Émile Durkheim - Soziologie, Ethnologie, Philosophie (Émile Durkheim - Sociology, Ethnology,...

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Inhalt Einleitung Renaissance eines penseur maudit: Émile Durkheim zwischen Soziologie, Ethnologie und Philosophie Tanja Bogusz & Heike Delitz ......................... 11 I Durkheims Gesellschaftstheorie: Kritische Rezeptionen und Aktualisierungen Émile Durkheims Programm einer wissenschaftlichen Soziologie in Deutschland Wiebke Keim .................................... 47 Dialektik der Gesellschaft versus › Conscience Collective ‹ ? Zur Kritik eodor W. Adornos an Émile Durkheim Lothar Peter ..................................... 73 Durkheims Soziologie als Sozioprudenz Joachim Fischer ................................... 95 Pluralität und Einheit: Zum Verhältnis von Pluralismus und Gesellschaftstheorie bei Émile Durkheim Jean Terrier ..................................... 119 Durkheim über Recht und Moral: Die Desintegrationsthese Steven Lukes & Devyani Prabhat ....................... 149

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Inhalt

Einleitung

Renaissance eines penseur maudit: Émile Durkheim zwischen Soziologie, Ethnologie und PhilosophieTanja Bogusz & Heike Delitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

I Durkheims Gesellschaftstheorie: Kritische Rezeptionen und Aktualisierungen

Émile Durkheims Programm einer wissenschaftlichen Soziologie in DeutschlandWiebke Keim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

Dialektik der Gesellschaft versus › Conscience Collective ‹ ? Zur Kritik Theodor W. Adornos an Émile DurkheimLothar Peter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

Durkheims Soziologie als SozioprudenzJoachim Fischer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

Pluralität und Einheit: Zum Verhältnis von Pluralismus und Gesellschaftstheorie bei Émile DurkheimJean Terrier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

Durkheim über Recht und Moral: Die DesintegrationstheseSteven Lukes & Devyani Prabhat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

6 Inhalt

Ethnomethodologie mit Durkheim – Sequenz- und Kulturanalysen zum › Fall Köhler ‹Thomas Scheffer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

II Durkheims Ethnologie: Eine sozio-kulturelle Anthropologie

Von Émile Durkheim zu Carl G. von Brandenstein: Lesarten des australischen TotemismusEmmanuel Désveaux . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

Mentale Kausalität und Wahrnehmung des Unsichtbaren: Zum Begriff der Partizipation bei Émile Durkheim und Lucien Lévy-BruhlFrédéric Keck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

Rekonstruktion eines MethodenkonfliktesMarcel Fournier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

Kohärenz und Emergenz: Durkheim und die SozialanthropologieStefan Beck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

Durkheim, die britische Anthropologie und die Kategorienfrage in den Elementaren Formen des religiösen LebensSusan Stedman Jones . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319

Synchronisationen: Bourdieu, Durkheim und die EthnologieTanja Bogusz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

Inhalt 7

III Durkheims Erkenntnistheorie: Epistemologische Konkurrenzen und praxistheoretische Perspektiven

Bergson und Durkheim, Bergsoniens und DurkheimiensHeike Delitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371

Zur Politisierung des Sozialen: Durkheims Soziologie und Tardes MonadenlehreMichael Schillmeier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403

Das verlorene Argument in Durkheims Pragmatismus-Vorlesung (1895 – 1955): Kritisches zu Methode und WahrheitStéphane Baciocchi & Jean-Louis Fabiani . . . . . . . . . . . . . . . . . 433

Das Collège de Sociologie und die Religionssoziologie der Durkheim-SchuleStephan Moebius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473

Identifikation – Imitation – Imagination: Transformative Praktiken in Durkheims ReligionssoziologieRobert Seyfert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503

Durkheims Theorie des Totemismus revisitedBruno Karsenti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529

Durkheims Theorie der Moderne: Selbstregulierende Praktiken als konstitutive Ordnung sozialer und moralischer TatsachenAnne W. Rawls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579

Einleitung

Renaissance eines penseur maudit: Émile Durkheim zwischen Soziologie, Ethnologie und PhilosophieTanja Bogusz & Heike Delitz

Durkheim » verkörpert das Wesentliche dessen, was Frankreich zur Sozial-anthropologie beigesteuert hat, wiewohl sein hundertster Geburtstag, der in

vielen Ländern festlich begangen wurde bei uns fast unbemerkt geblieben ist. […] Diese Lehre setzt uns noch immer in Erstaunen durch ihre imponieren-den Proportionen, ihr mächtiges logisches Gerüst und die Ausblicke, die sie

auf Horizonte gewährt, wo es noch so vieles zu erforschen gibt. «(Claude Lévi-Strauss 1979a [1960]: 12, 14)

Gehört Émile Durkheim zu den penseurs maudits, den verfemten Denkern ?1 Zu dieser Gruppe sind wohl diejenigen zu zählen, deren Werk zwar gemein-hin bekannt sein, sogar zum universitären Ausbildungskanon gehören mag, und das dennoch von den ihm anhaftenden Vorurteilen und karikierenden Verkürzungen nie ganz loskommt. Auch die kürzlich erschienene Gesamt-ausgabe der Werke Georg Simmels musste über hundert Jahre ausharren, weil man sich ausgerechnet in seiner Heimat lange Zeit uneinig blieb, ob Simmel überhaupt ein › richtiger ‹ Soziologe sei. Wie in einem Vexierglas spie-gelt sich auf der anderen Seite des Rheins der Fall Durkheims: In Frank-reich besteht zwar diesbezüglich kein Zweifel im Hinblick auf den Diszi-plinen-Gründer; von einer Werkausgabe ist man dort hingegen noch weit entfernt. Und es gehört zu den pikanten Details der Soziologiegeschichte, dass der lange Zeit als Determinist verschrieene Durkheim gerade in der Auseinandersetzung mit seinem Kollegen Simmel in einer Schrift aus dem Jahre 1900 besonders un-deterministisch argumentierte: Demzufolge gehör-ten die Strukturen dem Bereich des » Werdens « an, hätten stets vorläufigen Charakter und seien untrennbar verbunden mit dem Prozess ihrer Herstel-lung (Durkheim 2009: 170). Es waren solche Prozesse, die Durkheim insbe-sondere in seiner Studie Die elementaren Formen des religiösen Lebens inter-essierten. Sie feiert im Jahr 2012 ihr 100-jähriges Bestehen. Abgesehen von

1 Allusion auf den artiste maudit – den geschmähten und verteufelten, doch gerade deshalb geschätzten und bewunderten Künstler.

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Experten ist sie dem deutschsprachigen Publikum kaum bekannt. Höchste Zeit also, auch diesseits des Rheins zu gratulieren, einige Lücken zu schlie-ßen und dem großen Klassiker der Soziologie einen deutschsprachigen Sam-melband zu widmen.

Émile Durkheim hat gemeinsam mit seinen Kollegen und Schülern eine eigene Schule begründet, mit ihr die Bedeutungen und Kernselbstverständ-lichkeiten des Faches zunächst in Frankreich und dann darüber hinaus ge-prägt – mit allen Gegenreaktionen, die dieser Versuch damals wie heute auf sich zog: etwa in der Rehabilitierung von Gabriel Tardes » Mikrosoziologie «; in der Kritik an Durkheims Soziozentrismus und Positivismus; oder umge-kehrt an seiner Metaphysik, seinem » Hyperspiritualismus « (im Begriff des Kollektivbewusstseins, der conscience collective). Durkheim wurde oft verab-schiedet. Man spottete über jenen jüdischen Soziologen, der die Gesellschaft auf den Olymp hob und tatsächlich von ihrer autodivination sprach. Weg-weisend, aber seinerseits kritisiert, belächelt, und zuweilen absichtlich miss-verstanden, war insbesondere auch Durkheims methodologischer Satz, man müsse » das Soziale aus dem Sozialen erklären «, und es dabei als » Ding « ver-stehen: sein sogenannter choismus. Bekannt und heute weniger umstritten ist die funktionale Perspektive dieser Soziologie, aus der sich etwa selbst das Verbrechen als gesellschaftlich › nützlich ‹ erweist. Von nachhaltiger Wirkung war schließlich seine methodische Vorgehensweise, die noch in den schein-bar persönlichsten Motiven gesellschaftliche Ursachen zu erheben suchte, wie vor allem seine Selbstmordstudie zeigte. Vor dem Hintergrund der sozio-logiegeschichtlichen Bedeutung und Originalität der französischen Sozial-wissenschaft, die sich im Werk Durkheims und seiner Mitarbeiter zu einem interdisziplinären Dialog mit den zeitgenössischen Gesellschaftswissenschaf-ten verknüpfte, lohnt es sich, Durkheim noch einmal neu zu lesen – ohne die Vorurteile, die praenotiones vulgares (wie Durkheim zu sagen pflegte),2 die ihm gegenüber recht zahlreich waren.

Im Gegensatz zu diesen, oft radikalen, Brüchen mit Durkheim scheint die Bedeutung seines, des » Durkheimschen Momentes «3 für die Geschichte der Soziologie und ihre Fachidentität allerdings unumstritten. Die » Kom-mentare zu Durkheim lassen sich nicht mehr zählen « (Boudon 2008: 151), seufzen manche; dies gilt wohl für den angloamerikanischen und franzö-

2 Nützlich für das Verständnis der Durkheimschen Begriffe ist das Vocabulaire Durkheim (Keck/Plouviez 2008). Zum Begriff des » Kollektivbewusstseins « vgl. auch Karsenti 2006, Kap. VII und Müller/Schmid 1992; zu dem des » Dinges « Stedman Jones 2001: 141 ff.

3 Wie man (so Mucchielli 1998: 529) eher sagen müsste, um neben Durkheim seine Mitar-beiter und ebenso die zeitgenössischen Kritiker zu sehen.

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sischen, nicht aber für den deutschen Sprachraum. Anderswo gibt es eine Zeitschrift (Durkheimian Studies) und sogar einen Roman – in dem sich Durkheim zunächst um Max Webers Selbstmordabsichten Sorgen macht und dann selbst verschwindet: Durkheim is dead ! (Berger 2003). Ist Durk-heim inzwischen gar selbst ein » Totem « ?, fragten französische Soziologen und Philosophen kürzlich anlässlich eines Durkheim-Colloquiums in Pa-ris4 und griffen damit eine rhetorische Figur Jeffrey Alexanders und Philipp Smiths (vgl. Alexander/Smith 2005: 3) auf: Ob in der Religions, Wissens, Wirtschafts, Kunst-, Kriminal- oder Bildungssoziologie, Methodologie oder Institutionentheorie, der Theorie des Symbolischen oder der Theorie der Praxis – überall, so scheint es, hat die Durkheim-Schule schon das Feld be-stellt. Und je nachdem, welches Werk, welches Vokabular, welche Methode Durkheims man für interessant hält, scheint es ganz verschiedene › Durk-heims ‹ zu geben, vom soziologistischen über den positivistischen zum kul-turalistischen; vom konservativen über den strukturalen bis zum › radikalen ‹ Durkheim (vgl. ebd.: 5).

