Review: Francia et Germania. Studies in Strengleikar and Þiðreks saga af Bern, edited by Karl G....

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Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur (ZfdA) Band 143 • Heft 3 • 2014 – © S. Hirzel Verlag, Stuttgart Rezensionen MAXIMILIAN BENZ, Gesicht und Schrift. Die Erzählung von Jenseitsreisen in Antike und Mittelalter (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 78 [312]), Berlin/Boston 2013. Walter de Gruyter Verlag, X, 307 S., ISBN 978- 3-11-030932-4, EUR 89,95 Wie spricht man vom Unerfahrenen und Unerfahrbaren, vom Himmel, von der Hölle, vom Fegefeuer oder wie immer man die zu Lebzeiten nicht wahrnehmbaren ‘Ander- welten’ bezeichnen soll? Was geschieht mit dem Menschen nach seinem Tod? Auf diese (für viele immer noch) existenzielle Frage gibt die Bibel keine Antwort. Die Berliner Dissertation (HU, Philosophische Fakultät II) von MAXIMILIAN BENZ lässt sich auf das Wagnis ein, “fremd gewordenen Erzählungen” (S. VII) von Jenseitsreisen und Jenseits- “Erfahrungen” unter einer mittlerweile vertraut gewordenen Leitfrage nachzugehen. Fremd geworden oder vielleicht auch vielen (Philologen) fremd geblieben sind manche der Texte: frühjüdische Erzählungen, Apokryphen aus auch sprachlich fernen Welten, aus der nicht-paganen, jüdisch-frühchristlichen Antike, sodann christliche Jenseits- vorstellungen aus der Spätantike und dem Früh- und Hochmittelalter, die bis in die Frühe Neuzeit weiterwirken. Geradezu emphatisch erinnert BENZ (S. 12) daran, wie wichtig es für die philologisch-germanistische Mediävistik ist, volkssprachige Texte in Kenntnis der lateinischen Überlieferung zu analysieren. Vertraut ist Philologen die Fragestellung nach der Narration: der Erzähltechnik, den Strukturen und Funktionsweisen des Erzählens, den Erzählstrategien und ihrer Erkenntnisleistung für die Gattungsfrage, die Rezeption und die Nachwirkung, um nur einiges zu nennen. BENZ arbeitet somit an der Schnitt- stelle zwischen lateinischer Philologie, germanistischer Mediävistik und interdisziplinär arbeitender literaturwissenschaftlicher Narrationsforschung. Ein kurzes Einführungskapitel (‘Introitus ad libitum’, S. 1-12) bietet erste Überlegungen zur Problemstellung: Jenseitsvorstellungen, die vernünftigerweise nicht als haltlose Spekulationen abgetan werden dürfen, konkretisieren sich “geradezu programmatisch” in Erzählungen von Jenseitsreisen mit einer räumlich gedachten “Jenseitstopographie” (S. 3 und 2); die Grundstruktur dieser Reisen ist schnell beschrieben: “Eine Figur – es kann ein Heiliger, aber auch ein Sünder sein – verlässt freiwillig oder unfreiwillig diese Welt und bewegt sich in Ekstase oder ‘in corpore’ durch das zuallererst räumlich organisierte Jenseits, durch das er zumindest teilweise von einem Engel geführt wird. Dieser Engel deutet dem Jenseitsreisenden, was er wahrnimmt, und das heißt vor allem: was er sieht, damit er all dies nach seiner Rückkehr im Diesseits erzählen kann” (S. 3). Das Problem ist nun, wie die Jenseitserfahrung des vor dem eigenen Tod Unerfahrbaren narrativ um- gesetzt wird, wie die Vision (das “Gesicht” im Buchtitel) verschriftlicht werden kann. Das Verhältnis von Gesicht und Schrift reflektiert BENZ aber noch pointierter: Es geht ihm nicht um das Ergebnis, sondern um den Prozess der Verschriftlichung: “Das Gesicht [...] muss [...] letztlich immer in Schrift [...] überführt werden”; aufgrund unterschiedlicher “Aufschreibesituationen” der Texte müsse “die Fragestellung dieser Arbeit zwischen Gesicht und Schrift 1 formuliert werden, da nur diese beiden Ebenen allen behandelten Texten gemeinsam sind”; dabei gehe es “allerdings nicht um Fragen der 1 Meine Hervorhebung. Das wäre dann der noch treffendere Buchtitel gewesen. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2014

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MAXIMILIAN BENZ, Gesicht und Schrift. Die Erzählung von Jenseitsreisen in Antike und Mittelalter (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 78 [312]), Berlin/Boston 2013. Walter de Gruyter Verlag, X, 307 S., ISBN 978-3-11-030932-4, EUR 89,95

Wie spricht man vom Unerfahrenen und Unerfahrbaren, vom Himmel, von der Hölle, vom Fegefeuer oder wie immer man die zu Lebzeiten nicht wahrnehmbaren ‘Ander-welten’ bezeichnen soll? Was geschieht mit dem Menschen nach seinem Tod? Auf diese (für viele immer noch) existenzielle Frage gibt die Bibel keine Antwort. Die Berliner Dissertation (HU, Philosophische Fakultät II) von MAXIMILIAN BENZ lässt sich auf das Wagnis ein, “fremd gewordenen Erzählungen” (S. VII) von Jenseitsreisen und Jenseits- “Erfahrungen” unter einer mittlerweile vertraut gewordenen Leitfrage nachzugehen. Fremd geworden oder vielleicht auch vielen (Philologen) fremd geblieben sind manche der Texte: frühjüdische Erzählungen, Apokryphen aus auch sprachlich fernen Welten, aus der nicht-paganen, jüdisch-frühchristlichen Antike, sodann christliche Jenseits-vorstellungen aus der Spätantike und dem Früh- und Hochmittelalter, die bis in die Frühe Neuzeit weiterwirken. Geradezu emphatisch erinnert BENZ (S. 12) daran, wie wichtig es für die philologisch-germanistische Mediävistik ist, volkssprachige Texte in Kenntnis der lateinischen Überlieferung zu analysieren. Vertraut ist Philologen die Fragestellung nach der Narration: der Erzähltechnik, den Strukturen und Funktionsweisen des Erzählens, den Erzählstrategien und ihrer Erkenntnisleistung für die Gattungsfrage, die Rezeption und die Nachwirkung, um nur einiges zu nennen. BENZ arbeitet somit an der Schnitt-stelle zwischen lateinischer Philologie, germanistischer Mediävistik und interdisziplinär arbeitender literaturwissenschaftlicher Narrationsforschung. Ein kurzes Einführungskapitel (‘Introitus ad libitum’, S. 1-12) bietet erste Überlegungen zur Problemstellung: Jenseitsvorstellungen, die vernünftigerweise nicht als haltlose Spekulationen abgetan werden dürfen, konkretisieren sich “geradezu programmatisch” in Erzählungen von Jenseitsreisen mit einer räumlich gedachten “Jenseitstopographie” (S. 3 und 2); die Grundstruktur dieser Reisen ist schnell beschrieben: “Eine Figur – es kann ein Heiliger, aber auch ein Sünder sein – verlässt freiwillig oder unfreiwillig diese Welt und bewegt sich in Ekstase oder ‘in corpore’ durch das zuallererst räumlich organisierte Jenseits, durch das er zumindest teilweise von einem Engel geführt wird. Dieser Engel deutet dem Jenseitsreisenden, was er wahrnimmt, und das heißt vor allem: was er sieht, damit er all dies nach seiner Rückkehr im Diesseits erzählen kann” (S. 3). Das Problem ist nun, wie die Jenseitserfahrung des vor dem eigenen Tod Unerfahrbaren narrativ um-gesetzt wird, wie die Vision (das “Gesicht” im Buchtitel) verschriftlicht werden kann. Das Verhältnis von Gesicht und Schrift reflektiert BENZ aber noch pointierter: Es geht ihm nicht um das Ergebnis, sondern um den Prozess der Verschriftlichung: “Das Gesicht [...] muss [...] letztlich immer in Schrift [...] überführt werden”; aufgrund unterschiedlicher “Aufschreibesituationen” der Texte müsse “die Fragestellung dieser Arbeit z w i s c h e n G e s i c h t u n d S c h r i f t 1 formuliert werden, da nur diese beiden Ebenen allen behandelten Texten gemeinsam sind”; dabei gehe es “allerdings nicht um Fragen der

1 Meine Hervorhebung. Das wäre dann der noch treffendere Buchtitel gewesen.

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2014

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‘Verschriftlichung’ von Visionserlebnissen [...], sondern um narrative Strategien” (S. 4 mit Anm. 25). Zugleich begründet er, warum die zunächst stärker altgermanistisch aus-gerichtete Arbeit auf die Analyse antiker Quellen ausgedehnt wurde: “Es ist die These dieser Arbeit, dass sich die frühchristlichen Jenseitsreisen und mittelbar dann auch die mittelalterlichen Texte gerade in ihrer narrativen Struktur erst vor dem Hintergrund der frühjüdischen Erzählungen adäquat verstehen lassen” (S. 6). Konkret gemeint sind damit vor allem die frühchristlichen Transformationen in der sog. ‘Petrus-Apokalypse’ (1. Hälfte 2. Jh.), für die auch noch ein deutlicher pagan-antiker Einfluss (durch Bezug auf spectacula, die inszenierte Schau von Bestrafungen) nachzuweisen ist, und ihr Vergleich unter narratologischem Aspekt mit der ‘Paulus-Apokalypse’ (um 400); diese war durch das Erzählverfahren der Jenseitsreise besonders geeignet – und darin auch erfolgreich –, Jenseitsvorstellungen ‘erfahrbar’ zu machen. Ein engerer “Gattungszusammenhang” bildet sich im Ausgang von der ‘Paulus-Apokalypse’ und von der im vierten Buch von Gregors des Großen ‘Dialogi’ erzählten Jenseitsreise erst im Frühmittelalter heraus; seit der Mitte des 12. Jh.s wird in Fassungen der ‘Visio Tnugdali’ (VT; um 1150), welche zu den am stärksten verbreiteten Visionsberichten des Mittelalters zählt, und des drei Jahrzehnte später entstandenen ‘Tractatus de Purgatorio S. Patricii’ dieses Erzählmuster in neuer Form aufgegriffen (vgl. S. 7; Gattungsdiskussion vor allem S. 140-142 mit Anm. 646-649). Ausdrücklich verzichtet BENZ darauf, über die genannten Texte des 12. Jh.s hinaus einen vollständigen Überblick über die Erzählungen von mittelalterlichen Jenseitsreisen geben zu wollen. So wählt er z.B. aus den volkssprachigen Bearbeitungen der VT nur die etwa 40 Jahre jüngere frühmittelhochdeutsche Versbearbeitung Albers (von Winds-berg) aus. Ein Textvergleich etwa mit den mhd., mittelniederdeutschen, mittelnieder-ländischen und frühneuhochdeutschen Prosaübersetzungen der VT, von denen NIGEL PALMER 1975/1982 Kenntnis gegeben hat, wäre sicher auch lohnend gewesen (neuere Forschungsliteratur zur VT S. 11, Anm. 62). Angesichts der Fülle der infrage kommenden Erzähltexte ist es aber legitim, wenn BENZ sein Erkenntnisinteresse weniger auf den textvergleichenden Querschnitt von Fassungen e i n e s Textes als vielmehr auf den historischen Wandel sowie auf Kontinuitäten des Erzählens richtet. Zuzustimmen ist auch seiner Entscheidung, abgesehen von den genannten grundsätzlichen Erwägungen seiner Studie kein Theoriekapitel voranzustellen, sondern die Frage nach der erzähle-rischen Umsetzung der Visionen jeweils in der konkreten Textanalyse zu behandeln. Die untersuchten Texte werden eingangs (S. 7-10) ganz knapp ‘erzähltechnisch’ vorgestellt und in einem extrem kurzen Rückblick (S. 273f.) hinsichtlich ihres Erzählverfahrens zusammenfassend charakterisiert. Die Detailanalyse erfolgt in drei chronologisch ange-ordneten Hauptkapiteln, die aber über die genannten Texte hinausreichen. Frömmigkeits- und mentalitätsgeschichtliche, inhaltliche und kulturhistorisch bedeutsame Aspekte, auf die z.B. BRIGITTE PFEIL 1999 aufmerksam gemacht hat, können dagegen in der Analyse der Texte nicht zentral behandelt werden. Ausgehend von einem Verweis auf Paulus und Aeneas als Jenseitsreisende in Dantes ‘Divina Commedia’ beginnt BENZ mit der Analyse der eigentümlich unkon-kreten Jenseitsreise im zweiten Korintherbrief (2 Kor 12,1-4), die für die frühchrist-liche Diskussion wichtig wurde (S. 13-23). Damit leitet er in einem breit angelegten Kapitel zur “Formierung und Transformation von Jenseitsräumen in der nicht-paganen Antike” (S. 24-111) über zu den Erzählverfahren von Jenseitsreisen in der direkt vom Korintherbrief ausgehenden ‘Paulus-Apokalypse’, die er mit der ‘Petrus-Apokalypse’ vergleicht und deren Erzählverfahren er zunächst vor dem Hintergrund frühjüdischer Texte untersucht: Es sind das ‘Buch der Wächter’, sog. ‘Bilderreden’, das ‘Zweite

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Henochbuch’, das ‘Testament Abrahams’ und die sog. ‘anonyme Apokalypse’. Die in teilweise zahlreichen Fassungen und antiken Sprachen (u.a. Äthiopisch, Aramäisch, Koptisch, Syrisch) überlieferten, gelegentlich auch unzureichend edierten oder zumindest schwer zugänglichen Texte (eine “heute weitestgehend vergessene Tradition”, S. 14) werden nach Textausgaben in deutscher Übersetzung zitiert (griechische und lateinische Passagen werden im Original und in Übersetzung wiedergegeben). Diese Texte in toto vorzustellen, ist nicht die Absicht des Autors: Hinweise zur Überlieferungssituation, zu Fassungen, Traditionszusammenhängen etc. wollen immer der Klärung von Fragen der Narration dienen: Unter welchen Bedingungen konnte eine Jenseitsreise in der überlie-ferten Form erzählt werden? Im ‘Ersten Henochbuch’ (nach der Einleitung bilden Kap. 6-36 das ‘Buch der Wächter’) findet BENZ den geeigneten Ansatz, anhand der Beschreibung von Henochs Jenseitsreisen den Fragen nach den Bedingungen dieser Erzählungen nachzugehen: Das doppelte Problem, Jenseitsräume mit irdisch-diesseitigen Kategorien darzustellen und den Raum dem Rezipienten ‘verfügbar’ zu machen, wird durch die “narrative Strategie” von einer Jenseitsreise gelöst: “Der Jenseitsraum wird durch die Struktur der Reise erzählbar gemacht” (S. 38). Das Problem “der literarischen Repräsentation von Räumen” wird von BENZ an diesem Textbeispiel sehr subtil und mit entwickeltem Theoriebewusstsein diskutiert (bes. S. 38-43). Es wird plausibel, wie in der Jenseits-erzählung mit einem zunächst (in der Vision) statisch, simultan erfassten Raumeindruck durch die sukzessive Darstellung (durch Schrift) eine “mentale Raumrepräsentation” erzeugt wird, in der die Handlungen und Wahrnehmungen der Figuren die Statik des Raumes überwinden: “Der Leser (oder Hörer) begleitet mittels der Strategie erzählter Bewegung die Figuren auf ihrem Weg durch die fiktionale Welt, vollzieht sukzessiv die raumgenerierenden Handlungen und die raumbezogenen [...] [sc. multisensorischen] Wahrnehmungen der Figuren nach” (S. 41). Die Jenseitsimagination wird durch die Technik des “demonstrativen Dialogs” (dazu S. 52-58 u.ö.) stimuliert, die sich mit der Strategie der “erzählten Bewegung” verbindet. Dieses Erzählverfahren findet sich dann in produktiver Anverwandlung auch in Rezeptionszeugnissen wie den sog. ‘Bilderreden’ und im ‘Zweiten Henochbuch’ (vgl. S. 58-67). Ein erneuter Blick auf die frühchristlichen Apokalypsen zeigt, dass die ‘Petrus-Apokalypse’ “Bestrafungsphantasmen evozieren” will, diese aber mit einer allumfassenden Heilsbotschaft vermittelt (S. 82). Damit greift sie ein Erzählanliegen der Jenseitsreisen auf, ohne dass ein Jenseitsraum dargestellt wird. BENZ sieht in der durch die Androhung ewiger Verdammnis geprägten ‘Petrus-Apoka-lypse’ eine sehr eigenständige christliche Umformung der Erzählformen antik-paganer spectacula und damit eine “partielle Abkehr” von den vorgenannten Erzählverfahren (vgl. S. 106f., 109, Zitat S. 273). Strukturell und inhaltlich anders und dem Erzählen im ‘Henochbuch’ stärker vergleichbar ist dann die ‘Paulus-Apokalypse’, deren reiche Rezeption in Bearbeitungsformen ganz unterschiedlicher ‘Visiones Pauli’ im Mittelalter eine anhaltende Nachwirkung bezeugt (“Das christliche Jenseits zwischen Spätantike und Mittelalter”, S. 112-150, hier Kap. 4.1, S. 112-134). Durch die genannten Techniken ‘erzählter Bewegung’ und ‘demonstrativen Dialogs’ werden der Jenseitsraum und die Situation der Seelen unmittelbar nach dem Tod konkret veranschaulicht. In wieder eigener Weise werden eschatologische Fragen im vierten Buch der ‘Dialogi’ Gregors des Großen behandelt (dazu S. 134-140, mit Schilderung einer ekstatischen Jenseitsreise in IV 37). Neu ist hier nach BENZ die “Dynamisierung des Jenseitsraumes”, die dann in der durch Gregor beeinflussten (jedoch nicht von ihm direkt abgeleiteten) ‘Visio Baronti’ strukturbildend wirkt (vgl. S. 140-150). Gattungsbildend ist für BENZ

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die Beobachtung, dass sich im Gefolge Gregors seit dem 7. Jh. eine Reihe durchaus unterschiedlicher Erzählungen herausbildet, welche die Thematik des auf einer Reise erfahrenen und durch demonstrative Dialoge erläuterten postmortalen Geschicks eigen-ständig aufgreifen. Ein großes Hauptkapitel behandelt schließlich unter dem Titel “Jenseitsreisen um 1150 und die Folgen” (S. 151-262) zunächst die Jenseitsreise in der lateinischen ‘Visio Tnugdali’. Hier holt BENZ interpretierend weiter aus; die Argumentation wird dadurch anschaulich. Zu zeigen ist, wie der radikale Wandel im Leben des Tnugdalus durch die Erzählung der Jenseitsreise begründet wird (die Beschreibung der “Konversionslogik”, S. 274). Während seiner Jenseitsreise durchläuft Tnugdalus einen Läuterungsprozess; BENZ hebt darauf ab, dass dieser seelische Prozess von Reue, Bekenntnis und Läuterung “konkret-räumlich imaginiert” werde (S. 155); der Jenseitsraum ist aber weniger “topo-graphisch” als vielmehr “topologisch”, als Heilsraum, strukturiert, der tiefste Raum ist der Raum der größten Gottferne (vgl. S. 156). Durch die – auch hier wieder beobachtete – Erzählstrategie (erzählte Bewegung, kombiniert mit demonstrativem Dialog, S. 159) wird die Jenseitsdarstellung veranschaulicht; sie zielt darauf ab, die Rezipienten zu erbauen und zur Umkehr zu motivieren. Zu Recht weist BENZ darauf hin, dass in der VT dennoch narrative “Leerstellen” verbleiben: die Strafphantasmen und Horrorvisionen erreichen bisweilen unbeschreibliche Ausmaße; nicht umsonst hat man die Darstellung sogar als “bizarr-sadistisch” (PETER DINZELBACHER) charakterisiert. Hat das den ungeheuren Erfolg der in Hss. und Frühdrucken reich überlieferten, vielfach übersetzten Vision ausgelöst? Aus der Überlieferung wählt BENZ die frühmittelhochdeutsche Adaptation der VT durch Alber aus, deren Erzählweise er mit dem lateinischen Ausgangstext vergleicht (S. 165-173). Änderungen z.B. in der Diktion, in der Rücknahme eines geschlossenen Jenseitsraums und eine stärkere Diesseitsorientierung machen Albers Transformation zu einem Werk sui generis, welches dem ‘Tractatus de Purgatorio S. Patricii’ näher steht. Dieser Traktat (dazu S. 173-239), der wiederum einen längeren Bearbeitungsprozess durchläuft und in seiner engen Beziehung zur Patrickslegende eingehend untersucht wird, ist, um nur ein wichtiges Ergebnis zu nennen, dadurch charakterisiert, dass die Visionsberichte nicht wörtlich zu verstehen sind, sondern dass das konkret Erzählte im Sinne der viktorinisch-zisterziensischen Philosophie der Erkenntnis einer nicht sichtbaren Wirklichkeit dient (dazu S. 207-227, 274). – Ein Ausblick auf die phasenweise durch Komik und Theatralisierung markierte ‘Visio Thurkilli’, die Visionen der Jenseitsreise des einfachen englischen Bauern Thurkill, beschließt die Studie (S. 263-273). Der Durchgang durch ausgewählte Texte der Visionsliteratur von der vorchrist-lichen Antike bis zum Hochmittelalter zeigt klare Traditionslinien in der Narration des eigentlich Unerzählbaren auf. BENZ zeichnet die Entwicklung überzeugend, stringent formuliert und überaus kenntnisreich durch Analyse einer beachtlich breiten Textbasis nach. Vermutlich sind manche Texte, vor allem die Apokryphen, nur noch Spezialisten bekannt. Der weite Rückgriff auf Texte der Antike mag den Germanisten zunächst überraschen, er wird aber durch den Gedankengang der gelehrten Studie plausibel. Dass bei aller Weiterentwicklung und Transformation im Prozess der “Medialisierung und Profanierung” (S. 274) der Jenseitserzählungen immer auch Brüche auftreten, welche die ermittelten narrativen Strukturen unterlaufen können, ist dem Autor bewusst. Das Jenseits kann nicht “auserzählt” werden.

Dr. Rudolf Suntrup, Füchtenbusch 12, D–48291 TelgteE-Mail: [email protected]

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Francia et Germania. Studies in Strengleikar and Þiðreks saga af Bern, edited by KARL G. JOHANSSON [und] RUNE FLATEN (Bibliotheca Nordica 5), Oslo 2012. Novus Forlag, 390 S. mit Abb., ISBN 978-82-7099-714-5, EUR ca. 45,–

In einer Reihe von Fachtagungen an der Universität Oslo ist zwischen 2004 und 2010 die altnordische Übersetzungsliteratur in den Blick genommen worden. Dieser Zweig der altnordischen Überlieferung ist zwar ungemein reichhaltig, steht jedoch nach wie vor im Schatten der Saga-, Edda- und Skaldendichtung, die weitaus größeres Interesse auf sich zieht. Die Themen dieser Symposien waren die ‘Barlaams saga ok Josaphats’, die ‘Gammelnorsk homiliebok’ die ‘Strengleikar’, die ‘Þiðreks saga af Berns’ sowie die Riddarasögur. Die Beiträge der beiden erstgenannten Tagungen (2006 und 2007) sind bereits in der Reihe ‘Bibliotheca Nordica’ erschienen.1 Der vorliegende Band schließt daran an und vereint die Beiträge über die ‘Strengleikar’ (altnordische Übersetzungen altfranzösischer lais, 13. Jh.) und die ‘Þiðreks saga’ – die Saga von Dietrich von Bern bzw. eine Kompilation von Heldensagen, die im 13. Jh. in Bergen auf Grundlage (nord-)deutscher Erzählungen entstanden ist. Zu den hier veröffentlichten Tagungs-vorträgen treten einige zusätzliche Beiträge, die das Bild abrunden. Der Band spiegelt somit den aktuellen Stand der Forschung. Das Buch wird eingeleitet durch eine gute und hilfreiche Übersicht von STEFKA GEORGIEVA ERIKSEN und KARL G. JOHANSSON: “Francia et Germanica – Translations and the Europeanisation of Old Norse Narratives”. ROBERT COOK befasst sich mit “Concepts of Love in the Lais and in their Norse Counterparts” und stellt fest, dass die nordischen Übersetzer die erotisch-ritterlichen Ideale ihrer französischen Vorlagen richtig verstanden und in die Muttersprache korrekt zu transportieren versuchten. Mit dem Thema Liebe in den ‘Strengleikar’ beschäftigt sich auch DANIEL SÄVBORG (“Strengleikar, kärleken och genren”). AÐALHEIÐUR GUÐMUNDSDÓTTIR beleuchtet das Verhältnis zwischen den ‘Strengleikar’ und den erst im 17. Jh. aufgezeichneten märchenhaften sagnakvæði, INGVIL BRÜGGER BUDAL widmet sich der Übersetzung der Werwolfgeschichte ‘Bisclavret’, eines der lais der Marie de France. Mit “Materiality and Textuality of Les Lais of Marie de France and Strengleikar” setzt sich STEFKA GEORGIEVA ERIKSEN auseinander, ein weiterer Aufsatz zu den ‘Strengleikar’ stammt von HÉLÈNE TETREL (“A ‘Breton’ short Narrative Type in Old Norse?”). Die “Þiðreks saga in the context of Old Norwegian literature” nimmt SUSANNE KRAMARZ-BEIN in den Blick. Erfreulich ist, dass in zwei Artikeln neben den Texten auch Bilddenkmäler behandelt werden: “Volsunger i skrift og bilder – Eksempel fra Þiðreks saga” von KAROLINE KJESRUD und “Bilden av Theoderik, Didrik och Dietrich” von PIA BENGTSSON MELIN. Jedoch hätte durchaus mehr Material (und Forschungsliteratur) einbezogen werden können. Einschlägig sind etwa die ‘Dietrich-Testimonien’, 2008 herausgegeben von ELISABETH LIENERT2 (in der Bibliographie des vorliegenden Bandes

1 Barlaam i nord. Legenden om Barlaam och Josaphat i den medeltidslitteraturen, hg. von KARL G. JOHANSSON (Bibliotheca Nordica 1), Oslo 2009; Vår eldste bok. Skrift, miljø og biletbruk i den norske homilieboka, hg. von ODD EINAR HAUGEN und ÅSLAUG OMMUNDSEN (Bibliotheca Nordica 3), Oslo 2010.

