen. Die Infrastruktur ist ein wesentlicher Gesichtspunkt derartiger Überlegungen. Könnte man mithilfe einer „güns-

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Straßennetzwerkanalysen zur Unterstützung

sozialräumlicher Untersuchungen – das Projekt CoMStaR

Frauke ANDERS und Reinhard KÖNIG, Jens STEINHÖFEL, Hermann KÖHLER, Dominik KALISCH

Zusammenfassung

Stadt- und Raumplanung stehen heute aufgrund globaler Umstrukturierungen und Urbani-sierung vor der großen Herausforderung, nachhaltige Planungsstrategien anzubieten. Bishe-rige die Nachhaltigkeit fokussierende Entwicklungskonzepte wie z.B. Verdichtung, Misch-nutzungen oder Polyzentralität resultieren vornehmlich aus ökonomischen und ökologi-schen Überlegungen. Das vorliegende Forschungsvorhaben möchte unter besonderer Be-rücksichtigung der Wechselwirkungen zwischen räumlichen und sozialen Strukturen ein methodisches Instrumentarium zu Verfügung stellen, das die soziale Dimension der Nach-haltigkeit in der Planung zu berücksichtigen hilft, indem es eine Bewertung der aktuellen städtebaulichen Leitbilder hinsichtlich ihrer sozialen Nachhaltigkeit ermöglicht und darüber hinaus die Entwicklung neuartiger Planungskonzepte erlaubt. Simulationstechniken wie beispielsweise agentenbasierte Modelle und graphenbasierte Analyseverfahren sowie deren geeignete Kombination eröffnen neue Zugänge zu planungsrelevanten Fragestellungen. Unter Hinzunahme kleinräumiger empirischer Daten können Effekte der baulichen Struktur auf die räumliche Organisation der Bevölkerung und vice versa untersucht werden. Durch den Abgleich von Simulation und Empirie sollen sich schließlich theoretische Konzepte ableiten lassen, die der Bewertung bestimmter baulicher Strukturen zugrunde gelegt werden können. Diese Grundlagen könnten wiederum in eine generative Software einfließen, wel-che als Vorschlagssystem für nachhaltige stadtplanerische Entwürfe dienen soll. In diesem Beitrag wird insbesondere die graphenbasierte Analyse des Straßennetzwerkes vor dem Hintergrund einer sozialräumlichen Gliederung der Stadtstruktur beschrieben. Es werden Methoden aufgezeigt, um typische Kenngrößen eines Netzwerkes zu ermitteln und mit sozialen Daten zu korrelieren.

1 Stadtstrukturen und ihre milieuprägenden Auswirkungen

1.1 Sozial nachhaltige Stadtentwicklung

Studien haben gezeigt, dass in Deutschland (und besonders in Deutschland) das soziale Umfeld, in dem ein Kind aufwächst, einen immens großen Einfluss auf die späteren Ent-wicklungsmöglichkeiten und Bildungschancen des Kindes hat. Sollte man daher nicht ver-suchen, genau dieses soziale Umfeld positiv zu gestalten? Von welchen Faktoren die Aus-prägung unterschiedlicher sozialer Milieus abhängt, ist schon oft untersucht und beschrie-ben worden (BOURDIEU 1987). Eine nachhaltige Stadtentwicklung, die auch den sozialen Faktor einbezieht, sollte daher solche Überlegungen berücksichtigen. Die Infrastruktur ist ein wesentlicher Gesichtspunkt derartiger Überlegungen. Könnte man mithilfe einer „güns-

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tigen“ Planung der Infrastruktur einer Stadt die soziale Struktur der Einwohner nachhaltig verändern, verbessern bzw. manipulieren?

1.2 Datengrundlage der sozial-räumlichen Untersuchung

Zur Untersuchung der sozial-räumlichen Aspekte stehen uns Bevölkerungsdaten der Firma Microm (http://www.microm-online.de/Deutsch/Microm) zur Verfügung. Ein einzelner Datenpunkt der aus mehr als 54000 Punkten bestehenden Punktwolke für Dresden ent-spricht dabei einer Aggregation von durchschnittlich 5 Haushalten. Bei der Erhebung der Milieudaten wurden nicht nur sozio-demographische Informationen, wie z. B. Alter, Ge-schlecht, Einkommen und Bildung, sondern auch Aspekte des individuellen Lebensstils bzw. der unterschiedlichen Lebensauffassungen einbezogen. Diese gewonnenen Informa-tionen wurden weiterhin auf die sogenannten Sinus-Milieus® abgebildet. Die Sinus-Milieus sind vom Sinus Sociovision Institut für ganz Deutschland entworfen worden (http://www.sociovision.de/loesungen/sinus-milieus.html) und stellen ein Modell für Ziel-gruppen dar, welches die Menschen nach ihren Lebensauffassungen und Lebensweisen gruppiert (vgl. Abb. 1). Jeder Datenpunkt ist einem der zehn unterschiedlichen in Abb. 1 beschriebenen Milieus zugeordnet. Entsprechend werden unsere Untersuchungen auf der Basis dieser Klassifikation erfolgen.

