Einleitung: Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert (zusammen mit Jan C. Behrends, Patrice Poutrus)

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1 Jan C. Behrends, Árpád von Klimó, Patrice G. Poutrus Antiamerikanismus und die europäische Moderne. Zur Einleitung 1 Die Vereinigten Staaten von Amerika sind weit mehr als ein Land – sie repräsentieren Macht und Vision, Traum oder Alptraum. Der Schriftsteller Czesław Miłosz, der aus dem kommunistischen Polen ins kalifornische Berkeley übersiedelte, beschrieb seine ambivalente Haltung zu Amerika, indem er die Widersprüche zwischen moralischen Ansprüchen und sozialen Verwerfungen der Neuen Welt herausstrich: „Was für eine Herrlichkeit! Was für ein Elend! Welch Menschlichkeit! Welch Unmenschlichkeit! Wie wohlwollend die Menschen sind! Und wie einsam! Wie sie ihre Ideale hochhalten! Doch was für eine Heuchelei! Welch Triumph des Gewissens! Welch Perfidie!“ 2 „Amerika“ war ein Thema der vergangenen Jahrhunderte und ist ein Thema unserer Zeit. 3 Amerika rief und ruft starke Emotionen hervor. Dies gilt bereits seit dem Urknall der Moderne, der Entdeckung der Neuen Welt. Seitdem fasziniert Amerika die Europäer. Ohne die Anziehungskraft und Faszination, die Amerika bis heute ausübt, lässt sich auch die Feindschaft nicht erklären, mit der ihm begegnet wurde und wird. Die Abwehr Amerikas durch europäische Eliten war auch immer die Abwehr einer Verführung, die jenseits des Atlantiks lockte. Bereits vor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und der Gründung der Vereinigten Staaten durch die Verabschiedung der Verfassung 1787 und die In diesem Band soll ein vergleichender Blick auf die europäischen Amerikabilder des 20. Jahrhunderts geworfen werden. Der Fokus liegt dabei auf verschiedenen Formen der Feindschaft zu den USA, die wir in historischer Perspektive als Antiamerikanismus bezeichnen. Um den Antiamerikanismus des vergangenen Jahrhunderts besser zu verstehen, ist es nötig, ihn historisch und politisch zu kontextualisieren. Dieser Band konzentriert sich dabei auf die „klassische Moderne“ (Detlev J.K. Peukert), d.h. den Zeitraum zwischen fin de siècle und den 1960er Jahren. 1 Published as “Einleitung”, in: Antiamerikanismus und Kalter Krieg. Ost- und Westeuropa im Vergleich. Hrsg. v. Jan C. Behrends, Árpád v. Klimó und Patrice Poutrus, Dietz-Verlag: Bonn 2005, pp. 10-33. I wrote the first part (pp. 1-9) 2 Czesław Miłosz, Amerika, in: ders., Mein ABC. Von Adam und Eva bis Zentrum und Peripherie, München 2002, S. 13-17, Zitat S. 13. 3 Den Begriff „Amerika“ verwenden wir in diesem Band in einem politischen Sinne, d.h. er bezeichnet – dem Sprachgebrauch des Alltags entsprechend – die Vereinigten Staaten und nicht im geographischen Sinne den Kontinent Amerika. Antiamerikanismus bezieht sich demnach allein auf die USA.

Transcript of Einleitung: Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert (zusammen mit Jan C. Behrends, Patrice Poutrus)

1

Jan C. Behrends, Árpád von Klimó, Patrice G. Poutrus

Antiamerikanismus und die europäische Moderne. Zur Einleitung1

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind weit mehr als ein Land – sie repräsentieren Macht

und Vision, Traum oder Alptraum. Der Schriftsteller Czesław Miłosz, der aus dem

kommunistischen Polen ins kalifornische Berkeley übersiedelte, beschrieb seine ambivalente

Haltung zu Amerika, indem er die Widersprüche zwischen moralischen Ansprüchen und

sozialen Verwerfungen der Neuen Welt herausstrich: „Was für eine Herrlichkeit! Was für ein Elend! Welch Menschlichkeit! Welch Unmenschlichkeit! Wie wohlwollend die Menschen sind! Und wie einsam! Wie sie ihre Ideale hochhalten! Doch was für eine Heuchelei! Welch Triumph des Gewissens! Welch Perfidie!“2

„Amerika“ war ein Thema der vergangenen Jahrhunderte und ist ein Thema unserer Zeit.3

Amerika rief und ruft starke Emotionen hervor. Dies gilt bereits seit dem Urknall der

Moderne, der Entdeckung der Neuen Welt. Seitdem fasziniert Amerika die Europäer. Ohne

die Anziehungskraft und Faszination, die Amerika bis heute ausübt, lässt sich auch die

Feindschaft nicht erklären, mit der ihm begegnet wurde und wird. Die Abwehr Amerikas

durch europäische Eliten war auch immer die Abwehr einer Verführung, die jenseits des

Atlantiks lockte. Bereits vor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und der

Gründung der Vereinigten Staaten durch die Verabschiedung der Verfassung 1787 und die

In

diesem Band soll ein vergleichender Blick auf die europäischen Amerikabilder des 20.

Jahrhunderts geworfen werden. Der Fokus liegt dabei auf verschiedenen Formen der

Feindschaft zu den USA, die wir in historischer Perspektive als Antiamerikanismus

bezeichnen. Um den Antiamerikanismus des vergangenen Jahrhunderts besser zu verstehen,

ist es nötig, ihn historisch und politisch zu kontextualisieren. Dieser Band konzentriert sich

dabei auf die „klassische Moderne“ (Detlev J.K. Peukert), d.h. den Zeitraum zwischen fin de

siècle und den 1960er Jahren.

1 Published as “Einleitung”, in: Antiamerikanismus und Kalter Krieg. Ost- und Westeuropa im Vergleich. Hrsg. v. Jan C. Behrends, Árpád v. Klimó und Patrice Poutrus, Dietz-Verlag: Bonn 2005, pp. 10-33. I wrote the first part (pp. 1-9) 2 Czesław Miłosz, Amerika, in: ders., Mein ABC. Von Adam und Eva bis Zentrum und Peripherie, München 2002, S. 13-17, Zitat S. 13. 3 Den Begriff „Amerika“ verwenden wir in diesem Band in einem politischen Sinne, d.h. er bezeichnet – dem Sprachgebrauch des Alltags entsprechend – die Vereinigten Staaten und nicht im geographischen Sinne den Kontinent Amerika. Antiamerikanismus bezieht sich demnach allein auf die USA.

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Wahl George Washingtons zum ersten Präsidenten 1789 entwickelten sich kritische und

feindliche Diskurse über die Einwohner, Politik, Geographie, Biologie und Kultur der Neuen

Welt.4 Im Zeitalter der lumières prägten Georges-Louis de Buffon in Paris und Cornelius De

Pauw in Berlin negative Topoi über die „degenerierte Natur“ Amerikas.5 Dieser

antiamerikanische Diskurs bildete einen Teil der europäischen Aufklärung, der in den USA

zurückgewiesen wurde. So sah Thomas Jefferson sich 1782 in seinen Notes on the State of

Virginia veranlasst, die Anschuldigungen der europäischen Aufklärer minutiös zu

widerlegen.6 Das Urteil über Amerika spaltete schon im 18. Jahrhundert eine europäisch-

atlantische Öffentlichkeit. Faszination und Strahlkraft der Neuen Welt verstärkten sich im

darauffolgenden Jahrhundert weiter. In der europäischen Romantik kamen – vermittelt durch

Schriftsteller wie Heinrich Heine und Nikolaus Lenau – die Topoi von Amerika als reiner

Erwerbsgesellschaft, als Nation ohne Geschichte auf, die daher „wurzellos“ sei und in der

eine „Tyrannei der Massen“ herrsche.7 Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts räsonierten

Rassisten wie Arthur de Gobineau über die Bedrohung Europas durch die Vermischung der

„Rassen“ in den USA und eröffneten damit den Diskurs über die sozialen, kulturellen und

politischen Konsequenzen der „Rassenfrage“. Die Rede über die ethnische Gemengelage

Amerikas konnte dabei in zwei unterschiedliche Urteile münden: Einerseits prognostizierte

man, die USA würden an ihrer Vielfalt zu Grunde gehen, andererseits wurde ihnen

vorgeworfen, sie betrieben die Auslöschung von Differenz und erzwängen die Homogenität

ihrer Bevölkerung.8

4 Die Tiefenschichten des Amerikadiskurses reichen bis ins Zeitalter der Entdeckungen zurück. Vgl. John H. Elliott, The Old World and the New, 1492–1650, Cambridge 1970.

Beide Visionen beinhalteten die Vorstellung, die USA seien eine

pathogene Gesellschaft, die ihre Zukunft bereits hinter sich habe. Diese Intellektuellen-

Diskurse hatten jedoch keine abschreckende Wirkung auf die europäischen Emigranten. Die

Anziehungskraft Amerikas auf europäische Auswanderer verstärkte sich während des 19.

5 Philippe Roger, Aufklärer gegen Amerika. Zur Vorgeschichte des europäischen Antiamerikanismus, in: Rudolf von Thadden/Alexandre Escudier (Hrsg.), Amerika und Europa. Mars und Venus? Das Bild Amerikas in Europa, Göttingen 2004, S. 16-34; James W. Ceaser, A Genealogy of Anti-Americanism, in: The Public Interest 152 (2003), S. 2-18, S. 5ff. und epochenübergreifend ders., Reconstructing America. The Symbol of America in Modern Thought, New Haven, Conn. 1997. Vgl. auch Antonelli Gerbi, The Dispute of a New World. The History of a Polemic 1750–1900, Pittsburgh 1973. 6 Thomas Jefferson, Notes on the State of Virginia [1782], Boston 2002. 7 Vgl. zum deutschen Fall in breiter Perspektive den Essay von Dan Diner, Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments, München 2002, zur Amerikafeindschaft der Romantik ebd. S. 42-65. Inwieweit der europäische Antiamerikanismus als Reaktion auf die amerikanische Selbststilisierung der Manifest Destiny bzw. als City on the Hill und damit als ausgewählte Nation zu begreifen ist, ist noch eine offene Forschungsfrage. 8 Ceaser, Genealogy, S. 9ff.

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Jahrhunderts viel mehr weiter und verdeutlicht, dass große Teile der Bevölkerung dort ihre

persönliche Zukunft sahen.