2 Dietrich-Testimonien des 6. bis 16. Jahrhunderts, hg. von ELISABETH LIENERT (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 4), Tübingen 2008.

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nicht angeführt), mit einer Fülle von Quellen;3 was die Völsungensage anbelangt, so wäre im vorliegenden Kontext bspw. auch eine Betrachtung des ‘Spanischen Sigurds’ am Südportal der Kirche Santa María la Real in Sangüesa (Navarra)4 angemessen gewesen. KJESRUD stellt fest, dass einige der überlieferten bildlichen Darstellungen von Sigurd dem Drachentöter eher dem Bericht der ‘Þiðreks saga’ als den Versionen der ‘Völsunga saga’ und der eddischen Dichtung entsprechen. Das ist ein interessanter Punkt, der bereits in einem Beitrag von JOACHIM HEINZLE5 verfolgt wurde – diese Arbeit scheint der Verfasserin jedoch entgangen zu sein. Weder BENGTSSON MELIN noch JON GUNNAR JØRGENSEN – der die Wanderung des Dietrich-Stoffes von West nach Ost verfolgt und ihn nicht vor dem 14. Jh. in Schweden angekommen sieht (“Didrik til hest – til øst fra vest”) – gehen auf die kontroverse These ein, Dietrich/Theoderich sei bereits auf dem Runen- und Bildstein von Sparlösa in Västergötland (Vg 119) aus dem 8. Jh. dargestellt.6 Die Runeninschrift auf dem Stein von Rök, die nach verbreiteter Auffassung eine namentliche Nennung des Helden enthält (þiaurikR) lässt JØRGENSEN nicht gelten. Hervorzuheben ist der sehr fun-dierte und klare Beitrag von ROBERT NEDOMA über die Stellung der Hildibrand-Episode in der ‘Þiðreks saga’ und ihre Beziehung zu den anderen Denkmälern der Hildebrandsage, insbesondere dem frühneuhochdeutschen ‘Jüngeren Hildebrandslied’. Letzteres und der Bericht der Saga scheinen einem gemeinsamen Überlieferungsstrang zu entstammen. Der versöhnliche Ausgang der Vater-Sohn-Konfrontation, der beide Texte vom ahd. ‘Älteren Hildebrandslied’ unterscheidet, sei jedoch keineswegs zwingend als jüngere

3 Zu romanischen Dietrichdarstellungen siehe auch den aufschlussreichen und anregenden Bei-trag von MICHAEL CURSCHMANN, Oral Tradition in Visual Art: The Romanesque Theoderic, in: Reading Images and Texts. Medieval Images and Texts as Forms of Communication. Papers from the third Utrecht Symposium on Medieval Literacy, Utrecht, 7-9 December 2000, hg. von MARIËLLE HAGEMANN und MARCO MOSTERT (Utrecht Studies in Medieval Literacy), Turnhout 2005, S. 177-206.

4 Einschlägig etwa: ULRICH MÜLLER, Nibelungen-Rezeption am Pilgerweg nach Santiago? Das Portal von Santa María la Real im nordspanischen Sangüesa, in: 3. Pöchlarner Heldengespräch. Die Rezeption des Nibelungenliedes, hg. von KLAUS ZATLOUKAL (Philologica Germanica 16), Wien 1995, S. 147-155; VICTOR MILLET, Von Drachentötern, Quellenfiktionen, Pastourellen und Lehnwörtern. Kritische Notizen zu jüngeren Thesen über deutsch-spanische Beziehungen im Mittelalter, in: ZfdPh 124 (2005), S. 90-121; JOACHIM HEINZLE, Siegfried in Navarra. Zu Motivik und Ikonographie der Drachentötung. Mit Exkursen über die Drachentöter-Strophe in der ‘Óláfs saga hins helga’ und die Darstellung von Siegfrieds Tod bei Peter Cornelius und Julius Schnorr von Carolsfeld, in: ZfdA 135 (2006), S. 141-163.

5 HEINZLE [Anm. 4], S. 149-153.6 INGEMAR NORDGREN, Kult och kultsymboler som indikation på världslig makt, in: Kult, Guld

och Makt. Ett tvärvetenskapligt symposium i Götene. Historieforum Västra Götaland, Skara 2007, hg. von INGEMAR NORDGREN (Serie B: Vetenskapliga rapporter och småskrifter 4), Göteborg 2007, S. 43-70; INGEMAR NORDGREN, En nytolkning av Sparlösastenens bildmotiv, in: Historieforum 2 (2009), S. 89-111; INGEMAR NORDGREN, Gotiska Återspeglingar, in: Gotisk Workshop 2. Et uformelt formidlingstræf, hg. von HANS FREDE NIELSEN u.a. (Mindre Skrifter 27), Odense 2010, S. 47-65. Bereits KARL HAUCK hat auf den Steinen von Sparlösa sowie Möjbro in Uppland (U 877) Dietrich/Theoderich als Reiter zu erkennen geglaubt, siehe bspw. KARL HAUCK, Goldbrakteaten aus Sievern. Spätantike Amulett-Bilder der ‘Dania Saxonica’ und die Sachsen-‘Origo’ bei Widukind von Corvey (Münstersche Mittelalter-Schriften 1), München 1970, S. 302f. Dazu jüngst SIGMUND OEHRL, Ikonografiska tolkningar av gotländska bildstenar baserade på nya analyser av ytorna, in: Gotländskt Arkiv 84 (2012), S. 91-106.

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Änderung und Abmilderung aufzufassen, vielmehr sei mit zwei durchaus alten Über-lieferungsvarianten zu rechnen. Der vorliegende, facettenreiche Band liefert einen guten Überblick über den derzei-tigen Stand der Forschung zur ‘Þiðreks saga’ und den altnordischen Übersetzungen der altfranzösischen lais. Ob die hier vereinten Beiträge, so die Intention der Herausgeber, die Forschungsdiskussion anschieben und der altnordischen Übersetzungsliteratur (“som alltför ofta har behandlats styvmoderligt i tidigare forskning”) mehr Aufmerksamkeit verschaffen werden, bleibt abzuwarten.

Dr. Sigmund Oehrl, Georg-August-Universität Göttingen, Skandinavisches Seminar – Akademie-projekt “Runische Schriftlichkeit in den germanischen Sprachen”, Käte-Hamburger-Weg 3, D–37073 GöttingenE-Mail: [email protected]

TOBIAS KÄMPF, Das Revaler Ratsurteilsbuch. Grundsätze und Regeln des Pro-zessverfahrens in der frühneuzeitlichen Hansestadt (Quellen und Darstellungen zur hansischen Gesichte 66), Köln/Weimar/Wien 2013. Böhlau Verlag, 253 S. mit Abb., ISBN 978-3-412-20964-3, EUR 34,90

Das Buch von TOBIAS KÄMPF leistet einen Beitrag zur Geschichte des Gerichtswesens und Gerichtsverfahrens der Stadt Reval/Tallinn in der ersten Hälfte des 16. Jh.s. Das konkrete Ziel seiner Untersuchung besteht darin, die Grundsätze und Regeln des vom Revaler Rat ausgeübten Prozessverfahrens darzustellen. Als Quelle dient dabei die von WILHELM EBEL 1952 edierte Hs. aus dem Revaler Stadtarchiv, d.i. “Das Revaler Ratsurteilsbuch” (weiterhin abgekürzt RUB). Das Gerichtswesen und die Verfahrenspraxis von Reval ist bisher noch nicht besonders gründlich untersucht worden, obwohl eigentlich im Revaler Stadtarchiv eine ausführliche Quellenbasis zu diesem Thema zur Verfügung steht. So kann man die Leistung von TOBIAS KÄMPF nur begrüßen. Das aus fünf Teilen bestehende Buch gibt u.a. einen kurzen Überblick über die Geschichte der Stadt Reval, wobei besonders die Entstehung und Entwicklung der Institution des Rats während des Mittelalters betrachtet wird. In diesem Teil der Unter-suchung wird allerdings deutlich, dass der Autor die Literatur und Quellen zum Thema nicht vollumfänglich im Blick hat. Z.B. wenn er über die Gilden und deren Gerichts-barkeit spricht, wäre es wünschenswert, auch die Schragen, die seit langem publiziert sind,1 zu benutzen und auf diese hinzuweisen. Es ist durchaus nicht ausreichend, dass der historische Überblick sich nahezu ausschließlich auf das RUB stützt. Durch diese Quellenlage bedingt, kommt der Autor an einigen Stellen zu fragwürdigen Resultaten. So kennt man aufgrund der bisherigen Geschichtsschreibung sehr wohl, wer im mittel-alterlichen Livland ein “Drost” war. Daher ist es völlig unnötig, dies aufgrund des RUB neu zu “erfinden” zu versuchen (siehe S. 56, Anm. 211).

1 Z.B. EUGEN VON NOTTBECK, Die alten Schragen der Grossen Gilde zu Reval, Reval 1885, und ALEKSANDER MARGUS, Katalog des Stadtarchivs Tallinn, Bd. IV: Archiv der St. Kanutigilde, Tallinn 1938.

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2014

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Die Geschichte der Stadt Reval war in der ersten Hälfte des 16. Jh.s durch die luthe-rische Reformation geprägt, auch KÄMPF berührt das Thema. Merkwürdigerweise spricht er über die Reformation in Reval aber nur aufgrund des RUB, ungeachtet der Tatsache, dass aus zufälligen Eintragungen des RUB die Bedeutung und der Einfluss der Refor-mation gar nicht zum Vorschein kommen kann. In diesem Zusammenhang müsste der Autor etwa auch die Wirkung der Reformation auf das Familienrecht betrachten. Gerade im zweiten Teil des Buches sollte KÄMPF seine Kenntnisse über die Historiographie und Quellen zur Geschichte Revals demonstrieren. Leider stützt er sich aber fast krampfhaft nur auf das RUB, weshalb der breitere historische Kontext und damit auch die Dynamik der Entwicklung des Revaler Gerichtswesens außerhalb des Analysehorizonts bleibt. Der Hauptteil der Darstellung bietet eine sehr detaillierte Analyse des RUB. Im Mittel-punkt der Untersuchung steht das zivilrechtliche Verfahren des Revaler Ratsgerichts. Das RUB enthält über 1100 Einträge aus der Zeit von 1515 bis 1554, die Mehrzahl von ihnen sind richterliche Entscheidungen von zivilrechtlichen Streitgegenständen. Dem Autor zufolge basiert seine Untersuchung auf der Grundannahme, dass in der Verfahrenspraxis in Reval trotz des sich über ca. 40 Jahre erstreckenden Dokumentationszeitraums keine wesentlichen Veränderungen festgestellt werden können. Das bedeutet, dass die Formen und Regeln des Verfahrens bis zur Jahrhundertmitte gleich blieben. In diesem Zusammen-hang wäre es jedoch interessant zu wissen, wie lange diese beschriebene Verfahrenspraxis in Reval überhaupt währte. Es waren wohl mehr als 40 Jahre. KÄMPF behandelt nur erb-, familien- und schuldrechtliche Verfahren, so bleibt die interessante Frage, ob beim Ver-fahren in Kriminalsachen dieselbe Tendenz sichtbar ist, unbeantwortet. In seinem gut strukturierten Buch beschreibt KÄMPF die verfahrensrechtlichen Einzel-heiten des Revaler Rechtsgangs und bietet eine grundsätzliche Strukturierung des Revaler Verfahrens. Er betont dabei mit Recht, dass die Charakteristik eines Verfahrens sich nicht nur aus Regeln, sondern vor allem auch aus der Praxis richterlichen Handels erschließt. Wie aus den Eintragungen des RUB hervorgeht, fanden die Verfahrensregeln in Reval keine ausnahmslos strikte Anwendung, sondern wichen mit Rücksicht auf den Einzelfall einer freieren Handhabung. Unter anderem wird die Tätigkeit des Revaler Rats als Oberhof für Narva und Wesenberg betrachtet. In der Geschichtsschreibung spricht man zwar von der Lebhaftig-keit des Appellationszugs von Narva nach Reval, dagegen seien über den Rechtszug von Wesenberg nach Reval keine Belege auffindbar. Laut KÄMPF könnte der für Wesenberg fehlende Nachweis einer Revaler Oberhofentscheidung einen Grund im mündlich prakti-zierten Rechtszugverfahren haben, in dem es keine Urteilsbriefe gab, und die Urteile von den Räten nur mündlich verkündet wurden. Gleichzeitig betont KÄMPF aber auch, dass eben die zunehmende Schriftlichkeit am Ende des Mittelalters die Dominanz des Urkundenbeweises in der Vehrfahrenspraxis begründete. Der Anteil der Schriftlichkeit sowie die Rolle der Mündlichkeit sind in der damaligen Verfahrenspraxis ein wesent-liches Thema, das auch KÄMPF in seiner Untersuchung vielfach berührt. Was aber den Rechtszug von Reval nach Lübeck betrifft, stellt der Autor fest, dass sich selbst in Zeiten politischer Konflikte mit Lübeck keine Beschränkungen des Rechtszugs nach Lübeck zu Gunsten eigener Endentscheidungskompetenz zeigten. KÄMPF zufolge ließen sich die Richter von Reval in der ersten Hälfte des 16. Jh.s von Verfahrensprinzipien leiten, die sich in ähnlicher Gestalt auch in modernen Prozessordnungen wiederfinden. Charakteristisch für die Verfahrenspraxis von Reval war, dass in der Verfahrenspraxis keine Anzeichen einer prozessualen Bevorzugung oder gar Privilegien erkennbar sind, für alle galt dasselbe Lübische Recht.

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Die detaillierte Analyse des RUB von KÄMPF bietet ohne Zweifel wesentliche neue Erkenntnisse über das Gerichtswesen von Reval am Ende des Mittelalters und am Be-ginn der frühen Neuzeit. Leider analysiert er diese wertvolle Quelle zu isoliert vom historischen Kontext und parallelen Überlieferungen. Welche Wirkung die Reformation auf das Gerichtswesen in Reval hatte oder ob und wie die Formierung des Landtages in Livland den Rechtszug von Reval nach Lübeck oder von kleinen Städten nach Reval beeinflusste, diese Fragen bleiben unbeantwortet. Die Antwort auf diese und noch weitere Fragen bleiben auch nach der vorliegenden Arbeit Forschungsaufgaben für die Zukunft.

Dr. Inna Jürjo, Universität Tallinn, Institut für Geschichte, Narva mnt 25, EST–TallinnE-Mail: [email protected]

Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters. Be-gonnen von HELLA FRÜHMORGEN-VOSS und NORBERT H. OTT, hg. von ULRIKE BODE-MANN, KRISTINA FREIENHAGEN-BAUMGARDT und PETER SCHMIDT, Bd. 6/1 (Geistliche Lehren und Erbauungsbücher, von CHRISTINE STÖLLINGER-LÖSER unter Mitarbeit von PETER SCHMIDT), München 2013. Verlag C. H. Beck, S. 1-80 und Abb., ISBN 978-3-7696-0944-8, EUR 39,80

Der Katalog wird in Zukunft sicher zu den grundlegenden Nachschlagewerken und Materialgrundlagen für all diejenigen zählen, die sich in ihren Forschungen mit Fragen eines sehr weit zu fassenden Verhältnisses von Bild und Text beschäftigen. Diese Ein-schätzung, das kann vorab schon festgestellt werden, erlaubt der hier zu besprechende Teil und kann im Übrigen auch für die bereits erschienenen Teile festgehalten werden. Bei derart monumentalen Projekten lässt sich stets trefflich über Aufnahme- und Einteilungskriterien streiten, auf diese einzugehen, würde aber über die Rezension eines Einzelteils hinausgehen. Lieferung 1 des sechsten Bandes soll sich, wie aus den Angaben oben bereits hervorgeht, mit den illustrierten Hss. beschäftigen, die unter die Stichworte “Geistliche Lehren” und “Erbauungsbücher” zu subsumieren sind und als Stoffgruppe 44 in das Gesamtprojekt eingeordnet wurden. Die beiden Bereiche eint, dass sie vage sind. Es wäre wünschenswert gewesen, etwas deutlicher als geschehen, zumindest klar zu machen, was im vorliegenden Zusammenhang mit der Begrifflichkeit angesprochen werden soll. Zur Einteilung selbst vorab einige Anmerkungen, die allerdings auch grundsätzliche Aspekte berühren. Der Einteilung die Chronologie zu Grunde zu legen, scheint problematisch, weil gerade die Datierung, was im Übrigen auch die Lektüre des Handschriftenteils deutlich macht, häufig nicht exakt zu bestimmen und zusätzlich nicht selten umstritten ist. Die der Betrachtung der illustrierten Hss. von “44.1. ›Oberrheinisches Erbauungs-buch‹” (S. 5-18) vorangestellten einleitenden Ausführungen bieten eine Fülle wichtiger und grundlegender Informationen. Besonders hilfreich ist die synoptische Darstellung, die einen unmittelbaren Vergleich nicht nur des Vorkommens von Illustrationen in den drei zu behandelnden bebilderten Hss. erlaubt, sondern darüber hinaus die Textnummer innerhalb der Codices und das Bildthema, mit einer Kurzcharakteristik des Dargestellten, anführt. Durch die Vorzüge fallen aber auch weniger geglückte Passagen auf. So ist die Anordnung von Informationen nicht immer glücklich und durchaus nützliche Informa-

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tionen fehlen gelegentlich. Beides Dinge, die bei einem grundlegenden Nachschlage-werk, das auch von Studierenden, die sich in die Materie einarbeiten wollen, verwendet werden wird, dringend vermieden werden sollten. So sind etwa die Angaben zu den Hss. und zum Handschriftenbestand der Stoffgruppe 44.1. (S. 6f.) für jemanden, der sich als (relativer) Anfänger mit derlei Anmerkungen konfrontiert sieht, problematisch. Umge-kehrt wird immer wieder recht ausführlich zu Hss. Stellung genommen, die eigentlich gar nicht zum Gegenstandsbereich gehören bzw. als auszuschließende charakterisiert wurden, ungeachtet der Tatsache, dass das Gesagte durchaus richtig und interessant ist, es teilweise auch Informationen enthält, die nützlich und weiterführend sind, die man sich aber durchaus in komprimierterer Form hätte vorstellen können. In den folgenden Kapiteln werden verschiedene, einschlägig überlieferte Werke be-handelt. Dabei werden teilweise recht wortreich Hss. ausgeschlossen. Auch werden die Hss. mitberücksichtigt, die keine Illustrationen aufweisen, sondern nur die für diese vor-gesehenen Leerräume, und auch solche, die Rubriken enthalten, die als Malanweisungen zu deuten sind, jedoch keine Leerräume für Illustrationen zeigen. All dies dokumentiert die Umsicht, mit der an dem Faszikel gearbeitet wurde. Außerdem werden, was zunächst erstaunlich wirkt, Drucke (z.B. S. 39-42) mit aufgenommen. Eine Erklärung bietet die Innenseite des rückwärtigen Deckblattes: “Ebenfalls berücksichtigt sind illustrierte Drucke jener Stoffe und Texte, die auch in ihrer handschriftlichen Überlieferung bebil-dert wurden.” Als Grenzfälle werden die beiden Untergruppen “44.8. ›Geistliche Geißel‹” und “44.9 ›Geistliche(s) Würfelspiel‹” eingangs (S. 2) charakterisiert. Die aufgeführten Hss. sind bestenfalls marginal illustriert. Die Darstellungen dazu sind fast alle schematisch und wären besser gegen Ende des Teilbandes als ‘Sonderfälle’ zu verorten gewesen. Inwieweit es gerechtfertigt ist, für derart gering bebilderte Codices eigene Katalogisate zu bilden, wäre zu diskutieren. Der Hinweis, “Gänzlich im Schematischen bleibt dagegen das Tugenddiagramm in Kreuzform in Freiburg, Universitätsbibliothek, Hs 490 [...], das deshalb keinen Anlass zur Bildung einer eigenen Untergruppe geben konnte” (S. 2), deutet die fließenden Grenzen in diesem Bereich der Bebilderung an. Da es sich bei der soeben genannten Freiburger Hs. um eine Sammelhs. mystisch-aszetischen Inhalts handelt (S. 68), stellt sich allerdings die grundlegendere Frage, warum diese Hs. im vorliegenden Zusammenhang überhaupt thematisiert wird. Ebenfalls problematisch, in der Einleitung jedoch nicht angesprochen, erscheint die Aufnahme von “44.10. ›Der Seele Spiegel‹”, wie bei der Lektüre von S. 52-54, besonders aber S. 53 deutlich wird. Die angesprochene Stoffgruppe wird repräsentiert durch ein Einzelblatt, dessen verso-Seite mit vier Medaillons bildreich ausgestaltet ist. Zu diesem Blatt muss festgestellt werden: “Für die Fortsetzung mit nachfolgenden Erörterungen der Text-Bild-Tafeln [...] oder für den Anschluss weiterer geistlicher Kurztexte [...] fehlen Anhaltspunkte” (S. 53). Widersprüchlich wirken die Aussagen zu “Stephan Fridolins ›Schatzbehalter‹ (Stoff-gruppe 44.12.)”. Zur Überlieferung dieses Textes heißt es: “Zwei vom Druck abhängige handschriftliche Textzeugen des ›Schatzbehalters‹ weisen eine – wesentlich beschei-denere – eigenständige Bebilderung auf” (S. 2), wohingegen später formuliert wird: “[...], die der Darstellung im Nürnberger Druck (siehe oben Nr. 44.12.a) entsprechen; [...]” (S. 64). Diese Beurteilung der Überlieferungsverhältnisse hat zur Konsequenz, dass der Druck vor den handschriftlichen Zeugnissen behandelt wird. Die Hss. zeichnen sich durch eine sekundäre Bebilderung aus. Es handelt sich um eingeklebte Pergament- bzw.

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Papierblätter (44.12.1.: Bl. 1v/133v – 134r/134v finden sich lediglich Leimspuren, die als Hinweis auf eine abgelöste Illustration gewertet werden; 44.12.2.: zwei eingeklebte Miniaturen auf Pergament, zwei eingeklebte Federzeichnungen auf Papier). Die Auf-nahme derartiger Hss. entspricht, wie immer man dazu stehen mag, den allgemein fest-gelegten Kriterien. Auf die Besonderheiten dieses Katalogisats hätte in der Einleitung unbedingt hingewiesen werden müssen, denn die hier vorliegende Konstellation wirft viele Fragen auf und bietet entsprechend manigfache Forschungsmöglichkeiten. Die Bebilderung der nachfolgenden Stoffgruppe (44.13.) beschränkt sich auf eine ganzseitige Miniatur auf einem eingenähten Pergamentblatt. Auch dies sicher ein vorab anzudeutender Sonderfall. Als letzte Stoffgruppe werden unter “44.14. Individuelle Sammlungen geistlich-er-baulicher Texte” (S. 67-80) behandelt. Zunächst werden einige Hss. von der näheren Betrachtung ausgeschlossen. Dazu gehört u.a. der Codex Freiburg i.Br., Universitätsbibl., Hs. 490. In einem Fall wird auf die bereits erfolgte bzw. noch erfolgende Behandlung einer Hs. (Stuttgart, Landesbibl., Cod. Donaueschingen A III 54) verwiesen, deren bild-liche Darstellungen denen vergleichbar sind, die “teilweise denen im ›Oberrheinischen Erbauungsbuch‹” entsprechen (S. 69). Dieser durchaus wichtige Hinweis gehört in den bereits monierten Bereich nicht wirklich angemessen dargebotener Informationen. Auf den nachfolgenden Seiten (S. 70-80) werden fünf Sammelhss. eingehender vorgestellt. Trotz der geäußerten Kritik wird auch die vorliegende Lieferung ihren Beitrag dazu leisten, die Gesamtausgabe zu einem grundlegenden Nachschlagewerk zu machen.

PD Dr. Helmut Beifuss, Kirchenweg 1, D–69168 WieslochE-Mail: [email protected]

Das Thema Kleidung in den Etymologien Isidors von Sevilla und im Summarium Heinrici I, hg. von MECHTHILD MÜLLER, MALTE-LUDOLF BABIN und JÖRG RIECKE. Unter Mitarbeit von JOHANNA BANCK-BURGESS, HANS BAUER, TOBIAS ESPINOSA, MARGARITA GLEBA und ANNE REICHERT (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 80), Berlin/Boston 2013. Walter de Gruyter Verlag, VIII, 623 S. mit Abb., ISBN 978-3-11-029365-4, EUR 179,95

“Das Thema Kleidung in den Etymologien Isidors von Sevilla und im Summarium Hein-rici 1” erschien als 80. Band der Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. In umfassender Herangehensweise behandelt der Band die Kapitel 20-34 des 19. Buchs “De navibus, aedificiis et vestibus” der ‘Etymologien’ Isidors sowie die Kapitel 1-14 im 9. Buch des ‘Summarium Heinrici 1’, also der Redaktion A. MECHTHILD MÜLLER führt an erster Stelle in das historische Umfeld ein, in dem Isidors Etymologien entstanden, d.h. das Spanien des 6. und 7. Jh.s (S. 5-11). Die kurze Darstellung bietet eine gut geschriebene, flüssig lesbare Zusammenfassung der spätantiken Machtverhältnisse. Mit etwas Glück hat der Leser den Band bereits einmal durchgeblättert und ist so am Ende auf eine Karte von HANS BAUER gestoßen, die das “römisch, christlich geprägte Westgotische Reich 600 n. Chr.” abbildet und eine kurze Beschreibung der wichtigsten Städte liefert (S. 620f.), die gut zur Illustration der in der Einleitung dargestellten Gegebenheiten herangezogen werden kann.

