"László Moholy-Nagy, John Cage und die Kreative Dynamik," in Wulf Herzogenrath, ed., “John Cage...

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Herausgegeben von Wulf Herzogenrath und Barbara Nierhoff-Wielk „ John Cage und …“ Bildender Künstler – Einflüsse, Anregungen Mit freundlicher Unterstützung der JohnCage_FINAL_0503.indd 3 05.03.2012 13:59:25 Uhr

Transcript of "László Moholy-Nagy, John Cage und die Kreative Dynamik," in Wulf Herzogenrath, ed., “John Cage...

Herausgegeben von

Wulf Herzogenrath und

Barbara Nierhoff-Wielk

„ John Cage und …“ Bildender Künstler –

Einflüsse, Anregungen

Mit freundlicher Unterstützung der

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Otto Piene 6 7 Dank 16 Einführung Wulf Herzogenrath Daniel Spoerri 27 28 John Cage: Musik – Kunst – Leben. Gedanken zu Cage als bildender Künstler Wulf Herzogenrath Mary Bauermeister 46 48 „Es ist ein langsamer Weg.“ John Cage,

Galka Scheyer und die Kunst der „Blauen Könige“ Maria Müller-Schareck Beryl Korot 59

60 László Moholy-Nagy, John Cage und die kreative Dynamik Jeffrey Saletnik Hans Haacke 71 72 John Cage und das Künstlerpaar Josef und Anni Albers – erste Gedanken zu einem spannungsvollen,

fruchtbaren Verhältnis Wulf Herzogenrath 86 Notation, Bild und Farbe Angela Lammert Blixa Bargeld 102

104 John Cage and Fluxus. Some writings by others who knew gathered by Jon Hendricks Peter Brötzmann 134

136 John Cages Bezüge zur Performancekunst Yvonne Ziegler Yoko Ono 153

154 Die Idee von Musik und die Idee von Film: Cage – Fluxus – Film Birgit Hein Gerhard Richter 163

164 John Cage und Joseph Beuys – „more than just a personal thing” Detlef Stein

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176 John Cage – Not Wanting to Say Anything about Marcel Carl Solway 184 Fluss Steine und Rauch – Aquarelle und Zeichnungen von John Cage Toni Stooss 206 Die Klang- und Lichtinstallation Writing through the Essay ‘On the Duty of Civil Disobedience’ von John Cage in der Kunsthalle Bremen Wulf Herzogenrath 214 John Cage zu Writing through the Essay ‘On the Duty of Civil Disobedience’ 216 „All for one and one for all.“ – John Cages Film One11 Henning Lohner 228 Praktikabel anarchisch – Zu dem Konzeptstück Musicircus von John Cage Reinhard Oehlschlägel 236 John Cages Rolywholyover in Los Angeles. Ein neues Konzept für Museen und Ausstellungen Wulf Herzogenrath Takako Saito 247 248 Zeit – Klangdauer – Ewigkeit: Das Orgelprojekt von John Cage in Halberstadt (2001–2640) Wulf Herzogenrath Robert Wilson 253 254 „A purposeful purposelessness“ – der Zufall in der Kunst von John Cage Barbara Nierhoff-Wielk Ben Patterson 271 272 [Stille und andere Geräusche, re:] Hamlet de Brooklyn. Conversing with(e-)out … Andreas Kreul Kyungwoo Chun 290

Gerhard Rühm 291

292 Biografie John Cage (1912–1992) Richard Long 307 308 Abgekürzte Literatur 315 Register

Die ausgestellten Werke sind durch blaue Bildunterschriften, Referenzabbildungen hingegen durch schwarze Bildunterschriften gekennzeichnet.