Seit Alexis de Tocquevilles De la démocratie en Amérique (1835) lässt sich der Diskurs

über das Politische in Europa nicht mehr von der Rede über Amerika trennen.9 Viele

Europäer besichtigten nun in den USA die Zukunft des eigenen Kontinents und beschrieben

die moderne Gesellschaft, die sie dort kennen lernten. Reiseberichte stellen deshalb eine

ergiebige Quelle dar und zeigen, wie sehr die Rede über die USA das europäische

Selbstverständnis formte.10 Sozialtheoretiker wie Max Weber oder Theodor W. Adorno haben

sich in dieser Tradition stehend zur amerikanischen Gesellschaft geäußert. Europäische

Identitäten und Redeweisen über die moderne Gesellschaft entstanden in einem Prozess

transatlantischer Abgrenzung, und es waren europäische Intellektuelle und Bürger, die die

Konstruktion dieser Selbstbilder vorantrieben. Ablehnung von oder Begeisterung für die

Vereinigten Staaten prägten schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Debatten über soziale,

kulturelle und politische Fragen. Amerika avancierte in der Sozialdemokratie und im

Bürgertum, sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern Europas, zum Symbol für

eine moderne Zukunft.11

Das 20. Jahrhundert Europas lässt sich ohne die enge Verzahnung mit der amerikanischen

Geschichte nicht begreifen. Seit 1917 und endgültig seit 1944 sind die Vereinigten Staaten in

Europa präsent – als politische und militärische, aber insbesondere auch als kulturelle Macht.

Die Auseinandersetzung mit den USA stand im 20. Jahrhundert im Zentrum zahlreicher

Diskurse über die westliche Moderne. Dabei wurden die Ideen von 1776 und die

amerikanische Gesellschaft von den radikalen Bewegungen, aber auch aus der Mitte des

politischen Spektrums attackiert. In verschiedenen Ländern lassen sich dabei einerseits

9 Vgl. als deutsche Ausgabe Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Stuttgart 1985. Zu Tocquevilles Amerikabild in vergleichender Perspektive Claus Offe, Selbstbetrachtung aus der Ferne. Tocqueville, Weber und Adorno in den Vereinigten Staaten, Frankfurt/Main 2004, S. 15-58. 10 Vgl. die Anthologie Alexander Schmidt-Gernig (Hrsg.), Amerika erfahren – Europa entdecken. Zum Vergleich der Gesellschaften in europäischen Reiseberichten des 20. Jahrhunderts, Berlin 1999. Vgl. auch diskursanalytisch ders., Reisen in die Moderne. Der Amerika-Diskurs des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Vergleich, Berlin 1997. Ein breites Panorama deutsch-amerikanischer (Kultur-) Beziehungen findet sich bei Frank Trommler/Elliott Shore (Hrsg.), Deutsch-amerikanische Begegnungen. Konflikt und Kooperation im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2001. Vgl. auch Karl-Heinz Füssl, Deutsch-amerikanischer Kulturaustausch im 20. Jahrhundert. Bildung – Wissenschaft – Politik, Frankfurt/Main 2004. 11 Vgl. bspw. zum Amerikabild der deutschen Sozialdemokratie seit dem Kaiserreich Werner Kremp, In Deutschland liegt unser Amerika. Das sozialdemokratische Amerikabild von den Anfängen der SPD bis zur Weimarer Republik, Münster 1993; für das Bürgertum in europäisch vergleichender Sicht Schmidt, Reisen.

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unterschiedliche Konjunkturen, andererseits aber auch gleich bleibende Topoi der

Amerikakritik isolieren.

Die deutsche Forschung erweckt bisher den Eindruck, beim Antiamerikanismus handele es

sich um eine malaise allemande, einen Bestandteil einer spezifisch deutschen Kritik am

Westen, eine diskursive Kehre auf dem vielbeschworenen Sonderweg.12 Vergleichende oder

übergreifende Arbeiten zum Thema Antiamerikanismus stammen in der Regel von

amerikanischen Wissenschaftlern.13 Eine komparative Forschung, die ganz Europa in den

Blick nimmt, liegt erst in Ansätzen vor.14 Ein flüchtiger Blick verdeutlicht jedoch bereits,

dass es sich bei der Rede über und der Kritik an Amerika von Beginn an um ein europäisches

Phänomen handelte. Deshalb ist Antiamerikanismus ein Thema, das sich besonders

gewinnbringend vergleichend und als Transfergeschichte untersuchen lässt – ein Ansatz, der

im hier vorliegenden Band verfolgt wird.15

Antiamerikanismus und die klassische Moderne

Der vorliegende Band versucht, das moderne Ideologem des Antiamerikanismus zu

historisieren und in vergleichender Perspektive zu analysieren. Zu fragen ist nach der

Bedeutung von Antiamerikanismus in verschiedenen nationalen Kontexten und in 12 Vgl. zur (west-) deutschen Entwicklung Christian Schwaabe, Antiamerikanismus. Wandlungen eines Feindbildes, München 2003; zur deutschen Nachkriegsgesellschaft aus sozialwissenschaftlicher Sicht Gesine Schwan, Antikommunismus und Antiamerikanismus in Deutschland. Kontinuität und Wandel nach 1945, Baden-Baden 1999; populär: Richard Herzinger, Endzeit-Propheten oder die Offensive der Antiwestler. Fundamentalismus, Antiamerikanismus und Neue Rechte, Reinbek 1995; Claus Leggewie, Amerikas Welt. Die USA in unseren Köpfen, Hamburg 2000. Vgl. zu Deutschland auch die Beiträge in Alf Lüdtke/Inge Marßolek/Adelheid von Saldern (Hrsg.), Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1996 und Detlef Junker (Hrsg.), Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945–1990. Ein Handbuch, 2 Bde., Stuttgart etc. 2001. Mit einem Schwerpunkt auf Österreich: Michael Draxlbauer/Astrid M. Fellner/Thomas Fröschl (Hrsg.), (Anti-) Americanisms, Wien 2004. Die neuere Forschung reflektiert Philipp Gassert, Amerikanismus, Antiamerikanismus, Amerikanisierung. Neue Literatur zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte des amerikanischen Einflusses in Deutschland, in: AfS 39 (1999), S. 531-561. Übergreifend zum späten 20. Jahrhundert Paul Hollander, Anti-Americanism. Critiques at Home and Abroad, 1965–1990, New York etc. 1992, der jedoch eine zu breite Definition von Antiamerikanismus zu Grunde legt. 13 Vgl. in globaler Perspektive Thomas Perry Thornton, Anti-Americanism: Origins and Context, Newbury Park etc. 1988. Mit dem Blick auf den Einfluss amerikanischer Kultur in Europa: Rob Kroes, If You’ve Seen One, You’ve Seen the Mall. Europeans and American Mass Culture, Urbana etc. 1996; zum europäischen Blick und Einfluss auf die USA Richard Pells, Not Like Us. How Europeans Have Loved, Hated, and Transformed American Culture Since World War II, New York 1997. 14 Vgl. aber zu Westeuropa David W. Ellwood, Comparative Anti-Americanism in Western Europe, in: Heide Fehrenbach/Uta G. Poiger (Hrsg.), Transactions, Transgressions, Transformations. American Culture in Western Europe and Japan, New York 2000, S. 26-44. 15 Zur Beziehung zwischen Vergleich und Transfer vgl. Johannes Paulmann, Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: HZ 267 (1998), S. 649-685.

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unterschiedlichen politischen Systemen – schließlich prägten autoritäre Regime, Demokratien

und moderne Diktaturen die europäische Geschichte des vergangenen Jahrhunderts. Wie

passte sich der Antiamerikanismus an verschiedene politische und kulturelle Umgebungen

an? Existierte eine gemeinsame Basis der Antiamerikanismen? In welchen Zusammenhängen

sollte die Forschung den Begriff aufgreifen, wo gilt es, ihn zu vermeiden, welche alternativen

Begriffe (z.B. „Antimodernismus“) bieten sich an? Zur Beantwortung dieser Fragen ist es

sinnvoll, den jeweiligen historischen Kontext in den Fokus der Untersuchungen zu rücken;

ein pauschaler Gebrauch des Begriffes, der von den konkreten historischen Bedingungen

abstrahiert, sollte dagegen vermieden werden.

„Ideologien“ beziehen sich seit der Entstehung des Begriffs im Gefolge der Französischen

Revolution auf Wahrnehmungsweisen, die sich in Ideen manifestieren. Niklas Luhmann hat

Ideologien als entscheidende Mittel zur Reduktion von Komplexität bezeichnet. Durch

Ideologien „werden die Möglichkeiten des Wirkens eingeengt, übersehbar, entscheidbar.“16

Was aber bedeutet „antiwestliches“ oder „antimodernes“ Denken in westlichen, modernen

Ländern? Was heißt „modern“ oder „Moderne“ im 20. Jahrhundert?

Wenn man Ideologeme als Elemente oder Versatzstücke moderner Ideologien versteht, dann

stellt Antiamerikanismus einen Baustein antiwestlicher, antiliberaler und antimoderner

Ideenwelten dar.

17 Die Moderne

beinhaltete stets ein Nachdenken über die eigene Zeit, die als Epoche der radikalen Brüche

mit der Vergangenheit wahrgenommen wurde. Das verweist auf eine kontinuierliche

Infragestellung und Kritik der Gegenwart aus der Perspektive einer möglichen Zukunft.

Ulrich Beck und Anthony Giddens unterscheiden eine „zweite oder reflexive Moderne“, in

der wir selbst leben, von einer „ersten Moderne“ unserer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern,

die den Untersuchungszeitraum dieses Bandes bildet.18

16 Niklas Luhmann, Wahrheit und Ideologie. Vorschläge zur Wiederaufnahme der Diskussion, in: Der Staat 1 (1962), S. 431-448; vgl. auch ders., Soziologische Aufklärung, Opladen 1970, S. 54-65, hier S. 63.

Die erste Moderne bedeutete den

Ausbau der Nationalstaaten, einer Erwerbsgesellschaft, einen Trend zur Individualisierung der

Lebensstile, zur Urbanisierung, zur Rationalisierung, zur Verwissenschaftlichung und

funktionellen Differenzierung der Gesellschaft. Antiamerikanismus in der europäischen

17 Zur Begriffsgeschichte vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, „Modern“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhard Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 93-131. 18 Vgl. Ulrich Beck/Anthony Giddens/Scott Lash (Hrsg.), Reflexive Modernisierung: Eine Kontroverse, Frankfurt/Main 1996; Ulrich Beck/Wolfgang Bonß (Hrsg.), Die Modernisierung der Moderne. Frankfurt/Main 2001.

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Moderne bezieht sich auf Ideologeme, die vor dem Hintergrund dieses raschen sozialen und

kulturellen Wandels komplexitätsreduzierende Wahrnehmungen und damit die Abgrenzung

gegenüber einer als bedrohlich wahrgenommenen Veränderung und zugleich die

Neukonstitution der eigenen Identität ermöglichten.