Abb. 1: Sinus-Milieus: die horizontale Gliederung entspricht den unterschiedlichen Le-bensauffassungen, die vertikale Gliederung orientiert sich an den sozio-ökonomischen Bedingungen (Quelle SINUS SOCIOVISION GMBH)

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Jede dieser diversen Milieugruppen hat spezielle Präferenzen bezüglich des Wohnstandor-tes entsprechend einer statistischen Analyse des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) in Deutschland. Das SOEP (http://www.diw.de/soep) ist eine repräsentative Wiederholungs-befragung im Auftrag des DIW Berlin, bei der Daten über Einkommen, Erwerbstätigkeit, Bildung oder Gesundheit erhoben und langfristige soziale und gesellschaftliche Trends verfolgt werden.

1.3 Infrastruktur und Milieus

Es soll untersucht werden, inwieweit die Stadtstrukturen einen Einfluss auf die Ausprägung von Milieus bzw. typischen sozialen Clustern haben. Unterschiedliche Milieus haben wie oben erwähnt andersartige Wohnstandortpräferenzen. Diese können aber mehr oder weni-ger stark ausgeprägt sein - es mag also Milieus geben, bei denen die vorhandene Infrastruk-tur kaum ausschlaggebend für die Wahl des Wohnstandortes ist, bei anderen dagegen mehr. Zur Simulation solcher Effekte sollen im Projekt "CoMStaR" (Computerbasierte Methoden für eine sozial nachhaltige Stadt- und Raumplanung) agentenbasierte Systeme dienen. Eine wesentliche Aufgabe der hier vorgestellten Straßennetzwerkanalyse und der Korrelation mit den Milieudaten ist die Einspeisung von relevanten realen Daten in das Simulationssystem. Es sollen in dieser Arbeit also nicht die Gründe untersucht werden, warum sich unter-schiedliche Milieus in unterschiedlichen Stadtstrukturen ansiedeln - dies ist der sozialwis-senschaftliche Anteil des Projekts. Es soll beschrieben werden, ob sich eine Korrelation zwischen Infrastruktur und sozialem Milieu im untersuchten Stadtgebiet als signifikant herausstellt und durch welche Kenngrößen des Straßengraphen sie besonders gekennzeich-net werden kann.

Ein kleines Beispiel soll das Anliegen dieser Forschungsarbeit verdeutlichen. Wir wollen zwei Stadtgebiete von Dresden visuell miteinander vergleichen. Es handelt sich dabei ei-nerseits um Gorbitz und andererseits um Löbtau. Abb. 2 zeigt jeweils die Infrastruktur und die Gebäudestruktur der beiden Stadtteile.

Abb. 2: Infra- und Gebäudestruktur der Stadtteile Gorbitz (links) und Löbtau (rechts)

Während es sich bei Gorbitz um einen Stadtteil mit großräumigen Plattenbauten in einer attraktiven Hanglange handelt, erweist sich Löbtau als ein Gebiet mit alter Bausubstanz, welches sich entlang einer großen Erschließungsstraße und um ein größeres Friedhofsge-

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lände gruppiert. Das Haushaltsnettoeinkommen im Stadtteil Gorbitz ist deutlich unter-durchschnittlich, die Sozialstruktur aber relativ dazu erstaunlich gemischt (Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Gorbitz). Auch Löbtau gilt trotz seiner zunehmenden Attrakti-vität als einfache Wohnlage, wegen der Uninähe und der vielen Altbauten wird die Gegend zunehmend auch für Studenten attraktiv (Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Löbtau).