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2014

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In der Auseinandersetzung zwischen Arianismus und Katholizismus stellt MÜLLER gleich den Bezug zum eigentlichen Thema des Bandes her: Zum Kampf gegen den Arianismus gehörte nämlich auch die Durchsetzung einer einheitlichen liturgischen Kleidung als Teil der römischen Ordnung für die Geistlichen sowie für die Nonnen und Mönche in neu hinzugewonnenen, ehemals arianischen, Klöstern. Im weitesten Sinne müssen auch Isidors Kleidungsbegriffe vor diesem Hintergrund gesehen werden, denn an erster Stelle stand für ihn, mehr über die Geschichte der Priesterkleidung und Tempel-ausstattungen zu erfahren (S. 11). Es folgt die Diskussion der Quellenauswahl (S. 11-21). Darunter sind sowohl Isidors Quellen als auch die modernen Ausgaben von Isidors Werk als Quellen des vorliegenden Bandes zu verstehen. Die Arbeitsgrundlage für die Herausgeber sind die 1911 erschie-nene Gesamtausgabe der ‘Etymologien’ durch WALLACE MARTIN LINDSAY sowie die lateinisch-spanische Ausgabe des 19. Buchs durch MIGUEL RODRÍGUEZ-PANTOJA von 1995. MÜLLER merkt an, dass es Isidor fern lag, eine allgemeine Übersicht über die (spät-)antike Mode zu geben. Vielmehr interessierte ihn die Thematik nur im Hinblick auf bestimmte Frage stellungen. Eine besondere Rolle spielten dabei die Begriffe, die in den fünf Bü-chern Mose vorkommen (S. 11). Die Frage nach der Entstehung der Priesterkleidung ist eng mit der Datierung der biblischen Schriften verknüpft, die die wichtigste Quelle für Isidor darstellten. Als besonders spannend stellt sich die durch MÜLLER vorgenommene Diskussion der unterschiedlichen Kleidungsrekonstruktionen dar. So weichen die in jüngster Zeit durch das Temple Institute in Jerusalem (HaMikdash) vorgenommenen Rekonstruktionen priesterlicher Gewänder deutlich von denen des Autorenkollektivs ab, was auf die unterschiedlichen Beurteilungen der schriftlichen Quellen zurückzuführen ist (S. 18). Das Kapitel schließt mit der Feststellung, dass sich seit den ersten Quellen nichts Grundlegendes am Aussehen der menschlichen Kleidung geändert hat. Kleidung und Schmuck spielten seit jeher eine bedeutende Rolle und machten die soziale Stellung einer Person deutlich. Dass dies auch heute nicht anders ist, wird durch eine Anekdote bestätigt, durch die der Text aufgelockert und der Leser zurück in die Jetztzeit geholt wird: MÜLLER berichtet, dass Madonnas Ausstattung an Schmuck und Kleidung für eine einzige Welttournee eine Million Pfund kostete. An MÜLLERs Einführung zu Isidors ‘Etymologien’ schließt JÖRG RIECKE mit einem, trotz seiner Dichte, sehr gut zu verstehenden Kapitel zum ‘Summarium Heinrici’ an. Das anonym überlieferte Lehrbuch, das die Summe des Schulwissens im ausgehenden Frühmittelalter umfasst, war wohl ursprünglich als Nachschlagewerk für Lateinschüler gedacht. Wenngleich zunächst auf Latein verfasst, verwandelt sich das Werk in der Folge in ein zweisprachig angelegtes Wörterbuch. So beinhaltet das ‘Summarium Heinrici’ mehr als 4200 deutsche Wörter, die den deutschen Wortschatz von der Wende von ahd. zu mhd. Zeit deutlich erweitern (S. 23f.). Insgesamt vier Fünftel des Werkes basieren auf den ‘Etymologien’ Isidors. Bei der Frage nach den viel diskutierten Größen Entstehungszeit und -ort legt RIECKE überzeugend dar, dass eine Datierung des ‘Summarium Heinrici’ ins letzte Viertel des 11. Jh.s wahrscheinlich ist (S. 37-39). Als Entstehungsraum plädiert RIECKE für den “Großraum” Worms, Lorsch, Würzburg (S. 40). Kleidung und Stoffe werden im 9. Buch, Kapitel 1-14 des ‘Summarium Heinrici’ behandelt. Die Einträge folgen, mit kleineren Umstellungen, den Kapiteln bei Isidor. Bemerkenswert ist, dass sich die deutschen Einträge an den Stellen häufen, wo es um Bezeichnungen für Werkzeuge und Herstellungsprozesse geht (S. 47). Vor diesem Hin-

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tergrund muss die wesentliche Beteiligung der Zisterzienser an Rezeption und Bear-beitung des ‘Summarium Heinrici’ herausgestellt werden (S. 40). Das ‘Summarium’ besaß offensichtlich dezidiert lebenspraktische Relevanz für seine Rezipienten. Besonderes Verdienst kommt RIECKE in seiner Sensibilisierung des Lesers für die Schwierigkeiten bei der Übersetzung ahd. Begriffe zu: Exemplarisch führt er zehn Lemmata aus dem ‘Summarium’ an und stellt sie den Übersetzungsangeboten aus vier ahd. Wörterbüchern gegenüber. Zuletzt bietet RIECKE einen eigenen, aufgrund der Aus-wertung des ‘Summarium Heinrici’ präzisierten Bedeutungsvorschlag für das jeweilige Lemma (S. 48f.). So muss bspw. die Stoffbezeichnung scarlach von ahd. sceran = scheren abgeleitet werden, woraus eine Interpretation des Wortes als “geschorenes Tuch” und nicht wie bisher meist angenommen “roter Stoff” resultiert. RIECKE schlussfolgert: “Die Untersuchung der althochdeutschen Bezeichnungen für Kleidungsstücke im ‘Summarium Heinrici’ macht exemplarisch deutlich, dass eine kulturgeschichtlich ausgerichtete Sprachgeschichte ohne Kenntnisse der Sachgeschichte nicht gelingen kann” (S. 49). Im zweiten Teil der Untersuchungen folgen synoptisch lateinischer Text und deutsche Übersetzung der textilienbehandelnden Abschnitte aus Isidors ‘Etymologien’ (Buch 19, Kap. 20-34; S. 56-101) und dem ‘Summarium Heinrici’ (Buch 9, Kap. 1-14; S. 103-125). Textgrundlage für das ‘Summarium’ sind die Editionen von REINER HILDEBRANDT aus den Jahren 1974 und 1982. Die Übersetzungen wurden jeweils von MALTE-LUDOLF BABIN vorgenommen. Hinter dem anschließenden, mit “Die Transformation lateinischen Bildungswissens in die Volkssprachen” betitelten Abschnitt verbirgt sich eine tabellarische Auflistung (S. 127-153) der bei Isidor und im ‘Summarium Heinrici’ vorkommenden Bezeichnungen mit der jeweiligen, von BABIN, MÜLLER und RIECKE deduzierten deutschen Übersetzung. Worauf sich die Seitenangaben “S. 318-333” in der Spalte zum ‘Summarium Heinrici’ beziehen, ist allerdings nicht ersichtlich. Auf den Seiten 155 bis 533 folgt das Herzstück der Publikation: MECHTHILD MÜLLERs “Ergänzender Kommentar zu Isidors gesammelten Angaben”. Dabei folgt die Autorin der Kapitelfolge der ‘Etymologien’. Der Kommentar beginnt mit Kapitel 20: “Die Erfindung der Wollearbeit”, in welchem MÜLLER mit dem in Ovids ‘Metamorphosen’ geschilderten Streit zwischen Minerva und Arachne ein anschauliches Beispiel der antiken Webkunst anführt, auf das auch in den folgenden Kapiteln immer wieder Bezug genommen wird. Im anschließenden Kapitel widmet sich Isidor – und damit auch MÜLLER – der “Priester kleidung nach mosaischem Gesetz”. Jedes einzelne Kleidungsstück ist mit einem eigenen Kommentar versehen. Ergänzend zu den Ausführungen bei Isidor wertet MÜLLER, wie generell so auch hier, weitere antike Quellen aus. Für das Aussehen der Priesterkleidung von besonderer Bedeutung sind Josephus und Hieronymus. Nahezu bei-läufig räumt MÜLLER mit überkommenen Forschungsmeinungen auf und diskutiert ältere Übersetzungen (S. 158, Anm. 8). Am Ende des Kapitels folgt eine Schlussbetrachtung, in der die Autorin alle Erkenntnisse über die priesterliche Ausstattung noch einmal zu-sammenfasst. Die Ausführungen werden durch Fresken-Abbildungen aus Synagogen und koptischen Klöstern abgerundet. Das 22. Kapitel handelt von “den verschiedenen Arten und den Namen der Kleidungs-stücke”. Besonders ausführlich geht MÜLLER auf die Tunika ein und bricht eine Lanze für deren Farbigkeit: “Es ist einfach nicht vorstellbar, dass die [...] Bevölkerung [Roms] über die Jahrhunderte hinweg nur weiße Tuniken bevorzugte” (S. 182). Im weiteren Verlauf des Kapitels wird auch auf die Frage nach der Beschaffenheit der ungenähten

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Tunika, die bei der Kreuzigung Jesu beschrieben wird, eingegangen. MÜLLER nimmt an, dass es sich dabei um eine quergewebte Tunika gehandelt habe (S. 183). Neben Schriftquellen werden auch archäologische Textilfunde und zeitgenössische Abbildungen zum besseren Verständnis der antiken Kleidung herangezogen. Immer wieder eingestreut sind zudem Auseinandersetzungen mit der aktuellen Forschungs-literatur und Angaben weiterführender Publikationen. Konnte zu bestimmten Begriffen nichts herausgefunden werden, scheut sich die Autorin nicht, auch einmal andere Autoren zu Wort kommen zu lassen. So findet sich unter dem Lemma ‘apocalama’ der Eintrag: “Über diesen Begriff hat sich JOHANN SOFER Gedanken gemacht. Am Ende seiner Unter-suchungen kam er zu dem Schluss: ‘Sicherheit freilich lässt sich, da das Interpretement fehlt, wohl kaum gewinnen’” (S. 192). Es folgt Kapitel 23 “Von der charakteristischen Kleidung [und den Kennzeichen] einiger Völker”. Hier wird mit kurzer, lexikonartikelartiger Beschreibung eine histo-rische Einordnung der bei Isidor aufgeführten Völker vorgenommen. Die Länge und Ausführlichkeit der Völkerbeschreibungen fällt sehr unterschiedlich aus. Teilweise ver-misst man Angaben über das Stammesgebiet. Auch auf die “charakteristische Kleidung” wird nicht immer eingegangen. Fraglich bleibt, warum Sidonius auf S. 216 zunächst als Gallo-Römer bezeichnet wird, wenn es im nächsten Absatz heißt, die Gallo-Römer seien seine Nachbarn. Bei der Beschreibung der suebischen Haartracht durch Tacitus (S. 217) hätten archäologische Beispiele von Moorleichen mit Suebenknoten angeführt werden können. Bei Aussagen wie “Pelzkleidung trug man sowohl von Fellen einheimischer, als auch von importierten Tierarten” (S. 218), wünscht man sich als Leser, gerade weil jegliche Belege fehlen, genauere Angaben, um welche Tiere es sich dabei gehandelt hat. Am Ende des Kapitels fasst MÜLLER zusammen, dass es weder bei Isidor noch in der übrigen antiken Literatur Anzeichen gibt, nach denen die Kleidung der “Barbaren” als primitiv wahrgenommen wurde. Vielmehr sei zu erkennen, dass “sich die antike Welt durchaus für fremdartige Kleidung begeistern konnte” (S. 233). “Schmutzige, ungepflegte Haare, ungefärbte, sackbraune, fleckige, manchmal zerrissene Kleidung und unordent-liches Aussehen, in denen z.B. in Fernsehfilmen selbst ranghohe Germanen vorgeführt werden, sind allein Bestandteil der Legende” (S. 233). Von Überbekleidung, die bei Isidor generell “pallea” heißt, handeln, aufgeteilt in Männer- und Frauenpallea, die Kapitel 24 und 25. Unter der Überschrift “Die Römer, das Volk der Toga” verbirgt sich ein beinah 20 Seiten starker Abschnitt über die Toga, in dem alles, was es über dieses Kleidungsstück zu erfahren gibt, aufgeführt wird. In umfassender Weise wurden für dieses Kapitel die antiken und kaiserzeitlichen Quellen ausgewertet. MÜLLER merkt an, dass nicht ersichtlich ist, welches das Unterscheidungs-kriterium zwischen der bei Sueton erwähnten römischen Toga und der sog. griechischen Tracht in der Kaiserzeit war (S. 234). Der Bezug zu Isidor ist bei diesem Kleidungs-stück freilich geringer als bei anderen. Wie auch schon zuvor wird die Darstellung an manchen Stellen durch Bemerkungen wie die Toga sei, wenngleich “eines der am meisten untersuchten Kleidungsstücke, [...] immer noch für Überraschungen gut” (S. 239), aufgelockert. Die beiden Kapitel sind gespickt mit Zitaten aus antiken Quellen, deren originaler Wortlaut sich jeweils in den Fußnoten findet. Auch literarische Quellen, wie die ‘Aeneis’ oder der ‘Apuleius’ wurden ausgewertet. Ganz nebenbei erfährt der Leser sogar, dass die Beschreibung von Pallas Athene/Isis aus dem ‘Apuleius’ als Vorbild für Mozarts Königin der Nacht diente (S. 284). Die soziale Funktion von Kleidung wird besonders deutlich, wenn es um die Verschleierungspflicht der Frau geht (S. 289-293).

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MÜLLER zeichnet hier eine Entwicklung von “archaischer Zeit” (S. 292) bis zum heutigen Grundgesetz nach, nach welchem “Männer und Frauen gleichberechtigt sind” (S. 293). An die Beschreibung der einzelnen Kleidungsstücke schließen sich Kapitel über “Decken und die übrigen gebräuchlichen Textilien” (S. 293-309), “Wolle und andere Rohstoffe” (S. 309-339) sowie über die “Farben der Kleider” (S. 340-373) an. Im Kapitel über die Textilienrohstoffe wird ausführlich auf die Seide und die dieser zugrunde liegen-den Seidenraupen eingegangen (S. 323-338). Kulturgeschichtlich wichtig, aber nicht zum eigentlichen Thema gehörig, ist ein Einschub zu “Waldwolle”, einer im 19. Jh. herge-stellten Wolle aus Fichtennadeln (S. 339). Auch beim Lemma ‘Spinnenseide’ (S. 323) stellt sich die Frage der Relevanz des zugehörigen Eintrags, da hauptsächlich auf den heutigen Gebrauch dieses Rohstoffs eingegangen wird. Vermissen wird man hingegen eine Erwähnung der auch in der Antike als Faserlieferant genutzten Brennnessel. In Kapitel 28, das von den Farben handelt, beschreibt Isidor “Herkommen, Herstellung und Aussehen der Farben, die für die Textilien des jüdischen Tempels vorgeschrieben waren” (S. 340). In diesem Kapitel wird besonders der etwas mangelhafte Umgang mit den Hinweisen auf die Abbildungen deutlich. Anstatt an der jeweiligen Stelle im Text auf die Abbildung, auf die sich bezogen wird, zu verweisen, finden sich lediglich hinter der Überschrift die (uneinheitlichen) Angaben zur Tafel, auf der sich die Abbildung befinden soll. Der Leser muss sich umständlich den Weg zur richtigen Abbildung suchen. Dass diese Angaben zum Teil fehlerhaft sind, zeigt sich unter den Lemmata ‘Schneckenpurpur’ und ‘Kombinationsfärbung’, wo auf Tafel 10 verwiesen wird, die nichts mit den dort beschriebenen Vorgängen zu tun hat. Vermutlich ist Tafel 19 gemeint, da dort Beispiele von Purpurfärbungen zu sehen sind. Im Abschnitt zu den Färberwerkstätten (S. 370-372) geht MÜLLER auch auf Farb-fälschungen in der Antike ein und referiert über die von EDMUND O. VON LIPPMANN zu Beginn des 20. Jh.s dechiffrierten Decknamen, mit denen Farbrezepte geheim gehalten wurden. So sei “Anthrax” eine Bezeichnung für Färberwaid und “Blut der Taube” der Deckname für Mennige oder Zinnober (S. 371f.). Auf die Farben folgt ein Kapitel zu den Werkzeugen, die zur Textilherstellung verwendet wurden (S. 374-398). Unter dem Eintrag “pecten”, Weberkamm, findet sich, leider ohne Beleg, die Aussage: “Eiserne Kämme sind im archäologischen Fundgut erhalten” (S. 376). Gerne hätte man als Leser mehr darüber erfahren, bspw. wo diese Kämme gefunden wurden und wie sie datieren. Die Hinzuziehung von Kammfunden aus Holz oder Horn hätten die Ausführungen bereichert. Für Verwirrung sorgt die Bezug-nahme auf einen an der Stelle nicht zitierten Text Conrads von Mure unter dem Lemma ‘filum’ (S. 381). Ob sich die Aussage auf einen unter “alibrum” (S. 378f.) zitierten Ab-schnitt aus Conrads von Mure ‘Fabularius’ bezieht, ist nicht eindeutig zu bestimmen. Eine überzeugende Erklärung bietet MÜLLER für die Tatsache, dass nur sehr wenige mit Gold verarbeitete Textilien erhalten sind: Wie eine Stelle bei Vitruv beweist, wurde das in Textilien verarbeitete Gold recycelt, wenn diese verschlissen oder unmodern geworden waren (S. 387). Im anschließenden 30. Kapitel behandelt Isidor Schmuck “ornamenta” (S. 410-434). Am Ende des Kapitels fügt MÜLLER eine Zusammenfassung der zuvor auf die einzelnen Einträge verstreuten “Triumphe und Insignien” der Römer an (S. 431-434). Auch wenn das folgende Kapitel (S. 343-460) mit dem Titel “Vom Kopfputz der Frauen” überschrieben ist, handelt es nicht nur von frauenspezifischen Schmuckstücken, vielmehr stellt es, so MÜLLER, eine durch Isidor vorgenommene Sammlung “jahrhunderte

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alter Bezeichnungen” dar (S. 434). Unklar bleibt, weshalb unter dem Stichwort “nimbus” zwar auch “Stirnband” als Übersetzung im Titel angegeben wird, im Text aber lediglich auf den Nimbus als Schein um den Kopf einer Figur eingegangen wird (S. 437f.) und ebenso, wieso unter “Kapuze” offensichtlich eine zweispitzige Kopfbedeckung zu ver-stehen ist (S. 438). Nach Schmuck und Kopfputz folgen bei Isidor Kapitel zu Fingerringen (S. 460-472) und Gürteln (S. 472-482). Die Darstellung endet, in Kongruenz zu den klassischen Regeln der Beschreibung eines Menschen bei den Füßen, mit dem Kapitel zum Schuhwerk (S. 482-501). Hier wird ausführlich auf Ledergerbung und -färbung eingegangen. Ein umfangreiches Quellenverzeichnis (S. 502-514) sowie ein Personenregister (S. 521-533) beschließen MÜLLERs Beitrag. Wäre der Band hier zu Ende, hätte sich ein rundes Bild eines wirklich gelungenen Buchprojekts ergeben. Allerdings schließen an dieser Stelle vier “Einzeluntersuchungen aus archäologischer Sicht” an, deren Platz im Band rätselhaft bleibt, da sie weder mit Isidors ‘Etymologien’ noch mit dem ‘Summarium Heinrici’ in Bezug stehen. Besonders verwundert auch, dass bis auf den Beitrag von TOBIAS ESPINOSA “Zum Phänomen der Nacktheit im römischen Reich. Eine Studie zum augenblicklichen Stand der Wissenschaft” (S. 537-546) keiner der Beiträge im Prolog erwähnt wird. So stehen die Einzeluntersuchungen völlig getrennt vom übrigen Band und wirken wie Versatzstücke. Unterstrichen wird dieser Eindruck durch die für den Leser irritierenden, jeweils unterschiedlichen Zitierweisen jedes Autors. Selbst Einigkeit darüber, welche Rechtschreibung verwendet wird, herrscht nicht. Behandelt ESPINOSA in seinem Beitrag immerhin eine Zeitstufe, die noch mit dem Thema des Bandes in Beziehung steht, so wirkt der Artikel von ANNE REICHERT “Die Anfänge der Textilien” (S. 547-553) einfach nur fehl am Platz. In einem mit “Das Thema Kleidung in den Etymologien Isidors von Sevilla und im Summarium Heinrici 1” be-titeltem Band, erschließt sich für den Leser weder Relevanz noch Sinn eines Beitrags, in dem es ausschließlich um die Nutzung von Lindenbast in der Vorgeschichte und – so wird im Laufe des Artikels klar, ohne dass es explizit erwähnt würde – in der experimentellen Archäologie geht. REICHERT schließt ihren Beitrag mit: “Manche Geigenbauer verwenden heute noch Leimpinsel aus Lindenbast. Man kann sie im Internet bestellen, ebenso wie die Lapti genannten Sandalen, die in Sibirien aus Lindenbast geflochten werden – wie in der Steinzeit!” (S. 551). Was diese Informationen hier zu suchen haben, erschließt sich der Rezensentin nicht. Es folgt der Beitrag “Auratae vestes” von MARGARITA GLEBA (S. 555-564), in dem die Autorin Textilien mit Goldanteil behandelt. Dabei geht sie auf diverse archäologische Funde von Goldtextilien ein, die zumeist aus Gräbern stammen. Durch Querverweise auf GLEBAs Beitrag und MÜLLERs Kommentar, wo Goldtextilien behandelt sind, hätte die Publikation an Relevanz gewonnen. Zu bedauern ist, dass der hervorragende Beitrag von JOHANNA BANCK-BURGESS über “Textilarchäologie und Kleiderforschung nördlich der Alpen. Schwerpunkt: Alamannen und Merowingerzeit” (S. 565-576) ebenso unkommentiert bleibt, wie die übrigen Einzeluntersuchungen. Die Publikation dieses Artikels an einer zugänglicheren bzw. offensichtlicheren Stelle wäre wünschenswert gewesen. Es bleibt zu hoffen, dass der Artikel trotzdem seine Würdigung erfährt. Neben einer Beschreibung der Webtechniken und Stoffarten (S. 572-574) geht BANCK-BURGESS auch auf die mittlerweile regelhaft durchgeführten Fundbergungen “en bloc” ein, die eine genaue Untersuchung der Funde in der Restaurierungswerkstatt ermöglichen (S. 566f.). Über die Situation nördlich der

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Alpen berichtet die Autorin: “In fast allen Blockbergungen mit Metallobjekten können inzwischen organische Reste und deren Befunde dokumentiert werden. Die Anzahl der organischen Funde ist demzufolge um ein Vielfaches größer, als bisher angenommen und dokumentiert wurde” (S. 567). Neben dem Ergebnis, dass es im Frühmittelalter wohl keinen Textilhandel in größerem Umfang gegeben hat (S. 574) und dass bei “kostbarer Kleidung” nicht nur das Aussehen, sondern auch die “kulturspezifische Herstellungs-tradition” eine Rolle spielte (S. 569), plädiert BANCK-BURGESS zudem dafür, die These, dass sich “Aussehen, Schnitt und Tragweise der Kleidungsstücke änderte, wenn sich nichttextile Bestandteile in Art und Position änderten”, zu überdenken (S. 566). Sie kommt u.a. zu dem Ergebnis, dass Fibeln nicht unbedingt eine vorrangig funktionale Bedeutung hatten. So weist die Position von Fibeln im Hüft- bzw. Oberschenkelbereich eher auf einen Zusammenhang mit einem Gehänge hin (S. 566). Den Abschluss des Bandes bildet ein sehr hilfreiches textiltechnisches Glossar (S. 577-581), ebenfalls von BANCK-BURGESS. Bei der Beschreibung der “Schuß-Kompositbindung” werden dankenswerterweise auch die französischen und englischen Bezeichnungen aufgeführt. Zu monieren ist hier lediglich, dass zwei Lemmata (‘Flechten’ und ‘Zwirn-bindung’) ohne Eintrag bleiben und unter dem Lemma ‘Farbmuster’ auf eine Abbildung verwiesen wird, die im Band nicht vorhanden ist. Unter dem Thema “Kleidung in den Etymologien Isidors von Sevilla und im Sum-marium Heinrici 1” bietet der Band eine erschöpfende Untersuchung über die Textilien behandelnden Kapitel bei Isidor und im ‘Summarium Heinrici’. Er gibt kenntnisreich über Kleidung, Schmuck und Textilien in der Antike und Spätantike Auskunft. Dass der Band ein recht heterogenes Bild bietet, ist den “Einzeluntersuchungen aus archäologischer Sicht” geschuldet, die weder zum Thema noch zum Titel passen wollen. Generell hätte der Publikation eine abschließende Gesamtredigierung gut angestanden. So hätten die unterschiedlichen Zitierweisen und die irritierende Verwendung aller existierenden Stufen der deutschen Rechtschreibung angeglichen und unterschiedliche Schreibungen wie Aron/Aaron und diverse Tippfehler und Abschnitte, die inhaltlich keinen Sinn ergeben (vgl. z.B. S. 371 oben) beseitigt werden können. Aber all das ist im Vergleich zu dem, was der Band leistet, nebensächlich. Handelt es sich doch um einen Meilenstein auf dem Gebiet der antiken Textilkunde und ein vorbildlich durchgeführtes Zusammenspiel unterschiedlicher Forschungsdisziplinen, von deren Synergieeffekten die Forschung in den kommenden Jahren erheblich profitieren wird.