Bei der historischen Analyse von Antiamerikanismus tun sich einige spezifische Probleme

auf. Hier wäre zunächst der schmale Grat zwischen Analyse und Polemik zu nennen – über

Amerika redet man in der Regel cum ira et studio. Häufig ist unklar, wann sich

Wissenschaftler zu Wort melden und wann Autoren ihre private Meinung äußern, und die

Grenzen zwischen sozialwissenschaftlichen und populären Diskursen verschwimmen. Wenn

heute in der Öffentlichkeit einerseits mit großer Verve die USA kritisiert werden, und

zugleich ein „Anti-Antiamerikanismus“ gefordert wird, bewegt sich die zeithistorische

Forschung auf emotionalisierten und umkämpften Terrain. Deshalb soll zunächst der Versuch

unternommen werden, eine nüchterne Arbeitsdefinition von Antiamerikanismus zur

formulieren. Dass Kritik an den USA legitim ist, wird nicht bestritten. Worum geht es also?

Es ist nicht unser Anliegen, die Legitimität radikaler Kritik an der Moderne bestreiten zu

wollen. Eine solche Kritik sollte vielmehr gerade ein Movens historischer

Sozialwissenschaften sein. Genauso wenig wird man bestreiten können, dass die Vereinigten

Staaten ein Land sind, das in vielfacher Hinsicht eine Vorreiterrolle in

Modernisierungsprozessen eingenommen hat. Problematisch erscheint es jedoch, wenn die

Pathologien unserer Zeit auf einen Ort und eine Nation, nämlich auf Amerika, zurückgeführt

werden. Um Klarheit zu gewinnen gilt es daher zunächst, zwischen dem politischen

Kampfbegriff „Antiamerikanismus“ und dem Phänomen selbst zu unterscheiden.

Als Kampfbegriff wurde Antiamerikanismus vermutlich von Golo Mann in die deutsche

Sprache eingeführt.19 Eine ausführliche Begriffsgeschichte, die auch zu klären hätte, wann der

Begriff in andere Sprachen einging, stellt ein wichtiges Forschungsdesiderat dar. Hier ist

festzuhalten, dass „Antiamerikanismus“ in der Regel eine Fremdzuschreibung ist. Von

wenigen Ausnahmen abgesehen, bezeichnet sich kaum jemand selbst als „Antiamerikaner“.

Dies unterscheidet den Begriff signifikant von anderen politischen Kampfbegriffen wie

„Antifaschismus“ oder auch „Antisemitismus“, eine Vokabel, die Wilhelm Marr 1879 als

Selbstbezeichnung von Judenfeinden prägte.20

19 Für diesen Hinweis danken wir Philipp Gassert, Heidelberg.

Eine Untersuchung des politischen

Kampfbegriffes Antiamerikanismus liegt noch nicht vor. Sie wäre ein wichtiger Bestandteil

20 Vgl. Wolfgang Benz, Was ist Antisemitismus?, München 2004, S. 91ff.

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einer Kulturgeschichte des Kalten Krieges und müsste – neben der Zuschreibung anti-

American – etwa auch das Etikett un-American untersuchen, wie es in der McCarthy-Ära als

stigmatisierender Vorwurf verwendet wurde. Im hier vorliegenden Band soll jedoch nicht der

Begriff, sondern das Phänomen Antiamerikanismus untersucht werden. Dabei gehen wir von

der Prämisse aus, dass Antiamerikanismus avant la lettre existierte und dass man die gesamte

klassische Moderne in den Blick nehmen sollte, um die europäische Amerikafeindschaft zu

analysieren.

Was das Phänomen Antiamerikanismus betrifft, so hilft eine Erkenntnis von Golo Mann

weiter, der bereits 1954 auf den instrumentellen Charakter der Projektionsfläche Amerika

hinwies: „Was wir den Amerikanern vorwerfen, haben wir selbst in uns“, stellte Mann fest. Er

forderte, Europa solle sich selbst als Teil der modernen Welt begreifen und deren

Widersprüche nicht länger externalisieren, sondern sich der Problematik stellen.21

Eine Repräsentation Amerikas, in der Defizite pauschal auf die gesamte Gesellschaft

übertragen werden oder Topoi wie dasjenige der geographisch-biologischen Degeneration,

einer reinen Erwerbsgesellschaft oder der geschichtlichen Wurzellosigkeit verwendet werden,

ist antiamerikanisch zu nennen. Dies gilt besonders dann, wenn behauptet wird, dass es sich

um gleichsam genetische Defizite handele und die Autoren für sich in Anspruch nehmen, in

ihnen das eigentliche Wesen der amerikanischen Gesellschaft freizulegen. Handelt es sich

hier um Diskurse europäischer Intellektueller, in denen antiamerikanische Topoi verwendet

werden, so schlagen wir vor, von klassischen Antiamerikanismus zu sprechen. Das 20.

Jahrhundert brachte jedoch auch extremere Varianten der Amerikafeindschaft hervor. In

modernen Diktaturen finden wir einen radikalen oder entgrenzten Antiamerikanismus. Hier

wurden den USA nicht nur genetische Defizite zugeschrieben, sondern die Vereinigten

Staaten wurden als das wesenhaft Böses, als Weltverderber und absoluter Feind dargestellt.

Die Propagandastaaten verbreiteten in ihren Gesellschaften die totale und als verbindlich

dekretierte Ablehnung Amerikas. Kennzeichnend für das Gesamtphänomen

Antiamerikanismus ist der essentialistische Zug der Argumentation.

Golo Mann

formulierte die Erkenntnis, dass die europäische Kritik an der Amerikanisierung eine nach

außen gewendete Selbstkritik ist. Wo schlägt diese Kritik nun in etwas um, dass man treffend

als Antiamerikanismus bezeichnen kann?

21 Golo Mann, Urteil und Vorurteil, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 8 (1954), S. 390-394, hier S. 393.

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In den hier präsentierten empirischen Studien zeigt sich, dass sich die beiden Varianten

antiamerikanischen Denkens überschneiden, dass sich der radikale Antiamerikanismus der

klassischen Topoi bedient und die klassische Amerikafeindschaft die USA als Weltfeind

bezeichnet. Die spezifische Differenz zwischen beiden Spielarten liegt primär in der

Intention: Während es sich auf der einen Seite um eine monokausal argumentierende

Modernekritik handelt, steht auf der anderen Seite der Versuch, zum Hass gegen Amerika

aufzustacheln. Der radikale Antiamerikanismus ist mehr als nur intellektueller Diskurs, er ist

zielgerichtete Mobilisierungsideologie. Aufgrund dieser Varianzen ist es notwendig, den

historischen Kontext, die spezifischen Konfliktlagen und die politische Kultur der

untersuchten Länder in die Analyse einzubeziehen.

Unser Definitionsversuch soll nicht über eine erstaunliche Flexibilität hinwegtäuschen, die

für den Antiamerikanismus charakteristisch ist und sich darauf zurückführen lässt, dass

Amerika als Projektionsfläche für unterschiedliche soziale Gruppen und politische

Bewegungen in Europa dienen konnte. In antiamerikanischen Diskursen standen die USA für

Liberalismus oder Reaktion, für erzwungene Homogenität oder bedrohliche Vielfalt, für

Militarismus oder für „unsoldatische“ Lässigkeit, für Rassismus oder „Rassenschande“. Ihre

Feinde haben die Vereinigten Staaten sowohl als Verkörperung des männlichen als auch des

weiblichen Prinzips angegriffen; die USA galten einigen als gottlos und anderen als

fundamentalistisch religiös. In der klassischen Moderne wurde der leere Signifikant Amerika

mit immer neuen pejorativen Bedeutungen gefüllt. Kleinster gemeinsamer Nenner des

Antiamerikanismus blieb Amerika als Metapher für eine die eigene Gemeinschaft bedrohende

Moderne. Um ein differenziertes Bild des vielschichtigen Phänomens zu bekommen, gilt es

darum zu fragen, wie, von wem und warum im 20. Jahrhundert in Europa über Amerika

geredet wurde.

Antiamerikanismus konnte in Europa dazu dienen, die Brüche, Aporien und Pathologien

der Moderne auf einen äußeren Einfluss, nämlich auf die politische und kulturelle Macht der

Vereinigten Staaten zurückzuführen, die so für gesellschaftliche Fehlentwicklungen oder

lokale Missstände in anderen Staaten verantwortlich gemacht wurden. Externalisierung von

Verantwortung und Zuweisung von Schuld waren Leitmotive antiamerikanischen Denkens.

Es ging demnach im Antiamerikanismus nicht um die Kritik an konkreten Entscheidungen der

Politik oder an genau bestimmten Charakteristika der Kultur der Vereinigten Staaten, sondern

um eine Projektion, in der der amerikanischen Gesellschaft unterstellt wurde, sie exportiere

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ihre Pathologien in andere Staaten. Im antiamerikanischen Weltbild erscheinen die USA als

dunkle Seite der Moderne; sie können zum Gegenspieler stilisiert werden und zum zentralen

Feindbild der eigenen Nation avancieren. Die Wirkungsmächtigkeit des Antiamerikanismus

als Deutungsmuster von Konflikten in der modernen Welt rekurriert auf nationale

Identitätskonstruktionen, in denen die eigene Nation zugleich als moralisch überlegen und

strukturell bedroht dargestellt wird. Als Teil nationaler Meisterzählungen, und in Verbindung

mit eingewurzelten Identitäten, entfaltet der Antiamerikanismus seine Wirkungsmächtigkeit.

Eine Stärke dieses Narrativs ist seine Anpassungsfähigkeit: Antiamerikanisches Denken

konnte und kann mit verschiedenen Nationalismen ebenso verschmelzen wie mit sozialen

Protestbewegungen oder elitärem Dünkel.

Dass man in verschiedenen europäischen Gesellschaften und in unterschiedlichen

Systemen auf ähnliche antiamerikanische Topoi stößt, verwundert wenig. Seit der Aufklärung

zirkulierten antiamerikanische Ideen unter europäischen Intellektuellen. In der klassischen

Moderne fanden Motive wie Massengesellschaft, Oberflächlichkeit und ungezügeltes

Profitstreben Eingang in die politische Kultur unterschiedlicher Gesellschaften, wo sie für die

Bedrohung des Eigenen durch den American way of life standen.22 Eine Analyse des

Ideologems Antiamerikanismus sollte weiterhin nach seiner Beziehung zu Ideologien fragen,

die Europa in der klassischen Moderne prägten. Vor allem sein Verhältnis zu Faschismus,

Nationalsozialismus, Kommunismus ist zu untersuchen. Außerordentlich aufmerksam

betrachtet werden sollte die Verknüpfung des Antiamerikanismus mit dem Antisemitismus,

einer vergleichbar holistischen Weltdeutung, die ebenfalls von einer apokalyptischen

Moderneauffassung getragen wird.23

Schließlich gilt es, erste Antworten auf die folgenden Fragen zu formulieren: Lassen sich

differentia specifica des Antiamerikanismus in den verschiedenen Ländern isolieren? Welche

sozialen Trägerschichten des Antiamerikanismus kann man benennen? Worin bestand seine

spezifische Wirkungsmächtigkeit und welche Milieus konnte der Antiamerikanismus nicht

erreichen? Welchen politischen Gruppen gelang es, Antiamerikanismus erfolgreich zu

instrumentalisieren? Wie reagierten die Träger des Antiamerikanismus auf die Erfolge des

amerikanischen Modells? Was diese Fragen betrifft, versteht sich der Band primär als

Diskussionsangebot.