An Durkheim entzünden sich zugleich wie an kaum einem anderen Klas-siker scharfe Debatten. Ist er für die einen ein deterministischer und konser-vativer Rationalist (zum Beispiel Latour 2003), behaupten die anderen, an ihm komme keine Sozialwissenschaft vorbei (zum Beispiel Bourdieu/Passe-ron 1981 [1967]; Joas 1996: 76 ff.). Über seine nachhaltige interdisziplinäre Wirkung sind sich Soziologen und Ethnologen bzw. Sozial- und Kulturan-thropologen ebenfalls uneinig. Während manche Soziologen meinen, Durk-heim sei in der Anthropologie positiver aufgenommen worden als in der So-ziologie (so Müller 1999), stellen manche Anthropologen fest, Durkheim werde in ihren Disziplinen kaum noch zitiert. Zwar erinnert die aktuelle Re-sonanz pragmatistischer Perspektiven in der Soziologie, Philosophie und So-zial- und Kulturanthropologie daran, dass es Durkheim war, der sich – im Selbstverständnis Soziologe – als einer der ersten europäischen Denker in-tensiv mit dem Pragmatismus auseinandergesetzt und ihm sogar die Vorle-sungsreihe anlässlich der Einrichtung seines soziologischen Lehrstuhls an der Sorbonne gewidmet hat. Doch inwieweit diese Vorlesungen nicht nur wis-senssoziologisch, sondern auch erkenntnistheoretisch und methodologisch produktiv sind, bleibt zumindest in der deutschsprachigen Diskussion kaum reflektiert.

4 » Durkheim et ses usages dans les sciences sociales «, Sorbonne, Paris, 4./5. 11. 2011 (vgl. http://lettre.ehess.fr/2856, letzter Zugriff am 25. 11. 2011).

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Angesichts der vielfältigen Lesarten des Werkes und angesichts von des-sen Vielfältigkeit selbst (so sind etwa die über 800 Besprechungen von Durkheims Hand in der Année sociologique bisher unübersetzt), wird auch der vorliegende Band weder den › wahren ‹ noch den › ganzen ‹ Durkheim erfassen – auch deshalb, weil das » wunderbare Gebäude […], das bei der Durchreise des Demiurgen aus dem Boden gewachsen war « (Lévi-Strauss 1979a:  14), letztlich immer nur in Relation zu den je spezifischen histori-schen und disziplinären Rezeptionskontexten begangen werden kann. Wir erinnern zunächst an die Durkheim-Kritik in Frankreich (1), beleuchten dann die Frage, warum Durkheim in der deutschsprachigen Soziologie eher ein Unbekannter blieb (2) und heben das interdisziplinäre Potenzial seiner Schule hervor (3) – einerseits in der Integration ethnologischer Forschungen in soziologische Fragen (3.1), andererseits in der engen Verbindung von So-ziologie und Philosophie (3.2). Die Konstitution dieser vielschichtigen Sozio-logie vollzieht Durkheim nicht allein; ebenso beteiligt sind seine Mitarbei-ter und Schüler. Zum › Durkheim-Werden ‹ trägt aber auch die Abgrenzung von zeitgenössischen Rivalen bei, namentlich von Gabriel Tarde, aber auch von den Pragmatisten und den Bergsoniens. Anschließend an diese Ausein-andersetzung mit dem Programm Durkheims, dessen historische Wahrneh-mung und besonderes Potential, gibt es eine Reihe von jüngeren Entwick-lungen in den Gesellschaften und in der Sozialwissenschaft, die die aktuell zu beobachtende Renaissance Durkheims in der internationalen Debatte er-klären können und dazu auffordern, Durkheim neu zu lesen (3.3). Die Ein-leitung schließt mit einer knappen Zusammenfassung der Beiträge (4).

1 Un penseur maudit: Durkheim-Stereotypen in Frankreich

Im eigenen Land blieb Durkheim trotz (oder auch wegen) seiner unumstrit-tenen Rolle in der Gründung der Soziologie lange unbeliebt; nicht ihm, son-dern Auguste Comte haben die Franzosen ein lebensgroßes Denkmal vor der Sorbonne gesetzt. Es äußerte sich in Frankreich immer wieder eine re-gelrechte Durkheim-Feindschaft, vor deren Hintergrund sich erst die aktu-elle Revitalisierung erklärt. Die Beobachtung, dass es in der Ideengeschichte gerade die polemischen Brüche sind, die Relektüren ermöglichen (Worms 2009), gilt insbesondere also auch für Durkheim. Zuletzt war es Bruno Latour, der durch seine vehemente Durkheim-Kritik zugunsten Gabriel

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Tardes für einen frischen Blick auf Durkheim sorgte.5 Inzwischen richtet ge-rade auch die französische Forschung wieder ihren Blick auf Durkheim und ebenso auf sein Umfeld. Neu oder auch erstmals im Blick stehen zudem die Mitstreiter Durkheims, neben Marcel Mauss Maurice Halbwachs, Robert Hertz, Lucien Lévy-Bruhl und die zeitgenössischen Konkurrenten Durk-heims wie Arnold van Gennep und Gabriel Tarde.

In der Geschichte der französischen Geistes- und Sozialwissenschaften sind nun mehrere Phasen und unterschiedliche Motive der Durkheim-hosti-lité zu beobachten, an die man sich zunächst erinnern mag: Zu Durkheims Lebzeiten ist es der Kampf gegen die neue Sorbonne, für die er steht, ver-quickt mit der Dreyfus-Affäre, in dem sich die Motive bündeln – die Re-aktion gegen ein allzu bestimmtes, ja herrisches Auftretens Durkheims, ge-gen seinen Schreibstil und seine, am Sozialismus seines Schulfreundes Jean Jaurès orientierte, politische Haltung. So entzündet sich die Durk-heim-Feindseligkeit zunächst am Herrschaftsanspruch seines Programms, das nicht nur alle Bereiche der Gesellschaft als » soziale Tatsachen « in ih-ren Blick ziehen will, sondern auch dazu tendiert, die anderen Wissenschaf-ten als bloße Hilfswissenschaften zu verstehen. Dagegen hat sich namentlich die neue Geschichtswissenschaft gewehrt – nicht ohne wesentliche Impulse der Durkheimiens (nämlich deren soziologische Fragestellung) zu überneh-men. Die Durkheim-Schule scheint aber nicht nur jede andere soziologische Strömung erstickt und sich ungebührlich auf andere Disziplinen ausgedehnt zu haben; hinzu kam die Wahrnehmung eines › mechanistischen ‹ Ansatzes, der scheinbar alles einfach auf soziale Ursprünge zurückführt und als so-zial funk tional versteht. So berichtet Durkheims Zeitgenosse Henri Massis: » Dann kam Durkheim […]. Das Religiöse, sagte er, ist ganz einfach das So-ziale. Und whoosh ! – war das Grundlegende geklärt. […] Das erste Element ist die Existenz des sozialen Bewusstseins. Das Religiöse ist nichts anderes als das personifizierte, hypostasierte, substantialisierte und verabsolutierte So-ziale. […] Was interessiert uns Soziologen das Individuelle ? « (zitiert in Lukes 1985 [1973]: 372).6 Auch Claude Lévi-Strauss kritisierte den Imperialismus und Dogmatismus des Durkheimschen Programmes, wenn es bei ihm heißt: » Allzuoft seit Durkheim erschien die Soziologie als das Ergebnis einer in aller Eile vollzogenen Ausplünderung auf Kosten der Geschichtswissenschaft, der

5 Vgl. die Nachstellung der Durkheim-Tarde-Debatte an der Pariser École des Hautes Études Sociales durch Latour (alias Tarde) und Karsenti (alias Durkheim): http://www.bruno-latour.fr/fr/node/435, letzter Zugriff am 22. 5. 2012.

6 Gegen die Interpretation Durkheims als Anti-Individualisten vgl. auch die Arbeiten von Joas (z. B.: Joas 1993: 269).

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Psychologie, der Linguistik, der Wirtschaftswissenschaft, der Rechtswissen-schaft sowie der Ethnographie. Und die Soziologie gab sich damit zufrieden, den Früchten dieser Räuberei ihre eigenen Rezepte hinzuzufügen: welches Problem ihr auch gestellt wurde, man konnte sicher sein, eine vorgefertigte › soziologische Lösung ‹ zu erhalten « (Lévi-Strauss 1979a: 15).

Eine weitere, nun politisch motivierte Kritik betraf Durkheim als den › Ordnungsdenker ‹. Insbesondere für die marxistische Soziologie war Durk-heim schnell einer der » Wachhunde « der bürgerlichen Gesellschaft (Nizan 1932), der Staats und Institutionendenker, der Harmonist und Holist. Si-cherlich war er kein Konflikttheoretiker. Die » Lust des Bösen « findet, wie Niklas Luhmann feststellt, eben » keinen Platz in der Theorie « (1977: 21). Im Zusammenhang der Suche nach Ordnung ist es auch Durkheims Begriffs- und Analogiengebrauch, der Kritiken auf sich zieht – die Rede vom » Pa-thologischen « und » Normalen « in Bezug auf die Gesellschaft, von dem sich Georges Canguilhem (1974 [1943/1966]), und, im Anschluss an ihn, Michel Foucault distanzierten.7

Schließlich gab und gibt es vielfältige methodische und methodologi-sche Kritiken. 1946 hat Jean Stoetzel Durkheims Soziologie als Soziologie › von gestern ‹ bezeichnet, weil die aktuelle, › fortgeschrittene ‹ Soziologie em-pirisch verfahre, mit Maß und Zahl, jenseits großer Thesen. Aus dieser Sicht erscheint Durkheims Werk nur noch dogmatisch und doktrinär, als jene alte Soziologie, die sich ihre Fragen noch von der Philosophie diktieren ließ und im Begriff des » Kollektivbewusstseins « gar ein » soziologisches Phlogiston « er-funden habe (Stoetzel 1991: 450). Ähnliche Kritiken äußerte unter anderem auch Gabriel Tarde, bereits kurz nach Erscheinen der Regeln der soziologischen Methode. Und zeitgleich zu Stoetzel schrieb ein Jean-Paul Sartre, die Durk-heim-Soziologie sei » tot « – denn » die faits sociaux sind keine Dinge, sondern Bedeutungen, und als solche kehren sie zurück zu dem Wesen, durch das die Bedeutungen in die Welt kommen, den Menschen « (Sartre 1947: 186). Ak-tuell ist es wie erwähnt Bruno Latour, der Durkheims Perspektive kritisiert: als altmodische » Soziologie des Sozialen «, als eine, die › das Soziale ‹ subjekti-viert und als eine, die die Dinge deprivilegiert, also » asymmetrisch « verfährt (vgl. zum Beispiel Latour 2007: 121 ff., vor allem 126). Zwar würdigt dafür die empirische Soziologie bis heute die von Durkheim im Selbstmord ent-

7 Es geht hier um die Ersetzung der Differenz Normales/Pathologisches durch die Analyse der gesellschaftlichen » Normalisierungen « und » Normierungen «. Eine explizite Durk-heim-Kritik findet sich in Canguilhems bisher unveröffentlichtem Cours Les normes et le normal (1942/43; vgl. Le Blanc 2002: 130 – 140).