Alissa Theiß, M.A., Philipps-Universität Marburg, Fachbereich 09 Germanistik und Kunstwissen-schaften, Institut für Deutsche Philologie des Mittelalters, Wilhelm-Röpke-Str. 6A, D–35032 MarburgE-Mail: [email protected]

UTZ MAAS unter Mitarbeit von SOLVEJG SCHULZ, Was ist Deutsch? Die Entwick-lung der sprachlichen Verhältnisse in Deutschland, München 2012. Wilhelm Fink Verlag, 532 S. mit Abb., ISBN 978-3-7705-5272-6, EUR 98,–

UTZ MAAS hat eine umfängliche Sprachgeschichte des Deutschen vorgelegt und ist dabei nicht so vorgegangen, wie man es seit JACOB GRIMMs Tagen gehalten hat, vom Alten (je

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nach Einstieg beim Indogermanischen, Alt-, Mittel- oder Frühneuhochdeutschen) zum Neuen, sondern er versucht, ein oft geäußertes, aber noch nie konsequent realisiertes Postulat umzusetzen, eine deutsche Sprachgeschichte, die bei der Gegenwart ansetzt und von da aus sukzessive in die Vergangenheit zurück schreitet. Das Buch umfasst 27 Kapitel, die zu neun übergeordneten “Blöcken” zusammengefasst sind. Bereits im Vorwort wird deutlich, dass es sich nicht einfach nur um eine rückwärts-gehende Sprachgeschichte handelt, sondern dass vor allem ein aufklärerischer Impetus die Arbeit an dem Buch angetrieben hat. Offenbar versteht MAAS sein Werk als nichts Geringeres als die erste sachadäquate deutsche Sprachgeschichte überhaupt, denn anders ist es kaum zu verstehen, warum für ihn die bisherige Beschäftigung mit Sprachgeschichte eine “weltfremde Angelegenheit von Menschen” ist, “die sich den Luxus leisten können, sich mit so entlegenen Dingen wie der Schreibpraxis in klösterlichen Skriptorien des frühen Mittelalters oder dem Lautwandel im Verlauf der Völkerwanderung zu befassen” (S. 14). Das erinnert fatal an Plattitüden, wie man sie auf Flugblättern der 70er Jahre lesen konnte. Die Relevanz seines Gegenstands begründet MAAS damit, dass “die Spannungen in der Entwicklung der sprachlichen Verhältnisse sichtbar gemacht werden” sollen. Er werde, verspricht er, auf den folgenden ca. 500 Seiten “Erinnerungsarbeit” leisten, “die Vergessenes und Verdrängtes zugänglich macht” (S. 15). “Block I” steigt noch nicht in die sprachhistorische Materie ein, sondern hier liest man Grundsätzliches, etwa dass es ein “Bedrohungsszenario” gebe, “mit dem moralische Pa-niken erzeugt werden, insbesondere gegenüber den neuerdings ‘Zuwanderer’ genannten Menschen, ohne die die Gesellschaft sich nicht reproduzieren könnte” (S. 23). In dem Zusammenhang fehlt auch der Hinweis nicht auf die “Nachwirkungen der faschistischen Barbarei” (S. 24) und “die Prekarität, die gerade im jüdischen Fall an dem schauderhaften Rückfall in die Barbarei des Faschismus deutlich wird” (S. 25). Um nicht missverstanden zu werden: Es ist nicht so, dass der Rezensent die tiefe Abscheu vor üblen Entwicklungen in der gegenwärtigen deutschen (sicher auch österreichischen) Gesellschaft nicht teilen würde. Im Vorspann zu einer Sprachgeschichte bzw. als Rechtfertigung einer solchen wirkt dergleichen aber reichlich obsessiv. Im Kapitel “Deutsche Sprache in und außerhalb Deutschlands, Register, Migration” werden deutsch-deutsche Migrationsbewegungen als Folge des Zweiten Weltkriegs und Einwanderungen von außerhalb des deutschen Sprachraums in die Bundesrepublik und die DDR skizziert. Dabei wird die “Virtuosität” des kompetenten deutsch-türkischen Code-switching bei Sprechern der zweiten Generation hervorgehoben. Behauptungen wie die, es gebe für Migranten einen “institutionell verweigerten Zugang zum Deutschen” (S. 52) oder viele Jugendliche würden “von der Partizipation am förmlichen Register ausgeschlossen” und “faktisch” fände “eine ethnisch fundierte, sprachlich negativ artiku-lierte, gesellschaftliche Unterschichtung durch die Migration statt” (S. 43), dürfte im Anbetracht aktueller Integrationsangebote kaum haltbar sein. Kapitel 3 thematisiert “Hochsprache vs. Dialekt (als Beispiel Niederdeutsch)”. “Umgangssprache” wird als Ebene zwischen “Hochsprache/Schriftsprache” und “intimem Register” angesetzt. Im Folgekapitel werden Dänisch, Friesisch und Sorbisch als Minder-heitssprache erwähnt. Informativ sind dabei sublinear übersetzte Textproben, wie über-haupt der Bezug auf Textbeispiele auch im Folgenden einer der wenigen Vorzüge des Buches ist. Ein Sonderfall sind Anglizismen in der Gegenwartssprache. MAAS ist zuzustimmen, wenn er “pathologische Metaphern” wie die Redeweise von der “Vergiftung des Sprach-

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körpers” zurückweist, doch fragt man sich, wer außer ewig gestrigen Kulturkämpfern sich heute so äußert. Beizupflichten ist ihm, wenn er befindet, es sei “zweifellos albern, wenn auf einer Tagung in Deutschland bei nur deutschsprachigen Teilnehmern englisch gesprochen wird”. Auch beim Thema “Englisch als Wissenschaftssprache” kann man ihm nur zustimmen, wenn er schreibt: “da, wo Sprache ein konstitutiver Faktor bei der Artiku-lation von Gedanken ist wie in Geisteswissenschaften oder den Rechtswissenschaften, stellt sich die Lage anders dar als bei den Naturwissenschaften, bei der mathematischen Darstellung von Sachverhalten” (S. 75). Gerade bei deutschsprachigen Linguisten ist ja die zunehmende Tendenz zu erkennen, einen quasinaturwissenschaftlichen Status dadurch zu prätendieren, dass über germanistische Themen auf Englisch publiziert wird. Im sprech- und schreibsprachlichen Varietätenspektrum spielen mittlerweile auch die neuen Medien ein gewichtige Rolle (dazu S. 76-80). Kapitel 5 befasst sich unter der Über-schrift “Polyzentrisches Deutsch” mit “Staatsgrenzen im deutschen Sprachraum”, ein Unterkapitel mit der Frage “Sprache in der BRD vs. DDR – zwei Sprachen?”. Man liest vom “Kollabieren der imperialistisch geordneten Welt” und von “der Elterngeneration, die die faschistische Entwicklung getragen hatte” (S. 86). Der “kulturelle Umbruch” wird auf mehreren Seiten an der Veränderung der du- und Sie-Verteilung festgemacht, die sich überwiegend nur im universitären Milieu, nur begrenzt jedoch in der sonstigen Öffentlichkeit vollzogen habe. Dass die Verteilung von Du und Sie mit den “Brutalitäten des Nationalsozialismus” (S. 89) im Zusammenhang stehe, ist abwegig. Ein weiterer Punkt, der jedoch nur kurz angesprochen wird, ist der des generischen Femininums. Man kann getrost prognostizieren, dass sich dergleichen (diesseits universitärer und publizistischer Inseln) in der relevanten öffentlichen Sprachpraxis nicht durchsetzen wird. Mit Repression hat das nichts zu tun, sondern mit Sprachökonomie und praktischer Vernunft. Dass “bei Texten in den USA (und daran angelehnt inzwischen in Deutschland) die femininen (also im Sinne des grammatischen Systems: die markierten) Termini oft generisch benutzt werden” (S. 90) ist schon deshalb unmöglich, weil das Englische über keine Motionsmöglichkeiten wie das Deutsche verfügt. “Block II” behandelt den Zeitraum von der Reichsgründung bis 1945. Zur Sprache kommen Urbanisierung, Veränderung von Wirtschaftsformen, Kolonialismus, ein “auf Selektion getrimmtes” (S. 93) Schulsystem, Emigration und Immigration, National-sozialismus. In einem “Postskript 1: Rassismus” ist die Rede von einer “Schwurgemein-schaft, die zugleich als Abendmahlgemeinschaft praktiziert wurde”, in welche Juden und Zigeuner “nicht eingebunden waren” (S. 99). Was unter “Abendmahlgemeinschaft” und “Schwurgemeinschaft” (ein später wiederkehrender Begriff) zu verstehen ist, wäre zu klären (sofern derart abstruse Begriffe überhaupt erklärbar sind). “Block III” (1870-1750) befasst sich mit der “Auflösung der Feudalgesellschaft” und den “Verhältnissen zu Beginn des 19. Jahrhunderts”. Ein Schwerpunkt ist die napoleo-nische Zeit und die sich anschließende Restauration. Exemplarisch für die sprachlichen Entwicklungen wird die “Modernisierung der Schriftkultur im Osnabrücker Land” dar-gestellt. Abschnitt 8.1 erteilt dem Leser einen Schnellkursus zum Thema soziopolitische Veränderungen vom Mittelalter über die Französische Revolution und Napoleon bis ins 19. Jh. Dass “Könige/Herrschaftshäuser” des Zeitraums “in der Regel die ‘nationale’ Sprache nicht” (S. 115) gesprochen hätten, ist unrichtig. Gewiss gab es solche Fälle (z.B. Karl V.), doch sind diese die Ausnahme. Durchaus erhellend sind in dem Zusammenhang die vergleichenden Textproben aus einer deutschen Version des ‘Code Napoléon’ und eines auf Deutsch konzipierten Erlasses der westfälischen Regierung.

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Kapitel 9 in Block III widmet sich der “literarischen Imago des Hochdeutschen”. Die Vorkommenshäufigkeit des Wortes “Imago” – eigentlich ein Begriff der Psychoanalyse – bewegt sich im Verlauf des Buches hoch im zweistelligen Bereich. Die deutsche (Sprach-)Geschichte präsentiert sich für MAAS geradezu als Abfolge von einer “Imago” zur nächsten. Der psychoanalytisch weniger beschlagene Leser kann der Definition im Glossar entnehmen, dass man von einer “Imago” dann spreche, wenn “Vorstellungen sich zu einem Bild formieren, das für das Handeln regulative Kraft erhält” (S. 507). Interessant sind die Ausführungen über geschriebenes und gesprochenes Goethe- und Schillerdeutsch. Allerdings unterliegt MAAS einer eigenen “Imago”, wenn er den schulpädagogischen Bemühungen, insbesondere dem Deutschunterricht, der sich an Schiller und Goethe orientierte, unterstellt, auf “die Ausgrenzung aller derer, die sich in dieser Sprache nicht zuhause fühlen konnten”, abgezielt zu haben. Deutschunterricht ist für MAAS – und er betont in Klammern “(bis heute!)” (S. 134) ein “Schlüsselmoment der Selbstintegration der Menschen in die Reproduktion gesellschaftlicher Ungleich-heit – die in der bürgerlichen Gesellschaft repressive Mechanismen überflüssig macht” (S. 134f.). So oder ähnlich stand es auf den erwähnten Flugblättchen, die man einst genervt beiseiteschob, um das Tablett auf den Mensatisch stellen zu können. Kapitel 10 thematisiert die “Normierung der (Schrift-) Sprache im 18. Jahrhundert” und paraphrasiert das mit der Frage “Was ist Hochdeutsch?” Auch hier ist wieder von einer “Imago” die Rede. Stark vereinfachend ist die Graphik S. 139: Der Weg in die Nor-mierung der geschriebenen Sprache setzt keineswegs erst mit dem Jahr 1700 ein. In dem Zusammenhang erfährt man auch, die Teilnehmer am “Diskurs der Intellektellen” seien “professionelle Autoren” gewesen, “die das Schreiben für ein Publikum als ökonomische Grundlage hatte. Für sie bedeutete es nicht nur Frust, wenn sie nicht gelesen wurden: das hatte auch bedrohliche Folgen. Das erklärt die verbreitete Klage über die ungebildeten Massen, vor allem den ‘ungebildeten Landmann’ – also über das Publikum, das ihre Elaborate verschmähte (nicht kaufte). Dieser Topos bildet die zeitgenössische Stütze für die Vorstellung einer analphabeten Gesellschaft, der von der jüngeren Handbuch-darstellungen fortgeschrieben wurde” (S. 139). Auch die Emanzipation des Deutschen als Wissenschaftssprache (genannt werden Thomasius und Christian Wolff) wird als “elitäre Konzeption, die gegen das Volk gerichtet ist” (S. 140), kritisiert. Dergleichen ist an Plattheit kaum mehr zu überbieten. Autoren des 18. Jh.s wird summarisch Arroganz, Ignoranz, Stümperhaftigkeit und Geldgier vorgeworfen. Mit der Kapitelüberschrift “Romantik: Dialektliteratur” (S. 146) erfolgt eine unsachgemäße Ineinssetzung. Zunächst kommen Autoren von dritt- oder viertrangiger (oder überhaupt keiner) Bedeutung zu Wort: Karl Gutzkow und Ludolf Wienbarg. Zwei Literaten werden sodann mit Textproben exemplarisch als je ein “Vertreter aus dem Norden und dem Süden” vorgestellt: Johann Peter Hebel (1760-1826) und Klaus Groth (1819-1899). Zumindest Groth, dessen Werke in die zweite Hälfte des 19. Jh.s fallen, wird man kaum als “romantischen” Autor in Anspruch nehmen können. Von ihm werden zwölf Verszeilen zitiert und in fünf nichtssagenden Zeilen kommentiert. MAAS stellt fest, bei Groth werde “Sprache verankert im Gefühl – bei der Mutter”. Hebels Genitiv-s sei eine “zeitgenössische orthographische Marotte” (S. 152). Das sind Urteile, aus denen vor allem ahistorische Arroganz spricht. Abwegig ist es auch, einem Mundartdichter des 19. Jh.s ein linguistisches Sündenregister vorzuhalten. Wesentlich umfangreicher (S. 153-164) fällt dann der Passus über “Jid(d)isch” aus. Ohne Zweifel ist die deutsche Übersetzung des hebräischen Pentateuchs durch Moses Mendelssohn (1729-1786) eine

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gewaltige Leistung. Im Zusammenhang mit “Romantik” und “Dialektliteratur” sind die Ausführungen, die MAAS die Gelegenheit geben, seine Hebräischkenntnisse ins rechte Licht zu rücken, allerdings fehl am Platz. Block IV (1750-1630) beginnt mit einem Kapitel “Sprachausbau (Lateinisch vs. Deutsch)”. Die Rede ist u.a. von einer “artifiziellen Maskerade” (168). War, so fragt sich der erstaunte Leser/Rezensent, die “Fruchtbringende Gesellschaft” eine Karnevalsver-anstaltung? Soeben noch bekam man unkommentiertes Hebräisch gewissermaßen vor die Füße gekippt, nun plötzlich werden dem dummen Leser Transkriptionen einwandfrei lesbarer Fraktur- und Antiqua-Seiten geboten (S. 169f.), und das auch noch fehlerhaft, denn ein lateinisches Muruo gibt es nicht. Es steht auf der abgebildeten Seite auch nicht da, sondern es heißt Mutuo, was ‘wechselseitig’ bedeutet (dummerweise sehen t und r ähnlich aus). MAAS’ Sprachgeschichte im Rückwärtsgang bringt es mit sich, dass Innovationen wie z.B. die Entstehung der deutschen Lexikographie und Grammatikschreibung nicht als solche erkannt werden. Wer sich anachronistisch von der Gegenwart her annähert, kann natürlich befremdet die Stirne runzeln, dass in Schottels ‘Teutscher Haubt-Sprache’ Wortbedeutungen lateinisch gegeben werden. Dass die deutsche Lexikographie aus der lateinischen hervorgegangen ist, ebenso wie die deutschsprachige Grammatik zunächst auf dem Boden der lateinischen gewachsen ist und sich allmählich davon emanzipiert hat, wird nicht gesehen. Und so kommt es auch wieder zu inadäquaten Urteilen, etwa wenn MAAS u.a. über Schottel schreibt, die “Matrix, gerade auch für das grammatische Denken, bleibt das Lateinische. Auf dieses pfropfen sie ihr Kunstobjekt: die neue Sprache, für die sie regelhafte Strukturen definieren, die jenseits der gesprochenen Sprache liegen” (S. 175). Dass hier wieder die stereotyp wiederholte “Imago” auftaucht, verwundert weiter nicht. Wenn im Zusammenhang mit hochkomplexen Satzperioden Grimmelshausens kritisch angemerkt wird, dass “in der einschlägigen germanistischen Literatur meist übersehen” werde, dass “es sich um eine Lesegliederung” (S. 178) handelt, so hat MAAS seinerseits übersehen, dass das in der sprachhistorischen Literatur bereits hinreichend festgestellt worden ist. Kapitel 13 behandelt “Mehrsprachigkeit in der Barock-Zeit”. Illustrativ ist auf S. 179 eine faksimilierte nieder- und eine hochdeutsche Schreibprobe ein und desselben kirch-lichen Lehramtsanwärters von 1779 (thematisiert ist jedoch der Zeitraum von 1750 bis 1630!). Der nur sechszeilige hochdeutsche Text weist allerdings vier Transkriptionsfehler auf: dass (statt richtigem daß), Erkentniß (statt Erkantniß), Jehsu (statt JEsu) und unseres (statt unsers). Kurz abgehandelt werden “Zigeuner”, wobei, auch wenn wir mittlerweile im 18. Jh. angelangt sind, der Hinweis auf faschistische Rassenpolitik im 20. Jh. nicht fehlen darf. Behandelt werden im Folgenden “Französisch als Bildungssprache (neben Latein)”, “Anredeformen”, die “Regionalsprachen Niederdeutsch, Slavisch, Jidisch”. “Block V” (1620-1520) thematisiert das konfessionelle Zeitalter. Begonnen wird mit “Bildungsverhältnissen im 16. Jahrhundert”. Dass in diesem Zeitraum “1/3 der Bevölkerung [...] bei Seuchen” (S. 221) gestorben sei, trifft nicht zu. Die verheerenden Pestepidemien datieren in die Jahre um 1350. Auch hatte die Hanse längst keine “dominante Machtposition” mehr, sondern war im Niedergang begriffen. Unzutreffend ist ferner, dass es in der lateinischen Schriftlichkeit ein “differenziertes System von Kürzeln” gegeben habe, das “eine Art Stenographie erlaubte” (S. 225). Was es gab, war ein Standardrepertoire von schreibökonomischen Abbreviaturen. Im Zusammenhang mit Schwierigkeiten, die sich ergaben, wenn sich im 17. Jh. Sprecher des Niederdeutschen

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veranlasst sahen, Hochdeutsch zu schreiben, kommt wieder die ominöse “Imago” ins Spiel. Ungefähr bedeutungsgleich wird hier auch das nicht minder schwammige Wort “Projekt” verwendet. Im Zusammenhang mit Sprachlehren heißt es, “am Horizont dieser pragmatisch ausgerichteten Werke zeichnete sich aber das intellektuelle Projekt einer nationalen Sprache ab” (S. 231). In der Zeit des Barock gab es keine deutsche Nation, folglich konnte es auch kein “nationales Projekt” geben. Weitere Unterkapitel behandeln reformationszeitliche Sprachlehren. S. 233 wird auf die bekannte Baseler Unterrichtsankündigung von 1516 Bezug genommen. Darin ist aber nicht, wie MAAS transkribiert, von meitliu die Rede, sondern von meitlin. Die Datierung noch den fronuasten bedeutet auch nicht ‘nach Pfingsten’, sondern jeweils nach dem Quatemberfasten. Kursbeginn war also vierteljährlich (nach dem ersten Fastensonntag Invocavit, nach Pfingsten, nach dem 14. September = Kreuzerhöhung und nach dem 13. Dezember = St. Lucia). Die kurze Schreiblehre des Landshuter Schulmeisters Hueber von 1477 hat in einem “Block” 1620-1520 nichts zu suchen. Kapitel 16 behandelt “Buchdruck und Bibelübersetzungen”. Eingangs liest man erstaunt, “die reformatorische Bewegung” habe als “zentrale Agentur” für “die Neu-zentrierung der sprachlichen Verhältnisse auf die hochdeutsche Schriftsprache”(S. 243) fungiert. “Reformationen”, erfährt man weiter, seien “in der Kirchengeschichte ende-misch” (S. 244). Religiöse Erneuerung als wiederkehrende Krankheit? Dass “Luthers Thesenanschlag 1517 in Wittenberg” für “die revolutionären Potentiale” eine “Signal-wirkung” gehabt haben soll, ist zu bezweifeln, denn Luthers spektakulärer Thesen-anschlag gehört ins Reich der nationalen Legenden (oder wie Luther sagen würde Lügenden). Tatsache ist freilich, dass der gedruckte ‘Sermon von Ablass und Gnade’ politisch interpretiert worden ist. Fraglich bleibt, wer die “gesellschaftliche Geschäfts-führung” innehatte (die besagte “Agentur” vielleicht?). Ferner wüsste man gerne, in welchen “Akten” vom “Epikurismus des Volks” die Rede ist. Verfehlt ist es, wenn MAAS schreibt, “die Gemeinde soll die Bibel [...] lesen, d.h. passiv nachvollziehen”. Luther befürwortete im Gegenteil vehement ein selbständiges, mithin aktives Lesen der Bibel, und zwar gerade ohne die behauptete “professionelle Ausbildung” als Voraussetzung. Luther wird (anders als Thomas Müntzer) als Vorreiter eines “rigiden Systems der Sozial-disziplinierung” gesehen, deren Ziel “die Herstellung nützlicher Untertanen” (S. 245) gewesen sei. Sogleich erfolgt der Schwenk zu den “Polizeiordnungen” der Zeit und zu “Zwangsanstalten”, wie es “die Arbeitshäuser” gewesen seien. Und selbstverständlich wurden “Opfer dieser sozialen Neuausrichtung [...] nicht zuletzt die Zigeuner” (S. 246). Im Literaturanhang zum Luther-Kapitel (S. 529) stammen von nur sechs genannten Titeln vier von MAAS selbst. Arbeiten von sachkundigeren Autoren werden nicht genannt und wurden auch nicht zur Kenntnis genommen. In Kapitel 17 erfährt man, dass es sogar auch noch eine “wirksame Imago des Lateinischen” (S. 269) gab. Begonnen wird mit einem Abriss der Sprachgeschichte des Lateinischen, der bis ins Mykenische und Sumerische ausgreift (S. 270f.). Man erfährt mancherlei Linguistisches über das Lateinische, das hier nicht weiter zu kommentieren ist, weil kein Zusammenhang mit dem Buchtitel “Was ist Deutsch?” zu erkennen ist. Mit “Block VI, 1520-1350” ist das Spätmittelalter erreicht. Begonnen wird mit einem Kapitel über “die mittelalterliche Stadt”. Dass Karl IV. nicht – wie MAAS behauptet – ein Habsburger war (so S. 301), sondern Luxemburger, sei nur erwähnt. Wieder wird “das gesellschaftliche Projekt Deutschland” thematisiert. Es “wurde projiziert auf die kaiserliche Zentralgewalt, so symbolisch reduziert diese auch sein mochte”. Die Frage,

