"Solidarität" in südasiatischen Gesellschaften

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HAUPTBEITRÄGE

Zusammenfassung: Am Beispiel Südasiens wird dargestellt, wie der Versuch, „Solidarität“ als allgemeingültige Kategorie zu bestimmen, einerseits von der Unschärfe des Begriffs, anderer-seits durch seine Kulturgebundenheit erschwert wird. An Hand einer linguistischen, historischen und sozialen Übersicht wird dargelegt, daß die Diskursparameter zu „Solidarität“, wie sie im deutschsprachigen Diskurs vorherrschen, für die südasiatische Wirklichkeit wenig geeignet sind. Das führt zu kritischen Überlegungen über die Annahme, dass die Begriffe und Vorstellungen des sogenannten Westens als allgemeingültig und allgemeinverbindlich anzusehen seien.

Schlüsselwörter: Solidarität · Südasien

“Solidarity” in South Asian Societies

Abstract: Taking South Asia as an example, it is shown how efforts to designate “solidarity” as a universally valid category are handicapped on the one hand by the ambiguity of the concept,

is demonstrated that the discourse parameters for “solidarity” as they dominate in the Germanlanguage discourse are little suited for the South Asian reality. This leads to critical deliberations on the assumption that concepts and notions of the so-called West are to be seen as universally valid and universally binding.

Gruppendyn Organisationsberat (2013) 44:53–65DOI 10.1007/s11612-012-0193-8

„Solidarität“ in südasiatischen Gesellschaften

Rahul Peter Das

Online publiziert: 17.10.2012 © VS Verlag für Sozialwissenschaften 2012

Prof. Dr. R. P. Das ( )Südasien-Seminar des Orientalischen Instituts, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 06099 Halle, DeutschlandE-Mail: [email protected]

Keywords: Solidarity · South Asia

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Südasien umfaßt die Staaten Indien, Pakistan, Bangladesch, Nepal, Bhutan, Sri Lanka und die Malediven; auch Afghanistan wird oft dazugerechnet. Etwa ein Viertel der Mensch-heit ist heute hier beheimatet. Die Region ist politisch, religiös, ethnisch und sprachlich sehr heterogen. Dennoch lassen sich im gesellschaftlichen Bereich gewisse Gemeinsam-keiten beobachten, auf die im hier gegebenen Zusammenhang eingegangen wird.

Vorangestellt seien aber einige grundsätzliche Überlegungen zum Begriff Solidarität.1

ihr semantischer Gehalt unklar ist und von jedem Verwender des Begriffs verschieden interpretiert werden kann; einige solche Begriffe sind bspw. Adjektive wie rechts, links,faschistisch, sozial, irrational, intelligent, gebildet usw., wie auch entsprechende Substan-tive. Zu letzteren zählt auch Solidarität. Die Problematik dieses Begriffs ist viel diskutiert worden, eingängig unter anderem in dem von Bayertz (2002) herausgegebenen Sammel-band Solidaritätdes Werkes Gemeinwohl in der Krise? von Franzmann und Pawlytta (2008), wo auch detailliert auf die Unterschiede zwischen „Solidarität im engen Sinne“ und „Solidarität im weiten Sinne“ eingegangen wird. Auch hieraus wird ersichtlich, wie problembeladen der Begriff Solidarität ist.

Die Vielschichtigkeit des Begriffs wird aber nicht nur in Fachdiskursen thematisiert, sondern wird auch in für ein allgemeines Publikum gedachten Werken angesprochen. Als

Brockhaus Enzyklopädie angeführt, in der es in Bd.20 im Beitrag „Solidarität“ heißt (1993, S.428 f.):

Für den aktuellen Gebrauch des Begriffs ist kennzeichnend, daß er nahezu alle his-torisch konkreten Bezüge abgelegt hat …, gleichwohl aber immer noch zu den poli-tisch hochbewerteten gezählt werden kann.

Der Beitrag bemängelt (S.431), daß Solidarität heute eher im Sinne von „emotionalem Zusammenhalt“ oder „menschlich-guten Beziehungen“ verstanden werde:

Damit wird aber genau das unkenntlich, was den S.-Begriff historisch wirkungs-mächtig gemacht hat und seine Faszinationskraft auch heute noch bedingt, nämlich moralisch engagierte Kooperation — insbesondere im Kampf gegen Unrecht —,

-dig zur Folge hat.

Hier haben wir allerdings eine Festlegung, die sicherlich nicht unwidersprochen blei-ben wird. Nicht nur sind Moral und Unrecht auch unscharfe und unterschiedlichen Deu-

Solidarität scheint auch, indem sie

Vierkandt, auf die oft hingewiesen wird und die er wohl am deutlichsten in seinem Bei-trag „Solidarität“ zum Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens (1931–1932) darge-legt hat, nämlich daß Solidarität die Gesinnung einer Gemeinschaft mit starker innerer Verbundenheit sei.

unscharfe Begriffe wie Moral und Unrecht -tion der Enzyklopädie versuchsweise von diesen problematischen Begriffen befreien.

