Arbeitsbericht zum Münzschatz von Beçin (zusammen mit anderen)
Einleitung: Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert (zusammen mit Jan C. Behrends, Patrice Poutrus)
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Jan C. Behrends, Árpád von Klimó, Patrice G. Poutrus
Antiamerikanismus und die europäische Moderne. Zur Einleitung1
Die Vereinigten Staaten von Amerika sind weit mehr als ein Land – sie repräsentieren Macht
und Vision, Traum oder Alptraum. Der Schriftsteller Czesław Miłosz, der aus dem
kommunistischen Polen ins kalifornische Berkeley übersiedelte, beschrieb seine ambivalente
Haltung zu Amerika, indem er die Widersprüche zwischen moralischen Ansprüchen und
sozialen Verwerfungen der Neuen Welt herausstrich: „Was für eine Herrlichkeit! Was für ein Elend! Welch Menschlichkeit! Welch Unmenschlichkeit! Wie wohlwollend die Menschen sind! Und wie einsam! Wie sie ihre Ideale hochhalten! Doch was für eine Heuchelei! Welch Triumph des Gewissens! Welch Perfidie!“2
„Amerika“ war ein Thema der vergangenen Jahrhunderte und ist ein Thema unserer Zeit.3
Amerika rief und ruft starke Emotionen hervor. Dies gilt bereits seit dem Urknall der
Moderne, der Entdeckung der Neuen Welt. Seitdem fasziniert Amerika die Europäer. Ohne
die Anziehungskraft und Faszination, die Amerika bis heute ausübt, lässt sich auch die
Feindschaft nicht erklären, mit der ihm begegnet wurde und wird. Die Abwehr Amerikas
durch europäische Eliten war auch immer die Abwehr einer Verführung, die jenseits des
Atlantiks lockte. Bereits vor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und der
Gründung der Vereinigten Staaten durch die Verabschiedung der Verfassung 1787 und die
In
diesem Band soll ein vergleichender Blick auf die europäischen Amerikabilder des 20.
Jahrhunderts geworfen werden. Der Fokus liegt dabei auf verschiedenen Formen der
Feindschaft zu den USA, die wir in historischer Perspektive als Antiamerikanismus
bezeichnen. Um den Antiamerikanismus des vergangenen Jahrhunderts besser zu verstehen,
ist es nötig, ihn historisch und politisch zu kontextualisieren. Dieser Band konzentriert sich
dabei auf die „klassische Moderne“ (Detlev J.K. Peukert), d.h. den Zeitraum zwischen fin de
siècle und den 1960er Jahren.
1 Published as “Einleitung”, in: Antiamerikanismus und Kalter Krieg. Ost- und Westeuropa im Vergleich. Hrsg. v. Jan C. Behrends, Árpád v. Klimó und Patrice Poutrus, Dietz-Verlag: Bonn 2005, pp. 10-33. I wrote the first part (pp. 1-9) 2 Czesław Miłosz, Amerika, in: ders., Mein ABC. Von Adam und Eva bis Zentrum und Peripherie, München 2002, S. 13-17, Zitat S. 13. 3 Den Begriff „Amerika“ verwenden wir in diesem Band in einem politischen Sinne, d.h. er bezeichnet – dem Sprachgebrauch des Alltags entsprechend – die Vereinigten Staaten und nicht im geographischen Sinne den Kontinent Amerika. Antiamerikanismus bezieht sich demnach allein auf die USA.
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Wahl George Washingtons zum ersten Präsidenten 1789 entwickelten sich kritische und
feindliche Diskurse über die Einwohner, Politik, Geographie, Biologie und Kultur der Neuen
Welt.4 Im Zeitalter der lumières prägten Georges-Louis de Buffon in Paris und Cornelius De
Pauw in Berlin negative Topoi über die „degenerierte Natur“ Amerikas.5 Dieser
antiamerikanische Diskurs bildete einen Teil der europäischen Aufklärung, der in den USA
zurückgewiesen wurde. So sah Thomas Jefferson sich 1782 in seinen Notes on the State of
Virginia veranlasst, die Anschuldigungen der europäischen Aufklärer minutiös zu
widerlegen.6 Das Urteil über Amerika spaltete schon im 18. Jahrhundert eine europäisch-
atlantische Öffentlichkeit. Faszination und Strahlkraft der Neuen Welt verstärkten sich im
darauffolgenden Jahrhundert weiter. In der europäischen Romantik kamen – vermittelt durch
Schriftsteller wie Heinrich Heine und Nikolaus Lenau – die Topoi von Amerika als reiner
Erwerbsgesellschaft, als Nation ohne Geschichte auf, die daher „wurzellos“ sei und in der
eine „Tyrannei der Massen“ herrsche.7 Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts räsonierten
Rassisten wie Arthur de Gobineau über die Bedrohung Europas durch die Vermischung der
„Rassen“ in den USA und eröffneten damit den Diskurs über die sozialen, kulturellen und
politischen Konsequenzen der „Rassenfrage“. Die Rede über die ethnische Gemengelage
Amerikas konnte dabei in zwei unterschiedliche Urteile münden: Einerseits prognostizierte
man, die USA würden an ihrer Vielfalt zu Grunde gehen, andererseits wurde ihnen
vorgeworfen, sie betrieben die Auslöschung von Differenz und erzwängen die Homogenität
ihrer Bevölkerung.8
4 Die Tiefenschichten des Amerikadiskurses reichen bis ins Zeitalter der Entdeckungen zurück. Vgl. John H. Elliott, The Old World and the New, 1492–1650, Cambridge 1970.
Beide Visionen beinhalteten die Vorstellung, die USA seien eine
pathogene Gesellschaft, die ihre Zukunft bereits hinter sich habe. Diese Intellektuellen-
Diskurse hatten jedoch keine abschreckende Wirkung auf die europäischen Emigranten. Die
Anziehungskraft Amerikas auf europäische Auswanderer verstärkte sich während des 19.
5 Philippe Roger, Aufklärer gegen Amerika. Zur Vorgeschichte des europäischen Antiamerikanismus, in: Rudolf von Thadden/Alexandre Escudier (Hrsg.), Amerika und Europa. Mars und Venus? Das Bild Amerikas in Europa, Göttingen 2004, S. 16-34; James W. Ceaser, A Genealogy of Anti-Americanism, in: The Public Interest 152 (2003), S. 2-18, S. 5ff. und epochenübergreifend ders., Reconstructing America. The Symbol of America in Modern Thought, New Haven, Conn. 1997. Vgl. auch Antonelli Gerbi, The Dispute of a New World. The History of a Polemic 1750–1900, Pittsburgh 1973. 6 Thomas Jefferson, Notes on the State of Virginia [1782], Boston 2002. 7 Vgl. zum deutschen Fall in breiter Perspektive den Essay von Dan Diner, Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments, München 2002, zur Amerikafeindschaft der Romantik ebd. S. 42-65. Inwieweit der europäische Antiamerikanismus als Reaktion auf die amerikanische Selbststilisierung der Manifest Destiny bzw. als City on the Hill und damit als ausgewählte Nation zu begreifen ist, ist noch eine offene Forschungsfrage. 8 Ceaser, Genealogy, S. 9ff.
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Jahrhunderts viel mehr weiter und verdeutlicht, dass große Teile der Bevölkerung dort ihre
persönliche Zukunft sahen.
Seit Alexis de Tocquevilles De la démocratie en Amérique (1835) lässt sich der Diskurs
über das Politische in Europa nicht mehr von der Rede über Amerika trennen.9 Viele
Europäer besichtigten nun in den USA die Zukunft des eigenen Kontinents und beschrieben
die moderne Gesellschaft, die sie dort kennen lernten. Reiseberichte stellen deshalb eine
ergiebige Quelle dar und zeigen, wie sehr die Rede über die USA das europäische
Selbstverständnis formte.10 Sozialtheoretiker wie Max Weber oder Theodor W. Adorno haben
sich in dieser Tradition stehend zur amerikanischen Gesellschaft geäußert. Europäische
Identitäten und Redeweisen über die moderne Gesellschaft entstanden in einem Prozess
transatlantischer Abgrenzung, und es waren europäische Intellektuelle und Bürger, die die
Konstruktion dieser Selbstbilder vorantrieben. Ablehnung von oder Begeisterung für die
Vereinigten Staaten prägten schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Debatten über soziale,
kulturelle und politische Fragen. Amerika avancierte in der Sozialdemokratie und im
Bürgertum, sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern Europas, zum Symbol für
eine moderne Zukunft.11
Das 20. Jahrhundert Europas lässt sich ohne die enge Verzahnung mit der amerikanischen
Geschichte nicht begreifen. Seit 1917 und endgültig seit 1944 sind die Vereinigten Staaten in
Europa präsent – als politische und militärische, aber insbesondere auch als kulturelle Macht.
Die Auseinandersetzung mit den USA stand im 20. Jahrhundert im Zentrum zahlreicher
Diskurse über die westliche Moderne. Dabei wurden die Ideen von 1776 und die
amerikanische Gesellschaft von den radikalen Bewegungen, aber auch aus der Mitte des
politischen Spektrums attackiert. In verschiedenen Ländern lassen sich dabei einerseits
9 Vgl. als deutsche Ausgabe Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Stuttgart 1985. Zu Tocquevilles Amerikabild in vergleichender Perspektive Claus Offe, Selbstbetrachtung aus der Ferne. Tocqueville, Weber und Adorno in den Vereinigten Staaten, Frankfurt/Main 2004, S. 15-58. 10 Vgl. die Anthologie Alexander Schmidt-Gernig (Hrsg.), Amerika erfahren – Europa entdecken. Zum Vergleich der Gesellschaften in europäischen Reiseberichten des 20. Jahrhunderts, Berlin 1999. Vgl. auch diskursanalytisch ders., Reisen in die Moderne. Der Amerika-Diskurs des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Vergleich, Berlin 1997. Ein breites Panorama deutsch-amerikanischer (Kultur-) Beziehungen findet sich bei Frank Trommler/Elliott Shore (Hrsg.), Deutsch-amerikanische Begegnungen. Konflikt und Kooperation im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2001. Vgl. auch Karl-Heinz Füssl, Deutsch-amerikanischer Kulturaustausch im 20. Jahrhundert. Bildung – Wissenschaft – Politik, Frankfurt/Main 2004. 11 Vgl. bspw. zum Amerikabild der deutschen Sozialdemokratie seit dem Kaiserreich Werner Kremp, In Deutschland liegt unser Amerika. Das sozialdemokratische Amerikabild von den Anfängen der SPD bis zur Weimarer Republik, Münster 1993; für das Bürgertum in europäisch vergleichender Sicht Schmidt, Reisen.