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wer “das Projekt Deutschland” in welcher Weise “projizierte”, oder anders gesagt, was überhaupt unter seiner solchen “Projektion” zu verstehen ist, und welche “Gesellschaft” ein wie beschaffenes “Projekt” getragen hat, bleibt offen. Es werden nur hohle sozio-politologische Worthülsen verschossen. Dass ein Stadtbuch des 15. Jh.s (als Beispiel dient ein Exemplar aus Oldenburg) aufgrund der bloßen Tatsache, dass darin Texte schriftlich festgehalten sind, “in der Tradition magischer Gegenstände” (S. 308, ähnlich auch 313) stand, ist abwegig. Im Zusammenhang mit der städtischen “Imago” kommt die Sprache auf die “Juden in der mittelalterlichen/frühneuzeitlichen Stadt” (S. 316-319). Hinweise auf diskrimi-nierende Maßnahmen, die der Häufigkeit und Ausführlichkeit ihrer Erwähnung nach zu schließen, offenbar ein zentrales Element des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadtlebens gewesen sein müssen, dürfen natürlich nicht fehlen, ehe sich die Darstellung der “Rekonstruktion der Lautverhältnisse” und schließlich in einem weiteren Kapitel der “religiösen Basis des Sprachausbaus” zuwendet. Auf etwa einer Seite wird “Latein und Deutsch in der Seelsorge” abgehandelt. Demonstrationsobjekt ist ein Stück aus einem Osnabrücker Osterspiel, das sich “fromm und bieder an die liturgische Vorlage” halte. Die gemeinten Textteile sind aber weder einer liturgischen Vorlage noch “den österlichen Evangelienstellen der Vulgata entnommen” (S. 325). Etwa anderthalb Seiten gehören der vorlutherischen Bibelübersetzung, kaum mehr der Mystik und der devotio moderna. Die Behauptung im Zusammenhang mit Meister Eckhart, das “Bemühen um eine demotische Form der religiösen Artikulation war der Kirche suspekt” (S. 328) operiert erneut mit einem wohlfeilen Ressentiment. Nicht die Verwendung des Deutschen an sich brachte Eckhart den Inquisitionsprozess ein, sondern bestimmte Inhalte seiner Predigten. Die vermeint-lichen “Archaismen” in einem zitierten Eckhart-Passus (noch kein er-Plural bei kinden, Pronominalformen dirre und diu) sind überhaupt keine solchen, sondern Sprachformen, die im Spätmittelhochdeutschen der Zeit regulär waren. Dass das norma lisierte Zitat dann auch noch aus einer völlig veralteten Mittelhochdeutsch-Einführung abgeschrieben ist, unterstreicht den philologischem Dilettantismus des Autors. Wortbildungsmöglichkeiten mit ent-, un- oder nicht- wurden von Eckhart nicht genutzt um “semantische Felder zu strukturieren” (S. 329), was immer das sein mag, sondern um Konzepte einer negativen Theologie zu versprachlichen. Den Schluss von “Block VI” bilden kurz kommentierte niederdeutsche, ripuarische, bairische, alemannische und jiddische Texte. “Block VII” (1350-1100) beginnt mit “Rechtsverhältnissen im Hochmittelalter”, und man ist nicht mehr überrascht, wenn sogleich wieder von einer “Imago” die Rede ist, hier von der “gerade auch literarisch gepflegten ritterlichen Imago” (S. 347). Die platte Behauptung, dass “die Ritter vor allem Raubritter” (S. 347) gewesen seien, kann man vielleicht auf sog. Mittelaltermärkten feilbieten. Der dafür in Anspruch genommene Graf von Tecklenburg bei Oldenburg, der “den Städtern das Vieh auf den Weiden vor der Stadt klaute” (S. 347) wurde schon in Kapitel 18 im Zusammenhang mit “Formen der Konfliktaustragung” (S. 305f.) erwähnt. Dort war aber von der Phase “1520-1350” die Rede. MAAS liebt etymologisierende Erläuterungen, greift aber immer wieder daneben, so etwa wenn Herzog als “gebildet aus Heer + Zug, also ‘Heerführer’” erklärt wird (wie soll das überhaupt formal und semantisch zusammengehen?). Es handelt sich um eine bereits germanische Bildung, die auch in ahd. herizogo, mhd. herzoge fortgeführt wird. Die Komponente -zog ist nicht mit Zug gleichzusetzen. Ebenso schief ist gleich im Anschluss die “etymologische” Erklärung von Kurfürst. Die Kurfürsten seien deshalb

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so bezeichnet worden, weil sie “Teile ihrer Macht an den gewählten König” übertragen hätten. Aus “diesem Akt der Kür” resultiere die Bezeichnung der Kurfürsten” (S. 348). Richtig ist dagegen, dass die Kurfürsten das aktive (Königs-)Wahlrecht ausübten. Sie hatten meist wenig Neigung, Teile ihrer Macht abzutreten. Kur- ist als Abstraktum vom Verbum mhd. kiesen ‘wählen’ herzuleiten. Die nächste etymologische Stümperei findet sich wenig später auf S. 354, wo – im Zusammenhang mit Anmerkungen zum ‘Sachsen-spiegel’ – das Wort Fehde als “substantivische Bildung zu fechten” erklärt wird. Der Blick in ein etymologisches Wörterbuch hätte eines Besseren belehrt: Fehde (mhd. vê(he)de, ahd. (gi-)fêhida) ist eine Abstraktbildung zu einem Adjektiv westgermanisch faiha- ‘feindselig, geächtet’ und hat mit fechten nicht das Geringste zu tun. Auch der Bann ist ursprünglich kein – wie MAAS es nennt – Akt des “Fried[ens]lossetzens” (S. 354), sondern ein Abstraktum von bannen ‘aufbieten, befehlen’. Es bedeutet ‘Aufgebot, Zitation’. Die heutige Bedeutung ist Ergebnis einer späteren Entwicklung. Was MAAS sodann zu dem Urteil veranlasst, der ‘Sachsenspiegel’ sei aufgrund der versuchten “Harmonisierung der neuen Ordnung (der feudalen Gesellschaft) mit traditionellen Rechtsvorstellungen” schon zum Zeitpunkt seiner Abfassung “faktisch obsolet” (S. 356) gewesen, ist schlechterdings nicht nachvollziehbar. Eikes Auftrag war es, geltendes, bis dato mündlich überliefertes Gewohnheitsrecht zu kodifizieren. Im skandinavischen Raum (Schweden, Dänemark, Gotland, Island) wurden etwa zur selben Zeit vergleichbare Rechtsaufzeichnungen angelegt. Offenbar hat man in der nachfolgenden Zeit, in der der ‘Sachsenspiegel’ in Hunderten von Hss. abgeschrieben und später auch gedruckt wurde, nicht begriffen, dass der Text von Anfang an obsolet war. Die damaligen Juristen hatten eben keinen UTZ MAAS, der es ihnen erklärt hätte. Zur höfischen Literatur (S. 370-373), zum ‘Nibelungenlied’ (S. 374-377) und zur höfischen Lyrik (S. 377-379) wird wenig gesagt. Eines darf im Zusammenhang mit dem ‘Nibelungenlied’ selbstverständlich nicht fehlen, die Feststellung, dass es “der nationalen Imago Verssatzstücke lieferte” (S. 374). Die folgenden Unterkapitel mit einem Abriss der mhd. Grammatik bringen Altbekanntes, nur eben in einem linguistischeren Design. In “Block VIII” geht es zunächst um “pragmatische Schriftlichkeit in der frühmittel-alterlichen Gesellschaft”. Für den Zeitraum werden vorab drei Kaiser genannt: Bei Ludwig dem Deutschen sind die Lebensdaten falsch: Er lebte nicht von 843 bis 911, sondern von ca. 806 bis 876 und regierte von 843 bis 876. Beim Jahr 911 liegt eine Verwechslung mit Ludwig dem Kind vor, der von 899 bis 911 herrschte. Und auch die Daten von Heinrich I. sind falsch: Er regierte von 919 (nicht 911) bis 936 als König des ostfränkischen Reiches. Auch hier ist wieder von “Deutsch als gesellschaftliches Projekt” die Rede, und die unvermeidliche “Imago” nebst “Geschäftsführung” folgt sogleich: “Die Imago der gesellschaftlichen Geschäftsführung war auf den Fortbestand des Römischen Reiches ausgerichtet” (S. 403). Wer das ins Verständliche übersetzen könnte! Dass Glossen “Zeugen für die mühsame Aneignung des Lateins” (S. 407) seien, ist Forschungsstand von (vor-)gestern. Die ahd. Glossen dienen nicht pauschal der sprach-lichen Aneignung des Lateins, sondern vielfach der kommentierenden Aneignung latei-nischer Literatur. Deshalb kommen ahd. Glossen vielfach auch in Funktionseinheit mit lateinischen Glossen vor. Das Verhältnis von Latein und Althochdeutsch wird auf zwei-einhalb Seiten mit Hinweisen und Zitaten aus der ‘Benediktinerregel’ und Notker mehr angedeutet als ausgeführt. Als Beispiele für “Urkunden” dient ein ‘Freckenhorster Hebe-register’, das allerdings nicht in den vorgegebenen Zeitraum (1000-750) passt. Es reprä-sentiert ein spätes Altsächsisch, das um 1100 bereits zum Mittelniederdeutschen tendierte.

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Dass der ‘Tatian’ “in mehreren Versionen, die alle auch die Manuskripteinrichtung gemeinsam haben” (S. 424), überliefert sei, muss ein Novum sein. Offenbar sind dem Rezensenten, der bislang nur von einer Hs. (St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 56) und etlichen Zitaten in einer Pariser Hs. wusste, sensationelle Neufunde entgangen. Unter der Kapitelüberschrift “Verschriftlichung von mündlich Tradierten” (S. 426) erfährt man Einzelheiten über das ‘Wessobrunner Gebet’ und die ‘Merseburger Zauber-sprüche’. Im Zitat des ‘Wessobrunner Gebets’ ist ufhimmil fälschlich mit mm geschrieben (wiederholt S. 428). Es heißt ufhimil. Der Text ist auch nicht in einer Hs. “SLM 22053” der Bayerischen Staatsbibliothek überliefert. Diese Signatur gibt es nicht. Korrekt ist Clm (= Codex latinus Monacensis). Was genau (im Zusammenhang mit der Sternrune) “hybride Stilisierung” sein soll, bleibt im Dunkeln. Wenn MAAS “deutliche Anspielungen auf entsprechende Mythen bei den Germanen” (S. 427) zu erkennen glaubt, dann wüsste man gerne, welche das sind und woher er sie kennt. Beim zitierten zweiten Merseburger Zauberspruch wird fälschlich die erste Zeile des nachfolgenden lateinischen (!) Textes, die, wie die Abbildung zeigt, von einer anderen Schreibhand stammt, mit zitiert und übersetzt, so als hätte sie irgendetwas mit dem Zauberspruch zu tun. Merseburg liegt übrigens nicht “in Thüringen” (S. 427), sondern in Sachsen-Anhalt. Die Phrase demo balderes uolon sin uuoz ‘dem Balders Fohlen sein Fuß’ zeigt nur scheinbar eine “Possessiv-Konstruktion mit dem Dativ” (S. 428), die “das Alter der bis heute von der Schule stigmatisierten Konstruktion” bezeuge (SEBASTIAN SICK lässt grüßen!). Man muss die Zeile schon ganz lesen (oder besser gesagt: den Text verstehen). Es heißt: du uuart demo balderes uolon sin uuoz birenkict ‘da wurde dem Fohlen Bal-ders sein Fuß verrenkt’. Wir haben es mit einem Nominativ ‘sein Fuß’ in Abhängigkeit von passivischem ‘wurde verrenkt’ und einem Dativ ‘dem Fohlen Balders’ zu tun. Forschungsschelte darf nicht fehlen: Der Altgermanistik wird vorgeworfen, sie greife angesichts solcher Texte “immer gleich in das pathetische Register der Missionierung” (S. 426). “Pathetische Register” mögen vor 100 und mehr Jahren gezogen worden sein. Wäre MAAS, was die ‘Merseburger Zaubersprüche’ betrifft, nur halbwegs auf der Höhe der aktuellen Forschungssituation, würde er dergleichen nicht schreiben. Ein weiterer Abschnitt gilt dem ‘Heliand’ als Beispiel für eine “Weiterführung germanischer Formen” (S. 429). Auch hier ist manches, wenn nicht gerade falsch, so doch schief: Die ‘Heliand’-Hs. C wurde zwar in England (ab-)geschrieben, doch das beweist nur, dass man dort diese altsächsische Dichtung rezipierte, nicht dass sie von der altenglischen abhängig war. Dass das Leipziger ‘Heliand’-Fragment einmal in Luthers Händen war, ist möglich, aber nicht bewiesen. Absurd ist die neuerdings vorgebrachte Hypothese, dass Luther im ‘Heliand’ “Inspirationen für seine Bemühungen um ein auto-zentriert ausgebautes Deutsch” (was immer das sein mag) suchte (S. 429). Unter der Abbildung einer Seite aus der Münchner ‘Heliand’-Hs. steht eine “Transkription”, die einer normalisierenden Ausgabe entnommen ist und nicht mit der Abbildung übereinstimmt. Im Abschnitt zu Otfrid liest man zu Beginn, dass dessen Dichtung “als das althoch-deutsche Hauptwerk dieser Zeit gepriesen” werde. Das Werk sei – was immer das heißen mag – “manieristisch durchkomponiert”. Der Autor inszeniere sich selbst und sei “zum Heros der nationalen Sprach- und Literaturgeschichtsschreibung gemacht” (S. 433) worden. Sein Werk erinnert MAAS “eher an berühmte Reimereien in späteren Kommersbüchern” (S. 433). Angesichts solcher Vergleiche kann man sich als Rezensent nur noch in ein resignierendes si tacuisses flüchten.

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Das ‘Hildebrandslied’ repräsentiert für MAAS “hybride Formen” (S. 435); “hybrid” deswegen, weil die p-ähnliche w-Rune verwendet wird und eine (unvollkommene) Umsetzung eines hochdeutschen Textes in einen niederdeutschen erfolgt ist. Die Sprach mischung wird anachronistisch mit dem angeblichen “heutigen Stereotyp vom Niederdeutschen als Repräsentanten des Alten (‘Germanischen’)” (S. 436) in Verbindung gebracht. Und wieder lässt die philologische Kompetenz den Autor im Stich: Er miss-deutet das Substantiv urhettun ‘Herausforderer’ (Nom. Pl. eines ins Altsächsische umgesetzten ahd. urheizo) als Verb (Prädikat) ‘herausforderten’! Die darauf basierende syntaktische “Analyse” muss deshalb erst gar nicht mehr kommentiert werden (S. 437). Nach alledem wagt sich MAAS im letzten “Block IX” auch noch in die sprachliche Prähistorie vor. Ein unvermeidlicher Exkurs zur “Geschichte des Judentums” (S. 443) darf nicht fehlen. Im Rahmen zweier separater Abschnitte (25.4 und 26.1) über die “Ger-manische Völkerwanderung” erfährt der Leser einiges über vorgeschichtliche Stämme und Stammesgliederungen. Der “binnendeutsche Sprachraum” auf der Karte S. 447 ist kurioserweise ungefähr deckungsgleich mit den Alpen. Runen (dazu eine Abbildung des monumentalen Steins von Järsberg/Schweden) erinnern MAAS “eher an Graffiti, Tags, mit denen heute Gebäude verschmiert werden” (S. 450). Jeder Kommentar erübrigt sich. MAAS versteigt sich noch zu einem geradezu peinlichen Vergleich: Mit der bislang betriebenen Sprachgeschichte sei es “wie mit einem Urlaub unter primitiven Überlebens-bedingungen auf einer Hütte in den Bergen: das macht Spaß, es geht einem gut dabei in den paar Wochen, die man dafür Zeit hat – und danach freut man sich auf sein Bad, auf die Wohnung mit einer Heizung”. Der Vergleich hinkt nicht nur, er ist dümmlich. In der Konsequenz ergibt sich, dass jede wertungsfreie historische Wissenschaft so irrelevant ist wie ein Hüttenaufenthalt. Das beträfe dann wohl auch alle benachbarten historischen Fächer: die Philologien sowieso, dann die Kulturwissenschaften, Kunst- und Musik-geschichte, Geschichtswissenschaften, Archäologie etc. Und noch eine finale Absurdität hat MAAS auf Lager: Sogar hinter der anfänglichen Skepsis gegenüber der Theorie, die für das Indogermanische drei laryngale Laute rekonstruiert, wie es sie ähnlich im Arabischen gibt, wittert er Antisemitismus. Wörtlich: “Die Semiten wollte ‘man’ eben nicht als Verwandte dabei haben” (S. 490). Solcher Unsinn lässt sich nun wirklich kaum noch steigern. Und so ist der Rezensent nach quälender Lektüre zwar erleichtert, dem hinteren Buch-deckel nahe gekommen zu sein, aber dennoch gespannt, was der Richter über mehr als 2000 Jahre Sprachgeschichte und rund 200 Jahre Sprachwissenschaft abschließend über den “Nutzen der Sprachgeschichte [...]” zu sagen weiß. Zunächst postuliert er Sprach-geschichte als “republikanisches Projekt”, das er in einem Gegensatz zur bisherigen “Sprach-Mythologie” sieht. Suggestiv illustriert wird das falsche Sprachgeschichts-verständnis durch ein Historienbild des französischen Malers Luminais von 1894, das eine geraubte halbnackte Frau zeigt, die offensichtlich bewusstlos von einem Normannen zu einem vor dem Strand wartenden Schiff verschleppt wird. Soll damit die verwerf-liche “mythologische Sprachgeschichte” nun auch noch eine geistige Nachbarschaft zu faschistoiden “Männerphantasien”, wie sie KLAUS THEWELEIT beschreibt, gerückt werden? Solche Sprachgeschichte ist per se natürlich “die narrativ ausgestaltete symbolische Form der Abgrenzung von den andern – den Fremden” (S. 493). Sie landet nolens volens (oder nur volens) an der “Peripherie”, bei “Runen, mit denen sich Skinheads dekorieren, bis hin zur [sic] einer Einheit der Waffen-SS, die sich vor einem halben Jahrhundert [sic – rechnerisch also 1962!] ‘Germanen’ nannte” (S. 493). Die adäquat betriebene kritische

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Sprachgeschichte à la MAAS dagegen gelange nicht zu Germanen zurück, sondern zu “den christlichen Zellen in der jüdischen Bevölkerung in den römischen Städten” (S. 494). Ausgehend davon und durch programmatische Einbeziehung “des Fremden [...] gilt es diese Differenzierung als Artikulationen unserer Geschichte zu sehen” (was immer das im Klartext bedeuten mag). Noch einmal rennt MAAS abschließend gegen Feinde an, die es vielleicht in seiner ganz besonderen Wahrnehmung, nicht jedoch in der wissenschaft-lichen Realität gibt, die Verfechter von “gängigen Mystifikationen über die deutsche Sprache” (S. 504). Fazit? Was da auf über 500 Seiten vorliegt, ist nicht die ultimative deutsche Sprach-geschichte. Aber vielleicht deren “Imago”.

Prof. Dr. Hans Ulrich Schmid, Universität Leipzig, Institut für Germanistik, Beethovenstr. 15, D–04107 LeipzigE-Mail [email protected]

Der Marner. Lieder und Sangsprüche aus dem 13. Jahrhundert und ihr Weiter-leben im Meistersang, hg., eingeleitet, erläutert und übersetzt von EVA WILLMS, Berlin/New York 2008. Walter de Gruyter Verlag, VI, 436 S. mit Abb., ISBN 978-3-11-018457-0, EUR 169,95

Die Edition umfasst zunächst die Lieder und Sangsprüche des Marner, dann ‘Folgen’ (F) mit alten und jüngeren Strophen, ferner Meisterlieder (Ml) in Marner-Tönen mit alten und – über den Titel hinausgehend – ohne alte Strophen.1 Die Frage, ob wir eigentlich eine Neuedition der Marner-Strophen brauchen, erübrigt sich nicht nur angesichts des über den Altbestand sinnvollerweise hinausgreifenden Zuschnitts, sondern auch mit Blick auf das hilfreiche, ja imposante Beiwerk: Zu jeder Strophe gibt es einen Überlieferungsapparat, einen Kommentar, eine Übersetzung und einen Überblick über ältere Drucke und Litera-turstellen. Zudem ist die Edition ausführlich eingeleitet. Die Herausgeberin hat damit unser Verständnis der Marner-Strophen und -Lieder auf eine völlig neue Basis gestellt. Der insgesamt positive Eindruck wird freilich durch eine Reihe von Mängeln und Sonderlichkeiten getrübt. Im ersten Abschnitt der Einleitung, der eine Zusammenstellung der Überlieferungszeugen bietet, greift WILLMS nur auf das RSM (Bd. 1, 1994)2 und HAUSTEIN (1995) zurück und lässt sich so die Chance entgehen, neuere Beschreibungen nachzutragen, was ich hier nachhole:

1 So dankenswert der Abdruck dieser Meisterlieder ist, so unbegründet ist die Auswahl in den Abschnitten 2.4 und 2.5; vgl. dazu bereits CLAUDIA LAUER, Rezension zu: Der Marner. Lieder und Sangsprüche aus dem 13. Jahrhundert und ihr Weiterleben im Meistersang, hg., eingeleitet, erläutert und übersetzt von EVA WILLMS, Berlin/New York 2008, in: Arbitrium 29 (2011), S. 270-273, hier S. 272, Anm. 11.

2 Ich verwende im Weiteren folgende Siglen: RSM (= Repertorium der Sangsprüche und Meister lieder, hg. von HORST BRUNNER und BURGHART WACHINGER, Bd. 1-16, Tübingen 1986-2009); HAUSTEIN (1995) (= Marner-Studien [MTU 109], Tübingen 1995 ); HAUSTEIN (1997) (= Überlieferung und Autorschaft beim lateinischen Marner, in: ZfdA 126 [1997], S. 193-199); WILLMS (2008) (= Noch einmal Anmerkungen zum Marner, in: ZfdA 137 [2008], S. 335-353).

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Zu I, Innsbruck, Universitätsbibl., Cod. 256 siehe GABRIELE KOMPATSCHER unter Mitarbeit von WALTER NEUHAUSER, SIEGLINDE SEPP und EVA RAMMINGER, Katalog der Handschriften der Universitätsbibliothek Innsbruck, Teil 3: Cod. 201-300 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Denkschriften 271; Veröffentlichungen der Kommission für Schrift- und Buchwesen des Mittelalters II,4,3), Wien 1999, S. 211-214, bes. S. 213; zu N, Leipzig, Universitätsbibl., Rep. II fol. 70a siehe FRANZJOSEF PENSEL, Verzeichnis der deutschen mittelalterlichen Handschriften in der Universitätsbibliothek Leipzig. Zum Druck gebracht von IRENE STAHL (DTM 70/3), Berlin 1998, S. 336-341; zu p, Dessau, Anhaltische Landesbücherei, Hs. Georg. 231. 8° siehe FRANZJOSEF PENSEL, Verzeichnis der altdeutschen Handschriften in der Stadtbibliothek Dessau (DTM 70/1), Berlin 1977, S. 179-182; zu w, München, Staatsbibl., Cgm 5198 (Wiltener Hs.) siehe KARIN SCHNEIDER, Die deutschen Hand-schriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Die mittelalterlichen Handschriften aus Cgm 4001-5247 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V,7), Wiesbaden 1996, S. 530-536.

Da WILLMS eigenartigerweise der VL-Artikel HÄGELEs zur ‘Augsburger Cantionessammlung’ (Au) entgangen ist,3 führt sie fälschlich mit RSM 5 (1991), S. 647 und 649, Meißners Ton XVII als sonst unbekannten Marner-Ton XVIII (siehe S. 10 und 24). Der Nachweis dieser Fehlzuweisung in Au stammt von JOHANNES RETTELBACH.4 – Im Heidelberger Cpg 693 ist die Sibyllenweissagung des Marner nicht überliefert (S. 13). – Ausgesprochen unglücklich ist es, dass WILLMS entgegen den Usancen der Forschung dem Basler Cod. N I 6/50 die Sigle B (statt Ba) gibt. Mit dem Abschnitt zur lateinischen Überlieferung des Marner, der das Kapitel zur Werkcharakterisierung eröffnet, rennt die Herausgeberin in ihrer Kritik an HAUSTEIN (1995) offene Türen ein. Seine skeptischen und relativierenden Hinweise, auf die dann UDO KÜHNE5 (dazu HAUSTEIN [1997]) repliziert hat, hatten ausschließlich die Funktion, auf Unsicherheiten und Auffälligkeiten innerhalb der Überlieferung und der Zuschrei-bung in den Hss. aufmerksam zu machen.6 Selbstverständlich gehören die dem Marner in den Hss. zugewiesenen lateinischen Strophen und Lieder in eine Marner-Edition. Von daher hätte es der Wiederholung altbekannter Argumente für den ‘lateinischen Marner’ an dieser Stelle nicht bedurft.

Im Kontext der lateinischen Lieder meint die Herausgeberin in einem Fall, Neues beibringen zu können. Sie liest – mit Recht – in Ton 6, Spr. 17, v. 11 von heinburg und meint, dass der Name “dieses Herrn [...] seit von der Hagen als von heimberg” verlesen sei (S. 19). Abgesehen davon, dass dies nicht stimmt – schon VON DER HAGEN hat von Heinburk (HMS II, S. 246) gelesen, mit diesem Namen freilich nicht viel anfangen können (vgl. HMS IV, S. 527) –, knüpft sie daran

3 2VL 11, 1. Lfg. [2000], Sp. 173-180.4 JOHANNES RETTELBACH, Variation – Derivation – Imitation. Untersuchungen zu den Tönen

der Sangspruchdichter und Meistersinger (Frühe Neuzeit 14), Tübingen 1993, S. 163f. Vgl. auch HORST BRUNNER, Die Spruchtöne Marners, in: “Texte zum Sprechen bringen”. Philologie und Interpretation. Festschrift für Paul Sappler, hg. von CHRISTIANE ACKERMANN und ULRICH BARTON, Tübingen 2009, S. 81-87, hier S. 81.

5 UDO KÜHNE, Überlegungen zum Marner. Zweisprachiges Oeuvre, ‘Lateinkenntnis’, ‘Moder-nität’, in: ZfdA 125 (1996), S. 275-296.

6 Vgl. dazu auch WALTER RÖLL, Rezension zu: JENS HAUSTEIN, Marner-Studien (MTU 109), Tübingen 1995, in: ZfdA 125 (1996), S. 109-113, hier S. 111.

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eine biographische Spekulation, die dann auch noch chronologische Probleme bereitet. Sie identifiziert den Herrn von heinburg nämlich mit Heinrich von Heimburg, den “Verfasser jener böhmischen Chronik, in der er mit dem rühmenden Hinweis ille egregius cantor manarius Marners Lied *12 auf Bischof Bruno von Olmütz aufzeichnete” (S. 19).7 Da dies aber 1281 geschah, “kann er zwar selbst kaum der vom Marner gemeinte [!] sein [...], sondern es muß sich um einen älteren Verwandten handeln” (S. 19f.). Von Heinrich von Heimburg/Heinburg wissen wir nicht viel, außer dass er der Verfasser eines eher dürftigen Annalenwerks war, ab 1270 “in der österreichischen Grenzstadt Gmünd als Vorsteher der Stephanskirche bezeugt” ist und 1279 zum Priester geweiht wurde.8 Über den von WILLMS supponierten “älteren Ver-wandten”, der ihrer Auffassung nach der herre des Marner gewesen sein soll, ist gleich gar nichts bekannt. Der Gönnerbezug in Ton 6, Spr. 17 bleibt also weiterhin unklar.