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tung weder voraussetzt noch notwendig zur Folge hat“. Das würde Solidarität aber letzt-endlich wohl auf freiwillige Kooperation reduzieren, was im Gegensatz stünde zu einer

Politiklexikon von Schubert und Klein erscheint, wo (2011,S.268) Solidarität

ein Prinzip, das gegen die Vereinzelung und Vermassung gerichtet ist und die Zusammengehörigkeit, d. h. die gegenseitige (Mit-)Verantwortung und (Mit-)Ver-

Nicht nur werden hier neue Parameter wie Vereinzelung und Vermassung eingeführt, die wiederum nicht eindeutig sind, sondern es wird möglicherweise2 gerade auch jene Ver-

Brockhaus Enzyklopädie als nicht notwendigerweise relevant bezeichnet hat. Das wiederum lenkt das Augenmerk auf einen Streit um den Begriff Soli-darität, der unser heutiges Gemeinwesen bekanntlich durchzieht, nämlich den über Frei-willigkeit oder Institutionalisierung als Charakteristikum von Solidarität.

Brockhaus Enzyklopädie -weise die Vielschichtigkeit des Begriffs viel stärker thematisiert; im Fazit des einschlägi-gen Beitrages heißt es (2008, S.466):

Die Entwicklung des Begriffs S. vom Fachbegriff zu einem Schlüsselbegriff gesellschaftl. Selbstverständnisses verweist damit, vor dem schillernden Hinter-grund seiner Bedeutungsmöglichkeiten, auf eine grundlegende Problemstrukturund Ambivalenz gesellschaftsbezogenen Handelns in der Moderne: sich aus den

Sinnpotenziale sowohl der Vormoderne als auch außergesellschaftl. Ressourcenzurückgreifen zu müssen, die sich letzten Endes selbst wieder nur rekursiv ange-messen begründen lassen – eine Möglichkeit, die der Gesellschaft der Moderne nicht ohne Weiteres zur Verfügung steht, sondern ihrerseits erzeugt werden muss.

Solidarität gründen diese auf Mitmenschlichkeit,so bspw. im Werk Mitmenschlichkeit und Sport von Schenk, dem gemäß Solidarität ein „generelles Prinzip der Mitmenschlichkeit“ darstelle (2007, S.335). Mitmenschlichkeitist allerdings auch ein unscharfer Begriff und setzt zudem eine bestimmte Motivation

-handen ist. Das führt in ein neues Problemfeld. Doch soll dieser Faden hier nicht weiter gesponnen werden, und somit wird auf das Beibringen noch weiterer Beispiele verzichtet, wie auch auf jegliche Diskussion unterschiedlicher Ansätze zur Erklärung des Begriffs Solidarität, wie sie jeweils – und in einer großen Anzahl einschlägiger Werke — in verschiedenen Disziplinen wie etwa Politikwissenschaft, Soziologie, Geschichte, Eth-nologie, Ethologie (Verhaltensbiologie) usw. vorhanden sind. Denn das ist nicht nötig.

bereits beim Blick allein auf unsere eigene heutige Gesellschaft zutage tritt. Dieses Ziel ist sicherlich erreicht worden.

fremden Gesellschaft zuwenden, dürften erst recht Probleme auftreten, wenn wir der geschilderten Ausgangssituation nicht eingedenk bleiben. Denn wir müssen stets berück-sichtigen, daß viele Begriffe, die in der hiesigen Kultur und Sprache große Bedeutung

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-che Begriffe sind bspw. Religion, Ethik, Philosophie, Moral, Nation usw. Mit derartigen Begriffen sind gewisse gedankliche Kategorien verbunden, denen möglicherweise andere gedankliche Kategorien gegenüberstehen, die ersteren nicht genau entsprechen, obwohl es durchaus – z. T. erhebliche – Überschneidungen geben kann. Was wir in solchen Fällen meistens tun, ist, in anderen Kulturen und Sprachen nach den unseren ähnlichen Mustern oder Gedanken zu suchen, für die wir dann unsere eigenen Begriffe anwenden, womit wir dann aber unsere Kategorien auf das Fremde übertragen. Jeder, der sich mit Interkulturalität befaßt hat, dürfte solche Erfahrungen gemacht haben.

Sollte es sich mit Solidarität ähnlich verhalten, so haben wir ein doppeltes Problem,nämlich einerseits das der kulturellen und sprachlichen Übertragbarkeit, andererseits der Unschärfe in unserer eigenen Kultur, Gesellschaft und Sprache.