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Jeffrey Saletnik

László Moholy-Nagy, John Cage und die kreative Dynamik

László Moholy-Nagys Lichtrequisit ≥ Abb.1, 2 ist ein vieldeutiges Objekt. 1930 vollendet und im gleichen Jahr erstmals als Teil der Section allemande der Exposition de la Société des Artistes décorateurs in Paris ausgestellt, ist es gleichermaßen mechanische Skulptur, Toninstallation, Lichtprojektor und Dar steller in Moholy-Nagys Film Licht-spiel: Schwarz-Weiss-Grau (1930). Insbe-sondere wenn es so installiert wird wie heutzutage (oft nicht so, wie Moholy-Nagy es anfangs ausgestellt hatte),1 muss man innehalten und sich fragen, ob man die eigene Aufmerksamkeit auf das physische Objekt des Lichtrequisits richten möchte oder auf die Schatten und Spiegelungen, die es wirft. Seine Form ist in ihrem statischem Zustand faszinierend, mit ihren kreisförmigen Metall- und Glasflächen, die die Betrachter dazu einladen, das Werk zu aktivieren, indem sie es physisch um-runden und dabei durch seine ge-schichteten perforierten Ebenen spä-hen. Beleuchtet ist es prachtvoll. Aber wenn der Elektromotor angeschaltet wird und brummt, wenn die bewegli-chen Teile des Lichtrequisits in Gang ge-setzt werden und gegeneinander kla-cken, wird das Werk zu einem Apparat, der seine gesamte Umgebung in eine Abfolge von Licht und Schatten taucht und den Betrachter darin einhüllt. Katalysator-Objekt ist insofern viel-leicht die produktivste Klassifizierung,

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die wir dem Werk zuschreiben können. Sibyl Moholy-Nagy, die zweite Frau des Künstlers, hat das Lichtrequisit als „Demonstrationsmechanismus“oder „Werk zeug“ 2 bezeichnet und spie- gelt damit die Empfindungen ihres Mannes, der in einem Schriftstück über das Objekt dessen Potenzial als experi-mentelles Hilfsmittel für optische und kinetische Schöpfungen betonte.3 So-wohl als Einzelobjekt wie als Teil einer breiteren Kunstpraxis enthüllt das Lichtrequisit gemeinsame Anliegen von Moholy-Nagy und John Cage. Insofern als das Lichtrequisit ein Kata-lysator für die Erfahrung von Phänome-nen ist, trägt es eine Affinität zu Cages Komposition 4’33” (1952), dem um-strittensten Werk des Komponisten, in dem Umgebungsgeräusche das Werk über eine Zeitspanne von 4 Minuten und 33 Sekunden produzieren – anstel-le eines Interpreten, der beabsichtigte Töne hervorbringt. Einer Aufführung von 4’33” zu lauschen bewirkt, dass man sich des Zusammenspiels der Geräusche in der eigenen Umgebung und der Unmöglichkeit vollkommener Stille bewusst wird; eine aufschluss-reiche und sogar herausfordernde Erfahrung. Cage richtet mit 4’33” un-sere Aufmerksamkeit beim Hören neu aus, passend zu Moholy-Nagys Ansicht, dass das Ziel schöpferischen Tuns dar-in liege, die Sinne ständig zu schärfen und zu verfeinern.4 Nach Ansicht von

1 László Moholy-Nagy, Lichtrequisit einer Elektrischen Bühne, 1929–30, Replik 2006, Harvard Art Museums/Busch-Reisinger Museum

2 László Moholy-Nagy, Lichtrequisit / Licht-Raum Modulator, 1929–30, Replik 1970, Van Abbemuseum, Eindhoven

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Moholy-Nagy ließ sich das sensorische Bewusstsein verbessern, indem man technische Apparate aus Fotografie, Film und Tontechnik einsetzte, um erweiterte Sinneserfahrungen zu er-zeugen. Er schlug beispielsweise vor, die Grammofon-Wachsplatten, die zur mechanischen Aufzeichnung von Tö-nen verwendet wurden, von Hand ein-zuritzen, sodass ihre Rillen dazu einge-setzt würden, Töne zu erzeugen anstatt sie nur aufzuzeichnen.5 Solche Expe-rimente zur Formung der Sinne waren entscheidend für Moholy-Nagys Arbeit, wie am Lichtrequisit und anderen Wer-ken wie dem Space Modulator // Raum-verwandler ≥ Abb. 3 aus dem Jahr 1939 offensichtlich wird. Space Modulator // Raumverwandler ist ein unbewegliches Werk, bei dem die Unterschiede zwi-schen dem metallischen Hintergrund und der amorphen, durchsichtigen Ple-xiglasform, die auf seiner Oberfläche befestigt ist, verschwimmen, sodass ihre materiellen Grenzen in ein mehr-deutiges optisches Feld zerfließen. In der Tat ist ein ähnlicher Effekt auf vie-len von Moholy-Nagys experimentel-len Fotos und Fotogrammen zu sehen ≥ Abb. 4. Die inhärente Veränderlich-keit dieser Werke unterstreicht den Wi-derstand, den Moholy-Nagys Arbeit der Stasis entgegensetzt – ein Interesse an ästhetischen Zufällen, das Cage teilt. Moholy-Nagy betrachtete das Licht-requisit als erstes Experiment mit Licht