Sehr nützlich sind die Abschnitte zu Inhalt, Form, Metren und Sprache. Dabei ist durchaus eine Tendenz bemerkbar, den Marner stilistisch von anderen, älteren oder zeitgleichen Autoren abheben zu wollen. Nur ein Beispiel: WILLMS beobachtet beim Marner eine Häufung des Enjambements, sodass “man eine bewußt geübte Stileigentümlichkeit erwägen muß” (S. 51). Sie untermauert diese Auffassung mit einem Hinweis auf ROETHEs Einleitung zur Reinmar-Ausgabe,9 wo es heißen soll, dass diese “Eigentümlichkeit” der Marner “mit wachsendem merkwürdigen Behagen” (S. 51, Anm. 104) gepflegt habe. Schaut man aber genau hin, sagt ROETHE eigentlich das Gegenteil: Abgesehen von Wernher und Walther ist das Enjambements eines einzigen Wortes “eine hässliche Unart, welche von spätern Spruchdichtern, schon vom Marner, mit wachsendem merkwürdigen Behagen geübt wird”10 – der Marner hebt sich in dieser Hinsicht also gerade nicht von seinen Kollegen ab, sondern vertritt ein verbreitetes Stilphänomen. Ich komme auf das Stilproblem zum Schluss zurück. – Ob es wirklich nötig und sinnvoll ist, alle älteren und im Wesentlichen ja anachronistischen Melodietranskriptionen (BERNOULLI, RUNGE, TAYLOR) noch einmal abzudrucken, kann man mit Fug und Recht bezweifeln. Sehr hilf-reich ist hingegen, dass WILLMS zum Vergleich der lateinischen Melodie aus dem Clm 5539 mit Marners Hofton eine deutsche Strophe (6,1) unterlegt hat (S. 74f.).11 – Die Bemerkungen zur Sprache und zu den Formen geben einen guten Überblick über das durch C repräsentierte Marner-Material, wenngleich auch hier manches durch neuere lexikographische Arbeiten relativiert werden wird – so ist bspw. behügen keineswegs nur beim Marner belegt (S. 91). Das neue ‘Mittelhochdeutsche Wörterbuch’ mit seiner schon 2007 erschienenen Lieferung zu diesem Lemma verzeichnet immerhin drei Belege.

7 Diese Identifizierung schon bei HELMUT BIRKHAN, Geschichte der altdeutschen Literatur im Licht ausgewählter Texte. Teil VII: Minnesang, Sangspruchdichtung und Verserzählung der letzten Staufer- und ersten Habsburger Zeit, Wien 2005, S. 171.

8 FRITZ PETER KNAPP, Die Literatur des Spätmittelalters in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol von 1273 bis 1439. I. Halbband: Die Literatur in der Zeit der frühen Habsburger bis zum Tod Albrechts II. 1358 (Geschichte der Literatur in Österreich 2,1), Graz 1999, S. 55; siehe auch ebd. Bd. 1, S. 471-473.

9 GUSTAV ROETHE, Die Gedichte Reinmars von Zweter, Leipzig 1887.10 ROETHE [Anm. 9], S. 343.11 Leider ohne letzte Sorgfalt: v. 15 muss es z.B. heißen vúr i-te-wis statt nur i-te wis. – Die

Abdrucke haben sich jetzt mit: Spruchsang. Die Melodien der Sangspruchdichter des 12. bis 15. Jahrhunderts, hg. von HORST BRUNNER und KARL-GÜNTHER HARTMANN (Monumenta Monodica Medii Aevi 6), Kassel u.a. 2010, erledigt.

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Aus den Vorbemerkungen zur Edition hebe ich Folgendes heraus: “Der Abdruck der Texte sucht einen Kompromiß zwischen Wiedergabe der authentischen handschriftlichen Fassung und Lesbarkeit [...]. Im Einzelnen heißt das: Alle Texte erscheinen soweit tunlich [...] in den Graphien der Hss., d.h. z.B. keine Auslautverhärtung, die die Hs. auch nicht hat, kein Ausgleich von f/v, kein Vereinheitlichen von Schreibvarianten wie gotes/gottes u.dgl., keine metrische Regelung” (S. 93). Anderseits liest man: “In folgenden Fällen wurde von den Graphien der Handschriften abgewichen [...]: u/v/w, b/w und i(y)/j werden nach ihrem Lautwert geschrieben [...]. Hsl[.] e für mhd. æ wird æ geschrieben, mhd. œ dagegen wie die Hs. als Ó” (S. 94). Natürlich stellt jede Edition einen mehr oder minder plausiblen Kompromiss zwischen handschriftlicher Form und Lesbarkeit der Wiedergabe im Druck dar, ein wenig mehr Einheitlichkeit hätte jedenfalls ich mir gewünscht. – Eine Konkordanz zur STRAUCHschen Ausgabe findet sich versteckt auf S. 95. Im Folgenden gebe ich Hinweise und Korrekturen zu Text, Kommentar und Übersetzung einzelner Strophen und Lieder, die sich naturgemäß auf Einzelfälle beziehen. Zum Schluss der Rezension komme ich auf zwei allgemeinere Gesichtspunkte zu sprechen.

T e x t: Lied 1, Str. 1, v. 2: Die Konjektur ist überflüssig; die Verschreibung wurde schon in C korrigiert. – Lied 3, Str. 1, v. 10 und Str. 4, v. 5: WILLMS weicht hier und öfter von den Formen in C ab, ohne dass ich eine Erklärung gefunden habe: C swaz und mirs, STRAUCH swaz und mirz, WILLMS waz und mir’s. – Lied 4: Die Aufteilung auf zwei Sprecherinstanzen, ohne dass dies im Text indiziert wird, leuchtet mir nicht ein; vgl. zur weiteren Begründung WILLMS (2008), S. 350-353. – Lied 5, Str. 3, v. 4: Hier wie auch sonst bessert WILLMS inklusive Eintrag in den Apparat ohne Grund handschriftliches wan zu man (s.o.); diesem Purismus haben nicht einmal die gescholtenen Germanisten wie VON DER HAGEN oder STRAUCH gehuldigt (auch die Auflösung von gängigen Abkürzungen werden als Konjekturen markiert, z.B. Ton 6, Str. 8,v. 1 mit Verlesung der handschriftlichen Form; Ich’e statt Ich’s). – Lied 6: Auch hier ‘erfindet’ WILLMS eine zusätzliche Sprecherinstanz, da ihr ein “vergrübelter einzelner” (WILLMS [2008], S. 351) nicht einleuchten will (s.u.) und sie deren Zwischenrufe “ungleich witziger” (S. 113) findet. – Ton 3, Str. 1, v. 2: Wieso die Normalisierung von gelf ’ zu gelwer als Konjektur? – Ton *4, Str. 3, v. 2: Geheiliget si din nam[,] an uns [...]; mehrfach falsche Großschreibung am Zeilenbeginn. – Ton 5, Str. 1, v. 9: alles kursiv. – Von Ton 6 (STRAUCH XIV) werden mehrere Strophen aus k in der Abteilung ‘Sangsprüche’ als Einzelstrophen abgedruckt, die dann in der Rubrik ‘Folgen’ noch einmal im liedhaften Verband erscheinen, ohne dass die Funktion dieser Doppelabdrucke erklärt würde. Abgesehen davon ist der jeweils zweite Abdruck aus-gesprochen fehlerhaft.12 – Ton 7, Str. 4, v. 20: hennenberg statt heunenberg (ebenso in der Übersetzung). – Ton 7, Str. 8, v. 19: mer statt me. – Ton 7, Str. 15, v. 15-18: Die Auffassung dieser Verse ist sehr gewagt und führt zu einer ungewöhnlich gedrechselten Syntax; ihr steht auch abgesehen vom Verständnis des Meißners Boppe V, Str. 5, v. 7 wie pellicânus sîniu kint vor liebe tôt erkrimme entgegen.13

K o m m e n t a r: Lied 4, Str. 4, v. 4: Der Genitiv niemans, den sich WILLMS “nicht erklären” kann, ist ein sog. erstarrter Genitiv (mit epithetischem -s, vgl. DWB 7, Sp. 826; LEXER II,

12 Man vgl. etwa *6,24 (S. 211) mit F IVd (S. 298) oder *6,27 (S. 215) mit F Vc (S. 301); gelegentlich werden Eigennamen groß geschrieben, meistens klein (vgl. z.B. S. 296f.), die Zeilenanfänge werden häufig völlig unmotiviert groß geschrieben (vgl. z.B. S. 294ff.).

13 HEIDRUN ALEX, Der Spruchdichter Boppe. Edition – Übersetzung – Kommentar (Hermaea N.F. 82), Tübingen 1998, S. 106 und S. 155 mit einem Hinweis auf einen Erklärungsversuch Christoph Gerhardts.

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Sp. 76). – Ton 1: WILLMS lehnt für den Goldenen Ton jede Überlegung ab, die auf thema-tische Strophenbindung zielt, da sie sich einen “Dichter, der sich hinsetzt, um eine lockere liedhafte Einheit zu dichten”, ebenso wenig vorstellen kann wie einen “Vortrag eines solches Gebildes” (S. 134). Über diesen oder jenen Fall ließe sich gewiss streiten, aber zu meinen, es gäbe keine thematische Verbindung innerhalb von Tönen, fällt hinter alle Differenzierungen der Forschung zurück. Wieso ist eine Strophe, “die nach keiner zweiten verlangt” (S. 134), notwendigerweise eine Einzelstrophe, und was heißt “verlangt”? ‘Verlangt’ Walthers erste Reichstonstrophe nach einer zweiten?14 – Ton 1, Str. 2, v. 5: Die Polemik ist mir unverständ-lich. – Ton 3, Str. 3, v. 1: HAUSTEINs Hinweis auf We [...] Zwe-ter (S. 24) ist natürlich kein “Ausflug in die moderne Anagrammistik” (WILLMS [2008], S. 340, Anm. 16) und auch nur als Vorschlag formuliert; ROETHE (S. 228, Anm. 287) führt im Gegensatz zu dem, was WILLMS meint, zwei Herkunftsetymologien an – allerdings bei Adeligen, nicht bei Sängern. Zu den vielfältigen Formen der Namensetymologien, auch von Wortteilen, ja Buchstaben siehe jetzt REICH.15 Ohnehin würde ich heute eher von einem Klangphänomen sprechen. – Ton 6, Str. 2, v. 9: Bei HAUSTEIN ([1995], S. 173, Anm. 40) steht etwas anderes, als hier behauptet wird. – Ton 6, Str. 10: HAUSTEIN ([1995], S. 240) hat nicht irrtümlich 6,10 (Strauch XIV,11) für eine Marienstrophe gehalten (S. 34, Anm. 75), sondern nur den Druckfehler XIV,11 statt XIV,1 übersehen. – Ton *6, Str. 20: Die Argumentation (S. 205) ist wenig plausibel, wenn einerseits HAUSTEIN Geschmacksurteile unterstellt werden, anderseits solche gleich selbst formuliert sind (“Posaunentöne dieser Art wären ein arger Stilbruch bei einem Dichter, der [...].”). – Ton *6, Str. 22: Das Argument für hohes Alter ist nicht die k-Überlieferung an sich, sondern die zweifache Überlieferung in k (HAUSTEIN [1995], S. 70). – Ton *6, Str. 31: Die Argumente für eine mögliche Authentizität gründen auf reiner Spekulation. – Ton 7, Str. 1, v. 11: Der ‘Speculum humanae salvationis’ kann schon aus chronologischen Gründen nicht auf eine “lateinische Quelle” (S. 223) des Marner führen, auch bei Richard von Saint-Laurent († 1250) dürfte dies schwerlich angängig sein. – Ton 7, Str. 9, v. 12: Warum kann nicht etwas “konkret” (S. 240) benannt sein und gleichzeitig in heilsgeschichtliche Zusammenhänge ver-weisen? – Ton 7, Str. 11, v. 20: Warum ein Fragezeichen einer paränethischen Formulierung angemessener sein soll als ein Ausrufezeichen, ist mir nicht einsichtig.16 – Ton *7, Str. 28, v. 16: Hier gerät WILLMS, die die Einstrophigkeit für das 13. Jh. grundsätzlich verteidigt, in eine petitio principii: Wenn sich der spruche dry auf die Bartechnik bezieht, ist der Spruch unecht, wenn hingegen auf die Dreiteiligkeit der Einzelstrophe, dann spricht nichts gegen seine Echtheit.Ü b e r s e t z u n g e n: Lied 1, Str. 3, v. 11: Warum Fragezeichen? Mhd. muoten mit Genitiv ‘etwas begehren, haben wollen’. – Lied 1, Str. 3, v. 19: mhd. teilen, nicht “zwiespältig machen” (S. 99), sondern ‘trennen’. – Lied 1, Str. 3, v. 21f.: Hier und öfter wird aus der Parataxe des mhd. Textes unglücklicherweise eine nhd. Hypotaxe gemacht. – Lied 2, Str. 3, v. 1: WILLMS

14 Vgl. dazu auch TOBIAS BULANG, Rezension zu: Mittelhochdeutsche Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts, Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, hg., übersetzt und kommentiert von THEODOR NOLTE und VOLKER SCHUPP, Stuttgart 2011, in: PBB 135 (2013), S. 122 mit vielen Beispielen für mögliche Strophenbindung im 13. Jh.

15 BJÖRN REICH, Name und maere. Eigennamen als narrative Zentren mittelalterlicher Epik. Mit exemplarischen Einzeluntersuchungen zum Meleranz des Pleier, Göttweiger Trojanerkrieg und Wolfdietrich D (Studien zur historischen Poetik 8), Heidelberg 2011, S. 68-73, bes. S. 69, Anm. 198.

16 Nachzutragen ist FREIMUT LÖSER, Reich, Individuum, Religion: Daniel 2, 31-45 in der Sang-spruchdichtung, in: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200-1300. Cambridger Symposium 2001, hg. von CHRISTA BERTELSMEIER-KIERST und CHRISTOPHER YOUNG, Tübingen 2003, S. 267-289, hier S. 271-275.

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übersetzt liebe nicht, wie der Kontext nahelegt, mit ‘Geliebte’ (die ermüdet ist), sondern mit ‘Liebe’ und identifiziert sie offenbar mit der minne aus v. 5. – Ton 3, Str. 3, v. 18: dir ist ein leker lieb, gemeint wohl ‘du magst den Speichellecker’ oder ‘gesellst dich zu ihm’ und nicht ‘du machst gern den Speichellecker’. – Ton 5, Str. 2, v. 16: Gemeint ist: ‘ohne unser Zutun hat uns Maria mit Gott versöhnt’. – Ton 5, Str. 4, v. 14: húre, nicht “gerade mal heute” (S. 166), sondern ‘nur (noch) dieses Jahr’. – Ton 6, Str. 3, v. 16: Die Übersetzung erscheint mir unverständlich.17 – Ton 7, Str. 7, v. 3: eine durchaus erwägenswerte Übersetzung des viel diskutierten wihteklich.

In einem Anhang der Ausgabe sind Fremd- und Selbstzeugnisse zusammengestellt, aber auch Bezugnahmen auf eine Konrad Marner-Rolle in späteren Meisterliedern. – Das Literaturverzeichnis hätte einer gründlichen Revision bedurft.18 – Der Edition fehlt zu ihrem eigenen Schaden jede Form der Benutzungserleichterung: Es gibt keine differen-zierenden Kolumnentitel, in denen man die STRAUCHsche Zählung hätte mitlaufen lassen sollen, und es gibt völlig unverständlicherweise keinerlei Register.

*

Zwei Gesichtspunkte, die vielleicht auch über das hier zu besprechende Buch hinaus-gehen, möchte ich abschließend noch ansprechen, weil sie bei WILLMS in der Einleitung und den Anmerkungen, aber besonders prononciert im Begleitaufsatz zur Edition (WILLMS [2008]) immer wieder zur Sprache kommen. Der erste Punkt ist seit WILLMS’ Minnesang-Buch von 199019 nicht neu und er lautet in der Auseinandersetzung über die Marner-Deutungen so: “Eines der am meisten auf-fallenden und irrtierenden Phänomene der Mediaevistik ist die Diskrepanz zwischen den schlichten mhd. Texten und den imposanten Deutungen, die wortgewaltige Gelehrte als Interpretationen anbieten” (WILLMS [2008], S. 350). Abgesehen von den bedenklichen Setzungen (schlicht, imposant) drückt sich hier etwas Grundsätzliches aus: das Abweisen von Komplexitätsbemühungen der Forschung, vom Ausstellen von Widersprüchlich-keiten, von Versuchen der Theorie- und Begriffsbildung. In Texten wird – WILLMS zufolge – nicht Unterschiedliches gleichzeitig angesprochen, sie argumentieren nicht auf mehreren Ebenen, sie sind nicht schillernd-widersprüchlich, sondern schlicht, viel einfacher, kohärent. Wenn Engel singen, singen sie; eine auch damit einhergehende mög-liche poetologische Thematik kann und darf nicht sein (zu Spr. 4, Str. 1 im Kommentar). Ich gestehe bereitwillig zu, dass in den vielen sehr guten Kommentaren auch Lösungen angeboten werden, die gelegentliche Verstiegenheiten der Forschung in vergleichsweise schlichte Einsichten auflösen – und dies durchaus in plausibler Weise. Damit ist aller-dings eine Denkhaltung verbunden, die sich dem abwägenden hermeneutischen Gespräch entzieht. Es gibt nicht mehr oder weniger plausibel, sondern nur richtig oder falsch. Das

17 Siehe dazu auch CLAUDIA LAUER, Ästhetik der Identität. Sänger-Rollen in der Sangspruchdich-tung des 13. Jahrhunderts (Studien zur historischen Poetik 2), Heidelberg 2008, S. 62-64.

18 Ich will nur eine Ungenauigkeit nennen, die auch anderswo begegnet. JACOB GRIMM hat bekanntlich darauf bestanden, dass auf dem Titelblatt des ‘Deutschen Wörterbuchs’ die beiden Bearbeiter, weil sie als Lexikographen so unterschiedlich arbeiten, als JACOB GRIMM und WILHELM GRIMM erscheinen. WILLMS hat den Nachdruck (mit der ‘falschen’ Nennung ‘JACOB und WILHELM GRIMM’) benutzt, gibt aber die Originalausgabe als Referenz an.

19 EVA WILLMS, Liebesleid und Sangeslust. Untersuchungen zur deutschen Liebeslyrik des späten 12. und frühen 13. Jahrhunderts (MTU 94), München 1990.

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geht bis in Einzelheiten des Kommentars. Ich gebe nur zwei Beispiele: Die Strophe 5,3 (STRAUCH XIII,3) gilt seit SCHÖNBACH möglicherweise als Polemik im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Meißner, dem hat WACHINGER20 widersprochen, HAUSTEIN (1995, S. 40) hielt die Argumente SCHÖNBACHs trotzdem für “beachtenswert”. WILLMS’ Kommentar lautet: “Beweisen kann man beides nicht” (S. 163). Sie verkennt damit vollkommen den Charakter eines Fachgesprächs, in dem es nicht um Beweise, sondern um Plausibilitäten geht. Anders, aber strukturell vergleichbar mein zweites Beispiel: Die Verfasserangabe zur Strophe 6,19 aus dem Basler Fragment ist im RSM mit einem Fragezeichen versehen. Die Argumente für und wider eine mögliche Authentizität, die WILLMS beibringt, sind bedenkenswert, ihre Schlussfolgerung ist dann aber erneut vom Entweder-oder-Denken geprägt: “Das Fragezeichen im RSM kann ich also weder bestätigen noch aufheben” (S. 203). Wer würde das verlangen? Der zweite Punkt betrifft offenbar ein besonderes Ärgernis in HAUSTEINs Marner-Buch. WILLMS wendet sich nämlich vehement gegen seine Auffassung, ein spezifisches Autor-Profil beim Marner sei nicht zu erkennen, dieser schreibe gewissermaßen auf das Typische der Gattung hin. WILLMS hingegen möchte, wenngleich sie seitenlang Parallelen zu anderen Autoren im Motivischen und im Stil auflistet (S. 30-36), doch von einem spezifischen Autor-Profil sprechen und begründet dies abschließend (S. 40) mit den originellen Liedern, den drei von Mit- und Nachwelt hochgeschätzten Tönen, dem “putzigen Ton 2” (S. 40), der Eigenart des Argumentierens, den ungewöhnlichen Präfigurationen samt dem “Fehlen erotisierter Passagen” und “Innovationen (antike Mythologie und Naturkunde)” (S. 40). Die erotisierten Passagen begegnen – so WILLMS zu Recht – erst “bei jüngeren Autoren” (S. 31), ihr Fehlen kann also kaum verwundern; die Benutzung der Töne bei jüngeren Autoren hätte ja allenfalls etwas mit der Anlage des Tons, möglicherweise mit der Melodie, zu tun, wenngleich ich nicht glaube, dass aus diesem Argument viel Honig zu saugen ist. Mit der “Eigenart des Argumentierens” (siehe dazu auch S. 28) zielt WILLMS auf das, was ich die paradigmatische Argumen-tationsstruktur von mhd. Lyrik nennen würde, also das Nebeneinander von Argumenten, die zum Ende in Priamelform aufeinander bezogen werden können, aber nicht müssen. Als Beispiel nennt WILLMS Lied 8: “In der ersten Strophe von Lied 8 sind an das zweiversige Liebesrezept vier sehr unterschiedliche Feststellungen angeschlossen, in denen jeweils ein Unangenehmes mit einem Angenehmen verbunden erscheint, die keine Pointe oder auch nur Quintessenz zusammenfaßt und deren Verhältnis zu den Eingangsversen offen bleibt” (S. 28). Dieses Verfahren sieht WILLMS auch in einigen Sprüchen angewendet. Eine Eigenart des Marner, gar ein Autorprofil? Oder doch nur ein gängiges Bauprinzip von Sangspruchstrophen? Es bleiben die (wenigen) motivischen Innovationen.21 Ich fürchte, dass WILLMS hier Glatteis betritt. Nicht nur, dass gelegentlich nicht klar ist, wie

20 BURGHART WACHINGER, Sängerkrieg. Untersuchungen zur Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts (MTU 42), München 1973, S. 158.

21 Befremdlich, da es ihr doch um ein literarisches Autor-Profil geht, ist das Bemühen von WILLMS, HAUSTEINs Versuche, den Marner in einer literarischen Auseinandersetzung um Gestaltungsfragen zu zeigen, dadurch abzuweisen, dass sie menschliche Universalien ins Spiel bringt: “Die moralisierende Lehrdichtung aber schöpft aus dem allen zugänglichen Fundus von Erfahrungen über das, was dem Umgang der Menschen miteinander guttut und was ihm schadet, die Tugenden und Laster, die den Alltag erleichtern oder erschweren. Ein Rückgriff auf Dichtungen ist nicht nur unbewiesen, er muß auch gar nicht vorausgesetzt werden [...]” (S. 34, Anm. 75).

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Motive aus anderen fortentwickelt werden, auch, ob sie nicht aus uns inzwischen unzu-gänglichen Wissensreservoirs stammen, schlimmer, ein Großteil der Lyrik des 13. Jh.s ist für uns verloren,22 sodass Aussagen über das Innovationspotential von Motiven in der Sangspruchdichtung stets unsicher bleiben müssen. Mir scheint jedoch, auch wenn ich das Objekt weiterhin für falsch gewählt halte, die Frage nach Autor-Profilen ertragreich. Ich würde sie allerdings eher an Beobachtungen darüber anbinden wollen, wie individuelle Denkfiguren und -muster sich in der gängigen Bild- und Motivsprache sangspruchlicher oder minnesängerischer Themen äußern. Es schiene mir also sinnvoller zu sein, literarische Stileffekte als Ausdrucksformen ge-danklicher Weiterentwicklung auch im Kontext altbekannter Themen- und Motivkreise beschreiben zu wollen denn als motivische ‘Erfindungen’.23

Der Gesamteindruck, den WILLMS’ Marner-Edition hinterlässt, ist gemischt. Viele Kommentare und die allermeisten Übersetzungen sind glänzend, sie verraten die erfahrene Philologin. Unangenehm berührt der polemische Ton vieler Einlassungen, frappierend ist die Sorglosigkeit, mit der der Text besonders im jüngeren Teil eingerichtet ist, ärgerlich, dass die Edition nicht durch Register aufgeschlüsselt ist.

Prof. Dr. Jens Haustein, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Germanistische Literatur-wissenschaft, Fürstengraben 18, D–07743 JenaE-Mail: [email protected]

22 Das gilt nicht nur für so prominente Fälle wie die ‘Budapester Liederhandschrift’ oder die sog. ‘Liederhandschrift X’, sondern auch für die handschriftliche Überlieferung ganzer Regionen. Neben J sind uns aus dem mitteldeutsch-norddeutschen Raum ja nur Fragmente einstmals umfänglicher Hss. erhalten; vgl. dazu: Die ‘Jenaer Liederhandschrift’. Codex – Geschichte – Umfeld, hg. von JENS HAUSTEIN und FRANZ KÖRNDLE, Berlin/New York 2010, S. 259-269.

23 Vgl. Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters, hg. von MANUEL BRAUN und CHRISTOPHER YOUNG (Trends in Medieval Philology 12), Berlin/New York 2007; JENS HAUSTEIN, Minne und Wissen um 1200 und im 13. Jahrhundert, in: Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven, hg. von ALEXANDER LÖCK und JAN URBICH, Berlin/New York 2010, S. 345-370; ders., Mediävistische Stilforschung und die Präsenzkultur des Mittelalters. Mit einen Ausblick auf Gottfried von Straßburg und Konrad von Würzburg, in: Textprofile stilistisch. Beiträge zur literarischen Evolution, hg. von ULRICH BREUER und BERNHARD SPIES (Mainzer historische Kulturwissenschaften 8), Bielefeld 2011, S. 43-60; ders., Nichterzählte Geschichten. Zur Minnelyrik Hartmanns von Aue, in: Mittelhochdeutsch. Beiträge zur Überlieferung, Sprache und Literatur. Festschrift für Kurt Gärtner zum 75. Geburtstag, hg. von RALF PLATE und MARTIN SCHUBERT, Berlin/Boston 2011, S. 83-93.