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unterschiedliche Konjunkturen, andererseits aber auch gleich bleibende Topoi der
Amerikakritik isolieren.
Die deutsche Forschung erweckt bisher den Eindruck, beim Antiamerikanismus handele es
sich um eine malaise allemande, einen Bestandteil einer spezifisch deutschen Kritik am
Westen, eine diskursive Kehre auf dem vielbeschworenen Sonderweg.12 Vergleichende oder
übergreifende Arbeiten zum Thema Antiamerikanismus stammen in der Regel von
amerikanischen Wissenschaftlern.13 Eine komparative Forschung, die ganz Europa in den
Blick nimmt, liegt erst in Ansätzen vor.14 Ein flüchtiger Blick verdeutlicht jedoch bereits,
dass es sich bei der Rede über und der Kritik an Amerika von Beginn an um ein europäisches
Phänomen handelte. Deshalb ist Antiamerikanismus ein Thema, das sich besonders
gewinnbringend vergleichend und als Transfergeschichte untersuchen lässt – ein Ansatz, der
im hier vorliegenden Band verfolgt wird.15
Antiamerikanismus und die klassische Moderne
Der vorliegende Band versucht, das moderne Ideologem des Antiamerikanismus zu
historisieren und in vergleichender Perspektive zu analysieren. Zu fragen ist nach der
Bedeutung von Antiamerikanismus in verschiedenen nationalen Kontexten und in 12 Vgl. zur (west-) deutschen Entwicklung Christian Schwaabe, Antiamerikanismus. Wandlungen eines Feindbildes, München 2003; zur deutschen Nachkriegsgesellschaft aus sozialwissenschaftlicher Sicht Gesine Schwan, Antikommunismus und Antiamerikanismus in Deutschland. Kontinuität und Wandel nach 1945, Baden-Baden 1999; populär: Richard Herzinger, Endzeit-Propheten oder die Offensive der Antiwestler. Fundamentalismus, Antiamerikanismus und Neue Rechte, Reinbek 1995; Claus Leggewie, Amerikas Welt. Die USA in unseren Köpfen, Hamburg 2000. Vgl. zu Deutschland auch die Beiträge in Alf Lüdtke/Inge Marßolek/Adelheid von Saldern (Hrsg.), Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1996 und Detlef Junker (Hrsg.), Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945–1990. Ein Handbuch, 2 Bde., Stuttgart etc. 2001. Mit einem Schwerpunkt auf Österreich: Michael Draxlbauer/Astrid M. Fellner/Thomas Fröschl (Hrsg.), (Anti-) Americanisms, Wien 2004. Die neuere Forschung reflektiert Philipp Gassert, Amerikanismus, Antiamerikanismus, Amerikanisierung. Neue Literatur zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte des amerikanischen Einflusses in Deutschland, in: AfS 39 (1999), S. 531-561. Übergreifend zum späten 20. Jahrhundert Paul Hollander, Anti-Americanism. Critiques at Home and Abroad, 1965–1990, New York etc. 1992, der jedoch eine zu breite Definition von Antiamerikanismus zu Grunde legt. 13 Vgl. in globaler Perspektive Thomas Perry Thornton, Anti-Americanism: Origins and Context, Newbury Park etc. 1988. Mit dem Blick auf den Einfluss amerikanischer Kultur in Europa: Rob Kroes, If You’ve Seen One, You’ve Seen the Mall. Europeans and American Mass Culture, Urbana etc. 1996; zum europäischen Blick und Einfluss auf die USA Richard Pells, Not Like Us. How Europeans Have Loved, Hated, and Transformed American Culture Since World War II, New York 1997. 14 Vgl. aber zu Westeuropa David W. Ellwood, Comparative Anti-Americanism in Western Europe, in: Heide Fehrenbach/Uta G. Poiger (Hrsg.), Transactions, Transgressions, Transformations. American Culture in Western Europe and Japan, New York 2000, S. 26-44. 15 Zur Beziehung zwischen Vergleich und Transfer vgl. Johannes Paulmann, Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: HZ 267 (1998), S. 649-685.
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unterschiedlichen politischen Systemen – schließlich prägten autoritäre Regime, Demokratien
und moderne Diktaturen die europäische Geschichte des vergangenen Jahrhunderts. Wie
passte sich der Antiamerikanismus an verschiedene politische und kulturelle Umgebungen
an? Existierte eine gemeinsame Basis der Antiamerikanismen? In welchen Zusammenhängen
sollte die Forschung den Begriff aufgreifen, wo gilt es, ihn zu vermeiden, welche alternativen
Begriffe (z.B. „Antimodernismus“) bieten sich an? Zur Beantwortung dieser Fragen ist es
sinnvoll, den jeweiligen historischen Kontext in den Fokus der Untersuchungen zu rücken;
ein pauschaler Gebrauch des Begriffes, der von den konkreten historischen Bedingungen
abstrahiert, sollte dagegen vermieden werden.
„Ideologien“ beziehen sich seit der Entstehung des Begriffs im Gefolge der Französischen
Revolution auf Wahrnehmungsweisen, die sich in Ideen manifestieren. Niklas Luhmann hat
Ideologien als entscheidende Mittel zur Reduktion von Komplexität bezeichnet. Durch
Ideologien „werden die Möglichkeiten des Wirkens eingeengt, übersehbar, entscheidbar.“16
Was aber bedeutet „antiwestliches“ oder „antimodernes“ Denken in westlichen, modernen
Ländern? Was heißt „modern“ oder „Moderne“ im 20. Jahrhundert?
Wenn man Ideologeme als Elemente oder Versatzstücke moderner Ideologien versteht, dann
stellt Antiamerikanismus einen Baustein antiwestlicher, antiliberaler und antimoderner
Ideenwelten dar.
17 Die Moderne
beinhaltete stets ein Nachdenken über die eigene Zeit, die als Epoche der radikalen Brüche
mit der Vergangenheit wahrgenommen wurde. Das verweist auf eine kontinuierliche
Infragestellung und Kritik der Gegenwart aus der Perspektive einer möglichen Zukunft.
Ulrich Beck und Anthony Giddens unterscheiden eine „zweite oder reflexive Moderne“, in
der wir selbst leben, von einer „ersten Moderne“ unserer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern,
die den Untersuchungszeitraum dieses Bandes bildet.18
16 Niklas Luhmann, Wahrheit und Ideologie. Vorschläge zur Wiederaufnahme der Diskussion, in: Der Staat 1 (1962), S. 431-448; vgl. auch ders., Soziologische Aufklärung, Opladen 1970, S. 54-65, hier S. 63.
Die erste Moderne bedeutete den
Ausbau der Nationalstaaten, einer Erwerbsgesellschaft, einen Trend zur Individualisierung der
Lebensstile, zur Urbanisierung, zur Rationalisierung, zur Verwissenschaftlichung und
funktionellen Differenzierung der Gesellschaft. Antiamerikanismus in der europäischen
17 Zur Begriffsgeschichte vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, „Modern“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhard Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 93-131. 18 Vgl. Ulrich Beck/Anthony Giddens/Scott Lash (Hrsg.), Reflexive Modernisierung: Eine Kontroverse, Frankfurt/Main 1996; Ulrich Beck/Wolfgang Bonß (Hrsg.), Die Modernisierung der Moderne. Frankfurt/Main 2001.
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Moderne bezieht sich auf Ideologeme, die vor dem Hintergrund dieses raschen sozialen und
kulturellen Wandels komplexitätsreduzierende Wahrnehmungen und damit die Abgrenzung
gegenüber einer als bedrohlich wahrgenommenen Veränderung und zugleich die
Neukonstitution der eigenen Identität ermöglichten.
Bei der historischen Analyse von Antiamerikanismus tun sich einige spezifische Probleme
auf. Hier wäre zunächst der schmale Grat zwischen Analyse und Polemik zu nennen – über
Amerika redet man in der Regel cum ira et studio. Häufig ist unklar, wann sich
Wissenschaftler zu Wort melden und wann Autoren ihre private Meinung äußern, und die
Grenzen zwischen sozialwissenschaftlichen und populären Diskursen verschwimmen. Wenn
heute in der Öffentlichkeit einerseits mit großer Verve die USA kritisiert werden, und
zugleich ein „Anti-Antiamerikanismus“ gefordert wird, bewegt sich die zeithistorische
Forschung auf emotionalisierten und umkämpften Terrain. Deshalb soll zunächst der Versuch
unternommen werden, eine nüchterne Arbeitsdefinition von Antiamerikanismus zur
formulieren. Dass Kritik an den USA legitim ist, wird nicht bestritten. Worum geht es also?
Es ist nicht unser Anliegen, die Legitimität radikaler Kritik an der Moderne bestreiten zu
wollen. Eine solche Kritik sollte vielmehr gerade ein Movens historischer
Sozialwissenschaften sein. Genauso wenig wird man bestreiten können, dass die Vereinigten
Staaten ein Land sind, das in vielfacher Hinsicht eine Vorreiterrolle in
Modernisierungsprozessen eingenommen hat. Problematisch erscheint es jedoch, wenn die
Pathologien unserer Zeit auf einen Ort und eine Nation, nämlich auf Amerika, zurückgeführt
werden. Um Klarheit zu gewinnen gilt es daher zunächst, zwischen dem politischen
Kampfbegriff „Antiamerikanismus“ und dem Phänomen selbst zu unterscheiden.
Als Kampfbegriff wurde Antiamerikanismus vermutlich von Golo Mann in die deutsche
Sprache eingeführt.19 Eine ausführliche Begriffsgeschichte, die auch zu klären hätte, wann der
Begriff in andere Sprachen einging, stellt ein wichtiges Forschungsdesiderat dar. Hier ist
festzuhalten, dass „Antiamerikanismus“ in der Regel eine Fremdzuschreibung ist. Von
wenigen Ausnahmen abgesehen, bezeichnet sich kaum jemand selbst als „Antiamerikaner“.