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wickelte Verfahrensweise, die Nutzung der Aussagekraft quantitativer Pro-portionen für die Gesellschaftsanalyse. Doch gerade hier war die Vereinseiti-gung in der Rezeption wohl auch am stärksten.

Weithin sah es also nach einer » Sklerose des Durkheimschen Denkens « aus (Marcel 2003: 3) – wäre da nicht Marcel Mauss, der an seiner Durk-heim-Treue keinen Zweifel ließ und der seinerseits einen erheblichen Ein-fluss auf die französische soziologische Theorie und Forschung hatte. Mauss war es, der die » ethnologische Wende « der Soziologie Durkheims vorantrieb (Ritter 1996) und der, wie Lévi-Strauss sich ausdrückte, aus dem Werk Durk-heims die » metaphysischen Phantome « austrieb, » die noch ihre Ketten hin-durchschleiften «, es vor den » eisigen Winden der Dialektik, dem Donner der Syllogismen, den Blitzen der Antinomien in Sicherheit « brachte und vor der Gefahr der » Entkörperlichung « und des » Automatismus « bewahrte (Lévi-Strauss 1979a: 14, 16).8 Und gegenüber den Verächtern Durkheims wies René Girard früh darauf hin, dass dessen » Perspektive die einzige « der fran-zösischen Soziologie sei, von der aus Probleme der » Kultur, oder der Sprache oder des symbolischen Denkens konkret « würden (Girard 1973: 413). An dieses Thema des Symbolischen knüpft ein Strang der aktuellen Rezeption an, nämlich an den Satz aus den Elementaren Formen des religiösen Lebens, dass das soziale Leben » unter allen seinen Aspekten und zu allen Augen-blicken seiner Geschichte nur dank eines umfangreichen Symbolismus mög-lich « sei (Durkheim 1994 [1912]: 317). Auch der wohl prominenteste Durk-heim-Nachfolger – Pierre Bourdieu – setzte sich für eine Ernstnahme des Durkheimschen Werkes ein, ohne dessen Schwächen zu unterschlagen (vgl. Bourdieu/Passeron 1981 [1967]). Und selbst die (zunächst wiederum gegen Bourdieu gerichtete) Soziologie Luc Boltanskis leugnet heute die Wirkung Durkheims nicht mehr (Boltanski 2009: 56).

8 Das zeigt sich etwa in dem Bedürfnis, Mauss von Durkheim freizuhalten (bei Adloff 2007) – ein Bedürfnis, das auch die französische Mauss-Forschung zuweilen teilt, etwa in der M.A.U.S.S.-Bewegung um Alain Caillé (dem es zugleich darum geht, Mauss von Lévi-Strauss freizuhalten: Caillé 2006).

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2 Das deutsche Durkheim-Bild: » Well known, but not known well « ?

In der deutschsprachigen Rezeptionsgeschichte brauchte es lange, bis Durk-heim aus dem Schatten Max Webers herauszutreten vermochte, wobei er oft über andere französische Denker – Michel Foucault in der Kritik, Pierre Bourdieu in der Verteidigung der Durkheimschule – wahrgenommen wurde. Die mangelnde Vertrautheit der deutschen Soziologie mit Durkheim mani-festiert sich bereits in Max Webers Ignoranz gegenüber Durkheim. Auf Ge-org Simmels Aufsatz » Das Gebiet der Soziologie « reagierte Durkheim mit einem kritischen Kommentar (Durkheim 2009 [1900]); über eine Antwort Simmels – der Durkheim gelesen haben musste – ist hingegen nichts be-kannt. Sie hätte aufgrund von Simmels marginaler Position in der deutschen Universitätswelt vermutlich auch wenig Wirkung gehabt. Mit Ferdinand Tönnies stand Durkheim zwar im Austausch. Er kommentierte dessen » Ge-meinschaft und Gesellschaft « kritisch, Tönnies dabei für seine überzeugende Denkkraft lobend (in Aldous 1972: 1199). Tönnies hingegen tat Durkheims Arbeiten (maßgeblich in Bezug auf die Arbeitsteilung) als eine Spielart der Soziologie Spencers ab, der er nur punktuell etwas abgewinnen konnte (ebd.: 1200). Zudem blieben Durkheims Texte im Deutschen lange (bis auf die Re-geln 1908) unübersetzt. Erst 1973 erschien der Selbstmord; 1977 die Arbeits-teilung; 1981 die Elementaren Formen des religiösen Lebens. Fast also schien es, als ob das Bonmot von Susan Stedman-Jones in besonderem Maße auf die Soziologie hierzulande zutrifft: » Durkheim is well known, but not known well. « (Stedman Jones 2001: X) Man kannte ihn zudem zunächst als » Dürck-heim « (Jerusalem 1926: VII), was manche dazu führte, den Gründer der fran-zösischen Soziologie mit einem gewissen Graf Dürckheim aus dem Schwarz-wald zu verwechseln (so sagt man es Arnold Gehlen nach). Vor allem aber klangen die Begriffe in deutschen Ohren befremdlich. Dürckheim betone stets, dass die Gruppe sich kognitiv » betätigt «; die » Produkte dieser Betäti-gungen des Gesamtgeistes « bezeichnet er als » Dinge «, so dass man Eindruck habe, er betrachte die Gesellschaft » als etwas von ihren Mitgliedern ganz Verschiedenes «. Deutschsprachigen Denkern müsse dies » absurd und wider-sinnig « erscheinen. Deswegen wohl, so vermutete Wilhelm Jerusalem weiter, seien Durkheims » Arbeiten in Deutschland viel weniger bekannt […], als sie es […] verdienen « (ebd.).

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Die weiteren Etappen der Rezeption bleiben übersichtlich:9 Als jüdischer Gelehrter war Durkheim im Nationalsozialismus tabu. Es sollte noch fast zwei Jahrzehnte und die emsige Pionierarbeit René Königs brauchen, bis 1961 die Neuübersetzung der Regeln der soziologischen Methode vorlag. König blieb lange der einzige deutschsprachige Soziologe, der eine explizite Mo-nographie zu Durkheim veröffentlichte (Durkheim zur Diskussion. Jenseits von Dogmatismus und Skepsis, 1978, genau genommen eine Anthologie). Da-bei konnte er in seiner Würdigung Durkheims die eigene Auffassung da-von, was Soziologie sein müsse, nicht verleugnen: » In unserer Darstellung […] werden wir die rein philosophischen Diskussionen übergehen können, da sie die Soziologie als positive Wissenschaft nichts angehen « (König 1978 [1931/32]: 58 f.). Theodor W. Adornos Einleitung in die posthume Aufsatz-sammlung Soziologie und Philosophie ist ihrerseits zuvor, 1967, in Tonfall und Ziel eine Erledigung Durkheims (Adorno 1976), wenngleich Adorno den Sinn und Zweck der von Durkheim verfolgten genuinen Sozialwissen-schaft durchaus würdigte.10 Demgegenüber fühlte sich der Durkheim-Ver-teidiger König zu einer scharfen Kritik an der damals dominanten kritischen Theorie veranlasst. Ihre Ignoranz der empirischen Sozialforschung korres-pondiere mit einer maßlosen » Überschätzung der eigenen Produktion « (König 1978b: 208 ff.).

Erst zum Ende der 1970er Jahre wird die Rezeption insgesamt konstruk-tiver und vielschichtiger. Sowohl Jürgen Habermas (1981) als auch Niklas Luhmann greifen Durkheims Analysekonzepte auf und machen sie produk-tiv für ihre je eigenen Programme. In seinem Vorwort zur deutschsprachi-gen Ausgabe der Arbeitsteilung stellt Luhmann bewundernd fest, Durkheim habe das Kunststück vollbracht, » Summenkonstanz- oder Knappheitsan-nahmen zu durchbrechen und Steigerungsverhältnisse darzustellen « – und zwar sowohl auf Seiten des Individuums wie des Kollektivs: » Wir halten einen Augen blick an, um das Raffinement der Theorieanlage zu bewundern. Die Zentralaussagen werden nicht apriorisiert, nicht in die Grundlagen der Theorie eingebaut. Sie werden auch nicht präformativ in die Anfänge der Entwicklung ihres Gegenstandes zurückverlegt. Sie spielen im Bereich von

9 2011 ist in der Reihe Klassiker der Wissenssoziologie die erste deutsche Einführung zu Durk-heim erschienen: Suber 2011.

10 Wie in einem Fernsehgespräch, das am 3. 6. 1967 im Westdeutschen Rundfunk ausge-strahlt wurde, zu hören ist. Adorno diskutierte mit Arnold Gehlen zum Thema » Freiheit und Institution « und erwähnt Durkheim als Referenzgröße, um den zwanghaften Cha-rakter von Institutionen zu erläutern, siehe http://www.youtube.com/watch?v=E2DLyDz-t8A, Zugriff am 24. 10. 2012.