22 Vgl. am deutschen Beispiel den einleitenden Beitrag von Konrad H. Jarausch. 23 Vgl. zum europäischen Antisemitismus Victor Karady, Gewalterfahrung und Utopie. Juden in der europäischen Moderne, Frankfurt/Main 1999.

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Antiamerikanismen in der klassischen Moderne: Ost und West, Rechts und Links

Im Ersten und dann im Zweiten Weltkrieg kamen die Vereinigten Staaten nach Europa. Man

kann im 20. Jahrhundert von zwei Wellen der Amerikanisierung sprechen, die jeweils

spezifische Antiamerikanismen hervorriefen: nach 1917 und nach 1945. Während die USA

einerseits für eine moderne Zukunft standen, formierten sich andererseits europäische

Abwehrbewegungen. Tatsächlich bedeutete Amerikanisierung einen vielschichtigen

Aneignungsprozess. Zudem entstanden nach 1917 der Bolschewismus, der Faschismus und

der Nationalsozialismus, die sich zunehmend als radikale Alternativen zur liberalen Ordnung

Amerikas verstanden. Dieses „Zeitalter der Extreme“ (Eric J. Hobsbawm) war eine Epoche

politische Konversionen: Es lassen sich das Aufbrechen, aber auch die Verhärtung älterer

Denkpositionen beobachten.

Mit dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg waren die Vereinigten Staaten erstmals als

Großmacht in Europa präsent.24 Nun kehrte sich Manifest Destiny, die amerikanische

Sendung, nach außen: Präsident Woodrow Wilson erklärte 1917 vor dem Kongress, neues

außenpolitisches Ziel der USA sei es, to make the world safe for democracy.25 Ihr

militärischer Sieg bildete nur das Vorspiel zum wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss der

USA, der die 1920er Jahre entscheidend prägte. Während die amerikanischen Soldaten sich

nach 1918 noch einmal über den Atlantik zurückzogen, blieben die USA kulturell und

insbesondere medial präsent – die amerikanische Moderne war, das wurde schon den

Zeitgenossen bewusst, unwiderruflich in Europa angekommen.26 Ein erster Siegeszug

amerikanischer Populärkultur erfasste zu dieser Zeit Europa. Diese Entwicklung lässt sich

durch einen Blick auf das moderne Massenmedium Film verdeutlichen.27

24 Zur Wendung der USA nach außen, siehe Emily S. Rosenberg, Spreading the American Dream. American Economic and Cultural Expansion 1890-1945, New York 1982. Theodore H. Laue hat bereits 1987 die These vertreten, dass es sich um einen globalen Verwestlichungsprozess handelt. Theodore H. Laue, The World Revolution of Westernization. The Twentieth Century in Global Perspective, Oxford 1987.

Hollywood wurde

25 Vgl. Tony Smith, America’s Mission. The United States and the Worldwide Struggle for Democracy in the Twentieth Century, Princeton, NJ 1994, S. 84ff. 26 Zum Diskurs über „Massengesellschaft“ und Moderne nach 1918 vgl. Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 107-127. 27 Vgl. Victoria de Grazia, Mass Culture and Sovereignty. The American Challenge to European Cinema, 1920–1960, in: Journal of Modern History 61 (1989), S. 53-87.

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in den 1920er Jahren ein Teil des europäischen Alltags.28 Angehörige der europäischen Elite

erfuhren schmerzhaft den Verlust der Kulturhoheit in ihrer Heimat. Ein konservativer

Antiamerikanismus zielte insbesondere auf die Kritik der „Massenkultur“ und verbreitete sich

in verschiedenen europäischen Ländern.29 Der Beliebtheit amerikanischer

Unterhaltungskultur tat dies freilich keinen Abbruch; es waren vorwiegend Intellektuelle, die

unterschwellig fasziniert waren, doch zugleich ihre vehemente Abneigung äußerten.30

Neben diese kulturellen traten wirtschaftliche Einflüsse aus Übersee. Sie waren gemeint,

wenn ein deutscher Autor 1930 „Amerikanismus“ zum „Zeitalterbegriff“ erklärte.

Die

historische Forschung zu dieser ersten Welle kultureller Amerikanisierung hat gezeigt, dass es

sich dabei keineswegs um einen linearen Prozess handelte. Vielmehr bedeutete der Transfer

amerikanischer Kultur nach Europa zugleich deren Adaption und Wandlung.

31 Die

Diskussion um Henry Ford und die Taylorisierung erfasste in den 1920er Jahren ganz Europa;

Fords Autobiographie war ein Bestseller, der wie kein anderes Buch das Amerikabild der

Weimarer Zeit prägte.32 Die amerikanische Wirtschaft stand für eine forcierte

Rationalisierung, für die beschleunigte Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft und

den Beginn des Massenkonsums.33 Am Beispiel Ford lässt sich die widersprüchliche

Perzeption der Amerikanisierung verdeutlichen: Neben den als bedrohlich wahrgenommen

wirtschaftlichen Beschleunigungsprozessen stand ein neues Wohlstandsversprechen. Diese

ökonomischen Diskurse beschränkten sich nicht auf die Ökonomien Westeuropas: Selbst in

der abgeschotteten Sowjetunion wurden Ford und Taylor zu Leitfiguren einer nachholenden

Modernisierung erklärt.34

28 Thomas J. Saunders, Hollywood in Berlin. American Cinema and Weimar Germany, Berkeley 1994; vgl. auch die Beiträge in: David W. Ellwood/Rob Kroes (Hrsg.), Hollywood in Europe. Experiences of Cultural Hegemony, Amsterdam 1994.

In ihrer Begeisterung für den Fordismus zeigte sich, dass Lenin und

29 Zur Weimarer Republik vgl. Detlev J.K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt/Main 1987, S. 178-190; Adelheid von Saldern, Überfremdungsängste. Gegen die Amerikanisierung der deutschen Kultur in den zwanziger Jahren, in: Alf Lüdtke/Inge Marßolek/Adelheid von Saldern (Hrsg.), Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1994, S. 213-244. Zur Wirkung der deutschen Amerikakritik in Ungarn vgl. den Beitrag von Árpád von Klimó und Gyula Virág. 30 Eine Erklärung für den internationalen Erfolg amerikanischer Populärkultur gibt Berndt Ostendorf, Why is American popular culture so popular? A view from Europe, in: Ulla Haselstein/Peter Schneck/ Berndt Ostendorf (Hrsg.) Popular Culture. Amerikastudien 46 (2001), H. 3, S. 339-366. 31 Otto Basler, Amerikanismus. Geschichte eines Schlagwortes, in: Deutsche Rundschau 224 (1930), S. 142-146, hier S. 146. 32 Henry Ford, Mein Leben und Werk, Leipzig 1923. Das Buch erlebte innerhalb eines Jahres in Deutschland 13 Auflagen. 33 Vgl. zu Deutschland Mary Nolan, Visions of Modernity. American Business and the Modernization of Germany, Oxford 1994. 34 Vgl. den Beitrag von Gábor T. Rittersporn und David Feest.

12

seine Mitstreiter radikale Modernisierer waren. Und wie im Rest Europas bedeutete

Modernisierung für sie Amerika.

In Deutschland entstand seit Kriegsende im Umfeld der „Konservativen Revolution“ eine

Modernekritik, die sich gegen die Amerikanisierung der eigenen Gesellschaft wandte.

Vertreter konservativer Utopien versuchten, einen „deutschen Sozialismus“ zu denken, in

dem die Widersprüche der Moderne sich in „totaler Volksgemeinschaft“ auflösen sollten.

Antiwestliche Ressentiments gehörten zu den Grundpfeilern dieser Weltbilder.35 Im Denken

deutscher Philosophen und Ingenieure wurde der Versuch unternommen, die „Kulturnation“

mit moderner Technologie zu versöhnen. In diesen Diskursen standen deutsche „Kultur und

Technik“ amerikanischer „Zivilisation und Wirtschaft“ diametral gegenüber.36 Einige der

Protagonisten und Denkströmungen des „reaktionären Modernismus“ (Jeffrey Herf) verfügten

auch in der Nachkriegszeit noch über Einfluss, und an ihre antiwestlichen Ressentiments

schloss die DDR fast nahtlos an.37

Die great depression war eine Voraussetzung für die Attraktivität moderner Diktaturen in

Europa. Anfang der 1930er Jahre taugte Amerika kaum zum Vorbild. Trotzdem blieb der

Diskurs über die USA in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Diktatur von

Ambivalenzen geprägt.

Diese Entwicklungen verdeutlichen die mittelfristige

Prägekraft der Weimarer Zeit.

38 Erst als der außenpolitische Konflikt Hitler-Deutschlands mit der

Roosevelt-Administration virulent wurde, knüpfte das NS-Regime verstärkt an die

Traditionen konservativer und völkischer Amerikakritik an. Die Verbindung mit dem

Antisemitismus konstituierte den radikalen Antiamerikanismus des Nationalsozialismus.39

35 Vgl. Christoph H. Werth, Sozialismus und Nation. Die deutsche Ideologiediskussion zwischen 1918 und 1945, Opladen 1996.

Onkel Sam, so die nationalsozialistische Propaganda, sei eigentlich Onkel Shylock. Für den

NS-Staat lässt sich erstmals von einer Totalisierung des Antiamerikanismus sprechen, die,

etwa mit dem Verbot des Jazz, in die Lebenswelt des Einzelnen eingriff – eine Entwicklung,

die sich ein Jahrzehnt später im Stalinismus wiederholen sollte. Die Verbindung mit der

36 Jeffrey Herf, Reactionary Modernism. Technology, Culture and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1986, S. 226ff. 37 Vgl. die Beiträge von Marcus M. Payk, Vanessa Conze und Patrice G. Poutrus in diesem Band. 38 Zu ähnlichen Ergebnissen für das faschistische Italien kommt Emilio Gentile, Impending Modernity, Fascism and the Ambivalent Image of the United States, in: Journal of Contemporary History 28 (1993), S. 7-29. Auch in Mussolinis Diktatur existierten zunächst unterschiedliche Amerikabilder nebeneinander, wobei eine positive Einstellung zur Roosevelt-Administration überwog, bis der Kriegsausbruch auch hier zu einem radikalen, antisemitisch aufgeladenen Antiamerikanismus führte. 39 Vgl. den Beitrag von Markus Urban in diesem Band. Zum Amerikabild des Nationalsozialismus siehe auch Philipp Gassert, Amerika im Dritten Reich. Ideologie, Propaganda und Volksmeinung, Stuttgart 1997.