Dies unterscheidet den Begriff signifikant von anderen politischen Kampfbegriffen wie
„Antifaschismus“ oder auch „Antisemitismus“, eine Vokabel, die Wilhelm Marr 1879 als
Selbstbezeichnung von Judenfeinden prägte.20
19 Für diesen Hinweis danken wir Philipp Gassert, Heidelberg.
Eine Untersuchung des politischen
Kampfbegriffes Antiamerikanismus liegt noch nicht vor. Sie wäre ein wichtiger Bestandteil
20 Vgl. Wolfgang Benz, Was ist Antisemitismus?, München 2004, S. 91ff.
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einer Kulturgeschichte des Kalten Krieges und müsste – neben der Zuschreibung anti-
American – etwa auch das Etikett un-American untersuchen, wie es in der McCarthy-Ära als
stigmatisierender Vorwurf verwendet wurde. Im hier vorliegenden Band soll jedoch nicht der
Begriff, sondern das Phänomen Antiamerikanismus untersucht werden. Dabei gehen wir von
der Prämisse aus, dass Antiamerikanismus avant la lettre existierte und dass man die gesamte
klassische Moderne in den Blick nehmen sollte, um die europäische Amerikafeindschaft zu
analysieren.
Was das Phänomen Antiamerikanismus betrifft, so hilft eine Erkenntnis von Golo Mann
weiter, der bereits 1954 auf den instrumentellen Charakter der Projektionsfläche Amerika
hinwies: „Was wir den Amerikanern vorwerfen, haben wir selbst in uns“, stellte Mann fest. Er
forderte, Europa solle sich selbst als Teil der modernen Welt begreifen und deren
Widersprüche nicht länger externalisieren, sondern sich der Problematik stellen.21
Eine Repräsentation Amerikas, in der Defizite pauschal auf die gesamte Gesellschaft
übertragen werden oder Topoi wie dasjenige der geographisch-biologischen Degeneration,
einer reinen Erwerbsgesellschaft oder der geschichtlichen Wurzellosigkeit verwendet werden,
ist antiamerikanisch zu nennen. Dies gilt besonders dann, wenn behauptet wird, dass es sich
um gleichsam genetische Defizite handele und die Autoren für sich in Anspruch nehmen, in
ihnen das eigentliche Wesen der amerikanischen Gesellschaft freizulegen. Handelt es sich
hier um Diskurse europäischer Intellektueller, in denen antiamerikanische Topoi verwendet
werden, so schlagen wir vor, von klassischen Antiamerikanismus zu sprechen. Das 20.
Jahrhundert brachte jedoch auch extremere Varianten der Amerikafeindschaft hervor. In
modernen Diktaturen finden wir einen radikalen oder entgrenzten Antiamerikanismus. Hier
wurden den USA nicht nur genetische Defizite zugeschrieben, sondern die Vereinigten
Staaten wurden als das wesenhaft Böses, als Weltverderber und absoluter Feind dargestellt.
Die Propagandastaaten verbreiteten in ihren Gesellschaften die totale und als verbindlich
dekretierte Ablehnung Amerikas. Kennzeichnend für das Gesamtphänomen
Antiamerikanismus ist der essentialistische Zug der Argumentation.
Golo Mann
formulierte die Erkenntnis, dass die europäische Kritik an der Amerikanisierung eine nach
außen gewendete Selbstkritik ist. Wo schlägt diese Kritik nun in etwas um, dass man treffend
als Antiamerikanismus bezeichnen kann?
21 Golo Mann, Urteil und Vorurteil, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 8 (1954), S. 390-394, hier S. 393.
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In den hier präsentierten empirischen Studien zeigt sich, dass sich die beiden Varianten
antiamerikanischen Denkens überschneiden, dass sich der radikale Antiamerikanismus der
klassischen Topoi bedient und die klassische Amerikafeindschaft die USA als Weltfeind
bezeichnet. Die spezifische Differenz zwischen beiden Spielarten liegt primär in der
Intention: Während es sich auf der einen Seite um eine monokausal argumentierende
Modernekritik handelt, steht auf der anderen Seite der Versuch, zum Hass gegen Amerika
aufzustacheln. Der radikale Antiamerikanismus ist mehr als nur intellektueller Diskurs, er ist
zielgerichtete Mobilisierungsideologie. Aufgrund dieser Varianzen ist es notwendig, den
historischen Kontext, die spezifischen Konfliktlagen und die politische Kultur der
untersuchten Länder in die Analyse einzubeziehen.
Unser Definitionsversuch soll nicht über eine erstaunliche Flexibilität hinwegtäuschen, die
für den Antiamerikanismus charakteristisch ist und sich darauf zurückführen lässt, dass
Amerika als Projektionsfläche für unterschiedliche soziale Gruppen und politische
Bewegungen in Europa dienen konnte. In antiamerikanischen Diskursen standen die USA für
Liberalismus oder Reaktion, für erzwungene Homogenität oder bedrohliche Vielfalt, für
Militarismus oder für „unsoldatische“ Lässigkeit, für Rassismus oder „Rassenschande“. Ihre
Feinde haben die Vereinigten Staaten sowohl als Verkörperung des männlichen als auch des
weiblichen Prinzips angegriffen; die USA galten einigen als gottlos und anderen als
fundamentalistisch religiös. In der klassischen Moderne wurde der leere Signifikant Amerika
mit immer neuen pejorativen Bedeutungen gefüllt. Kleinster gemeinsamer Nenner des
Antiamerikanismus blieb Amerika als Metapher für eine die eigene Gemeinschaft bedrohende
Moderne. Um ein differenziertes Bild des vielschichtigen Phänomens zu bekommen, gilt es
darum zu fragen, wie, von wem und warum im 20. Jahrhundert in Europa über Amerika
geredet wurde.
Antiamerikanismus konnte in Europa dazu dienen, die Brüche, Aporien und Pathologien
der Moderne auf einen äußeren Einfluss, nämlich auf die politische und kulturelle Macht der
Vereinigten Staaten zurückzuführen, die so für gesellschaftliche Fehlentwicklungen oder
lokale Missstände in anderen Staaten verantwortlich gemacht wurden. Externalisierung von
Verantwortung und Zuweisung von Schuld waren Leitmotive antiamerikanischen Denkens.
Es ging demnach im Antiamerikanismus nicht um die Kritik an konkreten Entscheidungen der
Politik oder an genau bestimmten Charakteristika der Kultur der Vereinigten Staaten, sondern
um eine Projektion, in der der amerikanischen Gesellschaft unterstellt wurde, sie exportiere
9
ihre Pathologien in andere Staaten. Im antiamerikanischen Weltbild erscheinen die USA als
dunkle Seite der Moderne; sie können zum Gegenspieler stilisiert werden und zum zentralen
Feindbild der eigenen Nation avancieren. Die Wirkungsmächtigkeit des Antiamerikanismus
als Deutungsmuster von Konflikten in der modernen Welt rekurriert auf nationale
Identitätskonstruktionen, in denen die eigene Nation zugleich als moralisch überlegen und
strukturell bedroht dargestellt wird. Als Teil nationaler Meisterzählungen, und in Verbindung
mit eingewurzelten Identitäten, entfaltet der Antiamerikanismus seine Wirkungsmächtigkeit.
Eine Stärke dieses Narrativs ist seine Anpassungsfähigkeit: Antiamerikanisches Denken
konnte und kann mit verschiedenen Nationalismen ebenso verschmelzen wie mit sozialen
Protestbewegungen oder elitärem Dünkel.
Dass man in verschiedenen europäischen Gesellschaften und in unterschiedlichen
Systemen auf ähnliche antiamerikanische Topoi stößt, verwundert wenig. Seit der Aufklärung
zirkulierten antiamerikanische Ideen unter europäischen Intellektuellen. In der klassischen
Moderne fanden Motive wie Massengesellschaft, Oberflächlichkeit und ungezügeltes
Profitstreben Eingang in die politische Kultur unterschiedlicher Gesellschaften, wo sie für die
Bedrohung des Eigenen durch den American way of life standen.22 Eine Analyse des
Ideologems Antiamerikanismus sollte weiterhin nach seiner Beziehung zu Ideologien fragen,
die Europa in der klassischen Moderne prägten. Vor allem sein Verhältnis zu Faschismus,
Nationalsozialismus, Kommunismus ist zu untersuchen. Außerordentlich aufmerksam
betrachtet werden sollte die Verknüpfung des Antiamerikanismus mit dem Antisemitismus,
einer vergleichbar holistischen Weltdeutung, die ebenfalls von einer apokalyptischen
Moderneauffassung getragen wird.23
Schließlich gilt es, erste Antworten auf die folgenden Fragen zu formulieren: Lassen sich
differentia specifica des Antiamerikanismus in den verschiedenen Ländern isolieren? Welche
sozialen Trägerschichten des Antiamerikanismus kann man benennen? Worin bestand seine
spezifische Wirkungsmächtigkeit und welche Milieus konnte der Antiamerikanismus nicht
erreichen? Welchen politischen Gruppen gelang es, Antiamerikanismus erfolgreich zu
instrumentalisieren? Wie reagierten die Träger des Antiamerikanismus auf die Erfolge des
amerikanischen Modells? Was diese Fragen betrifft, versteht sich der Band primär als
Diskussionsangebot.
22 Vgl. am deutschen Beispiel den einleitenden Beitrag von Konrad H. Jarausch. 23 Vgl. zum europäischen Antisemitismus Victor Karady, Gewalterfahrung und Utopie. Juden in der europäischen Moderne, Frankfurt/Main 1999.
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Antiamerikanismen in der klassischen Moderne: Ost und West, Rechts und Links
Im Ersten und dann im Zweiten Weltkrieg kamen die Vereinigten Staaten nach Europa. Man
kann im 20. Jahrhundert von zwei Wellen der Amerikanisierung sprechen, die jeweils
spezifische Antiamerikanismen hervorriefen: nach 1917 und nach 1945. Während die USA
einerseits für eine moderne Zukunft standen, formierten sich andererseits europäische
Abwehrbewegungen. Tatsächlich bedeutete Amerikanisierung einen vielschichtigen
Aneignungsprozess. Zudem entstanden nach 1917 der Bolschewismus, der Faschismus und
der Nationalsozialismus, die sich zunehmend als radikale Alternativen zur liberalen Ordnung
Amerikas verstanden. Dieses „Zeitalter der Extreme“ (Eric J. Hobsbawm) war eine Epoche
politische Konversionen: Es lassen sich das Aufbrechen, aber auch die Verhärtung älterer
Denkpositionen beobachten.