3 László Moholy-Nagy, Space modulator // Raumverwandler, 1939, Acrylglas auf Stahl im Holzrahmen, 78,4 x 50,5 x 10,7 cm, Lehmbruck Museum, Duisburg

4 László Moholy-Nagy, Ohne Titel, Dessau, 1925, Museum Folkwang, Essen

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und Bewegung; er sagte voraus, dass es nach weiteren Untersuchungen zu „Lichtfontänen und mechanischen-elektrischen Bewegungsspielen“ füh-ren würde, die man sogar mit Hilfe von Radios übertragen könnte, die mit Be-leuchtungsvorrichtungen ausgestattet wären.6 In dieser Hinsicht ist das Licht-requisit analog zu Cages Experimen ten mit verschiedenen unkonventionel len Schlaginstrumenten und elektroni-schen Medien, die als Ton-Erkundun-gen letztlich auf die Entwicklung neuer elektrischer Instrumente für den Ein-satz durch Komponisten ausgerichtet waren. Cages Imaginary Landscape No. 3 (1942) ist für Konservendosen, einen gedämpften Gong, „elektronische und mechanische Geräte, darunter Ton-frequenzgeneratoren, Plattenspieler mit variabler Drehgeschwindigkeit für das Abspielen von Tonfrequenzaufnah-men und Generatorengeräuschen so-wie einen Summer“, außerdem noch für eine Drahtspule mit Verstärker und eine verstärkte Marimba geschrieben.7 Das Drei-Minuten-Stück besteht aus kontrollierten Geräuschen und einer zarten Kakofonie der relativ kleinen Schlaginstrumente. Die Aufführenden setzen verschiedene rhythmische Struk-turen um, die sich gegenseitig über-lagern und vom periodischen Klingeln eines Türsummers akzentuiert werden, während Geräusche, die von einem elektronischen Tonfrequenzgenerator

erzeugt werden, diese Aktivität unter-malen. Wenn die Perkussionsklänge zwischendurch schwächer werden, hö-ren die Zuschauer nur das elektroni-sche Summen des Generators, dessen Frequenz und Tonlage sich langsam wandelt. Auf die Vielfalt von Klängen angesprochen, die er in dem Stück als Material verwendet, sagte Cage, „wenn man sie zusammensetzt, baut man Be-deutung in das Verhältnis der Töne zu-einander ein.“8 Für Cage hieß das, Ge-gensätze zu schaffen, die tongebende Materialien dazu herausforderten, an-ders zu reagieren, als man erwarten würde – eine Strategie, die im Einklang mit Moholy-Nagys experimenteller Pra-xis und Lehre steht. Cage lernte das Lichtrequisit kennen, als er Moholy-Nagy 1940 beim Som-merprogramm des Mills College im kalifornischen Oakland traf. Moholy-Nagy war 1934 aus Berlin geflohen und zunächst nach Amsterdam und dann im folgenden Jahr nach London gezogen, bevor er 1937 nach Chicago, Illinois aus wanderte, wo er Direktor des New Bauhaus – American School of Design wurde (später als School of Design bekannt). Wie der Name nahe-legt, übernahm die Hochschule Aspek-te des material- und prozessorientier-ten Lehrplans, an dessen Entwicklung Moholy-Nagy am Bauhaus mitgewirkt hatte, wo er zusammen mit Josef Albers den Vorkurs unterrichtete und zwi-