Ohne zu diesem Zeitpunkt auf die im Hauptteil näher erläuterten Untersuchungen des Stra-ßengraphen und der Milieudaten einzugehen, soll doch auf ein Phänomen hingewiesen werden. Bei der Bildung von Milieuclustern - d.h. zusammenhängenden Bereichen, in de-nen möglichst ein Milieu vorherrscht (Beschreibung siehe Abschnitt 2.1.1) - traten ganz ähnliche Abgrenzungen zutage, wie wir sie rein visuell anhand der Infrastruktur vorge-nommen hatten. D.h. obwohl in den Clusteralgorithmus ausschließlich die Milieuklassifi-zierung der Punkte einfloss, korrelieren die Clusterpunktwolken hervorragend mit den infrastrukturellen Abgrenzungen - es werden Gebiete mit Einfamilienhäusern, mit freiste-henden Mehrfamilienhäusern, mit DDR-Wohnungsbau, mit Blockrandbebauung gegenei-nander abgegrenzt. Abb. 3 zeigt jeweils das Milieucluster, welches in der räumlichen Aus-dehnung sehr gut mit den in Abb. 2 gezeigten infrastrukturellen Abgrenzungen von Gorbitz und Löbtau harmoniert, sowie die dazugehörige Milieuverteilung innerhalb des Clusters.

Abb. 3: Milieucluster, welche den Stadtteilen Gorbitz und Löbtau entsprechen (oben) sowie die Milieuverteilung innerhalb der Cluster (unten). Die Abkürzungen im Diagramm entsprechen den Bezeichnungen der Sinus-Milieus.

Solche Zusammenhänge zwischen Milieuverteilung und Infrastruktur möchten wir aufde-cken. Dies soll nicht durch visuelle Überprüfung geschehen, sondern durch Algorithmen, die die relevanten Kenngrößen für solche Abgrenzungen im Straßengraphen ermitteln (JANSEN 2006). Die Forschungsaufgabe besteht darin herauszufinden, welche Eigenschaf-ten des Straßennetzwerkes sich hierfür eignen.

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2 Graphanalyse

2.1 Auffinden von Subgraphen mit charakteristischen Merkmalen

2.1.1 Clusterbildung mittels Milieudaten

Wir haben die für das Stadtgebiet Dresden vorliegenden Milieudaten zunächst geclustert (HALL et al. 2009). Als Attribute benutzten wir ausschließlich die Lage der Punkte (x-, y-Koordinate) und ihre Klassifizierung in die 10 diversen Milieuklassen. Es wurden auf diese Weise Cluster ohne Vorwissen gebildet, welche auf der Nähe der Punkte im Euklidischen Raum und ihrer Nähe im Sinus-Milieu beruhen. Die zehn Milieuklassen wurden dabei gleichwertig ohne Gruppenbildung behandelt, d.h. Punkte, die derselben Milieuklasse an-gehören sind sich nah, Punkte verschiedener Milieuklassen sind sich alle genauso weit entfernt.

Das Ergebnis dieser Clusterbildung deckt sich, wie oben schon erwähnt, erstaunlich gut mit den Stadtteilabgrenzungen. Allerdings fließt in die Berechnung der Cluster nur der Euklidi-sche Abstand ein. Es ist zu überprüfen, inwieweit eine Clusterbildung basierend auf dem topologischen Abstand der Punkte, d.h. der Weglänge von Punkt A nach Punkt B entlang des Straßennetzes, zu einem für diese Problemstellung exakteren Ergebnis führt.

Anhand erster Auswertungen der Cluster kann man erkennen, dass bestimmte Milieus we-niger stark segregieren als andere. Diese sind überall vertreten, haben aber keinen das Clus-ter prägenden Einfluss. Dementsprechend können diese Milieus auch kaum signifikante Kenngrößen des Straßennetzwerkes aufweisen. Andere Milieus sind so organisiert, dass sie in bestimmten Stadtteilen/Clustern besonders stark auftreten - dementsprechend stark signi-fikant sind die Eigenschaften eines solchen Subgraphen für dieses Milieu.

2.1.2 Subgraphen auf der Basis typischer Stadtstrukturen

Eine weitere Herangehensweise ist die Selektion von Teilgebieten der Stadt auf der Basis unterschiedlicher Stadtstrukturen und eine anschließende Analyse der sozialen Strukturen in solch homogenen Strukturbereichen. Entsprechend den Beschreibungen von MARSHALL (2005) sind gitterförmige Anordnungen, Baumstrukturen, Altstadtgebiete, radiale sowie hybride Formationen typische Stadtstrukturen, welche auch entsprechend in ihren Grapheigenschaften (z. B. Konnektivität, Tiefe) und geometrischen Eigenschaften (z. B. Regularität, Komplexität) differieren. Gitterförmige Anordnungen sind z. B. hoch konnektiv, Baumstrukturen dagegen weisen sich durch eine große Tiefe aus. Abb. 4 soll anhand ausgewählter Beispiele einen Eindruck solch unterschiedlicher Strukturen liefern.