Mit dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg waren die Vereinigten Staaten erstmals als
Großmacht in Europa präsent.24 Nun kehrte sich Manifest Destiny, die amerikanische
Sendung, nach außen: Präsident Woodrow Wilson erklärte 1917 vor dem Kongress, neues
außenpolitisches Ziel der USA sei es, to make the world safe for democracy.25 Ihr
militärischer Sieg bildete nur das Vorspiel zum wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss der
USA, der die 1920er Jahre entscheidend prägte. Während die amerikanischen Soldaten sich
nach 1918 noch einmal über den Atlantik zurückzogen, blieben die USA kulturell und
insbesondere medial präsent – die amerikanische Moderne war, das wurde schon den
Zeitgenossen bewusst, unwiderruflich in Europa angekommen.26 Ein erster Siegeszug
amerikanischer Populärkultur erfasste zu dieser Zeit Europa. Diese Entwicklung lässt sich
durch einen Blick auf das moderne Massenmedium Film verdeutlichen.27
24 Zur Wendung der USA nach außen, siehe Emily S. Rosenberg, Spreading the American Dream. American Economic and Cultural Expansion 1890-1945, New York 1982. Theodore H. Laue hat bereits 1987 die These vertreten, dass es sich um einen globalen Verwestlichungsprozess handelt. Theodore H. Laue, The World Revolution of Westernization. The Twentieth Century in Global Perspective, Oxford 1987.
Hollywood wurde
25 Vgl. Tony Smith, America’s Mission. The United States and the Worldwide Struggle for Democracy in the Twentieth Century, Princeton, NJ 1994, S. 84ff. 26 Zum Diskurs über „Massengesellschaft“ und Moderne nach 1918 vgl. Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 107-127. 27 Vgl. Victoria de Grazia, Mass Culture and Sovereignty. The American Challenge to European Cinema, 1920–1960, in: Journal of Modern History 61 (1989), S. 53-87.
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in den 1920er Jahren ein Teil des europäischen Alltags.28 Angehörige der europäischen Elite
erfuhren schmerzhaft den Verlust der Kulturhoheit in ihrer Heimat. Ein konservativer
Antiamerikanismus zielte insbesondere auf die Kritik der „Massenkultur“ und verbreitete sich
in verschiedenen europäischen Ländern.29 Der Beliebtheit amerikanischer
Unterhaltungskultur tat dies freilich keinen Abbruch; es waren vorwiegend Intellektuelle, die
unterschwellig fasziniert waren, doch zugleich ihre vehemente Abneigung äußerten.30
Neben diese kulturellen traten wirtschaftliche Einflüsse aus Übersee. Sie waren gemeint,
wenn ein deutscher Autor 1930 „Amerikanismus“ zum „Zeitalterbegriff“ erklärte.
Die
historische Forschung zu dieser ersten Welle kultureller Amerikanisierung hat gezeigt, dass es
sich dabei keineswegs um einen linearen Prozess handelte. Vielmehr bedeutete der Transfer
amerikanischer Kultur nach Europa zugleich deren Adaption und Wandlung.
31 Die
Diskussion um Henry Ford und die Taylorisierung erfasste in den 1920er Jahren ganz Europa;
Fords Autobiographie war ein Bestseller, der wie kein anderes Buch das Amerikabild der
Weimarer Zeit prägte.32 Die amerikanische Wirtschaft stand für eine forcierte
Rationalisierung, für die beschleunigte Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft und
den Beginn des Massenkonsums.33 Am Beispiel Ford lässt sich die widersprüchliche
Perzeption der Amerikanisierung verdeutlichen: Neben den als bedrohlich wahrgenommen
wirtschaftlichen Beschleunigungsprozessen stand ein neues Wohlstandsversprechen. Diese
ökonomischen Diskurse beschränkten sich nicht auf die Ökonomien Westeuropas: Selbst in
der abgeschotteten Sowjetunion wurden Ford und Taylor zu Leitfiguren einer nachholenden
Modernisierung erklärt.34
28 Thomas J. Saunders, Hollywood in Berlin. American Cinema and Weimar Germany, Berkeley 1994; vgl. auch die Beiträge in: David W. Ellwood/Rob Kroes (Hrsg.), Hollywood in Europe. Experiences of Cultural Hegemony, Amsterdam 1994.
In ihrer Begeisterung für den Fordismus zeigte sich, dass Lenin und
29 Zur Weimarer Republik vgl. Detlev J.K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt/Main 1987, S. 178-190; Adelheid von Saldern, Überfremdungsängste. Gegen die Amerikanisierung der deutschen Kultur in den zwanziger Jahren, in: Alf Lüdtke/Inge Marßolek/Adelheid von Saldern (Hrsg.), Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1994, S. 213-244. Zur Wirkung der deutschen Amerikakritik in Ungarn vgl. den Beitrag von Árpád von Klimó und Gyula Virág. 30 Eine Erklärung für den internationalen Erfolg amerikanischer Populärkultur gibt Berndt Ostendorf, Why is American popular culture so popular? A view from Europe, in: Ulla Haselstein/Peter Schneck/ Berndt Ostendorf (Hrsg.) Popular Culture. Amerikastudien 46 (2001), H. 3, S. 339-366. 31 Otto Basler, Amerikanismus. Geschichte eines Schlagwortes, in: Deutsche Rundschau 224 (1930), S. 142-146, hier S. 146. 32 Henry Ford, Mein Leben und Werk, Leipzig 1923. Das Buch erlebte innerhalb eines Jahres in Deutschland 13 Auflagen. 33 Vgl. zu Deutschland Mary Nolan, Visions of Modernity. American Business and the Modernization of Germany, Oxford 1994. 34 Vgl. den Beitrag von Gábor T. Rittersporn und David Feest.
12
seine Mitstreiter radikale Modernisierer waren. Und wie im Rest Europas bedeutete
Modernisierung für sie Amerika.
In Deutschland entstand seit Kriegsende im Umfeld der „Konservativen Revolution“ eine
Modernekritik, die sich gegen die Amerikanisierung der eigenen Gesellschaft wandte.
Vertreter konservativer Utopien versuchten, einen „deutschen Sozialismus“ zu denken, in
dem die Widersprüche der Moderne sich in „totaler Volksgemeinschaft“ auflösen sollten.
Antiwestliche Ressentiments gehörten zu den Grundpfeilern dieser Weltbilder.35 Im Denken
deutscher Philosophen und Ingenieure wurde der Versuch unternommen, die „Kulturnation“
mit moderner Technologie zu versöhnen. In diesen Diskursen standen deutsche „Kultur und
Technik“ amerikanischer „Zivilisation und Wirtschaft“ diametral gegenüber.36 Einige der
Protagonisten und Denkströmungen des „reaktionären Modernismus“ (Jeffrey Herf) verfügten
auch in der Nachkriegszeit noch über Einfluss, und an ihre antiwestlichen Ressentiments
schloss die DDR fast nahtlos an.37
Die great depression war eine Voraussetzung für die Attraktivität moderner Diktaturen in
Europa. Anfang der 1930er Jahre taugte Amerika kaum zum Vorbild. Trotzdem blieb der
Diskurs über die USA in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Diktatur von
Ambivalenzen geprägt.
Diese Entwicklungen verdeutlichen die mittelfristige
Prägekraft der Weimarer Zeit.
38 Erst als der außenpolitische Konflikt Hitler-Deutschlands mit der
Roosevelt-Administration virulent wurde, knüpfte das NS-Regime verstärkt an die
Traditionen konservativer und völkischer Amerikakritik an. Die Verbindung mit dem
Antisemitismus konstituierte den radikalen Antiamerikanismus des Nationalsozialismus.39
35 Vgl. Christoph H. Werth, Sozialismus und Nation. Die deutsche Ideologiediskussion zwischen 1918 und 1945, Opladen 1996.
Onkel Sam, so die nationalsozialistische Propaganda, sei eigentlich Onkel Shylock. Für den
NS-Staat lässt sich erstmals von einer Totalisierung des Antiamerikanismus sprechen, die,
etwa mit dem Verbot des Jazz, in die Lebenswelt des Einzelnen eingriff – eine Entwicklung,
die sich ein Jahrzehnt später im Stalinismus wiederholen sollte. Die Verbindung mit der
36 Jeffrey Herf, Reactionary Modernism. Technology, Culture and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1986, S. 226ff. 37 Vgl. die Beiträge von Marcus M. Payk, Vanessa Conze und Patrice G. Poutrus in diesem Band. 38 Zu ähnlichen Ergebnissen für das faschistische Italien kommt Emilio Gentile, Impending Modernity, Fascism and the Ambivalent Image of the United States, in: Journal of Contemporary History 28 (1993), S. 7-29. Auch in Mussolinis Diktatur existierten zunächst unterschiedliche Amerikabilder nebeneinander, wobei eine positive Einstellung zur Roosevelt-Administration überwog, bis der Kriegsausbruch auch hier zu einem radikalen, antisemitisch aufgeladenen Antiamerikanismus führte. 39 Vgl. den Beitrag von Markus Urban in diesem Band. Zum Amerikabild des Nationalsozialismus siehe auch Philipp Gassert, Amerika im Dritten Reich. Ideologie, Propaganda und Volksmeinung, Stuttgart 1997.
13
antisemitischen Vernichtungsideologie ermöglichte es der NS-Propaganda, die beiden
Feinbilder „Juden“ und „Amerika“ zu verschmelzen und mit dem „jüdischen Bolschewismus“
in der UdSSR in Beziehung zu setzen.40
Einen analogen Radikalisierungsprozess und eine ähnliche Instrumentalisierung erfuhr der
Antiamerikanismus zeitversetzt im stalinistischen Russland und dann auch im sowjetischen
Imperium. Schwankten die Bolschewiki ursprünglich zwischen Amerikabegeisterung und
Kapitalismuskritik, so wurde in den 1930er Jahren die Sowjetunion selbst zum Maß aller
Dinge erklärt. Weil der neue bolschewistische Nationalismus das Eigene radikal überhöhte,
verlor Amerika die Vorbildrolle, die es seit den frühen 1920er Jahren innegehabt hatte.
Im nationalsozialistischen Weltbild stellten die USA
und die Sowjetunion lediglich zwei unterschiedliche Spielarten jüdischer Dominanz dar – ein
Differenzverlust, der für moderne Diktaturen charakteristisch ist. Die Pathologien der
Moderne sollten in der rassistischen Utopie der Volksgemeinschaft überwunden werden.