Bekanntlich gibt es in Südasien eine große Anzahl von Literatursprachen, die auch in verschiedenen Schriften geschrieben werden. Hier kann daher verständlicherweise

-darität geboten werden, doch immerhin können die Resultate einer kleinen Untersu-chung von Wörterbüchern mehrerer Sprachen vorgestellt werden, die aus gegebenem Anlaß vorgenommen wurde. Sie umfaßte die Stufen des Altindoarischen (hier vertreten durch Sanskrit), des Mittelindoarischen (hier vertreten durch Pali), des Neuindoarischen (hier vertreten durch Assamesisch, Bengalisch, Gudscharati, Hindi, Kaschmiri, Marathi, Nepali, Orija, Pandschabi, Radschasthani, Sindhi und Urdu), des Drawidischen (hier vertreten durch Kannada, Malajalam, Malto, Tamil und Telugu), des Iranischen (hier vertreten durch Balotschi und Paschto), des Austroasiatischen (hier vertreten durch San-tali), und des Tibetoburmesischen (hier vertreten durch Ao, Angami, Apatani, Konjak, Luschai, Mischmi und Miso).3 In allen Fällen ging es um Wörterbücher, die Begriffe der jeweiligen Sprachen in das Englische übersetzten. Waren sie zugänglich, so wurden auch Wörterbücher eingesehen, die englische Begriffe in der jeweiligen südasiatischen Sprache wiedergeben.

Da viele Wörterbücher südasiatischer Sprachen inzwischen digitalisiert worden sind, kann man heute gezielt nach Bedeutungsangaben im Englischen suchen, auch wenn die Stichwörter der Wörterbücher die der jeweiligen südasiatischen Sprachen sind. Dabei stellte sich heraus, daß solidarity, die englische Entsprechung zu Solidarität, in kaum einer Handvoll der Wörterbücher vorkam. Und auch in mehreren Wörterbüchern, die englische Begriffe in der jeweiligen südasiatischen Sprache wiedergaben, fehlte solida-rity als englisches Stichwort.

Wenn der Begriff solidarity überhaupt vorkam, dann war die Entsprechung in der süd-asiatischen Sprache i. d. R. ein Wort, das am ehesten dem deutschen Einheit (oder dem englischen unity) entspricht, bisweilen präzisiert als die Einheit von Interessen, Ideenoder Handlungen, oder auf gemeinsamer religiöser oder sozialer Identität basierend. Meistens wurde dafür in den modernen südasiatischen Sprachen ein Lehnwort aus dem Sanskrit oder, in stark islamisierten Kontexten, aus dem Arabischen verwendet. Biswei-len wurde für solidarity aber nicht ein Äquivalent angegeben, sondern eine Umschrei-bung, die aber letztendlich auch auf den Einheitsgedanken hinauslief. Es fanden sich zudem sehr vereinzelt Umschreibungen, die im Deutschen den Bereichen Mitgefühl oder gegenseitige Hilfe zugeordnet werden können. Besonders interessant waren die Anga-

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ben in der elften (1960) und zwölften (1965 Bhargava’s Englisch-Hindi-Wörterbuch (Pathak), nämlich doppeldeutig „gegenseitige Abhängigkeit/Unterordnung“(englisch zusätzlich erklärt als „consolidation of interests“) in der einen, ebenso doppel-deutig „große Nähe von Interessen/Neigungen“ (englisch zusätzlich wiederum erklärt als

-hin nicht eindeutigen – Bedeutungsangabe in so kurzer Zeit belegt sehr schön das Fehlen

Der Befund insgesamt ist sehr aufschlußreich. Einheit, die bei weitem überwiegende Erklärung, und Solidarität überschneiden sich zwar teilweise semantisch, indem sie jeweils eine Gemeinsamkeit implizieren, sind aber – und dazu bedarf es sicherlich kei-ner weiteren Erklärung – ansonsten nicht identisch. Zudem fällt auf, daß, ähnlich wie im Falle von Solidarität im Deutschen, das ja letztendlich auf ein lateinisches Wort zurück-geht, die für Einheit verwendeten Wörter, die das englische solidarity wiedergeben, in den modernen südasiatischen Sprachen i. d. R. auch Lehnwörter aus anderen Sprachen sind, auch wenn in einigen Fällen, wie beim Tamil, die moderne Sprachideologie derVerwendung von Sanskrit-Wörtern entgegensteht und daher auch nicht-sanskritische, in diesem Falle „drawidisch“-tamilische Ausdrücke angegeben werden.

Wie dem auch sei, festzuhalten bleibt auf jeden Fall, daß größtenteils Einheit hier für Solidarität steht, mit gelegentlichen anderen, nicht minder problematischen Bedeutungs-

-gen, denn es scheint an einheimischen Konzepten zu fehlen, die dem Begriff Solidaritätentsprechen. Das bedeutet natürlich nicht, daß deshalb auch ähnliche Strukturen oder Vorstellungen fehlen müßten, doch wenn es sie gibt, müssen sie erst aus anderen Kontex-ten herausgelöst werden, um verglichen werden zu können.