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Variablen, die unter angebbaren Umständen empirisch co-variieren. Ein sol-ches Arrangement ist ein wichtiger Zug auf dem Wege zur Eigenständigkeit der Disziplin Soziologie « (Luhmann 1977: 31). In der Tat wird in Luhmanns Analyse der Gewinn einer experimentellen Forschungspraxis profiliert, die sich sowohl von empiriefernen Apriorismen wie auch von teleologischen Analysestrategien loszumachen suchte. Seither haben namentlich Hans Joas (mit Blick auf die Elementaren Formen des religiösen Lebens und die Pragma-tismus-Vorlesung), Hans-Peter Müller (mit Blick auf den politischen Durk-heim, die Arbeitsteilung und die Physik des Sozialen), Richard Münch (in der Integration von Parsons, Weber und Durkheim) und Wolf Lepenies (bezo-gen auf die Linie Comte-Durkheim und die Soziologie des soziologischen Wissens) Arbeiten von oder über Durkheim veröffentlicht.

In der Kritik René Königs an der Empirie-Skepsis der kritischen Theorie der 1960-er und 1970-er Jahre wurde es bereits angedeutet: Die deutschspra-chige Durkheim-Rezeption hatte nicht nur lange mit dem positivistischem Anspruch Durkheims zu kämpfen – in einer Kultur, in der seit Wilhelm Dilthey noch stets das » Verstehen « den Geistes- und das » Erklären « den Na-turwissenschaften vorbehalten wurde; eine scharfe Methodendifferenz, die dem französischen Denken vollständig fremd blieb. Sie fiel darüber hin-aus auf den Boden einer Soziologietradition, die sich diesem Erbe entspre-chend durch eine tiefe Theorie-Empirie-Spaltung auszeichnete. Symptoma-tisch wurde dies deutlich am Positivismusstreit (vgl. dazu Ritsert 2010) und am Verhältnis zur empirischen Kultur- und Sozialanthropologie. Im Gegen-satz zur französischen und angloamerikanischen Soziologie schien noch bis in die 1990-er das soziologische Interesse für sozialanthropologische Analyse-ansätze vergleichsweise schwach ausgebildet. Diese wurden vielmehr in die Volkskunde respektive in die empirischen Kulturwissenschaften ausgelagert (vgl. Beck 2008, Knecht 2008). Gerade die Durkheim-Schule zeigt indes, wie produktiv der Dialog mit der Ethnologie respektive der soziokulturellen Anthropologie für eine Soziologie ist, die sich als science humaine versteht. Das ambitionierte Projekt, hierzulande eine » Anthropologie als Sozialwis-senschaft zu konstituieren « (Lepenies 1977: 15), konnte zunächst das Inter-esse am › ethnologischen Durkheim ‹ nur punktuell motivieren. Demgegen-über ist es gerade dieser Zug der Durkheim-Schule, der im gegenwärtigen Kontext sich wandelnder gesellschaftlicher und disziplinärer Entwicklungen international auf neues Interesse stößt.

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3 Durkheim-Revitalisierungen: Das interdisziplinäre Potential

Ziel dieses Bandes ist nicht zuletzt, die aktuelle internationale Durkheim-Debatte der deutschsprachigen Soziologie zugänglich zu machen und die Produktivität des Durkheimschen Denkens ausgehend von seinen verschie-denen Forschungsfeldern zu beleuchten. Seit etwa 1990, verstärkt anläss-lich des 150. Geburtstages 2009, wandelt sich das Bild der theoretischen und methodologischen Leistung Durkheims und seiner Mitarbeiter.11 Für diese Relektüre standen und stehen unter anderem Philippe Besnard, William Pickering, Hans Joas, Susan Stedman-Jones, Anne W. Rawls, Bruno Karsenti, Camille Tarot oder Jean-Christophe Marcel.12 Diese Interpretationen haben mindestens zwei Schwerpunkte, die sich im Aufbau des vorliegenden Ban-des niederschlagen: Es gibt einerseits ein neues theoretisches und theoriege-schichtliches Interesse an der Verbindung von Soziologie und Ethnologie respektive soziokultureller Anthropologie als einer vergleichenden Gesell-schaftswissenschaft. Andererseits gibt es ein wachsendes forschungsprakti-sches und erkenntnistheoretisches Interesse, das sich zudem mit sozialphi-losophischen und demokratietheoretischen Fragen verknüpft. Entsprechend dieser Schwerpunkte werden derzeit insbesondere die Elementaren Formen des religiösen Lebens sowie die Pragmatismus-Vorlesung neu gelesen. Die Bei-träge nehmen daran anknüpfend eine eher werk- und rezeptionsgeschicht-liche bzw. wissenssoziologische Perspektive ein, oder sie greifen – mit dem

11 Zur Aktualität Durkheims aus Sicht der französischen Durkheimiens siehe u. a. Besnard/Borlandi/Vogt 1993; Cuin 1997; Tarot 1998; Paoletti 1999; Borlandi/Cherkaoui 2000; Marcel 2001, Besnard 2003; Karsenti 2006. Zudem sind neben dem erwähnten Collo-quium » Durkheim et ses usages dans les sciences sociales « an der Pariser Sorbonne vom November 2011 weitere Tagungen zu erwähnen: So fand 2010 ein Colloquium zu » Durk-heim et Lévi-Strauss – Le goût de la césure ou le prix de l’affiliation ? « an der Pariser EHESS statt, sowie 2008 (zum 150. Geburtstag Durkheims) die internationale Tagung » Durkheim, était-il durkheimien ? « der Académie des Sciences morales et politiques in Paris (vgl. Boudon 2011). Desweiteren wurde 2012 in Paris eine internationale Tagung zu » Les formes élémentaires de la vie religieuse de Durkheim 1912 – 2012 – Perspectives pour l’anthropologie « organisiert. Diese Häufung von Durkheim-Publikationen und Debatten in Frankreich ist rund zehn Jahre nach dem Tod Bourdieus vermutlich auch eine Reaktion auf die Durkheim-Kritik Latours, die zunächst auf das Bourdieu-Umfeld zielte.

12 Im Angloamerikanischen sind neben Rawls und Stedman-Jones (vgl. deren Beiträge in diesem Band) vor allem auch die Forschungen des 1991 in Oxford von William F. S. Pickering gegründeten » British Centre for Durkheimian Studies « zu erwähnen. Vgl. etwa zur Aktualität der Elementaren Formen: Allen/Pickering/Miller 1998; zudem die Zeitschrift Durkheim Studies/Etudes Durkheimiennes, gegründet 1995 von Robert A. Jones in Illinois, die seit 1996 als Durkheimien Studies/Etudes Durkheimiens erscheint.

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Ziel der Aktualisierung – stärker gegenwärtige Fragen und Theorieentwick-lungen auf.

Einig sind sich die hier versammelten Autoren im Hinblick auf eine spe-zifische Aufmerksamkeit auf das besondere, womöglich singuläre interdis-ziplinäre Potential dieser Soziologietradition: Dieses liegt in der engen Ver-bindung von Ethnologie und Soziologie in jenem, von Durkheim und seinen Mitarbeitern vorangetriebenen, gesellschafts- und kulturenübergreifenden Blick. Diese Perspektive sah sich zu seinen Lebzeiten durchaus scharfer Kri-tik ausgesetzt; heute werden dessen Gewinne zunehmend deutlich. Unbe-stritten blieb hingegen, dass Durkheims Soziologie von einer engen und am-bivalenten Beziehung zur Philosophie gekennzeichnet war. Wie seine Schüler stets erneut klarzustellen suchten, war Durkheim aber kein Anti-Philosoph; vielmehr entfaltete er grundlegende erkenntnistheoretische, sowie moralphi-losophische Überlegungen (zur Entstehung und Existenzbedingung einer pluralistischen, dem Individuum gerecht werdenden Gesellschaft). Durk-heims genuin soziologische Erkenntnistheorie hat sich in Auseinanderset-zung mit den ethnologischen und philosophischen Forschungsfeldern und Fragestellungen seiner Zeit entwickelt. In dieser Verbindung von Soziologie, Ethnologie und Philosophie hat die Durkheim-Schule ein transdisziplinäres Erkenntnisinteresse entwickelt, das sich auf verschiedene aktuelle Fragen be-ziehen lässt. Insbesondere hierin, im transdisziplinären Zug, liegt wohl auch das besondere Potential der Durkheimschen Soziologie; er sei daher etwas ausführlicher erläutert.

3.1 Die Verknüpfung von Ethnologie und Soziologie

Der im Titel des Bandes benutzte Dachbegriff der » Ethnologie « ist ange-sichts der gegenwärtigen disziplinären und länderspezifischen Eigenheiten (insbesondere durch die Anthropologie und Anthropology) erläuterungsbe-dürftig: » Ethnologie « meint hier zum Einen die außereuropäische Ethno-logie als Erforschung nicht-okzidentaler Gesellschaften oder Sprachregio-nen gegenüber der französischen Anthropologie im Sinne der systematischen Erforschung eines umfassendem Wissens vom Menschen.13 Andererseits

13 Vgl. zu diesen Begriffen aus französischer Sicht auch das Dictionnaire de l’ethnologie et de l’anthropologie (Bonte/Izard 2004: vif.): An dieser Stelle wird neben der Reichweite-Frage (Ethnologie als Beobachtung nur weniger Kulturen gegenüber der universalisieren-den Anthropologie) auch eine historische Einteilung angesprochen: Anthropologie ersetzt Ethnologie.

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steht anstelle von » Ethnologie « in der britischen und amerikanischen Theo-rielandschaft stets Anthropology: die Sozial- und Kulturanthropologie, zu-dem die Ethnomethodologie, die mit dem verfeinerten methodologischen Werkzeug der › alten ‹ Ethnologie (das heißt Ethnographie) situative und prozes suale Praxisformen spezifischer Milieus untersucht. Im angloamerika-nischen Raum bleibt das Verhältnis zwischen Ethnography und Anthropology hinsichtlich ihrer jeweiligen impliziten Normativitätsannahmen umstritten (Ingold 2008). Durkheim selbst hatte den Begriff der › Ethnologie ‹ gewählt, um den kulturenvergleichenden Blick von der physiologischen › Anthropo-logie ‹ abzugrenzen.