13

antisemitischen Vernichtungsideologie ermöglichte es der NS-Propaganda, die beiden

Feinbilder „Juden“ und „Amerika“ zu verschmelzen und mit dem „jüdischen Bolschewismus“

in der UdSSR in Beziehung zu setzen.40

Einen analogen Radikalisierungsprozess und eine ähnliche Instrumentalisierung erfuhr der

Antiamerikanismus zeitversetzt im stalinistischen Russland und dann auch im sowjetischen

Imperium. Schwankten die Bolschewiki ursprünglich zwischen Amerikabegeisterung und

Kapitalismuskritik, so wurde in den 1930er Jahren die Sowjetunion selbst zum Maß aller

Dinge erklärt. Weil der neue bolschewistische Nationalismus das Eigene radikal überhöhte,

verlor Amerika die Vorbildrolle, die es seit den frühen 1920er Jahren innegehabt hatte.

Im nationalsozialistischen Weltbild stellten die USA

und die Sowjetunion lediglich zwei unterschiedliche Spielarten jüdischer Dominanz dar – ein

Differenzverlust, der für moderne Diktaturen charakteristisch ist. Die Pathologien der

Moderne sollten in der rassistischen Utopie der Volksgemeinschaft überwunden werden.

41

Diese Abkehr vom amerikanischen Vorbild beinhaltete das Postulat, auf dem Weg in eine

eigene sowjetische Moderne sui generis zu sein, die über ihre eigene Kultur verfügte und von

den Aporien westlicher Vergesellschaftung frei sei.42 Aus stalinistischer Sicht war Amerika

nun nicht mehr Zukunft, sondern Symbol für eine überwundene Vergangenheit. Seine

radikale Steigerung erfuhr der sowjetische Antiamerikanismus allerdings erst nach dem Ende

des Bündnisses mit den USA – jedoch bereits vor dem offenen Ausbruch des Kalten Krieges.

Nach der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland sah die sowjetische Führung die

Notwendigkeit, die permanente Mobilisierung mit Hilfe eines neuen Feindbildes fortzusetzen:

Im Kalten Krieg fiel ihre Wahl zwangläufig auf die USA, und im folgenden Jahrzehnt war

antiamerikanische Propaganda ein Charakteristikum der repräsentativen Öffentlichkeit

zwischen Elbe und Pazifik.43

Nachdem der sowjetische Antiamerikanismus zunächst auf die Stereotypen konservativer

Kulturkritik rekurrierte, radikalisierte er sich seit 1947/48 durch die Übertragung der

Faschismustheorie auf die USA, die zunächst zum Wiedergänger und schließlich zum

40 Zum Antisemitismus der Nationalsozialisten vgl. Wolfram Meyer zu Uptrup, Kampf gegen die „jüdische Weltverschwörung“. Propaganda und Antisemitismus der Nationalsozialisten 1919-1945, Berlin 2003. 41 Zum Nationalismus der Stalin-Zeit vgl. David Brandenberger, National Bolshevism. Stalinist Mass Culture and the Formation of Modern Russian National Identity 1931–1956, Cambridge, Mass. etc. 2002. 42 Dass die USA und der Westen auch im Stalinismus implizit ein zentraler Referenzpunkt des sowjetischen Regimes blieben zeigt Michail Ryklin, Räume des Jubels. Totalitarismus und Differenz, Frankfurt/Main 2003. 43 Zu Feinbildern in der kommunistischen Diktatur vgl. auch Silke Satjukow/Rainer Gries (Hrsg.), Unsere Feinde. Konstruktionen des Anderen im Sozialismus, Leipzig 2004. Der Band enthält keinen Beitrag, der sich mit Antiamerikanismus beschäftigt.

14

eigentlichen Mentor des nationalsozialistischen Deutschland erklärt wurden.44 Zur gleichen

Zeit setzte der Transfer des stalinistischen Antiamerikanismus in die Länder des sowjetischen

Imperiums ein. Mit genauem Blick auf den historischen Kontext lässt sich zeigen, dass in den

einzelnen kommunistischen Parteistaaten auch auf eigene antiamerikanische Bilder

zurückgegriffen wurde.45 Dort, wo der Antiamerikanismus sowjetisches Oktroi war und kaum

auf historisch gewachsene Anknüpfungspunkte in der politischen Kultur zurückgreifen

konnte, war er deutlich weniger wirkungsmächtig. Dies gilt für die hier untersuchten Fälle

Polen und Ungarn.46 Eingewurzelte Feindbilder wie „Russen“, „Deutsche“ oder „Juden“

ließen dort wenig Raum für Antiamerikanismus im kollektiven Bewusstsein.47

Vierzig Jahre lang versuchten die kommunistischen Parteistaaten antiamerikanische bzw.

antiwestliche Gefühlshaltungen aufzubauen, um ihr Herrschaftssystem und das Bündnis mit

der Sowjetunion zu legitimieren. Antiamerikanische Propaganda diente als

Integrationsideologie des sowjetischen Imperiums – mit weit reichenden Folgen, wie die

Gefühlshaltungen gegenüber den USA in Ostdeutschland oder Russland bis in die Gegenwart

zeigen. Allerdings unterlag das Feindbild Amerika historischem Wandel. Von 1948 bis Mitte

der 1950er Jahre bedeutete der entgrenzte Antiamerikanismus die Kriminalisierung des

American way of life. Hier verschmolzen der innere und der äußere Gegner zu einem

omnipräsenten Feindbild. Der stalinistische Antiamerikanismus fand seinen Höhepunkt in der

konstruierten Verschwörung um Noel Field, einem Amerikaner jüdischer Abstammung, dem

in den Schauprozessen in Ungarn und der ČSSR eine Schlüsselrolle als antisowjetischer

Die

antiamerikanische Propaganda konnte sich in diesen Ländern gewissermaßen gegen das

Regime wenden, während in Deutschland und Russland, wo antiamerikanische Ressentiments

über eine ausgeprägte Tradition verfügten, Antiamerikanismus als kommunistische

Legitimationsstrategie besser verfangen konnte. Wie im nationalsozialistischen Deutschland

war auch der Antiamerikanismus in der Sowjetunion mit antisemitischen Bildern aufgeladen.

Er wurde von einer antisemitischen Kampagne begleitet, die zahlreiche Opfer forderte, jedoch

das Ausmaß nationalsozialistischer Vernichtungspolitik nie auch nur annähernd erreichte.

44 Vgl. den Beitrag von Jan C. Behrends. 45 Vgl. die Beiträge von Patrice G. Poutrus, Thomas Lindenberger und Wolfgang M. Mueller. 46 Vgl. die Beiträge von Jan C. Behrends und Árpád von Klimó und Gyula Virág. 47 Vgl. Agnieszka Pufelska, „EU heißt SU“. Zur Geschichte des polnisches Feindbildes von der „Judäo-Kommune“, in: WerkstattGeschichte 37 (2004), S. 67-76; Árpád von Klimó, „Habsburger“ und „Preußen“. Historische Feindbilder und ihre Wandlungen in Ungarn und der DDR im Vergleich, in: Silke Satjukow/Rainer Gries (Hrsg.), Unsere Feinde. Konstruktionen des Anderen im Sozialismus, Leipzig 2004, S. 513-524.

15

Agent zugeschrieben wurde.48

Eine Identifikation mit dem amerikanischen Feind konnte im Stalinismus sehr gefährlich

sein. Bürger mit Westkontakten, Jugendliche mit lässigem Habitus oder selbst Kommunisten,

die im Westen gelebt hatten, standen über Jahre unter dem Generalverdacht, Spione oder

Saboteure oder wenigstens in irgendeiner Art und Weise kontaminiert zu sein. Zugleich war

die Sowjetunion mehr als nur eine Vorbildgesellschaft – als utopischer Ort war sie das

verpflichtende Symbol für eine kommunistische Zukunft.

Noel Field verkörperte zugleich den Verräter, Juden,

Amerikaner und Spion. Im seinem „Fall“ verband sich exemplarisch die antisemitische mit

der antiamerikanischen Propaganda des Stalinismus.

49

Insbesondere zwischen Parteistaat und Jugend, die sich auch im Stalinismus von den

Verheißungen der amerikanischen Popkultur angezogen fühlte, kam es zu schwerwiegenden

Konflikten. Spätestens die 1960er Jahre brachten hier eine partielle Liberalisierung des

kulturellen Lebens, die jedoch in der DDR oder der UdSSR nicht so weit ging wie in Polen

oder Ungarn. Amerikanische Musik, Kleidung oder westlicher Habitus führten nicht mehr

zum Ausschluss aus der sozialistischen Gemeinschaft. In der politischen Sphäre hingegen war

das Amerikabild nicht verhandelbar: Hier galt bis 1989 uneingeschränkt das

Imperialismusverdikt. In den Westen hinein wirkte der kommunistische Antiamerikanismus

in Form der sowjetisch inspirierten „Weltfriedensbewegung“, deren Unterstützung im

sowjetischen Machtbereich verpflichtend war, die aber bis nach Westeuropa ausstrahlte. Eine

Daueraufgabe sowjetischer Auslandspropaganda bestand in dem Versuch, die moralische

Überlegenheit der kommunistischen Welt im Kalten Krieg zu konstruieren. Dies ging mit

dem an die USA gerichteten Vorwurf einher, strukturell nicht friedensfähig zu sein und zum

Angriffskrieg gegen die sozialistischen Staaten zu rüsten. Die Angst vor nuklearer

Vernichtung bescherte der Friedensbewegung, die sich nicht durchgängig als

antiamerikanisch kennzeichnen lässt, jedoch deutlich von den Topoi sowjetischer Propaganda

beeinflusst war, schon in den 1950er Jahren eine beträchtliche Anhängerschaft im Westen.

Nach dem Ende der détente und dem NATO-Nachrüstungsbeschluss von 1979 erlebte sie in

48 Vgl. Bernd-Rainer Barth, Wer war Noel Field? Die unbekannte Schlüsselfigur der osteuropäischen Schauprozesse, in: Annette Leo (Hrsg.), Vielstimmiges Schweigen. Neue Studien zum DDR-Antifaschismus, Berlin 2001, S. 197-221. 49 Vgl. Jan C. Behrends, Die erfundene Freundschaft. Propaganda für die Sowjetunion in Polen und der DDR 1944–1957, Köln etc. 2005 [im Erscheinen].

16

der Bundesrepublik eine Renaissance.50

Mit der Entstalinisierung nach 1956 verabschiedete sich der Kommunismus von der Vision

eines eigenen Weges in die Moderne. Unter Nikita Chruščev wurden die USA wieder zum

wirtschaftlichen Vorbild, das es zu übertrumpfen galt. Die Zielsetzung beschränkte sich

darauf, das amerikanische Konsum- und Wohlstandsversprechen nachzuahmen. Über einen

Gegenentwurf verfügte der sowjetische Block damit nicht mehr und in der offiziellen

Ablehnung der amerikanischen Popkultur, die seit den 1950er Jahren in Europa große Erfolge

feierte, reproduzierte man vornehmlich die Topoi konservativer Kulturkritik.