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Abb. 4: Unterschiedliche Strukturen im Straßengraphen von Dresden - z. B. Altstadtbe-reich (links), baumförmige Erschließung (Mitte), Gitterstrukturen (rechts)

Eine Automation der Selektion und Abgrenzung solcher Stadtstrukturen konnte für gitter-förmige Gebiete erreicht werden (ANDERS 2007). Ein wesentlicher Gesichtspunkt ist die weitere Erforschung von Kenngrößen der variierenden Graphstrukturen, um die Erkennung auch anderer infrastruktureller Ausprägungen, wie sie oben beschrieben wurden, zu auto-matisieren.

In diesem Zusammenhang sollen im Projekt ebenfalls generative Modelle untersucht wer-den, insbesondere shape grammar-Techniken (STINY & GIPS 1971, PARISH & MÜLLER 2001, DUARTE, ROCHA & SOARES 2007). Eine strukturelle Modellierung von Prototy-pen hat den Vorteil, dass die Grapheigenschaften explizit an Prototypen untersucht werden können. Dies ist bei realen Straßenmustern eher selten der Fall, mit Ausnahme solcher am Reißbrett geplanten Stadtteile wie z. B. die "Ciudad Lineal" in Madrid, die "Ensanche" in Barcelona oder Belo Horizonte in Brasilien.

2.2 Analyse der Subgraphen

Die Verbindung der Microm-Datenpunkte mit dem Straßengraphen wurde analog zur An-bindung von Gebäudezentroiden an ein Straßennetzwerk (CHRISTOPHE & RUAS 2002) automatisiert durchgeführt und somit die Sozial- und die Infrastruktur in einem Graphen abgebildet. Das Ausschneiden der Subgraphen anhand der Milieucluster (vgl. Kap. 2.1.1) - ein NP-schweres Problem - wurde ebenfalls automatisiert durchgeführt. Grundlage des Algorithmus ist das Auffinden aller kürzesten Wege (shortest path) zwischen den Cluster-punkten. Hierbei wird über alle Clusterpunkte iteriert, so dass jeder Punkt einmal als Quell-knoten betrachtet wird und die kürzesten Wege von diesem Punkt zu allen anderen be-stimmt werden. Anschließend erfolgte die Berücksichtigung von Kanten, die nicht als kür-zeste Pfade benutzt werden, deren Endknoten aber jeweils inzident mit Kanten sind, welche dem Netzwerk der kürzesten Pfade angehören. Auf diese Weise konnten Subgraphen ermit-telt werden, welche die jeweiligen Cluster sehr gut repräsentieren.

2.2.1 Beschreibende Merkmale der Subgraphen

Die Subgraphen können nun durch diverse Kenngrößen, wie z. B. in CARDILLO et al. (2006), beschrieben werden. In unserem Fall wurden zunächst Kenngrößen ermittelt, wel-che als eine grobe Beschreibung der Subgraphen anzusehen sind (vgl. Abb. 5):

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• Gesamtlänge des Wegenetzes

• Fläche der konvexen Hülle des Subgraphen

• Anzahl der Knotenpunkte

• Verhältnisse: Gesamtlänge pro Fläche, Gesamtlänge pro Knotenanzahl, Knoten pro Fläche, Knotenanzahl pro Anzahl aller Straßenknickpunkte

• mittlerer Knotengrad

• Tiefe, Breite des Baumes, welcher sich dadurch bestimmt, dass man vom Tukey-tiefsten Punkt (TUKEY 1975) die kürzesten Pfade betrachtet

• Verhältnis: Tiefe pro Breite des Baumes

Ein wesentlicher Aspekt dieser Forschungsarbeit besteht darin, weitere charakterisierende Eigenschaften zu finden, zu beschreiben und umzusetzen. Besonderes Augenmerk gilt dabei Kenngrößen, die die Morphologie eines Graphen noch besser wiedergeben.