41
Diese Abkehr vom amerikanischen Vorbild beinhaltete das Postulat, auf dem Weg in eine
eigene sowjetische Moderne sui generis zu sein, die über ihre eigene Kultur verfügte und von
den Aporien westlicher Vergesellschaftung frei sei.42 Aus stalinistischer Sicht war Amerika
nun nicht mehr Zukunft, sondern Symbol für eine überwundene Vergangenheit. Seine
radikale Steigerung erfuhr der sowjetische Antiamerikanismus allerdings erst nach dem Ende
des Bündnisses mit den USA – jedoch bereits vor dem offenen Ausbruch des Kalten Krieges.
Nach der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland sah die sowjetische Führung die
Notwendigkeit, die permanente Mobilisierung mit Hilfe eines neuen Feindbildes fortzusetzen:
Im Kalten Krieg fiel ihre Wahl zwangläufig auf die USA, und im folgenden Jahrzehnt war
antiamerikanische Propaganda ein Charakteristikum der repräsentativen Öffentlichkeit
zwischen Elbe und Pazifik.43
Nachdem der sowjetische Antiamerikanismus zunächst auf die Stereotypen konservativer
Kulturkritik rekurrierte, radikalisierte er sich seit 1947/48 durch die Übertragung der
Faschismustheorie auf die USA, die zunächst zum Wiedergänger und schließlich zum
40 Zum Antisemitismus der Nationalsozialisten vgl. Wolfram Meyer zu Uptrup, Kampf gegen die „jüdische Weltverschwörung“. Propaganda und Antisemitismus der Nationalsozialisten 1919-1945, Berlin 2003. 41 Zum Nationalismus der Stalin-Zeit vgl. David Brandenberger, National Bolshevism. Stalinist Mass Culture and the Formation of Modern Russian National Identity 1931–1956, Cambridge, Mass. etc. 2002. 42 Dass die USA und der Westen auch im Stalinismus implizit ein zentraler Referenzpunkt des sowjetischen Regimes blieben zeigt Michail Ryklin, Räume des Jubels. Totalitarismus und Differenz, Frankfurt/Main 2003. 43 Zu Feinbildern in der kommunistischen Diktatur vgl. auch Silke Satjukow/Rainer Gries (Hrsg.), Unsere Feinde. Konstruktionen des Anderen im Sozialismus, Leipzig 2004. Der Band enthält keinen Beitrag, der sich mit Antiamerikanismus beschäftigt.
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eigentlichen Mentor des nationalsozialistischen Deutschland erklärt wurden.44 Zur gleichen
Zeit setzte der Transfer des stalinistischen Antiamerikanismus in die Länder des sowjetischen
Imperiums ein. Mit genauem Blick auf den historischen Kontext lässt sich zeigen, dass in den
einzelnen kommunistischen Parteistaaten auch auf eigene antiamerikanische Bilder
zurückgegriffen wurde.45 Dort, wo der Antiamerikanismus sowjetisches Oktroi war und kaum
auf historisch gewachsene Anknüpfungspunkte in der politischen Kultur zurückgreifen
konnte, war er deutlich weniger wirkungsmächtig. Dies gilt für die hier untersuchten Fälle
Polen und Ungarn.46 Eingewurzelte Feindbilder wie „Russen“, „Deutsche“ oder „Juden“
ließen dort wenig Raum für Antiamerikanismus im kollektiven Bewusstsein.47
Vierzig Jahre lang versuchten die kommunistischen Parteistaaten antiamerikanische bzw.
antiwestliche Gefühlshaltungen aufzubauen, um ihr Herrschaftssystem und das Bündnis mit
der Sowjetunion zu legitimieren. Antiamerikanische Propaganda diente als
Integrationsideologie des sowjetischen Imperiums – mit weit reichenden Folgen, wie die
Gefühlshaltungen gegenüber den USA in Ostdeutschland oder Russland bis in die Gegenwart
zeigen. Allerdings unterlag das Feindbild Amerika historischem Wandel. Von 1948 bis Mitte
der 1950er Jahre bedeutete der entgrenzte Antiamerikanismus die Kriminalisierung des
American way of life. Hier verschmolzen der innere und der äußere Gegner zu einem
omnipräsenten Feindbild. Der stalinistische Antiamerikanismus fand seinen Höhepunkt in der
konstruierten Verschwörung um Noel Field, einem Amerikaner jüdischer Abstammung, dem
in den Schauprozessen in Ungarn und der ČSSR eine Schlüsselrolle als antisowjetischer
Die
antiamerikanische Propaganda konnte sich in diesen Ländern gewissermaßen gegen das
Regime wenden, während in Deutschland und Russland, wo antiamerikanische Ressentiments
über eine ausgeprägte Tradition verfügten, Antiamerikanismus als kommunistische
Legitimationsstrategie besser verfangen konnte. Wie im nationalsozialistischen Deutschland
war auch der Antiamerikanismus in der Sowjetunion mit antisemitischen Bildern aufgeladen.
Er wurde von einer antisemitischen Kampagne begleitet, die zahlreiche Opfer forderte, jedoch
das Ausmaß nationalsozialistischer Vernichtungspolitik nie auch nur annähernd erreichte.
44 Vgl. den Beitrag von Jan C. Behrends. 45 Vgl. die Beiträge von Patrice G. Poutrus, Thomas Lindenberger und Wolfgang M. Mueller. 46 Vgl. die Beiträge von Jan C. Behrends und Árpád von Klimó und Gyula Virág. 47 Vgl. Agnieszka Pufelska, „EU heißt SU“. Zur Geschichte des polnisches Feindbildes von der „Judäo-Kommune“, in: WerkstattGeschichte 37 (2004), S. 67-76; Árpád von Klimó, „Habsburger“ und „Preußen“. Historische Feindbilder und ihre Wandlungen in Ungarn und der DDR im Vergleich, in: Silke Satjukow/Rainer Gries (Hrsg.), Unsere Feinde. Konstruktionen des Anderen im Sozialismus, Leipzig 2004, S. 513-524.
15
Agent zugeschrieben wurde.48
Eine Identifikation mit dem amerikanischen Feind konnte im Stalinismus sehr gefährlich
sein. Bürger mit Westkontakten, Jugendliche mit lässigem Habitus oder selbst Kommunisten,
die im Westen gelebt hatten, standen über Jahre unter dem Generalverdacht, Spione oder
Saboteure oder wenigstens in irgendeiner Art und Weise kontaminiert zu sein. Zugleich war
die Sowjetunion mehr als nur eine Vorbildgesellschaft – als utopischer Ort war sie das
verpflichtende Symbol für eine kommunistische Zukunft.
Noel Field verkörperte zugleich den Verräter, Juden,
Amerikaner und Spion. Im seinem „Fall“ verband sich exemplarisch die antisemitische mit
der antiamerikanischen Propaganda des Stalinismus.
49
Insbesondere zwischen Parteistaat und Jugend, die sich auch im Stalinismus von den
Verheißungen der amerikanischen Popkultur angezogen fühlte, kam es zu schwerwiegenden
Konflikten. Spätestens die 1960er Jahre brachten hier eine partielle Liberalisierung des
kulturellen Lebens, die jedoch in der DDR oder der UdSSR nicht so weit ging wie in Polen
oder Ungarn. Amerikanische Musik, Kleidung oder westlicher Habitus führten nicht mehr
zum Ausschluss aus der sozialistischen Gemeinschaft. In der politischen Sphäre hingegen war
das Amerikabild nicht verhandelbar: Hier galt bis 1989 uneingeschränkt das
Imperialismusverdikt. In den Westen hinein wirkte der kommunistische Antiamerikanismus
in Form der sowjetisch inspirierten „Weltfriedensbewegung“, deren Unterstützung im
sowjetischen Machtbereich verpflichtend war, die aber bis nach Westeuropa ausstrahlte. Eine
Daueraufgabe sowjetischer Auslandspropaganda bestand in dem Versuch, die moralische
Überlegenheit der kommunistischen Welt im Kalten Krieg zu konstruieren. Dies ging mit
dem an die USA gerichteten Vorwurf einher, strukturell nicht friedensfähig zu sein und zum
Angriffskrieg gegen die sozialistischen Staaten zu rüsten. Die Angst vor nuklearer
Vernichtung bescherte der Friedensbewegung, die sich nicht durchgängig als
antiamerikanisch kennzeichnen lässt, jedoch deutlich von den Topoi sowjetischer Propaganda
beeinflusst war, schon in den 1950er Jahren eine beträchtliche Anhängerschaft im Westen.
Nach dem Ende der détente und dem NATO-Nachrüstungsbeschluss von 1979 erlebte sie in
48 Vgl. Bernd-Rainer Barth, Wer war Noel Field? Die unbekannte Schlüsselfigur der osteuropäischen Schauprozesse, in: Annette Leo (Hrsg.), Vielstimmiges Schweigen. Neue Studien zum DDR-Antifaschismus, Berlin 2001, S. 197-221. 49 Vgl. Jan C. Behrends, Die erfundene Freundschaft. Propaganda für die Sowjetunion in Polen und der DDR 1944–1957, Köln etc. 2005 [im Erscheinen].
16
der Bundesrepublik eine Renaissance.50
Mit der Entstalinisierung nach 1956 verabschiedete sich der Kommunismus von der Vision
eines eigenen Weges in die Moderne. Unter Nikita Chruščev wurden die USA wieder zum
wirtschaftlichen Vorbild, das es zu übertrumpfen galt. Die Zielsetzung beschränkte sich
darauf, das amerikanische Konsum- und Wohlstandsversprechen nachzuahmen. Über einen
Gegenentwurf verfügte der sowjetische Block damit nicht mehr und in der offiziellen
Ablehnung der amerikanischen Popkultur, die seit den 1950er Jahren in Europa große Erfolge
feierte, reproduzierte man vornehmlich die Topoi konservativer Kulturkritik.
Gegen Ende des Kalten Krieges, besonders in den
frühen Jahren der Reagan-Administration, breitete sich eine Kultur der Äquidistanz zu beiden
Supermächten in Europa aus. Die antiamerikanischen Diskurse der Friedensbewegung waren
einerseits mit fundamentaler Kritik an der Moderne, andererseits mit nationalen Motiven
verbunden.
51
Währenddessen machte die Amerikanisierung der Lebensstile vor den Ländern des Ostblocks
nicht halt. So begann eine Annäherung durch Konsum- und Popkultur bereits vor der
Entspannungspolitik.52
„Amerikanisierung“ ist ein Paradigma zur Erklärung westeuropäischer
Nachkriegsgeschichte.