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schen 1923 und 1928 die Metallwerk-statt leitete.9 Im Sommerprogramm des Mills College boten Moholy-Nagy und seine Mitarbeiter eine konzentrierte Version des Lehrplans der School of De-sign an, darunter den Basis-Workshop, Kurse in Weben und Fotografie und ein Seminar über Material, Volumen und Raum. Der Fach bereich Tanz des Colleges engagierte Cage im gleichen Sommer als musikalischen Begleiter ≥ Abb. 5. In der gesamten Anfangspha-se seiner Karriere suchte Cage die Nähe europäischer Emigranten und jener, die mit dem europäischen Modernismus sympathisierten. Er studierte in unter-schiedlichen Funktionen Komposition und Musiktheorie bei Richard Buh-lig, Adolph Weiss, Henry Cowell und Arnold Schönberg, lernte die Kunst-händlerin Galka Scheyer kennen und ging für kurze Zeit bei dem abstrakten Filmemacher Oskar Fischinger in die Lehre. Im Jahr 1938 wurde Cage an die Cornish School in Seattle im US-Staat Washington berufen, wo er ein Schlag-zeugensemble gründete, Vorlesungen hielt, 1939 Ausstellungen von Werken der Künstlergruppe Die Blaue Vier aus Scheyers Beständen organisierte und für die musikalische Begleitung der Tanzseminare sorgte. 1938 und 1939 trat er am Mills College auf, wie auch während seines Aufenthalts dort im Sommer 1940. Fakultätsmitglieder der School of Design schufen am 18. Juli

5 John Cage am Mills College, um 1939

6 John Cage, Quartet for Percussion, 1935, roter Stift mit Aktenzeichen auf Fotokopie, 35,9 x 21,9 cm, Privatbesitz, Berlin

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1940 das Bühnenbild für einen Auftritt von Cages Schlagzeugensemble;10 darü-ber hinaus wurde das Konzert von einer „Choreographie bewegter Lichter“ be-gleitet, die Gordon Webber entworfen hatte, ein Schüler von Moholy-Nagy, der auch den Kinderkurs der Fakultät un-terrichtete.11 Lichtrequisit war zusam-men mit anderen Moholy-Nagy-Werken zum Mills College transportiert – und beim Transport beschädigt – worden, für eine Ausstellung in der College-Galerie, die den Titel School of Design trug und Werke von Fakultätsmitglie-dern und Studenten der gleichnamigen Hochschule zeigte.12 Es ist verführerisch, sich vorzustellen, wie das Lichtrequisit sein Licht durch die Konzerthalle warf, während Cages Second Construction (1939/40) und an-dere Werke für Schlagzeugensemble ≥ Abb. 6 aus dem Programm aufgeführt wurden;13 allerdings ist nicht bekannt,

ob Lichtrequisit diesem Zweck diente.14 Auf jeden Fall ist Cages Zusammenar-beit mit den Mitarbeitern der School of Design insoweit bedeutsam, als sie zeigt, zu welchem Grad seine Ziele mit Moholy-Nagys Denken und dessen Programm für die Hochschule übereinstimmten. Die Nachricht von der Aufführung am Mills

„Die höchste Absicht ist, überhaupt keine Absicht zu haben. Das stellt einen in Einklang mit der Natur und der Art ihres Vorgehens.“Cage 1995, S. 82

College fand weite Verbreitung; die Zeit-schrift Time veröffentlichte einen Arti-kel über das Konzert, der Cages Feststel-lung zitierte, Musik sei „die Erkundung von Tönen und Rhythmen, die zuvor als nichtmusikalisch angesehen wurden“ und sein Interesse an der Entwicklung elektrischer Musikinstrumente be-schrieb.15 Er hatte diesen Wunsch schon vor seiner Begegnung mit Moholy-Nagy geäußert, als er von der überragenden Bedeutung sprach, die der Film-Fono-graf für Komponisten hatte, durch seine Fähigkeit, „die Amplitude und Fre-quenz von … Tönen zu steuern und [ihnen] Rhythmen innerhalb oder jen-seits der Reichweite der Fantasie zu geben.“16 Er sprach auch davon, dass Zentren für experimentelle Musik not-wendig seien, in denen Komponisten mit den „Instrumenten zum Musikma-chen im 20. Jahrhundert“17 experimen-tieren könnten. Seine Beziehungen zu

Fischinger und Cowell inspirierten sol-che Empfindungen; allerdings war es Moholy-Nagys School of Design, die das Vorbild dafür lieferte, wie ein Zentrum für experimentelle Musik tatsächlich funktionieren könnte. In Bezug auf sei-ne Zeit am Mills College schrieb Cage an den Musikkritiker Peter Yates, er finde