Im Gegensatz zur deutschen und anders als die amerikanische Soziolo-gie hat die französische soziologische Schule moderne Gesellschaften stets in Kontinuität und Kontrast mit nicht modernen Gesellschaften zu erfassen ge-sucht; sie sog begierig ethnologische Forschungen auf und machte weitrei-chende Angebote für deren Theorienbildung, wobei sie sich, wie manche ihr vorwarfen, fast zu sehr auf die nicht modernen, nicht europäischen Kulturen konzentrierte. Célestin Bouglés Bilan de la sociologie française contemporaine (1935) widmete nicht ohne Grund ein Kapitel der Verbindung von Sozio-logie und Ethnologie in der zeitgenössischen französischen Soziologie. Und angesichts des soziologischen Antidurkheimisme ist es wohl nicht ganz falsch zu sagen, dass Durkheim seine › größten Triumphe ‹ zunächst in der Anthro-pologie und Ethnologie feiern durfte. Tatsächlich hat Durkheim in den Ele-mentaren Formen des religiösen Lebens an seinem Lieblingsobjekt, den austra-lischen Arunta, nicht nur eine Religionssoziologie entfaltet, sondern auch eine Wissenssoziologie sowie eine Theorie der Emergenz von Gesellschaft in ihren kollektiven – symbolischen – Repräsentationen. Bereits in der Dis-sertation Über die Teilung der sozialen Arbeit hat sich Durkheim in kompa-rativer Absicht nicht-modernen Gesellschaften zugewandt, um Differenzen und Gemeinsamkeiten zu sehen, um also die moderne, funktional differen-zierte Gesellschaft besser zu durchschauen – seien doch bei den » segmentä-ren Gesellschaften «, wie Durkheim sagt, die sozialen Dinge noch nicht so verstellt. Dabei mag man es dem Stand der ethnologischen Forschung zu-schreiben, wenn er diese Gesellschaften analog zu » Ringelwürmern « (Durk-heim 1988 [1893]: 237) verstand. Ist die Unterstellung einer › einfachsten ‹, gleichsam protoplasmatischen (ebd.: 229) sozialen Organisation längst tabu, so bleibt die Vorgehensweise raffiniert: etwa, wenn Durkheim rechtsethno-logische Forschungen betreibt, um die Art und Weise der sozialen Bindung zu verstehen. In einem für die Zeitgenossen überraschend vitalistischen Ton

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wird diese komparative Methode in den Elementaren Formen des religiösen Lebens letztmals durchgeführt, in direkter Anknüpfung an den im Klassifika-tionsaufsatz mit Mauss bereits 1901/1902 entwickelten wissenssoziologischen Blick (Durkheim/Mauss 1993).

Insbesondere die britische Sozial- und Kulturanthropologie erkannte die Tiefe dieses Beitrages schnell, auch wenn es an Kritik nicht fehlte (auch hier fiel der Vorwurf der Spekulation14). So war gerade dieser Aufsatz ein » letzter direkter Link « der britischen Anthropologie zur Durkheim-Schule – so jedenfalls Mary Douglas (1970: XV), die ihre Anleihen bei Durkheim nicht verschwieg. Die Differenzen in inhaltlichen, methodischen, theore-tischen Fragen hinderten namentlich Bronislaw Malinowski und Alfred R. Radcliffe-Brown nicht daran, Durkheim als Begründer des Funktionalismus anzuerkennen. Für Radcliffe-Brown ist Durkheims letztes Werk der » wich-tigste Versuch, zu einer soziologischen Theorie des Totemismus zu gelangen « (1952 [1929]: 123). Und wenn auch die Feldforschung die Stärke Durkheims nicht war, so habe er doch der » Entwicklung der theoretischen Studien in der vergleichenden Soziologie Bahn gebrochen « (zitiert bei Lévi-Strauss 1979b [1960]: 61). Auch Alexander Goldenweiser adelt Durkheim als » Ve-teran der australischen Ethnologie « (1915: 719), bevor er zu seiner Kritik der Totemismus-Interpretation ausholt. Über die Rezeption durch Marcel Mauss und Claude Lévi-Strauss wurde Durkheim schließlich der Begrün-der des Strukturalismus. Parallel zu den Arbeiten über die Klassifikationen hat Mauss Durkheims Idee der sozialen Morphologie auf seine Weise entfal-tet, in seiner kongenialen Studie zu den Inuit (1905) – die Betrachtung der Riten, aber auch der mit ihnen verbundenen Artefakte, in Vorwegnahme ar-tefaktsoziologischer Perspektiven und des material turn. Die Durkheimiens haben in der Tat nicht nur die Ethnologie gesellschaftsvergleichend genutzt; umgekehrt haben sie auch deren Theoriebildung inspiriert.15

Heute rückt die historische Leistung Durkheims differenzierter als bis-her in den Blick. Dabei stellt sich die Frage der Verbindung von Ethnologie und Soziologie durchaus auch auf andere Weise als für diesen selbst: Hatte Durkheim zunächst die Ethnologie als Hilfswissenschaft der Soziologie ver-standen (vgl. neben den Elementaren Formen Durkheim 1975 [1904]; dazu Vogt 1981; Karady 1988; Affergan 2008), weil sie Material zu den einfachsten

14 » All dies, und viel mehr ist aus der Luft gegriffen «, so Evans-Pritchard (1980: 159) ange-sichts von Durkheims Gleichsetzung des Totemismus mit der Idee des mana.

15 Vgl. zum ambivalenten Verhältnis der internationalen Ethnologie zu Durkheim auch Hahn 2012.

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Formen des sozialen Lebens liefere, ist die Aufteilung nach Objekten – hier » primitive «, da » moderne « Gesellschaften – in Frankreich und der anglo-amerikanischen Anthropologie längst hinfällig. Ethnologie oder besser Kul-turanthropologie definieren sich weniger über ihren Gegenstand, als über ihre (ethnographische) Methode, mit der sie jetzt dieselben Gesellschaften anvi-sieren wie die klassische Soziologie. Diese Entwicklung – in Frankreich etwa als » ethnographie économique « (Dufy/Weber 2007) reflektiert – lässt auch das Selbstverständnis der Soziologie nicht unberührt. Ebenso aktuell ist die in den Elementaren Formen des religiösen Lebens gestellte Frage nach den Diffe-renzen und Gemeinsamkeiten der Kulturen, die etwa hinsichtlich der Bezie-hungen, die in den Gesellschaften zwischen Menschen, Pflanzen und Tieren bestehen, neu aufgenommen wird (Descola 2011 [2005]). Es gibt differente Antworten auf die Frage, welche socii je in einer Gesellschaft als solche gelten, ob und welche Nicht-Menschen also denselben personalen oder moralischen Status wie Menschen erhalten. Dies ist bereits bei Durkheim vorgedacht, wenn er in den Elementaren Formen des religiösen Lebens über den Totemis-mus arbeitet. Modelliert wird von ihm in diesen rituellen Praxen der Identi-fikation zudem die Emergenz von Kollektiven: Durkheim entfaltet hier erst-mals eine These der Konstitution der Gesellschaft. Und auch Durkheims Totemismus-Theorie, die Lévi-Strauss noch als » totemistische Illusion « und als zirkulär bezeichnet hatte (Lévi-Strauss 1965 [1962]), wird heute erneut aufgegriffen. Im deutschen Raum wird die Verbindung von Soziologie und Ethnologie respektive Anthropologie seit kurzem eher methodisch gesucht: Soziologische Theorien interessieren sich zunehmend für ethnomethodolo-gische Zugänge, für Praxistheorien (vgl. Schatzki unter anderem 2001; Reck-witz 2003), Konvergenzen zwischen soziologischen und ethnologischen Zu-gängen (vgl. Götz 2010, Lenz 2009/Reckwitz 2009) und Theoretisierungen ehemals › rein ‹ empirisch klassifizierter Soziologien (vgl. Hirschauer 2008).16 Ein Durkheim-Bezug wurde hier allerdings bislang nicht hergestellt.

16 Dies wurde auch auf der von Thomas Scheffer und Christian Meyer im Mai 2010 am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt Universität Berlin organisierten Ta-gung » Soziologische versus ethnologische Ethnographie. Zur Belastbarkeit einer Unter-scheidung « unter Beteiligung von Soziologen, Ethnologen und Sozial- und Kulturanthro-pologen diskutiert (vgl. Scheffer/Meyer 2011).

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3.2 Durkheims Auseinandersetzung mit der Philosophie

Durkheims Beziehung zur Philosophie, seiner eigentlichen Disziplin, von der er – ähnlich wie Pierre Bourdieu – später Abstand nahm, um Soziologe zu werden, war komplex und kompliziert (vgl. dazu zum Beispiel Paoletti 2012). Der ehemalige Student der École Normale Supérieure blieb zeitlebens immer auch ein Philosoph, der die erkenntnistheoretische Begründungsver-pflichtung seiner Gesellschaftstheorie ernst nahm. Dies ist deutlich in seinen letzten Vorlesungen zum Pragmatismus, die er 1913 – 1914 an der Sorbonne hielt und die zugleich die Inauguralvorlesung des zu seinen Ehren kurz zuvor eingerichteten Lehrstuhls für Erziehungs- und Sozialwissenschaften darstell-ten. Es handelte sich um den ersten Lehrstuhl in Frankreich, der die sozio-logische Disziplin im Titel trug; wäre die Furcht vor der Pariser akademi-schen Opposition gegen diese neue Disziplin nicht so groß gewesen, hätte es wohl auch die Erziehungswissenschaften im Präfix nicht mehr gebraucht. Durkheim hatte dabei den Pragmatismus nicht ohne Grund zum Sparrings-partner seiner neuen Wissenschaft gewählt. Diese teile zwar mit der Sozio-logie einen » Sinn für das Leben und das Handeln «, doch zugleich empfinde er für die » Schlußfolgerungen, zu denen der Pragmatismus gelangt, nur Di-stanz « (Durkheim 1993 [1955]: 11). Der Pragmatismus, zu dieser Zeit auf dem Höhepunkt seiner Verbreitung, vereinigte in sich eine Reihe von Kriti-ken gegenüber den klassischen Philosophien, die Durkheim im Grundsatz teilte. Die Gemeinsamkeiten des professionellen Soziologen mit den zeitge-nössischen Philosophien hörten jedoch da auf, wo diese von seinen Oppo-nenten am Collège de France stammten. Vor allem Gabriel Tardes monado-logische Ontologie empfand Durkheim als Gegenpart zu seiner Methode; aber auch Bergsons Philosophie wurde als Alternative zum Durkheimschen Positivismus wahrgenommen (vgl. dazu Lepenies 1985; Delitz 2012: Kap. I). In der Tat gilt Tarde als derjenige, von dem sich Durkheim aggressiv ab-stieß (so Mucchielli 1998), um seine Soziologie zu rechtfertigen. Für Durk-heim war Tarde der Philosoph und Psychologist, dessen › Soziologie ‹ eine rein metaphysische Spekulation. Bruno Latours Durkheim-Kritik hat un-terdessen auch hierzulande Tarde wieder ins Spiel gebracht; die Rezeption von Gilles Deleuze führte zudem zur Revitalisierung jenes anderen, von Durkheim ebenfalls als Rivalen verstandenen (aber weitaus impliziter be-kämpften) Autors: Henri Bergson. Er galt der Durkheim-Schule und da-mit der Soziologie stets als Metaphysiker, Irrationalist und Psychologist. So ermöglichten Tarde und Bergson Durkheim gewissermaßen das Durkheim-

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Werden; in der Abgrenzung von jedem (vermeintlichen) Mystizismus und Psychologismus fand Durkheim zu seiner dezidiert positiven und nicht-psy-chologistischen Wissenschaft. Diese Abstoßungen machen nicht nur – ex negativo – die Theorieentscheidungen der › französischen Schule der Sozio-logie ‹ sichtbar. Sie lenken auch den Blick auf andere gesellschaftstheoreti-sche Denkweisen in Frankreich. Dem im Kontext der Soziologie stets ver-nichtend gewesenen Vorwurf des Irrationalismus sah sich auch das Collège de Sociologie gegenüber, das im Anschluss an Marcel Mauss und im produk-tiven Streit mit Durkheim ein nicht rationalistisch verkürztes Modell des Sozialen entfaltete. Die vom Collège aufgenommene, symboltheoretische So-ziologie von Mauss/Durkheim wird derzeit erneut aktuell (vgl. Tarot 1998, Karsenti 1997), ebenso wie ihre Weiterführung durch Lévi-Strauss (Descola 2011 [2005]) – die These, dass jede Gesellschaft die Dinge, Räume, Zeiten, Tiere und Pflanzen einteilt, ihren socius festlegt, ihre Denkstrukturen prägt und dazu entsprechende symbolische Repräsentationen respektive Kosmo-logien produziert.