Die Frage, in welchem Umfang diese kulturellen
Westernisierungsprozesse zum Zusammenbruch der kommunistischen Regime beigetragen
haben, ist noch nicht untersucht. In vergleichender Perspektive zeigt sich allerdings, dass es
modernen Diktaturen nicht gelang, sich vom Einfluss Amerikas abzuschotten. Im
Nationalsozialismus, in der UdSSR und in den Parteistaaten Ostmitteleuropas entstanden
eigen-sinnige Jugendkulturen, die sich trotz staatlicher Sanktionen an amerikanischen Idolen
orientieren.
53
50 Vgl. den Beitrag von Philipp Gassert in diesem Band. Vgl. auch Michael Ploetz/Hans-Peter Müller, Ferngelenkte Friedensbewegung? DDR und UdSSR im Kampf gegen den NATO-Doppelbeschluss, Münster 2004.
Nach 1945 blieben die USA in Europa; sie waren nun nicht mehr nur
kulturell und ökonomisch, sondern auch militärisch eine europäische Macht, die als
51 Vgl. am Beispiel der DDR Uta G. Poiger, Jazz, Rock and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkeley, Cal. 2000, S. 168-205. Vgl. mit Beiträgen zu Deutschland, England und Frankreich Ursula Lehmkuhl/Stefanie Schneider/Frank Schumacher (Hrsg.), Kulturtransfer und Kalter Krieg: Westeuropa als Bühne und Akteur im Amerikanisierungsprozess, Erfurt 2000. 52 Vgl. am Beispiel der Jeans in der DDR Rebecca Menzel, Jeans in der DDR. Vom tieferen Sinn einer Freizeithose, Berlin 2004. 53 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Dimensionen von Amerikanisierung in der deutschen Gesellschaft, in: AfS 35 (1995), S. 1-33; und die Beiträge in Konrad Jarausch/Hannes Siegrist (Hrsg.), Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945–1970, Frankfurt/Main 1997.
17
Besatzungsmacht insbesondere in Deutschland und Italien gestaltend eingriff.54 Über die
Sphäre des Politischen hinaus prägten amerikanische Einflüsse die junge Bundesrepublik.55
Eine zweite Welle der Amerikanisierung erfasste auch die Wirtschaft.56 Die neue politische
Konstellation zwang die USA, im Kalten Krieg um europäische Loyalität zu werben. Sie
führte jedoch auch dazu, dass westeuropäische Amerikakritiker ihre Positionen überdachten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war sich die amerikanische Regierung darüber bewusst, dass
unter den europäischen Eliten ein tief verankertes Misstrauen gegenüber amerikanischer
Kultur und Lebensart weit verbreitet war. Auf verschiedenen Kanälen versuchte sie, diesen
Einstellungen entgegenzuwirken.57 In der Bundesrepublik Deutschland konzentrierten sich
die USA dabei nicht nur auf eine junge Elite, die amerikanische Hochschulen kennen lernen
sollte, sondern versuchten auch die Intellektuellen, die Gewerkschaften oder das
protestantische Bildungsbürgertum zu erreichen.58 Ähnliche Anstrengungen zur
Beeinflussung der politischen Kultur wurden auch in Italien unternommen.59 Über nationale
Grenzen hinweg blieb die Distanz zur amerikanischen Popkultur für die Eliten und die ältere
Generation charakteristisch. In der jüngeren Generation dagegen setzte sich die Aneignung
der amerikanischen Populärkultur fort; sie wurde in der Bundesrepublik in den 1950er Jahren
zum zentralen Bezugspunkt einer Nachkriegsgeneration, die in Habitus und Kulturkonsum
amerikanischen Vorbildern nacheiferte.60
Diejenigen Eliten, die in der Zwischenkriegszeit antiwestliche Positionen bezogen hatten,
ließen sich in der Regel von diesen Werbungsversuchen nicht beeindrucken. So hielten die
Mitglieder des „Tatkreises“ auch in den 1950er Jahren an Positionen fest, die sie bereits in der
Weimarer Republik vertreten hatten. Unter den „Sachzwängen“ des Kalten Krieges verloren
viele antiamerikanische Ressentiments jedoch ihre Überzeugungskraft. Die sowjetische
54 Für eine politikgeschichtliche Perspektive auf Westeuropa nach 1945 vgl. Peter Duignan/L.H. Gann, The Rebirth of the West. The Americanization of the Democratic World, Cambridge, Mass. 1992. 55 Vgl. die Beiträge in Heinz Bude/Bernd Greiner (Hrsg.), Westbindungen. Amerika in der Bundesrepublik, Hamburg 1999. 56 Volker R. Berghahn, The Americanisation of West German Industry, Leamington Spa 1986. 57 Vgl. hierzu Maritta Hein-Kremer, Die amerikanische Kulturoffensive. Gründung und Entwicklung der amerikanischen Informationscenters in Westdeutschland und West-Berlin 1945–1955, Köln etc. 1996; Volker R. Berghahn, Transatlantische Kulturkriege. Shephard Stone, die Ford-Stiftung und der europäische Antiamerikanismus, Stuttgart 2004; Axel Schildt, Die USA als „Kulturnation“. Zur Bedeutung der Amerikahäuser in den 1950er Jahren, in: Alf Lüdtke/Inge Marßolek/Addelheid von Saldern (Hrsg.), Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1996, S. 257-269. 58 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 71-118. 59 Vgl. den Beitrag von David W. Ellwood. 60 Kaspar Maase, Bravo Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, Hamburg 1992.
18
Bedrohung wirkte gemeinschaftsstiftend. Während das militärische Bündnis mit den USA
akzeptiert wurde und die deutschen Konservativen auch nicht mehr darauf beharrten, eine
„deutsche Ordnung“ zum Gegenentwurf der westlichen Moderne zu stilisieren, blieb eine
habituelle Distanz zu den Vereinigten Staaten ein Kennzeichen dieses Milieus.61 Eine andere,
transnationale Spielart des Antiamerikanismus vertraten die christlich-katholischen
„Abendländer“, die zwar das transatlantische Bündnis akzeptieren, den pluralistischen
Ordnungsvorstellungen der USA jedoch das Modell eines autoritären, organischen Staates
entgegenhielten, den sie z.B. im Spanien der Francodiktatur verwirklicht sahen.62 Im
Unterschied zur frühen Bundesrepublik, wo prononcierter Antiamerikanismus besonders das
rechte Spektrum kennzeichnete, zog sich die Ablehnung Amerikas in Frankreich durch alle
politischen Lager.63
In der Bundesrepublik hingegen entwickelte sich ein linker Antiamerikanismus erst im
Zuge der Studentenbewegung, der Proteste gegen den Vietnamkrieg und der Formierung der
Neuen Linken.
Insbesondere ein Bewusstsein kultureller Überlegenheit bildete einen
festen Bestandteil der französischen Identität, auf die alle politischen Parteien rekurrieren
konnten. Diese Diskurse und Haltungen beeinflussten die gesellschaftliche Entwicklung
jedoch nur am Rande: Die Ära de Gaulle war zugleich ein Zeitalter der Amerikanisierung.
64 In diesen Protestbewegungen überschnitten sich Ablehnung und Annahme
amerikanischer Handlungsweisen. Der Blick auf die Neue Linke verdeutlicht außerdem, wie
sehr die USA als Projektionsfläche für die Probleme mit der eigenen Vergangenheit dienten.
Durch die Wiederholung des Faschismusvorwurfs gelang es, von der eigenen Geschichte
abzulenken. Doch die Moderne-Kritik der 68er-Generation war kein deutsches, sondern ein
transnationales Phänomen. Die Kritik an der amerikanischen Außenpolitik vereinte eine junge
Generation zwischen Berkeley, Paris und West-Berlin.65
61 Vgl. den Beitrag von Marcus M. Payk.
Weitere Forschungen müssen
zeigen, ob von der 68er-Bewegung in Deutschland und anderswo eine antiwestliche
Modernekritik ausging und wie sie gezähmt wurde.
62 Vgl. den Beitrag von Vanessa Conze. 63 Vgl. den Beitrag von Richard Kuisel in diesem Band. Siehe auch Richard Kuisel, Seducing the French: Dilemmas of Americanization, Berkeley 1993. Eine umfassende Ideengeschichte des französischen Antiamerikanismus seit der Aufklärung liefert Philippe Roger, L’ennemi américain. Généalogie de l’antiaméricanisme français, Paris 2002. 64 Vgl. den Beitrag von Philipp Gassert. 65 Für eine Interpretation der 68er als transnationale soziale Bewegung vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung. Deutschland, Westeuropa, USA, München 2001. Vgl. auch die Beiträge in dies. (Hrsg.), 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998. Zum Antiamerikanismus der Linken und neuer sozialer Bewegungen Michael Hahn (Hrsg.), Nichts gegen Amerika. Linker Antiamerikanismus und seine lange Geschichte, Hamburg 2003.
19
Der Blick auf Europa im 20. Jahrhundert zeigt, wie anpassungsfähig und weit verbreitet
antiamerikanische Ideologeme sind. Man findet sie links und rechts, in Ost und West. Der
Antiamerikanismus gleicht einem Chamäleon, das sich vielen lokalen Umständen anzupassen
vermag. Wo er sich einmal etabliert hat, prägt er über lange Zeiträume die politische Kultur
und kann in Krisenzeiten reaktiviert werden. Zugleich sollte man jedoch betonen, dass der
eigentlich wirkungsmächtige Faktor auch im 20. Jahrhundert die Faszination war, die von
Amerika ausging. Die Anziehungskraft Amerikas war so stark, dass moderne Diktaturen es
nicht vermochten, sich von ihr abzuschirmen. Dies sollte eine Analyse der europäischen
Antiamerikanismen im Auge behalten. Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert ist nur im
ständigen Wechselspiel mit Amerikanisierung und im Verhältnis zur kulturellen und
ökonomischen Strahlkraft der USA zu erklären und zu verstehen.
Die vergleichende Perspektive zeigt, wie sich die einzelnen Antiamerikanismen
gegenseitig beeinflussten und sich politische Gegner aus dem Stereotypenreservoir der jeweils
anderen Seite bedienten. In Demokratien und Diktaturen setzte man sich mit der Moderne
auseinander; dementsprechend fanden sich ambivalente Amerikabilder. Der entgrenzte
Antiamerikanismus moderner Diktaturen bediente sich der Topoi einer bürgerlichen
Amerikakritik und ging zugleich weit darüber hinaus. Er bildete die radikalste Spielart des
antiamerikanischen Ideologems: Kulturkritik wurde zu Hasspropaganda. Zugleich zeigt der
vorliegende Band, dass Antiamerikanismus nicht in jedem Kontext herrschaftsstabilisierend
eingesetzt werden konnte: Wo er wie in Polen oder Ungarn kaum Anknüpfungspunkte in der
politischen Kultur fand, da spielten andere Feindbilder eine gewichtigere Rolle.