Gegen Ende des Kalten Krieges, besonders in den

frühen Jahren der Reagan-Administration, breitete sich eine Kultur der Äquidistanz zu beiden

Supermächten in Europa aus. Die antiamerikanischen Diskurse der Friedensbewegung waren

einerseits mit fundamentaler Kritik an der Moderne, andererseits mit nationalen Motiven

verbunden.

51

Währenddessen machte die Amerikanisierung der Lebensstile vor den Ländern des Ostblocks

nicht halt. So begann eine Annäherung durch Konsum- und Popkultur bereits vor der

Entspannungspolitik.52

„Amerikanisierung“ ist ein Paradigma zur Erklärung westeuropäischer

Nachkriegsgeschichte.

Die Frage, in welchem Umfang diese kulturellen

Westernisierungsprozesse zum Zusammenbruch der kommunistischen Regime beigetragen

haben, ist noch nicht untersucht. In vergleichender Perspektive zeigt sich allerdings, dass es

modernen Diktaturen nicht gelang, sich vom Einfluss Amerikas abzuschotten. Im

Nationalsozialismus, in der UdSSR und in den Parteistaaten Ostmitteleuropas entstanden

eigen-sinnige Jugendkulturen, die sich trotz staatlicher Sanktionen an amerikanischen Idolen

orientieren.

53

50 Vgl. den Beitrag von Philipp Gassert in diesem Band. Vgl. auch Michael Ploetz/Hans-Peter Müller, Ferngelenkte Friedensbewegung? DDR und UdSSR im Kampf gegen den NATO-Doppelbeschluss, Münster 2004.

Nach 1945 blieben die USA in Europa; sie waren nun nicht mehr nur

kulturell und ökonomisch, sondern auch militärisch eine europäische Macht, die als

51 Vgl. am Beispiel der DDR Uta G. Poiger, Jazz, Rock and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkeley, Cal. 2000, S. 168-205. Vgl. mit Beiträgen zu Deutschland, England und Frankreich Ursula Lehmkuhl/Stefanie Schneider/Frank Schumacher (Hrsg.), Kulturtransfer und Kalter Krieg: Westeuropa als Bühne und Akteur im Amerikanisierungsprozess, Erfurt 2000. 52 Vgl. am Beispiel der Jeans in der DDR Rebecca Menzel, Jeans in der DDR. Vom tieferen Sinn einer Freizeithose, Berlin 2004. 53 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Dimensionen von Amerikanisierung in der deutschen Gesellschaft, in: AfS 35 (1995), S. 1-33; und die Beiträge in Konrad Jarausch/Hannes Siegrist (Hrsg.), Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945–1970, Frankfurt/Main 1997.

17

Besatzungsmacht insbesondere in Deutschland und Italien gestaltend eingriff.54 Über die

Sphäre des Politischen hinaus prägten amerikanische Einflüsse die junge Bundesrepublik.55

Eine zweite Welle der Amerikanisierung erfasste auch die Wirtschaft.56 Die neue politische

Konstellation zwang die USA, im Kalten Krieg um europäische Loyalität zu werben. Sie

führte jedoch auch dazu, dass westeuropäische Amerikakritiker ihre Positionen überdachten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war sich die amerikanische Regierung darüber bewusst, dass

unter den europäischen Eliten ein tief verankertes Misstrauen gegenüber amerikanischer

Kultur und Lebensart weit verbreitet war. Auf verschiedenen Kanälen versuchte sie, diesen

Einstellungen entgegenzuwirken.57 In der Bundesrepublik Deutschland konzentrierten sich

die USA dabei nicht nur auf eine junge Elite, die amerikanische Hochschulen kennen lernen

sollte, sondern versuchten auch die Intellektuellen, die Gewerkschaften oder das

protestantische Bildungsbürgertum zu erreichen.58 Ähnliche Anstrengungen zur

Beeinflussung der politischen Kultur wurden auch in Italien unternommen.59 Über nationale

Grenzen hinweg blieb die Distanz zur amerikanischen Popkultur für die Eliten und die ältere

Generation charakteristisch. In der jüngeren Generation dagegen setzte sich die Aneignung

der amerikanischen Populärkultur fort; sie wurde in der Bundesrepublik in den 1950er Jahren

zum zentralen Bezugspunkt einer Nachkriegsgeneration, die in Habitus und Kulturkonsum

amerikanischen Vorbildern nacheiferte.60

Diejenigen Eliten, die in der Zwischenkriegszeit antiwestliche Positionen bezogen hatten,

ließen sich in der Regel von diesen Werbungsversuchen nicht beeindrucken. So hielten die

Mitglieder des „Tatkreises“ auch in den 1950er Jahren an Positionen fest, die sie bereits in der

Weimarer Republik vertreten hatten. Unter den „Sachzwängen“ des Kalten Krieges verloren

viele antiamerikanische Ressentiments jedoch ihre Überzeugungskraft. Die sowjetische

54 Für eine politikgeschichtliche Perspektive auf Westeuropa nach 1945 vgl. Peter Duignan/L.H. Gann, The Rebirth of the West. The Americanization of the Democratic World, Cambridge, Mass. 1992. 55 Vgl. die Beiträge in Heinz Bude/Bernd Greiner (Hrsg.), Westbindungen. Amerika in der Bundesrepublik, Hamburg 1999. 56 Volker R. Berghahn, The Americanisation of West German Industry, Leamington Spa 1986. 57 Vgl. hierzu Maritta Hein-Kremer, Die amerikanische Kulturoffensive. Gründung und Entwicklung der amerikanischen Informationscenters in Westdeutschland und West-Berlin 1945–1955, Köln etc. 1996; Volker R. Berghahn, Transatlantische Kulturkriege. Shephard Stone, die Ford-Stiftung und der europäische Antiamerikanismus, Stuttgart 2004; Axel Schildt, Die USA als „Kulturnation“. Zur Bedeutung der Amerikahäuser in den 1950er Jahren, in: Alf Lüdtke/Inge Marßolek/Addelheid von Saldern (Hrsg.), Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1996, S. 257-269. 58 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 71-118. 59 Vgl. den Beitrag von David W. Ellwood. 60 Kaspar Maase, Bravo Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, Hamburg 1992.

18

Bedrohung wirkte gemeinschaftsstiftend. Während das militärische Bündnis mit den USA

akzeptiert wurde und die deutschen Konservativen auch nicht mehr darauf beharrten, eine

„deutsche Ordnung“ zum Gegenentwurf der westlichen Moderne zu stilisieren, blieb eine

habituelle Distanz zu den Vereinigten Staaten ein Kennzeichen dieses Milieus.61 Eine andere,

transnationale Spielart des Antiamerikanismus vertraten die christlich-katholischen

„Abendländer“, die zwar das transatlantische Bündnis akzeptieren, den pluralistischen

Ordnungsvorstellungen der USA jedoch das Modell eines autoritären, organischen Staates

entgegenhielten, den sie z.B. im Spanien der Francodiktatur verwirklicht sahen.62 Im

Unterschied zur frühen Bundesrepublik, wo prononcierter Antiamerikanismus besonders das

rechte Spektrum kennzeichnete, zog sich die Ablehnung Amerikas in Frankreich durch alle

politischen Lager.63

In der Bundesrepublik hingegen entwickelte sich ein linker Antiamerikanismus erst im

Zuge der Studentenbewegung, der Proteste gegen den Vietnamkrieg und der Formierung der

Neuen Linken.

Insbesondere ein Bewusstsein kultureller Überlegenheit bildete einen

festen Bestandteil der französischen Identität, auf die alle politischen Parteien rekurrieren

konnten. Diese Diskurse und Haltungen beeinflussten die gesellschaftliche Entwicklung

jedoch nur am Rande: Die Ära de Gaulle war zugleich ein Zeitalter der Amerikanisierung.

64 In diesen Protestbewegungen überschnitten sich Ablehnung und Annahme

amerikanischer Handlungsweisen. Der Blick auf die Neue Linke verdeutlicht außerdem, wie

sehr die USA als Projektionsfläche für die Probleme mit der eigenen Vergangenheit dienten.

Durch die Wiederholung des Faschismusvorwurfs gelang es, von der eigenen Geschichte

abzulenken. Doch die Moderne-Kritik der 68er-Generation war kein deutsches, sondern ein

transnationales Phänomen. Die Kritik an der amerikanischen Außenpolitik vereinte eine junge

Generation zwischen Berkeley, Paris und West-Berlin.65

61 Vgl. den Beitrag von Marcus M. Payk.

Weitere Forschungen müssen

zeigen, ob von der 68er-Bewegung in Deutschland und anderswo eine antiwestliche

Modernekritik ausging und wie sie gezähmt wurde.

62 Vgl. den Beitrag von Vanessa Conze. 63 Vgl. den Beitrag von Richard Kuisel in diesem Band. Siehe auch Richard Kuisel, Seducing the French: Dilemmas of Americanization, Berkeley 1993. Eine umfassende Ideengeschichte des französischen Antiamerikanismus seit der Aufklärung liefert Philippe Roger, L’ennemi américain. Généalogie de l’antiaméricanisme français, Paris 2002. 64 Vgl. den Beitrag von Philipp Gassert. 65 Für eine Interpretation der 68er als transnationale soziale Bewegung vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung. Deutschland, Westeuropa, USA, München 2001. Vgl. auch die Beiträge in dies. (Hrsg.), 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998. Zum Antiamerikanismus der Linken und neuer sozialer Bewegungen Michael Hahn (Hrsg.), Nichts gegen Amerika. Linker Antiamerikanismus und seine lange Geschichte, Hamburg 2003.

19

Der Blick auf Europa im 20. Jahrhundert zeigt, wie anpassungsfähig und weit verbreitet

antiamerikanische Ideologeme sind. Man findet sie links und rechts, in Ost und West. Der

Antiamerikanismus gleicht einem Chamäleon, das sich vielen lokalen Umständen anzupassen

vermag. Wo er sich einmal etabliert hat, prägt er über lange Zeiträume die politische Kultur

und kann in Krisenzeiten reaktiviert werden. Zugleich sollte man jedoch betonen, dass der

eigentlich wirkungsmächtige Faktor auch im 20. Jahrhundert die Faszination war, die von

Amerika ausging. Die Anziehungskraft Amerikas war so stark, dass moderne Diktaturen es

nicht vermochten, sich von ihr abzuschirmen. Dies sollte eine Analyse der europäischen

Antiamerikanismen im Auge behalten. Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert ist nur im

ständigen Wechselspiel mit Amerikanisierung und im Verhältnis zur kulturellen und

ökonomischen Strahlkraft der USA zu erklären und zu verstehen.