Parzival nach Wolfram von Eschenbach. Neu erzählt von WOLF WIECHERT. Mit Auszügen aus dem mittelhochdeutschen Roman. In Zusammenarbeit mit JOACHIM HAMM und BERTRAM SÖLLER. Unter Mitwirkung von HARTMUT BECK, CATRINEL BERINDEI, CHRISTIAN BUHR, CHRISTIANE KLEIN und CHRISTOPHER KÖHLER, Würzburg 2013. Königshausen & Neumann, 199 S. mit Abb., ISBN 978-3-82605138-8, EUR 14,80

Die Schul- und Studienausgabe zum ‘Parzival’, die auf einer Neuerzählung von WOLF WIECHERT beruht, ist Ergebnis eines Würzburger Kooperationsprojekts zwischen Wissen-

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schaftlern und Lehrern.1 Am Gesamtkonzept ist vieles zu loben: Zunächst einmal über-zeugt die Grundidee, eine vereinfachte Textausgabe für den Schulgebrauch anzubieten, die Ausschnitte aus dem Originaltext und deren Übersetzung mit referierenden, nach-erzählenden Passagen kombiniert. Es handelt sich dabei um ein bewährtes Verfahren, auf dessen Grundlage Schulbuchverlage zu vielen – auch neueren – Klassikern eigene Reihen mit Unterrichtsmaterialien2 entwickelt haben. In Bezug auf den ‘Parzival’ bietet diese Herangehensweise aus pragmatischer Sicht die Chance, die Präsenz von Wolframs Roman im Deutschunterricht zu vergrößern bzw. ihn dort überhaupt wieder präsent zu machen: Für eine Lektüre in Form einer unbearbeiteten Ganzschrift ist der ‘Parzival’ auch in Übersetzung schlicht sehr umfangreich und kann dadurch nicht nur Schüler/innen abschrecken, sondern ebenso Lehrkräfte, die keine persönlichen Schwerpunkte im Bereich der mittelalterlichen Literatur setzen und sich durch Umfang und Detailreich-tum in Kombination mit der fremden Sprachstufe überfordert fühlen. Gegenüber den qualitativ höchst unterschiedlich zu bewertenden rein literarischen Nacherzählungen, wie z.B. der von Auguste Lechner, besteht der Vorteil dieser für die Schule bearbeiteten Fassung darin, dass der Originaltext in seiner sprachlich-stilistischen Alterität nicht ver-schwindet, sondern über die Auszüge explizit sichtbar ist und so untersucht und diskutiert werden kann. Didaktisch sinnvoll ist zudem die Idee, zu jeder der mhd. Passagen in einer Fußzeile jeweils Worterklärungen zu einzelnen Wörtern oder Wendungen anzubieten – dies erleichtert es auch Lehrkräften, die im Mhd. weniger bewandert sind, die Schüler/innen selbst Übersetzungsversuche unternehmen zu lassen, indem sie ihnen den mhd. Text gemeinsam mit diesen Worterklärungen, aber ohne die vorhandene Übersetzung zur Verfügung stellen. Vorteilhaft ist zudem, dass WIECHERTs Nacherzählung und den Übersetzungs-passagen mehrere Abbildungen aus dem Heidelberger Cpg 339 beigefügt sind. Erfreu-licherweise handelt es sich dabei nicht nur um Illuminationen, sondern auch um längere Schriftpassagen – den Schüler/innen wird so die Möglichkeit eröffnet, sich nicht nur auf inhaltlicher Ebene mit dem Versroman zu befassen, sondern zusätzlich authentische Einblicke in die mittelalterliche Schriftkultur zu erhalten. Weitere Arbeitshilfen stellen ein Namenverzeichnis zu Orten und Personen sowie ein Glossar mit Worterklärungen dar. Das Namenverzeichnis ist eine sinnvolle Unterstützung für Schüler/innen bei der Orientierung, gerade wenn man davon ausgeht, dass der Text eher abschnittsweise gelesen und bearbeitet wird: Verwandtschaftsverhältnisse und wesentliche Handlungsbezüge sind hier übersichtlich erfasst. Das Glossar hinterlässt dagegen einen ambivalenten Eindruck: So werden auf der einen Seite Begriffe erläutert, die wohl tatsächlich nicht allen Schüler/innen bekannt sein dürften, sich aber aus dem Zusammenhang mindestens ungefähr erschließen lassen und keinen großen Beitrag zu einem übergreifenden Textverständnis liefern. Ein Beispiel: Es gibt eine Erläuterung zu “Hermelin” – erklärt als “kostbarer Pelz der gleichnamigen Marderart” (S. 189). Dass es sich um irgendein (textiles) Schmuckmaterial für Bekleidung und Waffen handeln

1 Vgl. die Projektbeschreibung bei JOACHIM HAMM, Parzival, neu erzählt. Textgrundlagen zur schulischen Vermittlung eines mittelalterlichen Romans. Bestandsaufnahme und Werkstatt-bericht, in: Texte der Vormoderne im Deutschunterricht. Schnittstellen und Modelle, hg. von DIETER WROBEL und STEFAN TOMASEK, Baltmannsweiler 2013, S. 143-169.

2 Vgl. z.B. die Reihe “einfach klassisch” des Cornelsen-Verlags mit verschiedenen Novellen- und Dramenbearbeitungen.

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muss, geht aus dem Kontext der Satzumgebung auch für jüngere Schüler/innen deutlich hervor – schließlich ist angegeben, dass ein Anker aus Hermelin auf eine Satteldecke aufgenäht wird (S. 17). Wirklich weiterführende Informationen – wie z.B. Angaben zur ständischen und symbolischen Bedeutung – fehlen, sind für einen größeren Verständnis-zusammenhang an dieser Stelle allerdings auch nicht zwingend erforderlich. Auf der anderen Seite werden dagegen andere Hintergründe, die durchaus handlungs-tragend sind, wie Wissen zum Feudalsystem und zur ritterlich-höfischen Lebensweise, stillschweigend und wie selbstverständlich als bekannt vorausgesetzt: Unkommentiert bleibt bspw., dass sein “Ritterdienst” Gahmuret viel [an Geschenken] einbringt (S. 15) – welche Art von Tätigkeiten und Verhaltensweisen darin nach mittelalterlichem Verständnis inbegriffen sind, wird aber nirgends angegeben. Ähnliches zeigt sich, wenn Gahmuret äußert, dass Ampflise ihn zum Ritter gemacht habe: “Ihr verdanke ich, dass ich diesem Orden zugehöre” (S. 37). Im allgemeinen Sprachverständnis ist der Begriff des Ordens nur noch als institutionelle Bezeichnung gebräuchlich; bei Wolfram geht es dagegen ausdrücklich um die Zugehörigkeit zum ordo, nicht zu irgendeinem Ritterorden3 – eine Unterscheidung, die in einem Glossar durchaus zu thematisieren wäre. Diese einseitige Art der Kommentierung, die sich hauptsächlich auf die Erklärung von Lehn- und Fremdwörtern erstreckt, dürfte kaum dazu beitragen, ein vertieftes Ver-ständnis der anderen gesellschaftlichen Bedingungen des Mittelalters herbeizuführen und bestehende Klischees eher untermauern, auch wenn einzelne zentrale mhd. Begriffe wie êre, muot oder triuwe erfasst werden. Solche Kontextualisierungsschwierigkeiten lassen sich allerdings durch eine kompetente Lehrkraft ohne weiteres beheben, indem ergänzende Materialien herangezogen und in den Unterricht eingeführt werden. Leider gilt dies nicht für das zweite, deutlich größere Problem der Textausgabe: WOLF WIECHERTs Neuerzählung. Im Nachwort charakterisiert JOACHIM HAMM diese Bearbeitung folgendermaßen: “Die Versform [...] ist einer präzisen Prosa gewichen [...]. Auf sprach-liche Archaismen und Anleihen an Jugend- oder Umgangssprache wurde möglichst ver-zichtet” (S. 185). Unproblematisch – und inzwischen wohl ohnehin weitgehend übliche Praxis bei der Übersetzung mhd. Texte ins Nhd. – ist der Wechsel vom Vers zur Prosa. Was die sprachlichen Archaismen und die Jugend- bzw. Umgangssprache betrifft, so bilden allerdings gerade diese beiden Register bei WIECHERT eine sehr spezielle Melange, etwa wenn bei der Übertragung des Prologs gesagt wird “Wer dran bleibt an dieser Story, der beweist damit nur, dass er etwas versteht vom Leben [...]”4 (S. 10), oder wenn über Parzivals Weg zum Artushof berichtet wird “Erst am nächsten Tag fand er eine Stelle, die ihm hell genug erschien [um den Bach zu überqueren] gemäß dem Tipp seiner Mutter” (S. 48), bzw. wenn man liest, dass beim Turnier in Kanvoleis der noch junge Gawan “ganz scharf darauf war, mitzukämpfen, [trotzdem] war er doch noch zu klein zum Lanzenbrechen” (S. 31). Solche stilistischen Eigenarten lassen sich auf gewisse Weise damit rechtfertigen, dass auch Wolframs Erzähler-Ich einen sehr eigenwilligen sprachlichen Stil pflegt – dies kann allerdings nur äußerst eingeschränkt für solche Stellen gelten, bei denen die Übertragung explizite Anachronismen enthält. So äußert die schwangere Herzeloyde, als sie vom Tod ihres Mannes erfährt: “Viel jünger als er bin

3 dô si mir gap diu ritterschaft, / dô muose ich nâch der ordens craft, / als mir des schildes ambet sagt, / derbî belîben unverzagt. (Pz. 97,25-28).

4 Zu swer mit disen schanzen allen kann, / an dem hât witze wol getan (Pz. 2,13f.).

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ich doch seine Frau und seine Mutter, denn ich trage ihn in mir, seine Gene, die Frucht unserer gegenseitigen Liebe, die Gott, wenn er treu ist, wird wachsen lassen”5 (S. 41). Zusammengefasst lässt sich für WIECHERTs Übertragung somit genau das konstatieren, was HAMM im Nachwort bereits in Hinblick auf Wolfram anmerkt: “Ein literaturerfahrener Leser wird hierin einen ästhetischen Genuss finden” (S. 185) – zu ergänzen wäre: ein literaturerfahrener Leser, der den ‘Parzival’ bereits kennt und dem es Vergnügen bereitet, sich mit den Tücken literarischen Übersetzens zu befassen. Für den gegebenen Kontext muss allerdings zu bedenken gegeben werden, dass sich die Literaturerfahrung von Schüler/innen meist in recht engen Grenzen hält und nur eine sehr geringe Wahrschein-lichkeit besteht, dass sie mit dem Parzivalstoff bereits früher in Berührung gekommen sind. Das bedeutet, dass die durchaus dem Wolframschen Geist entsprechenden Sprach-experimente WIECHERTs im Rahmen des Deutschunterrichts eher für zusätzliche Irrita-tionen sorgen dürften, weil hier eine alte sprachliche Herausforderung lediglich durch eine modernere ersetzt wird. Insofern ist WIECHERTs Übertragung bspw. als Prüfungstext oder auch als Vergleichspunkt in Verbindung mit einer anderen, neutraleren Übersetzung für die unterrichtliche Verwendung gut geeignet, auch als Differenzierungsmaterial für leistungsstärkere Schüler/innen kann sie sinnvoll eingesetzt werden. Als Grundlage für eine schulische Studienausgabe, die eine erste Annäherung an Wolframs ‘Parzival’ ermöglichen oder in den meisten Fällen sogar die Lektüre des mittelalterlichen Romans ersetzen soll, ist sie jedoch ein Fehlgriff. Damit bleibt als Fazit: Trotz des ausgesprochen überzeugenden Gesamtkonzepts ist die vorliegende Schulausgabe des ‘Parzival’ nach WIECHERT nur sehr eingeschränkt zu empfehlen: Sie eignet sich für Lehrkräfte, die differenzierte Vorkenntnisse im Bereich der germanistischen Mediävistik mitbringen und kann insbesondere dazu genutzt werden, über die Abbildungen und kommentierten Auszüge aus dem mhd. Roman an mittel alterliche Schriftkultur heranzuführen. Daneben kann sie als vertiefendes Vergleichs- und Prüfungs-material Verwendung finden – ein Einsatz in Form einer verpflichtenden gemeinsamen Ganzschriftlektüre anstatt von Wolframs ‘Parzival’ scheint dagegen kaum zielführend.

Dr. Ines Heiser, Am Weihersgarten 1, D–65388 SchlangenbadE-Mail: [email protected]

Schreib die Reformation von Munchen gancz daher. Teiledition und historische Einordnung der Nürnberger Klarissenchronik (um 1500), hg. von LENA VOSDING (Quellen und Forschungen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg 37), Nürnberg 2012. Selbstverlag des Stadtarchivs Nürnberg, X, 246 S. mit Abb., ISBN 978-3-925002-37-3, EUR 30,–

Die um 1500 entstandene deutschsprachige Chronik der Nürnberger Klarissen ist ein für Historiker wie Altgermanisten gleichermaßen interessantes und aufschlussreiches Objekt näherer Betrachtungen. So illustriert die Chronik das Selbstverständnis und die

5 Zu ich was vil junger danne er, / und bin sîn muoter und sîn wîp. / ich trage alhie doch sînen lîp / und sînes verhes sâmen / den gâben unde nâmen / unser zweier minne. / hât got getriuwer sinne, / sô lâz er mir in ze vrühte komen. (Pz. 109,24-110,1).

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Weltschau der frommen Frauen, sie ist aus philologischer Sicht aber auch aufgrund ihrer in lateinischer wie deutscher Sprache vorliegenden Konzeptfassungen von Interesse, welche die Textgenese besonders gut nachvollziehen lassen. Eine Gruppe Münsteraner Studenten – Teilnehmer einer Paläographieübung – hat mit der Teilausgabe der Chronik das Ziel verfolgt, “einem langjährigen Forschungsdesiderat” (S. 1) abzuhelfen und eine Monographie zu erarbeiten, die sowohl den historischen Kontext der Werkentstehung erhellt, als auch – vor allem – eine Querschnittedition bietet, durch welche die Herstellung eines spätmittelalterlichen chronikalischen Textes gut nachvollzieh-bar ist. In der vorliegenden Monographie wird ein exemplarischer Passus zur Münchner Klosterreform 1480 in beiden Konzeptfassungen und der Reinschrift präsentiert. Die Autoren kontextualisieren die eigentliche Edition sehr umfangreich mit längeren Darstellungen, etwa zum Forschungsstand und zur historischen Situation der Klarissen. Auch Erläuterungen zur im edierten Text geschilderten Begebenheit von 1480 werden vorgeschaltet, zudem eigene Kapitel zum Verhältnis der Klarissenchronik zur ‘Chronica Ordinis Minorum’ Nikolaus Glassbergers sowie zur Genese, dem Inhalt und den einzelnen Konzepten der Klarissenchronik. Von den knapp 250 Seiten des Buches bilden so weniger als 30 die im Titel zuerst genannte Teiledition. An verschiedenen Stellen wird daher der Status als “Studie” (z.B. S. VII und 29) gegenüber dem einer Textausgabe betont, was aber aufgrund der stark auf den editorischen Teil ausgelegten Konzeption des Buches nicht recht überzeugen kann. Für die eigentliche Textausgabe nötig scheint mir dieser Erläuterungsaufwand nicht zu sein, dafür bieten die Darstellungen oft instruktive Informationen, die man mit Gewinn liest – gerade dort, wo sie über das Exzerpieren von Sekundärliteratur hinaus-gelangen, v.a. hinsichtlich der Überlieferungsträger. Es steht dahin, ob Informationen wie z.B. diejenigen zu Leben und Werk des Nikolaus Glassberger in diesem Umfang hier am rechten Ort sind oder ob einige Ergebnisse der Untersuchungen nicht von Banalität bedroht werden (z.B. S. 29, letzter Abschnitt; S. 87, Anfänge der Abschnitte 2 und 3). Jedenfalls nimmt der multiperspektivische Zugang ebenso wie die frische Art der Herangehensweise offenkundig begeisterter Studenten für die Monographie ein. In dieser informativen ‘Jugendlichkeit’ liegt für mich der Wert des Buches. Es fällt so nicht ganz leicht darauf hinzuweisen, dass die Qualität des Kerns der Arbeit, also der Edition, die Frage nahelegt, ob die Münsteraner Verfasser sich – geschweige denn der Forschung – mit der Veröffentlichung einen Gefallen getan haben. Ein Mangel an Kompetenz ist den Verfassern offenkundig selbst deutlich, immerhin schreibt die Herausgeberin: “So entwickelte sich die recht unbedarft begonnene Transkriptionsarbeit bald zur intensiven Bemühung um die Erfüllung der formalen Anforderungen” – eine Arbeit, die schließlich darein gemündet sei, “sogar eine Publikation anzustreben” (S. VII). Im Gegensatz dazu sparen die Autoren nicht mit ebenso befremdlichem wie verfehltem Eigenlob: “Die Kompetenzen, die wir auf diese Weise erworben haben, werden mit Sicherheit eine zuverlässige Basis für unsere zukünftigen wissenschaftlichen Unterneh-mungen sein” (S. IX, ähnlich S. 155 oben). Die Prinzipien der Edition stellen für mich aber nichts anderes als den Versuch dar, durch fadenscheinige Begründungen stures Transkribieren der Hss. inklusive aller Fehler, Schreiberkorrekturen und Marginalien zu legitimieren, um so jeden Eingriff in die Texte und damit zugleich jeglichen Nachweis editorischer (In-)Kompetenz zu vermeiden. Bezeichnend ist das S. 160f. angeführte Argument, mit dem der Verzicht auf Eingriffe begründet wird:

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Obwohl diese Eigentümlichkeiten an einigen Stellen für den Leser irritierend sein können, wird bei der Edition der lateinischen Fassung auf eine Emendation prinzipiell verzichtet, um den sprachlichen Eindruck nicht zu stören und den Konzeptcharakter zu bewahren.

So gesehen würde jedes Faksimile bzw. jedes ins Internet gestellte Digitalisat der sehr gut lesbaren Hs. mehr leisten als die vorliegende Edition – wie auch die chaotische Darbietung des Editionstextes z.B. in der Mitte von S. 198 veranschaulicht. Im Übrigen zeigt ein Abgleich der Handschriftenabbildungen mit dem Editionstext, dass selbst das Transkribieren unproblematischer Hss. mitunter tückisch sein kann. So unterscheidet sich sogar die Anweisung Schreib die Reformation von Munchen gancz daher in Titel und Vorwort des Buches von der entsprechenden Transkription im Editionstext (S. 198; daher vs. da her). Für das Verständnis der edierten Passagen wäre eine Übersetzung des lateinischen Textes wie der frühneuhochdeutschen Abschnitte wünschenswert; erstere wird im Unter-suchungsteil ja teils geleistet, wo dies der Argumentation dient (S. 54). Die Verzeichnung “offensichtlicher Fehler” in Apparat 1 (S. 161) macht insofern wenig Sinn, als sie keine philologische Leistung darstellt und die weniger offensichtlichen Fehler von den Heraus-gebern eben nicht angegangen werden. Worterläuterungen wie “Nurenbergam] Nürnberg” (S. 187), “Strawbing] Straubing” (S. 188) oder “Ierusalem] Jerusalem” (S. 191) zeugen dabei von größter philologischer Unsicherheit. Gleiches gilt für die Apparatgestaltung etwa auf S. 204, wo jeweils sinnlose oder irreführende Anmerkungen, Besserungen und Erläuterungen scheinbare Hilfestellungen auf mindestens drei unterschiedlichen Verständnisebenen bieten. Der besondere, oft Generationen überdauernde Nutzen von Editionen liegt bekanntlich darin, dem interessierten Leser einen Text zu erschließen und ihm ggf. den Blick in die Bezeugung abzunehmen, da sich der Leser auf den sachkundigen Umgang des Bearbeiters mit dem Überlieferten verlassen kann. Wo dieses Vertrauen fachlich nicht gerechtfertigt ist, sind Editionen nicht nur überflüssig, sondern schädlich. Von daher hätte man den jungen Münsteraner Autoren hartnäckige Berater gewünscht, die vor dem Arbeitsprozess das Gefühl fachlichen Ungenügens durch sachdienliche Instruktionen genommen hätten, um später das Erzielte zu einem Kern verdichten zu helfen, der editionsphilologischen Basiserfordernissen genügt. Statt dessen – und das ist das eigentlich Bedenkliche an der vorliegenden Arbeit – hat diese Edition nicht allein Aufnahme in eine renommierte Editionsreihe gefunden, sondern auch in einem Ordinarius für Landesgeschichte einen Rezensenten, der die Edition allen Ernstes als “eine vorbildliche, sorgfältig und kritisch kommentierte Teiledition” preist, welche “sicher zum Bestand Nürnberger Grundlagen-forschung” zählen werde.1 Es kann einem um die Qualität zukünftiger Editionen angst und bange werden, wenn Studenten, die – wie erwähnt – ausdrücklich die eigene Unbedarftheit hervorstellen, mit der Unterstützung renommierter Herausgeber und Rezensenten eine Ausgabe auf dem Niveau der hier besprochenen Monographie publizieren können.

Dr. Matthias Kirchhoff, Universität Stuttgart, Institut für Literaturwissenschaft, Abteilung für Germanistische Mediävistik, Keplerstr. 17, D–70174 StuttgartE-Mail: [email protected]

1 Vgl. WOLFGANG WÜST, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 100 (2013), S. 681f.

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642 Jahre Stadtbibliothek Nürnberg. Von der Ratsbibliothek zum Bildungscampus, hg. von CHRISTINE SAUER (Beiträge zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg / Stadtbibliothek Nürnberg 26), Wiesbaden 2013. Harrassowitz Verlag, 439 S. mit Abb., ISBN 978-3-447-06853-6, EUR 39,80

Zwei für Nürnberg wichtige kulturpolitische Weichenstellungen waren der Hauptautorin1 und Herausgeberin CHRISTINE SAUER sowie den weiteren Beiträgern dieses Sammelbands Anlass, erstmals eine Gesamtdarstellung der Geschichte der öffentlichen Bibliotheken in Nürnberg vorzulegen. Zum einen erfolgte am 1. Januar 2011 der Zusammenschluss von Stadtbibliothek, Stadt- und Musikbücherei sowie städtischem Bildungszentrum (= Volkshochschule) zum ‘Bildungscampus Nürnberg’, und zum anderen wurde am 24. Oktober 2012 der sanierte und erweiterte Bibliothekskomplex am Gewerbemuseumsplatz eröffnet. Von dem Gesamtbestand mit rund 750'000 Medien der nun zusammengeführten Bibliotheken sind rund 100'000 Medien Altbestand und historische Sondersammlungen, die von der Abteilung ‘Historisch-Wissenschaftliche Stadtbibliothek’ betreut und für die Forschung zugänglich gemacht werden. Ziel dieser Bibliotheksgeschichte ist es, “die jahrhundertelange und wechselvolle Entwicklung von der auf juristische Literatur spezialisierten Ratsbibliothek zu einer modernen zukunftsorientierten Großstadtbiblio-thek” nachzuzeichnen (S. 7). Erschwert wird dieses Vorhaben allerdings durch die enormen Verluste an archivalischen Quellen im Zweiten Weltkrieg.2 Trotzdem ist es gelungen, eine informative Darstellung zu diesem Aspekt Nürnberger Kulturgeschichte vorzulegen. Zusammen mit der Studie zu den Nürnberger Privatbibliotheken von RENATE JÜRGENSEN kann man sich nunmehr schnell und unkompliziert einen Überblick über die gesamte Bibliothekslandschaft verschaffen.3 An diesem Ort kann der Sammelband nicht als Ganzes gewürdigt werden, vielmehr konzentriert sich die Rezension auf diejenigen Beiträge, die den Altbestand zur Reichsstadt Nürnberg behandeln, der für die historischen und kulturgeschichtlichen Fächer relevant ist.4

1 CHRISTINE SAUER ist alleinige bzw. Mitautorin von sechs Beiträgen. Vgl. CHRISTINE SAUER, Rats- und Stadtbibliothek von der Einrichtung bis zum Verlust der Eigenständigkeit, S. 9-97; Predigerkloster, Bärenschanzenkaserne und Pellerhaus. Domizile der wissenschaftlichen Stadtbibliothek, S. 217-235; Das ehemalige Meistersinger-Konservatorium als Bürogebäu-de der Stadtbibliothek, S. 255-258; Vom Museum zur Forschungsbibliothek: Erkundungen von Stadt- und Kulturgeschichte in Ausstellungen, Publikationen, Vorträgen und Projekten, S. 317-338; Gelehrten- und Institutsbibliotheken – Vor- und Nachlässe in der Stadtbibliothek, S. 347-391; zusammen mit EVA HOMRIGHAUSEN, Biographien der Bibliotheksleiter/-innen, S. 393-410.

2 Für die Stadtbibliothek lagen zwei Studien vor, auf die zurückgriffen werden konnte: KARLHEINZ GOLDMANN, Geschichte der Stadtbibliothek Nürnberg, Nürnberg 1957; RENATE JÜRGENSEN, Stadtbibliothek, in: Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland 12 (1996), S. 111-152.