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dort „ein ausgezeichnetes Umfeld bei den Bauhaus-Leuten. Neue Materialien. Zusammenarbeit mit technischen Fort-schritten.“18 Und tatsächlich verbrachte Cage 1940 und 1941 einen Großteil sei-ner Zeit damit, bei verschiedenen Insti-tutionen, Unternehmen, Stiftungen und Einzelpersonen um Unterstützung und Hilfe bei der Gründung eines Zentrums für experimentelle Musik zu werben. Er beschrieb das oberste Ziel des Zent-rums als Schaffung der Möglichkeit zum „Einsatz elektrischer Instrumente, die jede gewünschte Frequenz in jeder ge-wünschten Dauer, Amplitude und Klang-farbe produzieren können“ – ein Ziel, das durch die Verwendung von Geräten wie „Rechteckwellengeneratoren, Ton-frequenzgeneratoren, Thunderscreens, Verstärkern, Lautsprechern und einer Bibliothek von Filmtönen“19 gefördert werden sollte. Die School of Design gehörte zu den Institutionen, die daran interessiert waren, Cages geplantes Zentrum für experimentelle Musik aufzunehmen, obwohl sie das Unternehmen nicht finanzieren konnte; tatsächlich war kei-ne der Institutionen dazu in der Lage. Moholy-Nagy bot Cage stattdessen einen Lehrauftrag an der Hochschu-le in Chicago an, wo Cage im Studien-jahr 1941/42 einen Kurs mit dem Titel Tonexperimente unterrichtete. Seine Kursbeschreibung spiegelte den Tenor des experimentellen, materialorientier-

ten und pragmatischen Lehrplans der Hochschule wider: Damit Komponisten „Bedeutung in das Verhältnis der Töne zueinander einbauen“20 können, wie es Cage bei der Komposition von Ima-ginary Landscape No. 3 anstrebte, müs-sen sie zunächst die Möglichkeiten der Anordnung der Tonmaterialien verste-hen, die ihnen zur Verfügung stehen. Die Beschreibung lautete: „Tonexperi-mente: Erkundung und Verwendung von neuem Tonmaterial; Erforschung von manuellen, stimmlichen, mecha-nischen, elektrischen und filmischen Mitteln der Tonerzeugung; Ton im Theater: Tanz, Schauspiel und Film; Gruppenimprovisation; kreativer musi-kalischer Ausdruck; Einstudierung und Aufführungen experimenteller Musik; das Orchester.“21

Da an der Hochschule die Ausstattung fehlte, um diese Ziele ganz zu verwirk-lichen, ließ Cage seine Studenten mit Musikinstrumenten aus seiner eige-nen Sammlung experimentieren, zu der verschiedene Trommeln, Becken, Flaschen, Glocken, Gongs, Metallroh-re, ein Waschzuber und Metallscheiben gehörten. Die Studentenaufführungen erschufen eine Kakofonie, die noch weit jenseits des Hochschulgebäudes zu hören war und bei Studenten und Zuhörern gleichermaßen die „extreme Begeisterung, die mit der Entdeckung einer neuen sensorischen Dimensi-on einhergeht“ hervorrief.22 Wie erfri-

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schend diese Neuentdeckung auch ge-wesen sein mag, die School of Design konnte Cage nicht die Möglichkeiten bieten, die für sein Ziel der Etablierung eines Zentrums für experimentelle Musik notwendig gewesen wären, und seine Anstrengungen, die notwen dige technische Ausstattung in Chicago zu erwerben, waren ebenfalls frust-rierend. Er hatte sich eine ausgefeilte Zusammenarbeit mit dem Columbia Workshop des Radiosenders CBS aus-gemalt, als er eine Musikbegleitung zu Kenneth Patchens Hörspiel The City Wears a Slouch Hat (1942) komponierte; allerdings waren die Studiotechniker nicht in der Lage, die Geräusche zu re-alisieren, auf deren elektronische Pro-duktion er gehofft hatte.23 Cages Wunsch, ein Zentrum für expe - rimentelle Musik zu gründen, sollte sich niemals erfüllen; trotz dem wid-mete er seine Aufmerksamkeit weiter-hin dem Einsatz elektronischer Medi-en für Komposition und Aufführungen – auf verschiedenen Wegen, die seine Nähe zu Moholy-Nagy demonstrieren. Für Williams Mix (1952) nahm er phy-sische Veränderungen an Magnetbän-dern vor, auf denen zahlreiche Arten von Tönen aufgenommen worden waren; er zerschnitt sie und klebte sie zusam-men, um ein neues Werk für Tonband-geräte zu komponieren.24 Bei Cart-ridge Music (1960) verändert der oder die Aufführende den Apparat, der die