Die vergleichende Perspektive zeigt, wie sich die einzelnen Antiamerikanismen

gegenseitig beeinflussten und sich politische Gegner aus dem Stereotypenreservoir der jeweils

anderen Seite bedienten. In Demokratien und Diktaturen setzte man sich mit der Moderne

auseinander; dementsprechend fanden sich ambivalente Amerikabilder. Der entgrenzte

Antiamerikanismus moderner Diktaturen bediente sich der Topoi einer bürgerlichen

Amerikakritik und ging zugleich weit darüber hinaus. Er bildete die radikalste Spielart des

antiamerikanischen Ideologems: Kulturkritik wurde zu Hasspropaganda. Zugleich zeigt der

vorliegende Band, dass Antiamerikanismus nicht in jedem Kontext herrschaftsstabilisierend

eingesetzt werden konnte: Wo er wie in Polen oder Ungarn kaum Anknüpfungspunkte in der

politischen Kultur fand, da spielten andere Feindbilder eine gewichtigere Rolle.

Bilanzierend gilt es jedoch auch festzuhalten, dass die zeithistorische Forschung Prozesse

des Kultur- und Ideologietransfers noch zu wenig versteht. Es handelt sich schließlich nicht

nur um gegenseitige Ansteckung oder Imitation. In den jeweils unterschiedlichen historischen

Kontexten produzierten die Akteure in einem Wechselspiel von Aneignung und Erfindung

ihre Weltsichten und verwandten dabei das Ideologem des Antiamerikanismus auf ihre Weise.

Die hier behandelten Beispiele zeigen, dass Trägergruppen und Wirkungsmächtigkeit stark

differierten. Den Metamorphosen antiamerikanischen Denkens sollten Zeithistoriker weiter

nachspüren. Die Suche nach dem „Anderen“, der für die Pathologien der modernen Welt die

Verantwortung trägt, zog sich durch das europäische 20. Jahrhundert. Hier bot sich Amerika

als Projektionsfläche derjenigen an, die eine liberale Moderne ablehnten.

20

9-11 und das amerikanische Imperium: Konturen des Amerikadiskurses im 21. Jahrhundert

Als sich das britische Weltreich im 18. Jahrhundert auf dem Höhepunkt seiner Macht befand,

prophezeite der Philosoph George Berkeley eine transatlantische translatio imperii.

„Westward the course of empire takes its way“, schrieb er bereits 1752.66 Nach dem Ende des

globalen Machtkampfes mit der Sowjetunion und vor dem Hintergrund der militärischen,

wirtschaftlichen und kulturellen Macht der Vereinigten Staaten haben seine Worte im 21.

Jahrhundert neue Aktualität gewonnen. Seit der Zeitenwende von 1989/91 wird vielfach die

These vertreten, die USA seien kein gewöhnlicher Nationalstaat mehr und auch keine

Supermacht, sondern ein globales Imperium.67

„Die weltpolitische Legitimationsideologie der Imperien provoziert starke Reaktionen, vor allem an der Peripherie und jenseits der imperialen Grenzen. In ganz anderer Weise als Staaten sind Imperien das Objekt von Bewunderung und Feindschaft. […] Daß die USA weltweit proamerikanische wie antiamerikanische Stellungnahmen provozieren, ist nichts Neues, sondern ein die Geschichte sämtlicher Imperien begleitendes Phänomen.“

Die amerikanische Rolle als globale

Ordnungsmacht wirkt sich auch auf das Amerikabild unserer Zeit aus. Der Politologe Herfried

Münkler, der dazu aufruft, die Rolle der USA an ihren Leistungen als Imperium zu messen,

regt dazu an, den Antiamerikanismus vor dem Hintergrund ihrer Ausnahmestellung zu

verstehen:

68

Dieser Band jedoch verweist darauf, dass der Antiamerikanismus älter ist als das

amerikanische Imperium, doch die „imperiale“ Ausnahmestellung der Vereinigten Staaten

sollte keinen Freibrief für Antiamerikanismus bedeuten. Vielmehr stellt sich für Historiker

zukünftig die Frage, inwieweit man von einer Kontinuität des klassischen Antiamerikanismus

sprechen kann – oder haben wir es nach dem Ende des Kalten Krieges mit einem neuen

Phänomen zu tun?

66 George Berkeley, On the Prospect of Planting Arts and Learning in America, 1752. 67 Vgl. zur Debatte über das amerikanische Imperium die Beiträge in Ulrich Beck/Natan Sznaider (Hrsg.), Empire Amerika. Perspektiven einer neuen Weltordnung, München 2003. Im diachronen Vergleich zum römischen Reich anregend Peter Bender, Weltmacht Amerika. Das neue Rom, Stuttgart 2003. Siehe auch affirmativ zur amerikanischen Machtstellung Niall Ferguson, Das verleugnete Imperium. Chancen und Risiken amerikanischer Macht, Berlin 2004, der eine positive Deutung angelsächsischer imperialer Ordnung zu Grunde legt. Ähnlich argumentiert Lothar Rühl, Das Reich des Guten. Machtpolitik und globale Strategie Amerikas, Stuttgart 2005. 68 Vgl. Herfried Münkler, Das Prinzip Empire, in: Ulrich Speck/Nathan Sznaider (Hrsg.), Empire Amerika. Perspektiven einer neuen Weltordnung, München 2003, S. 104-125, Zitat S. 111.

21

Um die Gemengelage besser zu verstehen, ist hier eine historische Kontextualisierung

hilfreich. Das Ende der klassischen Moderne und des Kalten Krieges führten zu einer neuen

Beziehung zwischen Amerika und Europa. Diese Entwicklung zeichnete sich bereits seit den

1970er Jahren ab, zu einer Zeit also, als die Gewissheiten des Kalten Krieges erschüttert

wurden, die europäische Integration fortschritt und das enge transatlantische Bündnis zu

erodieren begann. Die öffentliche Debatte über das transatlantische Verhältnis gewann nach

1989 an Fahrt. Insbesondere aber seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 und dem

Beginn des von den USA geführten War on Terror reißt die Diskussion nicht mehr ab. Einiges

spricht dafür, mit dem Ende des 20. Jahrhunderts auch von einer neuen Phase des

Antiamerikanismus zu sprechen.69

Seit dem Ende des Kalten Krieges ist eine neue Entfremdung zwischen den USA und

Westeuropa zu beobachten. In zentralen Politikfeldern wählen Europäer und Amerikaner

unterschiedliche Lösungswege. Zu diesen transatlantischen Differenzen gehören die Rolle der

Religion im öffentlichen Leben, die Einstellung zur Gewalt in den Medien, die Autorität

multinationaler Institutionen, der Umweltschutz, das Gewicht des Sozialstaates und

schließlich vor allem die Frage, wann es für demokratische Staaten legitim ist, Krieg zu

führen.

Zwar ist mit Herfried Münkler zu betonen, dass sich die

geopolitischen Gewichte beträchtlich verschoben haben, doch gilt es neben dieser

Veränderung auch auf die Kontinuität wirtschaftlicher und kultureller

Amerikanisierungsprozesse zu verweisen, die zur jeweiligen politischen Situation nur in einer

lockeren Beziehung stehen. Längst betreffen diese Prozesse auch nicht mehr nur Europa. Wer

im 21. Jahrhundert über Amerikanisierung sprechen will, der muss globale Geschichte

betreiben.

70 Diese Konfliktpunkte werden auch von amerikanischen Autoren hervorgehoben –

und zwar sowohl von Konservativen als auch von Vertretern des liberalen Lagers.71

69 Diese These vertritt Andrei S. Markovits in diesem Band. Vgl. auch ders., Amerika, Dich haßt sich’s besser, Antiamerikanismus und Antisemitismus in Europa, Hamburg 2004. Siehe auch die Beiträge in Rudolf von Thadden/Alexandre Escudier (Hrsg.), Amerika und Europa – Mars und Venus? Das Bild Amerikas in Europa, Göttingen, 2004. Die Diskussion über Amerika und die Zukunft des Westens begann bereits deutlich vor dem 11. September 2001. Vgl. z.B. die Beiträge in Merkur 54 (2000), H. 9/10 zum Thema „Europa oder Amerika? Zur Zukunft des Westens.“ Siehe auch aus französischer Perspektive zur jüngsten Zeit Jean-François Revel, L’obsession anti-américaine. Son fonctionnement, ses causes, ses inconséquences, Paris 2002.

In den

USA gibt es zudem einen Trend zur Kritik an den imperialen Verstrickungen der eigenen

70 Konrad H. Jarausch, Drifting Apart: Cultural Dimensions of the Transatlantic Enstrangement, unveröffentlichtes Arbeitspapier, 2005. 71 Vgl. von konservativer Seite Robert Kagan, Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung, Berlin 2003; aus dezidiert liberaler Perspektive Jeremy Riffkin, Der europäische Traum. Die Vision einer leisen Supermacht, Frankfurt/Main 2004.

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Nation.72 Andererseits führen verschiedene amerikanische Autoren auch Klage über die

Ungerechtigkeit, die Heuchelei und den Zynismus einer von ihnen wahrgenommenen neuen

Welle der Amerikafeindschaft.73 Dabei ersetzt die Empörung mitunter die Analyse. Der Trend

zur transatlantischen Entfremdung hat neue, eigentümliche Allianzen hervorgebracht:

Während europäische Konservative und amerikanische Liberale versuchen, die

transatlantischen Bindungen aufrecht zu erhalten, setzen sich europäische Linke und

amerikanische Konservative für mehr Distanz zwischen den Kontinenten ein. Timothy Garton

Ash hingegen hält an der Vision von der einen westlichen Welt fest und versucht zu

vermitteln, indem er auf verbindende Werte, geteilte Geschichte und gemeinsame

Herausforderungen verweist.74

Der kommerzielle Erfolg amerikakritischer bis antiamerikanischer Schriften und Filme

erlaubt es, von einem populistischen Antiamerikanismus in Europa zu sprechen, in dem

legitime Kritik an amerikanischer Politik mit eindimensionalen Erklärungen oder

Verschwörungstheorien zu einem simplifizierenden Weltbild verschmolzen wird.

Heute ist unklar, in welche Richtung sich die Beziehungen

zwischen Amerika und Europa entwickeln werden. Deutlich ist jedoch, dass die

Argumentation und die Motive auf beiden Seiten durch einen Blick auf die Geschichte des

Antiamerikanismus besser verständlich werden.

75

72 Vgl. z.B. Benjamin R. Barber, Imperium der Angst. Die USA und die Neuordnung der Welt, München 2003; Michael Mann, Die ohnmächtige Supermacht. Warum die USA die Welt nicht regieren können, Frankfurt/Main etc. 2003.