Hierbei kommt erschwerend hinzu, daß unsere jetzigen Vorstellungen, die mit dem Begriff Solidarität verbunden sind, das Resultat historischer und gesellschaftlicher Ent-wicklungen sind, die auf diese Weise in Südasien nicht stattgefunden haben. Die lange christliche und danach aufklärerische Prägung, die Westeuropa kennzeichnet, fehlt dort.

zu gedanklichen Umwälzungen, die tief in die Masse der südasiatischen Bevölkerungdrangen und diese nachhaltig geprägt haben, hat dies selten geführt. Daran sollte man sich auch dann erinnern, wenn südasiatische Diskurse in europäischen Sprachen, d.h. i. d. R.Englisch, geführt werden. Wir können nicht ohne weitere Untersuchung a priori davon ausgehen, daß solidarity dort trotz der gleichen Sprache das gleiche bedeutet wie etwa in Großbritannien oder in den Vereinigten Staaten von Amerika – ganz abgesehen davon, daß solidarity in den einzelnen englischsprachigen Gemeinschaften auch nicht unbedingt in allen Einzelheiten gleichbedeutend ist oder mit Solidarität im modernen deutschen Sprachgebrauch übereinstimmt.

In diesem Zusammenhang ist es vielleicht hilfreich, auf die Bedeutung des Begriffs Solidarität in vorchristlichen Zeiten zu rekurrieren, weil sich dadurch möglicherweise bessere Vergleichsmöglichkeiten für Strukturen nicht christlich-abendländisch geformter Gesellschaften ergeben. Gängigen Erklärungen gemäß gehe das deutsche Solidarität auf das französische solidarité zurück, welches wiederum über solidaire und solide letztend-lich auf dem lateinischen solidus basiere, v. a. in einer speziellen juristischen Bedeutung,die im Ausdruck in solidum enthalten sei. Dieser bezeichnet die Haftung einer Gemein-

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ggf. geradestehen muß. Es handelt sich somit um eine Haftungsgemeinschaft. Diese ist andererseits allerdings auch eine Risikogemeinschaft, da jeder einzelne das volle Risiko

Das ist offenkundig eine Ausgangslage, die frei ist von Begriffen wie Moral, Nächs-tenliebe, EthikGesellschaft. Da in Südasien die geistigen Umwälzungen, die Europa und v. a. West-europa kennzeichnen, so nicht stattgefunden haben und somit bekanntlich in dieser Welt-region noch viele altererbte Strukturen wirksam sind, erscheint es aus methodischer Sicht sinnvoller, den Ansatz zu Vergleichen zuerst in den älteren europäischen Vorstellungen zu suchen als in den modernen. Das mag zwar letztendlich durchaus in die Irre führen, aber einen Versuch ist es allemal wert. Doch um einen Vergleich vorzunehmen, ist es notwen-dig, zuerst die einschlägigen südasiatischen Vorstellungen herauszudestillieren.

Natürlich wäre es naiv zu glauben, daß Vorstellungen und Gesellschaftsstrukturenin Südasien über die Jahrtausende hinweg unverändert geblieben sind. Es hat sicher-lich interne Veränderungen gegeben. Zudem gab und gibt es, auch wenn nur bedingte

heute noch wirken, z. B. durch den Islam. Doch selbst in Gebieten, in denen der Islamdominiert, hat dieser nicht in der gleichen Weise das Autochthone zu ersetzen vermocht wie das Christentum in Europa, wobei sicherlich eine Rolle gespielt hat, daß der Islam,anders als das Christentum in Europa, bis auf den heutigen Tage in gesamtsüdasiatischer Sicht ein Minderheitenphänomen ist, auch wenn er in gewissen Gebieten massiert auftritt. Daher dürfte sich ein Blick in die entfernte Vergangenheit auf jeden Fall lohnen, bevor wir uns wieder der Gegenwart zuwenden.

Allerdings können wir uns hier nicht detailliert mit historischen Vorstellungen befas-sen; das würde uns zu weit weg von unserem eigentlichen Thema führen. Es seien hier daher nur die markantesten Eigenschaften angeführt, die sich aus derartigen Vorstellun-gen ergeben, insofern sie für unser Thema relevant sind. Es sei hervorgehoben, daß es sich hierbei um Typisierungen handelt, von denen nicht ohne Weiteres angenommen wer-den darf, daß sie ausschließlich und immer vorkamen.

Ein wichtiger Punkt ist das, was man als Ritualisierung bezeichnen kann in Anlehnungan jene Form der Religiosität, die dem Ritus Vorrang vor dem Glauben einräumt. Damit ist das Ausführen von Handlungen gemeint, die ausgeführt werden, weil man sie ausführen muß, ohne daß dabei der Grund oder Sinn der Ausführung eine Rolle spielen muß. In der Vorstellung des Ausführenden kann einerseits etwas Bestimmtes durch die Ausführungbewirkt werden, ohne daß ersichtlich sein muß, wie das geschieht; die Kausalitätskette muß sich dem Ausführenden nicht notwendigerweise erschließen. Eine ähnliche Einstel-lung im täglichen Leben kann zu einem Pragmatismus führen, der stark ergebnisorien-tiert ist, ähnlich wie bei der Akupunktur, die zu Erfolgen führt, ohne daß klar ist, warum genau die Erfolge eintreten. Es kann dem Ausführenden andererseits aber auch verborgen bleiben, was überhaupt bewirkt wird. Hierdurch können Handlungen letztendlich einfach um ihrer selbst willen und nicht in Hinblick auf ein gewisses Ziel ausgeführt werden; in der Praxis kann es somit zu inhaltslosen mechanistischen und dadurch möglicherweise ineffektiven Handlungen kommen, wie heute mancherorts in Südasien bei Sicherheits-kontrollen am Eingang von Hotels und Kaufhäusern tatsächlich zu beobachten.