Musik wiedergibt – das Grammofon –, indem Streichhölzer, Drahtstückchen und andere kleine Gegenstände (an-stelle der Nadel) in den Tonabnehmer eingefügt werden, sodass sie, wenn man sie bewegt, Töne produzieren, die „zu klein sind, um gehört zu werden“, wenn sie nicht mit Lautsprechern ver-stärkt werden. Und für Variations VII (1966), den Beitrag des Komponisten zu 9 Evenings: Theater & Engineering im New Yorker 69th Regiment Armory, ar-beitete Cage mit Ingenieuren zusam-men, um Systeme zu entwickeln, die in der Lage waren, Geräusche zu ver-stärken, zu mischen und zu verbreiten, die innerhalb des Aufführungsraums produziert wurden, in diesem entstan-den oder in diesem empfangbar wa-ren, wie beispielsweise die Geräusche von Haushaltsgegenständen, die eines Geigerzählers oder die des mensch-lichen Körpers (beispielsweise das Ge-räusch der Hirnströme) sowie jene, die auf elektromagnetischem Weg über Radios, Fernseher und Telefone emp-fangen wurden. Cages Verwendung elektronischer Technik ist mit seinem Interesse an den Schriften Marshall McLuhans in Verbindung gebracht worden, insbesondere der Vorstellung, dass elektronische Medien ein erweiter-tes Sinnesumfeld darstellen, innerhalb dessen man interagiert, entsprechend McLuhans allgemeiner Theorie der Me-dien als Erweiterung des Menschen.25

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„Fortschritt meint vielleicht, die Natur zu beherrschen. In der Kunst scheint es darum zu gehen, auf die Natur zu horchen.“ Cage, in: Kostelanetz 1989, S. 158

In der Praxis allerdings entspricht Cages Verwendung der Technik als Mit-tel der Sinnesverstärkung ebenso dem Werk von Moholy-Nagy. Moholy-Nagys Film Lichtspiel: Schwarz-Weiss-Grau ≥ Abb. 7 wurde am 12. Juli 1940 am Mills College gezeigt, begleitet von einem Vortrag des Künstlers und Filmemachers. Der Fünfeinhalb-Minu-ten-Film, dessen kinematografisches Objekt Moholy-Nagys Lichtrequisit ist, sollte der letzte Teil eines längeren, nie verwirklichten Films werden, der

verschiedene „Mittel zur Lichtgestal-tung“ illustrieren sollte, darunter Ker-zen, Glühbirnen und die Strahlen von Scheinwerfern.26 Als Gerät für optische und kinetische Schöpfungen entwor-fen, war das Lichtrequisit als Über-gangswerk gedacht, als ein Schritt in Richtung auf die durchdachte Verwen-dung von Licht als kreativem Material; im Hinblick auf das diesbezügliche Po-tenzial des Films war es essenziell, dem Charakter des Films als Medium, das prinzipiell graduelle Abstufungen von Licht registrieren konnte – schwarz, weiß und grau – Aufmerksamkeit zu widmen. In dem Film wird das Licht-requisit nicht als Einzelobjekt mit fest-gelegten mechanischen Bewegungen

gezeigt (was es ist), sondern es wird eher als Medium für die Erzeugung von Lichteffekten eingesetzt, die durch eine Vielzahl von optischen Manipulatio-nen des Filmemachers noch verstärkt wurden. Das Lichtrequisit wird verzerrt und ist nur in Teilen zu sehen, oft aus extremen Winkeln und in verschie-denen Abstufungen von Beleuchtung und Schärfe; Bilder werden zeitweilig übereinandergelegt, als Negative ge-zeigt oder verdoppelt, während das Gerät sich dreht, sodass das Blickfeld

sich in jeder Filmsequenz ständig wan-delt. Das optische Potenzial des Gerä-tes selbst wird dadurch verstärkt, dass es gefilmt und filmtechnisch manipu-liert wird. Außerdem lädt Lichtspiel: Schwarz-Weiss-Grau die Betrachter – ob sie das Lichtrequisit kennen oder nicht – dazu ein, sich auf die Abfolge der prä-sentierten Bilder einzulassen, sich sogar in sie zu verstricken, da die Projektion des Films den Raum, in dem er gezeigt wird, aktiviert und die Sinne so weiter herausfordert und schärft.Auch Cage komponierte einen Film, der die Aufmerksamkeit auf das Sehen und Zuschauen lenkt. Ganz am Ende seines Lebens vollendete er einen Neunzig-Mi-nuten-Film mit dem Titel One11 (1992).