2.2.2 Untersuchung mit space syntax Kenngrößen

Auf der Grundlage der Graphtheorie beruhen ebenfalls die Methoden von space syntax (HILLIER et al. 1976, HILLIER 2007, ROSE et al. 2008). Sie sind eine spezielle Form der Netzwerkanalyse im Bereich der Stadtforschung. Kenngrößen wie z. B. Integration (Zentra-lität) und Choice (Durchgangspotential), Konnektivität bzw. die depth-map-Analyse geben ebenfalls einen ersten Eindruck der Grapheigenschaften. Im Unterschied zu anderen Graph-analysen werden bei der space-syntax-Methodik die o.g. Eigenschaften unter Berücksichti-gung des Winkels zwischen den Wegsegmenten bestimmt.

3 Korrelation von Milieudaten und Straßendaten - Ergebnisse

Da, wie oben beschrieben, man kaum Cluster bilden kann, in denen nur ein Milieu vorhanden ist, ist eine Korrelation der Milieudaten mit den Subgrapheigenschaften entsprechend schwierig. Man kann nicht einem Milieu eindeutig die Kenngrößen eines bestimmten Subgraphen zuweisen und damit automatisch über die von diesem Milieu bevorzugte Infrastruktur Rückschlüsse ziehen.

Um jedoch einen ersten Eindruck zu bekommen, haben wir die Daten wie folgt in Zusammenhang gebracht: Für ein Cluster wurden die jeweiligen Kenngrößen (vgl. Kap. 2.2.1) entsprechend dem prozentualen Anteil des Milieus in diesem Cluster aufgeteilt. Anschließend erfolgt eine Summation dieser prozentualen Werte pro Milieu über alle Cluster und eine Normierung bezüglich des für diese Kenngröße existierenden Maximalwertes. Abb. 5 zeigt das Ergebnis für die Auswertung des gesamten Stadtgebietes von Dresden. In diesem Fall wurden 70 Cluster unterschieden. Als Vergleich beinhaltet Abb. 6 das Ergebnis für den Teil Dresdens südlich der Elbe mit 40 Clustern.

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Abb. 5: Korrelation der Milieudaten mit den Kenngrößen des Straßengraphen. Jede Kur-ve repräsentiert ein Milieu mit den entsprechenden Ausprägungen der Kenngrö-ßen wie in Kap. 2.2.1 beschrieben. Bezug: gesamtes Straßennetz von Dresden

Abb. 6: Korrelation der Milieudaten mit den Kenngrößen des Straßengraphen. Vergleich zu Abb. 5. Bezug: Straßennetz von Dresden südlich der Elbe.

Aufgrund dieser Auswertung kann man zwei wesentliche Rückschlüsse über das Milieuverhalten bezüglich der Infrastruktur ziehen.

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1. Es gibt zum Teil gegenläufige Tendenzen der infrastrukturellen Kenngrößen bei bestimmten Milieus, welche signifikant erscheinen. Diese Aussage betrifft den Verlauf der Diagrammkurven. So ist deutlich zu erkennen, dass eine Gruppe von Milieus höhere Werte bezüglich der "Gesamtlänge pro Fläche" im Vergleich zur "Gesamtlänge pro Knoten" ausweisen (z. B. PMA, PER, EXP) - die Kurve knickt im Bereich "Gesamtlänge pro Knoten" nach unten. Im Gegensatz dazu weisen z. B. BUM und DDR in diesem Bereich den gegenteiligen Verlauf auf, welches auf eher weitläufigere Stadtgebiete mit wenig Kreuzungspunkten schließen lässt.

2. Aufgrund der Diagrammkurven bestimmter Milieus liegt die Vermutung nahe, dass diese Milieus sich nicht auf eine typische Infrastruktur festlegen lassen. Diese Aussage betrifft die Position der Diagrammkurven. So sind Kurven, die sich im unteren Teil des Diagramms bewegen, eher unspezifischer, denn diese Milieus sind in keinem Cluster wirklich dominant und erhalten somit überall nur unterdurchschnittliche prozentuale Werte. Sie weisen sich daher auch durch einen flacheren, kaum signifikanten Verlauf aus. Dies kann man dahingehend interpretieren, dasss diese Milieus kaum segregiert sind und dementsprechend wenig Vorlieben für infrastrukutrelle Ausprägungen haben.

Für eine Bestätigung der Relevanz der gefundenen Milieuunterschiede könnten Vergleiche auf der Basis der Daten anderer Städte vorgenommen werden. Weiterhin sollen die vorhandenen Daten von Dresden auch hinsichtlich der in Kap. 2.1.2 beschriebenen anderen Herangehensweise untersucht werden und so eine Verifikation der Ergebnisse stattfinden.