Eine

unmotivierte Amerikakritik, die sich im Feuilleton, im Wirtschafts- oder auch im Sportteil der

europäischen Tageszeitungen finden lässt, hat Andrei S. Markovits als „Überschuss-

Antiamerikanismus“ bezeichnet. In ihm werden die zu festen Topoi geronnenen Vorurteile

unreflektiert in verschiedensten Kontexten reproduziert. Dieser Antiamerikanismus hat zum

Ziel, eine vermeintliche europäische Überlegenheit diskursiv zu reproduzieren. Ob man

jedoch von einer eingewurzelten Amerikafeindschaft der europäischen Bevölkerung sprechen

kann, wäre ebenso näher zu untersuchen wie die Frage, inwieweit Distanz zu den USA zu

einem Teil einer „europäischen Identität“ geworden ist. Hier gilt es zu beachten, dass eben

73 Vgl. z.B. Fouad Ajami, The Falseness of Anti-Americanism, in: Foreign Policy 138 (2002), S. 53-61; Dmitry Shlapentokh, The New Anti-Americanism: America as an Orwellian Society, in: Partisan Review 69 (2002), S. 263-271. 74 Timothy Garton Ash, Freie Welt. Europa, Amerika und die Chancen der Krise, München etc. 2004. 75 Die Zahl populärer amerikakritischer Titel ist Legion. Häufig liegt ihnen eine Erzählung vom Niedergang der USA zugrunde. Vgl. als pars pro toto Emanuel Todd, Weltmacht USA. Ein Nachruf, München 2003. Vgl. auch Peter Scowen, USA. Ein Schwarzbuch, München 2004. Mit deutlich antiamerikanischer Tendenz bspw. Eric Frey, Schwarzbuch USA, Berlin 2004; Wilhelm Dietl, Schwarzbuch Weißes Haus. Außenpolitik mit dem Sturmgewehr, Erftstadt 2004.

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nicht nur antiamerikanische, sondern auch konventionelle US-Popkultur weiterhin erfolgreich

ist. Der gemeinsame Nenner ist immer noch das Faszinosum Amerika, dass im Positiven wie

im Negativen ungebrochen erscheint.

Schließlich verweisen die Diskurse über die Rolle Amerikas in der Welt wiederum auf

Prozesse, die außerhalb der USA ablaufen. Hier ließen sich beispielsweise die europäische

Einigung, aber auch die Modernisierungskrise in der arabisch-islamischen Welt nennen. So ist

es eine offene Frage, inwieweit die Europäische Union die Kritik an den Vereinigten Staaten

bzw. den Antiamerikanismus als Integrationsideologie benötigt oder ob in der Bevölkerung

der arabischen Welt die Faszination für oder die Ablehnung der USA die dominierende

Gefühlhaltung darstellen. Aus historischer Perspektive ist grundlegende Kritik an den USA

nicht mit dem klassischen Antiamerikanismus gleichzusetzen: Jürgen Habermas und andere

europäische Intellektuelle sehen in der Abgrenzung von den Vereinigten Staaten, denen

vorgeworfen wird, sich von den westlichen Werten zu entfernen, die Basis für ein

europäisches Gegenprojekt.76

Ist der Antiamerikanismus die lingua franca an den Peripherien der Globalisierung

zwischen Sao Paulo und Kairo, zwischen Riad und Seoul? Was wir klassischen oder

entgrenzten Antiamerikanismus nennen, die radikale Ablehnung einer westlich-liberalen

Moderne, ist in Europa ein randständiger Diskurs. Antiamerikanismus ist zwar weiterhin ein

Bestandteil europäischer Nationalismen, und in Zeiten der Unsicherheit dienen die USA als

Projektionsfläche kollektiver Ängste, um einfache Erklärungen für die Pathologien einer

komplexen Welt zu finden. Um radikale Gegenentwürfe zur liberalen Gesellschaft handelt es

sich dabei jedoch in aller Regel nicht. Der klassische Antiamerikanismus hat sich nach Süden,

Da es sich hierbei jedoch weder um einen antiliberalen noch um

einen antimodernen Diskurs handelt, ist es nicht angebracht, von Antiamerikanismus zu

sprechen. Vielmehr handelt es sich um einen Streit um den besseren Weg für freie

Gesellschaften. Im Unterschied zum 20. Jahrhundert wird die westliche Moderne aus Europa

heraus nicht mehr bekämpft; vielmehr haben die europäischen Gesellschaften sie sich – nicht

zuletzt unter amerikanischem Druck – angeeignet und bestreiten nun, dass die USA noch ein

verbindliches Vorbild seien. Die Europäer versuchen gewissermaßen, die besseren

Amerikaner zu sein. Doch auch daran wird deutlich, dass europäische Identität im 21.

Jahrhundert ihr Gegenüber immer noch häufig in den USA sucht.

76 Vgl. Jürgen Habermas, Der gespaltene Westen, Frankfurt/Main 2004.

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insbesondere in den Krisengürtel zwischen Nordafrika und dem Nahen Osten verlagert.77 Die

islamische Revolution im Iran bildete hier das Fanal eines neuen entgrenzten

Antiamerikanismus, der bis heute für den fundamentalistischen Islam kennzeichnend ist. In

dieser Krisenregion, aber auch in Europa wird außerdem deutlich, dass weiterhin eine enge

Wahlverwandtschaft zwischen Antiamerikanismus und Antisemitismus besteht.78

Vor allem was den Antiamerikanismus im 21. Jahrhundert betrifft, wirft der hier

vorgelegte historische Band mehr Fragen auf, als er zu beantworten vermag. Deutlich

erkennbar ist, dass wir es auf globaler Ebene mit einem Wechselspiel von Faszination und

Feindschaft zu tun haben, dem sich selbst die erklärten Feinde Amerikas – ganz gleich

welcher Provenienz – nicht entziehen können. Längst schätzen auch sie amerikanische

Populärkultur, Ästhetik oder Technik. Amerika ist the only game in town. Dennoch ist die

Aneignung amerikanischer Kultur kein linearer Prozess. Wie schon im 20. Jahrhundert

bedeutet sie die Entstehung immer neuer Hybride. Das gilt für Neonazis, die sich

vorzugsweise in amerikanischen Bomberjacken kleiden ebenso wie für den

Nachrichtensender Al-Jazeera, der sich ästhetisch am Vorbild CNN ausrichtet. Wo auf der

Ebene der Repräsentationen globale Uniformität herrscht, rücken Werte und Ideen wieder ins

Zentrum der Aufmerksamkeit. Wie über das Imperium Amerika geredet wird, kann zu einem

Gradmesser für die Zivilität der eigenen Gesellschaft werden. Weniger Militanz und

Emotionalität und eine stärkere Annäherung an die von Tocqueville begründete Tradition

eines kritischen Amerikadiskurses wären für Europa wünschenswert.

Eine

Ideengeschichte, die den Transfer dieser Ideologeme von Europa in andere Erdteile behandelt,

ist ein wichtiges Desiderat zukünftiger Forschung. Im Nahen Osten findet sich mit Blick auf

die USA eine explosive Mixtur aus Feindschaft und Faszination, die man vielleicht mit dem

instabilen Europa der Zwischenkriegszeit vergleichen könnte. Der Rückblick auf Europa im

20. Jahrhundert und der Blick auf den heutigen Nahen Osten führen zu der Frage, ob das

Ideologem Antiamerikanismus insbesondere für Länder attraktiv ist, die sich in tiefgreifenden

Modernisierungskrisen befinden.

Die Debatte über die westliche Moderne lässt sich nicht beenden. Für Historiker bleibt die

Hoffnung, dass eine kritische Öffentlichkeit und eine historische fundierte Politikwissenschaft

77 Vgl. als Überblick zu antiwestlichem Denken und seiner Verbreitung Ian Buruma/Avishai Margalit, Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde, München 2005. 78 Vgl. den Beitrag von Andrei S. Markovits und die Aufsätze in Doron Rabinovici/Ulrich Speck/Natan Sznaider (Hrsg.), Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte, Frankfurt/Main 2004.

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sich der Fragen des begonnen Jahrhunderts annehmen. Welche Amerikakritik brauchen wir?

Wie redet man im 21. Jahrhundert über politische und kulturelle Hegemonie? Hat der

Antiamerikanismus seine Zukunft hinter sich?

Danksagung

Ohne die tatkräftige Hilfe und großzügige Unterstützung zahlreicher Personen und

Institutionen hätte dieser Band nicht realisiert werden können. Die Herausgeber danken allen

Amerikanern und Europäern, die uns seit dem Frühjahr 2001 in verschiedenen Projektphasen

ermuntert, unterstützt und kritisiert haben.

Unser besonderer Dank gilt dem Deutschen Historischen Institut in Washington, DC, das

im Juli 2001 einen ersten Workshop in der amerikanischen Hauptstadt ermöglichte.79 Die

Fortsetzung der Diskussion fand im Dezember 2002 auf einer Tagung im Centre Marc Bloch,

Berlin, statt.80

Schließlich gilt unser herzlicher Dank Dieter Dowe und Michael Schneider von der

Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn, für die Aufnahme dieses Bandes in ihre Reihe Politik- und

Gesellschaftsgeschichte. Das umsichtige Lektorat besorgte Christoph Kalter, Berlin. Ihm sind

Wir danken unseren französischen Kollegen – insbesondere unserem Freund

Gábor T. Rittersporn – für die Gastfreundschaft am Schiffbauerdamm und dem Zentrum für

Zeithistorische Forschung, Potsdam, für institutionelle Unterstützung von deutscher Seite. Die

freigiebige Förderung durch die Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, Hamburg, und die

Checkpoint Charlie Stiftung, Berlin, war uns eine große Hilfe bei der Durchführung des

Berliner Workshops. Allen Referenten, Kommentatoren und Diskutanten sei an dieser Stelle

herzlich gedankt. Auf der anregenden Abschlussdiskussion im Centre Marc Bloch stritten

Ingrid Gilcher-Holtey (Bielefeld), Ulrich Herbert (Freiburg) und Konrad H. Jarausch (Chapel

Hill/Potsdam), der unser „antiamerikanisches“ Projekt seit seinem Entstehen wohlwollend

begleitet hat, mit uns über Antiamerikanismus. Von ihren Denkanstößen haben wir auf

vielfältige Weise profitiert. Für die Möglichkeit, den Ansatz und die Thesen des Bandes im

Frühjahr 2005 unter Kollegen zu diskutieren, danken wir dem Zentrum für Zeithistorische

Forschung und dem Wissenschaftszentrum Berlin, Forschungsgruppe Zivilgesellschaft,

Citizenship und politische Mobilisierung in Europa.

79 Patrice G. Poutrus, Anti-Americanism in the Twentieth Century, in: Bulletin of the German Historical Institute 30 (2002), S. 164-168. 80 Vgl. www.hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=197

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wir ebenso wie Michael Schneider für ihre kritische Lektüre und produktiven Hinweise

dankbar. Alle verbleibenden Unzulänglichkeiten fallen allein auf die Herausgeber zurück.

Berlin und Potsdam, im April 2005

Jan C. Behrends

Árpád von Klimó

Patrice G. Poutrus