So wie Durkheims Pragmatismus-Vorlesungen das erkenntnistheoreti-sche Ergebnis des religionssoziologischen Werkes sind, indem sie das Phäno-men der kollektiven Repräsentationen durch religiöse Praxen auch als Beitrag zu einer erkenntnistheoretischen Debatte um die Konstitution von Katego-rien beleuchtet haben; so werfen sie zugleich ein Licht auf methodologische Grundfragen im Sinne der Evidenzerzeugung durch empirische Daten. In jüngeren Diskussionen haben etwa Bruno Karsenti und Anne W. Rawls eine gewisse Affiziertheit Durkheims von der pragmatischen Perspektive ausma-chen können. Durkheims Pragmatismus-Vorlesung gilt hier als » sozio-prag-matische « Antwort auf den » radikalen Empirismus « von William James (vgl. Karsenti 2007). Für eine aktuelle Lesart wäre diese These noch in Hinblick auf die » pragmatische Soziologie der Kritik « von Luc Boltanski und Laurent Thévenot zu prüfen – sofern sich diese ihrerseits auf das Erbe Durkheims be-ziehen, dessen strukturtheoretischen Ansatz jedoch in Anlehnung an Latours symmetrischen Analyseverfahrens fast ganz aufgeben (vgl. Bogusz 2010: 71 ff.) Die neueren Diskussionen um die Beziehung zwischen Pragmatismus und Ethnomethodologie (vgl. Emirbayer/Maynard 2010, Quéré 2011) haben dazu beigetragen, dass Durkheim (in Anlehnung an Harold Garfinkel, vgl. ders. 2002) als Gründungsautor praxistheoretischer und ethnomethologi-scher Zugänge (wieder-)entdeckt wurde.

Eine solche » Empirisierung « Durkheims ist insofern folgenreich für die zukünftige Rezeption seiner Erkenntnistheorie, weil sie sich gegen die ver-

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breitete These der › zwei Durkheims ‹ (hier der » strukturtheoretische «, dort der » kultursoziologische «) stellt. So kritisieren Hans Joas (1996: 76 ff.) und Anne W. Rawls (1996: 471 ff.) die von Parsons (1968: 445) und dann insbe-sondere von Jeffrey Alexander (zum Beispiel 1988) vertretene Analyse, nach der die Elementaren Formen des religiösen Lebens die Ablösung des » struktu-ralistischen « durch den » kultursoziologischen « Durkheim markieren. Beides, so meint vor allem Rawls, beruhe auf einer kontinuierlichen Unterschätzung des erkenntnistheoretischen Beitrages von Durkheim in der Rezeptionsge-schichte. Für Joas und Rawls ist es gerade die Religionssoziologie, in der Durkheim sein seit der Arbeitsteilung verfolgtes Projekt vervollständigt habe: seine Wahrheitstheorie. Aus Joas’ Sicht stellt Durkheims These der sozialen Konstitution der Kategorien des Denkens neben der » Moraltheorie ein stän-diges Projekt « dar (Joas 1993: 265). Forciert wird von Rawls (1996, 1997) in dieser Frage der Wahrheits- oder Erkenntnistheorie, also der Epistemologie, zudem ein » vernachlässigtes Argument « Durkheims behauptet: Wissensso-ziologie und Erkenntnistheorie wären bei Durkheim demnach zwei verschie-dene Dinge; aus dieser Sicht ist Durkheim immer schon zu » soziologistisch « verstanden, wenn man sich vor allem für die These des sozialen Aprioris des Denkens interessiert. Vielmehr handele es sich um eine direkte Herausfor-derung der philosophischen Erkenntnistheorie. Es geht demnach auch bei der These des sozialen Aprioris der Kategorien – im 1901/02 mit Mauss ver-fassten Klassifikations-Aufsatz, in den Elementaren Formen 1912 und in den Pragmatismus-Vorlesungen 1913/14 – letztlich um Erkenntnistheorie. Wie sehr diese wiederum auf den sozial- und kulturanthropologischen Studien der Durkheim-Schule aufbaut, wird an der Bedeutung sichtbar, die bei-spielsweise Joas dem Klassifikationsaufsatz zuspricht: Hier habe Durkheim seine » Theorie einer Reproduktion der sozialen Morphologie in kulturellen Klassifikationssystemen « (Joas 1993: 268) geschärft und entfaltet. Spätestens 1902 werde also bei Durkheim der Zusammenhang von Soziologie-Ethno-logie einerseits und Erkenntnistheorie (und damit Philosophie) andererseits deutlich.17 René König hatte bereits 1976 bemerkt, Pragmatisme et Sociolo-

17 Da beide Autoren die aktuelle Durkheim-Lektüre beeinflusst haben, lohnt es sich, ihre Differenz kurz zu erläutern: Joas und Rawls verfolgen in ihren Durkheim-Analysen ein ähnliches Ziel, das sich jedoch an der Frage der Einschätzung von Durkheims Methodo-logie fundamental unterscheidet: Während beide die Konstitutivität der Moralsoziologie Durkheims betonen und ihren selbstreflexiven Charakter, was Durkheim im Fall Joas’ als Wegbereiter des symbolischen Interaktionismus, im Fall Rawls’ der Ethnomethodologie erscheinen lässt (vgl. Joas 1993: 261; Rawls 1996: 478), lassen ihre jeweiligen Zuspitzun-gen kaum einen Vergleich zu. Einerseits sieht Joas in Kreativität des Handelns bei Durk-

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gie sei die » Rückwendung des im sozialanthropologischen Religionswerk er-reichten neuen erkenntnistheoretischen Standorts auf die Soziologie « (1978 [1976]: 320). Offen bleibt dennoch nach wie vor, welche methodologischen Konsequenzen aus den erkenntnistheoretischen Grundlagen der soziokultu-rellen Anthropologie Durkheims zu ziehen wären.

3.3 Durkheim neu gelesen – Transdisziplinäre Argumente für die Aktualität dieses Klassikers

Abschließend seien einige transdisziplinäre Argumente angeführt, die für das aktuelle und auch künftige Interesse an Durkheim sprechen. Die Reflexion über dessen Erbe hat sich nicht unabhängig von den realgeschichtlichen Um-brüchen und den parallelen Transformationen der Sozialwissenschaft vollzo-gen. Die seit den 1990er Jahren verbreitete Kritik an dichotomisierenden und strukturdeterministischen Interpretationen, so kann vermutet werden, begünstigte eine Lektüre, die das Erbe Durkheims hinsichtlich seiner Pio-nierleistungen auf den Gebieten der Kultursoziologie, der Ethnologie und der Erkenntnistheorie stärker ins Licht rückt. Ohne in einem Kausalverhält-nis zur Durkheim-Rezeption zu stehen, haben diese Wandlungen doch zur Infragestellung ihrer eingangs genannten Verkürzungen beigetragen:

1. Die Auflösung der systempolitischen Dichotomie Kapitalismus versus real-existierender Sozialismus durch die Perestroika und den Fall der Berliner Mauer veränderte die analytischen Perspektiven. Die Erosion des bipolaren Systemkonflikts korrelierte mit derjenigen strukturbetonter und dichotomi-sierender Perspektiven und der Neubewertung empirieferner Theorien. Un-ter dem Eindruck der Revolutionen in Osteuropa gewannen solche Perspek-tiven an Aufwind, die akteurspezifische Kompetenzen ernst nahmen, waren

heim den Versuch der Überwindung von Kantianismus und Utilitarismus mit Hilfe einer empirischen Soziologie, die sich durch dessen induktive Methodologie bezeugen lasse (1996: 84) und deren werkgeschichtliche Kontinuität sich in Durkheims stetiger Suche nach einer neuen Moral (ebd.: 76 ff.) und der » Konstitution neuer Ordnung « (ebd.: 78) ausdrücke. Andererseits kommt er in seinem Kommentar zur Pragmatismus-Vorlesung zu dem Schluss, Durkheims These der sozialen Konstitution der Kategorien richte sich so-wohl » gegen eine Konstitution in der alltäglichen Praxis als auch gegen eine Konstitution einer Praxis des Alltags « (Joas 1993: 272). Wo aber, wenn nicht in alltäglichen Praxen, wer-den Kategorien respektive eine neue Moral hergestellt ? Rawls’ Antwort ist hingegen eine dezidiert ethnomethodologische und praxistheoretische, lässt aber eine klare analytische Systematik vermissen. Mit dem Begriff der » enacted practicies « bleibt ihre erkenntnistheo-retische Durkheim-These maßgeblich auf die Elementaren Formen beschränkt.