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Eine andere archaische Vorstellung, die zu beachten ist, ist die der Abbildung des Gro-ßen im Kleinen, des Makrokosmos im Mikrokosmos, und umgekehrt. Ein räumliches,

bei denen der jeweils innere alles enthält, was in den äußeren vorhanden ist; im Zent-rum steht die Stadt Benares, in deren Zentrum wiederum der Vischweschwara-Tempel,

beinhaltet. Da somit Peripherie und Zentrum sich entsprechen, haben Vorgänge in einem Auswirkungen auf das andere. Derartige Vorstellungen haben auch soziale Relevanz, ins-besondere im Zusammenhang mit einem Faktum, auf das zahlreiche einheimische wie fremde Beobachter hingewiesen haben, nämlich daß Südasien bis auf den heutigen Tageeine stark hierarchisch strukturierte Gesellschaft ist, was mehrere Auswirkungen hat, die unter anderem auch die Funktionalität verschiedener Bereiche wie etwa Politik und Wirtschaft betreffen. Für das Individuum hat das Sich-Einfügen in eine hierarchische Struktur durchaus Vorteile, darunter auch, daß es ihn vom Tragen-Müssen von Verant-wortung befreit. Sie bedingt aber auch eine wechselseitige Abhängigkeit, in der man u. U.die erwähnte Korrespondenz zwischen Großem und Kleinem sehen kann. So hat bspw. gemäß alten einheimischen Vorstellungen jede persönliche und rituelle Handlung des Herrschers Auswirkungen auf sein gesamtes Herrschaftsterritorium und alle Untertanen,da er diese verkörpert. In gleicher Weise ist in der Person des Oberhaupts einer Großfa-mile, die ggf. eine große Anzahl von Einzelpersonen umfassen kann, die gesamte Familie verkörpert, so daß einerseits seine Handlungen die der gesamten Familie sind, anderer-seits die jedes einzelnen Familienmitglieds diesen betreffen, und über diesen dann wie-derum die gesamte Familie. In ähnlicher Weise sind Lehrer und Schüler im traditionellen System verbunden: Die Last der Verfehlungen der Schüler muß der Lehrer tragen, seine Verdienste gehen auf die Schüler über. Es ist frappierend, wie sehr dies in vielem der erwähnten Haftung des einzelnen für die Gemeinschaft ähnelt, die in solidum ausdrückt.

Eine dritte archaische Vorstellung bezieht sich auf den Wert des Individuums. Verein-facht gesagt, ist das Individuum an sich wenig wert; die Tatsache seiner Existenz allein macht es nicht viel anders als jedes andere Lebewesen. Wert erlangt das menschliche Individuum erst durch eigene Verdienste oder, und eher, durch seine Einbettung in ein

oder Beziehungen gegeben. Demgemäß ist auch der Umgang mit verschiedenen Indivi-duen prinzipiell verschiedenartig; sie können somit ggf. nicht nur verschiedene Rechtebeanspruchen, sondern auch die Sanktionen für gleiche Vergehen können ungleich sein.

Brockhaus Enzyklo-pädie (2008) das „sich aus den eigenen Mitteln legitimieren zu müssen“ darstellt, ist hier andererseits so nicht gegeben, da die Legitimierung nicht notwendigerweise primär an das jeweilige Individuum gebunden ist – was ihm somit aber auch als Individuum an sich weniger Bedeutung zukommen läßt.

Wie bereits erwähnt, wäre es naiv anzunehmen, daß die erläuterten Vorstellungen, -

tiert haben, andererseits sich unverändert über Jahrhunderte, gar über Jahrtausende bis in die Gegenwart erhalten haben müssen. Aber dennoch sind ihre Auswirkungen nach wie vor deutlich spürbar, oder werden zumindest als spürbar angenommen. So werden bspw. individuelle Verhaltensmuster, die auf der einen Seite bereitwillige Unterordnung in eine

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hierarchische Struktur, beim Fehlen dieser aber stark selbstzentiertes Verhalten erblicken lassen, gern – ob zu Recht oder Unrecht, bleibe dahingestellt – als Resultat traditionel-ler Strukturen erklärt, die ein ausgeglichenes Individualbewußtsein verhinderten, wenn auch nicht notwendigerweise in der bewußt provokanten Weise des als Enfant terrible der zeitgenössischen indischen Kulturkritik bekannten Nirad Chaudhuri, der in seinem berühmten To Live or Not to Live (1970, S. 54) schlichtweg „our want of individuality“ konstatierte.