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Konzipiert als Performance für Kame-ramann und Licht, besteht der Film aus 17 Szenen, in denen eine Kamera Lichteffekte einfängt, die auf drei Wän-de projiziert werden ≥ Abb. S. 218/219.27 Wie bei einem Großteil seiner Werke seit den frühen 1950er Jahren verwen-dete Cage Zufallsverfahren, um beim Komponieren von One11 die Antworten für sämtliche Entscheidungssituatio-nen festzulegen – die Dauer jeder Ein-stellung, die Position und Intensität der Beleuchtung, die Art der Lichteffek-te, die Kamerabewegungen und sogar die Einzelheiten des Schnittvorgangs wurden per Zufall festgelegt. In One11 beobachtet man statt einer Handlung, Figuren oder Themen eher die fast ele-gische Bewegung des Lichts, dessen Konturen sich langsam vor der Kame-ra verschieben. Tatsächlich bemerkte Cage, während er den Film plante, „im allgemeinen ist Aufmerksamkeit für das Licht Aufmerksamkeit dafür, wie das Licht etwas anderes beeinflusst, dieser Film aber wird Licht als solches sein.“28 Obwohl das Interesse für die Teilnahme an den Geräuschen der eigenen Umge-bung die Diskussion über seine Arbeit und Ästhetik prägt, war Cage sich auch der Funktion des Visuellen deutlich be-wusst, als er sagte, „Wir leben mit Licht und wir leben mit Ton. Wir leben mit dem, was wir sehen können und wir leben mit dem, was wir hören können.“29 Die soziale Harmonie, die hier in Cages

Sprache mitschwingt, gehörte nicht unbedingt zu Moholy-Nagys produkti-vistischer Rhetorik, aber auf der Ebene der Materialverwendung zum Zweck der Einstimmung der Sinne und der Expe-rimente mit Blick auf dieses Ziel teilen Moholy-Nagy und Cage einen gemein-samen praktischen und praktikablen Ansatz – einen Ansatz, der weiterhin Möglichkeiten für künstlerische Expe-rimente birgt. In eben dieser Hinsicht ist die Dynamik zwischen Moholy-Nagy und Cage besonders erhellend, denn sie bietet die Chance, die Bedeutung von Sinnesmodalitäten für alle Künste neu zu überdenken.

7 László Moholy-Nagy, Film-Stills aus Ein Lichtspiel: Schwarz-Weiss-Grau, 1930

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1 Das Lichtrequisit war ursprünglich in einem Würfel untergebracht, dessen eine Seite eine runde Öffnung hatte, durch die es betrachtet werden konnte – in ständiger Bewegung und von farbigen Leuchten angestrahlt. Wenn man allerdings die Abdeckung gegenüber der Öffnung entfernte, konnten die Betrachter durch die Struktur hindurch auf die Lichteffek-te sehen, die jenseits des Objektes selbst auf eine Wand projiziert wurden. Heute wird das Werk übli-cherweise nicht in einem Gehäuse präsentiert; oft wird es eher in einem abgedunkelten Raum gezeigt, auf dessen sämtliche Wände farbiges (und manchmal nur weißes) Licht und Schatten projiziert werden. 2 Sybil Moholy-Nagy: Brief an Agnes Mongan, Fogg Museum, Universität Harvard, vom 6.2.1969, in: Busch-Reisinger Museum, Universität Harvard, Objektakte zu Lichtrequisit, BR 56.5.3 Siehe László Moholy-Nagy: Licht-requisit einer elektrischen Bühne, in: Die Form V, Nr. 11–12 (Juni 1930), abgedruckt in: Krisztina Passuth: Moholy-Nagy, New York 1985, S. 310f.4 Siehe László Moholy-Nagy: Produktion-Reproduktion, in: De Stijl 7 (1922), abgedruckt in: Passuth 1985, wie Anm. 3, S. 289f.5 Ebd. Siehe auch László Moholy-Nagy: Neue Gestaltung in der Musik. Möglichkeiten des Grammophons, in: Der Sturm 14 (Juli 1923), abge-druckt in: Passuth 1985, wie Anm. 3, S. 291f.6 Wie Anm. 3.7 Kostelanetz 2000, S. 8.8 Bob Andrews: His Beer Bottle Mu-sic Becomes a High Art, in: Chicago Daily Times vom 4.3.1942.9 Nachdem er das Bauhaus verlas-sen hatte, gründete Moholy-Nagy ein kommerzielles Designbüro in Berlin.