4 Fazit und Ausblick

Diese Arbeit unternimmt den Versuch, die Herausforderungen der Urbanisierung und Restrukturierung unserer Städte im Zusammenhang mit dem soziologischen Wandel und den Problemen der Segregation zu sehen. Die Basis dieser Untersuchung sind infrastrukturelle Analysen auf der einen, sozio-kulturelle Studien auf der anderen Seite. Für diesen Zweck werden in der Arbeit graphentheoretische Ansätze und geometrische Operationen in Vektordaten vorgestellt.

Die vorgestellten ersten Ergebnisse lassen vermuten, das es einen Zusammenhang zwischen der städtbaulichen Infrastruktur und dem sozialen Milieu gibt. Die Untersuchungen sollen aber nicht nur diesen Zusammenhang beleuchten und verifizieren - es sollen im Projekt auch Fragen bezüglich signifikanter Grapheigenschaften, Beschreibungen der morphologischen Kenngrößen und Abgrenzung von Subgraphen mit typischen Strukturen angesprochen werden. In diesem Kontext wurden bereits im Text an mehreren Stellen Probleme angesprochen und auf weiterführende Arbeit verwiesen.

Letztendlich wird die gewonnene Information in Simulationsmodelle einfließen, um diverse Stadtentwicklungsszenarien zu entwerfen und sie hinsichtlich der Änderungen menschlichen Verhaltens und Infrastrukturmodifikationen beurteilen zu können. Wir möchten Wissen über die Interaktion von Mensch und städtischem Umfeld sammeln und damit zukünftige Entscheidungsprozesse in der Stadtplanung unterstützen und erleichtern.

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Literatur

ANDERS, F. (2007), Mustererkennung in Straßennetzwerken – Verfahren zur Interpretation von Vektordaten (Dissertation) , Leibniz Universität Hannover , Deutsche Geodätische Kommission, Reihe C, Heft Nr. 607.

BOURDIEU, P. (1987), Die feinen Unterschiede. Suhrkamp, Frankfurt/Main.

CARDILLO, A., SCELLATO, S., LATORA, V., PORTA, S. (2006), Structural Properties of Planar Graphs of Urban Street Patterns. - In: Phys. Rev. E73 066107.

CHRISTOPHE, S., RUAS, A. (2002), Detecting Building Alignments for Generalisation Pur-poses. Symposium on Geospatial Theory, Processing and Applications, Ottawa, Cana-da.

DUARTE, J. P., ROCHA, J. D. M., SOARES, G. D. (2007), Unveiling the structure of the Mar-rakech Medina: A shape grammar and an interpreter for generating urban form. Artifi-cial Intelligence for Engineering Design, Analysis and Manufacturing, 21.

HALL, M., FRANK, E., HOLMES, G., PFAHRINGER, B., REUTEMANN, P., WITTEN, I.H. (2009), The WEKA Data Mining Software: An Update. SIGKDD Explorations, Volume 11, Is-sue 1.

HILLIER, B., LEAMAN, A., STANSALL, P., BEDFORD, M. (1976), Space syntax. Environment and Planning B. - In: Planning and Design, vol. 3(2), S. 147-185.

HILLIER, B. (2007), Space is the machine: a configurational theory of architecture. - Web: http://www.spacesyntax.com/tool-links/downloads/space-is-the-machine.aspx.

JANSEN, D. (2006), Einführung in die Netzwerkanalyse: Grundlagen, Methoden, For-schungsbeispiele. 3 ed. VS Verlag, Wiesbaden.

MARSHALL, S. (2005), Streets and Patterns. Spon Press, Taylor and Francis Group, London, New York.

PARISH, Y. I. H., MÜLLER, P. (2001), Procedural Modeling of Cities. SIGGRAPH, Los Angeles, CA.

ROSE, A., SCHWANDER, C., CZERKAUER, C., DAVIDEL, R. (2008), Space Matters.- In: Arch Plus, vol. 189, S. 32–37.

STINY, G., GIPS, J. (1971), Shape Grammars and the Generative Specification of Painting and Sculpture. IFIP Congress.

TUKEY, J. (1975), Mathematics and the picturing of data.- In: Proceedings of the Interna-tional Congress of Mathematicians, Vancouver, Canada, S. 523–531.

Danksagung

Die im Projekt verwendeten Geobasisdaten wurden uns freundlicherweise vom Stadtplanungsamt Dresden zur Verfügung gestellt.