Allerdings kann man trotz derartiger Deutungen, die zumindest auf den ersten Blickplausibel erscheinen mögen, nicht immer mit Bestimmtheit behaupten, daß Verhaltens-muster, die mit den erwähnten archaischen Vorstellungen übereinzustimmen scheinen, tatsächlich und notwendigerweise mit ihnen verbunden sein müssen. Beispielsweiseschreibt der Psychologe Strohschneider in seiner Schrift „Denken Inder anders?“ zum Umgang von Indern mit Problemen (2001, S.353):

Der situative und soziale Kontext eines Problems ist wichtig und muß bei der Lösungssuche mitbedacht werden.

Dies wird mit der deutschen Vorgehensweise kontrastiert, nämlich:

Problem ist Problem, unabhängig von seiner situativen und sozialen Einbettung.

Man könnte hier durchaus an die obigen Erläuterungen zu archaischen Denkweisen denken. Doch bei diesem Unterschied, insofern er tatsächlich gegeben ist, kann es sich auch um das Resultat anderer sozialer Umgangsformen handeln, die auf gesellschaftli-

bspw. einzelne Mitglieder der Gruppe anderen Mitgliedern und insbesondere dem Grup-penführer nicht öffentlich widersprechen und ggf. bloßstellen, oder aber aus Loyalität Entscheidungen selbst dann mitzutragen bereit sind, wenn sie als falsch empfunden wer-den – was nicht gleichbedeutend ist mit dem Ablegen von Verantwortung.

Wie dieses Beispiel verdeutlicht, ist also Vorsicht beim Zuschreiben von einzelnen heutigen südasiatischen Vorstellungen und Verhaltensweisen auf archaische Vorstellun-gen geboten. Doch trotz dieser Vorbehalte stellen Beobachter immer wieder fest, daß es heutige Vorstellungen und Verhaltensweisen in nicht geringer Anzahl gibt, die eben doch einen solchen Zusammenhang vermuten lassen.

Zusätzlich zu den genannten Vorstellungen seien noch drei sehr wichtige soziale Ele-mente angeführt, deren Bedeutung wir nicht unterschätzen dürfen. Das erste betrifft den nach wie vor und trotz des rasanten Wachstums von Megastädten gerade in dieser Weltre-gion hohen Anteil der ländlichen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung, nämlich in der Größenordnung von über 70%. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß heute noch über 60% der Gesamtbevölkerung von der Landwirtschaft abhängig ist, und zwar größten-teils in einem nichtindustrialisierten und durch Infrastruktur ungenügend erschlossenen Umfeld.

Das hat wichtige Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Umwelt. Bei derarti-gen Strukturen basiert sie vornehmlich auf Unmittelbarkeit, auf dem durch die Sinne erschließbaren Erlebnisraum, der überaus oft verkehrsmäßig schlecht erschlossen ist. Der Gegensatz zu Westeuropa wird noch deutlicher, wenn die sehr unterschiedlichen Alphabetisierungsraten in Westeuropa und Südasien verglichen werden, da der Zugang

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zu Schrifterzeugnissen die Bedeutung der unmittelbaren Wahrnehmung relativiert. AuchMassenmedien wie Radio und Fernsehen haben in einem Umfeld, in dem es vielerorts

begrenztere Wirkung, zumal die notwendigen Geräte oft auch vergleichsweise recht teuer sind.

All das schafft einen sehr anderen Referenzrahmen auch für interpersonelle Bezüge als der einer urbanen und durch Industrialisierung und gute Infrastruktur geprägten Gesell-schaft, die gleichzeitig auch eine mobile Kommunikations- und Informationsgesellschaftist. Und die durch diesen Referenzrahmen geprägten Gedankenmuster bleiben lange und generationenübergreifend bestimmend, auch bei einer Abwanderung in ein urbanes und industrialisiertes Umfeld.

Hinzu kommt als zweites Element, daß Heterogenität in religiösen Belangen in Süd-asien die Norm ist, im Gegensatz zu Europa und auch zum Nahen Osten, wo das Streben nach Homogenität in der Form der Vorherrschaft einer bestimmten Religion überwiegt. Auch wenn Homogenisierungsdruck durchaus innerhalb der jeweiligen Gemeinschaft

-torisch nicht vorhanden. Die Auswirkungen dieses Fehlens eines religiös motivierten, jahrhundertelangen Homogenisierungsdrucks auf die Gesamtheit sind bedeutend, wie ein Vergleich etwa mit Europa sofort zeigt.

Das dritte soziale Element resultiert aus dem Staatswesen. Bis zur Ablösung durch über den Kolonialismus eingeführte europäische Vorstellungen zum Nationalstaat basierte die Grundvorstellung des Staates in Südasien traditionell nicht primär auf einer

Abhängigkeiten in einer relationalen Struktur – trotz Unterschieden ähnlich dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nationen, ein Lehnsreich und Personenverbandsstaat, aus dem kein Nationalstaat wie etwa in Frankreich hervorging und der auch nicht so verstan-den werden wollte. Somit umfaßte ein südasiatischer Staat natürlich ein Territorium, aberer war nicht mit diesem identisch. Demgemäß war die Ausbildung von zentralistischen Strukturen schwierig und solche Strukturen selten langlebig; Einheiten wie etwa Dörfer oder Großfamilienverbände, die für die große Masse der südasiatischen Bevölkerung den physischen und kommunikativen Bedingungen gemäß den Hauptbezugspunkt bildeten, waren in einem solchen System größtenteils de facto auf sich selbst gestellt. Sie mußten sich somit einerseits i. d. R. selbst helfen, besaßen andererseits aber auch deutliche Auto-nomie in verschiedenen Belangen.