10 Siehe Miller 2000, S. 234–239.11 John Cage: Brief an Henry Cowell vom 8.8.1940, Henry Cowell Papers, JPB 00-03, Music Division, The New York Public Library for the Perfor-ming Arts.12 Die Ausstellung war für die gesamte Dauer des Sommerpro-gramms zu sehen, vom 23.6. bis zum 3.8.1940. Sybil Moholy-Nagy erwähnt in einem Brief, dass das Lichtrequisit auf dem Transport von Chicago nach Oakland beschädigt wurde; vgl. Moholy-Nagy 1969, wie Anm. 2.13 Cage und seine Komponisten-kollegen Lou Harrison und William Russell organisierten das Konzert, dessen Programm Cages Second Construction, José Ardevols Suite, Henry Cowells Pulse, Lou Harrisons Canticle, Amadeo Roldáns Ritmicas V und VI und William Russells Chicago Sketches umfasste.14 Es ist unklar, warum das Lichtre-quisit, das nicht auf der Checkliste für die School of Design-Ausstellung auftaucht, zum Mills College ver-schickt wurde.15 Fingersnaps & Footstamps, in: Time 36, Nr. 5 (29.7.1940), S. 48.16 John Cage: The Future of Music: Credo, 1937 als Vorlesung gehalten, erstmals veröffentlicht 1958 sowie in: Silence, Wesleyan 1961, S. 3–6, hier S. 3. 17 A. a. O., S. 6. 18 John Cage: Brief an Peter Yates vom 14.12.1940, John Cage Collection, Northwestern University, Evanston, Illinois.19 John Cage: Plans for work, undat. Vorschlag, John Cage Collection, Northwestern University, Evanston, Illinois. 20 Andrews 1942, wie Anm. 8.21 Broschüre Evening Session: School of Design in Chicago (1941). 22 Robert J. Wolff: On Art and Learning, New York 1971, S. 12.

23 Letztendlich benutzte Cage Schlaginstrumente und Schallplat-ten, um eine modifizierte Musikbe-gleitung umzusetzen. 24 Cage verwendete sechs Kategori-en von Tonaufnahmen als Quellen: „Stadtgeräusche, Landgeräusche, manuell produzierte Geräusche (inklusive Musik), durch Wind pro duzierte Geräusche (inklusive Lieder) und ‚kleine’ Geräusche, die Verstärkung benötigten.“ Diese Geräuschtypen wurden dann gemäß anderer Kriterien verändert (ob ihre Frequenz, Klangfarbe und Amplitu-de variabel oder kontrolliert war), das Magnetband wurde geschnit-ten und dann wieder nach einem bestimmten Plan zusammengefügt. Siehe Pritchett 1993, S. 150ff. 25 A. a. O., S. 29–35. 26 László Moholy-Nagy: Fényjáték-film, in: Korunk 12 (1931), abge-druckt in: Passuth 1985, wie Anm 3, S. 316f. 27 One11 kann von Cages 103 (1991) begleitet werden, einer Musikkom-position für großes Orchester, die die Länge und Grundstruktur von One11 teilt: Beide dauern 90 Minuten und bestehen aus 17 Teilen. Cage begründete die Zahl der Teile beider Werke (die gleichzeitig komponiert wurden) auf der Struktur von James Joyces Finnegans Wake (das 17 Kapitel hat) und verwendete Zufallsverfah-ren, um die Antworten für sämtliche Entscheidungssituationen innerhalb dieser Struktur festzulegen. 28 Henning Lohner: The Making of Cage’s One11, in: Writings Through John Cage’s Music, Poetry, and Art, hrsg. v. David W. Bernstein u. Christopher Hatch, Chicago 2001, S. 264. Vgl. dazu ausführlich Henning Lohner in diesem Katalog, S. 216ff.29 Bernstein 2001, wie Anm. 28, S. 291.

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