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doch die bis dato etablierten makrotheoretischen Gesellschaftsanalysen an-gesichts des Zusammenbruchs des realexistierenden Sozialismus offensicht-lich ratlos. Praxisbetonte, pragmatistische und symmetrische Perspektiven stießen hier auf einen plausibilisierten politischen Kontext. Cultural und practice turn sind Ausdruck der daran anschließenden Kritik an tradierten Disziplinenhierarchien und grenzen, einer zunehmenden Interdisziplinari-tät und der steigenden Popularität erfahrungsbasierter Forschung. Zugleich führte der Einzug der Studies-Bewegungen in universitäre Strukturen und Curricula der Geistes- und Sozialwissenschaften zu einer gestiegenen theore-tischen und methodologischen Begründungspflicht, deren Einlösung noch in den Anfängen steckt. Hier könnte die Soziologie von den Debatten der internationalen Sozial- und Kulturanthropologie lernen, in der diese Fragen seit langem auf der Tagesordnung stehen. Durkheims vehementes Insistie-ren auf dem Ernst-Nehmen dieser Begründungspflicht erhält so (vor allem in Anlehnung an seine Pragmatismus-Vorlesungen) eine Orientierungsfunk-tion auch für die aktuelle Soziologie.

2. Die Beschleunigung der technologischen Entwicklung insbesondere der Kommunikations und der Bio- und Gentechnologien brachte neue epi-stemologische Objekte hervor, die nun die Sozialtheorie als empirieferne Wissenschaft in Frage stellte. Zugleich ist eine Entdifferenzierung dicho-tomisierender Paradigmen zu beobachten, die inzwischen auch die Bezie-hung zwischen den Wissenschaften erreicht: Vom cultural turn – der aus Sicht mancher Durkheim-Kenner » alles « Durkheim verdankt (so zumin-dest Smith/Alexander 2005: 12) –, und vom practice turn sind nicht nur die Sozial- und Geisteswissenschaften, sondern ebenso die Wirtschafts- und Naturwissenschaften eingeholt. Beispielhaft wird dies deutlich an vieldis-kutierten Kategorien wie der » Diversität «, der » Nachhaltigkeit « oder der » Emergenz «, die Verbindungen zwischen Natur-, Wirtschafts-, Sozial- und Geisteswissenschaften artikulieren und zugleich politisch virulente gesell-schaftliche Debatten aufgreifen. Durkheims sicher zuweilen organizisti-scher, doch im Kern emergenztheoretischer Analyseansatz (vgl. Joas 1993: 271) mit Blick auf die disziplinären Transformationsprozesse um 1900 ge-winnt hier den Status einer historiographisch-exemplarischen Analysestra-tegie (so Sawyer 2005). Auf Seiten der Sozial- und Kulturwissenschaften werden die technologische Dynamisierung und ihre Auswirkungen auf den Alltag hinsichtlich der Durchdringung von Experten- und Alltagswissen so-wie von Produk tionspraktiken zunehmend ethnographisch erforscht, an-knüpfend an die Science and Technologie Studies und Workplace Studies sowie

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im Blick auf methodologische respektive erkenntnistheoretische Konsequen-zen (vgl. Rabinow/Marcus 2008). Im anglo-amerikanischen Raum wird dies in einem » epistemological middleground « (Herzfeld 2001: 21) zwischen empi-rischem und reflexivem Wissen rezipiert. Im Dialog damit stehen in Medi-zinanthropologie, der Stadtforschung oder im Kontext praxistheoretischer Studien auch die auf Autoren zentrierte Anthropologie zur Debatte, die bis in die 1980-er dominante Position des beobachtenden Ethnographen gegen-über den Beforschten. Sie wird nun ersetzt durch Methodologien der » mul-tiple sited Ethnography « (Marcus 1995), der » global Ethnography « (Burawoy u. a. 2000) sowie der » Praxeographie « (Schmidt/Volber 2011), in Reaktion auch auf die postkoloniale Kritik (Randeria 1999) und die » Krise der eth-nographischen Repräsentation « (Berg/Fuchs 1999; Marcus 2008). Auch hier kommt Durkheim neu ins Spiel (de Fornel/Lemieux 2007) – ebenso, wie in den Studies,18 die transdiziplinäre Haltung der Durkheimiens auflebt, die be-reits politische, wissenschaftliche und technologische Prozesse mittels ethno-logischer Studien analysierte. Vor diesem Hintergrund scheint es von Bedeu-tung, die Beziehung zwischen soziologischen und ethnologisch informierten Erkenntnistheorien historisch und methodologisch zu reflektieren: Soziolo-gie und Ethnologie stehen gleichermaßen zur Disposition. Das Werk Durk-heims bietet hier einen wichtigen Ausgangspunkt.

3. Die Verdichtung der skizzierten Wissensregime und die sie begleitende technologische und gouvernementale Entdifferenzierung, Deregulierung und Beschleunigung sind andererseits mit einem Legitimationsverlust tradier-ter gesellschaftspolitischer Institutionalisierungsformen (etwa der Gewerkschaf-ten) konfrontiert, der von einer strukturellen Überforderung von Überset-zungsansprüchen begleitet wird. Die daraus resultierenden gesellschaftlichen Probleme sind symptomatisch in der Arbeitswelt zu beobachten (vgl. zum Beispiel Sennett 1998; Ehrenberg 2004; Bröckling 2007). Insofern ist auch das Durkheimsche Profil der Soziologie als Analyse der Wissens- und Pro-duktionssphären in der Arbeitsteilung erneut aktuell. Hier geht es um das, was einige › Durkheimologen ‹ als dessen » Konstitutionstheorie « ansprechen (so Joas 1996: 90), das heißt seine These zum selbstreflexiven und regulieren-den Charakter moderner Gesellschaften, die sich nicht mittels Dogmen und Traditionen integrieren, sondern durch › spontane ‹ Regelbildung. Diese Neu-

18 Cultural Studies, Gender Studies, Postcolonial Studies, Science and Technology Studies und Workplace Studies die, vornehmlich aus dem angloamerikanischen Diskurs kommend, die internationalen soziologischen Epistemologien und universitären Curricula seit Beginn der 1990er Jahre geprägt und orientiert haben.

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lektüre stellt denjenigen Durkheim ins Zentrum, der die Beziehung von Re-flexivität, Integration und Erkenntnis untersucht hat, um seine Wissenschaft der Moral zu begründen (vgl. Müller 1998: 310) – das unabgeschlossene Le-benswerk, zu dem Durkheim noch 1917 letzte Skizzen verfasst hat (Durk-heim 1986).

4 Die Beiträge

4.1 Durkheims Soziologie: Kritische Rezeptionen und Aktualisierungen

Durkheims Gesellschaftstheorie bildet den Kern seiner lebenslangen Bemü-hung, Antworten auf die drängenden Paradoxien der Moderne – sozialstruk-turelle Differenzierung versus soziale und moralische Integration, verschärfte In-teressengegensätze versus ökonomischer und wissenschaftlicher Fortschritt und Autonomie versus Abhängigkeit zu finden. Hier waren wir an Beiträgen in-teressiert, die einerseits die Problematik der deutschen Durkheim-Rezep-tion thematisieren, und andererseits aufzeigen, wie produktiv eine auf Durk-heim bezogene soziologische Analyse heute sein kann. So befasst sich Wiebke Keim (Freiburg i. Br.) mit der Rezeption der Regeln der soziologischen Me-thode in Deutschland und situiert diese in einer vielschichtigen Gesamtschau der deutschen Soziologie von der Weimarer Republik bis in die Bundesre-publik der 1960er Jahre. An diese erste Phase der Durkheim-Rezeption an-knüpfend erläutert Lothar Peter (Bremen) die Durkheim-Lektüre Theodor W. Adornos in dessen Einleitung in Durkheims (posthum von Bouglé her-ausgegebener) Aufsatzsammlung Soziologie und Philosophie. Die polemische Kritik am » Pedanten « Durkheim seitens Adorno beeinflusst bis heute die deutschsprachige Wahrnehmung dieses französischen Klassikers.

Nach diesen soziologiegeschichtlichen und wissenssoziologischen Bei-trägen knüpfen Joachim Fischer (Dresden) und Jean Terrier (Münster) mit gesellschaftstheoretischen Interpretationen spezifischer Aspekte des Durk-heimschen Werkes an, um je Schlüsse für Gegenwartsfragen der Soziologie zu ziehen. Joachim Fischer entfaltet aus Durkheims Werk das Projekt einer Soziologie als » Sozioprudenz «, in der Linie von Moralistik und Verhaltens-lehre und in Parallele zur Jurisprudenz, wie er es in Durkheims » sozialer Tat-sache « entdeckt: Das Soziale folgt einer eigenen Logik, so hatte Durkheim gezeigt; es begründet eine eigene soziale Intelligenz und erfordert daher eine

Renaissance eines penseur maudit 33

entsprechende soziologische Ausbildung. Jean Terrier greift Durkheims Prag-matismus-Vorlesungen ausgehend von der Frage einer soziologischen Plu-ralismustheorie auf und diskutiert die Reichweite der Pragmatismus-Kritik Durkheims im Sinne einer politischen Ontologie. Im Gegensatz zum häufig unterstellten » moralischen Monismus « Durkheims lässt sich aus dieser Sicht eine spezifische Form pluralistischen Denkens bei Durkheim herausarbeiten, die Terrier unter anderem im Konzept vielfältiger kollektiver Repräsentatio-nen ausmacht.

Der Block schließt mit zwei Beiträgen, die Durkheims Sozialwissenschaft ausgehend von Aspekten der politischen Moral und seiner Methodologie anhand aktueller Gesellschaftsfragen zur Sprache bringen. Steven Lukes, der Autor der bekannten Durkheim-Biographie von 1973, und Devyani Prabhat (beide New York) befassen sich mit den Grenzen der moralischen Regulie-rung, die Durkheim zu erfassen suchte; sie übertragen seine Moraltheorie auf zwei aktuellere Fälle: Die rechtliche Gleichstellung von Homosexuel-len und die Debatte um die Legitimität von Folter nach den Ereignissen während des Irak-Krieges der Bush-Regierung in Abu Ghraib 2004. Thomas Scheffer (Frankfurt a. M.) greift Durkheims (gemeinsam mit Ernest Denis) 1915 durchgeführte diskursanalytische Rekonstruktion des Kriegseintritts des Deutschen Reiches auf, um in einer ethnomethodologischen Sequenz-analyse die Diskussion um die Äußerungen des ehemaligen deutschen Bun-despräsidenten Horst Köhler zum Afghanistan-Krieg nachzuvollziehen, die zu seinem Rücktritt geführt haben. Scheffer greift dabei Durkheims Konzept der » aktiven Kooperation « auf und übersetzt es in die organischen, selbstbe-züglichen Praxismuster des » Falles Köhler «.