In einem solchen System sind die Hauptbezugspunkte auch für ein Zusammengehö-rigkeitsgefühl i. d. R. kleinere, fester umrissene Einheiten. Das war natürlich auch in vie-len Teilen der Erde einst so, doch sind die heutigen Nachwirkungen dieses Zustandes nicht überall ähnlich. In Südasien sind sie in weiten Teilen noch sehr prägend. Man kann ähnliche Strukturen sogar in den Armeen der großen südasiatischen Staaten und insbe-

-mentalsystem gegliedert, die in vielem eher Stammes- oder Ethnienverbänden gleichen und in den unteren Rängen auch durch Familienbeziehungen gestärkt sein können, da die Rekrutierung traditionell nur in bestimmten Gegenden vorgenommen wird. Untersuchun-gen haben ergeben, daß die Loyalität der Soldaten vornehmlich dem Regimentalverbandund in diesem besonders dem Bataillon gilt, noch vor dem Staat. Derartige, vormoderne

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Heere charakterisierende Strukturen konnten sich in Südasien übrigens v. a. deshalb in den modernen Armeen etablieren, weil auch die britische Infanterie im Gegensatz zu kontinentaleuropäischen Armeen ähnliche Strukturen aufwies und z. T. sogar heute nochaufweist.

Wenn wir nun überlegen, welche Art von sozialer Verbundenheit aus dem Zusammen-spiel aller angeführter Charakteristika erwachsen könnte, so wäre zu vermuten, daß es sich v. a. um Verbundenheit handeln dürfte, die einerseits auf überschaubaren mensch-lichen Aggregaten basiert, denen man sich jeweils persönlich verbunden fühlen kann, andererseits auf hierarchischen Gebilden, in die man sich einordnen kann. Gleichzeitigläßt sich auch vermuten, daß die Bereitschaft, Handlungen auszuführen oder Verhaltens- und Denkweisen zu fördern, deren Sinn sich nicht ohne weiteres erschließt, die aber als dennoch zu tun angesehen werden, weil sie vielleicht auf Traditionen beruhen oder vor-geschrieben sind, hoch sein wird. Andererseits wird nicht durch Traditionen oder der-gleichen vorgegebenes Handeln wahrscheinlich eher an momentanen Notwendigkeiten ausgerichtet sein als an grundsätzlichen, möglicherweise abstrakten Erwägungen. Undman kann auch erwarten, daß Ungleichgewichte eher in Kauf genommen werden, daß für

als akzeptabel gelten, und daß in derlei Angelegenheiten das gegenseitige Einwirken ver-schiedener Gruppen auf gruppeninterne Prozesse minimal ist. Gleichzeitig würden Pri-vilegien, die Gruppenmitgliedern zukommen, Nichtmitgliedern i. d. R. verwehrt werden.

In einem solchen System hingen nicht nur die Entwicklung, sondern auch die Über-lebenschancen des Individuums nicht von einer übergeordneten Entität, sondern von der Zugehörigkeit zu konkreten Gruppen oder Gemeinschaften ab. Doch das Bewußtsein,ohne diese Gemeinschaft verloren zu sein, bedingte auch Unterwerfung und Selbstauf-gabe. Individualrechte träten in den Hintergrund, sowie Strukturen, die diese voraussetzen.

Das entspricht, im Großen und Ganzen, jener Art von Solidarität, die auch „face to face-Solidarität“ genannt worden ist und von der Prisching in seinen Betrachtungen zur Vielschichtigkeit des Begriffs Solidarität und deren Wesen gesagt hat (2003, S.160):

Das face to face-Verhältnis in der kleinen Gruppe bedeutet freilich zweierlei: Hilfe, aber auch Kontrolle.

der südasiatischen Bevölkerung fest verankert. Das wird oft verdeckt durch staatliche Strukturen und Rhetorik, die v. a. europäischen Mustern nachempfunden sind. Sie sind

unter der dünnen Eisschicht eines zugefrorenen großen Flusses die gewaltige Masse des

formativen Kräfte.Es ist offensichtlich, daß dieser Zustand ein sehr anderer ist als der, der unseren hiesigen

und heutigen Debatten zum Wesen der Solidarität zugrunde liegt. Viele der Charakteris-tika, die wir allgemein mit Solidarität zu verbinden scheinen, sind in Südasien nicht, oder

Renten-, Arbeitslosen- oder Krankenversicherung, trotz gegenteiliger Gesetze kein tat-