3 RENATE JÜRGENSEN, Bibliotheca Norica. Patrizier- und Gelehrtenbibliotheken in Nürnberg zwischen Mittelalter und Aufklärung (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 43), Wies-baden 2002.

4 Zu den Sondersammlungen vgl. META BISCHOFF, Die Musikbibliothek – am Zielort angekommen, S. 161-169; LIANE FEHSE, Die Fränkische Literatursammlung, S. 189-196; ERICH KRIEBEL, Das Bilderbuch-Archiv, S. 213f.; ALFRED PREUSS, Das Comic-Archiv, S. 215f. – Baugeschichte und Ausbau der Bibliothek am Gewerbemuseumsplatz behandeln BERND WINDSHEIMER, Öffentliche Lesehalle und schwierigste historische Baustelle nach dem Krieg. Zur Geschichte der Biblio-

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Der eigenartige Werktitel “642 Jahre Stadtbibliothek Nürnberg” kommt zustande, weil erstmals im Jahr 1370 eine kleine Büchersammlung von 13 Werken in städtischem Besitz erwähnt wird, die dem Stadtjuristen Gilbert Weigel zur Nutzung auf Lebenszeit bzw. bis zum Ausscheiden aus dem städtischen Dienst überlassen wurde. Dabei handelte es sich um eine Spezialsammlung von Gesetzeswerken und Kommentaren. 1429 erfuhr die bis dahin vermutlich immer noch sehr bescheidene Ratsbibliothek eine deutliche Erweiterung durch eine Schenkung des Juristen Konrad Konhofer († 1452) mit 150 Titeln, darunter viele theologische, naturwissenschaftliche und medizinische Werke. Kurze Zeit später entschied der Rat, im Rathaus einen separaten Raum für die Bibliothek einzurichten, der ab September 1433 zur Verfügung stand, jedoch heute nicht mehr lokalisiert werden kann. Die Bücher wurden teils in Schränken, teils als Kettenbände auf Pulten aufbewahrt. Unter der Aufsicht des Patriziers Hans Tucher (1428-1491) verdoppelte sich zwischen 1486 und 1488 nicht nur der Buchbestand, er ließ auch einen ersten Bibliothekskatalog erstellen.5 Ziel war es, Lücken bei der Literatur für kanonisches und römisches Recht zu schließen. Vor allem der Erwerb von Konziliensammlungen war wichtig, da Juristen diese für die Abfassung von Rechtsgutachten benötigten. Durch Tucher erfolgten auch Ankäufe von Hss. und Drucken aus den Nachlässen von Johannes Lochner († 1484) und Hermann Schedel († 1485). Von weiteren Nürnberger Humanisten erhielt die Ratsbiblio-thek ergänzende Schenkungen. Vor Einführung der Reformation kaufte der Rat im Jahr 1519 nur noch die Bibliothek des Kaufmanns Bernhard Walther an, deren bedeutendster Teil der Nachlass des Mathematikers und Astronomen Johannes Regiomontanus († 1476) war. Im Jahr 1525 wurde aus der Rats- eine Stadtbibliothek. Diese Gründung geht also auch in Nürnberg – wie z.B. in Augsburg – auf die Umgestaltung des Bildungswesens im Zeitalter der Reformation zurück. Hierfür wurden die Bibliotheken der zahlreichen Klöster mit der Ratsbibliothek vereint. Allerdings ist noch völlig unklar, welche Be-stände übernommen wurden bzw. heute noch erhalten sind. Entsprechende Provenienz-erschließungen sind ein Desiderat für die Zukunft. Die Abschnitte zur Geschichte der einzelnen Klosterbibliotheken fassen daher nur den gegenwärtigen Kenntnisstand zusammen (S. 29-43). Eine Besonderheit Nürnberger Klöster ist die Einrichtung von Buchbindereien, die nicht nur für den Eigenbedarf arbeiteten. Die Stadtbibliothek war nun nicht mehr im Rathaus aufgestellt, sondern wurde 1543 im Bibliothekssaal des ehemaligen Dominikanerklosters untergebracht, das in Nachbarschaft zum Rathaus lag. Zuständig für die Bibliothek war der Kirchenpfleger

theksbauten Luitpoldhaus und Katharinenkloster von 1908 bis 1984, S. 237-254; ANDREAS BRAUN, Die sanierte und erweiterte Stadtbibliothek im Zentrum Nürnbergs, S. 259-272; vgl. auch Anm. 1 mit den Beiträgen von CHRISTINE SAUER. – Zu Organisationsfragen, Service und Öffentlichkeitsarbeit nehmen Stellung BIRGITT SCHIRNER, Die Stadtbibliothek Nürnberg nach der Fusion von 1973 bis 2010, S. 134-151; ELISABETH STRÄTER, Auf dem Weg zum Bildungs-campus, S. 153-159; dies., Die neue Stadtbibliothek – Inhaltliche Konzeption, S. 273-284; SUSANNE SCHNEEHORST, Von den Bibliotheksdiensten für Ausländer zur interkulturellen Biblio-theksarbeit – Ein Erfahrungsbericht, S. 285-295; WALTRAUD AUINGER und ANNETTE LORENZ, Lesen entdecken! Wir öffnen Welten – Leseförderung nach PISA bei der Stadtbibliothek Nürnberg, S. 297-316; SONJA HASSOLD und JUTTA KÖTTGEN, Das Projekt Buchpatenschaft der Stadtbibliothek Nürnberg, S. 339-345.

5 S. 15 wird davon gesprochen, dass 1488 die Bibliothek auf insgesamt 317 Bände angewachsen sein soll; vermutlich durch einen Zahlendreher werden auf S. 24 daraus 371 Bände.

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(Ephorus). Der erste Amtsinhaber, Hieronymus Paumgärtner d. Ä. (1498-1565), ließ die zusammengeführten Bestände 1554/55 inventarisieren. Im Gegensatz zu Augsburg, wo die Stadtbibliothek im 16. Jh. einen festen Etat für Neuerwerbungen besaß, erfolgte die Erweiterung der Bibliothek in Nürnberg in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s eher durch Schenkungen aus privater Hand bzw. von Autoren. Eine planmäßige Bestandserweiterung ist also nicht zu erkennen. Ihre Blütezeit erlebte die Stadtbibliothek in der ersten Hälfte des 17. Jh.s. Nun gab es – neben der Bibliotheksaufsicht durch den Ephorus – einen angestellten Bibliothekar. Als erster nahm der Stadtsyndikus Carl Gerbel diese Aufgabe von 1592 bis 1604 wahr. Das Amt des Stadtbibliothekars wurde jedoch bald mit dem des ersten Predigers an St. Sebald verknüpft, eine Entscheidung, die sich besonders im 18. Jh. als problematisch erwies. Das starke Anwachsen der Buchbestände durch Ankäufe und Stiftungen von kompletten Bibliotheken (z.B. Georg Palma, Johannes Schelhammer, Hieronymus Paumgärtner d. Ä., u.a.) machte es notwendig, die Bibliotheksräume im Dominika-nerkloster aus- und umzubauen. Nach Abschluss der Baumaßnahmen 1626 standen für die Bibliothek alle vier Flügel um den westlichen Innenhof zur Verfügung. Seit 1616 wurden Zugangsbücher geführt, die kontinuierlich bis 1716 weitergeführt wurden, sodass für diese Periode die Bestandsentwicklung gut dokumentiert ist. Zudem wurde die Bibliothek nach dem System der vier Universitätsfakultäten neu aufgestellt, wobei jedes Fach nach Folio-, Quart-, und Oktavbänden unterteilt wurde. Begleitet wurde die Neuordnung durch umfangreiche Erschließungsprojekte und die Anlage von Katalogen. Für den Zeitraum von 1605 bis 1626 existiert auch ein Ausleihbuch, das interessante Einblicke in die Nutzung gibt. Seit den Um- und Ausbaumaßnahmen in den 1620er Jahren übernahm die Biblio-thek auch verstärkt die Aufgabe eines Museums. Wie z.B. die Hofbibliothek in Wien entwickelte sich die Stadtbibliothek zu einer Kunst- und Raritätenkammer, in der die Buchaufstellung und die Präsentation der Ausstellungsobjekte aufeinander abgestimmt waren. Bei einem Rundgang durch die Bibliotheksräume bekam der Besucher Münzen, mathematische und astronomische Instrumente, Globen, Karten, Devotionalien (z.B. ein Trinkglas von Martin Luther), Skelette, anatomische Präparate, Gemälde und Exo-tica (türkische Gewänder, syrische und chinesische Hss., eine aus Mexiko stammende Goldstatuette des Gottes Vitzliputzli u.a.) zu sehen. Nicht aufgrund ihrer wertvollen Buchbestände, sondern vor allem als Museum blieb die Stadtbibliothek für Reisende und Touristen im 18. und bis weit ins 19. Jh. eine Attraktion. Nach dem Dreißigjährigen Krieg nahm die Bibliothek zwar weiterhin eine positive Entwicklung, allerdings war sie nicht mehr so dynamisch wie in der Zeit zuvor. So bestimmte der Stadtbibliothekar Johann Michael Dilherr (1604-1669) testamentarisch eine zweckgebundene Schenkung von 1000 Gulden, aus deren Zinserträgen Neuan-schaffungen für die Stadtbibliothek finanziert werden konnten. Dies war der erste und für lange Zeit auch der einzige feste Erwerbungsetat. 1685 erfolgte der letzte bedeutende Ankauf, ehe das Interesse des Nürnberger Rats an der Bibliothek für rund ein Jahrhundert einschlief. Die Neuanschaffungen aus dem bescheidenen Dilherr-Etat, Bucheingänge von Widmungsexemplaren und Meisterstücke von Nürnberger Buchbindern sowie die Abgabe von Pflichtexemplaren durch Nürnberger Drucker und Verleger6 ließen keinen

6 Die Abgabe von Pflichtexemplaren war seit 1625 vorgeschrieben, eine wirksame Umsetzung dieses Gesetzes erfolgte jedoch zu keinem Zeitpunkt.

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systematischen Ausbau der Sammlung mehr zu. Darüber hinaus kümmerten sich die neben amtlichen Stadtbibliothekare kaum noch um eine Bestandspflege und -erschließung. Erst mit Beginn der Aufklärung knüpfte die Stadt an die Tradition an, ganze Biblio-theken aufzukaufen. Zudem erfolgten jetzt wiederholt bedeutende Schenkungen von Nürnberger Bürgern. Dass die Bedeutung der Bibliothek ins Bewusstsein der bürgerlichen Öffentlichkeit und der Wissenschaften gelangte, ist jedoch einer kleinen Gruppe von Gelehrten zu verdanken, die sich an die intensive Erforschung und Erschließung der Buchbestände machte. Zu nennen ist hier bspw. der Schaffer bei St. Sebald, Literatur-historiker und Frühdruckforscher Georg Wolfgang Panzer (1729-1805). Die Eingliederung Nürnbergs in das Königreich Bayern führte zu keinen Verlusten, sondern durch die Übereignung kleinerer, in öffentlichem Besitz befindlicher Bibliotheken wurde ihr Bestand sogar erweitert.7 1814/15 wurde aus verschiedenen Stiftungen ein Fonds mit einer Kapitalausstattung von fast 7300 Gulden gebildet, aus dessen Zinserträgen die Bibliothek unterhalten werden sollte. In seiner Funktion als Bibliothekspfleger sorgte der Verleger Johann Leonhard Schrag (1783-1858) für eine Neuausrichtung der Bibliothek, indem sie sich erstmals für breitere Nutzerkreise öffnete. Laut Bibliotheksordnung von 1841 sollte sie nun nicht nur den Bedürfnissen akademischer Kreise dienen, sondern darüber hinaus Handwerkern, Künstlern, Beamten und allen gebildeten Schichten offen stehen. 1871 beschloss der Nürnberger Magistrat, das 1864 gegründete Stadtarchiv ebenfalls im Dominikanerkloster unterzubringen und die Leitungsfunktion beider Insti-tutionen in einer Hand zu vereinen. Nach 50 Jahren wurde dieser Zusammenschluss von Archiv und Bibliothek jedoch wieder aufgehoben, getragen von dem Wunsch des Stadtrats, das Bibliothekswesen aufzu-werten. Deshalb wurden 1921, nachdem Friedrich Bock (1886-1964) zum neuen Direktor der Stadtbibliothek ernannt worden war, diesem sämtliche kommunalen Bibliotheken unterstellt: die Volksbücherei, die Amtsbibliothek, die Musik- und die Blindenbücherei. Bock, der die beiden Aufgabenbereiche der wissenschaftlichen Stadtbibliothek und der Volksbücherei strikt voneinander trennte, leitete die Bibliothek auch in den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur. Durch rechtzeitige Auslagerung konnten Bock und seine Mitarbeiter zumindest die historischen Bestände der Stadtbibliothek retten. Über diese Zeit erfährt man leider nicht sehr viel, da die einschlägigen Akten in den Bomben-angriffen des Jahres 1945 zugrunde gingen.8 Eine grundlegende Umstrukturierung der Stadtbibliothek erfolgte Anfang der 1970er Jahre. 1973/74 verlor sie den größten Teil ihrer graphischen Sammlungen (insgesamt 60'000 Blätter), die an Nürnberger Museen abgegeben werden mussten. Mit Jahresbeginn 1973 wurde sie mit der Stadtbücherei zu einer sog. Einheitsbibliothek zusammengeschlos-sen.9 Die altehrwürdige wissenschaftliche Stadtbibliothek wurde dabei in die Stadtbücherei

7 Z.B. die “Bibliotheca Norica” des Altdorfer Professors Georg Andreas Will oder die sog. Konvertitenbibliothek.

8 Sehr interessant ist jedoch der Beitrag von LEIBL ROSENBERG, Bücher und Schicksale – Die Sammlung Israelitische Kultusgemeinde in der Stadtbibliothek im Bildungscampus Nürnberg, S. 171-188, der sich mit zwei Büchersammlungen beschäftigt, die sich bei Kriegsende 1945 im Besitz des Gauleiters Julius Streicher befanden.

9 Die Volks- bzw. Stadtbücherei existierte seit dem 1. Oktober 1921, als die Bibliothek des Ver-eins der Nürnberger Volksbildungsgesellschaft der Stadt überschrieben wurde, weil der Verein die Finanzierung seiner öffentlichen Bibliothek nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr tragen konnte. Vgl. EVA HOMRIGHAUSEN, Die Volks- oder Stadtbücherei von 1921 bis 1972, S. 99-131.

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integriert, blieb aber als eigenständige Abteilung erhalten. Zunächst räumlich noch ge-trennt, ist mit der Eröffnung des ‘Bildungscampus’ die Zusammenführung abgeschlossen, die mit den Stadtratsbeschlüssen der 1970er Jahre eingeleitet worden war. Als Informationsquelle sehr hilfreich ist eine chronologisch geordnete Zusammen-stellung von rund 60 privaten und institutionellen Bibliotheken sowie von Vor- und Nachlässen, die im Laufe der Jahrhunderte vollständig oder in größeren Teilen in die Stadtbibliothek eingegliedert wurden (S. 347-391). Es werden Eigentümer, Umfang, Sammlungsschwerpunkte und Erkennungsmerkmale kurz charakterisiert. In der Regel sind diese Sammlungen im Gesamtbestand aufgegangen. Unter den Bibliotheken, die nicht aufgelöst wurden, ragt in quantitativer Hinsicht die Sammlung des Theologen Adam Rudolf Solger (1693-1770) mit knapp 10'000 Drucken und 200 Hss. hervor. Bemerkenswert sind ferner die Spezialbibliothek des Theologen und Kirchenhistorikers Georg Theodor Strobel (1736-1794) mit 1900 Schriften von Philipp Melanchthon und die “Bibliotheca Norica” des Altdorfer Professors Georg Andreas Will (1727-1798) mit 6300 Drucken und Hss., 6000 Briefen und 6200 Porträts. Für die Humanismusforschung und Wissenschaftsgeschichte sind die Pirckheimer-Papiere von großem Wert.10 Zu erwähnen ist ferner die zwischen 1974 und 1991 aufgebaute Mei-stersinger-Sammlung mit rund 17'500 Texten. Sie bildet die Quellengrundlage für das “Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts”.11

Das reich bebilderte und schön gestaltete Buch wird abgeschlossen von Kurzbiogra-phien der neben- und hauptamtlichen Leiter von Stadtbibliothek bzw. -bücherei vom 16. Jh. bis in die Gegenwart (S. 393-410), einer Zeittafel zur Geschichte der Stadtbiblio-thek (S. 411-413), einer Auswahlbibliographie (S. 415-431) sowie einem Personen-register.

Dr. Hans-Jörg Künast, Rumfordstr. 20, D–86415 MeringE-Mail: [email protected]

10 NIKLAS HOLZBERG, Die Pirckheimer-Papiere und ihre wissenschaftliche Erschließung, S. 205-212.

11 HORST BRUNNER, Die Meistersinger-Sammlung der Stadtbibliothek und das “Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts”, S. 197-204.

Visuality and Materiality in the Story of Tristan and Isolde, ed. by JUTTA EMING, ANN MARIE RASMUSSEN, and KATHRYN STARKEY, Notre Dame/Indiana 2012. Univer-sity of Notre Dame Press, xv, 355 S. mit Abb., ISBN 978-0-268-04139-7, $ 45,–

Auf den hier zu besprechenden Sammelband hat die Forschungsgemeinschaft lange warten müssen. Hervorgegangen ist er aus den Beiträgen auf der gleichnamigen Tagung im Jahre 2007. Um es gleich vorweg zu sagen, das Warten hat sich gelohnt, denn es stecken nicht nur interessante neue Beobachtungen zu Gottfrieds von Straßburg ‘Tristan’ darin, sondern es kommen vor allem auch andere Erzählungen von Tristan und Isolde in den Blick: Texte genauso wie Bilder. Natürlich ist gerade die Forschung zum ‘Tristan’-Stoff reich an Sammelbänden und Monographien und so kann es nicht weiter verwundern, dass die Herausgeberinnen

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betonen, dass vor allem die mittelalterliche Faszination am Stoff und seine starke Verbreitung in allen westeuropäischen Volkssprachen sowie die Tatsache, dass es eine breite Bildtradition gibt, Anlass war, eine Tagung zum Thema auszurichten. Sie legen den Fokus – wie es der Titel bereits zeigt – auf die Materialität und die Visualität des ‘Tristan’-Stoffes, wobei unter den Begriff der Materiality sowohl Realien (Hand schriften, Bildträger etc.) gefasst werden, aber auch die Art und Weise, wie einzelne Autoren, Redaktoren und Maler u.a. mit dem auf sie gekommenen Stoff umgehen und was sie mithin aus ihm machen – es geht bei der Materiality demnach also auch um den Stoff/die Materie selbst. Visuality wird bezogen auf verschiedene Möglichkeiten der Rezeption und der Produktion der einzelnen Texte und Bildzeugnisse, wobei hier sowohl kunst-historische und psychologische Ansätze zur Sprache kommen sowie der Frage nach der Performanz der einzelnen Realisationen des ‘Tristan’-Stoffes nachgegangen wird. Die erste Sektion des Bandes widmet sich “Courtly Bodies, Seeing, and Emotions” und versammelt vier Beiträge, die sich vor allem den textuellen Ausprägungen des ‘Tristan’-Stoffes widmen. JAN-DIRK MÜLLER1 zeigt, dass die Liebe zwischen Tristans Eltern Riwalin und Blanscheflur eine Liebe außerhalb der Sichtbarkeit der höfischen Welt ist und wie stark die Paarwerdung mit der Abnahme von Licht und Helligkeit zusammenhängt. Die Auslegung der Minnegrotte und ihr Bezug zu Gottfrieds Text als Liebesgeschichte im Ganzen beschäftigt HAIKO WANDHOFF. Er sieht in der Grottenalle-gorie einen metapoetischen, wenn nicht sogar metafiktionalen Exkurs über die Liebes-geschichte. Warum Tristan und Isolde überhaupt Sex haben, fragt JAMES A. SCHULTZ, der nicht nur Gottfrieds ‘Tristan’, sondern auch den ‘Tristrant’ Eilharts von Oberg in den Blick nimmt. Bei beiden gehe es darum, sich vom klerikal-theologischen Diskurs über die Sexualität zu verabschieden, um diese und vor allem die Liebe selbst in den Mittelpunkt des Erzählens zu stellen. Um die Minne und wie sie sich in den spätmittelalterlichen ‘Minnereden’ darstellt, geht es LUDGER LIEB. Er zeigt, dass diese ‘Minnereden’ sich in die Tradition Gottfrieds stellen und dass auch hier dem Rezipienten der wahre Gehalt der Minne erst offenbar wird, wenn er selbst ein Minnender ist. Die zweite Sektion des Bandes widmet sich “Media, Representation, und Performance” und wird von MICHAEL CURSCHMANN eröffnet. Er zeigt, welche ‘Motive’ des ‘Tristan’-Stoffes ihn über die Jahrhunderte hinweg so faszinierend machten und schlägt dafür den Bo-gen von die frühen Verserzählungen (‘myth’) über jene Bilder, die als pars-pro-toto für die ganze ‘Tristan’-Geschichte stehen (‘emblem’) hin zu den Weiterbearbeitungen das ‘Tristan’-Stoffes bis ins 19. Jh. (‘panorama’). In ihrem Beitrag über Hans Sachs’ ‘Tristan-Tragedia’ zeigt ELKE KOCH zunächst über welche performativen Akte Liebe bei Sachs vor Augen gestellt wird, um dann in einem zweiten Schritt danach zu fragen, wie sich die so dargestellte Liebe von der der hochmittelalterlichen ‘Tristan’-Erzählungen unterscheidet. Über einen ‘dreidimensionalen’ ‘Tristan’ berichtet AMANDA LUYSTERS: indem der Betrachter den Fresken-Zyklus in Saint-Floret entlangschreitet und mit seinen Augen verfolgt, wird er selbst zum Zeugen des ‘abgebildeten’ Geschehens und damit zu einem seiner eigenen Zeit enthobenen Begleiter des Liebespaares. Ebenfalls um mittelalterliche Fresken geht es KLAUS KRÜGER, der allerdings in den italienischen Raum blickt und dessen Beispiele gerade nicht den ‘Tristan’-Stoff zeigen. Stattdessen kann er an den ausgewählten Fresken zeigen, dass höfische Liebespaare ein sehr be-liebtes Motiv Adliger für die Ausschmückung ihrer Wohnräume waren und dass sich

1 Eine Bearbeitung des Beitrages findet sich bereits in JAN-DIRK MÜLLER, Höfische Kompro-misse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007.

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diese Liebespaare oder auch andere abgebildete Szenen des höfischen Lebens (etwa die Jagd) sehr schnell dem ‘Tristan’-Stoff zuordnen lassen, ohne dass dieser tatsächlich mit den Fresken aufgerufen werden sollte. Die letzte Sektion des Bandes widmet sich der “Visual Culture of Tristan” und versam-melt Beiträge zur Handschriftentradition und zu ‘Tristan’-Bildprogrammen. Eröffnet wird es von MARTIN BAISCH, der zwei Varianten des Begriffs Materiality miteinander verknüpft. Anhand des Münchner Cgm 51 zeigt er, wie der Umgang mit dem Material des Stoffes – besser gesagt des Autors Gottfried – durch ein Skriptorium Niederschlag findet in der Materialität der dort angefertigten Hs. selbst; wie das Eingreifen in den Text durch den Redaktor nicht nur zu Kürzungen führt, sondern zu einer eigenständigen Fassung. ELKE BRÜGGEN und HANS-JOACHIM ZIEGELER befassen sich mit den drei bebilderten ‘Tristan’-Hss. im deutschen Sprachraum, wobei sie dem von germanistischer Seite bisher selten in Betracht gezogenen ‘Brüsseler Tristan’ einen besonderen Platz einräumen und nachweisen, dass die Bilder der Elterngeschichte vor allem durch Szenen der Kommunikation im Codex prä-sentiert wird. Mit den für den ‘Tristan’-Stoff etablierten und unverzichtbaren Bildmotiven beschäftigt sich STEPHANIE C. VAN D’ELDEN. Sie zeigt, dass es zwei verschiedene Formen der Präsentation des ‘Tristan’-Stoffes in den Bildern gibt: jene, die ohne Umstände als Realisation der ‘Tristan’-Geschichte im Bild identifiziert werden können (‘specific scenes’) und andere (‘generic scenes’), die immer erst durch eine Kontextualisierung durch andere Szenen oder durch Text als ‘Tristan’-Geschichte im Bild erkannt werden können. Mit einem ersten Überblick über die Bildtradition des ‘Tristan’-Stoffes in nordfranzösischen Hss. von MARGARET ALISON STONES schließt diese Sektion. Der Sammelband bietet mit seinen verschiedenen Beiträgen und vor allem durch die unterschiedliche Herangehensweise der einzelnen Autoren an die Thematik Materialität und Visualität des ‘Tristan’-Stoffes ein großes Panorama und regt damit zu einer tieferen Auseinandersetzung mit den verschiedenen Aspekten dieser beiden methodischen Schlag-wörter an. Schade ist nur – und soviel Kritik muss gestattet sein –, dass man so lange auf den Band warten musste. Dadurch blieben interessante Entdeckungen und Ergebnisse gerade zu den Bildprogrammen (BRÜGGEN/ZIEGELER, KRÜGER, VAN D’ELDEN) lange einer breiteren Fachöffentlichkeit verborgen, während andere (MÜLLER, BAISCH) nunmehr als eine Art Wiederholung von bereits Gesagtem daherkommen, weil sie schon in anderer Form den Weg in die Öffentlichkeit gefunden haben.

Dr. des. Birgit Zacke, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft, Germanistische Mediävistik, Am Hof 1d, D–53113 BonnE-Mail: [email protected]

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