Bilanzierend gilt es jedoch auch festzuhalten, dass die zeithistorische Forschung Prozesse
des Kultur- und Ideologietransfers noch zu wenig versteht. Es handelt sich schließlich nicht
nur um gegenseitige Ansteckung oder Imitation. In den jeweils unterschiedlichen historischen
Kontexten produzierten die Akteure in einem Wechselspiel von Aneignung und Erfindung
ihre Weltsichten und verwandten dabei das Ideologem des Antiamerikanismus auf ihre Weise.
Die hier behandelten Beispiele zeigen, dass Trägergruppen und Wirkungsmächtigkeit stark
differierten. Den Metamorphosen antiamerikanischen Denkens sollten Zeithistoriker weiter
nachspüren. Die Suche nach dem „Anderen“, der für die Pathologien der modernen Welt die
Verantwortung trägt, zog sich durch das europäische 20. Jahrhundert. Hier bot sich Amerika
als Projektionsfläche derjenigen an, die eine liberale Moderne ablehnten.
20
9-11 und das amerikanische Imperium: Konturen des Amerikadiskurses im 21. Jahrhundert
Als sich das britische Weltreich im 18. Jahrhundert auf dem Höhepunkt seiner Macht befand,
prophezeite der Philosoph George Berkeley eine transatlantische translatio imperii.
„Westward the course of empire takes its way“, schrieb er bereits 1752.66 Nach dem Ende des
globalen Machtkampfes mit der Sowjetunion und vor dem Hintergrund der militärischen,
wirtschaftlichen und kulturellen Macht der Vereinigten Staaten haben seine Worte im 21.
Jahrhundert neue Aktualität gewonnen. Seit der Zeitenwende von 1989/91 wird vielfach die
These vertreten, die USA seien kein gewöhnlicher Nationalstaat mehr und auch keine
Supermacht, sondern ein globales Imperium.67
„Die weltpolitische Legitimationsideologie der Imperien provoziert starke Reaktionen, vor allem an der Peripherie und jenseits der imperialen Grenzen. In ganz anderer Weise als Staaten sind Imperien das Objekt von Bewunderung und Feindschaft. […] Daß die USA weltweit proamerikanische wie antiamerikanische Stellungnahmen provozieren, ist nichts Neues, sondern ein die Geschichte sämtlicher Imperien begleitendes Phänomen.“
Die amerikanische Rolle als globale
Ordnungsmacht wirkt sich auch auf das Amerikabild unserer Zeit aus. Der Politologe Herfried
Münkler, der dazu aufruft, die Rolle der USA an ihren Leistungen als Imperium zu messen,
regt dazu an, den Antiamerikanismus vor dem Hintergrund ihrer Ausnahmestellung zu
verstehen:
68
Dieser Band jedoch verweist darauf, dass der Antiamerikanismus älter ist als das
amerikanische Imperium, doch die „imperiale“ Ausnahmestellung der Vereinigten Staaten
sollte keinen Freibrief für Antiamerikanismus bedeuten. Vielmehr stellt sich für Historiker
zukünftig die Frage, inwieweit man von einer Kontinuität des klassischen Antiamerikanismus
sprechen kann – oder haben wir es nach dem Ende des Kalten Krieges mit einem neuen
Phänomen zu tun?
66 George Berkeley, On the Prospect of Planting Arts and Learning in America, 1752. 67 Vgl. zur Debatte über das amerikanische Imperium die Beiträge in Ulrich Beck/Natan Sznaider (Hrsg.), Empire Amerika. Perspektiven einer neuen Weltordnung, München 2003. Im diachronen Vergleich zum römischen Reich anregend Peter Bender, Weltmacht Amerika. Das neue Rom, Stuttgart 2003. Siehe auch affirmativ zur amerikanischen Machtstellung Niall Ferguson, Das verleugnete Imperium. Chancen und Risiken amerikanischer Macht, Berlin 2004, der eine positive Deutung angelsächsischer imperialer Ordnung zu Grunde legt. Ähnlich argumentiert Lothar Rühl, Das Reich des Guten. Machtpolitik und globale Strategie Amerikas, Stuttgart 2005. 68 Vgl. Herfried Münkler, Das Prinzip Empire, in: Ulrich Speck/Nathan Sznaider (Hrsg.), Empire Amerika. Perspektiven einer neuen Weltordnung, München 2003, S. 104-125, Zitat S. 111.
21
Um die Gemengelage besser zu verstehen, ist hier eine historische Kontextualisierung
hilfreich. Das Ende der klassischen Moderne und des Kalten Krieges führten zu einer neuen
Beziehung zwischen Amerika und Europa. Diese Entwicklung zeichnete sich bereits seit den
1970er Jahren ab, zu einer Zeit also, als die Gewissheiten des Kalten Krieges erschüttert
wurden, die europäische Integration fortschritt und das enge transatlantische Bündnis zu
erodieren begann. Die öffentliche Debatte über das transatlantische Verhältnis gewann nach
1989 an Fahrt. Insbesondere aber seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 und dem
Beginn des von den USA geführten War on Terror reißt die Diskussion nicht mehr ab. Einiges
spricht dafür, mit dem Ende des 20. Jahrhunderts auch von einer neuen Phase des
Antiamerikanismus zu sprechen.69
Seit dem Ende des Kalten Krieges ist eine neue Entfremdung zwischen den USA und
Westeuropa zu beobachten. In zentralen Politikfeldern wählen Europäer und Amerikaner
unterschiedliche Lösungswege. Zu diesen transatlantischen Differenzen gehören die Rolle der
Religion im öffentlichen Leben, die Einstellung zur Gewalt in den Medien, die Autorität
multinationaler Institutionen, der Umweltschutz, das Gewicht des Sozialstaates und
schließlich vor allem die Frage, wann es für demokratische Staaten legitim ist, Krieg zu
führen.
Zwar ist mit Herfried Münkler zu betonen, dass sich die
geopolitischen Gewichte beträchtlich verschoben haben, doch gilt es neben dieser
Veränderung auch auf die Kontinuität wirtschaftlicher und kultureller
Amerikanisierungsprozesse zu verweisen, die zur jeweiligen politischen Situation nur in einer
lockeren Beziehung stehen. Längst betreffen diese Prozesse auch nicht mehr nur Europa. Wer
im 21. Jahrhundert über Amerikanisierung sprechen will, der muss globale Geschichte
betreiben.
70 Diese Konfliktpunkte werden auch von amerikanischen Autoren hervorgehoben –
und zwar sowohl von Konservativen als auch von Vertretern des liberalen Lagers.71
69 Diese These vertritt Andrei S. Markovits in diesem Band. Vgl. auch ders., Amerika, Dich haßt sich’s besser, Antiamerikanismus und Antisemitismus in Europa, Hamburg 2004. Siehe auch die Beiträge in Rudolf von Thadden/Alexandre Escudier (Hrsg.), Amerika und Europa – Mars und Venus? Das Bild Amerikas in Europa, Göttingen, 2004. Die Diskussion über Amerika und die Zukunft des Westens begann bereits deutlich vor dem 11. September 2001. Vgl. z.B. die Beiträge in Merkur 54 (2000), H. 9/10 zum Thema „Europa oder Amerika? Zur Zukunft des Westens.“ Siehe auch aus französischer Perspektive zur jüngsten Zeit Jean-François Revel, L’obsession anti-américaine. Son fonctionnement, ses causes, ses inconséquences, Paris 2002.
In den
USA gibt es zudem einen Trend zur Kritik an den imperialen Verstrickungen der eigenen
70 Konrad H. Jarausch, Drifting Apart: Cultural Dimensions of the Transatlantic Enstrangement, unveröffentlichtes Arbeitspapier, 2005. 71 Vgl. von konservativer Seite Robert Kagan, Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung, Berlin 2003; aus dezidiert liberaler Perspektive Jeremy Riffkin, Der europäische Traum. Die Vision einer leisen Supermacht, Frankfurt/Main 2004.
22
Nation.72 Andererseits führen verschiedene amerikanische Autoren auch Klage über die
Ungerechtigkeit, die Heuchelei und den Zynismus einer von ihnen wahrgenommenen neuen
Welle der Amerikafeindschaft.73 Dabei ersetzt die Empörung mitunter die Analyse. Der Trend
zur transatlantischen Entfremdung hat neue, eigentümliche Allianzen hervorgebracht:
Während europäische Konservative und amerikanische Liberale versuchen, die
transatlantischen Bindungen aufrecht zu erhalten, setzen sich europäische Linke und
amerikanische Konservative für mehr Distanz zwischen den Kontinenten ein. Timothy Garton
Ash hingegen hält an der Vision von der einen westlichen Welt fest und versucht zu
vermitteln, indem er auf verbindende Werte, geteilte Geschichte und gemeinsame
Herausforderungen verweist.74
Der kommerzielle Erfolg amerikakritischer bis antiamerikanischer Schriften und Filme
erlaubt es, von einem populistischen Antiamerikanismus in Europa zu sprechen, in dem
legitime Kritik an amerikanischer Politik mit eindimensionalen Erklärungen oder
Verschwörungstheorien zu einem simplifizierenden Weltbild verschmolzen wird.
Heute ist unklar, in welche Richtung sich die Beziehungen
zwischen Amerika und Europa entwickeln werden. Deutlich ist jedoch, dass die
Argumentation und die Motive auf beiden Seiten durch einen Blick auf die Geschichte des
Antiamerikanismus besser verständlich werden.
75
72 Vgl. z.B. Benjamin R. Barber, Imperium der Angst. Die USA und die Neuordnung der Welt, München 2003; Michael Mann, Die ohnmächtige Supermacht. Warum die USA die Welt nicht regieren können, Frankfurt/Main etc. 2003.