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sächliches größeres Interesse an Chancengewährung für benachteiligte oder ausgegrenzte Gruppen, kein großes Interesse an der Gesundheit, leiblichen Unversehrtheit oder gar dem Leben von Nichtmitgliedern der eigenen Gruppe, trotz gegenteiliger Gesetze keine Gleichbehandlung durch Polizei und Justiz, kaum Hemmungen bei der Verwendung von politischen Ämtern für die Interessen der eigenen Gruppe, vorrangig der Familie, und

Solidarität in diesem Umfeld einen sehr schweren Stand hätte. So tauchen bspw. sofort Probleme auf, wenn man hierzulande gängige Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeitoder horizontaler Solidarität als Referenzmaßstab zugrunde legt.

individueller Interessen zum Wohle der Gruppe oder Gemeinschaft. Das kann durchaus von dem Betroffenen gutgeheißen werden, besonders wenn sehr starke Bindungen zur Gruppe oder Gemeinschaft bestehen. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, daß die großen heterogenen südasiatischen Staaten es trotz aller Voraussetzungen, die das Gegen-teil erwarten ließen, vermocht haben, diese Bereitschaft durch Patriotismus auch an den modernen Staat an sich zu binden, allerdings mit Mitteln, die unser eigener Staat wohl weder anwenden könnte noch wollte. Doch das nur am Rande. Was es auf jeden Fall fest-zuhalten gilt, ist der Ausgleich für das Fehlen öffentlicher, dem Gedanken der Solidarität erwachsener Versorgungssysteme durch freiwillige oder unfreiwillige Einschränkung der Individualinteressen; das könnte man durchaus auch als Solidarität bezeichnen, verträgt sich jedoch nur schwerlich mit der Idee individueller Selbstbestimmung und dem Schaf-fen von Möglichkeiten für diese als Teil der hiesigen Solidaritätsdebatten.

Auf jeden Fall offenbart diese notwendigerweise knappe Übersicht eine andere Bewußtseinslage und ein anderes Wertesystem als das, was den hiesigen Vorstellungen zu Solidarität – was auch immer diese im Einzelnen sein mögen – zugrunde liegt. Wenn man daher Solidarität in einer den hiesigen gängigen Vorstellungen entsprechenden Weise in

dennoch den Begriff Solidarität auch im Zusammenhang jener Zustände, wird man zwar das gleiche Wort haben wie in den hiesigen Debatten, aber sicherlich mit sehr anderem Bedeutungsinhalt; das, was man beschriebe, wäre zwar auch Solidarität genannt, wäre aber nicht das gleiche.

Im gegebenen Zusammenhang in der glücklichen Lage, keine Lösungen anbieten zu müssen, können wir es beim Hinweis auf dieses Problem bewenden lassen. Allerdingssei noch der weitere Hinweis erlaubt, daß man möglicherweise weiter käme, wenn man den Rückgriff auf die erwähnte antike europäische Vorstellung von Solidarität einfach als Haftungs- und Risikogemeinschaft, wie sie das römische Recht nahelegt, vornähme.

-päische, insbesondere westeuropäische Werte und Vorstellungen als für die Menschheit allgemein verbindlich dargestellt werden; sie werden „universal“ genannt. Nun kann natürlich niemand in die Zukunft sehen, aber es wäre dennoch nicht abwegig, anzuneh-men, daß über kurz oder lang das v. a. westeuropäisch geprägte sogenannte internationale

macht sich inzwischen auch einer breiteren Öffentlichkeit bemerkbar, sei es in der Miß-achtung der auf der Durchsetzungskraft europäischer und nordamerikanischer Mächte

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basierenden sogenannten Universalrechte, sei es in der Abweisung vornehmlich west-europäisch geprägter Maßnahmen im Zusammenhang des sogenannten Klimawandels, sei es in der Abweisung von Einrichtungen wie etwa des Internationalen Strafgerichts-hofes, der im gesamten asiatischen Raum nur von Afghanistan, Japan, Jordanien, Kam-bodscha, der Mongolei, Osttimor, Südkorea und Tadschikistan anerkannt wird – oder, in anderen Worten, von der überwältigenden Mehrheit der asiatischen Staaten einschließ-lich den bedeutendsten abgelehnt wird (ebenso wie übrigens von Rußland und den USAund vielen anderen Staaten), was seine Wirkungskraft außerhalb Europas größtenteils auf international eher unbedeutende Staaten beschränkt. Wie das Beispiel südasiatischer Vor-stellungen zeigt, werden wir immer mehr mit der Erkenntnis leben müssen, daß unsere

anscheinende Internationalität v. a. auf dem Willen und der Macht, sie durchzusetzen, basieren, und mit dem Schwinden dieser auch ihren jetzigen Status verlieren müssen.

Anmerkungen

1 Kursivierung wird (außer bei Buchtiteln generell) bei einzelnen deutschen Wörtern verwendet, um anzuzeigen, daß es sich um eine Erörterung des Begriff(sinhalt)s handelt.

3 Die Schreibweise aller Sprachen ist hier eingedeutscht.

Literatur

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