4.2 Durkheims Ethnologie: Eine sozio-kulturelle Anthropologie

Liegen zu Durkheims soziologischen Werken bereits zahlreiche deutschspra-chige Kommentare vor, so trifft das Gegenteil im Hinblick auf seine ethno-logischen sowie sozial- und kulturanthropologischen Reflexionen zu. Wir verstehen Durkheims Ethnologie im Sinne der dreistufigen Interpretation Philippe Descolas (Ethnographie – Ethnologie – Anthropologie) als eine so-ziokulturelle Anthropologie, die sich von der Ethnologie durch ihren analy-tischen Charakter unterscheidet, der Konsequenzen aus dem Studium der Differenz ferner Gesellschaften für das okzidentale Zusammenleben zu zie-hen sucht (vgl. Descola 2010: 12 ff.). In diesem Block sind Beiträge versam-

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melt, in denen die Elementaren Formen des religiösen Lebens den zentralen Ausgangspunkt bilden.

Der Lévi-Strauss-Spezialist Emmanuel Désveaux (Paris) spiegelt Durk-heims Interpretation des australischen Totemismus im Lichte neuerer For-schungen zu den Arunta vor allem Carl G. von Brandensteins. Der Lévy-Bruhl-Experte Frédéric Keck (Paris) wendet sich dem Evolutionismus der Durkheimschen Religionssoziologie zu: Gegenüber der Kritik an Durk-heims Begriff der » kollektiven Repräsentation « aktualisiert Keck diese durch eine erneute Reflexion auf die Idee der » Partizipation « Lucien Lévy-Bruhls. Entlang der Debatte zwischen Durkheim und Lévi-Bruhl wird die anth-ropologische und philosophische Relevanz des ethnologischen Durkheim deutlich, das heißt die Pionierleistung für die strukturale Anthropologie. Marcel Fournier (Québéc) schließt mit einem Beitrag zum Methodenkon-flikt zwischen Durkheim und Lévy-Bruhl an. Die von diesem verteidigte » prälogische Denkweise « schien unvereinbar mit Durkheims Analogie, die er zwischen mythologischem und wissenschaftlichem Denken sah. Susan Stedman-Jones (Oxford) befasst sich mit der kritischen Rezeption der Ele-mentaren Formen des religiösen Lebens in der britischen Sozialanthropologie, insbesondere bei Malinowski, Radcliffe-Brown und Goldenweiser. Die Ver-bindung von Soziologie, Ethnologie und Erkenntnistheorie wird ihr zufolge vor allem durch Durkheims Thesen zur Kategorienbildung virulent, die von diesen Sozialanthropologen teils begeistert aufgegriffen, teils scharf kritisiert wurden – zuweilen um den Preis erheblicher Verkürzungen.

Tanja Bogusz (Berlin) zieht eine systematische Parallele zwischen den In-tegrationsformen ethnologischer Befunde bei Durkheim und Bourdieu. Sie bezeichnet diese als » Synchronisationen « von Soziologie und Ethnologie, anhand derer eine prinzipielle Verbindung empirisch-ethnologischer und sozialwissenschaftlicher Untersuchungsverfahren in der französischen Tra-dition deutlich wird. Stefan Beck (Berlin) stellt die Frage der Aktualität der Analysen Durkheims für die internationale Sozialanthropologie im Bereich der Wissenschafts- und Technikforschung und Akteur-Netzwerk-Theorie anhand der Leitmotive » Materialität «, » Kosmpolitismus « und » Emergenz «. Dabei thematisiert er wissensanthropologische Grundfragen in einer kriti-schen Bilanzierung der jeweiligen länderspezifischen Fachtraditionen, insbe-sondere der deutschsprachigen.

Renaissance eines penseur maudit 35

4.3 Durkheims Erkenntnistheorie: Epistemologische Konkurrenzen und praxistheoretische Perspektiven

Durkheims Interesse für die Philosophie betrifft insbesondere die Erkennt-nistheorie. Dies lässt sich vielerorts im Werk aufspüren, entfaltet sich jedoch insbesondere in der Religionssoziologie und den Pragmatismus-Vorlesungen, die auf einer langjährigen Auseinandersetzung mit seinen philosophischen Zeitgenossen basieren.

Heike Delitz (Bamberg) rekonstruiert das Verhältnis Durkheims und der Durkheimiens gegenüber Bergson und den Bergsoniens, indem sie eine dis-ziplinbildende Aversion entdeckt – sowie eine eigene Bergsonsche sozio-logische Theorie, jenseits der Durkheim-Schule. An der Beziehung Berg-son-Durkheim lässt sich eine » Bifurkation « (Bergson) des französischen soziologischen Denkens beobachten. Michael Schillmeier (München) greift die Durkheim-Tarde Debatte auf, indem er, ähnlich wie Delitz in Bezug auf Bergson, den genuinen Beitrag des Durkheim-Opponenten in den Mittel-punkt seiner Überlegungen stellt. Tardes Vorschlag für eine » ontologische Politik des Sozialen « wird hier retrospektiv aus der daran anknüpfenden Li-nie Tarde – Deleuze/Guattari – Latour reflektiert; auch dies beleuchtet eine » andere Seite « der Geschichte der französischen Sozialwissenschaft. Stéphane Baciocchi und Jean-Louis Fabiani (beide Paris) ergänzen den Forschungs-stand zu Durkheims Pragmatismus-Auseinandersetzung um eine neue Quelle: Es handelt sich um eine bisher unbekannte studentische Aufzeich-nung der Eröffnungssitzung der Pragmatismus-Vorlesungen (vgl. Durkheim 2012 [1913]), welche die von Cuvillier bereits 1955 herausgegebene Vorlesung Pragmatismus und Soziologie erst komplettiert. Auf diese Weise kommt also Durkheim – wenn auch durch die Hand eines Studenten – im Band auch selbst zu Wort: Émile Durkheim: Pragmatismus und Soziologie, Eröffnungs-vorlesung, 1913. Die nun neu lesbare Eröffnungsvorlesung verdeutlicht ihren Herausgebern zufolge die Relevanz des akademischen Kontextes: die Tatsa-che, dass es sich um die erste Antrittsvorlesung im Fach Soziologie handelt, die sich hier anschickt, sich von der › Königsdisziplin ‹ Philosophie zu eman-zipieren. Baciocchi und Fabiani unterstreichen in ihrem Beitrag die Bedeu-tung dieser Vorlesungen für das Verständnis nicht nur der Erkenntnistheo-rie Durkheims, sondern des Gesamtwerkes. Stephan Moebius (Graz) hebt im Kontext konkurrierender soziologisch-philosophischer Programme und Schulen das Collège de Sociologie und ihre » Sakralsoziologie « als Gegenpro-gramm zu Durkheims Religionssoziologie hervor. Trotz zahlreicher Überein-

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stimmungen etwa im Hinblick auf den methodologischen Individualismus wurde der genuine Beitrag dieser Gruppe in Bezug auf ihre Kritik an Durk-heims Rationalismus-Auffassung lange unterschätzt. Moebius profiliert in diesem Kontext insbesondere die Arbeiten der Durkheim-Schüler Robert Hertz und Marcel Mauss im Sinne der von Hans Joas entwickelten Überle-gungen zur intersubjektiven Praxis der » primären Sozialität « im berühmten Konzept der » kollektiven Efferveszenz «.

Auf diese Untersuchungen der erkenntnistheoretischen Bedeutung kon-kurrierender Ansätze zur Konstitution der Durkheim-Schule folgen drei werkspezifische Interpretationen. Robert Seyfert (Konstanz) widmet sich den transformatorischen Aspekten in Durkheims Totemismus-Theorie. Gegen-über der gängigen » evolutionistischen « und » anthropistischen « Lesart des Totemismus bei Durkheim vollzieht sich vor seinen Augen die Bildung eines spezifischen Sozius sowie eines spezifischen Gesellschaftsbewusstseins zwi-schen Menschen und Tieren respektive Pflanzen im Totemismus, in dem sich zugleich die Transformation in eine » anthropistische « Gesellschaft an-kündigt, in der allein Menschen als sozius gelten. Auch Bruno Karsenti (Paris) wendet sich dem Totemismus zu; hier steht die rezeptionsgeschichtlich zen-trale und häufig missverstandene These Durkheims im Zentrum, nach der das Soziale als » Ding « zu verstehen sei. In seiner Analyse des von Durkheim untersuchten Totems als Wahrzeichen, welches das Soziale nicht einfach re-präsentiert, sondern erst produziert, wird die praxistheoretische Relevanz des auch von Seyfert nachvollzogenen » Sozio-Empirismus « Durkheims deutlich. Zugleich reflektiert Karsenti kritisch Lévi-Strauss’ Darstellung eines reduk-tionistischen Durkheim.

Der Band schließt mit einem Beitrag von Anne W. Rawls (Massachusetts), die die erkenntnistheoretische Kraft und praxistheoretische Dimensionen von Durkheims Werk in seiner Studie Über die soziale Arbeitsteilung verortet. Die Relevanz konstitutiver Praxen, die von Seyfert und Karsenti entlang der Totemismus-Forschung diskutiert werden, wird hier im Hinblick der Idee sozialer Selbstregulierung (in Anlehnung an Garfinkel) als auch aktuell rele-vante Herstellung moralischer Ordnung durch ein Verfahren der reziproken, » spontanen Verbindlichkeit « diskutiert.

Die hier versammelten Beiträge machen den Ethnologen, Soziologen und Erkenntnistheoretiker Durkheim sichtbar – anstelle einseitig den So-ziologen, der die Philosophie verachtete; oder den Soziologen, der die Eth-nologie (wie jede andere Gesellschaftswissenschaft) zur puren Hilfswissen-schaft degradiert habe. Und da › Durkheim ‹ nicht alleine stand, und nicht

Renaissance eines penseur maudit 37

aus sich allein verständlich ist, interessieren – soweit es die Begrenzung der Beiträge zulässt – ebenso seine Zeitgenossen, Gegner und Nachfolger. Das Fehlen von Beiträgen etwa zu Claude Lévi-Strauss und Philippe Descola er-klärt sich lediglich aus den typischen Unvollkommenheiten und Unwägbar-keiten eines Sammelbandes; für die Bedeutung von Marcel Mauss für das Werk Durkheims stehen die Beiträge von Moebius und Beck in diesem Band.Im Kern geht der vorliegende Band auf eine internationale Tagung an der Humboldt Universität zu Berlin zurück, die wir unter dem Titel » Émile Durkheim – Sociology and Ethnology « im Juni 2010 organisiert haben. Wir danken dem Berliner Centre Marc Bloch, der Deutschen Gesellschaft für So-ziologie, dem Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt Universität zu Berlin und der René König Gesellschaft für ihre freundliche finanzielle Unter-stützung.

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