Eine
unmotivierte Amerikakritik, die sich im Feuilleton, im Wirtschafts- oder auch im Sportteil der
europäischen Tageszeitungen finden lässt, hat Andrei S. Markovits als „Überschuss-
Antiamerikanismus“ bezeichnet. In ihm werden die zu festen Topoi geronnenen Vorurteile
unreflektiert in verschiedensten Kontexten reproduziert. Dieser Antiamerikanismus hat zum
Ziel, eine vermeintliche europäische Überlegenheit diskursiv zu reproduzieren. Ob man
jedoch von einer eingewurzelten Amerikafeindschaft der europäischen Bevölkerung sprechen
kann, wäre ebenso näher zu untersuchen wie die Frage, inwieweit Distanz zu den USA zu
einem Teil einer „europäischen Identität“ geworden ist. Hier gilt es zu beachten, dass eben
73 Vgl. z.B. Fouad Ajami, The Falseness of Anti-Americanism, in: Foreign Policy 138 (2002), S. 53-61; Dmitry Shlapentokh, The New Anti-Americanism: America as an Orwellian Society, in: Partisan Review 69 (2002), S. 263-271. 74 Timothy Garton Ash, Freie Welt. Europa, Amerika und die Chancen der Krise, München etc. 2004. 75 Die Zahl populärer amerikakritischer Titel ist Legion. Häufig liegt ihnen eine Erzählung vom Niedergang der USA zugrunde. Vgl. als pars pro toto Emanuel Todd, Weltmacht USA. Ein Nachruf, München 2003. Vgl. auch Peter Scowen, USA. Ein Schwarzbuch, München 2004. Mit deutlich antiamerikanischer Tendenz bspw. Eric Frey, Schwarzbuch USA, Berlin 2004; Wilhelm Dietl, Schwarzbuch Weißes Haus. Außenpolitik mit dem Sturmgewehr, Erftstadt 2004.
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nicht nur antiamerikanische, sondern auch konventionelle US-Popkultur weiterhin erfolgreich
ist. Der gemeinsame Nenner ist immer noch das Faszinosum Amerika, dass im Positiven wie
im Negativen ungebrochen erscheint.
Schließlich verweisen die Diskurse über die Rolle Amerikas in der Welt wiederum auf
Prozesse, die außerhalb der USA ablaufen. Hier ließen sich beispielsweise die europäische
Einigung, aber auch die Modernisierungskrise in der arabisch-islamischen Welt nennen. So ist
es eine offene Frage, inwieweit die Europäische Union die Kritik an den Vereinigten Staaten
bzw. den Antiamerikanismus als Integrationsideologie benötigt oder ob in der Bevölkerung
der arabischen Welt die Faszination für oder die Ablehnung der USA die dominierende
Gefühlhaltung darstellen. Aus historischer Perspektive ist grundlegende Kritik an den USA
nicht mit dem klassischen Antiamerikanismus gleichzusetzen: Jürgen Habermas und andere
europäische Intellektuelle sehen in der Abgrenzung von den Vereinigten Staaten, denen
vorgeworfen wird, sich von den westlichen Werten zu entfernen, die Basis für ein
europäisches Gegenprojekt.76
Ist der Antiamerikanismus die lingua franca an den Peripherien der Globalisierung
zwischen Sao Paulo und Kairo, zwischen Riad und Seoul? Was wir klassischen oder
entgrenzten Antiamerikanismus nennen, die radikale Ablehnung einer westlich-liberalen
Moderne, ist in Europa ein randständiger Diskurs. Antiamerikanismus ist zwar weiterhin ein
Bestandteil europäischer Nationalismen, und in Zeiten der Unsicherheit dienen die USA als
Projektionsfläche kollektiver Ängste, um einfache Erklärungen für die Pathologien einer
komplexen Welt zu finden. Um radikale Gegenentwürfe zur liberalen Gesellschaft handelt es
sich dabei jedoch in aller Regel nicht. Der klassische Antiamerikanismus hat sich nach Süden,
Da es sich hierbei jedoch weder um einen antiliberalen noch um
einen antimodernen Diskurs handelt, ist es nicht angebracht, von Antiamerikanismus zu
sprechen. Vielmehr handelt es sich um einen Streit um den besseren Weg für freie
Gesellschaften. Im Unterschied zum 20. Jahrhundert wird die westliche Moderne aus Europa
heraus nicht mehr bekämpft; vielmehr haben die europäischen Gesellschaften sie sich – nicht
zuletzt unter amerikanischem Druck – angeeignet und bestreiten nun, dass die USA noch ein
verbindliches Vorbild seien. Die Europäer versuchen gewissermaßen, die besseren
Amerikaner zu sein. Doch auch daran wird deutlich, dass europäische Identität im 21.
Jahrhundert ihr Gegenüber immer noch häufig in den USA sucht.
76 Vgl. Jürgen Habermas, Der gespaltene Westen, Frankfurt/Main 2004.
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insbesondere in den Krisengürtel zwischen Nordafrika und dem Nahen Osten verlagert.77 Die
islamische Revolution im Iran bildete hier das Fanal eines neuen entgrenzten
Antiamerikanismus, der bis heute für den fundamentalistischen Islam kennzeichnend ist. In
dieser Krisenregion, aber auch in Europa wird außerdem deutlich, dass weiterhin eine enge
Wahlverwandtschaft zwischen Antiamerikanismus und Antisemitismus besteht.78
Vor allem was den Antiamerikanismus im 21. Jahrhundert betrifft, wirft der hier
vorgelegte historische Band mehr Fragen auf, als er zu beantworten vermag. Deutlich
erkennbar ist, dass wir es auf globaler Ebene mit einem Wechselspiel von Faszination und
Feindschaft zu tun haben, dem sich selbst die erklärten Feinde Amerikas – ganz gleich
welcher Provenienz – nicht entziehen können. Längst schätzen auch sie amerikanische
Populärkultur, Ästhetik oder Technik. Amerika ist the only game in town. Dennoch ist die
Aneignung amerikanischer Kultur kein linearer Prozess. Wie schon im 20. Jahrhundert
bedeutet sie die Entstehung immer neuer Hybride. Das gilt für Neonazis, die sich
vorzugsweise in amerikanischen Bomberjacken kleiden ebenso wie für den
Nachrichtensender Al-Jazeera, der sich ästhetisch am Vorbild CNN ausrichtet. Wo auf der
Ebene der Repräsentationen globale Uniformität herrscht, rücken Werte und Ideen wieder ins
Zentrum der Aufmerksamkeit. Wie über das Imperium Amerika geredet wird, kann zu einem
Gradmesser für die Zivilität der eigenen Gesellschaft werden. Weniger Militanz und
Emotionalität und eine stärkere Annäherung an die von Tocqueville begründete Tradition
eines kritischen Amerikadiskurses wären für Europa wünschenswert.
Eine
Ideengeschichte, die den Transfer dieser Ideologeme von Europa in andere Erdteile behandelt,
ist ein wichtiges Desiderat zukünftiger Forschung. Im Nahen Osten findet sich mit Blick auf
die USA eine explosive Mixtur aus Feindschaft und Faszination, die man vielleicht mit dem
instabilen Europa der Zwischenkriegszeit vergleichen könnte. Der Rückblick auf Europa im
20. Jahrhundert und der Blick auf den heutigen Nahen Osten führen zu der Frage, ob das
Ideologem Antiamerikanismus insbesondere für Länder attraktiv ist, die sich in tiefgreifenden
Modernisierungskrisen befinden.
Die Debatte über die westliche Moderne lässt sich nicht beenden. Für Historiker bleibt die
Hoffnung, dass eine kritische Öffentlichkeit und eine historische fundierte Politikwissenschaft
77 Vgl. als Überblick zu antiwestlichem Denken und seiner Verbreitung Ian Buruma/Avishai Margalit, Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde, München 2005. 78 Vgl. den Beitrag von Andrei S. Markovits und die Aufsätze in Doron Rabinovici/Ulrich Speck/Natan Sznaider (Hrsg.), Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte, Frankfurt/Main 2004.
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sich der Fragen des begonnen Jahrhunderts annehmen. Welche Amerikakritik brauchen wir?
Wie redet man im 21. Jahrhundert über politische und kulturelle Hegemonie? Hat der
Antiamerikanismus seine Zukunft hinter sich?
Danksagung
Ohne die tatkräftige Hilfe und großzügige Unterstützung zahlreicher Personen und
Institutionen hätte dieser Band nicht realisiert werden können. Die Herausgeber danken allen
Amerikanern und Europäern, die uns seit dem Frühjahr 2001 in verschiedenen Projektphasen
ermuntert, unterstützt und kritisiert haben.
Unser besonderer Dank gilt dem Deutschen Historischen Institut in Washington, DC, das
im Juli 2001 einen ersten Workshop in der amerikanischen Hauptstadt ermöglichte.79 Die
Fortsetzung der Diskussion fand im Dezember 2002 auf einer Tagung im Centre Marc Bloch,
Berlin, statt.80
Schließlich gilt unser herzlicher Dank Dieter Dowe und Michael Schneider von der
Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn, für die Aufnahme dieses Bandes in ihre Reihe Politik- und
Gesellschaftsgeschichte. Das umsichtige Lektorat besorgte Christoph Kalter, Berlin. Ihm sind
Wir danken unseren französischen Kollegen – insbesondere unserem Freund
Gábor T. Rittersporn – für die Gastfreundschaft am Schiffbauerdamm und dem Zentrum für
Zeithistorische Forschung, Potsdam, für institutionelle Unterstützung von deutscher Seite. Die
freigiebige Förderung durch die Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, Hamburg, und die
Checkpoint Charlie Stiftung, Berlin, war uns eine große Hilfe bei der Durchführung des
Berliner Workshops. Allen Referenten, Kommentatoren und Diskutanten sei an dieser Stelle
herzlich gedankt. Auf der anregenden Abschlussdiskussion im Centre Marc Bloch stritten
Ingrid Gilcher-Holtey (Bielefeld), Ulrich Herbert (Freiburg) und Konrad H. Jarausch (Chapel
Hill/Potsdam), der unser „antiamerikanisches“ Projekt seit seinem Entstehen wohlwollend
begleitet hat, mit uns über Antiamerikanismus. Von ihren Denkanstößen haben wir auf
vielfältige Weise profitiert. Für die Möglichkeit, den Ansatz und die Thesen des Bandes im
Frühjahr 2005 unter Kollegen zu diskutieren, danken wir dem Zentrum für Zeithistorische
Forschung und dem Wissenschaftszentrum Berlin, Forschungsgruppe Zivilgesellschaft,
Citizenship und politische Mobilisierung in Europa.
79 Patrice G. Poutrus, Anti-Americanism in the Twentieth Century, in: Bulletin of the German Historical Institute 30 (2002), S. 164-168. 80 Vgl. www.hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=197